ZWÖLFTER TEIL Es geht so schnell

Sie schlenderten hinunter zu den niedrigen Uferfelsen oberhalb von Florentine. Es war Nacht, die Luft ruhig und kühl, die Sterne standen zu Tausenden gebündelt. Sie gingen nebeneinander auf dem Klippenpfad und blickten auf die Strände hinab. Das schwarze Wasser war glatt, gespiegeltes Sternenlicht perforierte die Obsidianfläche, und die lange verwischte Linie, die kaum als Pseudophobos zu erkennen war, ging im Osten unter und führte das Auge zu der dunklen schwarzen Landmasse jenseits der Bucht.

Ich bin besorgt, ja, sehr besorgt. Ich habe direkt Angst.

Warum?

Es ist Maya. Ihr Verstand. Ihre mentalen Probleme. Ihre emotionalen Probleme. Die werden ständig schlimmer.

Was sind das für Symptome?

Die gleichen, nur schlimmer. Sie kann nachts nicht schlafen. Manchmal haßt sie es, wie sie Aussieht. Sie befindet sich noch in ihrem manisch depressiven Zyklus, aber es ändert sich irgendwie. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Als ob sie sich nicht immer erinnern könnte, wo sie sich in dem Zyklus befindet. Sie springt darin umher. Sie vergißt vieles.

Das geht uns allen so.

Ich weiß. Aber Maya vergißt Dinge, die ich für sie typisch nennen würde. Es scheint sie nicht zu kümmern. Das ist das Schlimmste dabei. Es scheint ihr gleichgültig zu sein.

Das kann ich mir schwer vorstellen.

Ich mir auch. Vielleicht ist es nur der depressive Teil des Stimmungszyklus, der jetzt vorherrscht. Aber es gibt Tage, wo sie jede Gemütsbewegung verliert.

Nennt ihr so etwas jamais vu?

Nein, nicht genau. Sie hat allerdings auch solche Zustände. Wie ein gewisses Syndrom vor einem Schlaganfall.

Aber ich weiß wirklich nicht, was das ist. Sie hat jamais-vu-Eindrücke, bei denen sie sich fast an der Schwelle einer Erleuchtung fühlt, die nie kommt. Das geschieht oft bei Menschen in vorepileptischen Zuständen.

Ich habe selbst solche Empfindungen.

Ja, ich glaube, die haben wir alle. Manchmal scheint es, als würden sich die Dinge klären, und dann verschwindet dieses Gefühl. Ja. Aber für Maya sind diese sehr intensiv, wie alles.

Kontingenz. Freier Wille.

Vielleicht. Aber der Nettoeffekt aller dieser Symptome treibt sie in einen apathischen Zustand. Fast Katatonie. Versuche, alles derartige dadurch zu vermeiden, daß sie nicht zuviel empfindet. Überhaupt nichts empfindet.

Man sagt, eine der verbreitetsten Krankheiten der Issei ist es, in Angst zu verfallen.

Ja, ich habe davon gelesen. Verlust der Affektfunktion, Anomie, Apathie. Man behandelt das wie Katatonie oder Schizophrenie und gibt ihnen eine Kombination von Serotonin und Dopamin, limbische Stimulantien... ein explosiver Cocktail, kannst du dir vorstellen. Gehirnchemie... Ich habe ihr alles mögliche verordnet, das man sich vorstellen kannst, das muß ich zugeben. Ich habe Zeitschriften abgerufen, Tests durchgeführt, manchmal mit ihrem Wissen, manchmal ohne. Ich habe getan, was ich konnte, das schwöre ich.

Dessen bin ich mir sicher.

Aber es wirkt nicht. Sie verliert es. O Sax...

Er hielt inne und hielt sich an der Schulter seines Freundes fest.

Ich kann es nicht ertragen, wenn sie geht. Sie hatte immer einen so wachen Verstand. Wir sind Erde und Wasser, Feuer und Luft. Und Maya war immer beschwingt. Ein so ätherischer Geist, der auf kräftigen Schwingen über uns schwebte. Ich kann es nicht ertragen, sie sofallen zu sehen1.

Na ja.

Sie gingen weiter.

Es ist schön, Phobos wiederzusehen.

Ja. Das war eine gute Idee von dir.

Eigentlich war es deine Idee. Du hast es mir vorgeschlagen.

Wirklich? Ich erinnere mich nicht daran.

Unter ihnen klatschte das Meer leise gegen die Felsen.

Diese vier Elemente. Erde, Wasser, Feuer und Luft. Eines deiner semantischen Rechtecke?

Es geht auf die Alten Griechen zurück.

Wie die vier Temperamente?

]a. Thaies hat diese Hypothese aufgestellt. Der erste Wissenschaftler.

Aber du hast mir gesagt, es hätte immer Wissenschaftler gegeben. Schon in der Savanne, in ferner Vergangenheit.

Ja, das ist wahr.

Und die Griechen — alle Ehre ihnen, denn sie waren gewiß große Geister — waren nur Teil eines Kontinuums von Gelehrten, weißt du. Seither ist einige Arbeit geleistet worden.

Ja, das weiß ich.

Ja. Und einiges von dieser nachfolgenden Arbeit könnte dir für deine konzeptuellen Schemata nützlich sein. Wenn du für uns die ganze Welt kartierst. So, daß dir neue Wege geschenkt werden, die Dinge zu sehen. Die könnten dir helfen, sogar bei den Problemen, die du mit Maya hast. Denn es gibt mehr als diese vier Elemente. Etwa hundertzwanzig, mehr oder weniger. Vielleicht gibt es auch mehr als unsere vier Elemente, he? Und die Natur dieser Elemente... gut, die Dinge haben sich seit den Griechen stark verändert. Du weißt, daß subatomare Partikel einen sogenannten Spin besitzen, der nur in Vielfachen von einem Halben vorkommt? Und du weißt, daß es sich wie ein Objekt unserer sichtbaren Welt um dreihundertsechzig Grad dreht und dann wieder in seiner Ausgangsposition ist? Nun, ein Partikel mit einem als halb bezeichneten Spin, wie ein Proton oder ein Neutron, muß sich um siebenhundertundzwanzig Grad drehen, um wieder zu seiner ursprünglichen Konfiguration . zu kommen.

Wie das?

Es muß eine doppelte Drehung ausführen, um wieder in seine Ausgangsposition zu gelangen.

Du machst Witze.

Nein, nein. Das weiß man schon seit Jahrhunderten. Die Geometrie des Raums istfür Partikel mit dem Spin einhalb einfach anders. Die leben in einer anderen Welt.

Und so...

Nun, ich weiß nicht. Aber ich finde es anregend. Ich meine, wenn du physikalische Modelle als Analoga für unsere mentalen Zustände benutzen willst und sie in der Weise miteinander verbindest, wie du es machst, dann solltest du vielleicht auch diese etwas neueren physikalischen Modelle berücksichtigen. Sich Maya etwa als ein Proton vorstellen, ein Partikel mit dem Spin einhalb, das in einer Welt lebt, die doppelt so groß ist wie die unsere.

Ah!

Und es wird noch verrückter. Michel, diese Welt hat zehn Dimensionen. Zehn!

Die drei des Makroraums, die wir wahrnehmen können, die eine der Zeit und sechs weitere Mikrodimensionen, die um die Fundamentalteilchen herum kompakt sind auf eine Weise, die wir zwar mathematisch beschreiben, aber nicht visualisieren können. Convolutionen und Topologien. Differentialgeometrien, unsichtbar, aber real, bis hinab zum untersten Niveau der Raumzeit. Denk darüber nach! Es könnte dich zu ganz neuen Gedankensystemen führen. Eine riesige Erweiterung deines Geistes.

Mich interessiert mein Geist nicht. Ich mache mir nur Sorgen um Maya.

Ja, ich weiß.

Sie standen am Ufer und blickten über das gestirnte Wasser. Über ihnen wölbte sich die Kuppel der Sterne, und die Stille der Luft atmete über ihnen. Unten murmelte die See. Die Welt erschien als ein großer Ort, wild und frei, dunkel und geheimnisvoll.

Nach einer Weile machten sie kehrt und schlenderten auf dem Pfad zurück.

Einmal nahm ich den Zug von Da Vinci nach Sheffield. Sie hatten kurzzeitig die Strecke gesperrt, und es gab einen Aufenthalt in Underhill. Ich stieg aus und machte einen Spaziergang durch den alten Kraterpark. Und plötzlich erinnerte ich mich an manches. Schaute mich einfach um. Ich versuchte es nicht eigentlich, aber die Erinnerungen kamen mir von allein.

Ein normales Phänomen.

]a, so verstand ich es. Aber ich frage mich, ob ich nicht Maya helfen könnte, indem ich so etwas arrangiere. Nicht gerade Underhill, aber an den Orten, an denen sie glücklich war. Wo ihr beide glücklich wart. Ihr lebt jetzt in Sabishii, aber warum zieht ihr nicht wieder an einen Ort wie Odessa zurück?

Sie will nicht.

Sie kann sich irren. Warum versucht ihr nicht in Odessa zu leben und von Zeit zu Zeit Underhill oder Sheffield zu besuchen. Cairo. Vielleicht sogar Nicosia. Die Städte am Südpol. Dorsa Brevia. Ein Sprung nach Burroughs hinein. Eine Bahnreise durch das Hellas-Becken. So eine Rückkehr an einen Ort der Vergangenheit könnte ihr helfen, ihr Ich wieder zusammenzuraffen und sich wieder bewußt zu werden, wo unsere Geschichte angefangen hat. Die Orte, die uns geformt haben, zum Guten oder Schlechten, im Morgen der Welt. Sie könnte das brauchen, ob sie es weiß oder nicht.

Hmm.

Arm in Arm gingen sie entlang eines dunklen von Farnen gesäumten Pfads zum Krater zurück.

Alles Gute, Sax, leb wohl!


Das Wasser der Isidis-Bucht hatte die Farbe eines blauen Flecks oder einer Clematisblüte und funkelte im Sonnenschein, der von den Wellen zurückgeworfen wurde, die gerade noch klein genug waren, um keine weißen Kämme zu tragen. Die Strömung kam von Norden, und der Kabinenkreuzer stampfte und rollte, als sie nordwestlich von DuMartheray Harbor dahinfuhren. Ein klarer Frühlingstag, Ls 51, m-Jahr 79, A.D. 2181.

Maya saß auf dem Oberdeck und sog die Seeluft und die Flut blauen Sonnenlichts ein. Es war eine Freude, sich draußen auf dem Wasser zu befinden, fern von all dem Dunst und Gerumpel der Küste. Es war wundervoll, daß die See auf keine Weise gezähmt oder verändert werden konnte, und wundervoll, wie sie immer gleich war, wenn man außer Sicht des Landes auf der blauen Wildnis schaukelte, ganz gleich, was dort auch geschehen mochte. Sie hätte jeden Tag, alle Tage weiter fahren können. Jedes Heruntergleiten von einem Wellenkamm war wie eine kleine Achterbahnfahrt der Seele.

Aber deshalb waren sie nicht hier. Vor ihnen brachen sich weiße Schaumkronen im einem breiten Fleck; und neben ihr bewegte der Steuermann das Rad um eine oder zwei Speichen und drosselte die Maschine auf wenige Umdrehungen pro Minute. Das weiße Wasser markierte die Spitze der Doppeldeckerkuppe, eines durch eine schwarze Boje gekennzeichneten Riffs, welche ein tiefes und rhythmisches Bumpern und Stoßen von sich gab. Rings um diese große nautische Kirchenglocke waren Vertäungsbojen verteilt. Der Pilot steuerte die erste an. Es lagen keine anderen Schiffe vor Anker. Nicht einmal am Horizont waren welche zu sehen. Es war, als wären sie in der Welt allein. Michel kam von unten herauf und trat neben sie, und legte die Hand auf ihre Schulter, als der Pilot das Ventil schloß und ein Matrose vom Bug aus unter ihnen mit einem Bootshaken zulangte und an der Boje anlegte, indem er ihr Andockseil daran befestigte. Der Pilot stellte den Motor ab, und sie trieben auf den Wogen rückwärts, bis das Halteseil sie mit einem lauten Klatschen und einem Fächer aus weißer Gischt festhielt. Sie waren bei Burroughs vor Anker gegangen.



Unten in der Kabine legte Maya ihre Kleidung ab und zog einen elastischen orangefarbenen Trockenanzug an: Anzug und Kapuze, Stiefelchen, Tank und Helm und schließlich Handschuhe. Sie hatte eigens für diesen Abstieg Tauchen gelernt; und jedes Teil der Ausrüstung war noch neu. Die Sensation, sich unter Wasser zu befinden, war nicht ganz so neu, erinnerte sie an die Gewichtslosigkeit im Weltraum. Sobald sie daher über die Seite des Schiffs und ins Wasser geglitten war, stellte sich das vertraute Gefühl ein. Sie sank vom Gewichtsgürtel gezogen nach unten, merkte, daß das Wasser um sie kalt war, empfand es aber in keiner Weise als real. Das Atmen unter Wasser war eigenartig, funktionierte aber. Hinab ins Dunkel. Sie entspannte sich und schwamm hinunter, weg von dem kleinen Punkt des Sonnenlichts.


Immer weiter abwärts. Vorbei an der Oberkante der Doppeldeckerkuppe, vorbei an ihren silbrigen oder kupferfarbenen Fenstern, die aussah wie Reihen von mineralischen Extrusionen oder wie die Einwegspiegel von Beobachtern aus einer anderen Dimension. Sie war rasch in die Finsternis getaucht und sank wie im Traum mit einem Fallschirm immer weiter nach unten. Michel und einige andere folgten ihr; aber es war so finster, daß sie sie nicht sehen konnte. Dann sank ein Roboterschleppnetz, das wie ein dickes Bettgestell aussah, an ihnen vorbei. Seine starken Scheinwerfer warfen lange Kegel kristalliner Flüssigkeit voraus, die sich in der Entfernung zu einem diffusen Zylinder verliefen. Er schwenkte mit, wenn der Apparat seine Lage änderte, wie jetzt, als er die metallischen Fenster einer entfernten Mesa streifte und dann den schwarzen Unrat auf den Dächern des alten Niederdorfs. Irgendwo da unten war der alte Niederdorfkanal verlaufen. Ein Schimmer weißer Zähne — die Bareiß-Säulen, unangreifbar weiß unter ihrer Diamantbeschichtung, halb begraben in schwarzem Sand und Dreck. Maya richtete sich auf und bewegte die Flossen ein paarmal vor und zurück, um den Abstieg aufzuhalten. Dann, drückte sie auf einen Knopf, der etwas Luft in einen Teil ihres Gewichtsgürtels drückte, um sie zu stabilisieren. Sie schwebte über den Kanal wie ein Gespenst. Ja, es war wie Scrooges Traum, das Schleppnetz eine Art roboterhaftes Weihnachten der Vergangenheit, das die ertrunkene Welt einer verlorener Zeit erhellte, der Stadt, die sie so sehr geliebt hatte. Plötzlich schössen ihr Pfeile des Schmerzes durch die Rippen. Sie war fast zu taub für jedes Gefühl. Es war zu seltsam und schwer zu glauben, daß dies Burroughs war, ihr Burroughs — jetzt ein Atlantis auf dem Grunde des Marsmeeres.

Bekümmert wegen ihres Mangels an Gefühl, stieß sie kräftig zu und schwamm den Kanalpark hinunter über die Salzsäulen und weiter nach Westen. Dort ragte zur Linken Hunt Mesa auf, wo sie und Michel versteckt über einem Tanzstudio gewohnt hatten, und dann nach oben zu dem breiten Boulevard der Großen Böschung. Voraus lag der Princess Park, wo sie in der Zweiten Revolution auf der Bühne gestanden und vor einer großen Volksmenge eine Rede gehalten hatte. Die Leute hatten genau dort gestanden, wo sie jetzt darüber schwamm. Dort drüben war es, wo sie und Nirgal zu den Menschen gesprochen hatten. Jetzt der schwarze Boden einer Bucht. All das war so lange her — ihr Leben. Sie hatten die Kuppel aufgeschnitten und die Stadt verlassen, danach überflutet und nie zurückgeschaut. Ja, Michel hatte sicher recht. Dieser Tauchgang war ein perfektes Abbild der finsteren Prozesse des Gedächtnisses. Und vielleicht würde er helfen, ihr Zugang zu verschaffen. Und dennoch... Maya fühlte ihre Benommenheit und zweifelte. Die Stadt war überflutet — gewiß. Aber sie war noch da. Man könnte zu jeder beliebigen Zeit den Deich wieder hochziehen und diesen Arm der Bucht leerpumpen. Und dann würde es die Stadt wieder geben, dem Meer entrissen und im Sonnenlicht dampfend, sicher eingeschlossen in einem Polder, als ob sie eine Stadt in den Niederlanden wäre. Man müßte die Straßen vom Schlamm befreien, Straßengras und Bäume pflanzen, die Innenräume der Mesas säubern, die Läden im Niederdorf und die breiten Boulevards, die Fenster putzen. Dann hätte man alles wieder: Burroughs auf dem Mars, an der Oberfläche und schimmernd. Das ließe sich machen, es wäre sogar sinnvoll in Anbetracht dessen, wieviele Ausgrabungen es in den neun Mesas gegeben hatte, und daß die Isidis-Bucht keinen anderen guten Hafen hatte. Nun, keiner würde es jemals unternehmen. Aber es wäre möglich. Und so war Burroughs keineswegs für immer Vergangenheit.

Benommen und immer stärker frierend drückte Maya mehr Luft in den Gewichtsgürtel, machte kehrt und schwamm längs des Kanalparks zurück zu der Leuchtboje. Wieder sichtete sie die Reihe von Salzsäulen, und etwas daran zog sie an. Sie stieß sich zu ihnen hinunter und schwamm dann dicht über den schwarzen Sand, wobei sie die geriffelte Oberfläche mit dem Zug nach unten durch ihre Flossen störte. Die Reihen der Bareiß-Säulen hatten den alten Kanal gesäumt. Sie wirkten baufälliger denn je, weil sie halb vergraben waren, ihre Symmetrie ruiniert war. Sie erinnerte sich an lange Nachmittagsspaziergänge im Park, nach Westen in die Sonne und dann zurück mit der Lichtflut im Rücken. Es war ein schöner Ort gewesen. Unten zwischen den großen Mesas war es gewesen, als ob man sich in einer gigantischen Stadt mit vielen Kathedralen aufhielte.

Dort hinter den Säulen war eine Reihe von Gebäuden. In ihnen wurzelte Seetang. Lange Stämme erstrecken sich ins Dunkel. Breite Blätter wiegten sich leicht in der langsamen Strömung. Vor der Front jenes Gebäudes, am Ende der Straße, war ein Straßencafe gewesen, zum Teil beschattet von einem Spalier mit Glyzinien. Die letzte Salzsäule diente als Kennzeichen, und Maya war sich ihrer Identifizierung sicher.

Sie schwamm mühsam in eine stehende Position, und die Zeit kehrte zu ihr zurück. Frank hatte ihr zugerufen und war weggelaufen, ohne Sinn und Verstand wie immer. Sie hatte sich angezogen, war ihm gefolgt und hatte dann hier über einen Kaffee gebeugt gesessen. Ja. Sie hatte ihm Vorhaltungen gemacht, und sie hatte sich genau hier mit ihm gestritten. Sie hatte ihn gescholten, weil er nicht nach Sheffield eilte. Sie hatte eine Kaffeetasse heruntergeworfen, und der Griff war abgebrochen und über den Boden gerollt. Frank war aufgestanden, und sie waren heftig diskutierend fortgegangen und wieder nach Sheffield zurückgekehrt. Aber nein, so war es nicht gewesen. Sie hatten gestritten, gewiß, aber dann den Streit beigelegt. Frank hatte über den Tisch gelangt und ihre Hand ergriffen; und ihr war ein großes Gewicht vom Herzen gefallen und ein kurzer Moment der Gnade war ihr geschenkt worden, weil sie verliebt war und geliebt wurde.

Das eine oder das andere. Aber was davon war es gewesen?

Sie konnte sich nicht erinnern. Konnte nicht sicher sein. So viel Streit mit Frank. So viele Versöhnungen. Es hätte beides geschehen sein können. Es war unmöglich, dem nachzuspürem, sich zu erinnern, was wann geschehen war. In ihrem Geist ging alles durcheinander, verwischte sich zu vagen Eindrücken und unzusammenhängenden Momenten. Die Vergangenheit entwand sich ihrem Griff. Leichte Geräusche, wie ein Tier, das Schmerzen litt — ah, das war ihre Kehle. Wimmernd, stöhnend. Benommen und dennoch stöhnend. Das war absurd. Was auch immer danach geschehen war, sie wollte es wiederhaben. »Fuh.« Sie war außerstande seinen Namen zu sagen. Es schmerzte, als ob jemand ihr eine Nadel ins Herz gestochen hätte. Ah — das war wirklich ein Gefühl! Es ließ sich nicht abstreiten. Sie keuchte, es tat so weh. Man konnte es nicht leugnen.

Sie pumpte langsam mit den Flossen, schwebte vom Sand hoch, weg von den Dächern, an denen sich Seetang festgesetzt hatte. Als sie damals elend an jenem Cafetisch saß, was hätte sie gedacht, wenn sie gewußt hätte, daß sie hundertzwanzig Jahre später darüberschwimmen würde — und Frank schon lange tot war?

Ende eines Traums. Desorientierung oder das Wechseln von einer Realität in eine andere. Das Schweben in dem dunklen Wasser brachte etwas von der Taubheit zurück. Aber da war er wieder, dieser nadelstichartige Schmerz tief drinnen.

Und so hatte sich wieder einmal .gezeigt, daß Michel, der alte Alchemist, recht gehabt hatte. Sie schaute sich nach ihm um. Er war zu seinen eigenen Reisen davongeschwommen. Es war schon ziemlich viel Zeit vergangen. Die anderen hatten sich im Lichtkegel vor der Boje eingefunden und wirkten wie tropische Fische an einem dunklen kühlen Tag, die in der Hoffnung auf Wärme vom Licht angezogen werden. Traumhafte, langsame Schwerelosigkeit. Sie dachte an John, wie er nackt vor schwarzem Raum und kristallenen Sternen schwebte. Ah — es gab noch zu viel zu fühlen. Man konnte nur eine einzige Scherbe der Vergangenheit auf einmal ertragen. Diese ertrunkene Stadt; aber sie hatte sich hier auch mit John geliebt, irgendwo in einer Unterkunft in den ersten Jahren; mit John, mit Frank, mit jenem Ingenieur, an dessen Namen sie sich selten erinnern konnte, ohne Zweifel daneben auch noch mit anderen — alle vergessen oder beinahe. Eingekapselt sie alle. Kostbare Schmerzen, die das Gefühl hinterließ, waren stets in ihr geblieben, bis der Tod sie trennte. Hinauf, immer weiter nach oben zwischen den bunten tropischen’ Fischen mit ihren Armen und Beinen hindurch zurück ins Tageslicht, blauen Sonnenschein, o Gott, ja — mit knallenden Ohren und einem Schwindelgefühl, vielleicht durch Stickstoffnarkose, Tiefenrausch. Oder der Rausch menschlicher Tiefe, der Weise, wie sie damals immer weiter gelebt hatten, wie Riesen die Jahre durchpflügt hatten, ja, und an was sie sich klammerten.

Michel schwamm ihr von unten herauf nach. Sie machte einen Stoß und wartete dann. Sie wartete, umarmte ihn und drückte ihn fest an sich. Oh, wie liebte sie die Festigkeit seines Körpers in ihren Armen, diesen Beweis der Realität. Sie drückte: Michel, ich danke dir, du Zauberer meiner Seele. Ich danke dir, Mars, für das, was in uns ausdauert, möge es auch ertrunken oder verkrustet sein. Hinauf in die glorreiche Sonne, in den Wind. Streife den Anzug mit kalten ungeschickten Fingern ab, zieh ihn aus und entsteige ihm wie eine Schmetterlingspuppe, nicht bewußt der Macht weiblicher Nacktheit über das männliche Auge. Wenn du plötzlich ihrer gewahr wirst, schenke ihm die aufregende Vision von Fleisch im Sonnenlicht, von Sex am Nachmittag. Atme tief in den Wind, voller Gänsehaut und dem Schock, am Leben zu sein.

»Ich bin immer noch Maya«, erklärte sie Michel mit klappernden Zähnen. Sie drückte ihre Brüste und trocknete sie ab. Ein herrliches Gefühl von trockenem Stoff auf feuchter Haut. Sie zog ihre Kleider an und keuchte vor der Kälte des Windes. Michels Gesicht war das Bild von Beglückung, Vergottung, jene Maske der Freude des alten Dionysos, der laut über das Gelingen seines Plans lachte, über die Verzückung seiner Freundin und Gefährtin. »Was hast du gesehen?«

»Das Cafe — den Park — den Kanal — und du?«

»Hunt Mesa, das Tanzstudio — Thoth Boulevard — Tafelberg.« In der Kabine hatte er eine Flasche Champagner auf Eis. Er ließ den Korken springen; und der schoß hinaus in den Wind und landete sanft auf dem Wasser und schwamm dann auf den blauen Wellen davon.


Aber sie weigerte sich, mehr darüber zu sagen. Sie wollte nicht die Geschichte ihres Tauchgangs erzählen. Die anderen taten das, und dann war sie irgendwie an der Reihe; und die Leute auf dem Schiff sahen sie an wie Geier, erpicht darauf, ihre Erlebnisse hineinzuschlichten. Sie trank ihren Champagner, saß still auf dem Oberdeck und betrachtete die langen Wellen. Wellen sahen auf dem Mars merkwürdig aus: groß und träge, eindrucksvoll. Sie gab Michel mit einem Blick zu versehen, daß es ihr gut ging und daß er recht getan hatte, sie nach unten zu schicken. Darüber hinaus Schweigen. Mögen sie ihre eigenen Erfahrungen haben, um sich daran zu laben, die Geier.

Das Schiff kehrte zum Hafen DuMartheray zurück, der eine kleine halbmondförmige Bucht unter der Moräne des DuMartheray-Kraters nutzte. Der Hang der Moräne war mit Häusern und Grünzeug bis hinauf zum Rand bedeckt.

Sie stiegen aus und gingen zur Stadt hinauf, speisten in einem Restaurant am oberen Ende und betrachteten den strahlenden Sonnenuntergang über dem Wasser der Isidis-Bucht. Der Abendwind fiel von der Böschung herunter und pfiff fern der Küste. Er rührte das Wasser auf und sprühte in weißen Fahnen Gischt über die Brandungskämme, die von kurzen Regenbogensegmenten durchzogen waren. Maya saß dicht bei Michel und hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt. Jemand sagte: »Seltsam zu sehen, wie die Salzsäulen da unten immer noch schimmern. «

»Und die Fensterreihen in den Mesas! Hast du diese zerbrochene gesehen? Ich wollte hineingehen und mich umschauen, hatte aber Angst.«

Maya machte eine Grimasse und konzentrierte sich auf den Augenblick. Die Leute an der anderen Seite des Tisches redeten mit Michel über ein neues Institut, das die Ersten Hundert und andere frühe Kolonisten betraf, eine Art Museum, ein Archiv mündlich überlieferte Geschichten, Komitees zum Schutz der frühesten Gebäude etc. und auch ein, Programm zur Hilfe für superalte frühe Siedler... Natürlich waren diese ernsten jungen Männer (und Männer konnten so ernst sein) besonders an Michels Hilfe interessiert, wie sie sagten, besonders dabei, alle noch lebenden der Ersten Hundert zu finden und irgendwie zu registrieren. Sie sagten, es seien jetzt dreiundzwanzig. Michel war natürlich sehr entgegenkommend und schien auch wirklich an dem Projekt interessiert zu sein.

