Als sie im Konvoi aus vier Minizugmaschinen zum Eingang des Helvetia-Lagerhauses fuhren, sah Harbin, dass nur zwei Leute dort Dienst taten. Einer davon war eine Frau; sie war grauhaarig und wirkte großmütterlich, hatte aber ein hartes, düsteres Gesicht. Sie war korpulent und gebaut wie eine Gewichtheberin.
»Was wollt ihr Kerle?«, fragte sie schroff, als Harbin von der ersten Zugmaschine abstieg.
»Machen Sie uns keine Schwierigkeiten, Großmutter«, sagte er sanft. »Entspannen Sie sich einfach und tun das, was Ihnen gesagt wird.«
Eine Konfrontation von Angesicht zu Angesicht wie in diesem Fall war etwas ganz anderes, als in der dunklen Leere des Gürtels auf ein Raumschiff zu schießen. Das eine war wie ein Spiel; doch das hier war tödlicher Ernst. Bleib ruhig, sagte er sich. Zwing mich nicht, dich zu töten. Doch er spürte schon wieder den alten Zorn in sich aufwallen: die unkontrollierte Wut mit tödlichem Ausgang.
»Was wollt ihr?«, fragte die Frau unwirsch. »Wer, zum Teufel, seid ihr Arschlöcher?«
Harbin musste mit aller Macht einen Wutausbruch unterdrücken und bedeutete dem undisziplinierten Haufen, das Helvetia-Lagerhaus zu betreten. Sie trugen Atemmasken, womit sie in den staubigen Tunnels von Ceres aber nicht auffielen. Außerdem hatten sie Badekappen auf, die von der Erde eingeflogen worden waren; diese Kappen bedeckten den Kopf so vollständig, dass weder die Haarfarbe noch die Frisur zu erkennen waren. Harbin stellte auch sicher, dass keiner von seiner Crew Namensschilder oder sonstige Identifikationsmerkmale trug. Wenn Trace Buchanan diese simple Vorsichtsmaßnahme getroffen hätte, wäre er zweifellos noch am Leben, sagte Harbin sich.
»Was soll diese gottverdammte Zugmaschinen-Parade?«, fragte die Frau.
Sie trug auch eine Atemmaske — genauso wie der dürre Junge, der ein paar Schritte entfernt im schattigen Gang zwischen hohen Regalen stand.
»Wir sind hier, um euer Lagerhaus auszuräumen«, sagte Santorini und stakste auf sie zu.
»Was, zum Teufel, soll das heißen?«, fragte die Frau zornig und streckte die Hand nach der Telefonkonsole aus.
Santorini schickte sie mit einem Handkantenschlag zu Boden. Der Junge zwischen den Regalen hob im universalen Zeichen der Aufgabe die Hände.
»Kommt«, sagte Santorini und bedeutete den anderen, ihm zu folgen.
Harbin nickte zustimmend. Sie schickten sich an, den Lagerraum zu betreten. Der Junge stand stocksteif da; dem Ausdruck in seinem aschfahlen Gesicht nach zu urteilen war er vor Schreck wie gelähmt. Santorini trat ihm so fest in den Bauch, dass er gegen das Gestell prallte und stöhnend auf dem Boden zusammenbrach.
»Ich hab’ den Schwarzgurt in Karate!«, rief Santorini über die Schulter, als die anderen die Minizugmaschinen in Bewegung setzten und ins Lagerhaus rollten, wobei sie schwarze Staubwolken aufwirbelten.
Du kleiner rotznäsiger Angeber, sagte Harbin sich und schaute auf die Frau, die von Santorini niedergeschlagen worden war. Ihre Lippe blutete, doch wenn Blicke hätten töten können … Sie rappelte sich auf und schleppte sich zur Telefonkonsole.
Harbin packte sie an der Schulter. »Passen Sie auf, Großmutter. Sie könnten verletzt werden.«
Die Frau knurrte und schlug Harbin mit der freien Faust an die Schläfe. Der Schlag überraschte ihn mehr, als dass er ihn schmerzte, doch er löste diese innere Wut aus.
»Hören Sie auf damit«, knurrte er und schüttelte sie.
Sie wollte ihm in die Hoden treten. Harbin drehte sich zur Seite, um den Tritt mit der Hüfte abzufangen, aber es schmerzte trotzdem. In blinder Wut zog er den Elektrodolch aus der Scheide und schnitt ihr die Kehle durch.
Die alte Frau spie einen Blutschwall aus und fiel wie ein nasser Sack Zement auf den Boden.
Fuchs’ ohnehin schon düstere Stimmung schlug vollends in heißen Zorn um, als er und Nodon an Bord der Lubbock Lights, eines Schiffs der Astro Corporation gingen, das nach Ceres fliegen würde. In der Nacht zuvor hatten sie in der Pelican Bar mit George eine ausgiebige Abschiedsparty gefeiert.
»Ich werde in den Gürtel zurückkommen, sobald mein Arm nachwächst«, hatte George über vielen Bieren ein paarmal versprochen.
