VIERTES KAPITEL

Wenn man einen Stock in einen Ameisenhaufen steckt, werden hunderttausend Ameisen wild und gehen zum Angriff über.

Wenn an diesem Tage jemand den Rechtsanwalt Dr. Portz ansprach, konnte es geschehen wie im Ameisenhaufen: Er wurde attackiert.

Was sich hinter der dicken Cheftür abspielte, konnte man im Büro nur ahnen, an den schreienden Anweisungen, die ab und zu per Telefon oder Haussprechanlage durch die Anwaltsräume gellten. Zu Dr. Portz zu gehen, war ein Wagnis, vergleichbar mit dem Streicheln eines soeben gefangenen Tigers. Wer es trotzdem wagte, wurde von der Donnerstimme Dr. Portz' erfaßt; sie war wie ein Starkluftgebläse, das jeden wieder zur Tür hinauswirbelte.

Der Anlaß solcher unwirscher Behandlungen war unbekannt. Lediglich der Bürovorsteher, der eine Unterschriftenmappe ins Chefbüro getragen hatte, kam verstört zurück und berichtete, daß Dr. Portz wie ein gebrochener Mann hinter seinem Schreibtisch hocke, mit schlaffen, hängenden Wangen, krauser Stirn und gebeugter Gestalt.»Als ob er einen Schlag bekommen hätte!«sagte der Bürovorsteher.

Begonnen hatte dieser erschreckende Zustand nach der Durch-sicht der Post. Unter den vielen Gerichtsschreiben und Schriftsätzen der Gegenparteien war auch ein Brief aus Borkum gekommen.

Absender: Ermano Ferro, Automobile en gros, z.Z. Borkum, Hotel >Seeadler<.

Niemand im Büro beachtete das Schreiben. Nur Dr. Portz fiel der Absender bereits unangenehm auf. Wieso >Seeadler<, dachte er, bevor er den Brief aufriß! Bornemeyer sollte doch in die >Seeschwal-be< ziehen! Im Adler wohnt Frau Sacher, da hat der Bornemeyer gar nichts zu suchen.

Mit einem unguten Gefühl im Magen riß er das Kuvert auf. Dann las er den Brief, und es begann jener Zusammenbruch seiner physischen Beherrschung, der durch lautes Aufstöhnen während der Lektüre begleitet wurde.

>12… 21.10 Uhr. Ankunft in Borkum. Leicht seekrank. Fahre mit Bimmelbahn zur >Seeschwalbe<.

12… 22.10 Uhr. Kein Zimmer in der >Schwalbe< mehrfrei. Ziehe um in den >Adler<. Werde Frau Sacher noch heute abend sehen.

12… 23.00 Uhr. Habe mit Frau Sacher gesprochen. Wir haben uns geeinigt. Schlafe bis auf weiteres mit ihr zusammen.<

An dieser Stelle warf Dr. Portz den Brief weg, als gehe er in Flammen auf. Er vergrub das Gesicht in beide Hände und schwankte im Sitzen. Dann sprang er auf, schrie durch die Tür gellend» Kognak!«, warf einige Gesetzessammlungen sinnlos gegen den Bücherschrank und benahm sich tatsächlich wie ein Irrer.

«Schlafe bis auf weiteres mit ihr zusammen.«

Dr. Portz hatte das Gefühl, ein glühendes Eisen schnüre seinen Kopf ein. Er dachte an Peter Sacher, der brav in Paris bei seinem Freund saß, und an seine Pflicht als Anwalt, ihm diesen Vorfall zu berichten. Wie sollte er Peter Sacher mit den Mitteln der Logik klarmachen, daß diese trübe Tasse von Assessor Bornemeyer, der ausgeschickt worden war, eine Ehefrau zur Rettung der Ehe zu beobachten, plötzlich selbst den Scheidungsgrund lieferte?

Die Konsequenzen waren unübersehbar. Ein Angestellter des Anwaltsbüros legt sich mit dem Beobachtungsobjekt einfach ins Bett, es entstehen Ehebruch, Betrug, Scheidung, und das alles unter dem Auftrag, eine Ehe zu flicken.

Dr. Portz war in einer verzweifelten Lage. In Paris wartete Peter Sacher auf den ersten Bericht. Er war brav, ließ sich nichts zuschulden kommen, jedenfalls waren keine nachteiligen Meldungen aus Paris gekommen. Und an diesen korrekten Ehemann, der sich wirklich bemühte, in sich zu gehen, mußte man jetzt schreiben: >Lieber Peter, Deine Frau liegt mit meinem Assessor Bornemeyer im Bett!<

Unausdenkbar! Dr. Portz rieb sich den Schweiß vom Gesicht und warf das Tippfräulein, das ihm eine Flasche Kognak brachte, brüllend aus dem Zimmer.

Man hätte den irrsinnigen Auftrag gar nicht annehmen sollen, dachte er. Es bewahrheitet sich immer wieder! Es ist leichter, eine Ehe zu scheiden, als eine angeknackste wieder zu leimen. Außerdem ist ein Sack blutdurstiger Flöhe leichter zu hüten als eine schöne Frau.

Auf keinen Fall aber hätte man Bornemeyer wegschicken dürfen. Ein gehemmter Typ wie er wird zum Raubtier, wenn man ihm alle Zügel nimmt. Das hätte man wissen sollen. Ein Scheidungsanwalt ist dann gut, wenn er auch ein guter Psychologe ist.

Dr. Portz entkorkte die Kognakflasche und trank erst einmal drei Doppelstöckige. Das beruhigte ihn etwas. Seine Gedanken wurden klarer. Der scharfe Alkohol brannte die Erregung fest.

Man muß sich das alles reiflich überlegen, dachte er. Man muß einmal darüber schlafen, morgen sieht alles anders aus. Nur eines ist sicher: Bornemeyer muß sofort aus Borkum zurück!

Pläne sind dazu da, daß man sie schmiedet. Ob sie ausgeführt werden, hängt von vielen Dingen ab, an die man nicht denkt und die plötzlich vorhanden sind. Der schönste Plan aber ist nichts wert, wenn für ihn eine Grundlage fehlt. Für Dr. Portz bedeutete die weitere Durchsicht der Post das Wegrutschen aller gedanklichen Plattformen.

