Asteroid 56-046

»Was soll das heißen, Dorn ist nicht zu sprechen?«, schrie Humphries den dunklen Telefonmonitor an. »Verbinde mich mit dem Wachoffizier an Bord der Humphries Eagle.«

›Eine Kommunikation nach draußen ist derzeit nicht möglich‹, erwiderte das Telefon.

»Das gibt's nicht!«

›Eine Kommunikation nach draußen ist derzeit nicht möglich‹, wiederholte das Telefon ungerührt.

Humphries starrte aufs dunkle Display und drehte sich langsam zu Elverda Apacheta um. »Er hat uns abgeschnitten. Wir sind hier gefangen.«

Elverda hatte das Gefühl, in einen kalten Schraubstock gespannt zu werden. Vielleicht ist Dorn ein Wahnsinniger, sagte sie sich. Vielleicht ist er mein personifizierter Tod.

»Wir müssen etwas unternehmen«, schrie Humphries beinahe.

Elverda erhob sich zittrig. »Es gibt im Moment nichts, was wir tun könnten. Ich werde in meine Kabine gehen und ein Nickerchen machen. Ich glaube, dass Dorn, oder Harbin oder was auch immer seine Identität ist, sich wieder bei uns melden wird, wenn er dazu bereit ist.«

»Wozu bereit?«

» Uns das Artefakt zu zeigen«, erwiderte sie — hoffentlich, fügte sie stumm hinzu.

In rechtlicher Hinsicht gehörten das Artefakt und der ganze Asteroid Humphries Space Systems. Er war von einer Familie — Mann, Frau und zwei Söhnen im Alter von fünf und drei Jahren — entdeckt worden, die ihren Lebensunterhalt damit verdiente, Eisen-Nickel-Asteroiden zu suchen und die Schürfrechte an die großen Konzerne zu verkaufen. Sie machten ihren Anspruch an diesem namenlosen Asteroiden geltend, zusammen mit einer vorläufigen Beschreibung des zehn Kilometer langen Körpers, seiner Bahn im Asteroidengürtel und einer Probenanalyse der Oberflächenzusammensetzung.

Sechs Stunden, nachdem ihre ursprüngliche Übertragung das Gütermarkt-Rechnernetzwerk auf der Erde erreichte — und als vier Großkonzerne ein fröhliches Bieten auf die Schürfrechte für den Asteroiden eröffneten —,ging eine neue Nachricht im Hauptquartier der Internationalen Astronauten-Behörde in London ein. Die Nachricht war verworren, bruchstückhaft und offensichtlich in großer Hast und fieberhafter Aufregung verfasst worden. Es gebe da irgendein Artefakt in einer Höhle tief im Innern des Asteroiden.

Einer der gesichtslosen Bürokraten tief im Getriebe der vielschichtigen Organisation der IAA schickte unverzüglich eine Nachricht an einen Angestellten von Humphries Space Systems. Der Bürokrat kündigte Stunden später — reicher, als er es je hätte erwarten dürfen —, während Martin Humphries persönlich sich mit den Prospektoren in Verbindung setzte und den Asteroiden per ›Sofortkauf‹ und für genug Geld erwarb, dass die Prospektorenfamilie für ihr Lebtag ausgesorgt hatte. Als die Entscheidungsträger der IAA sich schließlich bewusst wurden, dass ein Alien-Artefakt entdeckt worden war, standen sie vor vollendeten Tatsachen: Das Artefakt und der Asteroid, in dem es sich verbarg, waren nun das Privateigentum des reichsten Mannes im Sonnensystem.

Martin Humphries tendierte zwar zum Egomanen, ein Dummkopf war er aber nicht. Gnädig erlaubte er der IAA, ein Team von Wissenschaftlern zu organisieren, die dieses erste Objekt, geschaffen von einer außerirdischen Intelligenz, untersuchen sollten. Noch gnädiger erklärte Humphries sich dazu bereit, die weite Reise der Forscher zum Asteroiden aus eigener Tasche zu finanzieren. Er stellte nur eine Bedingung, die die IAA kaum abzulehnen vermochte. Er bestand nämlich darauf, dieses Kunsterzeugnis als erster zu sehen, bevor die Wissenschaftler es besichtigen durften.

