In letzter Minute kam Nirgal nach Sheffield herauf. Er nahm vom Bahnhofaus die U-Bahn zum Sockel, ohne nach links oder rechts zu sehen. In den großen Hallen der Muffe ging er zur Abfahrtlounge. Und da war sie.
Als sie ihn erblickte, freute sie sich, daß er gekommen war, war aber verwirrt, weil er so spät kam. Es warfast Zeit zu gehen für sie. Am Kabel hinauf, hoch ein Shuttle, hinaus zu einem der frisch ausgehöhlten Asteroiden. Dieser war besonders groß und luxuriös. Und dann schon wieder fort und weiter. Beschleunigung einige Monate lang mit einer der auf dem Mars entsprechenden Schwere, bis er mit einigen Prozenten der Lichtgeschwindigkeit dahintreiben konnte. Denn dieser Asteroid war ein Sternenschiff; und sie waren unterwegs zu einem Stern nahe Aldebaran, wo ein dem Mars ähnlicher Planet in einem der Erde ähnlichen Orbit um eine Sol ähnliche Sonne rollte. Eine neue Welt, ein neues Leben. Und Jackieflog mit.
Nirgal konnte das immer noch nicht ganz glauben. Er hatte erst vor zwei Tagen die Mitteilung bekommen und seither nicht geschlafen, als er sich zu entscheiden suchte, ob das eine Rolle spielte, ob es ein Teil seines Lebens war, ob er sie verabschieden sollte, ob er versuchen sollte, ihr das auszureden.
Als er sie jetzt sah, konnte er ihr nicht abraten. Sie war im Aufbruch begriffen. Ich will etwas Neues ausprobieren, hatte sie in ihrer Nachricht gesagt, einer Stimmaufzeichnung ohne visuelles Bild. Da kam von seinem Handgelenk ihre Stimme: Es gibt hier für mich nichts mehr. Ich habe meinen Teil beigetragen. Ich will etwas Neues versuchen.
Die Gruppe im Sternenschiff war größtenteils von Dorsa Brevia. Nirgal hatte Charlotte angerufen, um herauszubekommen, warum. Charlotte sagte: Es ist kompliziert. Es gibt eine Menge Gründe. Dieser Planet, zu dem sie gehen, ist verhältnismäßig nahe undfürs Terraformen bestens geeignet. Die Menschheit tut hier einen großen Schritt. Den ersten Schritt zu den Sternen.
Ich weiß, hatte Nirgal gesagt. Es waren schon eine ganze Anzahl Sternenschiffe zu anderen aussichtsreichen Planeten gestartet. Der Schritt war schon gemacht worden.
Aber dieser Planet ist immer noch der beste. Und in Dorsa Brevia fragen sich die Leute, ob wir nicht diesen Abstand von der Erde für einen neuen Anfang nutzen sollten. Der härteste Teil ist das Verlassen der Erde. Undjetzt sieht es wieder schlimm aus. Diese nicht genehmigten Einwanderungen könnten der Anfang einer Invasion sein. Und wenn man glaubt, der Mars sei die neue demokratische Gesellschaft und die Erde der alte Feudalismus, dann kann der Zustrom so gedeutet werden, als ob das Alte das Neue erdrücken wollte, ehe es zu groß wird. Sie sind uns im Verhältnis von zwanzig Milliarden zu zwei zahlenmäßig überlegen. Darum überlegen die Leute in Dorsa Brevia, ob sie etwas mehr Distanz gewinnen können. Zum Aldebaran sind es nur zwanzig Jahre, und sie werden lange leben. Darum macht das eine Gruppe von ihnen. Familien, Familiengruppen, Paare ohne Kinder, kinderlose Einzelpersonen. Es ist wie bei den Ersten Hundert, die zum Mars gingen, wie in den Tagen von Boone und Chalmers.
Und so saß Jackie nun auf dem Teppichboden der Abfluglounge, und Nirgal war bei ihr. Sie blickte nach unten. Sie glättete den Teppich mit der Hand und zeichnete Figuren oder Buchstaben in das Gewebe. Sie schrieb: Nirgal.
Er setzte sich neben sie. Die Lounge war voll, aber es herrschte Ruhe. Die Menschen sahen ernst, blaß, erregt, nachdenklich oder strahlend aus. Durch ein breites Fenster schauten sie in das Innere der Sockelmuffe, wo Aufzugswaggons an den Wänden lehnten und der Fuß des 37000 Kilometer langen Kabels zehn Meter über dem Betonboden schwebte.
Also gehst du, sagte Nirgal.
Ja, sagte Jackie. Ich will einen Neubeginn versuchen.
Nirgal sagte nichts.
Es wird ein Abenteuer, sagte sie.
Gewiß. Er wußte nicht, was er sonst sagen sollte.
In den Teppich schrieb sie: Jackie Boone went to the Moon.
Es ist eine erhabene Idee, wenn man es bedenkt, sagte sie. Die Menschheit breitet sich in die Galaxis aus. Stern um Stern, immer weiter nach draußen. Das ist unsere Aufgabe. Ich habe Gerüchte gehört, daß Leute sagten, Hiroko sei längst dort draußen. Sie und ihr Volk hätten eines der ersten Sternenschiffe bestiegen, die zu Barnards Stern flogen. Um eine neue Welt in Angriff zu nehmen. Viriditas zu verbreiten.
Das ist so wahrscheinlich wie jede andere Geschichte, erwiderte Nirgal. Und es stimmte. Er konnte sich vorstellen, daß Hiroko es tat, wieder startete, sich mit der neuen Diaspora, der neuen Menschheit zwischen den Sternen zusammentat. Erst Besiedlung der nahen Planeten und dann von dort aus weiter. Ein Schritt aus der Wiege. Das Ende der Vorgeschichte.
Er starrte ihr Profil an, während sie auf den Teppich schrieb. Dies war der Moment, da er sie zum letzten Mal sehen würde. Pur jeden von ihnen beiden war es so, als ob der andere stürbe.
Das traffür viele der Paare zu, die in diesem Raum schweigend beisammen hockten. Diese Leute mußten jeden verlassen, den sie kannten.
Und das war das Erste Hundert. Das war es, warum sie -alle so seltsam gewesen waren. Sie waren gewillt, die Menschen zu verlassen, die sie kannten, um mit neunundneunzig Fremden fortzugehen. Einige von ihnen waren berühmte Wissenschaftler gewesen, und alle dürften Eltern gehabt haben. Aber keiner von ihnen hatte Kinder gehabt, keiner war verlobt gewesen, mit Ausnahme der drei Ehepaare, die zu den Ersten Hundert gehört hatten. Kinderlose Singles mittleren Alters, bereit für einen neuen Anfang. Das waren sie gewesen. Und jetzt war Jackie wieder so: kinderlos, ohne Partner.
Nirgal wandte den Blick ab und schaute zurück. Da war sie, frisch in dem Licht. Ein feiner Glanz auf ihrem schwarzen Haar. Sie schaute zu ihm auf und dann wieder nach unten. Sie schrieb: Wo immer du auch hingehst, da bist du.
Sie blickte wieder zu ihm auf undfragte: Was meinst du, was uns passiert ist?
Ich weiß es nicht.
Sie saßen da und blickten beide auf den Teppich. Durch das Fenster war zu sehen, wie in der Kabelkammer ein Aufzugswaggon über den Boden schwebte, in aufrechter Stellung, als bewegte er sich über eine Piste auf das Kabel zu. Er koppelte an, und eine Gangivay klappte heraus und umschloß seine andere Seite.
Geh nicht! wollte er sagen. Geh nicht! Verlaß diese Welt nicht für immer! Verlaß mich nicht! Erinnerst du dich an die Zeit, als die Sufis uns getraut haben? Erinnerst du dich an die Zeit, als wir uns in der Wärme eines Vulkans geliebt haben? Erinnerst du dich an Zygote?
Er sagte nichts. Sie erinnerte sich.
Ich weiß es nicht.
Er langte hinunter und rieb den Flor des Teppichs so, daß er die letzten beiden Worte auswischte. Mit dem Zeigefinger schrieb er: sind wir.
Sie lächelte wehmütig. Was waren Worte gegen all diese Jahre?
Die Lautsprecher verkündeten, daß der Aufzug zur Abfahrt bereit sei. Die Leute standen auf und redeten mit erregten Stimmen. Nirgal stand Jackie gegenüber. Sie schaute ihm in die Augen. Er drückte sie fest an sich. Das war ihr Körper in seinen Armen, so real wie Fels. Ihr Haar in seinen Nasenlöchern. Er holte Luft und hielt den Atem an. Ließ sie los. Sie ging ohne ein Wort. Am Eingang zur Gangway blickte sie einmal zurück. Ihr Gesicht. Und dann war sie fort.
Später erhielt er aus dem Weltraum eine gedruckte Radiomitteilung: Wo immer du auch hingehst, da sind wir. Das stimmte nicht. Aber erfühlte sich dadurch besser. Soviel konnten Worte ausrichten. Na schön, sagte er sich, als er seine Tage mit Wanderungen auf dem Planeten verbrachte, jetzt bin ich unterwegs zum Aldebaran.
Die nördliche Polinsei hatte vielleicht mehr Umformung erfahren als jede andere Landschaft auf dem Mars. Das hatte Sax läuten gehört, und nun spazierte er auf einer Klippe am Rande des Chasma-Borealis- Flusses und sah selbst, was das bedeutete. Die Polkappe war etwa zur Hälfte geschmolzen, und die massiven Eiswände des Chasmas waren fast verschwunden, was ein Auftauen bewirkt hatte, wie es auf dem Mars seit dem frühen Hesperian keines mehr gegeben hatte. Und dieses ganze Wasser war in jedem Frühling und Sommer über die geschichteten Sand- und Lößgebiete gerauscht und hatte sie mit großer Gewalt durchschnitten. Die Senken im Gelände waren zu tiefen Canyons mit Sandwänden ausgewaschen worden, die sich flußabwärts in sehr instabilen Wasserläufen zum Nordmeer hinzogen, im Frühling Schmelzwasser kanalisierten und sich rasch verlagerten, wenn Abhänge und Erdrutsche kurzlebige Seen schufen, ehe die Hindernisse durchschnitten und ihrerseits weggeschwemmt wurden, wobei nur noch Strandterrassen und Rutschlöcher übrigblieben.