Maya hätte diese Idee nicht stärker hassen können. Ein Kopfsprung in die Trümmer der Vergangenheit als eine Art von Riechsalz, abstoßend aber kräftigend — fein. Das war akzeptabel und sogar gesund. Sich aber auf die Vergangenheit zu fixieren und zu konzentrieren, das war abscheulich. Sie hätte die ernsten jungen Männer mit Vergnügen über das Geländer gestoßen. Inzwischen sagte Michel zu, alle restlichen Ersten Hundert zu befragen, damit das Projekt in Gang kommen konnte. Maya stand auf, ging ans Geländer und stützte sich darauf. Unten auf dem dunkel werdenden Wasser spritzten immer noch helle Gischtflocken von jeder Wellenkrone.


Eine junge Frau kam herbei geschlendert und lehnte sich neben ihr an die Brüstung. Während sie ins Wasser schaute, sagte sie zu Maya: »Mein Name ist Vendana. Ich bin für dieses Jahr die lokale politische Agentin der Grünen Partei.« Sie hatte ein schönes Profil, klar und ausgeprägt in klassisch indischem Stil. Olivfarbene Haut, schwarze Augenbrauen, lange Nase und kleiner Mund. Intelligente scharfe braune Augen. Es war seltsam, wieviel man allein in den Gesichtern lesen konnte. Maya bekam allmählich den Eindruck, daß sie auf den ersten Blick alles Wesentliche über eine Person wüßte. Das war eine nützliche Fähigkeit, wenn man bedachte, daß so viel von dem, was die jungen Eingeborenen in diesen Tagen sagten, sie verwirrte. Sie brauchte diese erste Erkenntnis.

Die Grünheit allerdings verstand sie, oder glaubte sie zu verstehen. Das war eigentlich ein archaischer politischer Ausdruck, könnte man meinen, da der Mars jetzt völlig grün war — grün und blau. »Was wünschst du?«

Vendana sagte: »Jackie Boone und der Freie Mars stelleAi Kandidaten für Ämter aus diesem Gebiet auf und reisen als Wahlkämpfer für die bevorstehenden Wahlen umher. Wenn Jackie wieder die Parteiführung bekommt und wieder Mitglied des Exekutivrates wird, wird sie weiter an dem Plan des Freien Mars arbeiten, um jede weitere Einwanderung von der Erde zu unterbinden. Das ist ihre Idee, und sie treibt sie stark voran. Sie behauptet, daß alle terranischen Emigranten anderswohin im Sonnensystem umgeleitet werden könnten. Das stimmt zwar nicht, ist aber eine Haltung, die an gewissen Stellen sehr gut ankommt.

Den Terranern gefällt das natürlich nicht. Falls der Freie Mars bei einem isolationistischen Programm große Gewinne erzielt, nehmen wir an, daß die Erde sehr übel reagieren wird. Die Erdbewohner haben jetzt schon Probleme, die sie kaum bewältigen können. Sie benötigen das wenige von uns, das wir ihnen geben können. Und sie werden es als einen Bruch des Vertrags bezeichnen, den ihr abgeschlossen habt. Sie könnten es deswegen sogar bis zum Krieg treiben.«

Maya nickte. Sie hatte seit Jahren eine zunehmende Spannung zwischen Erde und Mars gefühlt — ungeachtet Michels Versicherungen. Sie hatte gewußt, daß das kommen würde. Sie hatte es vorausgesehen.

»Jackie hat viele Gruppen hinter sich stehen, und der Freie Mars hat jetzt seit Jahren eine überwältigende Mehrheit in der globalen Regierung. Sie haben inzwischen die Umwelthöfe gewonnen. Diese Höfe werden sie bei jedem Einwanderungsverbot decken, das sie vorschlagen könnte. Wir aber wollen die Politik beibehalten, die durch den Vertrag festgelegt ist, den ihr ausgehandelt habt, oder die Immigrationsquoten sogar noch etwas erhöhen, um der Erde soviel zu helfen, wie wir können. Aber Jackie läßt sich schwer aufhalten. Um dir die Wahrheit zu sagen, wir wissen nicht recht, wie. Darum dachte ich daran, dich zu fragen.«

Maya war überrascht. »Wie man sie aufhalten kann?«

»Ja. Oder ganz allgemein, dich zu bitten, uns zu helfen. Ich denke, man wird sie persönlich aufs Korn nehmen müssen.«

Und sie wandte den Kopf, um Maya mit einem wissenden Lächeln anzusehen.

In dem ironischen Lächeln, das diesen klassischen kleinen Mund mit seinen vollen Lippen anhob, lag etwas vage Vertrautes, etwas, das, obwohl offensiv, dem großäugigen Enthusiasmus der jungen Historiker weit vorzuziehen war, die Michel belästigten. Und als Maya darüber nachdachte, sah die Aufforderung immer besser aus. Es war zeitgenössische Politik, eine Beschäftigung mit der Gegenwart. Die Trivialität der aktuellen Szene sagte ihr gewöhnlich nicht zu; aber jetzt hatte sie den Eindruck, daß die Politik des Augenblicks immer unbedeutend und stupide aussah; erst später gewann sie das Aussehen respektabler Staatskunst und geschichtlicher Größe. Und dieses Thema konnte wichtig werden, wie die junge Frau gesagt hatte. Und natürlich würde alles (ohne daß ihr das klar bewußt war), was man Jackie in den Weg legen konnte, seine eigene Befriedigung bieten. »Erzähl mir mehr darüber!« sagte Maya und bewegte sich auf dem Balkon außer Hörweite der anderen. Und die junge Frau folgte ihr.

Michel hatte sich immer gewünscht, eine Fahrt auf dem Großen Kanal zu unternehmen; und kürzlich hatte er Maya zugeredet, einen Umzug von Sabishii wieder nach Odessa zu versuchen, als eine Möglichkeit, gegen ihre mannigfachen mentalen Leiden anzukämpfen. Sie könnten sogar ein Apartment in dem gleichen Komplex nehmen, in dem sie vor der Zweiten Revolution gewohnt hatten. Das war der einzige Ort, den Maya außer Underhill, das auch nur zu besuchen sie sich weigerte, als Heimat betrachtete. Und Michel hatte den Eindruck, daß es ihr helfen könnte, in irgendeine Heimat zurückzukehren. Also Odessa. Maya war einverstanden, es machte ihr nichts aus. Und auch Michels Idee, über den Großen Kanal dorthin zu reisen, fand Anklang. Maya hatte keine Anstrengungen unternommen. Sie war in diesen Tagen keiner Sache sicher. Sie hatte fast keine Ansichten und kaum Wünsche. Das war das Problem.

Jetzt sagte Vendana, daß Jackies Kampagne längs des Großen Kanals in einem großen Kanalkreuzer von Norden nach Süden erfolgen würde, der zugleich als Hauptquartier vorgesehen war. Jetzt befanden sie sich dort, am nördlichen Ende des Kanals und bereit, in die Engstellen zu fahren.

Also ging Maya auf der Terrasse wieder zu Michel und sagte, als die Historiker sie verlassen hatten: »Also laß uns auf dem Großen Kanal nach Odessa reisen, wie du gesagt hast.«

Michel war entzückt. Es schien ihm die leichte Niedergeschlagenheit zu nehmen, die dem Tauchgang in das überflutete Burroughs gefolgt war. Er war über dessen Wirkung auf Maya erfreut gewesen; aber für ihn selbst war es vielleicht nicht so gut gewesen. Er war, was seine Erlebnisse betraf, ungewöhnlich schweigsam und irgendwie bedrückt, als ob er von alldem überwältigt wäre, das die große versunkene Stadt in seinem Leben bedeutete. Schwer zu sagen. Jetzt, als er sah, wie gut Maya auf die Erfahrung ansprach, und sie ihm zugleich in Aussicht stellte, den Großen Kanal zu sehen — nach Mayas Ansicht ein großer Spaß — mußte er lachen. Und das gefiel ihr. Michel dachte, daß Maya in diesen Tagen viel Hilfe brauchte; aber sie wußte recht gut, daß Michel es war, der sich sträubte.


Also gingen sie ein paar Tage später über eine Gangway auf das Deck eines großen schmalen Segelschiffs, dessen einziger Mast und Segel eine gebogene Einheit aus stumpfem weißem Material und wie ein Vogelflügel gestaltet war. Dieses Schiff war eine Art Passagierfähre, die ständig Runden in östlicher Richtung um das Nbrdmeer fuhr. Als alle an Bord waren, verließen sie mit Motorkraft den kleinen Hafen von DuMatheray und wandten sich bei ständiger Landsicht nach Osten. Das Mastsegel des Schiffs war in vielen verschiedenen Richtungen flexibel und beweglich. Es reckte sich in seinen Krümmungen wie der Flügel eines Vogels, wenn sein Computer peinlich genau darauf reagierte, die günstigsten Winde zu erfassen.

Am zweiten Nachmittag ihrer Fahrt in die Engstellen erschien das Elysium-Massiv vor ihnen über dem Horizont. Es ragte im Rosa des Alpenglühens vor dem hyazinthfarbenen Himmel auf. Auch die Küste des Festlandes erhob sich im Süden, als sie sich hochreckte und das große Massiv jenseits der Bucht sehen wollte: Steilufer wechselten mit Marschland, und dann folgte auf eine lange bräunliche Strecke eine immer höher werdende Meeresklippe. Deren horizontale rote Schichten waren durch schwarze und elfenbeinfarbene Einschlüsse unterbrochen, und die Leisten waren von Matten aus Meerfenchel und Gräsern gesäumt und in weißem Guano gestreift. Die Wellen schlugen auf den nackten Fels am Boden dieser Klippen auf und prallten zurück, wobei die Bögen der zurücklaufenden Strömung die ankommenden Fluten in rasch aufeinander folgenden Punkten hochgetriebenen Wassers schnitten. Kurzum, es war schön, hier zu segeln. Langes Gleiten die Wogen hinunter, der Wind, besonders nachmittags, ein Kraftwerk vor der Küste. Die Gischt, der salzige Tang in der Luft — denn das Nordmeer wurde salzig —, der Wind in ihrem Haar, das weiße Muster des Kielwassers, das über der indigo- farbenen See leuchtete. Herrliche Tage. Es weckte in Maya den Wunsch, an Bord zu bleiben, immer wieder um die Welt zu segeln, niemals zu landen und nichts zu verändern... Wie sie gehört hatte, gab es mittlerweile Leute, die so lebten — riesige, höchst autarke Treibhausschiffe, die in ihrer Talassokratie den großen Ozean befuhren...

Aber vor ihnen lagen jetzt die schmaler werdenden Engstellen. Die Fahrt von DuMartheray war schon fast vorbei. Warum waren die guten Tage immer so kurz? Von Moment zu Moment, von Tag zu Tag — alle so erfüllt und, ach, so lieblich — und dann für immer vergangen, vergangen, ehe es möglich war, sie voll in sich aufzunehmen, und sie wirklich zu leben. Man segelte durch das Leben und schaute zurück auf das Kielwasser, die hohe See, den fliegenden Wind... Jetzt stand die Sonne tief, das Licht fiel schräg über die Meeresklippen und betonte all ihre wilden Unregelmäßigkeiten, ihre Überhänge, Höhlen und nackten Flächen, die direkt in die See abfielen, roter Fels in blauem Wasser, alles unberührt von Menschenhand (obwohl das Meer selbst ihr Werk war). Plötzlich zuckten in ihr strahlende Fragmente. Aber die Sonne war dabei zu verschwinden, und die Unterbrechung in den Meeresklippen markierte schon den ersten großen Hafen in der Meerenge, Rhodos, wo sie anlegen und den Abend erwarten würden. »Ah, ich lebe wieder«, sagte sie zu sich und wunderte sich, daß das hatte geschehen können. Michel und seine Tricks — man würde meinen, sie sei inzwischen gegen all jenen psychiatrisch-alchemistischen Hokuspokus immun geworden. Es war mehr, als ihr Herz ertragen konnte. Aber immerhin besser als die Dumpfheit, das war sicher. Und es hatte einen gewissen schmerzlichen Glanz, diese akute Empfindung. Sie konnte sie ertragen, vielleicht sogar irgendwie genießen, stückweise. Eine erhabene Intensität wohnte diesen Farben des späten Nachmittags inne. Alles war davon durchdrungen. Und unter einer solchen Flut nostalgischen Lichts wirkte der Hafen von Rhodos prachtvoll. Der große Leuchtturm auf dem Westkap, das Paar tönender Bojen rot und grün, backbord und steuerbord. Dann hinein in das dunkle Wasser eines Ankerplatzes und in die Ruderboote, in das entschwindende Licht, über schwarzes Wasser durch eine Menge exotischer Schiffe vor Anker, die alle verschieden waren. Der Schiffsbau steckte in einer Periode rapider Neuerung, wo neue Materialien fast alles möglich machten und die alten Konstruktionen neu erfunden und drastisch verändert wurden, um dann wieder aufgegriffen zu werden. Da ein Klipper, dort ein Schoner und da etwas mit Auslegern... Endlich legte man bei Dunkelheit in einem belebten hölzernen Dock an.

Hafenstädte in der Dämmerung waren alle gleich. Eine Corniche, ein schmaler gekrümmter Park, Baumreihen, ein Bogen baufälliger Hotels und Restaurants hinter den Werften... Sie stiegen in einem dieser Hotels ab und schlenderten dann durch das Dock, aßen unter einer Markise, genau, wie Maya es erwartet hatte. Sie entspannte sich in der bodenständigen Stabilität ihres Stuhls, beobachtete, wie flüssiges Licht sich in einer Schleife über das zähe Wasser des Hafens ergoß, hörte Michel zu den Leuten am Nachbartisch sprechen und kostete das Olivenöl und das Brot, die Käsesorten und den Ouzo. Es war seltsam, wie sehr Schönheit manchmal schmerzte — sogar Glück. Dennoch wünschte sie, das lässige Sichräkeln nach dem Essen in ihren harten Stühlen könnte für immer weitergehen.

Natürlich war das nicht der Fall. Sie gingen Hand in Hand nach oben zu Bett. Sie hielt Michel so fest, wie sie überhaupt konnte. Am nächsten Tage holten sie ihr Gepäck durch die Stadt zum inneren Hafen, gleich nördlich der ersten Kanalschleuse und brachten es in ein großes Kanalschiff, lang und luxuriös, wie ein zum Kreuzfahrtschiff gewordener Lastkahn. Sie waren zwei von etwa hundert Passagieren, die an Bord gingen. Darunter waren Vedana und einige ihrer Freunde. Und ferner waren, einige Schleusen vor ihnen, auf einem privaten Kanalschiff, Jackie und ihr Gefolge, die sich auch anschickten, nach Süden zu fahren. Während einiger Nächte würden sie in den gleichen am Kanal liegenden Städten anlegen. »Interessant«, sagte Maya gedehnt; und Michel machte dazu ein zugleich erfreutes und besorgtes Gesicht.


Das Bett des Großen Kanals war von einer Luftlinse eingeschnitten worden, die konzentriertes Sonnenlicht von der Soletta herunterstrahlte. Die Linse hatte sich sehr hoch in der Atmosphäre befunden, auf der thermischen Wolke von Gasen gleitend, die von dem geschmolzenen und verdampften Gestein hochgeschleudert wurde. Sie war in geraden Linien geflogen und hatte sich ihren Weg ohne die geringste Rücksicht auf topographische Details quer über das Land gebrannt. Maya erinnerte sich undeutlich, seinerzeit Bilder des Prozesses gesehen zu haben; aber die Fotos waren natürlich aus einiger Entfernung gemacht worden und hatten sie keineswegs auf die schiere Größe des Kanals vorbereitet. Ihr langes flaches Kanalschiff fuhr in die erste Schleuse, wurde durch das einströmende Wasser ein kurzes Stück angehoben, fuhr dann aus einem sich öffnenden Tor hinaus — und plötzlich waren sie in einem vom Wind gekräuselten, zwei Kilometer breiten See, der sich geradlinig nach Südwesten zur Hellas-See erstreckte, zweitausend Kilometer entfernt. Eine große Anzahl großer und kleiner Schiffe waren in beiden Richtungen unterwegs. Dabei hielten sich die kleineren entsprechend den Verkehrsregeln näher an den Ufern. Fast alle Fahrzeuge waren motorisiert, obwohl viele auch mit Reihen von Masten in Schonertakelung prahlten und einige der kleinsten Boote große dreieckige Segel hatten. »Dhaus«, sagte Michel und zeigte hinüber. Offenbar eine arabische Konstruktion.

Irgendwo weiter voraus war Jackies Propagandaschiff. Maya ignorierte es, konzentrierte sich auf den Kanal und schaute abwechselnd auf die beiden Ufer. Der fehlende Fels war nicht ausgehoben, sondern verdampft worden. Wenn man die Ufer betrachtete, konnte man das erkennen. Die Temperaturen unter dem konzentrierten Licht der Luftlinse hatten 5000 K erreicht, und das Gestein war einfach in seine atomaren Bestandteile zerfallen und in die Luft geschossen. Nach der Abkühlung war einiges Material auf die Ufer zurückgefallen und manches auch wieder in den Graben, wo es wie Lava kleine Teiche gebildet hatte. Darum hatte der Kanal ein flaches Bett erhalten und Ufer, die einige hundert Meter hoch und beide über einen Kilometer breit waren: Abgerundete schwarze Schlackendeiche, auf denen, abgesehen von den mit Sand gefüllten gelegentlich Rissen, nur sehr wenig wachsen konnte, so daß sie fast genauso kahl und schwarz waren wie nach ihrer Erkaltung vor vierzig m-Jahren. Das Kanalwasser sah unter den Ufern schwarz aus, in der Mitte des Kanals ging es zur Himmelsfarbe über oder vielmehr zu einer Tönung, die gerade ein wenig dunkler war als die des Himmels. Ohne Zweifel eine Folge des dunklen Bodens, mit den grünen Zickzackstreifen überall.

Der Obsidiansteg der zwei Ufer, die gerade Scharte aus dunklem Wasser dazwischen, Schiffe und Boote aller Größen, viele davon lang und schmal, um in den Schleusen möglichst viel Raum zu haben; dann alle paar Stunden eine Stadt am Ufer, in die Seite gehauen und sich dann auf der Höhe des Deichs ausbreitend. Die meisten Städte waren von den kanalsüchtigen Astronomen nach den Kanälen und Flüssen des klassischen Altertums benannt worden. Die ersten Städte, an denen sie vorbeikamen, lagen dem Äquator recht nahe und waren von Palmhainen eingefaßt, mit hölzernen Docks vor kleinen Uferdistrikten und in der Höhe liebliche Terrassen. Die meisten Städte lagen auf den ebenen Flächen der Deiche. Natürlich hatte die Linse bei ihrem geraden Schnitt ein Kanalbett gegraben, das direkt die Große Böschung bis auf die Hochebene von Hesperia hinaufführte — mit einem Höhenanstieg von rund vier Kilometern. Darum war der Kanal alle paar Kilometer durch einen Schleusendamm gesperrt. Diese Dämme hatten, wie in jenen Tagen überall, durchsichtige Wände und sahen so dünn aus wie Zellophan, waren aber um viele Größenordnungen stärker als nötig, um das Wasser zu halten. So sagte man. Maya fand diese Klarheit von Fensterscheiben anmaßend, als ein Stück der launischen Überheblichkeit, auf das eines Tages bestimmt die Strafe folgen würde, wenn eine der dünnen Wände wie ein Ballon platzte und eine verheerende Zerstörung anrichten würde und die Leute wieder auf den guten alten Beton und die Kohlefaser zurückgreifen würden.

Aber so erinnerte die Annäherung an jede Schleuse an die Fahrt auf eine Wassermauer zu, die aussah wie das Rote Meer, das sich vor den Israeliten geteilt hatte. Fische sprangen über ihren Köpfen umher wie primitive Vögel, ein surrealer Anblick, wie etwas aus einer Zeichnung von Escher. Dann in eine Schleuse hinein wie in einen Sarkophag aus Wasserwänden, bewohnt von diesen Vogelfischen; und dann immer weiter nach oben und hinaus auf ein neues Niveau des großen Stroms mit seinen geraden Seiten, der das schwarze Land durchschnitt. »Bizarr«, sagte Maya nach dem ersten Blick und auch nach dem zweiten und dritten. Und Michel grinste nur und nickte.

Am vierten Abend der Reise legten sie bei einer kleinen Stadt am Kanal an, die Naarses hieß. Auf der anderen Seite des Kanals befand sich eine noch kleinere Stadt namens Naarmalcha. Offenbar mesopotamische Namen. Ein Terrassenrestaurant oben auf dem Deich bot einen Ausblick, der den Kanal weit einsehbar machte und hinter dem Kanal auf die dürren Gebirge zu seiner Seite schwenken ließ. Voraus konnten sie sehen, wo der Kanal durch den Wall des Kraters Gale schnitt, der mit Wasser geflutet war. Gale war jetzt ein Buckel im Kanal, ein Halteplatz für Schiffe und Verladeplatz.

Nach dem Abendessen stand Maya auf der Terrasse und schaute durch die Lücke auf Gale. Aus der dunklen Dämmerung traten Vendana und einige Gefährten zu ihr. »Wie gefällt dir der Kanal?« fragten sie.

»Sehr interessant«, erklärte Maya knapp. Sie mochte es nicht, wenn man ihr Fragen stellte oder sie den Mittelpunkt einer Gruppe bildete. Das war zu sehr, als wäre man ein Schaustück im Museum. Sie würden nichts aus ihr herausbringen. Sie starrte sie an. Einer der jungen Männer unter ihnen gab auf und sprach eine Frau in ihrer Nähe an. Er hatte ein außerordentlich schönes Gesicht. Die Züge wirkten wie gemeißelt unter einer Fülle schwarzen Haares, ein freundliches Lächeln und unbewußtes Lachen. Alles in allem fesselnd. Jung, aber nicht so jung, daß er ungeformt wirkte. Er sah möglicherweise indisch aus — so dunkle Haut, so weiße regelmäßige Zähne, kräftig, schlank wie ein Windspiel, ein gutes Stück größer als Maya, aber nicht einer jener neuen Riesen — immer noch im menschlichen Maßstab, unbefangen, aber solide und anmutig. Sexy.

Sie bewegte sich langsam auf ihn zu, als die Gruppe zu der entspannteren Haltung einer Cocktailparty überging. Sie gingen umher, plauderten und schauten auf den Kanal und die Docks hinunter. Endlich erhielt sie eine Chance, mit ihm zu sprechen; und er reagierte nicht, als ob Helena von Troja oder die fossile Lucy näher gekommen wären. Es wäre herrlich, einen solchen Mund zu küssen. Das kam natürlich nicht in Frage, und eigentlich wollte sie es auch gar nicht. Aber sie dachte gern darüber nach; und der Gedanke wirkte anregend auf sie. Gesichter waren so mächtig.

Sein Name war Athos. Er kam von Licus Vallis, westlich von Rhodos. Sansei aus einer Seefahrerfamilie, die Großeltern griechisch und indisch. Er hatte geholfen, diese neue Grüne Partei zu gründen, überzeugt, daß der einzige Weg, dem Mahlstrom zu entkommen, darin bestünde, der Erde durch ihre Krise zu helfen. Die umstrittene Annäherung eines schweifwedelnden Hundes, wie er mit einem leichten, hübschen Lächeln einräumte. Jetzt war er von den Städten der Nepenthes-Bucht als Repräsentant zur Wahl aufgestellt und half, die Kampagnen der Grünen weithin zu koordinieren.

Maya fragte Vendana später: »Werden wir in einigen Tagen das Wahlkampfboot des Freien Mars einholen?«

»Ja. Wir planen, bei einer Versammlung in Gale über sie zu diskutieren.«


Als sie dann die Gangway hinauf zum Schiff gingen, wandten sich die jungen Leute von ihr ab und scharten sich auf dem Vorderdeck zusammen, um die Party fortzusetzen. Maya war vergessen, sie gehörte nicht dazu. Sie blickte ihnen nach und ging dann zu Michel in ihrer kleinen Kabine nahe dem Heck. Sie kochte vor Erregung. Sie konnte nichts dagegen tun, obwohl sie schockiert war, wenn es geschah. »Ich hasse sie«, sagte sie zu Michel. Und einfach deswegen, weil sie jung waren. Sie hätte das als Haß gegen deren Gedankenlosigkeit, Stupidität, Gefühllosigkeit und ihren ausgeprägten Provinzialismus tarnen können. Das stimmte auch alles. Aber außerdem haßte sie auch ihre Jugend, nicht einfach ihre physische Vollkommenheit, sondern ihr Alter, die schiere Chronologie, die Tatsache, daß sie alles noch vor sich hatten. In der Erwartung lag das Beste, lag alles.

Manchmal erwachte sie aus unbestimmten Träumen, in denen sie nach der aerodynamischen Abbremsung aus der Ares auf den Mars hinunterblickten, und den Orbit in Vorbereitung des Abstiegs stabilisierten. Dann war sie schockiert durch den jähen Rücksturz in die Gegenwart; und sie erkannte, daß das damals der schönste aller Augenblicke gewesen war, diese Woge von Erwartung, die sie trug, als alles da unter ihnen lag und alles möglich schien. Das war Jugend.

»Betrachte sie als Mitreisende«, riet ihr Michel von neuem, wie schon mehrfach zuvor, wenn Maya ihm ihre Gefühle gebeichtet hatte. »Sie werden nur so lange jung sein, wie wir es waren. Ein Schnipsen mit den Fingern — nicht wahr? Und dann sind sie alt und dann dahin. Das machen wir alle durch. Der Abstand eines Jahrhunderts macht auch nur einen Dreck aus. Und von allen Menschen, die jemals existiert haben und die es jemals geben wird, sind diese Menschen die einzigen, die gleichzeitig mit uns leben. Nur die Tatsache, gleichzeitig am Leben zu sein, macht uns alle zu Zeitgenossen. Und deine Zeitgenossen sind die einzigen, die dich wirklich verstehen können.«

»Ja, du hast recht«, sagte Maya. Das war so. »Aber ich hasse sie trotzdem.«


Das Brennen der Luftlinse war überall etwa gleich tief gegangen. Als es daher über den Gale-Krater hinweggezogen war, hatte es einen breiten Streifen durch den Rand an den nordöstlichen und südwestlichen Hängen geschnitten. Aber diese Schnitte waren höher als das Kanalbett anderswo, so daß schmalere Schnitte ausgetieft und Schleusen installiert wurden, wodurch der Krater zu einem hohen See wurde, eine Knolle in der endlosen Qecksilbersäule des Kanals. Das Lowell- System der alten Nomenklatur war hier aus irgendeinem Grunde außer Kraft; und die Schleusen im Nordosten wurden von einer kleinen geteilten Stadt namens Bird’s Trenches flankiert, während die größere Stadt an den südwestlichen Schleusen Banks hieß. Sie bedeckte die Schmelzzone des Brandes und stieg dann in breiten gebogenen Terrassen auf den nicht geschmolzenen Rand von Gale mit Blick auf den See im Innern auf. Es war eine wilde Stadt. Mannschaften und Passagiere vorbeikommender Schiffe stapften die Gangwayplanken hinunter, um sich an dem mehr oder weniger ständigen Festivitäten, die in der Stadt stattfanden, zu beteiligen. An diesem Abend richtete sich diese Party auf die Ankunft der Kampagne Freier Mars. Ein großer Rasenplatz, der auf einer weiten Felsbank über der Seeschleuse hockte, war dicht gedrängt voller Menschen, die auf die Reden warteten, die von einer Bühne auf einem flachen Dach über der Plaza aus gehalten werden sollten. Andere ignorierten den Tumult und machten Einkäufe, gingen spazieren, saßen über der Schleuse und tranken oder aßen Speisen, die sie an kleinen verräucherten Ständen gekauft hatten; oder sie tanzten oder machten sich auf den Weg, um die oberen Bereiche der Stadt zu erkunden.