Alle Runden waren auf Pancho gegangen; sie hatte in unverbrüchlicher Kameradschaft mit ihnen getrunken.
Nun hatte Fuchs mit hämmernden Kopfschmerzen und sich steigerndem Hass die höchst unerfreuliche Aussicht auf einen viertägigen Rückflug nach Ceres. Er war unruhig wie ein Tiger im Käfig.
Als er die Nachricht von Amanda erhielt, wurde er fast zum Berserker.
Er war in seiner Privatkabine, in der kaum genug Platz für eine schmale Koje war und versuchte zu schlafen. Doch jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er sich dem spöttischen Blick von Martin Humphries ausgesetzt. Wieso auch nicht, fragte Fuchs sich zornig. Er ist schließlich mit einem Mord davongekommen. Und mit Piraterie. Und niemand vermag ihn aufzuhalten; es stellt sich ihm nicht einmal jemand in den Weg außer mir, und ich bin machtlos: ein erbärmlicher, machtloser und unnützer Narr.
Stundenlang wälzte er sich nur mit einer kurzen Hose bekleidet in der Koje; er schwitzte, das Haar war verfilzt, und er hatte einen stoppeligen Zweitagebart. Hör auf, dich selbst fertig zu machen, sagte er sich. Es bringt doch nichts, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Denk nach! Lass dir etwas einfallen! Wenn du dich an Humphries rächen willst, musst du ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen: Du musst präzise Pläne und eine Strategie entwerfen, um ihm ein für alle Mal den Rest zu geben. Doch jedes Mal, wenn er klar und logisch zu denken versuchte, loderte der Zorn wie eine Flutwelle aus rot glühender Lava auf und überwältigte ihn.
Das Telefon summte. Fuchs setzte sich in der Koje auf und befahl dem Computer, die eingehende Nachricht zu öffnen.
Amandas Gesicht füllte den Bildschirm an der Wand am Fuß der Koje aus. Sie wirkte angespannt, obwohl sie zu lächern versuchte.
»Hallo Liebling«, sagte sie und strich sich eine vorwitzige Locke aus dem Gesicht. »Mir geht es gut, aber sie haben das Lagerhaus geplündert.«
»Was? Geplündert?«
Sie vermochte ihn natürlich weder zu hören noch zu sehen, da sie die Nachricht vor einer guten Viertelstunde abgeschickt hatte.
»Sie haben Inga getötet. Aus purer Mordlust, nach dem, was Oskar mir erzählte. Du erinnerst dich doch noch an ihn — Oscar Jiminez. Er ist der Junge, den ich als Lagerhelfer eingestellt habe.«
Sie hat furchtbare Angst, wurde Fuchs sich bewusst, als er die Linien der Anspannung in ihrem Gesicht sah und ihre Stimme hörte.
»Sie sind in der Nachtschicht gekommen, als nur Inga und Oscar da waren. Laut Oscars Angaben waren es neun oder zehn Leute. Sie haben ihn geschlagen und Inga die Kehle durchgeschnitten. Der Mann, der das getan hat, soll dabei gelacht haben. Dann haben sie das Lagerhaus ausgeräumt. Jede Kiste, jeden Karton, jeden Artikel, den wir hatten. Es ist alles weg. Kein Stück mehr da.«
Fuchs knirschte so fest mit den Zähnen, dass der Kiefer schmerzte. Amanda kämpfte mit den Tränen.
»Mir ist nichts passiert«, sagte sie. »Es ist gestern am späten Abend geschehen. Die Frühschicht fand Inga in einer Blutlache auf dem Boden und Oscar gefesselt und geknebelt im hinteren Bereich des Lagerhauses. Und … das ist auch schon die ganze Geschichte. Ich bin in Ordnung, mir hat niemand etwas getan.« Sie strich sich wieder durchs Haar. »Ich glaube, mehr gibt es in diesem Moment nicht zu sagen. Komm schnell nach Hause, Liebling. Ich liebe dich.«
Der Bildschirm wurde dunkel. Fuchs schlug mit der Faust gegen die massive Wand und stieß ein frustriertes und zorniges Brüllen aus.
Er sprang aus der Koje und riss die dünne Schiebetür des Abteils auf. Nur mit den Shorts bekleidet stürmte er durch den Gang des Schiffs zur Brücke.
»Wir müssen so schnell wie möglich nach Ceres!«, rief er dem weiblichen Besatzungsmitglied zu, das auf dem Sitz des Kommandanten saß. Sie war allein auf der Brücke.
»Geben Sie Gas! Ich muss nach Ceres, bevor man meine Frau ermordet!«
Die Frau schaute Fuchs an, als ob er verrückt geworden wäre, doch sie rief den Kapitän, der in einen knielangen Morgenmantel aus Seide gehüllt auf die Brücke kam und sich den Schlaf aus den Augen rieb.