Sax blieb stehen und schaute in eines dieser Rutschlöcher hinunter. Er berechnete, wieviel Wasser sich in dem See angesammelt haben mußte, ehe der Damm gebrochen war. Man durfte nicht zu nahe an der Kante des Ausgucks zu stehen kommen, weil die neuen Canyonränder keineswegs stabil waren. Es waren einige Pflanzen zu sehen. Nur hie und da gab es einen Streifen blasser Flechtenfarbe, der etwas Abwechslung neben den mineralischen Tönen bot. Der River Borealis war ein breites Sumpfgebiet voller bewegter Gletschermilch mehr als zweihundert Meter unter ihm. Zuflüsse schnitten weniger tief in abschüssige Täler ein und entluden ihre Fracht in trüben Wasserfällen wie Ergüsse dünner Farbe.
Oberhalb der Canyons war nun, was einst der Boden von Chasma Borealis gewesen war: ein Plateau, von Nebenflüssen durchschnitten in einem Muster wie Adern in einem Blatt. Das war ursprünglich geschichtetes Terrain gewesen und sah jetzt aus, als wären künstlich Höhenlinien in die Landschaft ziseliert worden; und die Schnitte sahen aus, als wären die Kurvenlinien viele Meter tief eingeritzt worden, als hätte die Karte das Gelände bis in große Tiefe markiert.
Es war fast Mittsommer, und die Sonne zog nahezu Tag und Nacht über den Himmel. Wolken lösten sich im Norden vom Eis. Wenn die Sonne am tiefsten stand, entsprechend der Mitte das Nachmittags, trieben diese Wolken in dicken Nebeln südwärts zum Meer, die bronze, purpur- oder fliederfarben oder in anderen wechselnden zarten Farbtönen schimmerten. Vereinzelte Fjellfeldblumen verzierten das geschichtete Plateau und erinnerten Sax an den Arena-Gletscher, jene Landschaft, die lange vor seinem Unfall seine Aufmerksamkeit erregt hatte. An diese erste Begegnung konnte Sax sich nur mit Mühe erinnern; sie hatte sich aber offenbar auf die Weise eingeprägt, in der Gänseküken die erste Kreatur, die sie sehen, als ihre Mutter betrachten. Es gab große Wälder in den gemäßigten Zonen, wo Bestände an Riesensequoien das Unterholz aus Kiefern beschatteten. Es gab eindrucksvolle Meeresklippen, in denen große Schwärme schreiender Vögel hausten. Es gab Terrarien von Kraterdschungeln aller Art, und in den Wintern die endlosen Flächen von Sastrugi-Schnee. Es gab Schluchten wie vertikale Welten, große Wüsten mit rotem, sich verlagerndem Sand, Vulkanhänge aus schwarzem Geröll. Es gab jede Art von Biom, egal wie groß und klein. Aber Sax war diese karge Biolandschaft am liebsten.
Er ging weiter über die Felsen. Sein kleiner Wagen folgte ihm, so gut er konnte, und überquerte die Zuflüsse des Borealis-Stroms oberhalb bei den ersten Wagenfurten. Das sommerliche Blühen, obwohl schwer zu erkennen, wenn man mehr als zehn Meter entfernt war, war dennoch intensiv farbig und auf seine Weise ebenso eindrucksvoll wie der Regenwald. Der von diesen Pflanzen erzeugte Boden war nur sehr dünn und würde bestenfalls langsam dicker werden. Und es war schwierig, ihn zu vermehren, denn jeder in die Canyons fallende Boden gelangte schließlich in das Nordmeer. Auf dem geschichteten Terrain waren die Winter so rauh, daß Boden wenig nützte, da er nur ein Teil des Permafrostes wurde. Also ließ man die Fjellfelder in ihrem eigenen langsamen Tempo zu Tundren werden und sparte den Boden für erfolgversprechendere Regionen im Süden auf. Sax fand das richtig. Es beließ jedem für viele kommende Jahrhunderte das Erlebnis des ersten Areobioms, in all seiner Kargheit und Unirdischkeit.
Sax stapfte über das Geröll und beachtete jedes pflanzliche Leben unter seinen Füßen. Dabei wandte er sich seinem Wagen zu, der inzwischen zu seiner Rechten außer Sicht geraten war. Die Sonne hatte ziemlich genau die gleiche Höhe, die sie den ganzen Tag gehabt hatte. Von der tiefen Senke, wo der neue schmale Fluß von Chasma Borealis dem Lauf des breiten alten folgte, entfernt, war es sehr schwer, die Orientierung zu behalten. Norden könnte überall im Bereich von 180 Grad liegen — im Grunde ›hinter ihm‹. Und es würde nicht helfen, aufs Geratewohl auf das Nordmeer zu zumarschieren, weil Polarbären an dieser Küste sehr gut gediehen und Seehunde und umherstreifende Krähen töteten.
Darum machte Sax einen Moment Pause und befragte die Karte an seinem Handgelenk, um seinen genauen Standort zu bestimmen. Er hatte in diesen Tagen ein sehr gutes Kartenprogramm in seinem Handy. Er stellte fest, daß er sich auf 31,63844° Länge und 84,89926° nördlicher Breite befand, plus oder minus ein paar Meter. Sein Wagen stand bei 31,64114 und 84,86857. Wenn er wie auf einer ausgezeichneten natürlichen Treppe auf die Spitze dieses kleinen brotlaibartigen Buckels im Westnordwesten kletterte, müßte er ihn sehen können. Jawohl, da rollte er in lässigem Marschtempo dahin. Und da, in den Ritzen dieses Brotlaibs (um diese anthropomorphe Analogie zu benutzen) gab es etwas kleinen rötlichen Steinbrech, der hartnäckig im Schütze des geborstenen Steines hockte.
Etwas an diesem Bild war so befriedigend: Das geschichtete Terrain, der Steinbrech im Licht, der kleine Wagen, der sich auf das Rendezvous zum Dinner mit ihm zubewegte, die angenehme Müdigkeit in seinen Füßen und dann noch etwas Undefinierbares, wie er zugeben mußte. Es war nicht zu erklären, wieso die einzelnen Elemente des Erlebnisses nicht ausreichten, um das Vergnügen daran zu begründen. Eine Art von Euphorie. Er nahm an, es sei Liebe. Der Geist des Ortes, die Liebe zum Ort, die Areophanie — nicht nur, wie Hiroko sie beschrieben hatte, aber vielleicht, wie sie sie auch erfahren hatte. Ah, Hiroko, konnte sie dies wirklich die ganze Zeit als so schön empfunden haben? Eine gesegnete Kreatur. Kein Wunder, daß sie eine solche Aura ausgestrahlt, eine solche Gefolgschaft gefunden hatte. Schön, diesem Glück nahe zu sein, zu lernen, es selbst zu empfinden... Liebe zum Leben des Planeten. Sicher war die biologische Komponente der Szene ein kritischer Bestandteil der Zuneigung. Selbst Ann hätte das, stünde sie jetzt neben ihm, sicher zugeben müssen. Eine interessante Hypothese, die man prüfen sollte. Ann, sieh dir diesen purpurnen Steinbrech an! Sieh, wie er irgendwie den Blick auf sich zieht! Das Interesse wird im Zentrum der krummlinigen Landschaft fixiert. Und so auch die spontan entstandene Liebe.
Dieses erhabene Land schien ihm eine Art Bild des Universums selbst zu sein, zumindest in seiner Beziehung von Leben zu Nichtleben. Sax war den biogenen Theorien von Deleuze gefolgt, einem Versuch, im kosmologischem Maßstab zu mathematisieren. Anders als Hirokos Viriditas. Soweit Sax sehen konnte, behauptete Deleuze, daß Viriditas beim Urknall eine fadenförmige Kraft gewesen wäre, ein komplexes Grenzphänomen zwischen Kräften und Partikeln, das vom Urknall als reine Möglichkeit auswärts strahlte, bis Planetensysteme der zweiten Generation die volle Palette schwerer Elemente angesammelt hatten. An dieser Stelle war Leben entsprungen, in den ›kleinen Urknallen‹, hervorgebrochen am Ende jedes Fadens von Viriditas. Es hatte nicht allzu viele Fäden gegeben, und sie waren gleichmäßig im Weltall verteilt gewesen. Der galaktischen Verklumpung folgend und sie zum Teil gestaltend. Dadurch war jeder Faden von den anderen so weit entfernt wie nur irgend möglich. Darum waren alle Inseln mit Leben in der Raumzeit weit voneinander getrennt. Das machte einen Kontakt zwischen zwei beliebigen Inseln sehr unwahrscheinlich, weil das alles späte Phänomene in großer Distanz vom Rest waren. Sie hatten keine Zeit für Kontakt gehabt. Diese Hypothese schien, wenn sie stimmte, Sax eine mehr als ausreichende Erklärung für das Versagen der SETI zu sein. Jenes Schweigen der Sterne, das jetzt schon fast vierhundert Jahre andauerte. Ein Wimpernschlag im Vergleich mit der Milliarde Lichtjähre, durch die laut Deleuze alle Inseln des Lebens voneinander getrennt sein sollten.