Während der ganzen Wahlkampfreden stand Maya auf einer Terrasse oberhalb der Bühne, wo sie einen Blick auf den Bereich dahinter hatte, wo Jackie und der übrige Führerstab des Freien Mars sich herumtrieben, schwatzten oder lauschten, während sie darauf warteten, im Scheinwerferlicht an die Reihe zu kommen. Da waren Antar und Ariadne, sowie einige andere, die Maya mehr oder weniger aus neueren Nachrichtenvideos erkannte. Beobachtung aus der Entfernung konnte so aufschlußreich sein. Da unten sah sie all die Dynamik der Dominanz von Primaten, über die sich Frank so oft geäußert hatte. Zwei oder drei Männer waren auf Jackie fixiert und, auf andere Weise, etliche Frauen. Ein Mann namens Mikka gehörte in diesen Tagen dem Globalen Exekutivkomitee an, ein Anführer der Partei Mars Zuerst. Diese war eine der ältesten politischen Parteien auf dem Planeten, die gemäß den Wettbewerbsbedingungen der Erneuerung des ersten Marsvertrages gebildet worden war. Maya erinnerte sich vage, daß sie einmal Mitglied gewesen war.

Jetzt war die Marspolitik in ein Schema verfallen, das irgendwie parlamentarischen Strukturen in Europa ähnelte, mit einem breiten Spektrum kleiner Parteien, von denen einige sich zu zentristischen Koalitionen zusammenfanden — in diesem Falle Freier Mars, die Roten und die Matriarchie von Dorsa Brevia, während andere sich einklinkten oder Lücken füllten oder zu den Seiten auswichen. Sie alle schoben sich in zeitweiligen Allianzen hin und her, um ihre kleinen Angelegenheiten zu fördern. Bei dieser Konstellation war Mars Zuerst so etwas wie der politische Flügel der Roten Saboteure geworden, die noch in der Wildnis lebten. Sie waren eine widerlich eigennützige Organisation ohne Skrupel, die aus keinem überzeugenden ideologischen Grund in den Freien Mars eingegliedert war. Da mußte irgendein Schacher im Gange sein. Oder etwas Persönliches. Die Art, wie Mikka Jackie folgte und sie ansah, ein Liebhaber oder erst vor ganz kurzer Zeit entlassener früherer Liebhaber. Darauf hätte Maya gewettet. Außerdem hatte sie dahingehende Gerüchte gehört.

Die Reden handelten alle von dem schönen, wundervollen Mars und wie er in Gefahr war, durch Übervölkerung ruiniert zu werden, falls er sich nicht künftiger Einwanderung von der Erde verschlösse. Um diesen Gesichtspunkt hervorzuheben ließ sich jetzt wirklich viel anführen, wie die Hochrufe und der Beifall aus der Menge bewiesen. Ihre Haltung war höchst heuchlerisch, da die meisten der Applaudierenden von terranischen Touristen lebten und sie alle Immigranten oder deren Kinder waren. Aber sie jubelten trotzdem. Das war ein gutes Wahlkampfthema. Besonders, wenn man das Kriegsrisiko ignorierte und die enorme Größe der Erde und ihre Vorherrschaft in der menschlichen Zivilisation. Das so gering zu schätzen ... Nun, das spielte keine Rolle. Diesen Leuten war die Erde völlig egal, und sie verstanden sie auch gar nicht. Darum ließ ihr Trotz Jackie, die für einen freien Mars eintrat, nur noch tapferer und schöner erscheinen. Die Ovationen für sie waren laut und anhaltend. Sie hatte eine Menge gelernt seit ihren ungeschickten Reden während der zweiten Revolution. Sie war recht gut geworden. Sehr gut.

Als danach die Sprecher der Grünen auftraten und für einen offenen Mars argumentierten, versuchten sie, über die Gefahr der Politik eines geschlossenen Mars zu reden. Aber die Reaktion war natürlich viel weniger enthusiastisch als zuvor für Jackie. Die von ihnen vertretene Position klang nach Feigheit, um es offen zu sagen; und der Wunsch nach einem offenen Mars wirkte naiv. Vor der Ankunft in Banks hatte Vendana Maya eine Gelegenheit angeboten zu sprechen; aber die hatte abgelehnt und war jetzt in ihrer Meinung bestätigt. Sie beneidete diese Redner nicht um ihre unpopuläre Stellung vor einer dahinschwindenden Menge.

Danach hielten die Grünen eine kleine Zusammenkunft zur Manöverkritik ab, und Maya äußerte sich zu ihrem Auftritt recht scharf. »Ich habe noch nie eine solche Inkompetenz erlebt. Ihr versucht, sie zu verängstigen, klingt aber nur furchtsam. Der Stock ist nötig für den Esel, aber ihr braucht auch eine Rübe. Die Möglichkeit des Krieges ist der Stock, aber ihr müßt ihnen Gründe dafür geben, warum sie es unterstützen sollten, weiterhin Terraner heraufkommen zu lassen, ohne daß ihr euch wie Idioten anhört. Ihr müßt sie daran erinnern, daß wir alle terranischer Herkunft sind. Wir sind hier immer Immigranten. Ganz können wir die Erde niemals hinter uns lassen.«

Dazu nickten sie. Athos unter ihnen sah nachdenklich aus. Danach nahm Maya Vendana beiseite und quetschte sie über Jackies neuerliche Liaisonen aus. Mikka war wirklich kürzlich ein Partner gewesen und war es wahrscheinlich immer noch. Mars Zuerst war noch stärker gegen Einwanderung eingestellt als die größere Partei. Maya nickte. Allmählich erkannte sie die Umrisse eines Plans.

Als die Manöverkrititik vorbei war, ging Maya mit Vendana, Athos und den übrigen in die Innenstadt, bis sie an einer großen Band vorbeikamen, die Sheffield-Sound spielte. Für Maya war diese Musik nur Lärm: zwanzig verschiedene Trommelrhythmen zugleich auf Instrumenten gedroschen, die nicht als Schlagzeug oder überhaupt für musikalische Anwendung bestimmt waren. Aber sie dienten ihren Zwecken, da sie unter dem Gepolter und Radau imstande waren, die jungen Grünen unauffällig in die Nähe von Antar zu führen, den sie auf dem Tanzboden gesichtet hatte. Als sie näher bei ihm waren, konnte sie sagen: »Oh, da ist Antar! Hallo, Antar! Das sind die Leute, mit denen ich fahre. Wir sind offenbar direkt hinter euch, mit dem Ziel Hell’s Gate und dann Odessa. Wie läuft die Kampagne?«

Und Antar war wieder ganz der graziöse Prinz, ein Mann, dem man schwer widersprechen konnte, selbst wenn man wußte, wie reaktionär er war und wie sehr er unter dem Einfluß der arabischen Nationen der Erde gestanden hatte. Jetzt mußte er sich gegen diese alten Verbündeten wenden — ein weiterer gefährlicher Teil seiner gegen Einwanderer gerichteten Strategie. Es war seltsam, wie die Führung des Freien Mars sich entschlossen hatte, den Mächten der Erde zu trotzen und gleichzeitig zu versuchen, all die neuen Niederlassungen im äußeren Sonnensystem zu dominieren. Hybris. Oder vielleicht fühlten sie sich einfach bedroht. Der Freie Mars war immer die Partei der jungen Eingeborenen gewesen; und wenn jetzt ein unbeschränktes Einwanderungsgesetz Millionen neuer Issei hereinbrächte, würde der Status des Freien Mars gefährdet sein, nicht nur die Supermajorität, sondern auch seine einfache Mehrheit. Diese neuen Horden mit all ihren alten, noch funktionierenden fanatischen Doktrinen — Kirchen und Moscheen, Flaggen, versteckten Feuerwaffen, offenen Fehden —, das war wirklich ein Grund für den Freien Mars, seine Position neu zu überdenken; denn seit der intensiven Einwanderung der letzten Dekade waren die Neuankömmlinge dabei, eine zweite Erde aufzubauen, die genauso hirnrissig war wie die erste. John wäre verrückt geworden, und Frank hätte gelacht. Und Arkadij hätte erklärt, Ich habe es euch doch gleich gesagt und eine Revolution vorgeschlagen. Ihr erinnert euch?

Aber die Erde mußte ernsthafter und realistischer behandelt werden als auf diese Weise. Man konnte sie nicht einfach ausklammern und ignorieren. Und im Moment war Antar liebenswürdig, besonders liebenswürdig, als ob er dächte, daß Maya ihm für irgend etwas nützlich sein könnte. Und da er sich immer in Jackie’s Nähe aufhielt, war Maya nicht überrascht, als plötzlich Jackie und etliche andere an seiner Seite waren und ein jeder sie begrüßte. Maya nickte Jackie zu, die makellos zurücklächelte. Maya zeigte auf ihre neuen Begleiter und stellte sie einzeln vor. Als sie zu Athos kam, sah sie, daß Jackie ihn beobachtete, der ihr seinerseits bei der Vorstellung einen freundlichen Blick zuwarf. Rasch, aber ganz beiläufig erkundigte sich Maya nach Zeyk und Nazik, die anscheinend an der Küste der Acheron-Bucht lebten. Die beiden Gruppen bewegten sich langsam auf die Musik zu und hätten sich im Weitergehen völlig vermischt; und es wäre zu laut gewesen, um irgend ein Gespräch zu führen, denn man konnte nichts außer der eigenen Stimme hören. Maya sagte zu Antar: »Mir gefällt dieser Sheffield-Sound. Hilf mir, zur Tanzfläche durchzukommen!«

Das war offenbar eine List; denn sie brauchte keine Hilfe, um durch das Gedränge zu kommen. Aber Antar ergriff ihren Arm und merkte nicht, daß Jackie zu Athos sprach, oder tat so, als ob er es nicht bemerke.

Das war für ihn sowieso eine alte Geschichte. Aber dieser Mikka, der aus der Nähe sehr groß und kräftig wirkte, vielleicht skandinavischer Herkunft, und etwas hitzköpfig aussehend, verfolgte die Gruppe jetzt mit saurer Miene. Maya verzog den Mund, befriedigt, daß der erste Schritt gelungen war. Wenn Mars Zuerst noch isolationistischer war als Freier Mars, dann könnten Unstimmigkeiten zwischen ihnen umso nützlicher sein.

Also tanzte sie mit mehr Begeisterung, als sie seit Jahren empfunden hatte. Wenn man sich allein auf die Baßtrommeln konzentrierte und sich an deren Rhythmen hielt, dann war es wirklich wie das Klopfen eines erregten Herzens. Und über diesem fundamentalen Grundbaß war das Plappern der verschiedenen Holzblöcke, Küchengeräte und runden Steine nicht mehr als ein Magenknurren oder flüchtiger Gedanke. Das ergab einen gewissen Sinn. Keinen musikalischen Sinn, wie sie ihn verstand, aber irgendwie rhythmischen Sinn. Tanzen, schwitzen, beobachten, wie Antar elegant dahinglitt. Er mußte ein Narr sein, zeigte das aber nicht. Jackie und Athos waren verschwunden. Ebenso Mikka. Vielleicht würde er zu einer Nova explodieren und sie alle umbringen. Maya grinste und drehte sich im Tanz.

Michel kam herbei, und Maya schenkte ihm ein breites Lächeln und eine verschwitzte Umarmung. Er machte ein zufriedenes, aber neugieriges Gesicht. »Ich dachte immer, du magst diese Art von Musik nicht.«

»Doch, manchmal schon.«


Südwestlich von Gale stieg der Kanal durch eine Schleuse nach der anderen auf bis zu den Gebirgen von Hesperia. Dort, wo er östlich vom Tyrrhena-Massiv das Hochland überquerte, blieb er ungefähr auf einer Höhe von vier Kilometern, die man jetzt oft als fünf Kilometer über dem Meeresniveau bezeichnete.

Darum bestand kein großer Bedarf an Schleusen. Sie fuhren Tag um Tag mit Motorkraft über den Kanal oder segelten unter der Reihe kleiner Mastsegel des Schiffs dahin. Sie hielten bei einigen Städten am Ufer und fuhren an anderen vorbei. Oxus, Jaxartes, Scamander, Simois, Xanthus, Steropes, Polyphemus. Überall hier machten sie Halt und hielten gleichmäßig Schritt mit der Kampagne des Freien Mars und auch mit den meisten anderen nach Hellas fahrenden Kanalschiffen und Yachten. Die Landschaft dehnte sich nach beiden Horizonten ohne Veränderung aus. Das erschien so, obwohl die Linse in dieser Region gelegentlich durch exotischere Materialien als den gewöhnlichen basaltischen Regolith geschnitten hatte, so daß durch das Verdampfen und Ausfällen einige Variationen und Streifungen von Obsidian oder Eisenschwarz an den Deichen vorgekommen waren. Stellen von strahlender glänzender Farbe, von marmorierten porphyrgrünen Streifen, scharfem Schwefelgelb, klumpigen Konglomeraten, sogar eine ausgedehnte Strecke klarer Glasbänke, die sich auf beiden Seiten des Kanals befanden, unterbrachen den Blick auf das Hochland dahinter und reflektierten den Himmel. Diese Strecke, genannt Glasbänke, war natürlich hochentwickelt. Zwischen den Städten verliefen an den Seiten des Kanals palmenbeschattete Mosaikwege, die Palmen in riesigen keramischen Töpfen, dahinter Villen, umgeben von Rasenflächen und Hecken. Die Städte der Glasbänke waren weißgetüncht, hell mit Pastelljalousien, Blumenkästen an den Fenstern und Türen und blauglasierten Ziegeldächern, sowie langen Neonreklamen über blauen Markisen in den Restaurants am Ufer. Es war eine Art von Traum-Mars, das Kanalclichee eines alten Märchenlandes. Aber dennoch nicht weniger schön, da seine Unverstelltheit Teil des Vergnügens war.

Die Tage ihrer Passage durch dieses Gebiet waren warm und windstill, die Oberfläche des Kanals so glatt wie die Ufer — eine Welt aus Glas. Maya saß auf dem Vorderdeck unter einer grünen Markise und beobachtete die Frachtkähne und Schaufelradboote der Touristen, die ihnen entgegen kamen. Alle waren an Deck, um den Anblick der Glasbänke und der sie schmückenden bunten Städte zu genießen. Dies war das Herz der Touristenindustrie des Mars, das bevorzugte Ziel von Besuchern ferner Welten; lächerlich, aber wahr. Und man mußte zugeben, daß es hübsch war. Beim Anblick der vorbeiziehenden Szenerie kam Maya auf den Gedanken, daß, ganz gleich wer die nächste Wahl gewinnen würde, und wie auch immer der Kampf um die Einwanderung ausfallen mochte, diese Welt wahrscheinlich weiterbestehen würde, glänzend wie ein Spielzeug in der Sonne. Dennoch hoffte sie, daß ihr erster Schritt funktionieren würde.


Als sie weiter nach Süden fuhren, legte der südliche Herbst einen kühlen Hauch in die Luft. An den einst basaltischen Ufern begannen Hartholzbäume zu erscheinen, deren Blätter rot und gelb flammten. Und eines Morgens bedeckte eine dünne Eisschicht das Wasser zu den Ufern hin. Wenn sie oben auf dem Westufer standen, konnten sie die Vulkane Tyrrhena Patera und Hadriatica Patera über den Horizont ragen sehen wie flache Fujis. Hadriatica stellte den gebänderten Maibaum weißer Gletscher auf schwarzem Fels zur Schau, den Maya das erste Mal von der anderen Seite aus gesehen hatte, als sie aus Dao Vallis heraufkam, wo sie vor so langer Zeit ihre Tour durch das überflutete Hellas-Becken gemacht hatte. Mit jenem jungen Mädchen — wie war doch ihr Name? Eine Verwandte von jemandem, den sie kannte.

Der Kanal durchschnitt die Drachenbuckelberge von Hesperia Dorsa. Die Städte entlang des Kanals verloren ihren äquatorialen Charakter, wurden strenger und mehr zu den Gebirgen passend. Städte des Wolgaufers, Neu-Englands Fischerdörfer, aber mit Namen wie Astapus, Aeria, Uchronia, Apis, Eunostos, Agathadaemon, Kaiko... immer weiter führte sie das breite Band des Wassers nach Südwesten, so gerade wie ein Kompaßkurs Tag für Tag, bis es schwer war, sich zu erinnern, daß dies der einzige Kanal war, daß nicht ein Netz solcher Kanäle existierte. Oh, es gab einen weiteren großen Kanal bei Boone’s Neck; aber der war kurz und breit und dehnte sich jedes Jahr weiter aus, da Schleppleinen und die nach Osten gerichtete Strömung an ihm zerrten. Eigentlich kein Kanal mehr, sondern eher eine künstlich angelegte Meeresstraße. Nein, der Traum von den Marskanälen war allein hier verwirklicht worden. Und während man hier ruhig über das Wasser fuhr und der Blick auf alles andere durch die hohen Ufer abgeschnitten war, lag in der Luft ein Gefühl von Romantik, ein Gefühl, das ihre politischen und persönlichen Querelen verblassen ließ.

So etwa fühlte sich der Ausklang eines Abends unter den pastellfarbenen Neonlampen einer Stadt neben dem Kanal an. In Anteus schlenderte Maya die Uferpromenade entlang und schaute hinab auf große und kleine Schiffe, auf junges Volk, das trank und fröhlich schwatzte, da und dort briet man Fleisch in Kohlenbecken, die an die Reling geklammert waren und über dem Wasser hingen. Auf einem breiten Dock, das in den Kanal ragte, war ein Freiluftcafe, von dem der klagende Gesang einer Zigeunergeige ertönte. Maya kehrte instinktiv dort ein und sah erst im letzten Augenblick Jackie und Athos allein an einem Tisch der Kanalseite sitzen, vornübergebeugt, daß sich ihre Stirnen fast berührten. Maya wollte gewiß eine so vielversprechende Szene nicht stören; aber ihr abruptes Stehenbleiben fiel Jackie ins Auge, so daß sie aufschaute und dann hochschreckte. Maya wandte sich zum Gehen, sah aber, daß Jackie sich anschickte herüberzukommen.

Eine weitere Szene, dachte Maya, nicht sonderlich unzufrieden mit der Aussicht. Aber Jackie lächelte, und Athos war an ihrer Seite und beobachtete alles mit großen unschuldigen Augen. Entweder hatte er keine Ahnung von ihrer Vorgeschichte, oder er wußte seine Miene gut zu beherrschen. Maya vermutete das letztere, einfach wegen des Ausdrucks in seinem Blick, der etwas zu harmlos war, um echt zu sein. Ein Schauspieler.

»Dieser Kanal ist schön, nicht wahr?« sagte Jackie.

»Eine Touristenfalle«, erwiderte Maya. »Aber eine hübsche. Und sie hält die Touristen sauber beisammen.«

»Mach schon!« sagte Jackie lachend. Sie ergriff Athos Arm. »Wo ist dein Sinn für Romantik?«

»Mein Sinn für Romantik?« fragte Maya, erfreut über diese öffentliche Zurschaustellung von Zuneigung. Die alte Jackie hätte das nicht getan. Es war wirklich ein Schock zu sehen, daß sie nicht mehr jung war. Es war töricht von Maya gewesen, nicht daran zu denken; aber ihr Zeitgefühl war so durcheinander, daß ihr eigenes Gesicht im Spiegel sie immer wieder entsetzte. Sie erwachte jeden Morgen im falschen Jahrhundert. Darum war das Bild von Jackie, wie sie matronenhaft Athos am Arm hielt, genauso unmöglich. Das war doch das frische, gefährliche Mädchen von Zygote, die junge Göttin von Dorsa Brevia!

»Jeder hat einen Sinn für Romantik«, sagte Jackie. Die Jahre machten sie nicht weiser. Wieder eine chronologische Diskontinuität. Vielleicht hatte die häufige Behandlung für Langlebigkeit ihr Gehirn in Mitleidenschaft gezogen. Seltsam, daß nach so anhaltendem Gebrauch der Behandlungen überhaupt irgendwelche Zeichen des Alterns übrig geblieben waren. Woher kam das eigentlich, wenn keine Zellteilungsfehler mehr auftraten? In Jackies Gesicht gab es keine Falten. Man konnte sie in mancher Hinsicht irrtümlich für fünfundzwanzig halten. Und die Miene fröhlicher Boonescher Zuversicht saß so tief wie eh und je. Dies war der einzige Zug, in dem sie John wirklich ähnelte — glühend wie das Neonschild des Cafes über ihnen. Aber trotz alledem sah man ihr ihre Jahre an, irgendwie an den Augen oder an einer psychischen Gestalt, die aller medizinischen Manipulation zum Trotz am Werke war.

Und dann kam eine von Jackies vielen Assistentinnen auf sie zugerannt, kam keuchend, japsend zum Stehen, zog Jackies Arm von Athos weg und schrie bebend: »Sie ist tot.«

»Wer?« fragte Jackie scharf zurück.

Die junge, früh alternde Frau sagte kläglich: »Zo.«

»Zo?«

»Ein Flugunfall. Sie ist ins Meer gestürzt.«

Das sollte sie mäßigen, dachte Maya.

»Natürlich«, sagte Jackie.

»Aber die Vogelanzüge«, protestierte Athos. Auch er wurde älter. »Hat man nicht...?«

»Davon weiß ich nichts.«

»Das spielt auch keine Rolle«, sagte Jackie und brach das Gespräch ab. Später hörte Maya einen Augenzeugenbericht über den Unfall, und das Bild blieb für immer ihrer Erinnerung eingeprägt. Die zwei Flieger kämpften in den Wellen wie nasse Libellen. Sie blieben an der Oberfläche, so daß ihnen nichts geschehen wäre, hätte sie nicht eine der großen Wogen des Nordmeeres erfaßt und gegen den Fuß einer Klippe geschleudert. Danach waren beide leblos in der Gischt getrieben.

Jackie war in sich gekehrt und nachdenklich. Sie und Zo hatten einander nie sehr nahe gestanden, wie Maya gehört hatte. Manche sagten, daß sie sich sogar haßten. Aber das eigene Kind. Man erwartete nicht, seine Kinder zu überleben; das empfand sogar die kinderlose Maya instinktiv so. Aber sie hatten allen Regeln abgeschworen. Biologie hatte für sie keine Bedeutung mehr. Und da waren sie nun. Wenn Ann Peter bei dem fallenden Kabel verloren hätte; wenn Nadia und Art jemals Nikki verloren hätten... selbst Jackie, wie verrückt sie auch sein mochte, mußte das so empfinden.

Und sie empfand es auch so. Sie dachte scharf nach, um den Ausweg zu finden. Aber dazu würde es nicht kommen. Und dann würde sie eine andere Person sein. Altern hatte überhaupt nichts mit Zeit zu tun. »O Jackie«, sagte Maya und streckte eine Hand aus. Jackie kniff die Augen zu, und Maya zog die Hand zurück. »Es tut mir leid.«

Aber gerade dann, wenn man am meisten Hilfe braucht, ist die Isolierung am stärksten. Maya hatte das in der Nacht von Hirokos Verschwinden gelernt, als sie versucht hatte, Michel zu trösten. Man konnte nichts tun.

Maya schob die schniefende Assistentin fast schroff beiseite und nahm sich dann zusammen: »Warum begleitest du Ms. Boone nicht zu eurem Schiff zurück? Und dann halte ihr die Menschen für eine Weile vom Leib!«

Jackie war noch in Gedanken verloren. Ihre Geste gegenüber Maya war rein instinktiv gewesen. Sie war bestürzt und ungläubig, und diese Ungläubigkeit absorbierte alle ihre Bemühungen. Was sollte man von einem menschlichen Wesen auch anderes erwarten?

Vielleicht war es noch schlimmer, wenn man sich schon nicht mit dem Kind verstanden hatte — schlimmer, als wenn man es geliebt hätte, o Gott! »Geh«, sagte Maya zu der Assistentin und befahl Athos mit einem Blick, Jackie zu helfen. Er würde gewiß Eindruck auf sie machen — auf eine oder andere Weise. Man führte sie weg. Sie hatte immer noch den schönsten Rücken der Welt und hielt sich wie eine Königin. Das würde sich ändern, wenn die Nachricht eindrang.

Später befand Maya sich am südlichen Ende der Stadt, wo die Lichter sich verloren und hinter dem bestirnten Schimmer des Kanals schwarze Haufen von Schlacke lagen. Es sah aus wie die Akte eines Lebens, wie die Weltlinie eines Menschen. Helle Neonschnörkel, die sich über eine Landschaft auf den schwarzen Horizont zu bewegten. Über dem Kopf und unten Sterne. Eine schwarze Bahn, über die sie lautlos glitten.

Sie ging zu ihrem Schiff zurück. Stapfte die Planke hoch. Es war bekümmernd, so für einen Feind zu empfinden, einen Feind durch dieses Unglück zu verlieren. »Wen soll ich jetzt hassen?« schrie sie Michel zu.

»Na ja«, sagte Michel schockiert. Dann in tröstendem Ton: »Ich bin sicher, daß du jemanden finden wirst.«

Maya lachte kurz, und Michel zwang sich zu einem kurzen Lächeln. Dann zuckte er mit finsterer Miene die Achseln. Er war weniger als sonst jemand durch die Behandlung beschwichtigt worden. Unsterbliche Geschichten in sterblichem Fleisch — darauf hatte er immer bestanden. Er hatte mit seiner morbiden Einstellung völlig recht. Hier eine weitere Illustration dieses Punktes.

»So fordert das Allzumenschliche letztlich sein Recht«, sagte er.

»Sie war eine Närrin mit all diesen Risiken, nach denen sie verlangte.«

»Sie hatte nicht daran geglaubt.«

Maya nickte. Zweifellos richtig. Es glaubten nur noch wenige an den Tod, besonders die Jungen hatten das nie getan, schon vor den Tagen der Behandlung nicht. Und jetzt weniger denn je. Aber ob man daran glaubte oder nicht, er wurde immer niederdrückender, am meisten" natürlich bei den Super-Alten. Neue Krankheiten oder alte Krankheiten, die zurückgekehrt waren oder gar ein rapider holistischer Verfall ohne erkennbare Ursache — der hatte Helmut Bronski und Derek Hastings in den letzten Jahren umgebracht. Leute, die Maya kennengelernt hatte, wenn auch nicht näher. Jetzt hatte ein Unfall jemanden betroffen, die so viel jünger war als sie. Es machte keinen Sinn, da nur jugendliche Sorglosigkeit als Grund in Frage kam. Ein Unfall. Ein Zufall.

»Willst du immer noch, daß Peter herjcommt?« fragte Michel aus einem anderen Gedankengang heraus. War das seine Realpolitik? Ah, er wollte sie ablenken. Sie lachte beinahe wieder.

Sie sagte: »Laß uns Kontakt mit ihm aufnehmen und sehen, ob er kommen kann«, erwiderte sie. Aber das war nur, um Michel zu beruhigen. Ihr Herz war nicht dabei.

Das war erst der Anfang einer Reihe von Todesfällen.

Aber das wußte sie damals nicht. Damals bedeutete es nur das Ende ihrer Kanalreise.

Das Brennen der Luftlinse hatte kurz vor dem östlichen Rand der Wasserscheide des Hellas-Beckens aufgehört; zwischen Dao und den Harmakhis-Tälern. Das letzte Segment des Kanals war mit konventionellen Mitteln gegraben worden und fiel so steil am östlichen Hang des Beckens ab, daß jede Menge Schleusen erforderlich waren. Sie fungierten hier als Damm, so daß der Kanal nicht mehr das klassische Aussehen wie in den Hochländern hatte, sondern eher eine Reihe von Stauseen bildete, die durch die breiten rötlichen Flüsse miteinander verbunden waren, die von jedem Damm ausgingen. Also fuhren sie mit dem Schiff in einer langsamen Parade von Frachtern, Segelbooten und Kabinenkreuzern von See zu See, immer weiter hinunter. Und wenn sie in die Schleusen einfuhren, konnten sie durch deren klare Wände über die Seenkette, die wie eine gigantische Folge blauer Treppenstufen in der Sonne lag, bis zu der fernen Bronzefläche des Hellas-Meeres blicken. Irgendwo rechts und links im öden Hinterland schnitten die Canyons Dao und Harmakhis, ihrem natürlichen Lauf die Große Böschung hinunter folgend, tief in das Plateau aus rotem Gestein. Aber da die Kuppeln verschwunden waren, konnte man die Canyons erst sehen, wenn man sich direkt über ihrem Rand befand. Vom Kanal aus war von ihnen nichts zu erkennen.