Und er nahm die renommiertesten und prominentesten Künstler des Sonnensystems mit. Um den Wert des Artefakts als Kunstgegenstand zu ermitteln, behauptete er. Um den möglichen Nachlass bei der Körperschaftssteuer zu ermitteln, wenn er das Objekt der IAA stiftete, sagten seine Feinde. Je länger die Reise zum Asteroiden dauerte, desto mehr gelangte Elverda jedoch zu der Überzeugung, dass tief unter seiner rücksichtslosen Schale sich ein neugieriger kleiner Junge versteckte, der ganz aufgeregt war, weil er ein neues Spielzeug bekommen hatte. Ein Spielzeug, das er nur für sich allein haben wollte. Ein Kunstwerk, von Außerirdischen erschaffen.

Denn um ein Kunstwerk schien es sich bei diesem Artefakt zu handeln. Die Prospektoren-Familie sendete noch immer vage, beinahe irreale Berichte über das Aussehen des Artefakts. Die Berichte waren wertlos. Keine zwei Beschreibungen waren identisch. Wenn man dem Mann und der Frau glauben wollte, dann saß das Artefakt nur in der Mitte einer grob behauenen Höhle. Aber sie beschrieben es mit jedem Bericht anders, den sie sendeten. Es glühte von innen heraus. Es war dunkler als das tiefe Weltall. Es war eine Art Statue. Es war formlos. Es überwältigte die Sinne. Es war so klein, dass es fast in eine Hand passte. Es brachte die Kinder zum Jauchzen. Es jagte ihren Eltern Angst ein. Als sie es fotografieren wollten, war auf den Bildern nichts zu sehen. Als ob sie gar nicht auf den Auslöser gedrückt hätten.

Während Humphries ihre hirnrissigen Berichte las und voller Ungeduld daraufwartete, dass die IAA ihr handverlesenes Team aus Wissenschaftlern zusammenstellte, befahl er seinem Sicherheitschef, so schnell wie möglich einen Söldnertrupp zum Asteroiden zu entsenden. Von firmeneigenen Einrichtungen in der Jupiter-Station und den Marsmonden sowie von drei verschiedenen Vorposten im Asteroidengürtel selbst stellte Humphries Space Systems eine Brigade erfahrener Söldner zusammen. Sie erreichte den Asteroiden, bevor jemand ihnen zuvorkommen konnte, und hatte Anweisung, niemanden den Zutritt zum Asteroiden zu erlauben, bevor Martin Humphries selbst ihn erreichte.

»Die Zeit ist gekommen.«

Elverda erwachte langsam und schmerzhaft wie ein Schwimmer, der um Luft rang und ans Licht der Oberfläche strebte. Sie hatte von ihrer Kindheit geträumt, vom Dorf, in dem sie aufgewachsen war, den entfernten schneebedeckten Anden und den warmen nächtlichen Brisen, die von der Liebe kündeten.

»Die Zeit ist gekommen.«

Es war Dorns tiefe, flüsterleise Stimme. Erschrocken riss sie die Augen auf. Sie war allein in der Kabine, doch Dorns Bild füllte das Telefondisplay neben dem Bett aus. Die unter dem Display leuchtenden Zahlen sagten, dass es tatsächlich Zeit war.

»Ich bin wach«, sagte sie dem Monitor.

»Ich werde Sie in fünfzehn Minuten abholen«, sagte Dorn. »Ist das genug Zeit für Sie, um sich fertig zu machen?«

»Ja, reichlich.« Die Tage, als sie Zeit brauchte, um ihre Kleidung auszuwählen und sich herauszuputzen, waren längst vorbei.

»Also in fünfzehn Minuten.«

»Warten Sie«, entfuhr es ihr. »Können Sie mich sehen?«

»Nein. Visuelle Übertragungen müssen manuell geschaltet werden.«

»Ich sehe.«

»Ich nicht.«

Ein Witz? Elverda setzte sich im Bett auf, als Dorns Bild verblasste. Hat er überhaupt einen Sinn für Humor?

Sie schälte sich aus dem formlosen Overall, den sie im Bett getragen hatte, ging schnell unter die Dusche und holte ihren besten Kaftan aus der Reisetasche. Die Farbe war ein tiefes Mitternachtsblau, mit glitzernden Silbersternen übersät. Elverda hatte die bodenlange Kutte selbst geschneidert — aus Stoff, den ihre Mutter vor langer Zeit gewebt hatte. Die Sterne hatte sie so gemalt, wie sie sie von ihrem Heimatdorf in Erinnerung hatte.