Also existierte Viriditas im Weltall wie dieser kleine Steinbrech auf den großen Sandkurven der Polarinsel: klein, isoliert, großartig. Sax sah vor sich ein gekrümmtes Universum, aber Deleuze behauptete, daß sie in einem flachen Universum lebten, auf dem Scheitelpunkt zwischen ständiger Expansion und dem Modell wechselnder Expansion und Kontraktion in delikatem Gleichgewicht. Und er behauptete auch, daß der Umkehrpunkt, wenn das Universum entweder anfinge zu schrumpfen oder aber sich über alle Möglichkeit des Schrumpfens hinaus ausdehnen würde, der Gegenwart sehr nahe zu sein schien! Das machte Sax mißtrauisch, ebenso wie Deleuzes Implikation, daß man die Materie in der einen oder anderen Richtung beeinflussen könnte. Wenn man auf den Boden stampfte, würde man das Weltall der Auflösung und dem Hitzetod näherbringen, oder man hielte den Atem an und würde alles nach innen ziehen zu dem unvorstellbaren Punkt des Eskhaton. Nein! Das erste Gesetz der Thermodynamik machte dies neben vielen anderen Überlegungen zu einer kosmologischen Halluzination, dem Existentialismus eines kleinen Gottes. Vielleicht ein psychologisches Resultat der jäh vergrößerten physischen Kräfte der Menschheit. Oder Deleuze tendierte selbst zum Größenwahn. Er dachte, er könnte alles erklären.
Tatsächlich war Sax mißtrauisch gegenüber der ganzen derzeitigen Kosmologie, die die Menschheit ins Zentrum der Dinge stellte, eine Zeit nach der anderen.
Das erweckte bei Sax den Eindruck, als ob all diese Formulierungen nur künstliche Gebilde menschlicher Phantasie wären, und das starke anthropische Prinzip wie Farbe in alles einsickerte, was sie sahen. Obwohl er einräumen mußte, daß manche Beobachtungen einen sehr soliden Eindruck machten und nur schwer als ständiges Eindringen menschlicher Begriffe oder bloßer Zufall zu deuten waren. Natürlich war es schwer zu glauben, daß Sonne und Mond von der Erde aus genau gleich erscheinen sollten; aber es war so. Es gab Koinzidenzen. Aber die meisten dieser anthropozentrischen Merkmale schienen für Sax nur die Grenzen menschlichen Verstehens zu markieren. Es gab sehr wahrscheinlich Dinge, die größer waren als das Universum, und andere, die kleiner waren als Strings — manche noch größer als das Plenum, bestehend aus noch kleineren Bestandteilen. All das lag jenseits menschlicher Vorstellungskraft, sogar mathematisch gesehen. Wenn das wahr wäre, so könnte es manche der Unstimmigkeiten in Baos Gleichungen erklären. Wenn man einräumte, daß die vier Makrodimensionen der Raumzeit in Beziehung zu einigen größeren Dimensionen stünden, so wie sich die sechs Mikrodimensionen zu den vier gewöhnlichen verhielten, dann könnten die Gleichungen ganz prächtig funktionieren. Er hatte die Vision einer möglichen Formulierung, gerade hier.
Er stolperte und gewann das Gleichgewicht wieder. Wieder eine kleine Sandbank, vielleicht dreimal so groß wie eine normale. Okay — hinauf und zum Wagen! Worüber hatte er gerade nachgedacht?
Er konnte sich nicht entsinnen. Er hatte etwas Interessantes gedacht. Das wußte er. Es hatte sich etwas ausgedacht, so in etwa. Aber so sehr er sich bemühte, er konnte sich nicht erinnern, was es gewesen war. Es steckte im Hintergrund seines Geistes wie ein Stein im Schuh. Es lag ihm etwas auf der Zunge, das nicht durchkam. Höchst lästig, sogar zum Verrücktwerden. Das war ihm schon früher einmal passiert, wie ihm schien, und in letzter Zeit öfters. War das nicht so? Er war sich nicht sicher, hatte aber das sichere Gefühl, daß es so war. Er hatte seinen Gedankengang verloren und war dann nicht imstande gewesen, ihn wieder einzufangen, so sehr er es auch versuchte.
Er erreichte seinen Wagen, ohne sich erinnern zu können, wie er zu ihm hingelangt war. Liebe des Ortes, ja; aber man mußte sich doch an Dinge erinnern, um sie zu lieben! Man mußte imstande sein, sich an die eigenen Gedanken zu erinnern! Verwirrt, trotzig klapperte er im Wagen umher, um ein Essen zuzubereiten, und verzehrte es dann, ohne es wirklich zu bemerken.
Dieser Ärger mit dem Gedächtnis brachte nichts.
Tatsächlich war es ihm, als er jetzt darüber nachdachte, schon oft passiert, daß er den Gedankenfaden verloren hatte. Er glaubte zumindest sich zu erinnern. Das war allerdings ein merkwürdiges Problem. Aber sicher hatte er den Verlust von Gedankengängen bemerkt, die im nachhinein gute Gedanken gewesen zu sein schienen. Er hatte sogar versucht, in sein Handy zu sprechen, wenn solch ein beschleunigter Gedankengang einsetzte und er fühlte, daß verschiedene Fäden sich verflochten, um etwas Neues hervorzubringen. Aber beim Akt des Sprechens brach die Geistestätigkeit ab. Er war anscheinend kein verbaler Denker; sondern es war eine Sache von Bildern, manchmal in den Sprachen der Mathematik und manchmal in einer Art unfertigem Strom, den er nicht näher charakterisieren konnte. Durch Sprechen wurde er gestoppt. Oder aber die verlorenen Gedanken waren viel weniger eindrucksvoll, als sie ihm vorgekommen waren. Denn die Handy-Aufzeichnungen enthielten nur ein paar Sätze, zögernd und ohne Zusammenhang und meistens langsam. Sie enthielten nichts von dem, was er aufzuzeichnen gehofft hatte, welches, besonders in diesem Zustand, genau das Gegenteil gewesen war — schnell, zusammenhängend, mühelos im freien Spiel des Geistes. Dieser Prozeß konnte nicht eingefangen werden. Und Sax war stark davon betroffen, wie wenig von den Gedanken eines Menschen jemals aufgezeichnet oder im Gedächtnis behalten oder auf irgendeine andere Weise anderen übermittelt werden konnte. Der Bewußtseinsstrom ließ sich niemals mit anderen teilen, abgesehen von den tatsächlichen Fingerhutportionen, selbst vom fruchtbarsten Mathematiker oder sorgfältigsten Chronisten.
Nun wohl, dieser Umstand war nur eine der vielen Bedingungen, denen sie sich in ihrem unnatürlich verlängertem hohen Alter anpassen mußten. Das war sehr lästig und bisweilen sogar ärgerlich. Ohne Zweifel mußte das Thema untersucht werden, obwohl das Gedächtnis einen notorischen Morast für die neurologischen Wissenschaften darstellte. Es hatte gewisse Ähnlichkeit mit dem Problem vom undichten Dach. Unmittelbar nach dem Verlust eines solchen Gedankenganges, wenn man sich seiner fehlenden Gestalt und der emotionalen Erregung noch bewußt war, trieb es ihn fast zum Wahnsinn. Wenn aber der Inhalt des Gedankens eine halbe Stunde später wirklich vergessen war, schien es nicht mehr wichtiger zu sein als das Entschwinden von Träumen in den Minuten nach dem Erwachen. Er hatte andere Dinge, um die er sich kümmern mußte.
Da wäre die Serie von Todesfällen unter seinen Freunden. Diesmal war es Yeli Zudov, ein Mitglied der Ersten Hundert, das er nie gut gekannt hatte. Dennoch fuhr auch er nach Odessa hinunter, und nach dem Gedenkgottesdienst, einer traurigen Angelegenheit, während der Sax oft durch Gedanken an Vlad, Spencer oder Phyllis und dann Ann abgelenkt wurde, kehrten sie zu dem Praxisgebäude zurück und saßen in Michels und Mayas Wohnung. Es war nicht dasselbe Apartment, in dem sie vor der Zweiten Revolution gelebt hatten; aber, soweit Sax sich erinnern konnte, hatte Michel sich Mühe gegeben, es genau so einzurichten, wie es damals ausgesehen hatte — wohl zur Therapie Mayas, als sie immer mehr mentale Schwierigkeiten hatte —, Sax wußte nicht, welche es zuletzt gewesen waren. Er war nie imstande gewesen, sich um die melodramatischen Aspekte Mayas zu kümmern und hatte Michels Reden über sie keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, wenn sie beide in letzter Zeit zusammenkamen. Es war immer anders und immer dasselbe.
Aber jetzt nahm er eine Tasse Tee von Maya entgegen und sah ihr nach, als sie wieder in die Küche ging, vorbei an dem Tisch, wo Michels Notizbücher ausgebreitet waren. Obenauf lag ein Foto von Frank, das Maya vor langer Zeit hochgeschätzt hatte. Sie hatte es in dem Apartment im Küchenabteil beim Ausguß an der Wand befestigt. Daran erinnerte Sax sich sehr deutlich. Es war eine Art heraldischer Zug in jenen angespannten Jahren, als alle kämpften, während der junge Frank sie auslachte.
Maya blieb stehen und sah das Foto genau an. Ohne Zweifel erinnerte sie sich an ihre früheren Toten. Jene, die vor so langer Zeit dahingegangen waren.
Aber sie sagte: »Was für ein interessantes Gesicht!«
Sax empfand einen Kälteschauer in der Magengrube. So deutlich waren die physiologischen Anzeichen des Kummers. Der Verlust des Inhalts eines spekulativen Gedankengangs, ein metaphysisches Abenteuer — das war eine Sache. Aber dies, ihre eigene Vergangenheit und die gemeinsame Vergangenheit, war unerträglich. Das würde er nicht aushalten.
Maya sah, daß die anderen schockiert waren, wußte aber nicht, warum. Nadia hatte Tränen in den Augen, was ein ungewöhnlicher Anblick war. Michel sah betroffen aus. Maya spürte, daß etwas ernstlich nicht stimmte, und floh aus dem Apartment. Niemand hielt sie auf.
Die anderen griffen das Thema auf. Nadia ging zu Michel. Der brummte mit gequälter Miene: »Ja, so ist es nun mal, diese Vorfälle häufen sich. Ich fühle es selbst. Aber für Maya...« Er schüttelte den Kopf und sah höchst entmutigt aus. Selbst Michel konnte nichts Gutes daraus machen. Michel, der bei all ihren früheren Meinungsumschwüngen seine Alchemie des Optimismus entwickelt und zu einem Teil seiner großen Story gemacht hatte, dem Mythos vom Mars, den er irgendwie aus dem täglichen Morast herausgequetscht hatte. Aber dies war der Tod der Story. Zu schwer zum Mythologisieren. Nein — das Leben, nachdem das Gedächtnis gestorben war, war eine bloße Farce, schrecklich und ohne Sinn. Man mußte unbedingt etwas unternehmen.