An Bord des Schiffs ging das Leben weiter. Es war anscheinend ziemlich ähnlich wie auf dem Schiff des Freien Mars, wo es Jackie dem Vernehmen nach gut ging. Als die Schiffe an der gleichen Stadt anlegten, war Athos immer noch in Jackies Nähe. Man begrüßte sich freundlich, und dann kam man auf andere Themen zu sprechen, gewöhnlich den aktuellen Verlauf der Kampagne. Auch der Wahlfeldzug verlief gut. Unter Mayas Leitung ging die Kampagne der Grünen besser voran als zuvor; aber die Stimmung gegen die Einwanderer war stark. Überall, wohin sie kamen, sprachen die Berater und Kandidaten des Freien Mars bei den Zusammenkünften, und Jackie hatte nur gelegentliche feierliche Auftritte. Sie war hier eine viel stärkere und intelligentere Rednerin als sonst. Aber durch Beobachtung der anderen Sprecher gewann Maya einen guten Eindruck davon, wer sich auf oberster Ebene der Organisation befand, und einige dieser Personen schienen sehr erfreut zu sein, daß sie ins Rampenlicht gerückt worden waren. Ein junger Mann namens Nanedi, auch einer von Jackies jungen Burschen, trat besonders hervor. Und Jackie schien das nicht zu gefallen. Sie gab sich ihm gegenüber kühl und wandte sich mehr und mehr Athos und Mikka zu, sogar Antar kam zu neuen Ehren. An manchen Abenden schien sie eine wahre Königin unter ihrem Gefolge zu sein. Aber Maya konnte dahinterblicken. Sie hatte es bei Anteus erlebt. Sie konnte aus hundert Metern Entfernung die Finsternis im Kern der Dinge erkennen.

Nichtsdestoweniger bat Maya Peter, als er ihren Anruf erwiderte, zu einem Besuch, um über die bevorstehenden Wahlen zu sprechen. Und als er dann eintraf, empfing ihn Maya mit gespannter Ruhe. Es würde etwas passieren.

Peter wirkte gelassen und ruhig. Er lebte in diesen Tagen in Charitum Montes und arbeitete an dem Projekt der Argyre-Wildnis und auch in einer Koop, die, für Leute, die den Aufzug vermeiden wollten, Pläne für Verbindungen vom Mars in den Weltraum machte.

Entspannt, ruhig, sogar etwas zurückgezogen. Ähnlich wie Simon.

Antar war auf Jackie böse, weil sie ihn mehr als üblich mit der mangelnden Diskretion in ihrem Umgang mit Athos ärgerte. Mikka war noch ärgerlicher als Antar. Jetzt, wo Peter da war, provozierte und verstimmte Jackie auch Athos, da sie all ihre Aufmerksamkeit Peter zuwandte. Sie war so zuverlässig wie ein Magnet. Aber sie war von Peter angezogen, der ihr gegenüber wie immer gleichgültig war, Eisen für ihren Magneten. Es war deprimierend, wie vorhersagbar sie waren. Aber nützlich. Die Kampagne des Freien Mars verlor allmählich an Schwung. Antar war nicht mehr so kühn, den Mahjaris von Qahira vorzuschlagen, sie sollten in dieser Zeit der Unruhe Arabien besser vergessen. Mikka verstärkte die Kritik von Mars Zuerst in verschiedenen Positionen, die nicht mit der Einwanderung zu tun hatten, und zog einige andere Mitglieder des Exekutivrates in seinen Kreis. Ja, Peter verstärkte Jackies unpolitische Seite und machte sie unberechenbar und leistungsschwach. Damit verlief alles wie von Maya geplant. Man mußte Jackie nur Männer wie Kegelkugeln zuschieben, und sie legte los. Dennoch empfand Maya keinen Triumph.


Und dann fuhren sie aus der letzten Schleuse in die Malachit-Bucht hinaus. Eine trichterförmige Einkerbung des Hellas-Meeres, deren sonnenbeschienenes seichtes Wasser durch starken Wellenschlag gepeitscht wurde. Weiter draußen drangen sie sanft in die dunklere See vor, wo viele Frachter und kleinere Schiffe sich nach Norden auf Hell’s Gate zuwandten, den größten Tiefwasserhafen an der Ostküste von Hellas. Ihr Schiff folgte dieser Parade, und bald erschien über dem Horizont die große Brücke über Dao Vallis und dann die von Gebäuden bedeckten Wände am Eingang zum Canyon. Danach die Masten, die lange Pier und die Helligen des Hafens.

Maya und Michel gingen an Land und zogen durch die gepflasterten und gestuften Straßen zu den alten Praxisunterkünften unter der Brücke. In der nächsten Woche sollte ein Herbstfest stattfinden, das Michel besuchen wollte, und dann würden sie sich nach Minus One Island und Odessa begeben. Maya machte sich zu einem Spaziergang durch die Straßen von Hell’s Gate auf, froh, der Enge des Kanalschiffs entkommen zu sein und frei losziehen zu können. Es war kurz vor Sonnenuntergang am Ende eines Tages, der im Großen Kanal begonnen hatte. Die Reise war vorbei.

Maya hatte Hell’s Gate zuletzt im Jahre 2121 besucht, bei ihrer ersten Tour um das Becken. Sie hatte damals für Deep Waters gearbeitet und war zusammen gereist mit — mit Diana! So hieß sie. Esthers Enkelin und Cousine zweiten Grades von Jackie. Dieses große fröhliche Mädchen hatte für Maya die erste Bekanntschaft mit jungen Eingeborenen bedeutet, nicht nur über ihre Kontakte in den neuen Siedlungen rings um das Becken, sondern auch durch sie selbst in ihrem Verhalten und ihren Ideen, die Art, wie Erde für sie bloß ein Wort war, und wie ihre eigene Generation alle ihre Interessen und Bemühungen absorbierte. Das war das erste Mal gewesen, daß Maya das Gefühl hatte, der Gegenwart zu entgleiten, hinein in die Geschichtsbücher. Nur intensivste Bemühung hatte es ihr ermöglicht, sich weiter in den Dingen des Augenblicks zu engagieren und auf jene Zeiten Einfluß zu nehmen. Es war eine der großen Perioden ihres Lebens gewesen, vielleicht die letzte große Periode ihres Lebens. Die Jahre danach waren wie ein Wildwasser im Gebirge des Südens gewesen, eine Wanderung durch Spalten und Gräben und dann ein jähes Versinken in einem unerwarteten Strudel.

Aber einmal, vor sechzig Jahren, hatte sie genau hier gestanden, unter der großen Brücke, welche die Straße von Klippe zu Klippe über die Mündung des Dao-Canyons führte, die berühmte Hell’s-Gate-Brücke, wo die Stadt sich zu beiden Seiten des Flusses vor der See auf den steilen, von der Sonne bestrahlten Abhängen hinuntersenkte. Damals hatte es hier draußen nur Sand gegeben, bis auf ein am Horizont sichtbares Band aus Eis. Die Stadt war kleiner und schlichter gewesen, die Stufen der steinernen Straßentreppen roh und staubig. Jetzt waren sie durch die sich mühsam darauf hocharbeitenden Füße glatt und abgeschliffen. Der Staub war von den Jahren weggewaschen worden. Alles war sauber und hatte eine dunkle Patina. Es war jetzt ein schöner mediterraner Hafen, in den Schatten einer Brücke gefügt, welche die ganze Stadt zu einer Miniatur machte, wie etwas in einem gläsernen Briefbeschwerer oder eine Postkarte aus Portugal. Sehr schön in einem frühen herbstlichen Sonnenuntergang. Zum Westen hin beschattet und frisch, alles in Sepia, für den Moment in Bernsteinfarbe getaucht. Aber einst war sie diesen Weg mit einer lebhaften jungen Amazone gegangen, als sich eine ganze neue Welt auftat, der natürliche Mars, dem sie mit zum Leben verholfen hatte, während sie noch ein Teil von ihm war.

Die Sonne ging bei diesen Erinnerungen unter. Maya kehrte zum Praxishaus zurück, das noch unter der Brücke stand und deren letzte dahin führende Treppe so steil war wie eine Leiter. Während sie hinaufstieg und auf ihre Schenkel drückte, um nachzuhelfen, hatte Maya plötzlich einen überwältigenden Eindruck von deja vu. Sie hatte das schon einmal gemacht. Sie erklomm nicht nur diese Stufen, sondern tat das mit dem Gefühl, daß sie sie schon früher erstiegen hatte. Dabei empfand sie genau dasselbe wie bei einem noch früheren Besuch. Sie war ein wirksamer Teil der Welt gewesen.

Natürlich hatte sie zu den ersten Erforschern des Hellas-Beckens gehört, in den Jahren gleich nach Underhill. Das war ihr entfallen. Sie hatte geholfen, Lowpoint zu finden, und war dann umhergefahren und hatte das Becken erkundet, ehe das jemand anders getan hatte, vor allem Ann. Darum hatte sie sich später, als sie für Deep Waters arbeitete, ähnlich von der damaligen Szene distanziert gefühlt. »Mein Gott!« rief sie entsetzt. Schicht auf Schicht, Leben um Leben — sie hatte so lange gelebt! Das war irgendwie wie eine Reinkarnation oder ewige Wiederkehr.

Inmitten dieses Gefühls gab es einen kleinen Hoffnungskern. Damals in jenem ersten Gefühl des Entgleitens hatte sie ein neues Leben begonnen. Ja, sie war nach Odessa umgezogen und hatte der Revolution ihren Stempel eingedrückt, indem sie ihr durch harte Arbeit zum Erfolg verhalf und mit vielen Gedanken darüber, warum die Menschen die Veränderung fördern sollten und wie man Veränderungen machen könnte ohne die bitteren Rückschläge zu erleben. Dies war vielleicht schon Jahrzehnte her, schien aber immer wieder auf einen revolutionären Erfolg zurückzuschlagen, der das vernichtete, was daran gut war. Und es sah so aus, als hätte sie diese Bitternis wirklich vermeiden können.

Zumindest bis jetzt. Vielleicht wäre das der beste Weg, um zu durchschauen, was sich bei dieser Wahl abspielte. Irgendein unvermeidlicher Rückschlag. Vielleicht hatte sie nicht so viel Erfolg gehabt, wie sie dachte. Vielleicht hatte sie nur weniger drastisch versagt als Arkadij oder John oder Frank. Wer konnte da sicher sein? Es war so schwer zu sagen, was in der Geschichte wirklich geschah. Das war zu weit und zu unfertig. Es geschah überall so viel, daß alles mögliche an beliebiger Stelle passieren konnte. Kooperativen, Republiken, Feudalmonarchien... ohne Zweifel gab es da draußen im Hinterland orientalische Satrapien, Überbleibsel gescheiterter Karawanen... so daß jede Charakterisierung, die man in der Geschichte machen konnte, irgendwo Gültigkeit haben mochte. Die Sache, mit der sie jetzt beschäftigt war, die jungen Siedlungen, die nach Wasser verlangten, sich aus dem Netz zurückzogen und äußere UNTA-Kontrolle forderten, nein, das war es nicht... etwas anderes...

Aber als sie an der Tür der Praxiswohnung stand, konnte sie sich nicht erinnern, was es war. Sie und Diana würden am nächsten Morgen einen Zug nach Süden nehmen um die südöstliche Biegung von Hellas herum, um Zea Dorsa zu besuchen und den Lavatunnel, den sie zu einem Aquädukt umfunktioniert hatten. Nein. Sie war hier, weil...

Es fiel ihr nicht wieder ein. Es lag ihr auf der Zunge... Deep Waters. Diana. Sie waren gerade damit fertig geworden, Dao Vallis abzufahren, wo auf dem Canyonboden Eingeborene und Immigranten im Tal durch Schaffung einer komplexen Biosphäre unter einer riesigen Kuppel ein landwirtschaftliches Leben begannen. Einige von ihnen sprachen Russisch. Ihr kamen die Tränen, als sie das hörte. Dort — die Stimme ihrer Mutter, scharf und sarkastisch, wenn sie in dem kleinen Küchenwinkel ihres Apartments Kleider bügelte und es durchdringend nach Kohl roch.

Nein. Das war es nicht. Blick nach Westen, wo die See in der trüben Luft schimmerte. Wasser hatte die Sand-Dünen von Ost-Hellas überflutet. Das war mindestens ein Jahrhundert her. Es hatte sein müssen. Sie war aus einem anderen Grund da... Dutzende von Schiffen, kleine Punkte in einem Briefmarkenhafen. Dahinter ein Brackwasser. Es wollte ihr nicht einfallen. Ein schreckliches Gefühl, daß ihr etwas auf der Zunge lag, machte sie benommen, verursachte ihr Übelkeit, als ob sie es durch Erbrechen los werden könnte. Sie hatte sich auf die Stufe gesetzt. Eine Zungenspitze — ihr ganzes Leben! Sie stöhnte laut. Ein Paar Kinder, die Kieselsteine nach den Möwen warfen, starrten sie an. Diana. Sie hatte durch Zufall Nirgal kennengelernt, sie hatten zusammen gespeist ... Aber Nirgal war es schlecht geworden. Auf der Erde!

Und dann kam mit einem physischen Ruck alles wieder, wie ein Schlag auf ihren Solarplexus, als ob eine Welle sie überrollte. Die Kanalreise, ja natürlich, das Tauchen in das überflutete Burroughs hinein, Jackie, die arme Zo, die verrückte Närrin. Natürlich, natürlich. Sie hatte es natürlich nicht vergessen. Es war jetzt ganz offenbar wieder da. Es war nicht wirklich verschwunden gewesen, nur ein momentaner Ausfall in ihrem Denken, während ihre Aufmerksamkeit woanders hingewandert war. In ein anderes Leben. Eine starke Erinnerung hatte ihre eigene Integrität, barg ihre eigenen Gefahren, genau wie es ein schwaches Gedächtnis tat. Es war nur ein Ergebnis des Denkens, daß die Vergangenheit interessanter war als die Gegenwart. Was in vieler Hinsicht stimmte. Aber dennoch...

Immerhin blieb sie lieber noch eine Weile sitzen. Die kleine Übelkeit hielt noch an. Und dann war da ein restlicher Druck im Kopf, als ob das scharfe Stoßen mit der Zunge etwas verletzt hätte. Ja, es war ein übler Moment gewesen. Schwer abzustreiten, wenn man immer noch das Pulsieren von den verzweifelten Stößen der Zunge fühlen konnte.

Sie wartete, bis das Ende der Dämmerung die Stadt in tiefdunkles Orange getaucht hatte und dann in eine leuchtende Farbe wie von Licht, das durch eine braune Flasche scheint. Wirklich Hell’s Gate — das Höllentor. Sie erschauerte, stand auf und ging beklommen die Treppe in den Hafendistrikt hinunter, wo die Restaurants um die Kais helle, von Motten umschwärmte Kugeln von Kneipenlicht ausströmten. Darüber ragte die Brücke wie das Negativ der Milchstraße auf. Maya ging hinter den Docks zum Seeufer.

Dort war Jackie. Sie kam auf sie zu. In einiger Entfernung kamen Assistenten hinterher; aber vorn ging bloß Jackie, die sie erst nicht sah, dann aber bemerkte. Bei Mayas Anblick verzog sich bei ihr ein Mundwinkel, nichts weiter; aber es genügte, um Maya zu zeigen, daß Jackie — wieviel? — neunzig Jahre alt war? Hundert? Sie war schön, sie war stark, aber nicht mehr jung. Ereignisse würden sie treffen, wie es jedem geschah. Geschichte war eine Welle, die sich schneller durch die Zeit bewegte als ein individuelles Leben, so daß Menschen, die nur siebzig oder achtzig Jahre alt geworden waren, hinter der Welle der Zeit zurückgeblieben waren, als sie starben. Und um wieviel mehr jetzt. Kein Surfbrett würde sie mit dieser Welle tragen, nicht einmal ein Vogelanzug, um wie ein Pelikan durch die Luft zu gleiten wie Zo. Ah, das war es! Sie erblickte auf Jackies Gesicht den Tod von Zo. Jackie hatte ihr Bestes getan, um ihn zu ignorieren, um ihn an sich ablaufen zu lassen wie eine Ente das Wasser. Aber das hatte nicht geklappt; und jetzt stand sie in Hell’s Gate über mit Sternen bedecktem Wasser — eine alte Frau.

Maya blieb stehen, schockiert durch diese Vision. Jackie blieb auch stehen. In der Ferne hörte man das Klappern von Tellern und das laute Gebrabbel von Gesprächen in den Restaurants. Die beiden Frauen sahen einander an. Maya konnte sich nicht erinnern, daß das jemals zuvor geschehen war. Dieser fundamentale Akt gegenseitigen Erkennens, als ihre Augen sich begegneten. Ja, du bist real, ich bin real. Hier sind wir, wir beide. Große Glasscheiben, die innen zerspringen. Befreit machte Maya kehrt und ging weg.

Michel fand ein Passagierschiff für sie, das über Minus One Island nach Odessa fuhr. Die Besatzung sagte ihnen, daß man erwartete, Nirgal würde für ein Rennen auf der Insel sein; eine Mitteilung, die Maya erfreute. Es war immer gut, Nirgal zu sehen, und diesmal brauchte er auch ihre Hilfe. Und sie wollte Minus One sehen. Als sie zuletzt dort gewesen war, war es noch keine Insel gewesen, sondern nur eine Wetterstation und eine Landebahn auf einem Buckel im Boden des Beckens.

Ihr Schiff war ein langer niedriger Schoner mit fünf Mastsegeln wie Vogelflügel. Sobald man die Mole verlassen hatte, breiteten die Segel ihre straffen dreieckigen Flächen aus und dann, als der Wind von hinten kam, setzte die Mannschaft vorn einen großen blauen Spinnaker. Darauf sprang das Schiff in die klaren blauen Wogen und warf bei jedem Stoß in eine ankommende Welle Streifen von Gischt auf. Nach der Beengung durch die schwarzen Wände des Großen Kanals war es ein prächtiges Gefühl, wieder auf hoher See zu sein, mit dem Wind im Gesicht und den vorbeiströmenden Wellen. Das blies ihr alle Verwirrungen von Hell’s Gate aus dem Kopf. Jackie war vergessen, und der vorangegangene Monat kam ihr jetzt wie ein Art böswilligen Karnevals vor, den sie nie wieder besuchen mußte. Sie würde nie dahin zurückkehren. Für sie gab es die offene See und ein Leben im Wind! »O Michel, das ist für mich das Leben!«

»Es ist doch schön, nicht wahr?«

Und am Ende der Reise würden sie sich in Odessa niederlassen, das jetzt eine Küstenstadt war wie Hell’s Gate. Wenn sie dort lebten, konnten sie bei schönem Wetter an jedem beliebigen Tage hinaussegeln; und es wäre genau wie jetzt hier — windig und sonnig. Helle Momente in der Zeit, das Leben in der Gegenwart, das die einzige Realität war, die sie hatten. Die Zukunft eine Vision, die Vergangenheit ein Alptraum — oder umgekehrt. Jedenfalls konnte man nur hier und in diesem Augenblick den Wind fühlen und die Wellen bestaunen, die groß und träge dahinrollten. Maya deutete auf eine blaue Bergwand, die in einer langen, unregelmäßig fluktuierenden Linie vorbeiglitt, und Michel lachte laut auf. Sie beobachteten genauer und lachten noch mehr. Seit Jahren hatte Maya nicht so intensiv das Gefühl gehabt, sich auf einer anderen Welt zu befinden. Diese Wellen verhielten sich einfach nicht richtig. Sie flogen herum, bäumten sich auf und schlängelten sich über die Oberfläche weit mehr, als die zugegebenermaßen steife Brise gestatten würde. Es sah eigenartig aus. Es war fremdartig. Ah, Mars, Mars, Mars!

Die See ging auf dem Hellas-Meer immer hoch, wie die Crew ihnen sagte. Das Fehlen von Gezeiten machte keinen Unterschied. Das machte sich besonders bemerkbar, wenn es um Gravitationswellen und die Windstärke ging. Als Maya das hörte, während sie auf die wogende blaue Fläche schaute, machte ihr Herz die gleichen wilden Sprünge. Der starke Wind und die niedrige Schwerkraft. Das war der Mars. Das war sie. Sie war eine Marsianerin, eine der ersten Marsianerinnen überhaupt. Sie hatte dieses Becken zu Anbeginn erforscht, hatte geholfen, es mit Wasser zu füllen und die Häfen zu bauen und Matrosen hinzubringen. Jetzt segelte sie selbst darüber; und wenn sie gar nichts anderes täte, als darüber zu fahren, wäre das schon genug.

So segelten sie also dahin, und Maya stand am Bugspriet, die Hand an der Reling, um sich festzuhalten, und fühlte den Wind und die Gischt. Michel kam und stand bei ihr.

»Es ist so schön, wenn man den Kanal verlassen hat«, sagte sie.

»Das ist wahr.«

Sie sprachen über die Kampagne, und Michel schüttelte den Kopf. »Diese Kampagne gegen Einwanderung ist so populär.«

»Hältst du die Yonsei für Rassisten?«

»Das wäre hart angesichts ihrer Rassenmischung. Ich meine, sie sind grundsätzlich fremdenfeindlich. Sie schätzen die Probleme der Erde gering ein und fürchten sich, überrannt zu werden. Darum artikuliert Jackie eine reale Angst, die jeder schon hat. Dazu muß man kein Rassist sein.«

»Aber du bist doch ein guter Mensch.«

Michel stieß die Luft aus. »Nun, das sind die meisten Leute.«

»Na na!« sagte Maya. Manchmal war Michels Optimismus zu viel. »Ob Rassist oder nicht, es stinkt. Die Erde da unten schaut auf unsere offene Hand; und wenn wir jetzt die Tür vor ihnen verschließen, könnten sie kommen, um sie aufzubrechen. Die Leute denken, daß das nie geschehen könnte; aber wenn die Terraner verzweifelt genug sind, dann werden sie eben Menschen herbringen und landen. Und wenn wir sie aufzuhalten suchen, werden sie sich hier verteidigen, und prompt haben wir einen Krieg. Und zwar hier auf dem Mars, nicht auf der Erde oder sonstwo im Weltraum, sondern auf dem Mars. Das könnte passieren. Du kannst die Drohung daran erkennen, wie die Leute in den UN uns zu warnen suchen. Aber Jackie hört nicht hin. Ihr ist es gleich. Sie schürt die Fremdenfeindlichkeit zu ihren eigenen Zwecken.«

Michel sah sie an. O ja. Man hätte annahmen können, daß ihr Haß auf Jackie verflogen sei, aber das war eine Gewohnheit, mit der offenbar schwer zu brechen war. Sie wischte alles beiseite, was sie gesagt hatte, all das böswillige halluzinatorische Politisieren auf dem Großen Kanal. »Vielleicht sind ihre Motive gut«, sagte sie und versuchte, es zu glauben. »Vielleicht will sie nur das Beste für den Mars. Aber sie ist trotzdem im Unrecht, und man muß ihr Einhalt gebieten.«

»Das sähe ihr nicht ähnlich.«

»Ich weiß, ich weiß. Wir müssen darüber nachdenken, was sie tun könnte. Aber schau, laß uns nicht weiter darüber sprechen. Laß uns Ausschau halten, ob wir die Insel nicht noch vor der Crew sichten.«


Zwei Tage später gelang es ihnen. Und als sie sich Minus One näherten, freute sich Maya zu sehen, daß die Insel durchaus nicht im Stil des Großen Kanals angelegt war. Oh, da gab es weißgetünchte kleine Fischerdörfer am Wasser, aber diese sahen von Hand gefertigt und nicht elektrifiziert aus. Und über ihnen auf den Klippen standen Haine mit Teehäusern, kleine Dörfer schwebten in der Luft. Wilde Tiere und Fischervolk bewohnten die Insel, wie ihnen die Matrosen sagten. Das Land war auf den Höhen unfruchtbar, aber grün von Feldern in den Tälern. Umbrafarbene Sandsteinhügel ragten ins Meer und wechselten sich mit kleinen Buchten ab, alle leer bis auf Dünengras, das im Wind wogte.

»Es sieht so leer aus«, bemerkte Maya,als sie um die Nordspitze und die Westküste hinab segelten. »Auf der Erde sehen sie die Videos davon. Darum wollen sie nicht, daß wir die Tür zuschlagen.«

»Ja«, sagte Michel. »Aber schau, wie die Leute hier ihre Bevölkerung bündeln. Die von Dorsa Brevia haben das Muster von Kreta mitgebracht. Jeder wohnt in den Dörfern und geht aufs Land hinaus, um es tagsüber zu bearbeiten. Was leer aussieht, wird schon genutzt, um diese kleinen Dörfer zu erhalten.«

Es gab keinen richtigen Hafen. Sie fuhren in eine seichte Bucht unterhalb eines kleinen weißgetünchten Fischerdorfs und ließen den Anker fallen, der in zehn Metern Tiefe auf dem sandigen Boden sichtbar blieb. Sie gingen mit dem Beiboot des Schoners an Land und kamen an einigen großen Schaluppen und etlichen Fischerbooten vorbei, die näher am Strand ankerten.

Hinter dem Dorf, das fast verlassen war, führte sie ein gewundenes Trockental in die Berge hinauf. Als das Tal in einem geschlossenen Canyon endete, führte sie ein Pfad im Zickzack nach oben auf das Plateau. Auf diesem rauhen Hochmoor, mit Blick rundum auf die See, waren vor langer Zeit Eichenhaine angepflanzt worden. Jetzt waren einige Bäume mit Gehsteigen und Treppen und kleinen hölzernen Hütten hoch in den Ästen versehen worden. Diese Baumhäuser erinnerten Maya an Zygote, und sie war keineswegs überrascht zu erfahren, daß unter den prominenten Bürgern der Insel einige Ektogene von Zygote waren: Rachel, Tiu, Simud, Emily — sie alle waren gekommen, um hier zu horsten, und hatten geholfen, einen Lebensstil einzuführen, auf den Hiroko sicher stolz gewesen wäre. In der Tat gab es welche, die sagten, daß die Inselbewohner Hiroko und die verlorenen Kolonisten in einem entlegeneren Eichenhain versteckt und ihnen ein Areal gegeben hätten, wo sie sich ohne Furcht vor Entdeckung bewegen konnten.

Als Maya sich umschaute, fand sie das durchaus plausibel. Es war ebenso sinnvoll wie jedes andere Gerücht über Hiroko, und mehr als die meisten. Aber es gab keinen Weg, es herauszufinden. Aber das spielte auch keine Rolle: Hiroko war entschlossen, sich zu verstecken, wie sie es schon immer gewesen sein mußte. Darum lohnte es sich nicht, deswegen beunruhigt zu sein. Warum sich jemand darum kümmerte, lag Maya fern. Das war nichts Neues. Alles, was jetzt mit Hiroko zu tun hatte, hatte sie stets verschmäht.