Unter dem Berg von Briefen sah er einen länglichen herausragen, der eine französische Marke trug. Noch bevor er ihn ganz herauszog, wußte er, wer der Absender war. Mit zitternden Fingern riß er ihn auf:

>Bester, guter Ernst!

Paris — ich wollte, ich könnte Dir den Duft dieser Stadt auf die Zunge legen, damit auch Du etwas von dem Glück mitbekommst, das mich umfängt. Wie herrlich muß der Tod Adonis' gewesen sein, der an der Liebe starb.

Guter Freund: Ich liebe! Wirklich! Ich liebe! Ich brenne! Yvonne heißt sie. Ihre Lippen sind ein See, mit Nektar gefüllt. Ihre schwarzen Locken hüllen mich ein wie ein seidenes Gespinst. Ihre Augen, ihre Hände, ihr Lächeln, ihr Gang, die Neigung ihres Kopfes, ihr Hals, ihre Brust (soll ich weiter aufzählen, es würde kein Ende nehmen) — alles an Yvonne ist ein trunkener Kuß. Ich friere bei dem Gedanken, daß in sechs Wochen alles vorbei sein soll. Ich schaudere in meinem Rosenbett bei dem Gedanken an Düsseldorf und an die stillen, schläfrigen Abende in Kaiserswerth.

Hier bin ich ein Mensch — hier kann ich 's sein!

Hebe das Papier dieses Briefes an die Lippen und spüre, wie Blütenduft ihm entquillt. Es ist das Parfüm Yvonnes. In diesem Hauch des Paradieses lebe ich undfühle die Jugend wieder in meinen Adern.

Beneide und beglückwünsche mich. Des Glückes ist kein Ende mehr.

Dein Peter.<

Dr. Portz hob den Brief nicht an die Nase und schnupperte das Parfüm des Paradieses — er schleuderte das Papier in den Papierkorb und griff zum Kognak.

Sabine Sacher mit meinem Assessor Bornemeyer und Peter Sacher mit einer Yvonne, die Lippen wie Nektarseen hat. Das war auch für einen Riesen wie Portz nicht zu verkraften.

Das Maß der Dinge aber sprengte ein zweiter Bericht Assessor Bornemeyers, den Dr. Portz als untersten Brief hervorzog. Als er den Poststempel sah, warf er das Schreiben erst einmal weit weg und setzte sich erschöpft in einen der Sessel, in denen sonst seine klagenden Klienten saßen und ihn mit trauriger Miene glaubenheischend belogen.

So geht es nicht weiter, das war der Gedanke, der sich im Gehirn Dr. Portz' immer wiederholte und der wie ein Kreisel durch seine Hirnwindungen lief. Die ersten drei Tage des Eheexperimentes sind bereits eine Katastrophe. Wie wird es erst aussehen, wenn sechs Wochen herum sind? In 42 Tagen kann, wenn es so weitergeht, die Erde von der Blutrache in den Strudel Sacherscher Entgleisungen gezogener Familien überschwemmt sein!» Nur eins gibt es«, sagte Dr. Portz laut zu sich selbst.»Sie müssen alle wieder zurück nach Düsseldorf! Amerikanische Psychologie ist eben nichts für einen Rheinländer!«

Nach dieser Selbstberuhigung holte er den zweiten Brief Bornemeyers aus der Ecke und las ihn.

>13. — 10 Uhr morgens. Treffe mich mit Sabine Sacher im Kaffeesalon. Süße Frau! Gesteht mir, daß sie zur Zeit völlig ungebunden ist. Kann als ehewidrig ausgelegt werden! Ich pflichte ihr bei, was sie zu ermutigen scheint. Anschließend Wanderung durch die Dünen.

11.27 Uhr. Habe Sabine geküßt. Küßt wunderbar. Zeugen: Ein Strandwärter, zwei Badegäste (Namen und Anschriften in der Anlage) und ein Fischer. Sabine ist entzückend. Haben uns für 14 Uhr zum Baden verabredet. Zum Abschied wieder Kuß.

12.05 Uhr. Zeugen: sieben Kurgäste auf der Promenade (Namen und Anschriften in der Anlage) und zwölf Kinder im Alter von 5-13 Jahren. Da minderjährig, als Zeugen nicht vorschlagbar.

Nächster Bericht übermorgen.

gez. Bornemeyer.<

Dr. Portz zerknüllte den Brief in seiner Hand. Den Papierknödel warf er irgendwohin.»Dieses Theater ist zu Ende!«brüllte er gegen die Wand, vor der er stand.»Beide kommen zurück! Und ich sperre sie so lange in meinem Büro ein, bis sie wie die Turteltauben um meinen Schreibtisch gurren! Und wenn's ein Jahr dauert! Und Bornemeyer, Bornemeyer.«

Dr. Portz ballte die Fäuste. Sie sahen aus wie Schmiedehämmer. Er wußte nicht, was er mit Bornemeyer tun würde, aber irgend etwas tat er.

An diesem Morgen empfing Dr. Portz keine Klienten mehr. Sogar ein Generaldirektor mußte gehen. Die Auskunft» Kann ich die kleine Wohnung meiner Geliebten als Betriebsunkosten von der Steuer absetzen?«gab ihm der Bürovorsteher.

Dr. Portz schrieb zwei Briefe.

Einen an Ferro-Bornemeyer. Strikte Weisung, sofort, sofort!!! zurückzukommen. Mit Sabine Sacher! Wie Bornemeyer das schaffte, war seine Sache. Hatte er es geschafft, mit Frau Sacher im Doppelbett zu schlafen, würde er auch das schaffen!

Der andere ging nach Paris.

Rückkehr dringend erforderlich. Deine Frau plötzlich sehr erkrankt. Völlige Störung des Hormonhaushaltes. Der Beistand des Mannes ist sehr erwünscht. Außerdem stammt der Wunsch Deiner Rückkehr von Sabine selbst

Portz!<

Eigenhändig trug er diese Briefe zur Post. Bevor er sie in den Briefkasten warf, sah er nochmals auf die Kuverts.

«Das ist das letzte Mal, daß ich Schicksal spiele«, dachte er. Dann hob er die Klappe des Briefkastens und warf die Briefe hinein.