Sax dachte noch darüber nach. Er saß in einer Ecke, in sein Armband vertieft, und las eine Sammlung von Kurzfassungen neuerer experimenteller Arbeiten über das Gedächtnis, als er aus der Küche einen Fall und einen Schrei von Nadia hörte. Sax eilte hinaus und fand Nadia und Art über Michel gebeugt, der mit kreidebleichem Gesicht auf dem Fußboden lag. Sax rief den Pförtner; und schneller, als er es für möglich gehalten hätte, war ein Erste-Hilfe-Team mit seinen Geräten hereingestürmt und hatte Art beiseite geschoben. Große junge Eingeborene, die Michel brüsk an ihr kompaktes Apparatenetz anschlössen, wobei die Alten lediglich Zuschauer beim Kampf ihres Freundes blieben.
Sax setzte sich zu den Ärzten und legte eine Hand auf Michels Hals und Schulter. Michels Atem hatte aufgehört, ebenso der Puls. Weißes Gesicht. Die Versuche zur Wiederbelebung waren heftig. Elektroschocks wurden mit verschiedenen Stärken ausprobiert. Der anschließende Übergang zur Herz-Lungen-Maschine wurde mit minimalem Umstand vollzogen. Die jungen Ärzte arbeiteten fast stillschweigend, sprachen nur miteinander, wenn es unbedingt nötig war, und schienen die an der Wand sitzenden alten Leute nicht zu bemerken. Sie taten alles, was sie konnten, aber Michel blieb hartnäckig und mysteriöserweise tot.
Natürlich hatte er sich über Mayas Gedächtnisverlust aufgeregt. Aber das schien keine passende Erklärung zu sein. Er war sich Mayas Problem durchaus schon bewußt gewesen und hatte sich Sorgen gemacht. Darum sollte eine einzelne Bekundung ihres Problems keine Rolle gespielt haben. Ein Zufall. Ein schlimmer. Und natürlich kam ganz spät an diesem Abend, nachdem die Ärzte endgültig aufgegeben, Michel nach unten getragen hatten und jetzt ihr Gerät aufräumten, Maya zurück; und sie mußten ihr berichten, was geschehen war.
Sie war natürlich heftig erregt. Ihr Schock und ihre Angst waren für einen der jungen Ärzte zu viel, der sie zu trösten versuchte (das wird dir nicht gelingen, wollte Sax sagen; ich habe es schon selbst probiert). Er bekam prompt wegen seiner Bemühungen eine Ohrfeige, was ihn wütend machte. Er ging hinaus in den Korridor und setzte sich bedrückt hin.
Sax kam hinterher und setzte sich neben ihn. Der junge Mann weinte.
»Ich kann das nicht mehr weiter machen«, sagte er nach einer Weile. Er schüttelte den Kopf, wohl, um sich zu entschuldigen. »Es hat keinen Sinn. Wir kommen, tun alles, was wir können, aber ohne Erfolg. Nichts hält den raschen Verfall auf.«
»Worin besteht er denn?« fragte Sax.
Der junge Mann hob seine kräftigen Schultern und schniefte: »Das ist das Problem. Niemand weiß es.«
»Es muß doch sicher Theorien geben? Autopsien?«
»Herzarhythmien«, sagte einer der Ärzte knapp, der mit einem Gerät vorbeikam.
»Das ist das Symptom«, sagte der sitzende Mann und schniefte wieder. »Aber woher kommt die Arhythmie? Und warum läßt sie sich durch unsere Apparate nicht beheben?«
Niemand antwortete.
Noch ein Geheimnis, das gelöst werden mußte. Sax sah durch die offene Tür, daß Maya auf der Couch saß und weinte. Nadia saß neben ihr wie eine Statue. Plötzlich wurde es Sax klar, daß Michel, auch wenn er eine Erklärung fände, tot war und das nichts mehr ändern konnte.
Art traf mit den Ärzten Absprachen. Sax tastete auf seinem Handy herum und überflog eine Liste der Titel der Aufsätze über den raschen Verfall. Sie umfaßte 8361 Titel. Es gab Literaturzusammenfassungen und von Computern zusammengetragene Tabellen, aber nichts, das nach einer definitiven paradigmatischen Feststellung aussah. Immer noch im Stadium der Beobachtung und Ausgangshypothesen herumtappend ... In vielerlei Hinsicht ähnelte es dem Buch über Gedächtnis, das Sax schon gelesen hatte. Tod und Verstand. Wie lange hatten sie diese Probleme studiert, wie lange hatten diese Probleme widerstanden! Michel selbst hatte sich dazu geäußert und auf eine tiefergehende Mitteilung verwiesen, die die unerklärlichen Elemente deuten sollte. Michel, der Sax von der Aphasie geheilt hatte, der ihn über Teile seines Ichs unterrichtet hatte, deren Existenz er nicht einmal erahnt hatte. Michel war dahingegangen. Er würde nicht zurückkehren. Sie hatten die letzte Version seines Körpers aus dem Apartment getragen. Er war nach jedem früheren Standard ungefähr in Saxens Alter gewesen. Warum dann dieser Schmerz in Saxens Brust, dieser Schwall heißer Tränen? Das ergab keinen Sinn. Aber Michel hätte es verstanden. Besser dies als der Tod des Geistes, würde er gesagt haben. Aber Sax war sich nicht so sicher. Seine Gedächtnisprobleme erschienen jetzt weniger wichtig, genau wie die von Maya. Sie erinnerte sich immerhin genug, um zu realisieren, daß sie Schaden genommen hatte. Er auch. Er erinnerte sich an das, was wichtig war.
Eigenartig, sich zu erinnern, daß er unmittelbar vor dem Tod aller drei ihrer Gefährten in ihrer Gesellschaft gewesen war. John, Frank und jetzt Michel. Jedesmal ist es für sie schlimmer geworden. Und dasselbe galt für ihn.
Die Asche von Michel wurde in einem Ballon über das Hellas-Meer getragen und verstreut. Eine kleine Prise hoben sie auf, um sie in die Provence zu bringen.
Die Literatur über Langlebigkeit und Greisentum war so umfangreich und spezialisiert, das es für Sax zunächst schwierig war, seinen gewohnten Zugriff auf das Material zu organisieren. Neuere Arbeiten über den raschen Verfall bildeten den naheliegenden Ausgangspunkt, aber um Aufsätze über das Thema zu verstehen, mußte man auf ihre Vorgänger zurückgreifen und zu einem tieferen Verständnis der Langlebigkeitsbehandlungen als solcher zu gelangen. Dies war ein Gebiet, das Sax nie mehr als oberflächlich verstanden hatte, da er wegen seiner unordentlichen, biologisch nicht erklärbaren, geradezu wunderbaren Natur instinktiv davor zurückscheute. Wirklich ein Thema, das dem Herzen des großen Unerklärbaren sehr nahe war. Er hatte es fröhlich Hiroko und dem äußerst begabten Vladimir Taneev überlassen, der zusammen mit Ursula und Marina die ersten Behandlungen entworfen und deren Durchführung beaufsichtigt und seit damals viele bedeutende Veränderungen vorgenommen hatte.
Aber jetzt war Vlad tot. Und Sax war interessiert. Es war Zeit, in die Viriditas einzutauchen, in den Bereich des Komplexen.
Hier war ordentliches Verhalten, dort war chaotisches Verhalten. Und an der Grenze, sozusagen in ihrer Wechselwirkung, lag eine sehr ausgedehnte und verknäulte Zone, der Bereich des Komplexen. Dies war die Zone, wo Viriditas in Erscheinung trat, der Ort, wo Leben existieren konnte. Das Leben inmitten der Zone der Komplexität zu halten, war im allgemeinsten philosophischen Sinne das, worum sich die Langlebigkeitsbehandlungen bemüht hatten. Zu verhindern, daß verschiedene Einbrüche des Chaos (wie Aryhthmie) oder der Ordnung (wie bösartiges Zellwachstum) den Organismus verhängnisvoll zerstörten.
Aber inzwischen war etwas aufgetreten, das das gerontologisch behandelte Individuum von vernachlässigbarer Vergreisung zu extrem schnellem Altern überführte oder, noch verwirrender, direkt von der Gesundheit zum Tod führte — ganz ohne jedes Greisentum. Irgendein bisher nicht erkanntes Hereinbrechen von Chaos oder Ordnung in die Grenzzone des Komplexen. So erschien es ihm auf jeden Fall am Ende jeder langen Lektüresitzung der allgemeinsten Darstellungen des Phänomens, die er finden konnte. Und es schlug auch gewisse Forschungswege in der mathematischen Beschreibung der komplex-chaotischen Grenze vor, wie auch der Grenze zwischen Ordnung und Komplexität. Aber Sax verlor seine holistische Sicht des Problems in einem seiner Ausfälle, wobei der Gedankengang hinsichtlich der Substanz der Mathematik für immer verlorenging. Und wahrscheinlich (er versuchte, sich danach zu trösten) war es wohl eine allzu philosophische Sicht gewesen, um ihm irgendwie zu nützen. Die Erklärung schien schließlich doch nicht so auf der Hand zu liegen, sonst hätten die massiven konzertierten Bemühungen der medizinischen Wissenschaft es inzwischen herausgebracht. Im Gegenteil — es mußte etwas sehr Subtiles in der Biochemie des Gehirns stecken, einem Gebiet, das wie eine Hydra fünfhundert Jahren wissenschaftlicher Forschung widerstanden hatte, indem jede neue Entdeckung nur auf eine weitere Menge mysteriöser Köpfe hinwies...