Als sie die Tür zurückschob, sah sie Dorn mit Humphries an seiner Seite den Gang entlangkommen. Trotz seiner etwas längeren Beine schien Humphries wie ein Kind zu hopsen, um mit dem stramm und zügig marschierenden Dorn Schritt zu halten.

»Ich verlange, dass Sie die Verbindung mit meinem Schiff wiederherstellen«, sagte Humphries; seine Stimme hallte von den Wänden des Gangs wider. »Ich werde Ihnen jede Minute vom Gehalt abziehen, die diese Befehlsverweigerung andauert!«

»Das ist eine Sicherheitsmaßnahme«, sagte Dorn ruhig, ohne sich zu dem Mann umzudrehen. »Es ist nur zu Ihrem Besten.«

»Zu meinem Besten? Wer, zum Teufel, sind Sie, dass Sie entscheiden können, was zu meinem Besten ist?«

Dorn blieb drei Schritte von Elverda entfernt stehen, machte eine steife, leichte Verbeugung und wandte sich erst dann seinem Arbeitgeber zu.

»Sir, ich habe das Artefakt schon gesehen. Sie haben es noch nicht gesehen.«

»Und das macht Sie zu etwas Besserem als mich?«, knurrte Humphries beinahe. »Heiliger, vielleicht!«

»Nein«, sagte Dorn. »Nicht heiliger. Weiser.«

Humphries setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich dann aber anders.

»In welche Richtung gehen wir?«, fragte Elverda in die plötzliche Stille.

Dorn gab mit seiner prothetischen Hand die Richtung vor. »Nach unten«, erwiderte er. »Diese Richtung.«

Der Gang ging abrupt wieder in einen natürlichen Tunnel über, an dessen niedriger Decke in exakten Abständen Lampen angebracht waren. Elverda musterte Dorns halbmenschliches Gesicht im schnellen Wechselspiel von Licht und Schatten auf dem geätzten Metall — als ob der Mond seine Phasen in Intervallen von dreißig Sekunden durchlaufen hätte.

Humphries schwieg, während sie dem schrägen Tunnel nach unten ins Herz des Asteroiden folgten. Elverda hörte zuerst nur das Klicken seiner Schuhe, doch mit etwas Konzentration hörte sie dann auch den leiseren Tritt von Doms weichen Stiefeln und schließlich sogar das leise Patschen ihrer Slipper.

Die Luft schien wärmer und dicker zu werden. Oder ist das nur Einbildung? Sie schaute flüchtig auf Humphries; Schweiß perlte über seiner Oberlippe. Der Mann strahlte angespannte Erwartung aus. Dorn ging ein paar Schritte vor ihnen. Er schien nicht in Eile zu sein; dennoch führte er sie nun durch den Tunnel wie ein Priester der Antike, der zwei neue Akolythen anführte — oder religiöse Opfer.

Der Tunnel endete an einer Wand aus glattem, stumpfem Metall.

»Wir sind da.«

»Aufmachen«, befahl Humphries.

»Es wird sich von selbst öffnen«, erwiderte Dorn. Er hielt einen Moment lang inne und sagte dann: »Jetzt.«

Und das Metall glitt so lautlos ins Gestein über ihnen, als wäre es ein Vorhang aus Seide.

Keiner bewegte sich. Dann drehte Dorn sich langsam zu den beiden um und gestikulierte mit seiner menschlichen Hand.

»Das Artefakt liegt etwa dreiundzwanzig Meter unter diesem Punkt. Der Tunnel wird enger und knickt nach rechts ab. Die Kammer ist so klein, dass jeweils nur eine Person Platz hat.«

»Ich zuerst!« Humphries machte einen Schritt vorwärts.

Dorn hielt ihn mit erhobener Hand auf, der prothetischen Hand. »Ich betrachte es als meine Pflicht, Sie daraufhinzuweisen …«

Humphries versuchte, die Hand wegzuschieben; sie bewegte sich keinen Millimeter.