Die Post hatte wieder sinnloses Geld verdient.

Beide Briefe kamen zu spät.

In den Dünen außerhalb des regen Badebetriebes, gedrückt in das harte Strandgras, lagen Sabine und Ermano Ferro auf ihren Bademänteln und sonnten sich.

Sie trug einen golden leuchtenden Badeanzug. Wie eine Goldbronzehaut umschloß er ihren schönen Körper. Durch die schwarzen Haare hatte sie ein rotes Band geschlungen. Ihre schon angebräunte Haut glänzte vom Sonnenöl; auf ihren geschlossenen Lidern tanzten winzige Schweißperlen.

Ermano Ferro sah sie oft an und seufzte leise, aber mit südländischem Charme. Sabine überhörte es schicklich, aber unter den Wimpern hinweg beobachtete sie ihn.

Seine weiße Haut, die so gar nicht nach Süden aussah, stach kraß von seinem Gesicht ab, das braun war. Ferro hatte Sabine dieses Phänomen erklärt, als er sich zum erstenmal entblößte, weil es gar nicht anders ging, denn man kann ja nicht voll angezogen neben einer dreiviertel nackten Frau in den Dünen liegen.

«Mein Beruf schreibt immer strengste Kleidung vor«, sagte er, sogar wahrheitsgemäß.»Nur das Gesicht und die Hände können die Glut der Sonne aufnehmen. Dafür ist aber alle verlorene Glut in meinem Herzen aufgespeichert, Signora. «Und als Sabine ihn noch kritisch ansah, fügte er unter einem wohltönenden Seufzer hinzu:»Außerdem ist mein Antlitz verbrannt unter den Strahlen Ihrer Sonne, Signora. Mein Körper hat diese Gunst noch nicht gehabt.«

Da wurde sie hellrot, wandte sich ab, legte sich auf den Bademantel und schloß die Augen.

Eine Frau, die errötet und stumm bleibt, hat eine Schlacht verloren. Bornemeyer kannte dies nur aus Romanen und Filmen. Er machte die Wahrheitsprobe, beugte sich über Sabine und küßte sie. Sie wehrte ihn nicht ab, und wenn sie ihn auch nicht widerküßte, so war doch die Duldung ein vollendeter juristischer Akt. Bornemeyer meldete den Kuß demnach auch gewissenhaft an Dr. Portz, ahnungslos ob der Wirkung, die er damit in Düsseldorf erzeugte.

Der Kuß Nummer zwei war eine Überrumpelung, von der Bornemeyer allerdings nichts schrieb. Er war neben Sabine hergegangen, war plötzlich stehengeblieben, hatte sie angeblickt und mit Spannung in der Stimme gesagt:

«Psst! Ganz still, Signora! Auf Ihrer Nase sitzt ein Käfer.«

Sabine hatte auf die Nase geschielt, aber sie hatte nichts gesehen. Desungeachtet hielt sie still.»Wo?«fragte sie nur.

«Er ist für Sie im Moment unsichtbar. Ich sehe es ganz genau. Es ist ein Käfer von der Gattung cephalus eroticus. Ich nehme ihn jetzt weg. Ganz still halten und die Augen schließen.«

Gehorsam folgte Sabine dieser Anweisung. Als sie den Kuß spürte, wehrte sie sich wieder nicht; sie war auch nicht böse oder entrüstet, sondern öffnete nur die Augen und meinte:

«Bester Signore Ferro, das hätten Sie einfacher haben können. Wozu diese faden Tricks?«

Zwei Tage war das her. Zwei Tage, in denen Ferro-Bornemeyer kaum ins salzige Meerwasser ging, weil er in einem süßen Meer des Glückes schwamm.

Heute nun lagen sie wieder in den Dünen in der Nähe der Kiebitz-Delle, sonnten sich, sprachen wenig, dachten um so mehr und hatten beide ein wenig Angst, wie es sechs Wochen lang weitergehen sollte, ohne weiter zu gehen als bisher. Ab und zu, in Abständen von zehn Minuten, küßte Ferro den ausgestreckten nackten Arm Sabines,»um die Hitze individuell aufzulockern«, sagte er einmal, und kam sich ungeheuer klug und witzig vor, seufzte dann jedesmal tief als Ausdruck seiner unterdrückten Sehnsucht und wagte es sogar einmal, Sabines Schenkel zu streicheln, was ihm ein» Na, Herr Ferro!«einbrachte. Da ließ er es sein und beschränkte sich auf Seufzer.

Sabine Sacher dachte bei den 10-Minuten-Intervall-Küssen intensiv an ihren Mann Peter. Nicht wegen der Küsse, die Ferro als so unverbindlich betrachtete, wie sie Sabine auch hinnahm, sondern weil ihre Gedanken sich damit beschäftigten, was wohl Peter jetzt in Paris machen würde. Sicherlich war er in galante Abenteuer verstrickt, denn müde Stiere werden immer munter, wenn sie auf fremden Weiden grasen.

Außerdem hatte sie gestern in Düsseldorf angerufen. Nein, hatte das Postamt ihr Auskunft gegeben, ein Peter Sacher hatte nicht nach postlagernden Sendungen gefragt. Auch ein Nachsendeantrag liege nicht vor. Das hatte sie bitter enttäuscht. Peter brach alle Brücken ab. Er nahm die sechswöchige Freiheit so ernst, als wolle er sich an sie gewöhnen, anstatt durch sie für die Weiterführung der Ehe geläutert zu werden. Vielleicht erreichte man gerade das Gegenteil des gewollten Erfolges!

Sabine begann, ängstlich zu werden. Ihr eigener Plan wuchs über sie hinaus. Das war vielleicht auch der einzige Grund, daß sie sich von Ferro so einfach küssen ließ. Innerlich war sie völlig unbeteiligt, etwa, als wenn man zu einem Hund sagt: Gib Küßchen! Seine gelackten Haare und der Menjoubart stießen sie sogar ab. Nur Geist hatte dieser Ferro, das erkannte sie an. Der Gedanke aber, sich in ihn zu verlieben, war absurd.