Das nördliche Ende der Insel Minus One war weniger gebirgig als der Rest; und als sie auf diese Ebene hinunterkamen, sahen sie die meisten konventionellen Gebäude der Insel zusammengedrängt. Sie waren den Olympischen Spielen der Insel gewidmet, und sahen bewußt griechisch aus. Stadium, Amphitheater, ein heiliger Hain von hochragenden Sequoien und draußen auf einer Erhebung über der See ein kleiner Tempel mit Säulen aus einem weißen Stein, der nicht Marmor war, aber aussah wie Alabaster oder mit Diamanten überzogenes Salz. Oben auf den Hügeln waren zeitweilig Jurtencamps errichtet. Mehrere tausend Menschen schwärmten in dieser Szene umher. Offenbar ein Teil der Inselbevölkerung und eine beträchtliche Anzahl von Besuchern aus dem ganzen HellasBecken. Die Spiele waren noch immer ausschließlich eine Sache von Hellas. Deshalb waren sie überrascht, Sax im Stadion zu finden, wie er half, die Messungen für die Wurfübungen zu machen. Er nahm sie in den Arm und nickte etwas zerstreut. »Heute wirft Annarita den Diskus«, sagte er. »Es dürfte gut werden.«

Und so leisteten Maya und Michel Sax dabei Gesellschaft und vergaßen alles, was über den gegenwärtigen Tag hinausging. Sie standen auf dem inneren Feld und kamen so dicht an die Ereignisse heran, wie sie wünschten. Der Stabhochsprung war Mayas Lieblingssport; er begeisterte sie. Mehr als alles andere illustrierte er ihr die Möglichkeiten der geringen Marsschwere. Obwohl es gewiß allerhand Technik erforderte, daraus Nutzen zu ziehen. Der hüpfende, aber kontrollierte Anlauf, das genaue Aufsetzen des extrem langen Stabes beim Vorwärtssprung, der Sprung selbst, der Zug, die Wölbung, wenn die Füße zum Himmel wiesen; dann der katapultierte Flug in den Raum mit umgedrehtem Körper, wenn der Springer über den biegsamen Stab hinausschoß, und hinauf, hinauf. Danach die saubere Drehung über der Stange (oder nicht) und der lange Fall auf ein Luft-Gel-Kissen. Der Marsrekord war 14 Meter; und der jetzt springende Mann, schon Tagesgewinner, versuchte es mit 15, versagte aber. Als er auf dem Kissen landete, bemerkte Maya, wie groß er war, mit kräftigen Schultern und Armen, aber sonst schlank bis zur Magerkeit. Die weiblichen Springer warteten, bis sie an der Reihe waren, sahen aber fast genauso aus.

So war das bei allen Wettkämpfen. Alle Sportler waren groß und hatten feste Muskeln, die neue Spezies, dachte Maya, die sich selbst klein, schwach und alt vorkam. Homo martialis. Zum Glück hatte sie starke Knochen und hielt sich gut, sonst hätte sie sich geschämt, unter solchen Kreaturen zu wandeln. Sie war sich ihrer herausfordernden Anmut nicht bewußt, als die zusah, wie die ihnen von Sax bezeichnete Diskuswerferin sich in einem beschleunigenden Schwung drehte, so daß die Scheibe davonschoß, als ob sie von einer Tontaubenmaschine geschleudert würde. Diese Annarita war sehr groß, mit langem Rumpf und breiten, geschmeidigen Schultern und hübschen, durch einen Einteiler zusammengedrückten Brüsten. Besonders ins Auge fiel der volle starke Hintern über kräftigen langen Schenkeln. Ja, wirklich eine Schönheit unter Schönheiten. Und so stark, obwohl klar war, daß die Geschwindigkeit ihrer Drehung den Diskus so weit schleuderte. Michel rief lächelnd: »Einhundertachtzig Meter! Welche Freude für Sie.«

Und die Frau war zufrieden. Sie alle strengten sich im Moment des Wettkampfes intensiv an und standen dann herum, versuchten, sich und ihre Muskeln zu entspannen und scherzten miteinander. Es gab keine Offiziellen und keinen Anschreibeblock, sondern nur Helfer wie Sax. Leute wechselten sich bei Wettkämpfen, an denen sie nicht selbst teilnahmen, ab. Die Läufe wurden mit einem lauten Knall gestartet. Die Zeiten wurden von Hand gestoppt, ausgerufen und auf einem Bildschirm angezeigt. Kugelstoßen sah gewichtig aus und war schwierig. Speere flogen ewig. Hochspringer konnten es zu Mayas und Michels Überraschung nur auf knapp über vier Meter bringen. Weitspringer schafften zwanzig Meter. Es war ein höchst erstaunlicher Anblick, wenn die Springer ihre Glieder durch einen Sprung schleuderten, der vier oder fünf Sekunden dauerte und sie über einen großen Teil des Feldes hinwegtrug.

Am späten Nachmittag wurde gesprintet. Wie bei den anderen Wettkämpfen starteten Männer und Frauen gemeinsam und trugen alle Einteiler. »Ich frage mich, ob bei diesen Leuten der sexuelle Dimorphismus vermindert ist«, sagte Sax, als er eine Gruppe beim Aufwärmen beobachtete. »Für sie ist alles so viel weniger nach Geschlechtern getrennt. Sie verrichten die gleiche Arbeit, die Frauen werden nur einmal in ihrem Leben oder nie schwanger, sie üben die gleichen Sportarten aus. Sie entwickeln die gleichen Muskeln ...«

Maya glaubte fest an die Realität der neuen Spezies, spottete aber über diesen Begriff: »Warum beobachtest du dann immer die Frauen?«

Michel grinste. »Oh, ich kann den Unterschied schon erkennen, aber ich komme ja auch von der alten Spezies. Ich frage mich nur, ob sie das können.«

Maya lachte laut. »Na na! Ich meine, schau es dir doch an!« Sie zeigte hin. »Proportionen, Gesichter...«

»Na ja. Aber weißt du, es ist doch nicht dasselbe. Bardot und Atlas, wenn du verstehst, was ich meine.«

»O ja. Aber diese Menschen sind schöner.«

Michel nickte. Es war so, wie er von Anfang an gesagt hatte, dachte Maya. Auf dem Mars würde es schließlich klar werden, daß sie alle kleine Götter und Göttinnen waren und das Leben in hehrem Frohsinn verbringen würden... Aber das Geschlecht blieb auf den ersten Blick deutlich. Obwohl auch sie von der alten Spezies kam. Vielleicht lag es gerade an ihr. Aber dieser Läufer da drüben... ah! Eine Frau, aber mit kurzen, kräftigen Beinen, schmalen Hüften und flachem Brustkasten. Und die neben ihr? Auch weiblich — nein, männlich! Ein Hochspringer, so graziös wie ein Tänzer, obwohl alle Hochspringer Schwierigkeiten hatten. Sax murmelte etwas über Pflanzen. Dennoch, selbst wenn einige von ihnen ein bißchen androgyn waren, war das Geschlecht bei den meisten üblicherweise sofort zu erkennen.

»Du verstehst, was ich meine«, sagte Michel, dem ihr Schweigen auffiel. -’

»Irgendwie schon. Aber ich frage mich, ob diese jungen Leute darüber wirklich anders denken. Wenn sie mit der Patriarchie Schluß gemacht haben, muß es notwendigerweise ein neues Gleichgewicht unter den Geschlechtern geben... «

»Das ist sicher das, was die von Dorsa Brevia behaupten.«

»Und ein neues kollektives Unbewußtes.«

»Ja, das nehme ich an. Und darum können die Neuankömmlinge nicht mitkommen. Sie drängen sich in Immigrantenghettos oder ganzen neuen Städten zusammen, halten ihre Traditionen und Verbindungen mit daheim aufrecht und hassen hier alles. Die ganze Fremdenfeindlichkeit und Misogynie bricht in diesen alten Kulturen wieder aus und richtet sich gegen ihre eigenen Frauen und die eingeborenen Mädchen.« Sie hatte von Problemen in den Städten gehört, in Sheffield und über ganz Ost-Tharsis. Manchmal wurden junge eingeborene Frauen grausam von überraschten eingewanderten Angreifern verprügelt. Manchmal ereignete sich das Gegenteil. »Und den jungen Eingeborenen gefällt das nicht. Ihnen kommt es so vor, als ließen sie Monster in ihre Mitte.«

Michel machte eine Grimasse. »Die terranischen Kulturen waren in ihrem Kern alle neurotisch; und wenn das Neurotische mit dem Gesunden konfrontiert wird, wird es gewöhnlich noch neurotischer. Und der Gesunde weiß nicht, was er tun soll.«

»Darum drängen sie auf die Einstellung der Immigration. Und setzen uns dem Risiko eines neuen Krieges aus.«

Aber Michel war durch den Beginn eines neuen Rennens abgelenkt. Die Läufe waren schnell, kamen aber trotz des Schwereunterschieds nirgends an das Zweieinhalbfache des terranischen Wertes heran. Es war dasselbe Problem wie mit den Positionen beim Hochsprung, setzte sich aber durch das ganze Rennen fort. Die Läufer starteten mit einer solchen Beschleunigung, daß sie stark gebückt bleiben mußten, um nicht zu hoch von der Bahn wegzuspringen. Beim Sprinten waren sie immer weit nach vorn gebeugt, als ob sie verzweifelt versuchten, nicht auf ihre Gesichter zu fallen, und ihre Beine pumpten wie wild. Bei längeren Strecken richteten sie sich gegen Schluß auf und ruderten in der Luft, als ob sie nach vorn schwimmen würden. Ihre Züge wurden immer länger, bis sie wie Känguruhs immer mit einem Bein auf einmal vorwärts hüpften. Der Anblick erinnerte Maya an Peter und Jackie, die beiden Schnellen von Zygote, die unter der polaren Kuppel am Strand entlang liefen. Sie hatten von sich aus einen ähnlichen Stil entwickelt.

Unter Einsatz dieser Technik liefen die Gewinner die fünfzig-Meter-Distanz in 4,4 Sekunden, die hundert Meter in 8,3, die zweihundert in 17,1 und die vierhundert in 37,9. Aber in allen Fällen schienen die durch ihre Geschwindigkeiten geschaffenen Gleichgewichtsprobleme sie an einem vollen Sprint zu hindern, wie Maya sich erinnerte, sie in ihrer Jugend gesehen zu haben.

Bei den größeren Strecken war der Laufstil ein anmutiger springender Schritt, ähnlich dem, was sie seinerzeit in Underhill als den Marstrott bezeichnet hatten, wo sie es ohne viel Erfolg in ihren engen Schutzanzügen probiert hatten. Jetzt war es wie Fliegen. Eine junge Frau führte fast das ganze Rennen über zehntausend Meter und hatte genügend Reserven, um gegen Schluß scharf anzuziehen. Sie beschleunigte während der ganzen letzten Runde und wurde immer schneller, bis sie wie eine Gazelle nur noch alle paar Meter den Boden berührte und die anderen Läufer überrundete, die sich abzuquälen schienen, während sie an ihnen vorüberflog. Es war herrlich. Maya brüllte sich heiser. Sie hielt sich an Michels Arm fest, und Tränen kamen ihr beim Lachen. Es war so erstaunlich und wundervoll, diese neuen Kreaturen zu sehen; und dennoch war sich keiner von ihnen dessen bewußt. Keiner!

Sie sah es gern, wenn Frauen Männer besiegten, obwohl diese selbst es nicht zu bemerken schienen. Frauen gewannen etwas öfter bei Langstrecken und Hürden, Männer beim Sprint. Sax sagte, daß Testosteron der Kraft hilfreich wäre, aber schließlich zu Krämpfen führte und Erfolge über große Distanzen verhinderte. Auf jeden Fall kam es bei den meisten Wettbewerben auf die Technik an. Und darum sah man, was man sich wünschte, dachte sie. Zurück auf die Erde — aber die Leute dort hätten gelacht, wenn sie einen Satz mit dieser Bemerkung angefangen hätte. Zurück auf die Erde — na und? Es hatte in der Nestwelt alle Arten bizarren und häßlichen Verhaltens gegeben; warum sollte man sich Sorgen machen, wenn eine Hürde näher kam und ein anderer Läufer am Rande des Gesichtsfeldes auftauchte? Fliegen, fliegen! Sie schrie, bis sie heiser war.

Am Ende des Tages machten die Athleten, die mit ihren Wettkämpfen fertig waren, einen Weg in das Stadium und rund um die Bahn frei; und ein einzelner Läufer trabte unter anhaltendem Beifall und wilden Hochrufen herein. Es war Nirgal! Mayas Kehle schmerzte vor Heiserkeit, als sie ihm zurief.

Die Querfeldeinläufer waren an diesem Morgen am Südende von Minus One gestartet, barfuß und nackt. Sie hatten über hundert Kilometer über die Zentralmoore von Minus One, ein teuflisches Netz von Schluchten, Gräben, Pingos, Böschungen und Steinabstürzen, zurückgelegt. Offenbar war nichts allzu steil, so daß viele verschiedene Routen möglich waren, was diesen Sport eher zu einem Orientierungswettkampf als einem Lauf machte. Aber auf jeden Fall schwierig. Und um 4 Uhr nachmittags am Ziel zu sein, war wohl eine phänomenale Leistung. Die nächsten Läufer würden erst nach Sonnenuntergang eintreffen, sagten die Leute. Also machte Nirgal eine Ehrenrunde. Er sah hungrig und erschöpft aus, wie einer Katastrophe entronnen. Endgültig angekommen schlüpfte er in seine Hosen, beugte den Kopf für den Lorbeerkranz und nahm Hunderte von Umarmungen entgegen.

Maya war dabei die letzte, und Nirgal lachte fröhlich, als er sie sah. Seine Haut war weiß vor getrocknetem Schweiß, seine Lippen verklebt und gesprungen, das Haar staubfarben und die Augen blutunterlaufen. Hager und ausgemergelt. Er trank Wasser aus einer Flasche, leerte sie und lehnte eine zweite ab. »Danke, ich bin nicht so dehydriert. Ich habe hier bei Jiri Ki ein Reservoir gefunden.«

»Welchen Weg hast du denn genommen?« fragte jemand.

»Frag nicht!« sagte er lachend, als ob es zu schlimm wäre, ein offenes Geständnis abzulegen. Später erfuhr Maya, daß die Routen der Leute nicht beobachtet, nicht beschrieben und wie ein Geheimnis bewahrt wurden. Die Rennen querfeldein waren bei einer gewissen Gruppe beliebt, und Nirgal war ihr Champion, wie Maya wußte, besonders bei den großen Distanzen. Die Leute sprachen von seinen Routen, als ob Teleportation im Spiel wäre. Es war für ihn ein gutes Rennen gewesen, darum war er besonders stolz.

Er ging zu einer Bank und setzte sich. »Laßt mir ein bißchen Zeit zur Besinnung«, sagte er und beobachtete mit erregter und froher Miene die letzten Sprints. Maya setzte sich in seine Nähe und starrte ihn an. Sie konnte nicht genug von ihm bekommen. Er hatte die längste Zeit als Mitglied einer wilden Kooperative von Farmern und Sammlern auf dem Land gelebt. Das war ein Leben, das Maya sich kaum vorstellen konnte. Darum sah sie Nirgal wie in Gefangenschaft, verbannt auf eine Unterwelt im Hinterland, wo er wie eine Ratte oder Pflanze überlebte. Aber hier war er nun, erschöpft, aber jubelnd beim Finish eines Vierhundertmeterlaufes. Genau der vitale Nirgal, an den sie sich von jener Tour durch Hell’s Gate vor so langer Zeit erinnerte — herrliche Jahre für ihn wie für sie. Aber wenn sie ihn anschaute, kam es ihr unwahrscheinlich vor, daß er über die Vergangenheit genau so dachte wie sie. Sie fühlte sich im Banne ihrer Vergangenheit und Geschichte. Aber in seiner Befriedigung lag jetzt etwas anderes als Geschichte. Seine Bestimmung war immer noch da, aber nur, wie ein altes Buch beiseite geschoben; jetzt war er leibhaftig hier, in diesem Augenblick. Er lachte in die Sonne, nachdem er eine ganze Meute wilder junger Tiere in ihrem eigenen Spiel geschlagen hatte, nur durch seine Intelligenz und sein Gefühl für den Mars, seine lung-gom-pa-Technik und seine kräftigen Beine. Er war immer ein Läufer gewesen. Sie sah im Geiste, als ob es gestern gewesen wäre, wie er hinter Peter her über den Strand sauste. Die anderen zwei waren schneller gewesen; aber er hatte jeden Tag Runde um Runde um den kleinen See gedreht, ohne daß jemand sagen konnte, warum. »O Nirgal!« Sie beugte sich vor, küßte sein staubiges Haar und fühlte, wie er sie an sich zog. Sie lachte und sah ringsum all die schönen Riesen auf dem Platz, die Athleten, rötlich im Sonnenuntergang und fühlte, wie wieder Leben in sie einströmte. Nirgal war dazu imstande, es ihr einzuflößen.


Aber später an diesem Abend, nach einem Bankett unter freiem Himmel in der kühlen Abendluft, nahm sie Nirgal beiseite und erzählte ihm alle ihre Befürchtungen wegen des jüngsten Konfliktes zwischen Erde und Mars. Michel war fort und sprach mit Leuten. Sax saß ihnen gegenüber auf der Bank und hörte schweigend zu.

»Jackie und die Führung des Freien Mars befürworten eine harte Linie, aber das wird nicht funktionieren. Die Terraner werden sich nicht aufhalten lassen. Es könnte zum Krieg kommen, sage ich dir, zum Krieg!«

Nirgal schaute sie an. Er nahm sie immer noch ernst — Gott segne seine edle Seele! — und Maya legte den Arm um ihn, als wäre er ihr eigener Sohn und drückte ihn ganz fest.

»Was meinst du, das wir tun sollten?« fragte er.

»Wir müssen den Mars offen halten. Wir müssen dafür kämpfen, und du mußt dabei mitmachen. Wir brauchen dich mehr als sonst jemanden. Du warst derjenige, der bei unserem Besuch auf der Erde den stärksten Eindruck gemacht hat. Im Grunde bist du wegen jenes Besuches der wichtigste Marsianer in der terranischen Geschichte. Sie schreiben immer noch Bücher und Artikel über das, was du tust. Wußtest du das? In Nordamerika und Australien kommt eine wilde Bewegung auf und wächst überall. Die Leute der Schildkröteninsel haben den amerikanischen Westen fast völlig reorganisiert. Er besteht jetzt aus Dutzenden wilder Kooperativen. Die hören auf dich. Und hier ist es dasselbe. Ich tue schon, was ich kann. Wir haben gerade bei der Wahlkampagne auf der ganzen Länge des Großen Kanals gegen sie gekämpft. Und ich habe versucht, Jackie ein bißchen zu widersprechen. Ich denke, das hat etwas gewirkt. Aber die Sache ist größer als Jackie. Sie ist nach Irishka gegangen; und natürlich ist es für die Roten sinnvoll, sich der Einwanderung zu widersetzen. Sie denken, das wird helfen, ihre kostbaren Steine zu schützen. Darum können sich der Freie Mars und die Roten zunächst im gleichen Lager befinden. Sie werden sehr schwer zu schlagen sein. Aber wenn sie nicht... «

Nirgal nickte. Er hatte verstanden, worauf es ihr ankam. Sie hätte ihn küssen mögen. Sie nahm ihn fest bei den Schultern, beugte sich vor, küßte ihn auf die Wange und tätschelte seinen Hals. »Nirgal, ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch«, sagte er mit leichtem Lachen und sah etwas überrascht aus. »Aber schau, ich will nicht in einen politischen Streit verwickelt werden. Nein, hör zu. Auch ich halte das für wichtig und bin dafür, daß wir den Mars offenhalten und der Erde aus dem Bevölkerungsanstieg heraushelfen sollten. Das habe ich immer gesagt, und das habe ich ihnen gesagt, als wir dort waren. Aber ich will nicht in die politischen Institutionen hinein. Das kann ich nicht. Ich werde meinen Beitrag leisten, wie ich es vorher getan habe, verstehst du? Ich komme sehr viel herum, ich sehe viele Leute. Ich werde zu denen sprechen. Ich werde auch wieder auf Versammlungen reden. Auf dieser Ebene werde ich tun, was ich kann.«

Maya nickte. »Nirgal, das wäre großartig. Das ist das Niveau, das wir unbedingt erreichen müssen.«

Sax räusperte sich. »Nirgal, hast du je die Mathematikerin Bao getroffen?«

»Nein, ich denke nicht.«

»Ah!«

Sax versank wieder in seine Träumerei. Maya redete eine Weile über die Probleme, die sie und Michel an diesem Tag erörtert hatten. Daß Immigration wie eine Zeitmaschine wirkte, die kleine Inseln der Vergangenheit in die Gegenwart heraufholt. »Das war auch Johns Sorge, und jetzt geschieht es.«

Nirgal nickte. »Wir müssen an die Areophanie glauben. Und an die Verfassung. Die Menschen müssen danach leben, wenn sie erst einmal hier sind. Die Regierung sollte darauf bestehen.«

»Ja. Aber das Volk, die Eingeborenen, meine ich... «

»Ein Art von assimilationistischer Ethik. Wir müssen alle hineinziehen.«

»Ja.«

»Okay, Maya. Ich werde sehen, was ich tun kann.« Er lächelte ihr zu und fiel dann jäh in Schlaf, direkt vor ihren Augen. »Vielleicht können wir es noch einmal schaffen, he?«

»Vielleicht.«

»Ich muß mich hinlegen. Gute Nacht! Ich liebe dich.«


Von Minus One fuhren sie nach Nordwesten, und die Insel glitt unter den Horizont wie ein Traum vom alten Griechenland, und sie waren wieder auf hoher See mit ihren breiten trägen Wogen. Scharfe Monsunwinde wehten während ihrer ganzen Reise von Nordosten und rissen Schaumkronen ab, die das dunkelpurpurne Wasser noch dunkler erscheinen ließen. Wind und Wasser brüllten unablässig. Man konnte sich nur mit Mühe verständigen und mußte ständig schreien. Die Crew verzichtete völlig aufs Sprechen und setzte soviel Segel wie möglich, wobei sie den Schiffscomputer zwangen, sich mit ihrem Enthusiasmus abzufinden. Die Mastsegel streckten oder refften sich bei jedem Windstoß wie Vogelflügel, so daß der Wind eine visuelle Komponente hatte, die zu den unsichtbaren Bewegungen von Mayas angestoßener Haut paßte. Sie stand am Bug, blickte nach oben und unten, und nahm alles in sich auf.

Am dritten Tag blies der Wind noch schärfer, und das Schiff kam ins Gleiten. Der Rumpf hob sich bis auf einen kleinen Abschnitt am Heck hoch und schlüpfte über das Wasser. Dabei warf er viel mehr Gischt auf, als daß man sich an Deck hätte aufhalten können. Maya zog sich in die erste Kabine zurück, wo sie aus den Bugfenstern blicken und dem Schauspiel beiwohnen konnte. Eine solche Geschwindigkeit! Gelegentlich kamen Mitglieder der Besatzung klatschnaß herein, um Luft zu schnappen und etwas Java zu trinken. Einer von ihnen sagte Maya, daß sie ihren Kurs änderten, um den Hellas-Strom zu berücksichtigen. »Dieses Meer bietet das größte Beispiel für die Corioliskraft beim Entleeren einer Badewanne. Es ist rund, und in den Breiten, wo Monsume das Wasser in die gleiche Richtung drücken wie die Corioliskraft, wirbelt es um die Insel Minus One wie ein gewaltiger Strudel. Wir müssen das rechtzeitig berücksichtigen, sonst landen wir direkt bei Hell’s Gate.«

Die starken Winde hielten an, und sie flogen dahin, den größten Teil des Tages auf dem Wasser gleitend. Sie brauchten bloß vier Tage, um den Radius des Hellas-Meeres zu durchqueren. Am vierten Nachmittag wurden die Mastsegel eingezogen. Der Rumpf tauchte wieder ins Wasser und schaukelte zwischen den Schaumkronen. Im Norden erschien über dem Horizont plötzlich Land. Es war der Rand des großen Beckens, wie eine Bergkette ohne einen einzigen Gipfel. Ein gewaltiges Bankett, das wie die innere Wand eines Kraters aussah, was es natürlich auch war; aber soviel größer als jeder visualisierte Krater der Vergangenheit, so daß man kaum die Krümmung des Kreises erkennen konnte. Gerade diese Größe fand Maya irgendwie beeindruckend schön. Und als sie sich dem Land näherten und nach Westen auf Odessa zu fuhren (ihre Annäherung an das Land war trotz der Kurskorrektur noch östlich der Stadt erfolgt), konnte sie, als sie die Falltaue gegen den Wind hochkletterte, den Strand erkennen, den das Meer gebildet hatte. Ein weiter Strand mit von Gras bewachsenen Dünen und hier und da durchtretenden Mündungen von Bächen. Eine hübsche Küste, und nahe dem Randgebiet von Odessa gelegen. Also ein Teil der Schönheit Odessas, ein Teil der Stadt.

Im Westen erhoben sich nun die gezackten Gipfel der Hellespontus Montes über die Wellen, fern und klein, ganz anders im Charakter als der glatte Anstieg im Norden. Sie mußten also dem Ziel nahe sein. Maya kletterte an den Tauen noch höher. Und da war es nun, auf dem nördlichen Hang. Die obersten Reihen von Parks und Gebäuden, alles grün und weiß, türkis und terrakotta. Und dann der große Bogen der Stadtmitte, der wie ein riesiges Amphitheater auf die Bühne des Hafens hinabschaute, der über dem Horizont auftauchte. Zuerst der Leuchtturm, dann die Statue von Arkadij, dann der Wellenbrecher und die tausend Masten des Hafens und das Gewirr von Dächern und Bäumen hinter dem fleckigen Beton der Kaimauer. Odessa.

Sie eilte die Taue hinunter fast wie ein Mitglied der Mannschaft, drückte ein paar von denen an sich und dann Michel. Sie merkte, wie sie grinste und der Wind über sie hin strich. Sie kamen in den Hafen, und die Segel falteten sich in ihre Masten wie Schnecken, die man berührt. Sie tuckerten in einen Landeplatz, gingen eine Gangway hinunter und das Dock entlang, hinauf durch das Hafenviertel und in den Park der Corniche. Und da waren sie nun. Die blaue Straßenbahn bimmelte noch auf der Straße hinter dem Park.

Maya und Michel gingen Hand in Hand die Corniche entlang und betrachteten die Speisenverkäufer und kleinen Straßencafes. Alle Namen wirkten neu, nicht einer war mehr derselbe; aber das war so mit Restaurants. Sie sahen alle ziemlich so aus wie zuvor, und die sich terrassenförmig hinter der Meeresfront erhebende Stadt war noch genau so, wie sie sie in Erinnerung hatte. »Hier ist das Odeon, dort der Sinter... «

»Das ist, wo ich für Deep Waters gearbeitet habe. Ich möchte wissen, was sie jetzt alles machen.«

»Ich denke, die Aufrechterhaltung des Meeresniveaus hält eine ganze Menge von ihnen beschäftigt. Es gibt immer etwas mit dem Wasser zu tun.«

»Stimmt.«

Und dann kamen sie zu dem alten Praxis-Gebäude. Seine Wände waren jetzt größtenteils von Efeu bedeckt, der weiße Stuck verfärbt und die blauen Jalousien verblaßt. Das hatte einiges an Renovierung nötig, wie Michel bemerkte; aber Maya gefiel es so. Es war alt. Da auf dem dritten Stockwerk erkannte sie ihr altes Küchenfenster und den Balkon und daneben den von Spencer. Spencer selbst war wohl zu Hause.

Und sie gingen durch das Tor und begrüßten den neuen Pförtner. Und Spencer war wirklich irgendwie zu Hause. Er war an diesem Nachmittag gestorben.