»Als ich diese Linie erstmals überquerte, war ich ein Soldat. Nachdem ich das Artefakt gesehen hatte, gab ich mein altes Leben auf.«

»Und wurden ein selbst ernannter Priester. Na und?«

»Das Artefakt kann Sie verändern. Ich halte es für das Beste, wenn bei der ersten Besichtigung keine Zeugen dabei sind außer dieser begabten Frau, die Sie mitgebracht haben. Wenn Sie es zum ersten Mal sehen, kann es — traumatisch sein.«

Humphries' Gesicht verzog sich in einer Mischung aus Zorn und Ekel. »Ich bin kein Auftragskiller. Ich brauche mich vor nichts zu fürchten.«

Dorn führte mit einem leisen Surren miniaturisierter Servomotoren die Hand zur Hüfte.

»Vielleicht nicht«, murmelte er so leise, dass Elverda es kaum hörte.

Humphries zwängte sich an dem Cyborg vorbei. »Bleiben Sie hier«, sagte er zu Elverda. »Sie können es anschauen, wenn ich zurück bin.«

Er lief mit einem Stakkato von Schritten durch den Tunnel.

Dann Stille.

Elverda schaute auf Dorn. Die menschliche Seite seines Gesichts schien unsagbar müde.

»Sie haben das Artefakt schon mehr als einmal gesehen, nicht wahr?«

»Vierzehn Mal«, erwiderte er.

»Es hat Ihnen in keiner Hinsicht geschadet, stimmt's?«

»Es hat mich verändert«, sagte er nach kurzem Zögern. »Und jedes Mal, wenn ich es sehe, verändert es mich mehr.«

»Sie … Sie sind wirklich Dorik Harbin?«

»Ich war es.«

»Die Leute von der Chrysallis …?«

»Dorik Harbin hat sie alle getötet. Ja. Es gibt keine Entschuldigung dafür, keine Vergebung. Es war die Tat eines Ungeheuers.«

»Aber wieso?«

»Ungeheuer tun ungeheuerliche Dinge. Dorik Harbin nahm psychotrope Drogen, um seine Kampfkraft zu steigern. Später, als die Aufputschmittel aus seinem Körper ausgeschieden waren und er sich bewusst wurde, was er getan hatte, hielt Dorik Harbin sich eine Handgranate an die Brust und zündete sie.«

»Mein Gott«, wimmerte Elverda.

»Es wurde ihm jedoch verwehrt zu sterben. Medizinische Spezialisten der Yamagata Corporation flickten ihn wieder zusammen und gaben ihm eine falsche Identität, jahrelang führte er die Parodie eines Lebens, versteckte sich vor den Behörden und floh vor seiner eigenen Schuld. Er hatte auch nicht mehr den Mut, sich zu töten; der Schmerz des ersten Versuchs war viel stärker als sein Selbsthass. Dann wurde er angeheuert, um diesen Ort aufzusuchen. Als Dorik Harbin des Artefakts zum ersten Mal ansichtig wurde, kam endlich seine wahre Identität zum Vorschein.«

Elverda hörte ein Geräusch, wie von schlurfenden oder stolpernden Füßen. Und dann kam Martin Humphries ins Bild — er taumelte, lehnte sich schwer gegen die Tunnelwand und sackte zusammen, als ob ihm die Beine den Dienst versagten.

»Kein Mensch … keiner …« Er raffte sich auf und brach in Doms Armen zusammen.

»Zerstören Sie es!«, flüsterte er rau, wobei ihm Speichel am Kinn heruntertropfte. »Zerstören Sie diesen ganzen verdammten Felsbrocken. Vernichten Sie ihn!«

»Was ist denn?«, fragte Elverda. »Was haben Siegesehen?«

Dorn legte ihn vorsichtig auf den Boden. Humphries' Füße schabten über das Gestein, als ob er davonzulaufen versuchte. Schweiß überzog sein Gesicht und durchnässte das Hemd.

»Es ist … jenseits …«, stieß er hervor. »Mehr … als irgendjemand … niemand kann das ertragen …«

Elverda kniete neben ihm nieder. »Was ist ihm zugestoßen?« Sie schaute zu Dorn auf, der auf der anderen Seite neben Humphries kniete.

»Das Artefakt.«

»Man wird alles über mich erfahren!«, keifte Humphries plötzlich los. »Jeder wird es wissen! Es muss zerstört werden! Zerstören Sie es mit Atomsprengköpfen! Sprengen Sie diesen ganzen Asteroiden in Stücke!« Seine Fäuste wirbelten in der Luft, und er hatte einen irren Blick.