Sabine legte den Kopf zur Seite und schloß die Augen. Müdigkeit überfiel sie unter dem warmen Lichtmantel der Sonne. Alle Geräusche um sie herum schienen wie in Watte gepackt zu sein. Nur das Meer rauschte herrlich, bis es zu einem Wiegen wurde, das sie hinübertrug in den Schlaf.

Sie wußte nicht, wie lange sie so gelegen hatte. Es war ein Dämmerzustand, ein Schweben an der Oberfläche des Schlafes, in dem man die Geräusche vernimmt wie ein Summen. Als sie die Augen öffnete und in die Sonne blinzelte, sah sie Ermano Ferro auf dem Rücken liegen und mit seiner großen Sonnenbrille spielen. Er wartete korrekt, bis sie aus ihren Träumen erwachte. Sie fand es anständig von ihm.

«So nachdenklich?«fragte sie.

Mit einem Ruck drehte sich Ferro zu ihr.

«Gut geschlafen, Signora?«

«Ich habe nur ein wenig geträumt.«

«Von mir, Carissima?«

Sabine schüttelte lachend den Kopf.»Leider nicht, Ermano. Ich träumte vom Meer.«

Ferro hob die Fäuste und schüttelte sie.»Dieses Meer!«rief er leidenschaftlich.»Ich bin eifersüchtig auf das Meer. Es darf dich umarmen, wenn du hineinsteigst, und es darf dich küssen, wohin es will! Oh! Ich möchte nur ein Tropfen dieses Meeres sein!«

Ferro-Bornemeyer kam in Schwung. Ein herrlicher Gedanke kam ihm. Er erfaßte beide Hände Sabines und zog sie an seine Brust.

«Sabine, wir werden das Meer bestrafen! Fahren wir hinaus zu den Robbenriffen. Mit einem kleinen Boot! Und dort will ich dich küssen, bis das Meer neidisch wird!«

«Sind alle deine Landsleute so stürmisch?!«

«Wir leben zwischen Vesuv und Ätna. O Favorita, wir sind selbst Vulkane!«

Er wollte sie wieder stürmisch küssen, aber ein Räuspern hielt ihn zurück. Oben, auf dem Kamm der Düne, stand ein Herr in einem weißen Anzug und sah auf sie hinab. Auf dem Kopf trug er einen Panamahut. Er stützte sich auf einen Bambusstock und sah so aus, wie man sich wohlsituierte Herren vorstellt.

Der ungebetene Beobachter Ferroscher Liebessentenzen zog höflich den Hut, machte ein zerknirschtes Gesicht und sagte, mit einem Blinzeln in den Augenwinkeln:

«Verzeihen Sie einem alten Mann, wenn er die Unterhaltung junger Leute stört, vor allem, wenn sie so verliebt sind wie Sie. Aber ich habe Sie gesucht und freue mich, Sie gefunden zu haben, Herr Ferro.«

Bornemeyer erblaßte unter seiner Schminke. Er kennt mich, durchrann es ihn heiß. Das heißt, er kennt einen Ermano Ferro! Ich habe nie gedacht, daß es wirklich einen Menschen mit solchem Namen gibt. Ich habe ihn mir selbst erdacht.

Ferro erhob sich langsam. Er klopfte sich den Seesand von der Badehose und atmete tief durch. Kühnheit war die einzige Rettung. Bornemeyer wurde kühn.

«Sie kennen mich?«fragte er kühl.

«Persönlich hatte ich noch nicht die Ehre. «Der alte Herr verbeugte sich korrekt. Erst vor Sabine, dann vor Ermano.»Von Bergenfeldt. Ich hörte in meinem Hotel, daß Sie, Herr Ferro, auf Borkum sind. Alle Welt spricht ja von Ihnen. Sie haben in Genua eine Autofirma?«

«Ganz recht. «Ferro-Bornemeyer fühlte, daß er zu schwitzen begann. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg. Was will er bloß, dachte er. Kannte der Baron seine Firma? War er in Genua gewe-sen und wollte über die Stadt plaudern? Bornemeyer kannte Genua nur vom Atlas und Lexikon her. In der Schule hatte er gelernt, daß Genua einen Hafen hatte, in manchen Stadtteilen sehr schmutzig war und von Händlern wimmelte, die von überhöhten Preisen lebten. Das war aber auch alles, was er von der Stadt wußte.

Freiherr v. Bergenfeldt nickte freundlich.

«Sie müssen wissen, ich habe eine große Vorliebe für italienische Wagen. Ihre Form, ihre Schnelligkeit, ihre Eleganz, ihr Komfort — einfach große Klasse ohne Beispiel.«

«Wir wissen es«, sagte Ferro stolz.»Sie sind der Ausdruck unserer ewigen Sehnsucht nach Schönheit. «Dabei sah er Sabine an. Sie errötete leicht und sah zur Seite.

In Wahrheit war es Bornemeyer alles andere zumute, als in diesem Augenblick zu flirten. Da stand ein Autonarr, ohne Zweifel, und wollte sich unterhalten über italienische Superwagen. Bornemeyer kannte keine einzige italienische Automarke, geschweige denn wußte er, wie die Traumautos aussahen. Doch halt! Da gab es den Alfa Romeo. Natürlich. Als Kind hatte er immer gesagt: Ich fahre einmal einen Romeo! Aber wer weiß, ob es die heute noch gibt?

Ferro-Bornemeyer klemmte sein Monokel ins Auge, das er an einer Seidenschnur auf der nackten Brust trug. Es sah lächerlich aus, ein Mann in Badehose mit Monokel, aber Bornemeyer kam es lediglich auf das Gewinnen von Zeit an.

«Lieber Herr Baron«, sagte er würdevoll.»Ich bin auf Borkum, um einmal nichts, absolut nichts von Autos zu hören. Für sechs Wochen völlige Ruhe. Das war mein innigster Wunsch. Seit drei Jahren hatte ich keinen Urlaub. Die Autos fressen mich auf!Können Sie das verstehen, ohne mich mißzuverstehen?! Immer nur verhandeln, vorführen, verkaufen, Neukonstruktionen ausprobieren.«

«Interessant. «Bergenfeldt setzte seinen Panamahut wieder auf.»Sie haben eine Neukonstruktion! Das nenne ich geradezu delikat. Sie müssen mir darüber genau berichten. Was es auch sei, der Wagen ist gekauft.«

Bornemeyer fühlte ein Kribbeln in den Adern.