Dennoch blieb er hartnäckig. Und nach einigen Wochen angespannter Lektüre verschaffte er sich gewiß eine bessere Orientierung auf dem Gebiet, als er sie je zuvor gehabt hatte. Früher hatte er den Eindruck gehabt, daß die Langlebigkeitsbehandlung auf einer recht einfachen Injektion der eigenen DNS beruhe, wobei die künstlich erzeugten Fasern die in den Zellen bereits vorhandenen verstärkten, so daß die sich im Laufe der Zeit einschleichenden Brüche und Fehler repariert und die Fasern allgemein gekräftigt wurden. Soweit stimmte das ja auch; aber die Langlebigkeitsbehandlung war noch mehr, ebenso wie das Altern mehr als nur ein Fehler der Zellteilung war. Sie war, wie man hätte voraussagen können, viel komplizierter als einfach das Zerbrechen von Chromosomen. Sie war ein ganzer Komplex von Prozessen. Und während man manche davon gut verstand, galt das nicht automatisch für alle. Alterungsprozesse fanden auf jeder Ebene statt: Molekül, Zelle, Organ, Organismus. Manche Alterung beruhte auf hormonalen Effekten, die für den jungen Organismus in seiner reproduktiven Phase positiv sind, aber später negativ für das nicht mehr reproduktive Wesen, wenn es für die Evolution keine Rolle mehr spielte. Manche Zeil-Linien waren praktisch unsterblich. Zellen des Knochenmarks und der Schleim im Gedärm ersetzten sich, solange ihre Umgebung lebendig war, ohne jedes Anzeichen für altersbedingte Veränderungen. Andere Zellen, wie die nicht ersetzten Proteine in der Linse des Auges, unterlagen Veränderungen, die durch Wärme oder Licht hervorgerufen wurden, und zwar so regelmäßig, um als eine Art biologischen Chronometers dienen zu können. Jede Zellreihe alterte mit unterschiedlicher Geschwindigkeit oder überhaupt nicht. Das war nicht bloß ›eine Sache der Zeit‹ im Sinne Newtonscher absoluter Zeit, die entropisch auf einen Organismus einwirkt. Eine solche Zeit gab es nicht. Vielmehr handelte es sich um sehr viele Folgen spezieller physikalischer und chemischer Ereignisse, die sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten und sich verändernden Effekten bewegen. Es gab eine phantastisch hohe Zahl von Mechanismen der Zellreparatur, die in jedem großen Organismus stecken, und ein Immunsystem von großer und variabler Kraft. Die Langlebigkeitsbehandlungen ergänzten oft die Prozesse oder ersetzten sie. Zu der Behandlung gehörten jetzt auch Ergänzungen der enzymatischen Photolyase, die Behebung von DNS-Schäden und Zusätze zu dem epiphysären Hormon-Melatonin, sowie Dehydroepiandrosterone, ein Steroidhormon, das von den Nebennierendrüsen produziert wird... Es gab jetzt ungefähr zweihundert solcher Komponenten bei der Langlebigkeitsbehandlung.
So viel, so komplex! Manchmal beendete Sax seine Tageslektüre und ging zu Odessas Strand hinunter, um mit Maya auf der Corniche zu sitzen und ein Burrito zu essen, den er betrachtete und dabei über alles nachdachte, was in seine Verdauung einging, über alles, das sie am Leben erhielt. Er fühlte seinen Atem, den er vorher überhaupt nicht beachtet hatte. Plötzlich kam er sich atemlos vor, verlor den Appetit und verlor den Glauben, daß irgendein so komplexes System länger als einen Moment existieren könnte, ehe es in urtümliches Chaos und die Trivialitäten der Astrophysik zusammenbrach. Wie ein Kartenhaus von hundert Stockwerken bei Wind. Man brauchte es nur irgendwo anzustoßen, und... Es war günstig, daß Maya nicht viel aktive Gesellschaft brauchte, weil er oft viele Minuten lang sprachlos saß, hingerissen in der Betrachtung seiner offenbaren Unfähigkeit.
Aber er war hartnäckig. So verhielt sich ein Wissenschaftler eben, wenn er mit einem Rätsel konfrontiert war. Und es gab andere, die bei der Forschung halfen und ihm voraus an den Grenzen arbeiteten und neben ihm auf verwandten Gebieten, angefangen mit der Virologie des Kleinen, in der die Untersuchungen über winzige Formen wie Prionen und Viroide immer noch kleinere Formen ans Licht förderten, die fast zu untergeordnet waren, um Leben genannt werden zu können: Viride, Viris, vis, vs — die alle für das große Problem von Bedeutung sein könnten... Den ganzen Weg bis hinauf zu großen organismischen Abkömmlingen wie Rhythmen der Gehirnwellen und deren Beziehung zum Herz und anderen Organen; oder die ständig abnehmenden Melatoninsekrete der Zirbeldrüse, eines Hormons, das viele Aspekte des Alterns zu regeln schien. Sax verfolgte das alles im Bemühen, durch seine spätere und hoffentlich größere Perspektive einen neuen Überblick zu gewinnen. Er mußte seiner Intuition hinsichtlich dessen, was wichtig erschien, folgen, und das studieren.
Natürlich half es nicht, daß ihm manche seiner besten Gedanken zu dem Thema im Moment ihres Abschlusses verloren gingen. Er mußte imstande sein, diese flüchtigen Gedanken aufzuzeichnen, ehe sie verschwanden! Er fing an, laut Selbstgespräche zu führen, auch in der Öffentlichkeit, in der Hoffnung, das würde ihm helfen, die Ausfälle zu verhindern. Aber das klappte nicht. Es war einfach kein verbaler Prozeß.
Bei all dieser Arbeit waren die Begegnungen mit Maya ein Vergnügen. Jeden Abend, wenn er merkte, daß es dunkel wurde, pflegte er mit Lesen aufzuhören und ging die Stufentreppen der Stadt hinunter zur Corniche; und dort sah er auf einer von vier verschiedenen Bänken oft Maya, wie sie da saß und über den Hafen in die See schaute. Dann ging er zu einem der Lebensmittelstände hinten im Park, kaufte einen Burrito, Gyros oder Salat oder einen Corndog, kam herüber und setzte sich neben ihr hin. Sie nickte, und sie aßen dann, ohne viel zu sprechen. Danach betrachteten sie schweigend die See.
»Wie war dein Tag?« — »Okay, und deiner?« Er versuchte, nicht viel über seine Lektüre zu sprechen; und sie sagte nicht viel über ihre Hydrologie oder die Theaterproduktionen, zu denen sie ging, wenn die Dämmerung eingefallen war. Sie hatten sich eigentlich nicht viel zu sagen. Aber es war jedenfalls gesellig. Eines Abends flammte der Sonnenuntergang mit ungewöhnlichem Lavendelglanz, und Maya wunderte sich: »Ich möchte wissen, was für eine Farbe das ist.« Und Sax mutmaßte: »Lavendel?«
»Aber Lavendel ist doch gewöhnlich eher pastellfarben, nicht wahr?« Sax rief eine große Farbkarte auf, die er vor längerer Zeit gespeichert hatte, um damit die Farben des Himmels zu bestimmen. Maya murrte darüber; aber hielt sein Handgelenk dennoch hoch und verglich verschiedene Probequadrate mit dem Himmel. »Wir brauchen einen größeren Bildschirm.« Und dann fanden sie eine Farbe, die zu passen schien: Hellviolett. Oder irgendwo zwischen Hellviolett und Blaßviolett.
Danach hatten sie ein kleines Hobby. Es war wirklich bemerkenswert, wie verschieden die Farben der Sonnenuntergänge in Odessa waren und den Himmel, das Meer und die weißgetünchten Wände der Stadt beeinflußten. Eine endlose Variation. Viel mehr Variationen, als es Namen für sie gab. Die Armut der Sprache auf diesem Gebiet war für Sax eine ständige Überraschung. Sogar die Armut seiner Farbtafel. Das Auge konnte vielleicht zehn Millionen verschiedener Tönungen erkennen, wie er las. Das Handbuch, auf das er Bezug nahm, enthielt 1266 Beispiele. Und nur ein sehr kleiner Bruchteil davon hatte überhaupt einen Namen. Darum streckten sie an den meisten Abenden die Arme aus und probierten verschiedene Farben vor dem Himmel. Dann fanden sie einen Fleck, der recht gut paßte, und er trug keinen Namen. Dann erfanden sie Namen: der 11. des 2. Oktobers, Orange, Aphel Purpur, Limonenblatt, Fast Grün, Arkadijs Bart. Maya konnte immer so weitermachen. Sie war darin wirklich gut. Dann fanden sie manchmal eine Namensbezeichnung, die zum Himmel paßte (wenigstens für einen Augenblick) und lernten die wahre Bedeutung eines neuen Wortes kennen, die Sax befriedigte. Aber in dem Bereich zwischen Rot und Blau hatte das Englische überraschend wenig zu bieten. Die Sprache war eben einfach nicht für den Mars ausgerüstet. Eines Abends gingen sie in der Dämmerung nach einem malvenfarbenen Sonnenuntergang die Farbtafel methodisch durch, nur um zu sehen: Purpur, Magenta, Lilagrau, Amaranth, Aubergine, Malve, Amethyst, Pflaume, Violett, Heliotrop, Clematis, Lavendel, Indigo, Hyazinth, Ultramarin, und dann kamen sie zu den Worten für Blautöne. Es gab sehr viele davon. Aber für die rotblaue Spanne waren es, mit Ausnahme der vielen Modulationen der Liste, Königsviolett, Lavendelgrau und so weiter.