»Ich habe ihn gewarnt«, sagte Dorn. Er hob Humphries an den Schultern an und legte den Kopf des Mannes in seinen Schoß. »Ich habe versucht, ihn darauf vorzubereiten.«

»Was hat er denn gesehen?« Elverdas Herz hämmerte; sie hörte das Blut in den Ohren rauschen. »Was ist es? Was haben Siegesehen?«

Dorn schüttelte langsam den Kopf. »Ich vermag es nicht zu beschreiben. Ich bezweifle, dass irgendjemand imstande ist, es zu beschreiben — außer vielleicht ein Künstler: eine Person, die darauf trainiert ist, die Wahrheit zu sehen.«

»Die Prospektoren — sie haben es gesehen. Sogar ihre Kinder haben es gesehen.«

»Ja. Als ich hier ankam, hatten sie achtzehn Tage in der Kammer verbracht. Sie verließen sie erst, als sie sich von selbst schloss. Sie aßen und schliefen und kamen dann wie hypnotisiert zurück.«

»Es hat ihnen nicht geschadet, oder?«

»Sie waren abgemagert, dehydriert. Es waren aber ein Dutzend meiner stärksten Männer erforderlich, um sie auf mein Schiff zu bringen. Sogar die Kinder wehrten sich gegen uns.«

»Aber — wie konnte …?« Elverda verstummte. Sie schaute in den hell erleuchteten Tunnel. Ihr stockte der Atem.

»Zerstören Sie es«, murmelte Humphries. »Zerstören Sie es, bevor es uns zerstört! Sie dürfen es nicht herausfinden. Sie werden es erfahren, sie werden es erfahren, sie werden es alle erfahren.« Er bekam einen Weinkrampf.

»Sie müssen es nicht sehen«, sagte Dorn zu Elverda. »Sie können zu Ihrem Schiff zurückkehren und diesen Ort verlassen.«

Geh! drängte eine Stimme in ihrem Kopf. Lauf davon! Lebe den Rest deines Lebens und lass es dabei bewenden!

»Ich bin so weit gereist«, hörte sie dann ihre eigene Stimme wie aus großer Entfernung sagen.

»Es wird Sie verändern«, warnte er sie.

»Wird es mich vom Leben befreien?«

Dorn schaute nach unten auf Humphries, der noch immer etwas Unverständliches nuschelte, und richtete den Blick wieder auf Elverda.

»Es wird Sie verändern«, wiederholte er.

Mit einer Willensanstrengung richtete Elverda sich wieder auf. »Ich will es sehen. Ich muss«, sagte sie und stützte sich mit einer Hand an der warmen Felswand ab.

»Ja«, sagte Dorn. »Ich verstehe.«

Sie sah auf ihn hinab; er kniete noch immer mit Humphries' Kopf im Schoß. Dorns elektronisches Auge glühte rot im Schatten. Sein menschliches Auge war in der Dunkelheit verborgen.

»Ich glaube, Ihre Leute sagen Vaya con Dios.«

Elverda lächelte ihn an. Sie hatte diesen Ausdruck seit vierzig Jahren nicht mehr gehört. »Ja. Sie auch. Vaya con Dios.« Sie drehte sich um und überschritt die schmale Rinne, wo die Metalltür im Boden geführt wurde.

Der Tunnel hatte nur ein leichtes Gefälle. Elverda sah, dass er scharf nach rechts abknickte — genau wie Dorn ihnen gesagt hatte. Das Licht schien heller hinter der Biegung, pulsierte fast wie ein lebendes Herz.

Sie hielt für einen Moment inne, bevor sie um diese letzte Biegung ging. Was wohl dahinter lag? Was macht das für einen Unterschied, sagte sie sich. Du hast schon so lange gelebt, dass das Leben seinen Sinn verloren hat. Aber sie wusste, dass sie sich selbst belog. Ihr Leben hatte keinen Sinn mehr, weil sie es selbst so gewollt hatte. Sie hatte Liebe verschmäht; sie hatte sogar Freundschaft zurückgewiesen, als sie ihr angeboten wurde. Doch sie wurde sich bewusst, dass sie leben wollte. Sie wollte unbedingt weiterleben, klammerte sich ans Leben.