«Ich habe Ferien!«sagte er grob.

«Ferien?«Der Baron winkte lässig ab.»Wie kann ein Mann, der neue Autos konstruiert, jemals Ferien haben? Das wäre ja widernatürlich! Beim Auto liegt die Zukunft der Welt, mein Herr! Der Motor wird das neue Herz!«

Was tun, brütete Ferro-Bornemeyer. Baron v. Bergenfeldt war nicht der Mann, der sich durch billige Reden abwimmeln ließ. Er würde ihnen folgen, in den Seeadler, in die Dünen, sogar ins Meer! Es gibt Fanatiker, deren Hartnäckigkeit tödlich wird.

«Kommen Sie in vier Wochen wieder«, sagte Ferro laut.»Ich werde Sie in Bremen erwarten.«

«In vier Wochen, Herr Ferro? Ich bitte Sie! Ich bin der Aufsichtsratsvorsitzende eines Riesenwerkes. Ich werde dafür sorgen, daß alle Aufsichtsratsmitglieder Ihren Wagen fahren! Ich kaufe Ihre Neukonstruktion!«

«Sie ist noch in der Erprobung!«schrie Ferro gequält auf.

«Dann räumen Sie mir eine Option auf die ersten zwanzig Stück ein! Wir müssen darüber sprechen! Ich zahle fünfzig Prozent an! Ist das ein Angebot?«Der Baron kam in Eifer. Er schob den Panamahut in den Nacken und kam die Düne herab.»Welche Firma bringt denn den Wagen?«

Die Frage! Da ist sie! Ferro-Bornemeyer sah in den wolkenlosen, hellblauen Himmel. Ich möchte ein Wassertröpfchen sein, dachte er, und jetzt von der Sonne aufgesaugt werden. Pff, und weg, das wäre herrlich. Aber er war kein Wassertröpfchen, obgleich der Mensch zu achtundneunzig Prozent aus Wasser besteht, und verdunstete nicht.

«Ich vertrete die Firma >Pneumastica<«, sagte er frech.

Bergenfeldt schaute Ferro einen Augenblick verdutzt an. Man sah, wie seine Gedanken arbeiteten, wie sie suchten, wie sie sich erinnern wollten. Da es vergeblich war, schüttelte er den Kopf.

«Ich kenne alle italienischen Autofirmen. Doch der Name >Pneumastica<, vergeben Sie mir, Herr Ferro, dieser Name ist mir nicht haften geblieben.«

«Was?!«Ermano Ferro war tief gekränkt. Bornemeyer spielte es vorzüglich. Sein Monokel entfiel dem Auge und klatschte auf die nackte Brust. Er sah sogar Sabine an, als könne sie ihm bei diesem Affront des Barons zu Hilfe eilen.

«Sie kennen die alte Firma >Pneumastica< nicht? Dreimal haben wir die Goldmedaille gewonnen! Wir haben auf den Weltausstellungen in Paris, Chikago und Brüssel die meisten Aufträge bekommen!«Hoffentlich war in Chikago eine Weltausstellung, dachte er.»Der Kaiser von Siam und der Radschah von Brimopur fahren nur unsere >Pneumasticas

«Erstaunlich! Wirklich erstaunlich!«Bergenfeldt wischte sich den Schweiß von der Stirn.»Das Alter, Herr Ferro. Die Erinnerungen versagen. Aber ich werde vom Hotel aus gleich meinen Sekretär anrufen, damit er in der Liste der italienischen Wagen nachsieht. Es soll nie wieder vorkommen. «Er ergriff Sabines Hand und küßte sie galant. Unter Bornemeyer schwankte der Dünenboden. Er läßt nachsehen, dachte er. O Gott! O Gott!

Der Baron hielt noch immer Sabines Hand fest.

«Geben Sir mir Gelegenheit, es wiedergutzumachen, Gnädigste«, sagte er.»Erweisen Sie mir die Ehre«, er wandte sich an Ferro,»Sie und Ihre Frau Gemahlin zu einem kleinen Souper zu laden.«

Bornemeyer erkannte die Alternative sofort. Es gab nur zwei Wege, und jeder Weg war beschämend. Entweder er nahm die Einladung an und wurde dabei kläglich entlarvt, oder er flüchtete von Borkum und verkroch sich irgendwo. Doch wohin flüchten?

«Um acht Uhr, morgen abend?«fragte v. Bergenfeldt.»Ist es Ihnen recht?«

«Ist es uns recht?«fragte Ferro zu Sabine hin.

«Einverstanden«, sagte sie und blinzelte ihm zu.

Sie nimmt es als Scherz hin, was für mich eine bittere Situation ist! Mit zitternden Fingern klemmte er das Monokel wieder ins Auge.

«Also gut, morgen um acht Uhr abends!«

Der Baron zog seinen Panamahut und entfernte sich diskret schnell.

Zurück ließ er einen fast verzweifelten Bornemeyer und eine lachende Sabine Sacher.

«Er hält uns für ein Ehepaar!«sagte sie fröhlich.

«Allein dieser Gedanke macht mich benommen. «Ferro meinte es ehrlich. Sabine nahm es als ein sehr galantes Kompliment und wandte sich errötend ab.

Weg aus Borkum, dachte Ferro. Nur weg von hier. Aber wohin fährt man mit einer schönen Frau? Allein zu fahren, verwarf Ferro. Einmal in seinem Leben hatte er es geschafft, eine schöne Frau zu erobern. Jetzt klammerte er sich an diesen Höhepunkt seines Lebens und war nicht bereit, ihn wieder herzugeben.

Verliebte, Seitensprüngler, Brautleute und müde Ehemänner mit neuerwachten Ambitionen reisen nach Venedig. Aber Venedig liegt in Italien, und was soll ein Italiener, der keiner ist, in Italien. Zumindest muß er seine Muttersprache sprechen. Venedig war also undiskutabel.

Die Riviera! Wer sich an der Riviera nicht verliebt, muß anormal sein. Das blaue Mittelmeer, die weißen Villen unter Palmen und Agaven, die Eleganz, Lebensfreude und Großzügigkeit und vor allem die Hoteldirektoren, die einen Meldezettel nicht durchlesen und das >mit Frau< gelassen hinnehmen.