Eines Abends war der Himmel klar; und nachdem die Sonne hinter den Hellespontus Montes untergegangen war, die Luft über der See aber noch erhellte, verwandelte sie sich in ein sehr vertrautes rostbraunes Orange. Maya packte Sax heftig am Arm: »Schau, das ist Mars-Orange, das ist die Farbe des Planeten aus dem Weltraum, wie wir sie aus der Ares gesehen haben! Schau! Schnell, welche Farbe ist das?«
Sie sahen die hochgehaltenen Tafeln durch. »Paprikarot.« — »Tomatenrot.« — »Oxidrot, das sollte richtig sein, denn Eisen bewirkt ja auch diese Farbe.«
»Aber es ist ein wenig zu dunkel. Sieh hin!«
»Stimmt.«
»Bräunlichrot.«
»Rötlichbraun.«
Zimt, Sienna, Persisch Orange, Sonnenbrand, Kamel, Rostbraun, Sahara, Chromorange... Sie lachten. Nichts war genau richtig. Maya entschied: »Wir nennen es Mars-Orange.«
»Fein! Aber schau, wieviel mehr Namen es für diese Farben gibt als für die Purpurtöne. Warum das?«
Maya zuckte die Achseln. Sax las weiter im Begleitmaterial für die Tafel, um zu sehen, ob dort etwas darüber gesagt wurde. »Ah! Es scheint, daß die Stäbchen in der Netzhaut dazu tendierten, in den drei Grundfarben am besten zu sehen. Darum gibt es in der Nähe davon viele Unterscheidungen, während die dazwischen liegenden gemischt sind.« Dann fiel ihm in der sich purpurn färbenden Dämmerung ein Satz ein, der ihn so überraschte, daß er ihn laut vorlas:
»Rot und Grün bilden ein weiteres Paar, das man nicht simultan als Komponenten der gleichen Farbe erkennen kann.«
»Das stimmt nicht«, sagte Maya sofort. »Das ist nur, weil sie einen Farbkreis benutzen und diese beiden auf entgegengesetzten Seiten liegen.«
»Was meinst du? Daß es mehr Farben gibt als diese?«
»Natürlich. Künstlerfarben, Theaterfarben. Wenn man jemandem einen grünen Fleck und einen roten Fleck aufträgt, bekommt man wohl eine Farbe, und die ist nicht rot oder grün.«
»Aber was ist sie? Hat sie einen Namen?«
»Ich weiß nicht. Schau in das Farbenrad eines Künstlers!«
Und das tat er, und sie auch. Sie fand es zuerst: »Hier. Gebrannte Umbra, indisches Rot, Krapp-Alizarin... Das sind alles grünrote Mischungen.«
»Interessant! Rotgrüne Mischungen!... lauter grünrote Mischungen.«
Sie sah ihn an. »Wir sprechen hier über Farben, Sax, und nicht über Politik.«
»Ich weiß, ich weiß. Sei nicht albern!«
»Aber meinst du nicht, daß wir eine rotgrüne Mischung brauchen?«
»Politisch? Sax, es gibt schon eine rotgrüne Mischung. Das ist das Problem. Der Freie Mars hat die Roten an Bord genommen, um die Einwanderung zu stoppen, und darum sind sie so erfolgreich. Sie schließen sich zusammen und sperren den Mars für die Erde, und bald werden sie wieder Krieg mit ihnen führen. Ich sage dir, das kann ich kommen sehen. Wir rutschen wie auf einer Spirale hinein.«
»Hmm«, machte Sax ernüchtert. Er kümmerte sich in diesen Tagen nicht um die Politik des Sonnensystems, wußte aber, daß Maya, die ein sehr scharfes Auge für diese Dinge hatte, sich immer mehr Sorgen darüber machte — mit dem bei ihr üblichen sarkastischen Spritzer von Genugtuung angesichts des Nahens der Krise. Darum war es vielleicht nicht ganz so schlimm, wie sie meinte. Wahrscheinlich würde er sich bald wieder darum kümmern müssen. Aber inzwischen ...
»Das ist nicht Indigo, das ist Königsblau.«
»Aber sie sollten es nicht blau nennen, wenn etwas Rot darin ist.«
»Sollten sie nicht. Schau, Marineblau, Preußischblau, Königsblau — da ist überall Rot drin.«
»Aber jene Farbe am Horizont ist keine davon.«
»Nein, du hast recht. Nicht klassifizierbar.«
Sie vermerkten das auf ihren Karten. Ls 24, m-Jahr 91, September 2205 — eine neue Farbe. Und damit verging wieder ein Abend.
Dann saßen sie an einem Winterabend in der Stunde vor Sonnenuntergang auf der westlichsten Bank. Alles war still, das Hellas-Meer wie eine Glasscheibe, der Himmel wolkenlos, rein, sauber, klar; und als die Sonne sank, da verschob sich alles über das Spektrum ins Blaue, bis Maya von ihrem Nizza-Salat aufschaute und Sax am Arm packte. »O mein Gott, schau!« Sie schob ihren Papierteller beiseite, und beide standen sie instinktiv auf — wie alte Veteranen, wenn sie die Nationalhymne einer näherkommenden Parade hören. Sax verschlang seinen Hamburger mit einem Bissen, sagte: »Ah!« und schaute. Alles war blau, himmelblau, blau wie der Himmel der Erde, und durchtränkte alles während des größten Teils einer Stunde, überflutete ihre Netzhäute und die Nervenbahnen in ihren Gehirnen, die sich ohne Zweifel lange nach dieser Farbe gesehnt hatten, nach der für immer verlassenen Heimat.
Das waren schöne Abende. Aber bei Tag wurden die Dinge immer komplizierter. Sax gab das Studium von Ganzkörperproblemen auf und widmete sich nur noch dem des Gehirns. Das war so, als wolle man die Unendlichkeit halbieren, aber es schlug sich bei den Papieren, die er durchsehen mußte, nieder und es schien so, als wäre das Gehirn sozusagen das Herz des Problems. Es gab Veränderungen in einem überalterten Gehirn, die sowohl bei der Autopsie zu erkennen waren wie bei den verschiedenen Kontrollen des Blutstroms, in der elektrischen Aktivität, im Proteinverbrauch, Zuckerverbrauch, der Wärme und allen übrigen indirekten Tests, die man im Laufe der Jahrhunderte beim Studium des lebenden Gehirns während mentaler Aktivität jeder Art ersonnen hatte. Zu den beobachteten Veränderungen im überalterten Gehirn zählte die Verkalkung der Zirbeldrüse, durch die die Menge des von ihr produzierten Melatonins vermindert wurde. Zufuhr synthetischen Melatonins war Teil der Langlebigkeitsbehandlung. Aber natürlich wäre es besser, gleich zu Anfang die Verkalkung zu stoppen, weil sie wahrscheinlich noch andere Effekte hatte. Ferner gab es eine deutliche Zunahme von neurofibrillaren Verflechtungen, die Aggregate von Proteinfilamenten waren, die zwischen den Neuronen wuchsen und physischen Druck auf sie ausübten — vielleicht analog zu dem Druck, den Maya während ihrer presque vus meldete. Wer konnte das sagen? Dann wiederum sammelte sich Beta-Amyloid-Protein in den zerebralen Blutgefäßen und im interzellularen Raum um die Nerventerminals, wodurch abermals die Funktion behindert wurde. Und pyramidale Neuronen im frontalen Cortex und Hippocampus sammelten Calpain an, wodurch sie verwundbar gegenüber Kalziumzuflüssen wurden, die sie beschädigten. Und das waren Zellen, die sich nicht teilen, ebenso alt wie der Organismus selbst waren. Bei ihnen war ein Dauerschaden permanent, wie bei dem Schlag, den Sax erlitten hatte. Er hatte bei diesem Vorfall, an den er nicht gern zurück dachte, einen großen Teil seines Gehirns eingebüßt. Und auch die Fähigkeit der Moleküle, sich in diesen Zellen, die sich nicht teilen, zu ersetzen, könnte geschädigt werden — ein scheinbar kleiner, aber im Laufe der Zeit ebenso bedeutsamer Verlust. Autopsien von Menschen, die über zweihundert Jahre gelebt und an dem raschen Verfall gestorben waren, zeigten regelmäßig eine starke Verkalkung der Zirbeldrüse in Verbindung mit erhöhtem Calpain-Niveau im Hippocampus. Und Hippocampus wie Calpainspiegel spielten beide eine Rolle bei einigen führenden Modellen zur Gedächtnisfunktion. Das war ein interessanter Zusammenhang.
Aber das alles führte nicht weiter. Und niemand würde das Geheimnis allein durch das Literaturstudium lösen können. Aber die Experimente, die zur Aufklärung hätten beitragen können, waren wegen der Unzugänglichkeit des lebenden Gehirns nicht machbar. Man konnte Hühner, Mäuse, Ratten, Hunde, Schweine, Lemuren und Schimpansen töten; man konnte Individuen jeder Spezies der Schöpfung töten, auch die Gehirne ihrer Föten und Embryos sezieren, aber niemals das finden, wonach man suchte. Denn die Autopsie allein war für das Vorhaben unzureichend. Die verschiedenen Scans an lebenden Objekten waren genauso unvollkommen, da die in Betracht kommenden Prozesse entweder feinkörniger waren, als die Scans erkennen ließen, oder holistischer oder kombinatorischer oder wahrscheinlich alles zugleich.
Indessen waren einige Experimente und die daraus folgenden Modelle anregend. Der Aufbau von Calpain schien beispielsweise die Funktion der Gehirnwellen zu verändern. Dies und andere Faktoren lieferten Sax Ideen für seine weitere Forschung. Er begann, intensiv die Literatur über die Effekte kalziumbindender Proteinspiegel zu lesen, über Cortisteroide, über die Kalziumströme in den hippocampischen pyramidalen Neuronen und über die Verkalkung der Zirbeldrüse. Es schien synergistische Effekte zu geben, die sowohl das Gedächtnis als auch die allgemeine Gehirnwellenfunktion beeinflussen könnten, überhaupt alle körperlichen Rhythmen einschließlich Herzrhythmen. Sax fragte Maya: »Hatte Michel irgendwelche Gedächtnisprobleme? Vielleicht fühlte er, daß er ganze Gedankenkomplexe verlor, selbst sehr wichtige Gedanken?«
Maya zuckte die Achseln. Aber Michel war inzwischen schon fast ein Jahr tot.