Dennoch vermochte sie der Verlockung nicht zu widerstehen. Sie straffte sich und bog kühn um die Biegung im Tunnel.

Das Licht war so hell, dass es die Augen schmerzte. Sie beschirmte sie mit der Hand, und die Helligkeit schien sich etwas abzuschwächen; gerade genug, um die Konturen einer Form, einer Gestalt, einer Person auszumachen …

Elverda verschlug es die Sprache, als sie erkannte, um wen es sich handelte. Ein paar Meter vor ihr, nah genug, um sie zu berühren, saß ihre Mutter im weichen Gras unter der warmen Sommersonne, wiegte sachte ihr Baby und sang ihm leise etwas vor.

Mama!, rief sie stumm. Mama. Das Baby — Elverda selbst-schaute ihrer Mutter ins Gesicht und lächelte.

Und die Mutter war Elverda, eine junge und strahlende Elverda, die das Baby anlächelte, das sie nie gehabt hatte — so zärtlich und liebevoll, wie sie es nie gewesen war.

Etwas in ihr gab nach. Es war kein Schmerz; es war eher so, als ob ein Schmerz, der allzu lang in ihr gewütet hatte, plötzlich verschwände. Als ob eine undurchdringliche Eiswand schließlich schmelzen und das warme Wasser des Lebens sie durchströmen würde.

Elverda sank weinend auf den Boden und verströmte Tränen des Verstehens und der Erleichterung und Dankbarkeit. Ihre Mutter lächelte sie an.

»Ich liebe dich, Mama«,flüsterte sie. »Ich liebe dich.«

Ihre Mutter nickte und wurde wieder Elverda selbst. Ihr Baby stieß ein glucksendes, glückseliges Lachen aus und strampelte mit den Füßchen.

Das Bild flackerte, wurde unscharf und verblasste langsam. Elverda saß in völliger Finsternis auf dem kahlen Felsboden und spürte, wie Gelassenheit und Verstehen ihre Seele erwärmten.

»Sind Sie in Ordnung?«

Dorns Stimme erschreckte sie nicht. Sie hatte erwartet, dass er zu ihr kommen würde.

»Die Kammer wird sich in ein paar Minuten schließen«, sagte er. »Wir müssen gehen.«

Elverda nahm seine ausgestreckte Hand und zog sich daran hoch. Sie fühlte sich stark, als Herrin ihres Schicksals.

Der Tunnel außerhalb der Kammer war leer.

»Wo ist Humphries?«

»Ich habe ihn sediert und Sanitäter angefordert, die ihn wieder zu seinem Schiff zurückbrachten.«

»Er will das Artefakt zerstören«, sagte Elverda.

»Das wird nicht möglich sein«, sagte Dorn. »Ich werde die IAA-Wissenschaftler vom Schiff hierher bringen, bevor Humphries sich wieder erholt hat. Wenn sie das Artefakt erst einmal gesehen haben, werden sie nicht zulassen, dass es zerstört wird. Humphries mag den Asteroiden besitzen, aber die IAA wird die Kontrolle über das Artefakt ausüben.«

»Das Artefakt wird sie — seltsam beeinflussen.«

»Keine zwei Menschen werden auf dieselbe Weise betroffen«, sagte Dorn. »Und niemand wird zulassen, dass es irgendwie beschädigt wird.«

»Humphries wird nicht erfreut über Sie sein, wenn er sich wieder erholt hat.«

Er wies in den Tunnel, und sie gingen zu ihren Unterkünften zurück.

»Über Sie aber auch nicht«, sagte Dorn. »Wir beide haben ihn heulend und zähneklappernd gesehen wie einen feigen Waschlappen.«

»Was er wohl gesehen hat?«

»Wovor er sich am meisten fürchtete. Sein ganzes Leben ist von Angst bestimmt, der arme Mann.«

»Welche Geheimnisse er verbergen mussl«

»Er verbarg sie vor sich selbst. Das Artefakt hat ihm seine wahre Natur gezeigt.«

»Kein Wunder, dass er es zerstören will.«

»Er kann das Artefakt nicht zerstören, aber er wird uns sicher vernichten wollen. Sobald er sich wieder im Griff hat, wird er die Zeugen beseitigen wollen, die seine Reaktion gesehen haben.«

Elverda wusste, dass Dorn Recht hatte. Sie betrachtete sein Gesicht, während sie unter den Lampen hindurchgingen, sah den Schimmer des geätzten Metalls, die Wärme des menschlichen Fleisches.