Das hätte nicht so viel ausmachen sollen. Maya hatte Spencer Jackson seit Jahren nicht gesehen, und auch als er nebenan wohnte, hatte sie ihn nicht näher kennengelernt. Das hatte niemand. Spencer gehörte zu denen der Ersten Hundert, die zu verstehen am schwierigsten war, was viel zu sagen hatte. Ein Einzelgänger, der sein eigenes Leben führte. Er hatte als Teil der Oberflächenwelt unter einer angenommenen Identität als Spion gelebt, der fast zwanzig Jahre lang für die Gestapo in Kasei Vallis gearbeitet hatte, bis zu der Nacht, da die Stadt in die Luft gejagt und sowohl Sax als auch Spencer gerettet wurden. Zwanzig Jahre als jemand anders, mit einer falschen Vergangenheit, und niemandem, mit dem er sprechen konnte. Was konnte da aus jemanden werden? Aber Spencer hatte immer zurückgezogen gelebt, privat und selbstgenügsam. Darum hatte es ihm vielleicht nicht viel ausgemacht. Während ihrer Jahre in Odessa schien er in Ordnung zu sein. Er war natürlich stets bei Michel in Behandlung und gelegentlich ein sehr starker Trinker, aber angenehm als Nachbar und ein guter Freund, ruhig, solide und auf seine Weise verläßlich. Und er hatte bestimmt weiter gearbeitet, seine Produktion mit den bogdanovistischen Designern hatte nie nachgelassen, weder während seines Doppellebens noch danach. Ein großer Entwurfskünstler. Und seine Federzeichnungen waren schön. Aber was mußten zwanzig Jahre des Doppellebens jemanden antun? Vielleicht waren alle seine Identitäten angenommen gewesen. Maya hatte nie darüber nachgedacht. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Und jetzt, als sie Spencers Sachen in seinem leeren Apartment packte, wunderte sie sich, daß sie nie zuvor wenigstens versucht hatte zu erfahren, wie Spencer es geschafft hatte, so zu leben, daß er bei niemandem Argwohn erregte. Das war eine sehr merkwürdige Leistung. Weinend sagte sie zu Michel: »Man muß sich über jeden wundern!«

In den nächsten Tagen kamen erstaunlich viele Gäste zu seiner Trauerfeier. Sax, Nadia, Mikhail, Zeyk und Nazik, Roald, Cojote, Mary, Ursula, Marina und Vlad, Jürgen und Sibilla, Steve und Marion, George und Edvard, Samantha — es war wie eine Zusammenkunft der restlichen Hundert und befreundeter Issei. Und Maya blickte rundum in alle die vertrauten alten Gesichter und machte sich traurigen Herzens klar, daß dieses Zusammentreffen wohl für lange Zeit das letzte sein würde. Von der ganzen Welt kamen immer weniger zusammen, bis eines Tages einer von ihnen einen Anruf bekommen und erkennen würde, daß sie die letzten waren, die es noch gab. Ein schreckliches Schicksal. Aber nicht eines, das Maya zu erleiden gedachte. Sie würde sicher vorher sterben. Der schnelle Verfall würde sie ereilen oder sonst etwas. Sie würde sich, wenn es sein mußte, vor einen Omnibus werfen. Alles, nur um einem solchen Schicksal zu entgehen. Na ja — nicht gerade alles. Vor einen Bus zu springen, wäre zu feige und zu mutig auf einmal. Sie erwartete sicher, daß sie sterben würde, ehe es zu so etwas käme. Ah, nur keine Angst. Man konnte darauf vertrauen, daß der Tod erscheinen würde. Ohne Zweifel, noch ehe sie es wünschte. Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, der oder die letzte Überlebende der Ersten Hundert zu sein. Neue Freunde, ein neues Leben — war das nicht, wonach sie jetzt suchte? So daß diese traurigen alten Gesichter für sie nur ein Hindernis wären.

Sie hielt grimmig bei dem kurzen Gedenkgottesdienst und den schnellen Lobpreisungen durch. Die Sprecher schienen nicht genau zu wissen, was sie sagen sollten. Von Da Vinci war eine ganze Anzahl von Ingenieuren gekommen, Spencers Kollegen aus seinen Jahren als Designer. Seltsam, daß so viele Leute ihn gern gehabt hatten, daß auch sie selbst ihn gemocht hatte. Merkwürdig, daß ein so versteckt lebender Mensch eine solche Reaktion bewirken konnte. Vielleicht hatten sie alle etwas in seine Unbeschriebenheit projiziert, sich ihren eigenen Spencer gemacht und als Teil ihrer selbst gelobt. Das taten sowieso alle. So war das Leben.

Aber jetzt war er von ihnen gegangen. Sie schlenderten zum Hafen hinunter, und die Ingenieure ließen einen Heliumballon los. Als er hundert Meter Höhe erreicht hatte, rieselte Spencers Asche langsam heraus. Ein Teil des Dunstes, des Himmelsblaus, des abendlichen Messingschimmers.

In den folgenden Tagen zerstreute sich die Menge, und Maya unternahm Spaziergänge durch Odessa, schnupperte in Läden für Gebrauchtmöbel und saß an der Corniche auf den Bänken, um die Sonne über das Wasser hüpfen zu sehen. Es war herrlich, wieder in Odessa zu sein; aber sie fühlte den Schauer von Spencers Tod viel stärker, als sie erwartet hätte. Er warf eine dunkle Wolke selbst über die Schönheit dieser wundervollen Stadt. Er erinnerte sie daran, daß sie, indem sie hierher zurückgekehrt und in das alte Haus eingezogen waren, das Unmögliche versuchten. Sie wollten wieder in die Vergangenheit eintauchen und das Fortschreiten der Zeit leugnen. Hoffnungslos. Alles ging vorbei. Alles, was sie taten, taten sie das letzte Mal und würden es nie wieder tun. Gewohnheiten waren solche Lügen, die einen in die Stimmung einlullten, daß man glaubte, es müßte etwas Bleibendes geben, aber in Wirklichkeit war nichts von Dauer. Dies war das letzte Mal, daß sie je auf dieser Bank sitzen würde. Wenn sie morgen zur Corniche ging und sich auf die gleiche Bank setzte, wäre es wiederum das letzte Mal, und es würde nichts Bleibendes daran sein. Das letzte Mal nach dem letzten Mal — so würde es immer und immer weitergehen. Immer ein letzter Moment nach dem letzten. Endgültigkeit reihte sich an Endgültigkeit in nahtlos endloser Folge. Sie konnte das nicht richtig fassen. Worte konnten es nicht ausdrücken, Ideen konnten es nicht erfassen. Aber sie fühlte es wie die Kante einer Wellenfront, die immer nach außen drängt, oder wie ein beständiger Wind in ihrem Geist, der Dinge so rasch dahin jagt, daß man es sich kaum vorstellen und nur schwer nachempfinden kann. Nachts im Bett dachte sie immer wieder, dies wäre für diese Nacht das letzte Mal, und sie drückte Michel fest an sich, als könnte sie dem Geschehen Einhalt gebieten, wenn sie nur kräftig genug drückte. Selbst Michel, selbst die kleine Welt der Zweisamkeit, die sie sich geschaffen hatten... »O Michel«, sagte sie ängstlich, »es geht so schnell.«

Er nickte mit gespitzten Lippen. Er versuchte nicht mehr länger, sie zu therapieren und zu allem immer das fröhlichste Gesicht zu machen. Er behandelte sie jetzt auf gleicher Ebene und ihre Launen als eine Art von Wahrheit, die nur ihr zustand. Manchmal fehlte ihr der Trost.

Aber Michel lieferte keinen Widerspruch und keine hoffnungsvolle Bemerkung. Spencer war sein Freund gewesen. Früher, in den Odessa-Jahren, wenn er und Maya sich gestritten hatten, war er manchmal zum Schlafen zu Spencer gegangen und sicher auch, um bis in die späte Nacht über Gläsern voll Wiskey zu plaudern. Wenn überhaupt jemand etwas aus Spencer herausholen konnte, war das Michel gewesen. Jetzt saß er auf dem Bett und blickte aus dem Fenster, ein müder alter Mann. Sie zankten sich nie mehr. Maya hatte den Eindruck, daß es ihr irgendwie gut tun könnte, wenn sie es täten. Die Spinnweben beseitigen, sich wieder aufladen. Aber Michel reagierte auf keine Provokation. Er selbst hatte keine Lust zu streiten und gab ihr auch keine Behandlung mehr. Das wollte er auch um ihretwillen nicht tun. Maya dachte, wenn jemand hereinkäme, würde er ein Paar sehen, das so alt und verbraucht war, daß sie sich nicht einmal mehr bemühten, miteinander zu sprechen. Bloß beisammen saßen, jeder mit seinen Gedanken allein.

»Nun«, sagte Michel nach sehr langer Zeit, »aber hier sind wir.«

Maya lächelte. Diese endlich geäußerte hoffnungsvolle Bemerkung bedeutete eine große Anstrengung. Er war ein braver Mann. Und zitierte die ersten auf dem Mars gefallenen Worte. John hatte eine drollige Art gehabt, sich auszudrücken. »Hier sind wir.« Das war eigentlich blöde. Und dennoch hätte er etwas mehr gemeint haben können als die für John typische Aussage. War es mehr gewesen als die gedankenlose Äußerung, die jeder machen könnte? »Hier sind wir«, wiederholte sie und wog den Satz auf der Zunge. Auf dem Mars. Erst eine Idee, dann ein Ort. Und jetzt waren sie in einem fast leeren Schlafzimmer, nicht dem, worin sie vorher gewohnt hatten, sondern in einem Eckzimmer mit Blick aus großen Fenstern nach Süden und Westen. Die große Kurve von Meer und Gebirge, die Odessa hieß. Nirgendwo sonst. Die alten verputzten Wände waren fleckig, die hölzernen Fußböden dunkel und blank gescheuert. Es hatte viele Lebensjahre erfordert, die Patina zu erzeugen. Wohnzimmer durch die eine Tür, Gang zur Küche durch die andere. Sie hatten eine Matratze auf einem Gestell, eine Couch, ein paar Stühle und einige noch nicht geöffnete Kisten — ihre Sachen von früher, aus dem Speicher geholt. Seltsam, wie ein paar Möbelstücke sich so herumtreiben konnten. Sie fühlte sich bei ihrem Anblick wohler. Sie würden auspacken, die Sachen aufstellen und benutzen, bis sie unsichtbar würden. Gewohnheit würde wieder die nackte Wirklichkeit der Welt verhüllen. Gott sei Dank dafür!


Bald danach wurden die globalen Wahlen abgehalten, und der Freie Mars und eine Schar kleiner Verbündeter kehrten mit überwältigender Mehrheit wieder in die globale Regierung zurück. Der Sieg war allerdings nicht ganz so groß, wie man erwartet hatte, und einige Verbündete murrten und sahen sich nach besseren Abmachungen um. Mangala strotzte von Gerüchten. Man hätte Tage am Schirm verbringen können mit der Lektüre, die Kolumnisten, Analytiker und Provokateure einspeisten, um die Möglichkeiten und Eventualitäten zu zerpflücken. Mit dem Immigrationsthema auf dem Tisch waren die Risiken höher als seit Jahren; und das Verhalten von Mangala wie das eines aufgestörten Ameisenhaufens bewies es. Das Ergebnis der Wahl für den nächsten Exekutivrat war noch sehr zweifelhaft; und es gab Gerüchte, nach denen Jackie sich gegen Herausforderungen innerhalb der Partei zur Wehr setzen mußte.

Maya schaltete ihren Schirm ab und dachte scharf nach. Sie rief Athos an, der überrascht schien, sie zu sehen, und dann rasch höflich wurde. Er war von den Städten der Nepenthes-Bucht zum Repräsentanten gewählt worden und arbeitete bei Mangala hart für die Grünen, die einen recht starken Auftritt gehabt hatten und eine solide Gruppe von Vertretern und viele interessante neue Allianzen besaßen. Maya sagte ihm: »Du solltest für den Exekutivrat kandidieren.«

Jetzt war er wirklich überrascht. »Ich?«

»Du.« Maya hätte ihm am liebsten gesagt, er solle in einen Spiegel schauen und darüber nachdenken, biß sich aber auf die Zunge. »Du hast in der Kampagne den besten Eindruck gemacht, und viele Leute wollen die Politik zugunsten der Erde unterstützen und wissen nur nicht, an wen sie sich da halten sollen. Du bist ihre beste Wahl. Du könntest sogar mit Mars Zuerst reden und sie aus dem Bündnis mit dem Freien Mars herausziehen. Versprich ihnen eine maßvolle Haltung und eine Stimme mit einem Berater und weitreichende rötliche Sympathien!«

Jetzt sah er verwirrt aus. Er war immer noch mit Jackie arrangiert und kandidierte für den Rat. Darum würde er auf dieser Front in große Schwierigkeiten geraten. Besonders, wenn er sich auch für Mars Zuerst einsetzte. Aber nach Peters Besuch würde er sich deswegen vielleicht weniger Sorgen machen, als es während der hellen Nächte auf dem Kanal gewesen wären. Maya ließ ihn darüber nachdenken. Man konnte mit diesen Leuten ohnehin nicht so viel anfangen.


Obwohl sie ihr früheres Leben in Odessa nicht wieder aufnehmen mochte, wollte sie doch arbeiten; und jetzt hatte die Hydrologie die Ergonomie (und natürlich auch die Politik) als ihr primäres Fachgebiet ersetzt. Sie interessierte sich für den Wasserzyklus im HellasBecken, gespannt zu sehen, wie sich die Arbeit jetzt veränderte, da das Becken gefüllt war. Michel hatte seine Praxis und beschäftigte sich auch mit dem ersten Siedlerprojekt, das man ihm in Rhodos genannt hatte. Sie würden etwas zu tun haben, und nachdem sie ausgepackt und das neue Apartment eingerichtet hatten, machte sie sich auf, um nach Deep Waters zu schauen.

Die alten Büros waren jetzt ein sehr schickes Apartment an der Seefront. Der Name stand nicht mehr in den Adreßbüchern. Wohl aber Diana, die in einem der großen Gruppenhäuser in der oberen Stadt wohnte. Sie freute sich, als Maya an ihrer Tür auftauchte, ging gern mit ihr zum Lunch aus und erzählte ihr alles über die derzeitige Lage in der lokalen Wasserwelt, die immer noch ihr Arbeitsgebiet war.

»Die meisten Leute von Deep Waters sind direkt in das Institut des Hellas-Meeres umgezogen.« Das war eine interdisziplinäre Gruppe aus Repräsentanten aller Koops für Ackerbau und Wasserstationen rund um das Becken, sowie auch von Fischereien, der Universität von Odessa und allen Städten an der Küste und allen Siedlungen, die sich höher an den ausgedehnten Wasserläufen des Randgebiets befanden. Die Küstenstädte insbesondere waren stark an der Stabilisierung des Meeresniveaus knapp über der alten Kilometerkontur Minus Eins interessiert, die gerade ein paar Dutzend Meter höher lag als der derzeitige Spiegel des Nordmeeres. »Sie wollen nicht, daß sich das Meeresniveau auch nur um einen Meter verändert, wenn man es vermeiden kann«, sagte Diana. »Und der Große Kanal ist nutzlos als Abflußkanal zum Nordmeer, weil die Schleusen Wasser brauchen, das in beide Richtungen fließt. Darum kommt es darauf an, den Zufluß aus Reservoiren und Regen unter Berücksichtigung des Verlustes durch Verdunstung im Gleichgewicht zu halten. Das ging bis jetzt ganz gut. Der Verdunstungsverlust ist etwas höher als der Niederschlag im Einzugsgebiet. Darum entnehmen sie den Reservoiren jedes Jahr ein paar Meter. Das wird letztlich ein Problem sein, aber nicht für lange; denn es gibt noch eine gute Reserve, und die stocken sie jetzt ein bißchen auf; vielleicht noch mehr in der Zukunft. Wir hoffen, daß die Niederschläge im Laufe der Zeit steigen werden, wie es bisher der Fall gewesen ist. Ich weiß es nicht. Das ist jedenfalls die Hauptsorge, daß die Atmosphäre mehr aufsaugt, als die Reservoire nachliefern können.«

»Wird die Atmosphäre nicht schließlich mit Wasser gesättigt sein?«

»Vielleicht. Niemand ist sich wirklich sicher, wie feucht sie werden wird. Klimastudien sind ein Witz, wenn du mich fragst. Die globalen Modelle sind einfach zu komplex. Es gibt zu viele unbekannte Variablen. Was wir wissen, ist, daß die Luft noch recht trocken ist, und es sieht so aus, als würde sie feuchter werden. So glaubt ein jeder, was ihm gefällt und geht los, um sich einen Gefallen zu tun. Und die Umwelthöfe verfolgen das alles, so gut sie können.«

»Verbieten sie nichts?«

»O ja, aber nur große Wärmepumpen. Mit dem Kleinzeug geben sie sich nicht ab. Oder sind es wenigstens nicht gewohnt. Seit kurzem werden die Höfe strenger und gehen auch kleinere Probleme an.«

»Gerade die kleineren Probleme lassen sich am besten kalkulieren, würde ich meinen.«

»Irgendwie schon. Sie tendieren dazu, einander auszubooten. Wie du weißt, gibt es,eine Menge Roter Projekte zum Schutz der größeren Höhen und jeder Stelle im Süden, wo sie es nur können. Sie haben die verfassungsmäßige Höhengrenze hinter sich gelassen und tragen ihre Beschwerden immer gleich direkt beim Globalen Hof vor. Dort gewinnen sie und ziehen ihre Pläne durch. Dann sind alle kleineren Entwicklungsprojekte irgendwie aus dem Gleichgewicht. Das ist ein legaler Alptraum.«

»Aber es gelingt ihnen doch, die Dinge stabil zu halten.«

»Nun, ich denke, die großen Höhen bekommen etwas mehr Luft und Wasser, als sie sollten. Man muß wirklich sehr hoch gehen, um davon weg zu kommen.«

»Du meinst, sie haben die Treibhausgasfabriken verklagt.«

»Das haben sie. Aber sie haben verloren. Diese GasProjekte werden von jedermann unterstützt. Ohne sie wären wir in eine Eiszeit geraten und darin verblieben.«

»Aber eine Verminderung der Emissionsraten... «

»Ja, ich weiß. Darüber wird noch gestritten. Das wird immer weitergehen.«

»Stimmt.«

Inzwischen hatte man sich auf das Niveau des Meeresspiegels von Hellas geeinigt. Das war ein legislativer Akt, und die Bemühungen rund um das Becken wurden koordiniert, um sicherzustellen, daß das Meer dem Gesetz gehorchte. Die ganze Sache war phantastisch kompliziert, wenn auch im Prinzip einfach. Man maß den hydrologischen Zyklus mit all. seinen Variationen an Regen und Schnee, der schmolz und in den Boden sickerte über die Oberfläche in Bächen und Flüssen lief, hinab in Seen und dann in das Hellas-Meer, wo es im Winter gefror, dann im Sommer verdunstete, um die ganze Runde wieder von vorn zu beginnen... So taten sie mit diesem immensen Zyklus das, was nötig war, um den Meeresspiegel dieses Ozeans zu stabilisieren, der ungefähr die Größe der Karibik hatte. Wenn es zu viel Wasser gab und sie den Meeresspiegel senken wollten, gab es die Möglichkeit, etwas davon in die leeren Reservoire im Amphitrites-Gebirge nach Süden zu pumpen. Aber dem waren recht enge Grenzen gesetzt, weil die Reservoire aus porösem Gestein bestanden, das dazu neigte zusammenzubrechen, wenn das Wasser erst entfernt worden war. Darum war es schwer oder unmöglich, sie wieder zu füllen. Tatsächlich waren solche Möglichkeiten des Überlaufens eines der Hauptprobleme, mit denen das Projekt noch konfrontiert war. Die Balance halten...

Diese Art von Bemühung gab es auf dem ganzen Mars. Es war verrückt. Aber sie wollten es machen. Diana sprach jetzt über die Anstrengungen zur Trockenhaltung des Argyre-Beckens, die auf ihre Art ebenso groß waren wie die, Hellas zu füllen. Sie hatten riesige Rohrleitungen gebaut, um Wasser von Argyre nach Hellas zu leiten, wenn es dort benötigt wurde, oder andernfalls zu Flußsystemen, die in das Nordmeer führten.

»Was ist mit dem Nordmeer selbst?« fragte Maya.

Diana schüttelte mit vollem Mund den Kopf. Offenbar war man sich einig, daß das Nordmeer keine Regulierung brauchte, sondern im Grunde stabil war. Man mußte nur aufpassen und verfolgen, was geschah; und die Küstenstädte dort würden ihre Chance ergreifen. Viele glaubten, daß das Niveau des Nordmeeres schließlich ein bißchen fallen würde, wenn Wasser in den Permafrost zurückkehrte oder in den Tausenden von Kraterseen im südlichen Hochland gefangen würde. Erst dann war wieder Niederschlag und der Ablauf ins Nordmeer wichtig. Dieses Thema würde sich im südlichen Hochland entscheiden, wie Diana sagte. Koops, die Wasserscheiden bauten, zogen noch umher und richteten Drainagen ein, ließen Wasser in Gebirgsbäche laufen, verstärkten Flußbetten und räumten Flugsand aus, der in manchen Fällen unter dem Schotter die Reste von Bachbetten erkennen ließ. Aber zumeist mußten ihre neuen Flüsse auf Lavagestein oder Abbruche der Canyons oder zufällige kurze Kanäle gegründet werden. Das Resultat war ganz anders als die geäderte Klarheit irdischer Wassersysteme. Eine Konfusion kleiner runder Teiche, gefrorener Sümpfe, Trockencanyons und langer gerader Flüsse mit scharfen rechtwinkligen Wendungen oder plötzlichem Verschwinden in Senklöcher oder Pipelines. Nur die wieder gefüllten alten Flußbetten sahen auch für terranische Augen richtig aus. Überall anderswo sah das Gelände aus wie ein Bombenübungsplatz nach einem Gewitter.

Viele Veteranen von Deep Waters, die sich nicht direkt dem Institut für das Hellas-Meer angeschlossen hatten, hatten eine eigene assoziierte Koop gegründet, welche die Grundwasserbecken um Hellas herum kartierte, den Wasserspiegel in Reservoiren und unterirdischen Flüssen maß, ausrechnete, welches Wasser gespeichert und wiedergewonnen werden konnte und so weiter. Diana war Mitglied dieser Kooperative, wie auch viele andere Leute aus Mayas altem Büro. Nach ihrem Lunch ging Diana zu dem Rest der Gruppe und erzählte ihnen von Mayas Rückkehr in die Stadt. Als sie hörten, das Maya daran interessiert war, zu ihnen zu stoßen, boten sie ihr eine Stellung in der Koop mit reduzierter Eintrittsgebühr an. Erfreut über das Kompliment beschloß sie, dabei mitzumachen.


So arbeitete sie nun am Ägäischen Wassertisch, wie die Kooperative hieß. Sie stand morgens auf, machte Kaffee und aß etwas Toast, ein Brötchen oder Croissant, Teegebäck oder Fladenbrot. Bei schönem Wetter aß sie draußen auf ihrem Balkon. Noch öfter jedoch nahm sie ihr Frühstück am Erkerfenster an dem runden Eßtisch und las den Odessa Messenger auf dem Schirm und beachtete jedes kleine Ereignis, das etwas über die sich verfinsternde Situation gegenüber der Erde aussagte. Die Legislatur in Mangala wählte den neuen Exekutivrat, und Jackie gehörte nicht zu den sieben. An ihre Stelle war Nanedi gerückt. Maya jubelte, las alle Berichte, die sie finden konnte und verfolgte die Interviews. Jackie behauptete, sie hätte abgelehnt zu kandidieren, und sagte, sie wäre nach so vielen m-Jahren erschöpft und würde eine Pause einlegen, wie sie das früher schon öfters getan hatte, und später wiederkommen (bei dieser letzten Bemerkung funkelten ihre Augen kurz). Nanedi wahrte über diesen Punkt diskretes Schweigen, hatte aber die zufriedene und leicht erstaunte Miene des Mannes, der den Drachen getötet hat. Und obwohl Jackie erklärte, sie würde ihre Arbeit für den Parteiapparat fortsetzen, war ihr Einfluß dort deutlich verblaßt, sonst hätte sie dem Rat noch angehört.

So! Sie hatte Jackie auf der globalen Kegelbahn besiegt, aber die gegen die Einwanderung gerichteten Kräfte waren noch an der Macht. Der Freie Mars hielt seine Gegner mit seiner überwältigenden Mehrheit unangenehm in Schach. Es hatte sich nichts Wichtiges geändert. Das Leben ging weiter. Die Meldungen von der sich rasch vermehrenden Erdbevölkerung waren immer noch alarmierend. Diese Leute würden sie eines Tages heimsuchen, dessen war sich Maya sicher. Sie würden unter sich gute Fortschritte machen, konnten abwarten, Pläne machen und ihre Anstrengungen koordinieren. Es war wirklich besser zu frühstücken, ohne den Schirm einzuschalten, wenn sie sich ihren Appetit bewahren wollte.

Sie nahm die Gewohnheit an, in die Stadt zu gehen und an der Corniche mit Diana oder später mit Nadia und Art oder Besuchern der Stadt ein größeres Frühstück einzunehmen. Danach ging sie zu den AWT-Büros nahe dem östlichen Ende der Seefront. Das war ein schöner Spaziergang, in einer Luft, die gerade in diesem Jahr ein ganz klein wenig salziger war. Bei AWT hatte sie ein Büro mit Fenster und tat das, was sie schon für Deep Waters gemacht hatte, indem sie als Verbindung zu dem Institut des Hellas-Meeres diente und ein wechselndes Team von Areologen, Hydrologen und Ingenieuren koordinierte und ihre Forschungsarbeiten hauptsächlich in den Bergen von Hellespontus und Amphitrites lenkte, wo sich die meisten Wasserreservoirs befanden. Sie machte Reisen um den Bogen der Küste, um einige Plätze und Einrichtungen zu inspizieren. Sie ging oft ins Gebirge und hielt sich häufig in der kleinen Hafenstadt Montepulciano, an der Süd-Westküste der See, auf. Wieder zurück in Odessa arbeitete sie tagsüber, machte frühzeitig Schluß, wanderte in der Stadt herum und kaufte in den kleinen Läden für gebrauchte Möbel oder Kleider ein. Sie fand Interesse an den neuen Moden und deren Veränderungen im Laufe der Jahreszeiten. Odessa war eine elegante Stadt, die Leute waren gut gekleidet, und die letzten Stile gefielen ihr. Sie selbst sah aber eher wie eine etwas klein geratene ältliche Eingeborene mit aufrechter, königlicher Haltung aus...

Sie richtete es oft ein, daß sie am späten Nachmittag draußen an der Corniche war und dann in ihr Apartment heimkehrte oder im Sommer in einem Restaurant an der Küste ein frühes Abendessen einnahm. Im Herbst legte eine kleine Schiffsflotte am Pier an, legte Gangplanken zwischen den Booten und veranstaltete gegen Eintrittsgebühr ein Weinfest mit Feuerwerk über dem Wasser nach Einbruch der Dunkelheit. Im Winter wurde es auf dem Wasser früh dunkel, und das Wasser an der Küste war manchmal mit Eis bedeckt und schimmerte in Pastelltönen von jeder Farbe, die an dem betreffenden Abend gerade der Himmel aufwies. Eisläufer und schnelle flache Eisboote punkteten die Küste.

Als sie in einer Dämmerungsstunde allein beim Essen war, führte eine Theatertruppe den Kaukasischen Kreidekreis in einer benachbarten Allee auf. Zwischen der Dämmerung und den Lichtflecken auf den Planken der improvisierten Bühne war das Licht so anheimelnd, daß Maya davon angezogen wurde wie eine Motte. Sie folgte der Handlung kaum; aber einige Momente trafen sie sehr stark, besonders die Verdunklungen, wenn das Spiel anhalten mußte und die Schauspieler in dem späten Licht auf der Bühne einfroren. Nur dachte sie, daß dieser Moment etwas Blau gebrauchen könnte, um perfekt zu sein.