»Ich kann mich nicht entsinnen.«
Das machte Sax nervös. Maya schien sich zurückzuziehen. Ihr Gedächtnis wurde jeden Tag schlechter. Selbst Nadia konnte nichts für sie tun. Sax kam mit ihr immer häufiger zusammen an der Corniche. Das war eine Gewohnheit, die sie beide offenbar genossen. Obwohl sie nie darüber sprachen. Sie saßen einfach da, aßen eine Kleinigkeit vom Kiosk, beobachteten den Sonnenuntergang und holten ihre Farbtafeln heraus, um zu sehen, ob sie eine neue Nuance erwischen konnten. Aber es kam ihnen nicht auf die Bemerkungen an, die sie auf den Tafeln eintrugen. Keiner von ihnen wäre sicher gewesen, ob die Farben, die sie sahen, wirklich neu waren oder nicht. Sax selbst hatte den Eindruck, daß er seine Ausfälle häufiger erlebte, vielleicht vier bis acht jeden Tag, obwohl er nicht sicher sein konnte. Er machte sich zur Gewohnheit, in seinem Handy ständig eine Aufnahmefrequenz laufen zu lassen, die durch seine Stimme aktiviert wurde; und anstatt zu versuchen, seinen vollen Gedankengang zu beschreiben, sprach er bloß ein paar Worte, von denen er hoffte, daß sie später eine bessere Erinnerung an das auslösen würden, was er gedacht hatte. Am Ende des Tages setzte er sich dann gespannt und hoffnungsvoll hin und hörte ab, was der Computer während des Tages eingefangen hatte. Meistens waren es Gedanken, an die er sich erinnerte. Aber gelegentlich hörte er sich sagen: »Synthetische Melatonine könnten ein besseres Antioxidans sein als natürliche, weil es dann nicht genug freie Radikale gibt«, oder: »Viriditas ist ein fundamentales Mysterium. Es wird nie eine große vereinheitlichte Theorie geben«, ohne daß er sich erinnerte, so etwas gesagt zu haben, und oft nicht einmal daran, was es bedeuten könnte. Aber immerhin waren die Äußerungen manchmal anregend und ihre Bedeutungen auswertbar.
Und so bemühte er sich weiter. Dabei sah er erneut, so frisch wie in seinen ersten Studienjahren, daß die Struktur der Wissenschaft schön war. Sie war sicherlich eine der größten Leistungen des menschlichen Geistes, eine Art von staunenswertem Parthenon des Geistes, ein Werk in ständigem Fortschritt wie ein symphonisches episches Gedicht aus Tausenden von Versen, das von ihnen allen gemeinsam in einer gigantischen fortdauernden Zusammenarbeit verfaßt wurde. Die Sprache des Epos war Mathematik, weil diese die Sprache der Natur selbst zu sein schien. Es gab keinen anderen Weg; die aufregende Verbindung von Naturerscheinungen war nur mittels mathematischer Ausdrücke großer Komplexheit und Subtilität zu erklären. Und so erkundeten ihre Gesänge in dieser wunderbaren Familie von Sprachen die mannigfachen Manifestationen der Realität auf den verschiedenen Gebieten der Wissenschaft. Jede Disziplin erarbeitete sich ihr Standardmodell, um Dinge zu erklären, die sich alle in einiger Distanz um die Grundlagen der Partikelphysik gruppierten, je nachdem, welches Niveau oder welcher Maßstab untersucht wurde, so daß alle Standardmodelle sich hoffentlich einmal in einer kohärenten größeren Struktur zusammenschlössen. Diese Standardmodelle waren von der Art wie die Paradigmen von Thomas Kuhn, aber in Wirklichkeit (da Paradigmen ja aus einem Vorgang des Modellierens entstanden) elastischer und variabler, ein dialogischer Prozeß, an dem Tausende von Geistern während der vergangenen Jahrhunderte gearbeitet hatten. Darum waren Gestalten wie Newton oder Einstein oder Vlad nicht die isolierten Riesen, als die sie der Öffentlichkeit erscheinen, sondern nur die höchsten Gipfel einer großen Gebirgskette, wie Newton selbst es klar zu machen versucht hatte mit seiner Bemerkung, daß er auf den Schultern von Riesen stünde. In Wahrheit war das Werk der Wissenschaft eine Gemeinschaftsarbeit, die noch vor die Geburt der modernen Wissenschaft zurückreichte, bis hin zur Vorgeschichte, wie Michel immer betont hatte. Ein ständiger Kampf um Erkenntnis. Jetzt war sie natürlich sehr strukturiert und gegliedert, um über die Fähigkeit jedes einzelnen Individuums hinaus alles zu erfassen.
Aber das beruhte nur auf ihrer erdrückenden Quantität. Die eindrucksvolle Blüte der Struktur war durchaus nicht besonders unverständlich. Man konnte immer noch gewissermaßen irgendwo innerhalb dieses Parthenons spazieren gehen und damit wenigstens die Gestalt des Ganzen erfassen und sich aussuchen, wo man studieren und einen Beitrag leisten wollte. Man konnte zuerst den Dialekt der für die Untersuchung relevanten Sprache erlernen, was an sich schon ein gewaltiges Unterfangen war, etwa wie in der Theorie der Superstrings oder des stufenweise rekombinierenden Chaos. Danach konnte man die Sekundärliteratur durchsehen in der Hoffnung, das synkretistische Werk von jemandem zu finden, der lange an der vordersten Front gearbeitet hatte und imstande war, eine kohärente Darstellung für Außenstehende über den Stand des Feldes zu geben. Diese Arbeit, die als ›graue Literatur‹ bezeichnet wurde, und als ein Freizeitvergnügen oder als ein Zugeständnis des Verfassers bewertet wurde, war dennoch oft von großem Wert für jemanden, der von außen kam. Mit einer allgemeinen Übersicht (obwohl man sie sich besser als eine Untersicht vorstellte, da die aktuellen Arbeiter da oben in den undeutlichen Dachsparren und dem Gebälk des Baus tätig waren) konnte man sich dann zu den Zeitschriften hocharbeiten, zu der von Fachleuten überwachten weißen Literatur‹, wo die laufenden Arbeiten verzeichnet waren. Und man konnte die Zusammenfassungen lesen und ein Gefühl dafür bekommen, wer welchen Teil des Problems anging. Öffentlich und ausführlich. Und bei jedem vorliegenden wissenschaftlichen Problem bildeten diejenigen, die aktuell an der Grenze Fortschritte machten, eine besondere Gruppe von Synthetikern und Innovatoren, die in der ganzen Welt nicht mehr als ein Dutzend Leute zählte. Sie erfanden einen neuen Jargon ihres Dialekts, um ihre neuen Erkenntnisse mitzuteilen, diskutierten über Resultate, schlugen neue Wege der Untersuchung vor und gaben einander Jobs in Labors, trafen sich bei Konferenzen, die ausdrücklich dem Thema gewidmet waren, um miteinander zu diskutieren. Sie waren in allen Medien. Und dort ging in den Labors und den Konferenzbars die Arbeit als ein Dialog zwischen Leuten voran, die wußten, worauf es ankam, die die reine harte Arbeit der Experimente leisteten und über die Experimente nachdachten.
Und diese ganze weite Struktur einer Kultur stand im vollen Licht der Sonne da. Zugänglich für jeden, der sich beteiligen wollte, der willens und fähig war, die Arbeit zu leisten. Es gab keine Geheimnisse und keine verschlossenen Läden. Und wenn jedes Labor und jedes Spezialgebiet seine Politik hatte, so war das eben Politik. Und letztendlich konnte diese Politik die Struktur selbst nicht materiell in Mitleidenschaft ziehen, jenes mathematische Gebäude ihres Verständnisses der Welt der Phänomene. Das hatte Sax immer so verinnerlicht, und keine soziologische Analyse, nicht einmal die verwirrende Erfahrung des Terraformungsprozesses auf dem Mars, hatten ihn je in diesem Glauben wanken gemacht. Wissenschaft war ein soziales Konstrukt, aber sie bildete auch, und das war der wichtigste Punkt daran, ihren eigenen Raum, der nur mit der Realität konform ging. Das war ihre Schönheit. Wahrheit ist Schönheit, wie der Dichter gesagt hat, als er über die Wissenschaft sprach. Und so war es auch. Der Dichter hatte recht gehabt (was nicht immer zutraf).
Und so bewegte Sax sich weiter in der großen Struktur, behaglich, fähig und auf mehreren Ebenen zufrieden.
Aber er begann auch zu verstehen, daß, so schön und mächtig die Wissenschaft auch sein mochte, das Problem des biologischen Alterns vielleicht zu schwierig war. Nicht so kompliziert, daß es nie gelöst werden würde, aber einfach zu schwierig, als daß es zu seinen Lebzeiten gelöst werden würde. Es war tatsächlich noch eine offene Frage, wie groß das Problem tatsächlich war. Das Verständnis von Materie, Raum und Zeit war unvollkommen; und es war nie auszuschließen, daß es sich immer wieder in Metaphysik auflöste, wie die Spekulationen über den Kosmos vor dem Urknall oder über Dinge kleiner als Strings. Andererseits könnte die Welt fortschrittlicheren Erklärungen zugänglich sein, bis sie schließlich (vom String bis zum Kosmos) in den Bereich des großen Parthenons gerückt würde. Beide Resultate waren möglich, das Urteil war noch nicht gefallen. Die nächsten tausend Jahre könnten die Geschichte erzählen.
Die Ausfälle machten Sax zu schaffen. Und manchmal litt er an Atemnot. Bisweilen schien sein Herz zu heftig zu schlagen. Nachts schlief er selten. Und zu allem Überfluß war Michel tot, so daß Sax in seiner Meinung über den Sinn der Dinge unsicher wurde und er eigentlich eines Gefährten bedurfte, der ihn stabilisieren konnte. Wenn er es schaffte, überhaupt über alles auf der Ebene des Sinnes nachzudenken, stellte er fest, daß er sich in einem Rennen befand. Er und jeder andere, aber besonders die Spezialisten, die akut an diesem Problem arbeiteten. Um es zu lösen, mußten sie eine der größten unerklärlichen Fragen beantworten — und Zeit im Übermaß hatten sie nicht.