»Sie wussten, dass er so reagieren würde, nicht wahr?«, fragte sie.

»Niemand kann so reich werden wie er, ohne von Dämonen verfolgt zu werden. Er tat einen Blick in seine Seele, denn zum ersten Mal in seinem Leben wurde ihm der Spiegel vorgehalten.«

»Sie haben das geplant!«

»Vielleicht war ich es«, sagte er. »Vielleicht hat es auch das Artefakt für mich getan.«

»Wie konnte …?«

»Es ist eine starke Erfahrung. Nachdem ich es ein paar Mal gesehen hatte, spürte ich, dass es mir … Erlösung verhieß«, sprach er es dann aus.

Elverda sah etwas in seinem Gesicht, das Dorn bisher nicht gezeigt hatte. Sie hielt im Schatten zwischen zwei Lampen an. Dorn drehte sich zu ihr um — zur Hälfte Maschine stand er im Tunnel aus nacktem Fels.

»Sie haben selbst eine Begegnung damit gehabt«, sagte er. »Sie wissen nun, wie es Sie verändern kann.«

»Ja«, sagte Elverda. »Das weiß ich.«

»Nach ein paar Besuchen in der Höhle wurde mir bewusst, dass Tausende meiner Söldner-Kameraden in Kämpfen im Asteroidengürtel getötet wurden und noch immer dort draußen umherdriften. Auch Bergarbeiter und Prospektoren. Sie driften für immer im All: einsam, vergessen und ohne dass jemand um sie trauert.«

»Tausende von Söldnern?«

»Das Chrysallis-Massaker war nicht der einzige Aderlass im Gürtel«, sagte Dorn. »Es hat viele Schlachten hier gegeben. Kriege, für die wir mit unserem Blut bezahlten.«

»Tausende?«, wiederholte Elverda. »Tausende Tote. War es wirklich so grausam?«

»Männer wie Humphries wissen das. Sie fangen die Kriege an, und Leute wie ich tragen sie aus. Exilanten, die nie mehr zur Erde zurückkehren dürfen, sobald sie den Söldnerlohn empfangen.«

»All diese Männer — getötet.«

Dorn nickte. »Und Frauen. Das Artefakt öffnete mir die Augen, dass es meine Aufgabe war, jede dieser vergessenen Leichen zu finden und jeder zu einem anständigen Begräbnis zu verhelfen. Das Artefakt schien mir sagen zu wollen, dass das mein Weg der Sühne ist.«

»Ihre Erlösung«, murmelte sie.

»Nun weiß ich aber, dass ich die Situation falsch eingeschätzt habe.«

»Inwiefern?«

»Humphries. Während ich dort draußen nach den Leichen der Gefallenen suche, wird er mich töten lassen.«

»Nein! Das ist nicht richtig!«

In Dorns tiefer Stimme lag kein Bedauern. »Es wird leicht für ihn sein, ein Team auf mich anzusetzen. In den Tiefen des dunklen Raums werden sie mich ermorden. Was ich selbst nicht zu tun vermochte, wird Humphries für mich tun. Er wird meine letzte Sühne sein.«

»Niemals!«, sagte Elverda wutentbrannt. »Das werde ich nicht zulassen.«

»Ihr Leben ist auch in Gefahr«, sagte Dorn.

»Und wenn schon? Ich bin eine alte Frau und bereit zu sterben.«

»Wirklich?«

»Zumindest war ich es … bis ich das Artefakt sah.«

»Und nun ist das Leben Ihnen wieder wichtiger, nicht wahr?«

»Ich will nicht, dass Sie sterben«, sagte Elverda. »Sie haben für Ihre Sünden gebüßt. Sie haben genug Schmerz erlitten.«

Er schaute weg und setzte den Marsch durch den Tunnel fort.

»Sie vergessen einen wichtigen Punkt«, rief Elverda ihm hinterher.

Dorn blieb stehen, wandte ihr aber den Rücken zu. Sie wurde sich bewusst, dass die Kleidung, die er trug, seine Uniform war. Er hatte nur alle Rangabzeichen und Taschen abgerissen.