Danach kam die Theaterkompanie ins Restaurant herüber, um zu essen. Maya sprach mit der Direktorin, einer eingeborenen Frau mittleren Alters namens Latrobe, die interessiert war, sie kennenzulernen, über das Spiel und über Brechts Theorie des politischen Theaters. Latrobe erwies sich als terrafreundlich und war für Einwanderung. Sie wollte Bühnenstücke haben, die für einen offenen Mars eintraten und die neuen Immigranten in die Areophanie integrierten. Sie sagte, es sei erschreckend, wie wenige Stücke des klassischen Repertoires solche Gefühle unterstützten. Sie brauchten neue Stücke. Maya erzählte ihr von Dianas politischen Abenden in den UNTA-Jahren und wie sie sich manchmal in den Parks getroffen hatten. Und über ihre Meinung hinsichtlich des Blaus in der Aufführung dieses Abends. Latrobe lud Maya ein, mit ihr zu kommen und zu der Truppe über Politik zu sprechen und auch, falls sie wollte, beim Licht zu helfen, das in der Truppe ein schwacher Punkt war. Die Leute stammten aus denselben Parks, in denen Dianas Gruppe sich seinerzeit zu treffen pflegte. Vielleicht könnten sie dort wieder hinausgehen und noch mehr Brechtsches Theater spielen.

Maya kreuzte dort auf und redete mit der Truppe und wurde im Laufe der Zeit, ohne es eigentlich vorzuhaben, ein Mitglied des Beleuchtungsteams. Sie half auch bei den Kostümen, was auf andere Art auch Modefragen betraf. Sie sprach in den Nächten lange zu ihnen über den Begriff eines politischen Theaters. Sie war praktisch eine politisch-ästhetische Beraterin. Aber sie widerstand beharrlich allen Bemühungen, sie auf die Bühne zu bringen, nicht nur seitens der Kompanie, sondern auch von Michel und Nadia. Sie sagte: »Nein. Das will ich nicht machen. Sonst würde man sofort wollen, daß ich die Maya Toitovna spiele in jenem Stück über John.«

»Das ist eine Oper«, sagte Michel. »Du müßtest dazu eine Sopranstimme haben.«

»Trotzdem.«

Sie wollte nicht auftreten. Das tägliche Leben war ihr genug. Aber sie genoß die Welt des Theaters. Das war ein neuer Weg, an Menschen heranzukommen und ihre Wertvorstellungen zu ändern, weniger anstrengend als der direkte Einsatz von Politik, unterhaltsamer und vielleicht in mancher Hinsicht sogar wirksamer. Theater bedeutete in Odessa eine Macht. Das Kino war eine ausgestorbene Kunst; die ständige unablässige Übersättigung mit Schirmbildern hatte alle Bilder gleich langweilig werden lassen. Was die Bürger zu mögen schienen, war Unmittelbarkeit und das Risiko einer spontanen Aufführung, der Moment, der nie wiederkehren und nie der gleiche sein würde. Theater war wirklich die stärkste Kunst in der Stadt; und dasselbe galt auch für viele andere Städte auf dem Mars. Darum führte die Truppe von Odessa im Verlauf der Jahre jede Menge politischer Stücke auf, darunter einen vollständigen Werkszyklus des Südafrikaners Athol Fugard — heiße, leidenschaftliche Stücke, in denen institutionalisierte Vorurteile und die Fremdenfeindlichkeit der Seele analysiert und gegeißelt wurden. Die besten Stücke in englischer Sprache, wie Maya meinte. Und dann war die Truppe behilflich bei der Entdeckung und Bekanntmachung von dem, was später die Odessa-Gruppe genannt wurde, einem halben Dutzend junger eingeborener Stückeschreiber, die so leidenschaftlich waren wie Fugard, Männer und Frauen, die in einem Stück nach dem anderen die drängenden Probleme der neuen Issei und Nisei aufzeigten und deren schmerzliche Assimilation in die Areophanie — eine Million kleiner Romeos und Julias, eine Million kleiner zerschnittener oder geknüpfter Blutsbande. Das war Mayas bestes Guckfenster in die zeitgenössische Welt und mehr und mehr ihre Art, darauf zu reagieren. Sie tat ihr Bestes, da viele Stücke Diskussionen auslösten, manchmal sogar Wut, wenn neue Stücke seitens der Gruppe die Bewegung gegen die Einwanderung angriffen, die in Mangala immer noch eine Macht darstellte. Es war Politik auf eine völlig neue Art, die befriedigendste, die ihr bisher begegnet war. Sie hatte das Verlangen, Frank davon zu erzählen und ihm zu zeigen, wie es funktionierte.

In jenen Jahren, in denen die Monate paarweise verstrichen, setzte Latrobe eine Menge lebhafter Werke der Klassiker in Szene. Und als Maya sie anschaute, wurde sie immer mehr von der Kraft der Tragödie gefesselt. Ihr gefielen die politischen Stücke, die ängstlich oder hoffnungsvoll zu einem innewohnenden Utopismus, einem Drang nach Fortschritt tendierten. Aber die Stücke, die sie am tiefsten berührten und am meisten bewegten, waren die alten Tragödien der Erde. Und je tragischer, desto besser. Katharsis, wie sie von Aristoteles dargestellt wurde, schien sehr gut auf sie zu wirken. Aus den hervorragenden Vorstellungen der großen Tragödien ging sie erschüttert, geläutert und irgendwie glücklicher hervor. Das war der Ersatz für ihre Gefechte mit Michel, wie sie eines Nachts erkannte. Eine Sublimierung, würde er gesagt haben, und noch dazu eine gute, natürlich leichter für ihn und im ganzen edler und würdiger. Und dann war da auch die Verbindung zu den alten Griechen, eine Verbindung, die auf vielerlei Weise rings um das Hellas-Becken hergestellt wurde, in den Städten und bei den Wilden, ein Neoklassizismus, den Maya als gut für alle empfand, indem sie mit der Rechtschaffenheit der Griechen konfrontiert wurden und sie zu ermessen suchten, ihren unverwandten Blick auf Realität. Die Odyssee, Antigone, Elektra, Medea, Agamemnon (der Klytämnestra heißen sollte) — diese erstaunlichen Frauen, die in bitterer Kraft auf jedwedes seltsame Schicksale reagierten, das ihnen ihre Männer auferlegten und zurückschlugen, wenn etwa Klytämnestra Agamemnon und Kassandra ermordete, wobei sie erst dem Publikum erzählte, wie sie es getan hatte und dann am Schluß ins Auditorium starrte, direkt auf Maya:

»Genug des Elends! Rührt euch nicht!

Unsere Hände sind rot.

Geht heim und gehorcht dem

Schicksal zu seiner Zeit,

Rechtzeitig, ehe ihr leidet! Wir haben

gehandelt, wie wir es mußten.«

Wir haben gehandelt, wie wir es mußten. So wahr, so wahr. Sie liebte die Wahrheit dieser Dinge. Traurige Stücke, traurige Klagelieder, Zigeunertangos, Prometheusgrenze, sogar die jakobinischen Rachestücke — je finsterer, desto besser. Desto wahrer. Sie schuf die Beleuchtung für Titus Andronicus; und die Leute waren angewidert. Sie sagten, es sei ein schieres Blutbad. Und sie hatte wahrlich viele rote Farbtöne verwendet. Aber in dem Moment, da die ihrer Hände und Zunge beraubte Lavinia anzuzeigen suchte, wer ihr das angetan hatte, oder sich hinkniete, um die abgeschlagene Hand von Titus zwischen die Zähne zu nehmen, waren die Zuschauer wie eingefroren. Man konnte nicht sagen, daß Shakespeare nicht von Anfang an das richtige Gefühl für Bühnenkunst gehabt hätte, ob Blutbad oder nicht. Und dann war er mit jedem Stück immer stärker geworden, elektrisierender, finster und wahr, selbst als alter Mann. Maya war in Hochstimmung aus einer langen beseelten Aufführung von King Lear gekommen, erhitzt und lachend. Sie ergriff einen jungen Beleuchter an der Schulter, schüttelte ihn und rief: »War das nicht wundervoll, großartig?«

»Ka, Maya, ich weiß nicht. Ich hätte die restaurierte Fassung vorgezogen, in der Cordelia gerettet wird und Edgar heiratet. Kennst du die?«

»Paah! Dummes Kind! Wir haben heute die Wahrheit erzählt, und darauf kommt es an! Du kannst am Morgen wieder zu deinen Lügen zurückkehren.« Mit rauhem Lachen stieß sie ihn wieder zu seinen Freunden vom Beleuchtungsteam. »Närrische Jugend!«

Er erklärte seinen Freunden: »Das ist Maya.«

»Toitovna? Die in der Oper?«

»Ja, aber real.«

»Real«, äffte Maya ihm nach und scheuchte sie fort. »Ihr wißt ja gar nicht, was real ist.« Und sie fühlte das, was sie sagte.

Und Freunde kamen auf eine oder zwei Wochen zu Besuch in die Stadt. Und als es dann im Sommer immer wärmer wurde, verbrachten sie einen Dezember in einer Hütte hinter den Dünen. Sie schwammen, segelten, surften und lagen unter einem Sonnenschirm am Strand, lasen und schliefen bis zum Perihel. Dann ging es wieder nach Odessa hinein zu den vertrauten Annehmlichkeiten ihrer Wohnung und der Stadt, im rötlichen Licht des Südherbstes, welcher die längste Saison des Marsjahres war und auch die Annäherung an das Aphel darstellte. Es wurde von Tag zu Tag düsterer, bis bei Ls 70 das Aphel kam. Zwischen diesem und der Wintersonnenwende bei Ls 90 fand das Eisfestival statt. Sie fuhren auf dem weißen Eis der See direkt unter der Corniche Schlittschuh und blickten zu der Küstenfront der Stadt auf, die ganz mit Schnee verweht war. Weiß unter schwarzen Wolken. Oder sie fuhren mit Eisbooten so weit hinaus, daß die Stadt nur noch eine Unterbrechung in der weißen Kurve des großen Randes war. Oder sie speisten in trüben, lauten Restaurants und warteten auf den Beginn der Musik, während feuchter Schnee draußen auf die Straße herabrieselte. Sie gingen in ein langweiliges kleines Theater mit seinem erwartungsvollen Gelächter. Im Frühling aßen sie zum ersten Mal draußen auf dem Balkon mit Pullovern gegen die Kühle, betrachteten die jungen Knospen auf den Spitzen der Baumzweige mit einem Grün ohnegleichen, wie kleine Tränentropfen von Viriditas. Und so verging die Zeit, tief in den Falten von Gewohnheit und deren Rhythmen, glücklich in dem dejä vu, das sie sich bereiteten.

Dann schaltete Maya eines Morgens ihren Bildschirm ein, verfolgte die Nachrichten und stellte fest, daß man eine große Siedlung der Chinesen entdeckt hatte, die sich bereits in Huo-Hsing-Vallis (als ob der Name ein Eindringen rechtfertigte) etabliert hatte. Eine überraschte globale Polizei hatte sie zum Verlassen aufgefordert, aber sie trotzten gelassen diesem Befehl. Und die chinesische Regierung warnte den Mars, daß jede Einmischung bei der Siedlung als ein Angriff auf chinesische Bürger angesehen und entsprechende Reaktionen nach sich ziehen würde. Maya rief: »Was? Nein!«

Sie rief jeden in Mangala an, den sie kannte. In diesen Tagen gab es da nicht viele Personen von Bedeutung. Sie fragte sie, was sie wüßten und bat um Mitteilung, warum die Siedler nicht wieder zum Aufzug eskortiert und nach Hause geschickt würden und so weiter. »Das ist einfach nicht akzeptabel. Ihr müßt das sofort unterbinden!«

Aber es gab schon seit einiger Zeit illegale Einreisen, die nur etwas weniger kraß gewesen waren, wie sie selbst gelegentlich in Nachrichtenmeldungen gesehen hatte. Immigranten wurden in billigen Landevehikeln abgesetzt unter Umgehung des Aufzugs und der Behörden in Sheffield. Landungen mit Raketen und Fallschirmen wie in den alten Zeiten; und man konnte wenig dagegen tun, ohne einen interplanetaren Zwischenfall zu provozieren. Hinter den Kulissen arbeiteten die Leute hart daran. Die UN stärkten China den Rücken. Darum war es schwierig. Es wurde Fortschritt erzielt, langsam aber sicher. Sie sollte sich keine Sorgen machen.

Sie stellte den Schirm ab. Sie hatte früher einmal unter der Illusion gelitten, daß sich die ganze Welt verändern würde, sofern sie sich nur selbst hart genug bemühte. Jetzt wußte sie es besser.

Dennoch war es schwer, das zuzugeben. »Das reicht, um einen zum Roten werden zu lassen«, sagte sie Michel, als sie zur Arbeit ging. Sie warnte ihn: »Es reicht, um uns gegen Mangala aufzubringen.«

Aber nach einer Woche war die Krise vorbei. Es wurde eine Übereinkunft erzielt. Die Siedlung durfte bleiben, und die Chinesen versprachen, im folgenden Jahr eine entsprechend kleinere Anzahl legaler Einwanderer zu schicken. Sehr unbefriedigend, aber immerhin. Das Leben ging unter diesem neuen Schatten weiter.

Als sie an einem Nachmittag im Spätfrühling von der Arbeit nach Hause ging, erregte eine Reihe von Rosensträuchern hinter der Corniche ihre Aufmerksamkeit. Sie ging hinüber, um sie sich näher anzusehen. Hinter den Sträuchern gingen Leute auf der Harmakhis-Avenue an den Cafes vorbei, die meisten in Eile. Die Büsche hatten eine Menge neuer Blätter, deren Braun eine Mischung aus Grün und Rot war. Die frisch erblühten Rosen hatten eine rein dunkelrote Farbe, ihre leuchtenden samtigen Blütenblätter strahlten im nachmittäglichen Licht. Lincoln, besagte die Etikette auf dem Stamm. Eine Rosenart und zugleich der größte Amerikaner, ein Mann, der eine Art Kombination von John und Frank gebildet hatte, so wie Maya ihn verstand. Einer der Truppe hatte ein großes Stück über ihn geschrieben, finster und beunruhigend; der Held wurde sinnlos ermordet, ein richtiges Rührstück. Sie brauchten in diesen Tagen einen Lincoln. Das Rot der Rosen leuchtete hell. Plötzlich konnte sie nicht mehr sehen. Für einen Moment war sie völlig geblendet, als hätte sie direkt in die Sonne geblickt.

Danach sah sie seltsame Dinge.

Gestalten, Farben — soviel war gerade noch wahrnehmbar, aber was die waren — wer sie war — bemühte sie sich wortlos zu erkennen...

Dann kehrte mit einem Ruck alles wieder. Rose, Odessa — alles so, als wäre es nie fort gewesen. Aber sie taumelte und hatte Mühe Balance halten. Sie hielt sich im Zaun. »O nein, mein Gott!« Sie schluckte, ihre Kehle war trocken, sehr trocken. Ein physiologischer Effekt. Der hatte einige Zeit gedauert. Sie zischte, und unterdrückte einen Schrei. Stand starr auf dem Kiesweg, die braungrüne mit lebhaftem Rot gefleckte Hecke vor sich. Sie sollte sich für ihr nächstes jakobitisches Stück an diesen Farbeffekt erinnern.

Sie hatte immer gewußt, daß das passieren würde. Gewohnheit — sie war so trügerisch. In ihr tickte eine Bombe. In den alten Tagen hatte es etwa drei Milliarden Mal getickt. Jetzt hatten sie es auf zehn oder mehr Milliarden gebracht. Es tickte aber immer weiter. Sie hatte gehört, daß man eine Uhr kaufen könne, die während einer bestimmten Anzahl von Stunden rückwärts lief, vermutlich jenen, die noch übrig waren, die man noch fünfhundert Jahre zu leben hatte. Welche Lebensdauer man sich auch immer erwählte. Man konnte eine Million Jahre wählen und sich entspannen. Man konnte irgendeine wählen und etwas genauer auf den Moment achten. Oder man tauchte in seine Gewohnheiten und dachte nie darüber nach, wie es alle taten, die sie kannte.

Sie hätte das sehr gern getan. Früher einmal hatte sie so gelebt und würde es wieder tun. Aber jetzt in diesem Augenblick war etwas geschehen, und sie war wieder im Interregnum, der leeren Zeit zwischen zweierlei Gewohnheiten, und wartete auf die nächste Häutung. Nein, nein! Warum? Sie wollte eine solche Zeit nicht erleben. Das war zu hart; sie konnte kaum das bloße Gefühl verstreichender Zeit ertragen, das sie während dieser Perioden befiel. Das Gefühl, alles wäre zum letzten Mal. Sie haßte dieses Gefühl über alle Maßen. Und diesmal hatte sie ihre Gewohnheiten überhaupt nicht geändert! Nichts war anders. Es hatte sie aus heiterem Himmel getroffen. Vielleicht war es einfach zu lange her seit dem letzten Mal. Vielleicht würde es jetzt immer nach Belieben losgehen, willkürlich, vielleicht häufig.

Sie ging nachdenklich nach Hause (ich weiß, wo meine Heimat ist) und versuchte, Michel zu erzählen, was geschehen war. Sie schilderte und seufzte und schilderte weiter und gab dann auf. »Wir tun Dinge nur einmal! Verstehst du?«

Er war sehr besorgt, obwohl er sich bemühte, das nicht zu zeigen. Ausfälle oder nicht, sie konnte unschwer die Launen von Monsieur Duval erkennen. Er sagte, ihr kleines jamais vu wäre vielleicht ein kleiner epileptischer Anfall oder ein winziger Schlaganfall gewesen; aber er konnte nicht sicher sein, und sogar Tests würden ihnen nichts verraten. Jamais vu war nur wenig verstanden, eine Variante von dejä vu, praktisch ins Gegenteil umgekehrt. »Es scheint mir eine zeitweilige Störung in den Wellenmustern des Gehirns zu sein. Sie gehen von Alphawellen zu Deltawellen in einer kleinen Delle über. Wenn du einen Monitor tragen würdest, könnten wir das nächstemal herausbekommen, wenn es geschieht, falls es dazu kommt. Es ist so ähnlich wie ein Wach-Schlaf, in dem ein Großteil der Wahrnehmung ausgeschaltet ist.«

»Bleiben jemals Leute darin hängen?«

»Nein. Ich kenne keinen derartigen Fall. Es ist selten und immer nur zeitweilig.«

»Bisher.«

Er bemühte sich, so zu tun, als wäre diese Furcht unbegründet.

Maya wußte es besser und ging in die Küche, um eine Mahlzeit vorzubereiten. Mit den Töpfen klappern, den Kühlschrank öffnen, Gemüse herausnehmen, zerhacken und in die Pfanne tun. Hack hack hack hack. Hör auf zu weinen, hör auf! Selbst dies ist schon zehntausendmal passiert. Die Katastrophen waren unvermeidlich. Die Gewohnheit des Hungers. In der Küche bemühte sie sich, alles zu ignorieren und ein Essen herzurichten. Wie oft schon? Na ja, da sind wir.

Danach vermied sie die Reihe der Rosenbüsche aus Furcht vor einem weiteren Vorfall. Aber man konnte die Rosen an der Corniche von überall her sehen, bis hin zur Küstenmauer. Und sie standen fast immer in Blüte. In dieser Hinsicht waren Rosen erstaunlich. Und einmal, als das gleiche Licht des Nachmittags sich über den Hellespont ergoß und nach Westen hin allem eine gewisse Unscharfe verlieh und zu matten Pastelltönen verdunkelte, fiel ihr Auge auf die nadelstichgroßen roten Punkte der Rosen in der Hecke. Sie ging auf der Küstenmauer, sah auf der einen Seite das Muster der Gischt auf dem schwarzen Wasser und auf der anderen Seite die Rosen und das aufragende Odessa. Sie blieb stehen, durch irgend etwas in dem doppelten Anblick aufgehalten, durch eine Erkenntnis, fast an der Grenze einer Offenbarung. Sie fühlte, daß eine große Wahrheit an ihr zerrte. Knapp außerhalb von ihr oder im Innern ihres Körpers — in ihrem Schädel, aber außerhalb ihrer Gedanken. Es drückte auf die das Gehirn umschließende harte Haut. Alles war erklärt und endgültig deutlich geworden...

Aber die Offenbarung schaffte es nicht durch die Schranke. Nur ein Gefühl, neblig und riesengroß. Dann verging der Druck auf ihren Geist, und der Nachmittag nahm seine gewöhnliche zinnähnliche Farbe an. Sie ging heim mit einem Gefühl des Ausgefülltseins. Ozeane von Wolken in der Brust, bereit zu bersten von etwas wie Frustration oder einer Art ängstlicher Freude. Sie erzählte Michel wieder, was geschehen war, und er nickte. Auch dafür hatte er einen Namen:

»Presque vu.« Beinahe gesehen. Er sagte: »Davon habe ich eine Menge.« Mit seiner charakeristischen Miene geheimer Sorge.

Aber alle diese symptomatischen Kategorien schienen für Maya nur das zu kaschieren, was wirklich in ihr vorging. Manchmal war sie sehr verwirrt. Manchmal glaubte sie Dinge zu verstehen, die es gar nicht gab. Manchmal vergaß sie Dinge für immer. Und manchmal war sie sehr verstört. Und das waren die Dinge, die Michel mit seinen Namen und Kombinationen zu erklären versuchte.


Fast gesehen. Fast verstanden. Und dann zurück in die Welt von Licht und Zeit.

Und da gab es nichts anderes als weiterzumachen. Also machte sie weiter. Es vergingen genug Tage, und sie konnte vergessen, was für ein Gefühl es gewesen war, wie ängstlich sie gewesen war oder wie nahe der Freude. Es war seltsam, daß man so leicht vergessen konnte. Einfach leben in la vie quotidienne, und achtgeben auf das alltägliche Leben mit seiner Arbeit, den Freunden und Besuchern.

Unter den Besuchern waren auch Charlotte und Ariadne, die von Mangala kamen, um sich mit Maya über die schlechter werdenden Beziehungen zur Erde zu beraten. Sie gingen zum Frühstück an die Corniche und sprachen über Belange von Dorsa Brevia. Die Leute von Dorsa Brevia waren trotz der Tatsache, daß die Minoer die Koalition des Freien Mars verlassen hatten, weil ihnen unter anderem deren Versuch nicht zusagte, die Siedlungen auf den äußeren Satelliten zu dominieren, zu der Ansicht gekommen, daß Jackie hinsichtlich der Einwanderung recht hatte, zumindest in gewissem Umfang.

»Es ist nicht so, daß der Mars sich seiner Aufnahmefähigkeit für Menschen auch nur ansatzweise nähern würde«, sagte Charlotte. »Da irren sie sich. Wir könnten den Gürtel enger schnallen und die Städte dichter gestalten. Und in diesen neuen schwimmenden Städte auf dem Nordmeer ließen sich eine Menge Leute unterbringen. Sie sind ein Zeichen dafür, wie viele mehr hier leben könnten. Sie haben praktisch keinen Einfluß, außer in gewissem Sinne auf Hafenstädte. Aber es gibt Platz für noch mehr Hafenstädte, zumindest am Nordmeer.«

»Für viel mehr«, sagte Maya. Trotz des Eindringens von Terranern liebte sie es nicht, immigrantenfeindliches Gerede in jeglicher Form zu hören. Aber Charlotte war wieder im Exekutivrat und hatte seit Jahren eine enge Beziehung zur Erde gepflegt. Darum fiel es ihr schwer zu sagen:

»Es geht nicht um die Zahlen. Es kommt darauf an, wer sie sind und was sie glauben. Die Schwierigkeiten mit der Assimilation werden wirklich ernst.«

Maya nickte. »Ich habe auf dem Schirm darüber gelesen.«

»Ja. Wir haben auf jedem uns bekannten Wege versucht, Neuankömmlinge zu integrieren; aber sie ballen sich natürlich zusammen, und man kann sie nicht einfach aufbrechen.«

»Nein.«

»Aber es tauchen so viele Probleme auf. Es hat Fälle von Sharia, dem einfach ausgeübten islamischen Recht gegeben, Inzest, streitsüchige ethnische Banden, Angriffe seitens der Immigranten auf Eingeborene, gewöhnlich Männer gegen Frauen, aber nicht immer. Und Banden junger Eingeborener üben Vergeltung, belästigen die neuen Siedlungen und so weiter. Es herrscht große Unruhe. Und das bei einer — wenigstens dem Gesetz nach — reduzierten Einwanderung. Aber die UN sind deswegen böse auf uns und wollen noch mehr schicken. Und dann werden wir eine Art menschlicher Müllplatz werden, und alle unsere Arbeit wird zuschanden kommen.«

»Hmm.« Maya schüttelte den Kopf. Natürlich kannte sie das Problem. Aber es war ein deprimierender Gedanke, daß derartige Verbündete sich abwenden und der anderen Seite anschließen könnten, bloß weil die Situation schwierig wurde. »Aber bei allem, was ihr tut, müßt ihr die UN mit einberechnen. Wenn ihr die Immigration verbietet und sie trotzdem einwandern und die UN das unterstützen, dann wird unsere Arbeit noch schneller vertan sein. Das ist es doch, was mit diesen Übergriffen geschieht, nicht wahr? Es wäre besser, Einwanderung zu gestatten, aber auf dem niedrigsten Niveau zu halten, das die UN zufriedenstellt, und mit den Immigranten umzugehen, wenn sie hier sind.«

Die beiden Frauen nickten mißmutig. Sie aßen eine Weile schweigend und schauten auf das frische Blau der morgendlichen See. »Die Exmetas sind auch ein Problem«, sagte Ariadne. »Die drängen noch mehr hier herein als die UN.«

»Natürlich.« Für Maya war es keine Überraschung, daß die alten Metanationalen auf der Erde immer noch eine solche Macht hatten. Natürlich hatten sie alle das Modell der Praxis zum Überleben nachgeahmt und waren deshalb mit diesem fundamentalen Wandel in ihrer Natur nicht mehr wie totalitäre Lehnsherren, die sich anschickten, die Welt zu erobern. Sie waren aber immer noch groß und stark, umfaßten eine Menge Leute und besaßen viel angehäuftes Kapital. Und sie wollten immer noch Geschäfte machen, um den Lebensunterhalt ihrer Mitglieder zu bestreiten. Ihre Strategien dafür waren manchmal bewundernswert und manchmal nicht. Man konnte Dinge produzieren, die die Leute wirklich benötigten. Auf eine neue und bessere Art. Oder man konnte krumme Dinge drehen und versuchen, Vorteile herauszupressen oder falsche Bedürfnisse zu wecken. Die meisten Exmetas verfolgten natürlich eine gemischte Strategie und versuchten, durch Diversifikation Stabilität zu erzielen, wie in ihren alten Tagen des Investments. Aber dadurch wurde die Bekämpfung der schlechten Strategien irgendwie noch schlechter durchzuführen, weil jeder sie in gewissem Umfang anwandte. Und jetzt verfolgten viele Exmetas sehr aktive Marsprogramme. Sie arbeiteten für die Regierungen der Erde und transportierten Menschen von der Erde herauf, erbauten Städte und gründeten Farmen, Bergwerke, Produktionsstätten und Handelsplätze. Manchmal schien es, als ob die Emigration von der Erde zum Mars erst aufhören würde, wenn ein exaktes Gleichgewicht der Überfüllung erreicht wäre. Und das würde angesichts der hypermalthusianischen Lage auf der Erde für den Mars eine Katastrophe bedeuten.

»Ja, ja«, sagte Maya ungeduldig. »Trotzdem müssen wir versuchen zu helfen und müssen uns im Bereich des Akzeptablen gegenüber der Erde halten. Sonst wird es Krieg geben.«

Also gingen Charlotte und Ariadne fort. Beide sahen so besorgt aus, wie Maya sich fühlte. Und plötzlich fiel Maya ein, daß die beiden, wenn sie zu ihr um Hilfe kamen, wirklich in großen Schwierigkeiten stecken mußten.