Langsam gingen Ferro und Sabine durch die Dünen zur Promenade. Sie sprachen kaum, nur ein paar belanglose Bemerkungen. Selbst als Sabine sagte:»Gratuliere, Ermano! In den Ferien ein dicker Abschluß«, zwang er sich nur zu einem schiefen Lächeln.

Wohin? grübelte er. Wohin bloß? Und wie sage ich es Sabine Sacher? Freiwillig wird sie nie mitgehen!

Sabine ging neben ihm her. Sie hatte den Arm unter seinen Arm geschoben. Sie spürte durch den Bademantel die Wärme seines Körpers. Wie soll das weitergehen, dachte sie wieder. Es ist ja Wahnsinn, was ich hier tue!

Sie drückte den Arm gegen seine Seite.»Warum so still?«fragte sie.

Ferro schrak zusammen.»Vergebung, Madonna!«sagte er stockend.

«Es ist nur. «Er blieb stehen und nahm ihre Hände, küßte sie und sah sie feurig an. Daß ihm das noch gelang, war selbst für ihn verblüffend.»Favorita, hast du Lust, eine kleine Reise zu machen?«

«Eine Reise? Mit dir?«Sabines Herz setzte einen Augenblick aus. Es wird Ernst, dachte sie. Was soll ich tun? Im letzten Moment fiel ihr ein, was jeden Mann von weiterem Drängen abhalten mußte:»Aber ich muß doch in Borkum bleiben! Vielleicht kommt in Kürze mein Mann.«

Das weiß ich besser, dachte Bornemeyer. Anstatt sich zurückzuziehen, wurde er zur größten Verblüffung Sabines doppelt so feurig.

«Immer dein Mann! Immer! Ich werde wild!«rief er.»Ja, ich könnte ihn ermorden! Erdolchen, das ist eine Spezialität meiner Familie! Seit der Renaissance erdolchen wir uns! Oh!«Er umarmte sie, ungeachtet der Passanten, die über die Promenade gingen und diskret die Szene übersehen wollten.»Komm mit mir, Madonna! Ich flehe dich an! Ich habe ein Telegramm bekommen! Ich muß nach Frankreich.«

Sabines Kopf flog herum.»Nach Paris?!«rief sie begeistert. Peter! Zu Peter!

«Nein, nicht Paris! Ich muß ans Mittelmeer. Nach Nizza!«

Nizza fiel Bornemeyer beim Sprechen ein. Als er es gesagt hatte, bekam er eine heillose Angst vor den Konsequenzen. Nicht nur Borkum, sondern auch Nizza mußte Dr. Portz bezahlen! Ob er es tat, war eine Frage, die in den Sternen lag. Außerdem war Nizza weit. Man mußte nur eine Begründung finden, die Dr. Portz anerkannte.

«Nizza ist ein Garten Eden!«sagte Ferro schwärmerisch.»Kennst du Nizza?«

«Nein.«

«Ein Paradies! Und ich sehne die Stunde herbei, in der du zu mir als Schlange kommst.«

«Sie wird beißen!«sagte Sabine kritisch.

«Ich werde den Biß mit einem goldenen Medaillon einrahmen!«»Du bist ein unverbesserlicher Charmeur.«

Sie lachte und ging weiter. Ferro trottete hinter ihr her.

In ihrem gemeinsamen Zimmer trennte sie wieder die spanische Wand. Sie zogen sich um. Bornemeyer saß in Unterhosen auf seinem Bett und hatte Angst vor seinem eigenen Mut.

«Ist es dir recht, wenn wir schon morgen fahren?«fragte er.

Sabines Lachen girrte durch die spanische Wand. Ein Parfümzerstäuber zischte. Es roch nach frischen Maiglöckchen.

«Ich habe ja gar nicht gesagt, daß ich mitfahre!«

«Ich setze es voraus, Madonna!«

«Wie selbstherrlich! Und wenn ich nein sage?«

«Du sagst nicht nein! Ich weiß, du bist auf Nizza viel zu neugierig, um nein zu sagen! Es reizt dich, im Paradies die Schlange zu spielen! Welche Frau wäre nicht neugierig auf Nizza?«

«Ich.«

«Du lügst! Verzeih, Favorita, aber du lügst! Es liegt nur an der Geschicklichkeit des Mannes, ob eine Frau nach einer Stunde oder nach einem Jahr >Ja< sagt!«

«Und wieviel Zeit gibst du mir, Ermano?«

«Im höchsten Fall eine Minute!«

«Pfui!«Sie lachte dabei, aber dieses Lachen war vermischt mit Angst. Bornemeyer nahm es als klare Antwort hin.

Im Speisesaal des >Seeadler< erwartete Ferro eine unangenehme Überraschung. Die Post war mit dem Schiff gekommen und gerade verteilt worden.

Kaum saß er mit Sabine Sacher am Tisch und war damit beschäftigt, eine knusprig gebackene Seezunge >Müllerin Art< von den Gräten zu schälen, als der Boy zuerst Sabine, dann Ferro ein gelbes Kuvert überreichte.

Telegramme!

«Bitte entschuldige einen Augenblick«, sagte Ferro mit einem unguten Gefühl im Magen. Er machte dabei ein Gesicht, als stinke die herrliche Seezunge, schlitzte das Kuvert auf und las zuerst die Unterschrift.

Dr. Portz. Bornemeyer biß sich auf die Lippen. Das Telegramm lautete:

nichts weiter unternehmen — stop — brief abwarten — stop — alle unterlagen vernichten — stop — untersage alle transaktionen — stop — portz.<

Zur gleichen Zeit las auch Sabine Sacher ihre Nachricht. Auch sie kam aus Düsseldorf und lautete kurz:

>haben alles erfahren — stop — ihr mann außer sich — stop — rückkehr nach düsseldorf dringendst empfohlen — stop — warten sie bitte brief ab — stop — dr. portz.<

Ermano Ferro zerknüllte das Telegramm und steckte es in die Hosentasche. Mit bleichen Lippen schob er die Seezunge weg. Der Appetit war ihm vergangen.

Mit großen Augen sah ihn Sabine an. Sie war blaß geworden und legte die Hände auf ihren Schoß, weil sie zitterten.