»Das Artefakt. Wer hat es erschaffen? Und wieso?«

»Außerirdische Besucher unseres Sonnensystems haben es vor Äonen erschaffen«, sagte Dorn und drehte sich zu ihr um. »Und was das ›wieso‹ betrifft — sagen Sie's mir: Wieso erschafft jemand ein Kunstwerk?«

»Wieso sollten Aliens aber ein Kunstwerk erschaffen, das das menschliche Bewusstsein beeinflusst?«

Dorns menschliches Auge blinkte. Er machte einen Schritt zurück.

»Wie vermochten sie ein Kunstwerk zu erschaffen, das ein Spiegel unserer Seele ist?«, fragte Elverda und ging zu ihm hin. »Sie müssen uns gekannt haben. Sie müssen hier gewesen sein, als es schon Menschen auf der Erde gab.«

Dorn betrachtete sie schweigend.

»Vielleicht sind sie erst viel später hier gewesen, als Sie glauben«, fuhr Elverda fort und kam ihm immer näher. »Sie könnten das Artefakt hier platziert haben, um mit uns zu kommunizieren.«

»Kommunizieren?«

»Vielleicht ist es ein sehr subtiles und sehr mächtiges Kommunikationsgerät.«

»Also kein Kunstwerk.«

»Doch, natürlich ist es ein Kunstwerk. Alle Kunstwerke sind Kommunikationsgeräte für diejenigen, die eine Antenne dafür haben.«

Dorn schien für eine Weile darüber nachzudenken. Elverda betrachtete sein feierliches Gesicht und suchte nach einer menschlichen Regung.

»Selbst wenn das wahr ist«, sagte er schließlich, »ändert das nichts an meiner Mission.«

»Tut es doch«, sagte Elverda im Bestreben, ihn zu retten. »Ihre Mission besteht darin, dieses Kunstwerk zu bewahren und vor Humphries und jedem zu schützen, der es zerstören will — oder für eigene Zwecke zu missbrauchen.«

»Die Toten rufen mich«, sagte Dorn feierlich. »Ich höre sie nun in meinen Träumen.«

»Aber wieso wollen Sie Ihre Mission allein durchführen? Lassen Sie sich dabei helfen. Es muss auch noch andere Söldner geben, die genauso fühlen wie Sie

»Vielleicht«, sagte er weich.

»Ihre wahre Mission ist viel größer, als Sie glauben«, sagte Elverda und erzitterte angesichts der Dimensionen, die sich ihr auftaten. »Sie haben die Macht, für die Kriege Buße zu tun, die Ihre Kameraden das Leben gekostet und fast Ihre Seele zerstört haben.«

»Für die Kriege der Konzerne büßen??«

»Sie werden der Priester dieses Schreins, dieser Katakombe sein. Ich werde zur Erde zurückkehren und allen von diesen Kriegen erzählen.«

»Humphries und andere werden Sie töten lassen.«

»Ich bin eine berühmte Künstlerin. Sie werden es nicht wagen, mich anzurühren.« Dann lachte sie. »Und ich bin so alt, dass es mir egal wäre, wenn sie es tun.«

»Und was die Wissenschaftler betrifft — glauben Sie, dass sie wirklich herausfinden werden, wie man mit den Aliens kommuniziert?«

»Eines Tages«, sagte Elverda. »Wenn unsere Seelen rein genug sind, um den Schock ihrer Präsenz zu verkraften.«

Die menschliche Seite von Dorns Gesicht lächelte sie an. Er reichte ihr seinen Arm, und sie hakte sich in dem Bewusstsein bei ihm unter, ihre Erlösung gefunden zu haben. Wie zwei Seelenverwandte, wie Kameraden, die dem Tod ins Auge geblickt hatten, wie Mutter und Sohn gingen sie durch den Tunnel zur wartenden Menschheit hinauf.


Mein Sohn, wenn dich die bösen Buben locken,

so folge nicht. Halte deinen Fuß fern von ihrem Pfad;

denn ihre Füße laufen zum Bösen und eilen,

Blut zu vergießen.

So lauern jene auf ihr eigenes Blut und trachten

sich selbst nach dem Leben.

So geht es allen, die nach unrechtem Gewinn streben;

er nimmt ihnen das Leben.

Die Sprüche Salomos

Kapitel 1, Verse 10-19

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