Sie nahm ihre direkte politische Arbeit wieder auf, obwohl sie sich bemühte, die in Grenzen zu halten. Sie reiste nur selten von Odessa fort, außer in Angelegenheiten der AWT. Sie arbeitete weiter mit der Theatergruppe, die jetzt auf jeden Fall das wahre Herz ihrer politischen Arbeit geworden war. Aber sie ging wieder zu Versammlungen und trat manchmal vor die Leute und redete. Der Wertewandel nahm viele Formen an. Eines Abends ließ sie sich sogar hinreißen und willigte ein, für Odessas Sitz im globalen Senat als Mitglied der Terranischen Gesellschaft von Freunden zu kandidieren, falls sich kein günstigerer Kandidat finden sollte. Später, als sie Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, bat sie, zuerst nach jemand anderem zu suchen; und am Ende entschloß man sich für einen der jungen Stückeschreiber der Gruppe, der in der Stadtverwaltung von Odessa arbeitete. Eine gute Wahl. Damit ging der Kelch an ihr vorüber und sie fuhr fort, die Quäker der Erde zu unterstützen, wenn auch immer weniger aktiv, denn sie fühlte sich dabei immer unbehaglicher, weil man die Aufnahmekapazität eines Planeten nicht überbeanspruchen konnte, ohne eine Katastrophe heraufzubeschwören. Das hatte die Geschichte der Erde seit dem neunzehnten Jahrhundert bewiesen. Man mußte vorsichtig sein. Es war ein Drahtseilakt: Man durfte nicht zu viele Leute hereinlassen, aber es war besser, mit einer begrenzten Periode der Überbevölkerung fertig zu werden, als es mit einer regelrechten Invasion aufnehmen zu müssen. Und das war ein Punkt, den sie in allen Versammlungen betonte.

Und während dieser ganzen Zeit befand Nirgal sich draußen in der Wildnis, führte ein Nomadenleben und sprach zu den Wilden und Bauern und hatte, wie sie hoffte, seinen gewohnten Einfluß auf die Weltanschauung der Marsbevölkerung, die Michel sein kollektives Unterbewußtsein nannte. Maya setzte einen großen Teil ihrer Hoffnungen auf Nirgal. Und sie tat ihr Bestes für den anderen Zug ihres Lebens, die Beschäftigung mit der Geschichte. Das war in mancher Hinsicht der allerwichtigste Faden, da er sich durch ihr Leben gezogen hatte und es zu einer großen Schleife bis zurück zu den Vorahnungen in ihrem früheren Leben in Odessa zusammengerafft hatte.

So war das schon eine böse Art von dejä vu. Und dann kamen die realen dejä vus zurück und sogen wie immer das Leben aus allen Dingen. Oh, ein einzelnes Aufblitzen der Erregung war natürlich nur ein Ruck, eine schreckliche Erinnerung, die wieder verschwand. Aber ein ganzer Tag war eine Qual und eine Woche die wahre Hölle. Michel sagte, die aktuellen medizinischen Zeitschriften nannten es den stereotemporalen Zustand. Andere bezeichneten ihn als die stets bereite Sensation. Das war offenbar für einen gewissen Prozentsatz der Alten ein Problem. Nichts konnte innerhalb Mayas Emotionen schlimmer sein. An solchen Tagen erwachte sie, und jeder Moment des Tages wurde zu einer exakten Wiederholung eines früheren identischen Tages. So kam es ihr vor wie Nietzsches Vorstellung von der ewigen Wiederkehr, der endlosen Wiederholung aller möglichen raumzeitlichen Kontinua, die für sie als erlebte Erfahrung transparent geworden war. Schrecklich, schrecklich! Und dennoch konnte sie nichts tun, als sich wie ein Zombie durch die stets bereitstehenden voraussagbaren Tage zu quälen, bis der Fluch sich hob — manchmal in einem raschen Ruck zurück in den nicht stereotemporalen Zustand, wo eine doppelte Vision ihre Schärfe wiedergewann und den Dingen ihre Tiefe wiedergab. Zurück zum Realen mit seinem herrlichen Gefühl von Neuheit, Kontingenz und blindem Werden, wo sie frei war, jeden Moment mit Überraschung zu erfahren und das gewöhnliche Auf und Ab ihrer emotinalen Sinuswelle zu erleben, eine Berg- und Talfahrt, die zwar unbequem, aber doch wenigstens Bewegung war.

»Ah, gut!« sagte Michel, als sie aus einem dieser Anfälle herauskam und sich wunderte, welche Drogen man ihr gegeben haben konnte, um das zu schaffen.

»Vielleicht könnte ich einfach auf die andere Seite vonpresque vu gehen«, sagte Maya mit matter Stimme. »Nicht dejä oder presque oderjamais, sondern bloß vu.«

»Eine Art Erleuchtung, Satori«, mutmaßte Michel. »Oder Epiphanie. Eine mystische Einheit mit dem Universum. Wie man mir sagte, ist das meist nur ein kurzlebiges Phänomen. Ein Spitzenerlebnis.«

»Mit Nachwirkungen?«

»Ja. Danach fühlt man sich allgemein besser. Aber — na ja — man sagt, es kommt gewöhnlich nur nach Gelingen einer gewissen... «

»Heiterkeit?«

»Nein, ja doch. Ruhe des Geistes, könnte man sagen.«

»Du meinst, das ist bei mir nicht der Fall.«

Das löste ein Grinsen aus. »Aber es könnte kultiviert werden. Ich meine, sich darauf vorzubereiten. Das ist es, was man im Zen-Buddhismus macht, wenn ich ihn recht verstehe.«

Also las sie einige Zen-Texte. Aber die machten ihr klar: Zen war nicht Information, sondern Verhalten. Wenn man sich richtig verhielt, konnte die mystische Klarheit herabsteigen. Oder auch nicht. Und wenn sie es tat, war es gewöhnlich ein flüchtiger Moment, eine Vision.

Maya war in ihren Gewohnheiten für eine solche Art von Veränderung in ihrem mentalen Verhalten zu sehr verhaftet. Sie hatte ihre Gedanken nicht so unter Kontrolle, daß sie sich auf eine Gipfelerfahrung hätte vorbereiten können. Sie lebte ihr Leben, und diese mentalen Zusammenbrüche setzten ihr zu. Das Nachdenken über die Vergangenheit war anscheinend mit daran schuld, daß sie auftraten. Darum konzentrierte sie sich auf die Gegenwart, so weit sie konnte. Das war schließlich Zen, und sie wurde darin recht gut. Es war seit Jahren ihre instinktive Überlebensstrategie gewesen. Aber ein Gipfelerlebnis... Manchmal sehnte sie sich danach; denn das, was man beinahe gesehen hatte, glaubte man schließlich wirklich gesehen zu haben. Ein presque vu würde auf sie herabsteigen, und die Welt würde jene Aura vager starker Bedeutung außerhalb ihrer Gedanken annehmen; und sie würde dastehen und drängen oder sich entspannen oder bloß versuchen zu folgen und es zu fassen — neugierig, furchtsam, hoffend. Und dann würde es verblassen und vergehen. Dennoch, eines Tages... Wenn es nur deutlich werden würde! Das könnte in der Zeit danach hilfreich sein. Und manchmal war sie so neugierig. Wie würde die Einsicht sein? Was für ein Verständnis mochte es sein, das in solchen Zeiten knapp außerhalb ihres Geistes harrte? Es fühlte sich zu real an, um bloß eine Illusion zu sein...

So nahm sie, obwohl sie erst gar nicht auf den Gedanken kam, daß es das war, was sie suchte, eine Einladung von Nirgal an, mit ihm das Olympus-Mons- Festival zu besuchen. Michel hielt das für eine großartige Idee. Einmal in jedem m-Jahr im nördlichen Frühling trafen sich Leute auf dem Gipfel von Olympus Mons nahe dem Krater Zp, um ein Fest innerhalb einer Kaskade halbmondförmiger Kuppeln, über Steinen und Kachelmosaiken zu feiern. Wie während der ersten Zusammenkunft dort, als man das Ende des Großen Sturmes feierte, als der Eis-Asteroid über den Himmel geflammt war und John von der kommenden Gesellschaft des Mars zu ihnen gesprochen hatte.

Welche Gesellschaft, fragte sich Maya, als sie in einem Waggon den großen Vulkan hinauffuhren, hatte ihr Ziel erreicht, wenigstens zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten? Jetzt, hier, hier sind wir. Auf Olympus, bei Ls in jedem Jahr, zum Gedenken an Johns Versprechen und zur Feier dieser Errungenschaft. Bei weitem die größere Anzahl der Feiernden waren junge Eingeborene; aber es gab auch eine Menge neuer Einwanderer, die heraufgekommen waren, um das berühmte Festival kennenzulernen, und mit der Absicht, die ganze Woche lang eine Party zu feiern, meistens von ständigem Musizieren oder Tanzen oder beidem begleitet. Maya zog es vor zu tanzen, da sie immer noch kein anderes Instrument spielte als das Tamburin. Und sie verlor dort Michel und alle ihre anderen Freunde, Nadia und Sax, Marina, Ursula und Mary, Nirgal, Diane und alle übrigen, so daß sie mit Fremden tanzen und vergessen konnte. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf die vorbeiziehenden strahlenden Gesichter, jedes einzelne wie ein Pulsar von Bewußtsein, der rief: Ich lebe, ich lebe, ich lebe.

Ein großartiger Tanz, die ganze Nacht lang. Ein Zeichen, daß Assimilation möglich war. Die Areophanie wob ihren unsichtbaren Zauber über jeden, der auf den Planeten kam, so daß die schädliche Vergangenheit der Erde geschwächt und vergessen und die wahre Kultur des Mars zumindest in der kollektiven Schöpfung verwirklicht werden konnte. Schönheit. Aber kein Gipfelerlebnis. Dies war nicht der Ort für sie. Es war vielleicht zu sehr die tote Hand der Vergangenheit im Spiel. Die Dinge waren auf dem Gipfel von Olympus Mons zu sehr die gleichen geblieben. Der Himmel war noch immer schwarz und gestirnt und mit einem purpurnen Band um den Horizont... Rund um den gewaltigen Rand waren Herbergen errichtet worden, wie Marina sagte, zur Aufnahme von Pilgern, wenn sie um den Gipfel wanderten. Und andere Unterkünfte gab es unten in der Caldera für die Roten Kletterer, die ihre Existenz dort in der Welt sich überlappender konvexer Klippen fristeten. Seltsam, was die Leute so machten, dachte Maya, seltsam, welche Schicksale jetzt auf dem Mars realisiert wurden.

Aber nicht von ihr. Olympus Mons war zu hoch und daher zu sehr der Vergangenheit verhaftet. Es war nicht der Ort, an den sie ging, um ein Erlebnis jener Art zu haben, nach dem sie suchte.

Sie ergriff auf der Rückfahrt nach Odessa aber die Gelegenheit zu einem langen Gespräch mit Nirgal. Sie erzählte ihm von Charlotte und Ariadne und deren Sorgen; und er nickte und sprach von einigen seiner Abenteuer in der Wildnis zu ihr, von denen viele Fortschritt bei der Assimilation bekundeten. Er sagte voraus: »Wir werden am Ende gewinnen. Der Mars ist gerade jetzt das Schlachtfeld von Vergangenheit und Zukunft; und die Vergangenheit besitzt ihre Kraft, aber die Zukunft ist es, wohin wir alle gehen. In ihr steckt eine unerbittliche Macht, wie ein nach vorn ziehendes Vakuum. Das kann ich in diesen Tagen beinahe fühlen.« Und er sah glücklich aus.

Dann holten sie ihr Gepäck aus dem Stauraum über den Sitzen, und er küßte sie auf die Wange. Er war mager und hart und entglitt ihr. »Wir werden weiter daran arbeiten, nicht wahr? Ich werde dich und Michel in Odessa besuchen. Ich liebe dich.«


Natürlich fühlte sie sich dadurch besser. Kein Gipfelerlebnis, aber eine Bahnfahrt mit Nirgal, eine Chance mit diesem schwer erreichbaren Eingeborenen, ihrem überaus geliebten Sohn.

Aber nach der Rückkehr vom Berg war sie weiterhin das Opfer ihrer ›mentalen VorfalleA wie Michel sie nannte. Er wurde jedesmal besorgter, wenn sich einer ereignete. Maya merkte, daß sie ihn erschreckten, obwohl er das zu verbergen suchte. Und das war auch kein Wunder. Solche ›Vofälle‹ und andere ähnliche kamen bei vielen seiner älteren Patienten vor. Die gerontologischen Behandlungen halfen anscheinend nicht dagegen, daß sich die Erinnerungen der Menschen an ihre immer länger werdenden Vergangenheiten klammerten. Und als ihnen ihre Vergangenheiten von Jahr zu Jahr mehr entglitten und ihr Gedächtnis nachließ, traten die ›Vorfälle‹ immer häufiger auf, bis einige Leute sogar in Nervenkliniken überwiesen werden mußten.

Oder aber sie starben. Das Institut für Erste Siedler, mit dem Michel zusammenarbeitete, nahm jedes Jahr eine kleinere Gruppe von Personen auf. Auch Vlad starb in jenem Jahr. Danach zogen Marina und Ursula von Acheron nach Odessa. Nadia und Art waren schon nach West-Odessa übergesiedelt, nachdem ihre Tochter Nikki erwachsen geworden und in die Welt gezogen war. Sogar Sax Russell nahm sich ein Apartment in der Stadt, obwohl er immer noch den größten Teil des Jahres in Da Vinci verbrachte.

Für Maya waren diese Veränderungen sowohl gut als auch schlecht. Gut, weil sie all diese Leute liebte und es sich so ergab, als ob sie sich um sie scharten, was ihrer Eitelkeit wohltat. Und es war eine große Freude, ihre Gesichter zu sehen. So half sie zum Beispiel Marina, Ursula beizustehen, daß diese mit dem Verlust von Vlad fertig wurde. Es schien, als ob Ursula und Vlad irgendwie das echte Paar gewesen wären, obwohl Marina und Ursula... Nun, es gab keine Gewißheit über die drei Punkte einer menage ä trois, ganz gleich, wie sie auch zusammengesetzt war. Jedenfalls waren Marina und Ursula jetzt übrig geblieben, ein in seinem Kummer sehr enges Paar, sonst aber sehr wie die jungen eingeborenen gleichgeschlechtlichen Paare, die man in Odessa sah. Männer Arm in Arm auf der Straße, und Frauen Hand in Hand.

So freute sie sich, die beiden oder Nadia oder sonst jemanden von der alten Bande zu sehen. Aber sie konnte sich nicht immer an die Ereignisse erinnern, die sie als unvergeßlich erörterten. Und das war beunruhigend. Eine andere Art von Jamals vu, ihr eigenes Leben. Nein, es war besser, sich auf den Moment zu konzentrieren, hinunter zu gehen und am Wasser zu arbeiten oder an der Beleuchtung des aktuellen Stückes oder in den Bars zu sitzen und mit neuen Freunden von der Arbeit zu plaudern oder auch mit völlig Fremden. Zu warten, daß die Erleuchtung eines Tages kommen würde...

Samantha starb. Dann Wasili. Oh, es lagen zwei oder drei Jahre dazwischen; aber dennoch schien sich das Häufigkeitsmuster nach den langen Dekaden, in denen niemand von ihnen gestorben war, zu beschleunigen. Sie überstanden diese Leichenbegräbnisse so gut sie konnten. Inzwischen wurde alles dunkler, als auf der Corniche ein schwarzer Windstoß über dem Hellespont heranrückte. Die Nationen der Erde schickten immer noch illegale Einwanderer und landeten sie. Die UN drohten noch immer. China und Indonesien gingen sich plötzlich gegenseitig an die Kehle, und Rote Saboteure jagten immer aggressiver die neuen Einrichtungen in die Luft — ohne Unterschied, rücksichtslos und mörderisch. Dann kam Michel eines Tages schwer bekümmert die Treppe herauf: »Yeli ist gestorben.«

»Was? Nein, o nein!«

»Eine Art von Herzarhythmie.«

»O mein Gott!«

Maya hatte Yeli seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen; aber noch einen der restlichen Ersten Hundert zu verlieren, die Möglichkeit zu verlieren, Yelis schüchternes Lächeln wiederzusehen... nein. Sie hörte den Rest von dem, was Michel sagte, nicht, weniger aus Kummer als aus Erregung. Oder Kummer über sich selbst.

»Das wird nun immer öfter passieren«, sagte sie schließlich, als sie merkte, daß Michel sie anstarrte.

Er seufzte. »Kann sein.«

Wieder kamen die meisten der noch überlebenden Mitglieder der Ersten Hundert zur Trauerfeier nach Odessa, die Michel organisiert hatte. Maya erfuhr durch diese Anrufe viel über Yeli, das meiste von Nadia. Er hatte Underhill verlassen und war schon früh nach Lasswitz gezogen. Er hatte geholfen, die zerstörte Stadt wieder aufzubauen und war ein Experte für Reservoir-Hydrologie geworden. Im Jahre ’61 war er mit Nadia gewandert. Bestrebt, Reparaturen auszuführen und sich aus den Unruhen herauszuhalten. Aber in Cairo, wo Maya ihn kurz gesehen hatte, wurde er von den anderen getrennt und es gelang ihm nicht, hinab durch Marineris zu fliehen. Zu jener Zeit hatte man angenommen, er sei damals getötet worden wie Sasha. Aber tatsächlich hatte er überlebt, so wie die meisten Menschen in Cairo. Und nach der Revolte war er nach Sabishii hinuntergezogen, hatte mit dem Untergrund Verbindung aufgenommen und geholfen, Sabishii zur Hauptstadt der Demimonde zu machen. Er hatte eine Weile mit Mary Dunkel zusammengelebt; und als Sabishii von der UNTA geschlossen wurde, waren er und Mary durch Odessa gekommen. Sie waren zur Feier des fünfzigsten Marsjahres dort gewesen. Das war das letzte Mal, daß Maya sich erinnern konnte, ihn gesehen zu haben, genau wie alle Russen in der Gruppe, die die alten Trinksprüche ausgebracht hatte. Danach waren er und Mary aufgebrochen, wie Mary sagte; und war nach Senzeni Na gezogen und dort einer der Anführer in der Zweiten Revolution geworden. Als Senzeni Na sich in der Allianz von Ost-Tharsis mit Nicosia, Sheffield und Cairo zusammenschloß, war er hinaufgegangen, um in Sheffield zu helfen. Dann war er nach Senzeni Na zurückgekehrt und hatte im ersten unabhängigen Stadtrat gedient und war langsam einer der Großväter der dortigen Gemeinschaft geworden, wie viele der Ersten Hundert anderswo auf dem Mars. Er hatte eine Nisei aus Nigeria geheiratet, und sie hatten einen Jungen gehabt. Er war zweimal nach Moskau gereist und war ein beliebter Kommentator für russische Videos gewesen. Zuletzt hatte er mit Peter am Projekt des Argyre-Beckens gearbeitet und einige große Reservoirs unter den Charitum Montes geleert, ohne die Oberfläche zu schädigen. Eine auf Callisto lebende Urenkelin war schwanger. Dann war er eines Tages bei einem Picknick auf der Halde des Moholes von Senzeni Na zusammengebrochen, und sie hatten ihn nicht wiederbeleben können.

So gab es nur noch die Ersten Achtzehn. Obwohl Sax eine provisorische Vermutung wagte, daß es noch sieben mehr sein könnten, wenn Hirokos Gruppe noch irgendwo existierte. Maya hielt das für eine Phantasievorstellung, für ausgesprochenes Wunschdenken; aber andererseits neigte Sax nicht zu so etwas. Vielleicht war also doch etwas daran. Jedenfalls waren es mit Sicherheit noch achtzehn, und die jüngste von ihnen, Mary, (sofern nicht Hiroko noch am Leben war) zählte jetzt 212 Jahre. Ann, die älteste, war 226. Maya selbst war 221, eine deutliche Absurdität; aber so stellte es sich im Jahr 2206 nach den terranischen Nachrichten dar...

»Es gibt aber Menschen in ihren zweihundertfünfzigern«, erklärte Michel, »und die Behandlungen könnten sehr wohl noch recht lange wirken. Es könnte auch nur ein ungünstiger Zufall sein.«

»Vielleicht.«

Jeder Todesfall schien ein Stück von ihm abzuschneiden. Er wurde immer finsterer, was Maya irritierte. Ohne Zweifel dachte er immer noch, er hätte in der Provence bleiben sollen, die die Erfüllung seiner Wünsche darstellte. Diese imaginäre Heimat, welche es immer noch gab, entgegen der offenkundigen Tatsache, daß der Mars seine Heimat war und es vom Augenblick ihrer Landung an gewesen war. Oder von dem Moment an, da er Hiroko traf oder da er ihn als Junge das erste Mal am Himmel gesehen hatte! Niemand konnte sagen, wann das geschehen war. Aber der Mars war seine Heimat, und das war allen außer ihm selbst klar. Und dennoch sehnte er sich nach der Provence. Maya war beides für ihn: sein Exil und sein Land im Exil. Ihre Brüste waren die Berge, ihr Leib das Tal, ihr Geschlecht der Strand und das Meer der Provence. Natürlich war es ein unmögliches Projekt, daß die Heimat auch der sexuelle Partner eines Menschen sein konnte; aber das war sowieso alles Nostalgie, und da Michel unmögliche Projekte für gut hielt, kamen sie im allgemeinen auch immer zustande. Ein Teil ihrer Beziehung. Wenn auch manchmal eine schreckliche Last für sie. Und das nie mehr als dann, wenn der Tod eines der Ersten Hundert ihn zu ihr trieb und damit zu den Gedanken an die Heimat.

Sax war durch eine Leichenfeier oder einen Gedenkgottesdienst immer verärgert. Er fühlte offenbar ganz deutlich, daß der Tod eine grobe Zumutung war, ein flagrantes Stück des großen unerklärlichen Flatterns einer roten Flagge vor seinem Gesicht. Er konnte nichts dagegen tun. Es war ein wissenschaftliches Problem, das noch seiner Lösung harrte. Aber selbst er war durch die mannigfachen Manifestationen des raschen Verfalls überrascht, die sich in ständiger Wandlung befanden, mit Ausnahme der Geschwindigkeit ihrer Wirkung und des Fehlens einer klaren Ursache. Ein Wellenzusammenbruch wie ihr Jamals vu, eine Art von jamais vlvre. Die Theorien waren endlos und unbrauchbar. Es war ein vitales Anliegen für die Alten und auch für die Jüngeren, die damit rechneten, genauso alt zu werden, mit anderen Worten: für jeden. Und darum gab es intensive Studien. Aber bisher wußte noch niemand sicher, was den raschen Verfall bewirkte, und ob es sich überhaupt um eine einzige isolierbare Ursache handelte. Und die Sterbefälle nahmen kein Ende.

Für Yelis Totenfeier hatten sie einen Teil seiner Asche wieder in einen schnell aufsteigenden Ballon gefüllt und starteten ihn von dem gleichen Punkt des Wellenbrechers wie bei Spencer. Dabei standen sie draußen, wo sie zurückblicken und über ganz Odessa schauen konnten. Danach zogen sie sich in die Wohnung von Maya und Michel zurück. Praxis hielt sie jetzt beisammen. Sie sahen Michels Skizzenbücher an und sprachen über Olympus Mons und Underhill. Die Vergangenheit. Maya ignorierte all das und servierte ihnen Tee und Gebäck, bis nur noch Michel, Sax und Nadia in dem Apartment waren. Der Leichenschmaus war vorbei, sie konnte sich entspannen. Sie blieb am Küchentisch stehen, legte Michel eine Hand auf die Schulter und blickte darüber weg auf ein grobgekörntes Schwarzweißfoto, das Flecken hatte, die von Spaghettisoße und Kaffee herrühren mochten. Das verblaßte Bild eines jungen Mannes, der mit einem zuversichtlichen wissenden Lächeln direkt in die Kamera grinste.

»Was für ein interessantes Gesicht!« sagte sie.

Michel versteifte sich. Nadia machte ein betroffenes Gesicht. Maya merkte, daß sie etwas Falsches gesagt hatte. Selbst Sax sah etwas verlegen und fast bestürzt drein. Maya starrte unentwegt auf den jungen Mann auf dem Foto. Ihr fiel nichts dazu ein.

Sie verließ die Wohnung und ging die steilen Straßen von Odessa hoch, vorbei an den getünchten Häusern und den türkisfarbenen Jalousien und Fensterläden, den Katzen und den Terrakottablumenkästen, bis sie ganz oben angelangt war und viele Kilometer weit über die indigofarbene Fläche der Hellas-See blicken konnte. Beim Gehen weinte sie, ohne zu wissen weshalb. Eine seltsame Trostlosigkeit. Und dennoch war auch das schon einmal geschehen.

Etwas später befand sie sich im westlichen Teil der oberen Stadt. Dort war der Park des Paradeplatzes, wo sie The Blood Knot aufgeführt hatten. Oder war es The Winter’s Tale gewesen? Ja, The Winter’s Tale. Aber dort würde es für sie keine Rückkehr ins Leben geben.

Na schön. Hier war sie nun. Sie ging langsam die langen Treppenalleen hinunter, immer weiter nach unten in Richtung ihres Hauses, und dachte über Bühnenstücke nach. Ihre Stimmung wurde im Hinuntergehen etwas leichter. Am Tor stand ein Ambulanzwagen. Sie fühlte sich kalt, als ob man sie mit Eiswasser übergössen hätte. Sie wandte sich ab und ging an dem Haus vorbei und weiter nach unten zur Corniche.

Sie ging in der Corniche auf und ab, bis sie zum Gehen zu müde war. Dann setzte sie sich auf eine Bank. Ihr gegenüber spielte in einem Straßencafe ein Mann sein wimmerndes Bandoneon, ein kahler Alter mit einem weißen Schnurrbart, Tränensäcken, runden Backen und roter Nase. Seine traurige Musik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Die Sonne ging gerade unter, und die See war fast still. Die riesige Fläche schimmerte in jenem zähen glasigen Glanz, den flüssige Oberflächen manchmal entfalteten. Alles erschien so orange wie die über den Bergen im Westen verschwindende Sonne. Sie lehnte sich entspannt zurück und fühlte die Meeresbrise auf der Haut. Über ihr schwebten Möwen. Plötzlich erschien die Farbe des Meeres vertraut, und sie erinnerte sich, wie sie von der Ares auf den gefleckten orangefarbenen Ball hinuntergeschaut hatte, welcher der Mars gewesen war, der unberührte Planet. Der unter ihnen nach ihrer Ankunft im Orbit dahingerollt war als ein Symbol für die ewige Möglichkeit auf Glück. Sie war seither nie glücklicher gewesen als damals.

Und dann überkam sie wieder das Gefühl, die vorepileptische Aura des presque vu, die glitzernde See, eine weite Bedeutsamkeit, die alles übergoß, überall immanent war, sich aber knapp außerhalb der Reichweite des Bewußtseins hielt, und auf den Dingen lastete ... Mit einem leichten Ruck kam sie darauf. Daß der eigentliche Aspekt des Phänomens dieses selbst war, daß die Bedeutung von allem immer knapp außer Reichweite lag, in der Zukunft, und sie vorwärts zog. Daß man in besonderen Momenten diesen gezeitenartigen Zug des Werdens wie einen Eindruck scharfer glücklicher Vorwegnahme empfand, wie sie ihn gehabt hatte, als sie aus der Ares auf den Mars hinunterblickte, wobei ihr unbewußter Sinn nicht von dem Abfall einer toten Vergangenheit erfüllt war, sondern von den unvorhersehbaren Möglichkeiten der lebendigen Zukunft. Ja, alles konnte geschehen, einfach alles. Und als so das presque vu langsam von ihr wich, ungesehen und dennoch diesmal verstanden, saß sie erfüllt und strahlend auf der Bank. Hier war sie schließlich und endlich angelangt, und das Potential des Glücks würde immer in ihr sein.

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