«Ist es etwas Schlimmes?«fragte sie ängstlich.

Bornemeyer schüttelte heftig den Kopf.

«Nein, nein! Rein geschäftlich! Mein Kompagnon, man soll nie Kompagnons haben, drahtet mir, daß die Fertigstellung der neuen Automodelle sich um zwei Monate verzögert. Am Auspuff stimmt etwas nicht.«

«Am Auspuff.«

«Ja!«

«Das ist wohl ein großer Schaden für dich?«

Ferro hob die Hand. Er lächelte gewaltsam.»Ich werde es verschmerzen müssen! Und dein Telegramm, Carissima? Von deinem Mann?!«

«Nein, nein!«Sabine steckte das Telegramm in ihre kleine Handtasche.»Eine Nachricht von einer Freundin. Man soll so wenig Freundinnen wie möglich haben. Es sind alles Schlangen! Diese hier will nach Borkum kommen! Gerade jetzt! Und ich kann diese Frau nicht ausstehen!«Sie ergriff Ferros Hand.»Ermano, wann fahren wir nach

Nizza?!«

«Du kommst mit?!«schrie Bornemeyer fast.

«Ja! Ich muß weg von hier!«

«Wir fahren sofort! Mit dem nächsten SchiffiVon Emden nach Brüssel! Von dort nach Paris.«

«Paris!«Sabine schauderte zusammen, als fröre sie.»Müssen wir über Paris?«

«Nur umsteigen. Von dort geht's nach Nizza!«Ferro schnellte vom Stuhl hoch.»Ich lasse sofort unsere Koffer packen. Ja?«

«Ja.«

Ferro eilte aus dem Speisesaal.

Flucht, das war auch der erste Gedanke bei Sabine, als sie das Telegramm las. Peter weiß alles. Und er tobte! Peter war nie jähzornig, aber welcher Mann bleibt gelassen, wenn er erfährt, daß seine Frau.

Sabine stützte den Kopf in beide Hände. Wieso ist er so aufgeregt, dachte sie. Wenn seine Frau ihm völlig gleichgültig ist, braucht er nicht den starken und wilden Mann zu spielen. Und was hatte man im Grunde genommen denn getan? Man hatte sich umschwärmen lassen, man hatte sich küssen lassen. Beim letzten Karneval in Düsseldorf hatte Peter mindestens zwanzig Frauen geküßt, und keiner hatte es übel genommen. Und weiß man, was er in Paris getan hat oder noch tut?

Sabine Sacher ging auf ihr Zimmer. Hinter der spanischen Wand hörte sie Ferro rumoren. Er packte.

Dieses Zimmer, dachte sie. Ein Doppelzimmer! Natürlich gibt es zu kritischen Betrachtungen Anlaß. Aber konnte sie dafür, daß die Hotelleitung falsch disponiert hatte? Sie hatte das Zimmer allein gemietet. Das konnte sie beweisen. Und zudem war eine spanische Wand dazwischen, ohne Löcher und Ritzen!

Juristisch allerdings bleibt ein Doppelzimmer immer ein Doppelzimmer. Es war nur unerhört, daß Peter auf einmal so juristisch dachte!

Sie setzte sich auf das Bett, starrte gegen die spanische Wand, und plötzlich weinte sie, obgleich sie es nicht wollte.

Ein leises Klopfen schreckte sie auf. Ferro trommelte mit dem Fingerknöchel gegen die spanische Wand.

«Favorita!«

«Was ist?«sagte Sabine kläglich.

«Wir fahren mit dem nächsten Schiff. In einer halben Stunde geht es ab.«

Sabine schüttelte den Kopf. Da Ferro es nicht sehen konnte, meinte sie mit schwankender Stimme:

«Ich glaube, ich bekomme eine Migräne. Es wird nicht gehen.«

«O Santa Maria!«Bornemeyer prallte zurück.»Lassen Sie mich jetzt nicht allein, Madonna! Bloß das nicht! Ich bitte dich, komm mit! Wir müssen das letzte Schiff bekommen. Morgen ist es zu spät.«

Morgen hat der Baron die Auskunft seines Sekretärs. Dann platzt der Ermano Ferro wie ein Luftballon, in den man hineinsticht.

Morgen kommt ein Brief von Dr. Portz, und ihn konnte man nicht verleugnen. Ein Telegramm kann verstümmelt ankommen, ein Brief ist aber klar!

Ferro rang die Hände. Er kannte die Frauen nicht, aber soviel hatte er bei erfahrenen Schriftstellern und bei scheidungsfreudigen Ehemännern gelesen und gehört, daß für Frauen, die Migräne haben, die Welt untergehen kann; sie haben dafür nur ein mitleidiges Lächeln. Die Migräne einer Frau ist der Untergang der männlichen Beherrschung.

Bornemeyer schloß den Kragen seines Hemdes, schlang die Krawatte um, fuhr in seinen Rock und rannte aus dem Zimmer. Handeln! Die Migräne aufhalten, ehe sie Welten zerstört! Mit langen Schritten raste er die Treppe hinab und stolperte in die Halle, faßte den ersten Geschäftsführer, der gerade in sein Büro gehen wollte, an den Rockschößen und zog ihn zu sich heran.

«Ein Mittel gegen Migräne!«schrie er.»Schnell! Die Signora hat Schmerzen!«

Der Geschäftsführer war zunächst erstarrt. Ehe er etwas antworten konnte, erhob sich ein älterer Herr aus einem der Foyersessel und kam auf Ferro zu.

«Mein Herr, ich hörte soeben Ihren Ruf nach einem Migränemittel. Ich bin Arzt. Dr. Bergner. Wenn ich Ihnen meine Hilfe anbieten darf. Ich werde gerne nach der Dame sehen.«

«Tun Sie es! Schnell! Helfen Sie ihr.«

Bornemeyer raste wieder die Treppen hinauf. Der Arzt folgte ihm. Er ging schnell in ein anderes Zimmer, kam dann mit einer Tasche zurück und betrat darauf das Zimmer, das ihm Bornemeyer zeigte. Er selbst blieb auf dem Flur stehen, verwünschte sich, daß er keine Zigaretten dabei hatte, denn er hätte jetzt gerne geraucht, und rannte im Gang unruhig hin und her.