»Meine Frau ist in Gefahr!«, blaffte Fuchs den Kapitän an. »Wir müssen so schnell wie möglich nach Ceres!«
Für eine Weile ging es auf der Brücke zu wie im Irrenhaus. Fuchs berichtete dem Kapitän hektisch von seinen Befürchtungen, und der begriff schließlich so viel, dass er einen Funkspruch an die IAA-Flugsicherung absetzte und um Erlaubnis bat, die Beschleunigung des Schiffs zu erhöhen. Es dauerte fast eine Stunde, bis die Antwort vom IAA-Hauptquartier auf der Erde eintraf. Eine halbe Stunde, in der Fuchs murmelnd und fluchend auf der Brücke auf und ab ging und sich fragte, was auf Ceres vorging. Der Kapitän schlug vor, dass sie beide sich etwas anziehen sollten und ging in sein Quartier zurück. Nodon erschien, machte ohne ein Wort wieder kehrt und kam ein paar Minuten später mit einem Overall für Fuchs zurück.
Fuchs stieg hinein, schloss die Klettverschlüsse und bat das Crewmitglied, einen Kommunikationskanal nach Ceres zu öffnen. Sie tat das ohne zu zögern.
»Amanda«, sagte er, »ich bin unterwegs. Wir haben um Erlaubnis gebeten, zu beschleunigen, sodass ich dich vielleicht schon vor der geplanten Ankunftszeit erreiche. Ich werde dir Bescheid sagen. Verlass nicht die Unterkunft. Bitte ein paar Leute, die für uns arbeiten, sich als Wachen vor der Tür zu postieren. Ich werde sobald wie möglich bei dir sein, Liebling. Sobald wie möglich.«
Der Kapitän kehrte auf die Brücke zurück; er hatte sich das Gesicht gewaschen, das Haar gekämmt und trug eine gestärkte Springerkombination mit seinen Rangabzeichen an den Ärmeln. In diesem Moment traf die Antwort von der IAA-Leitstelle ein.
Erlaubnis verweigert. Die Lubbock Lights wird den gegenwärtigen Geschwindigkeitsvektor beibehalten und wie geplant in dreieinhalb Tagen auf Ceres eintreffen.
Zitternd drehte Fuchs sich vom Bild des roboterhaften IAA-Controllers auf dem Bildschirm zum uniformierten Kapitän um.
»Tut mir Leid«, sagte der Kapitän mit einem bedauernden Achselzucken. »Da kann ich nichts machen.«
Fuchs schaute dem Mann für einen kurzen Moment in sein ausdrucksloses, glatt rasiertes Gesicht und verpasste dem Kapitän dann eine krachende Rechte aufs Kinn. Sein Kopf flog zurück, Blut lief aus dem Mund, und er ging zu Boden. Fuchs wandte sich an die mit offenem Mund dasitzende Frau und sagte: »Maximale Beschleunigung. Sofort!«
Sie schaute auf den bewusstlosen Kapitän und dann wieder auf Fuchs. »Aber ich kann doch nicht …«
Er riss eine Stablampe aus der Befestigung an der Wand und schwang sie wie einen Knüppel. »Verschwinden Sie von den Kontrollen!«
»Aber …«
»Runter vom Stuhl!«, befahl Fuchs.
Sie sprang auf, trat zur Seite und rutschte an der gekrümmten Steuerkonsole von ihm weg.
»Nodon!«, rief Fuchs.
Der junge Asiate trat durch die offene Luke. Er warf einen nervösen Blick auf den am Boden liegenden Kapitän und dann auf die erschrockene Frau.
»Pass auf, dass niemand die Brücke betritt«, sagte Fuchs und warf ihm die Lampe zu. »Damit verpasst du jedem eine auf die Birne, der versucht, hier reinzukommen.«
Nodon bedeutete der Frau, zur Luke zu kommen, während Fuchs sich auf den Kommandantensitz setzte und die Instrumente studierte. Kein großer Unterschied zur Starpower und den anderen Schiffen, mit denen er schon geflogen war.
»Was ist mit dem Kapitän?«, fragte die Frau. Er stöhnte leise und bewegte die Beine.
»Er bleibt da liegen«, sagte Fuchs. »Er wird schon wieder.«
Sie ging, und Nodon schloss die Luke hinter ihr.
»Verriegle sie«, sagte Fuchs.
Der Kapitän setzt sich auf, rieb sich den Hinterkopf und schaute verwirrt auf Fuchs, der an der Steuerung saß.
»Was, zum Teufel, tun Sie da?«, knurrte der Kapitän.
»Ich versuche, meiner Frau das Leben zu retten«, antwortete Fuchs und erhöhte die Beschleunigung des Schiffs auf das Maximum von der Hälfte der Erdschwerkraft.
»Das ist Piraterie!«, rief der Kapitän.
Fuchs schwang auf dem Kommandantensitz herum. »Ja«, sagte er mit gepresster Stimme. »Piraterie. Die nimmt dieser Tage Überhand.«