Der Arzt kam schneller aus dem bizonalen Zimmer, als es Ferro erwartet hatte. Bornemeyer stürzte auf ihn zu.

«Was hat sie?«fragte er atemlos.

«Die Dame hat einen schweren seelischen Schock erlitten. «Der Arzt schüttelte den Kopf. Er sah Ferro kritisch an.»Hatten Sie Streit?«

«Im Gegenteil.«

«Die Dame braucht unbedingte Ruhe! Zwei Tage Bettruhe sind das mindeste.«

Ferro-Bornemeyer hatte das Gefühl, grün im Gesicht zu werden.

«Zwei Tage!«stammelte er.

«Mindestens! Ich habe ein Rezept auf den Tisch gelegt. Die Dame schläft jetzt. Ich habe eine Beruhigungsinjektion gemacht. Sie wird bis morgen fest durchschlafen. Gegen Mittag sehe ich noch einmal nach ihr. Guten Abend.«

«Guten Abend.«

Als der Arzt den Flur verlassen hatte, stürzte Bornemeyer in das Zimmer. Er betrat Sabines Wohnteil und blieb vor dem Bett stehen.

Sabine lag auf ihrem Bett und schlief. Der Arzt hatte ihr die Schuhe ausgezogen, das Kleid und die Strümpfe. Sie lächelte im Schlaf wie ein Kind, das von Puppen träumt.

Verzweifelte haben verzweifelte Gedanken. Das steht ihnen zu; sogar im Gesetz ist für sie der § 51 Abs. 2 eingerichtet worden. Auch

Ferro-Bornemeyer balancierte in diesen Augenblicken auf der Schneide seiner Vernunft. Beim Anblick von Sabines wohlgeformten schlanken Beinen brütete er ein Kabinettstück verminderter Zurechnungsfähigkeit aus.

Er zog die wie eine Tote schlafende Sabine Sacher wieder an.

Er packte ihre Koffer fertig.

Dann ging er hinunter, beglich Sabines und seine Hotelrechnung, erklärte, daß man aufgrund familiärer Ereignisse den Urlaub abbrechen müsse und morgen früh abfahre. Frau Sacher ebenfalls, er selbst fahre gleich. Als neuen Aufenthaltsort gab er Kopenhagen an.

Die Direktion war untröstlich. Ihr Paradepferd verließ die Insel wieder. Aber so ist es, je reicher man ist, um so unruhiger wird man.

Ferro-Bornemeyer rannte wieder die Treppen hinauf, in das Zimmer und packte seine eigenen Sachen. Ein Blick auf die Uhr, die Zeit war knapp geworden bis zum letzten Schiff.

Einen Augenblick zögerte er. Der letzte Augenblick vor § 51 Abs. 2, dann zog er Sabine Sacher vom Bett, legte sie auf eine große Reisedecke und rollte sie in die Decke ein. Er hatte sie bei Sabines Gepäck gefunden. Wie einen Seesack verschnürte er das Bündel und hängte an den oberen Bindfadenknoten ein großes Schild: >Bitte nicht werfen! Wertvolles Porzellan!<

Am Kopf Sabines, er hatte ihn locker verpackt, damit sie nicht erstickte, befestigte er ein zweites Schild: >Hier oben! Aufrecht stel-len!<

Noch einmal betrachtete er sein Werk, dann rief er den Hausgepäckträger.»Mit Handwagen, bitte«, sagte er ins Telefon.»Ich habe eine wertvolle Vase mitzunehmen.«

Der Transport zum Hafen gelang vorzüglich. Um 21.15 Uhr fuhr das letzte Schiff nach Emden. Wie ein Museumsdiener saß Ferro-Bornemeyer vor dem langen Paket und bewachte es. Wenn es beim Rattern der Inselbahn umzufallen drohte, stemmte er sich dagegen und drückte die Rolle wieder aufrecht an die Zugwand. Im Hafen trug er mit einem Gepäckträger selbst die wertvolle >Vase< aufs Schiff und stellte sie sicher zwischen einigen Koffern in eine Ecke.

So schaffte man einst Cleopatra zu Caesar, eingehüllt in einen Teppich, dachte Ferro zur eigenen Beruhigung. Was Caesar konnte, kann auch Bornemeyer, wenn Männer lieben, ändern sich Zeiten nie!

Er hatte Glück und bekam noch eine Kabine. Mit dem Steward trug er seine >Vase< in den engen Raum.

«Vorsicht! Langsam!«schrie er.»Nicht fallen lassen!«

In der Kabine legte er das lange Paket aufs Bett und gab dem Steward fünf Mark Trinkgeld. Dann saß er vor der Deckenrolle, öffnete ein wenig den Kopfteil, so daß Sabines Mund frei lag. Ein schöner Mund mit leicht geöffneten Lippen. Wenn sie durch das Schaukeln des Schiffes bloß nicht aufwacht, dachte er. Mein Gott, wenn sie die Augen aufschlägt und zu schreien beginnt. Ich stürze mich ins Meer.

Die Motoren stampften, die freie See war erreicht. Borkum lag hinter ihnen. Er spürte es am Schaukeln des Schiffes auf den langen Wellen.

Nach einer Weile stummer Betrachtung von Sabines Mund ging er an Deck. Vorher verschloß er die Kabine und nahm den Schlüssel mit.

Mit wehenden Haaren stand er später an der Reling und sah zurück auf das Lichterband am Horizont. Borkum versank im Meer. Die Arme des Leuchtturmes griffen in den Nachthimmel und rissen die Wolken aus der Dunkelheit. An der Bordwand rauschte und gischtete das Meer empor.

Wie befreit breitete Bornemeyer seine Arme aus. Dann eilte er zurück zur Kabine, schloß von innen ab und begann, Sabine wieder aus der Decke zu wickeln. Er legte sie aufs Bett, deckte sie zu und gab ihr einen Kuß.

Sabine Sacher lächelte noch immer im Schlaf.

Bornemeyer setzte sich in eine Ecke, unter das verhangene Bullauge, und kam sich unendlich glücklich vor.

Er dachte nicht an morgen.

Welcher Mann denkt auch an morgen, wenn er glaubt, die beste Tat seines Lebens vollbracht zu haben?

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