Und eines Tages, als er sich nach einem Tag vor seinem Bildschirm mit Maya auf eine Bank setzte und an die Unermeßlichkeit dieses wachsenden Zweiges des Parthenons dachte, erkannte er, daß dies ein Rennen war, das er nicht gewinnen konnte. Vielleicht konnte es die menschliche Spezies eines Tages gewinnen; aber es schien noch ein langer Weg zu sein. Es war keine große Überraschung. Das wußte er. Er hatte es immer gewußt. Daß er die derzeit größte Manifestation des Problems benennen konnte, hatte ihm nicht seine Tiefe verschleiert. Der ›schnelle Verfall‹ war bloß ein Name, ungenau, allzu einfach, tatsächlich kein wissenschaftlicher Terminus, sondern vielmehr ein Versuch (wie der ›Urknall‹), die Realität zu verkleinern und zu begrenzen als noch nicht verstanden. In diesem Fall war das Problem einfach der Tod. Tatsächlich ein rascher Verfall. Und angesichts der Natur von Leben und Zeit war das ein Problem, das kein lebender Organismus jemals wirklich lösen würde. Verschiebungen ja, Lösungen nein. »Die Realität selbst ist sterblich.«
»Natürlich«, sagte Maya, versunken in den Anblick des Sonnenuntergangs.
Er brauchte ein einfacheres Problem. Nicht ein Schritt in Richtung auf größere Probleme durfte es sein, sondern ein vorläufiger Schritt, auf etwas zu, das er lösen könnte. Gegen die Ausfälle ankämpfen. Das war sicher ein Problem, das, bereit untersucht zu werden, auf der Hand lag. Sein Gedächtnis brauchte Hilfe. Die Arbeit daran könnte sogar Licht auf den raschen Verfall werfen. Denn sterben würden alle. Aber sie könnten zumindest mit intakten Erinnerungen sterben.
Also lenkte er die Hauptgewichtung fortan auf das Gedächtnisproblem und gab den raschen Verfall und alle übrigen Themen des Alterns auf. Er war ja schließlich doch sterblich.
Die neueren Arbeiten über das Gedächtnis waren sehr anregend. Diese spezielle wissenschaftliche Front hatte gewisse Beziehungen zu der Arbeit über die Lerntechniken, die es Sax ermöglicht hatte, sich (teilweise) von seinem Schlag zu erholen. Das war nicht überraschend, da Gedächtnis das Behalten von Erlerntem war. Alle Wissenschaft vom Gehirn schien auf ihr Verständnis vom Bewußtsein zusammenzulaufen. Aber in dieser Folge blieben Behalten und Erinnern widerspenstige entscheidende Themen, die man immer noch nur mangelhaft verstand.
Aber es gab Hinweise, die sich ständig mehrten. Kliniken meldeten, daß viele der Alten Gedächtnisprobleme wechselnder Art hatten. Und hinter den Alten kam eine riesige Generation von Nisei, die die bei ihren Vorfahren auftretenden Probleme sahen und hofften, ihnen zu entgehen. Also war das Gedächtnis ein aktuelles Thema. Hunderte, sogar Tausende von Labors arbeiteten auf die eine oder andere Weise daran; und als Resultat wurden verschiedene Aspekte deutlich. Sax vertiefte sich in die Literatur in seiner gewöhnlichen Art. Er las einige Monate ohne Ende; und glaubte danach sagen zu können, wie das Gedächtnis arbeitete. Aber wie alle an dem Problem arbeitenden Forscher stieß er auf die ungenügende Kenntnis der Grundlagen von Bewußtsein, Materie und Zeit. Und an dieser Stelle konnte Sax, so detailliert das Wissen auch war, nicht verstehen, wie man das Gedächtnis verbessern oder verstärken könnte. Dazu gehörte etwas mehr.
Die ursprüngliche Hebb-Hypothese, die Donald Hebb 1949 aufgestellt hatte, war immer noch gültig, einfach weil sie ein so allgemeines Prinzip verkündete. Danach veränderte das Lernen irgendeinen physischen Zug im Gehirn, und danach codierte der veränderte Zug das Gelernte. Zu Hebbs Zeiten verstand man das physische Merkmal (das Engramm) irgendwie als ein Ereignis auf synaptischer Stufe. Und da es für jedes der zehn Milliarden Neuronen im Gehirn Hunderttausende von Synapsen geben konnte, erhielten die Forscher den Eindruck, daß das Gehirn imstande sei, 1014 Bits an Daten zu erfassen. Das erschien damals mehr als angemessen, das menschliche Bewußtsein zu erklären. Und das lag für Computer auch im Bereich des Möglichen. Es führte zu einer kurzen Woge von Euphorie hinsichtlich der Vorstellung leistungsfähiger künstlicher Intelligenz. Ebenso gab es zu jener Zeit eine Version ›maschineller Fehlerhaftigkeit als Gegenstück zur pathologischen Fehlerhaftigkeit, bei der man dachte, daß das Gehirn so etwas wie die stärkste Maschine dieser Zeit sein könnte.
Aber die Arbeiten des einundzwanzigsten und zweiundzwanzigsten Jahrhunderts machten klar, daß es keine spezifischen Plätze für ›Engramme‹ als solche gab. Jede Menge von Experimenten zur Lokalisierung dieser Stellen, einschließlich solcher, bei denen verschiedene Teile von Rattengehirnen entfernt worden waren, nachdem sie eine Aufgabe gelernt hatten, und sich kein Teil des Gehirns als der Wesentliche erwiesen hatte, führten die enttäuschten Experimentatoren zu dem Schluß, daß das Gedächtnis sich ›überall und nirgends‹ befand, entsprechend der Analogie mit einem Hologramm, noch verrückter als all die anderen Maschinenanalogien. Aber sie waren fassungslos und mühten sich weiter ab. Später klärten Experimente den Sachverhalt. Es wurde offenkundig, daß alle Aktivitäten des Bewußtseins sich auf einer viel kleineren Ebene abspielten als der neuronalen. Sax assoziierte das in Gedanken mit dem allgemeinen wissenschaftlichen Interesse an Miniaturisierung im Laufe des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts.
Bei dieser subtileren Bewertung hatte man begonnen, die Cytoskelette von Nervenzellen zu erforschen, die aus internen Gruppierungen von Mikroröhrchen mit Proteinbrücken dazwischen bestanden. Die Struktur dieser Mikrogebilde setzte sich aus Röhren aus dreizehn Säulen von Tubulin-Dimeren, erdnußförmigen kugligen Proteinpaaren von je acht-mal-vier-mal-vier Nanometern, die es, abhängig von ihrer elektrischen Polarisierung, in zwei verschiedenen Konfigurationen gab. Damit stellten die Dimeren einen möglichen Ein-Aus-Kippschalter des vermuteten Engramms dar. Aber sie waren so klein, daß der elektrische Zustand jedes Dimers durch die ihn umgebenden Dimere von den zwischen ihnen wirksamen Van-der-Waals-Kräfte beeinflußt wurde. Darum konnten Botschaften aller Art entlang jeder Mikroröhre und entlang der diese verbindenden Proteinbrücke verbreitet werden. Dazu war in jüngster Zeit noch ein weiterer Schritt in der Miniaturisierung gekommen. Jedes Dimer enthielt etwa 450 Aminosäuren, die durch Veränderung ihrer Sequenzen Information enthalten konnten. Und innerhalb der Dimersäulen gab es winzige Fäden aus Wasser in geordnetem Zustand, den man Vicinalwasser — also Nachbarwasser — nannte. Dieses war imstande, quantumkohärente Schwingungen längs des Röhrchens zu übertragen. Eine große Anzahl von Experimenten an lebenden Affengehirnen mit miniaturisiertem Gerät verschiedener Art hatte ergeben, daß sich bei denkendem Bewußtsein Sequenzen von Aminosäuren verlagerten. Die Röhrendimeren änderten an vielen verschiedenen Stellen im Gehirn ihre Konfiguration in gepulsten Phasen. Mikroröhrchen bewegten sich und wuchsen manchmal. Und in viel größerem Maßstab wuchsen dann dendritische Dornen, die neue Verbindungen schufen. Manchmal änderten sich die Synapsen auf Dauer, manchmal nicht.
Also besagte das beste derzeitige Modell, daß Erinnerungen als stehende Muster quantenkohärenter Oszillationen incodiert würden, hervorgerufen durch Veränderungen in den Mikroröhrchen und deren Bestandteilen, wobei alles nach Mustern innerhalb der Neuronen verlief. Obwohl es jetzt Forscher gab, die spekulierten, daß es signifikante Aktion sogar auf noch feineren ultramikroskopischen Ebenen geben könnte, die aber für immer jenseits ihrer Untersuchungsmöglichkeiten lägen (ein geläufiger Refrain), sahen manche Gelehrte Spuren von Anzeichen, daß die Schwingungen in der Art von Spin-Netz-Mustern strukturiert sein könnten, wie sie Baos Arbeit beschrieb — in verknüpften Knoten und Netzen, die Sax seltsam an den Plan des Gedächtnispalastes erinnerten — Räume und Korridore —, als ob die alten Griechen allein durch innere Schau die eigentliche Geometrie der Raumzeit erahnt hätten.
Auf jeden Fall war es sicher, daß diese ultramikroskopischen Aktivitäten durch die Plastizität des Gehirns nahegelegt wurden. Sie waren ein Teil davon, wie das Gehirn lernte und sich dann erinnerte. Also fand Erinnerung auf einer viel kleineren Ebene statt, als man sie sich früher vorgestellt hatte. Das Gehirn erhielt dadurch eine viel höhere Möglichkeit des Rechnens als zuvor: 1024 Operationen in der Sekunde, oder gar bei manchen Berechnungen 1043. Das führte einen Forscher zu dem Schluß, daß jeder menschliche Verstand in gewissem Sinne komplizierter war als der ganze Rest des Universums (natürlich abzüglich seiner anderen Bewußtseine). Sax erinnerte das verdächtig an die starken anthropischen Phantome, die man allenthalben in der kosmologischen Theorie sah. Aber es war eine interessante Idee, und es lohnte sich, darüber nachzudenken.
Also ging nicht bloß mehr vor sich, sondern es geschah auch auf so feinen Ebenen, daß sicher Quanteneffekte im Spiel waren. Experimente hatten gezeigt, daß sich in jedem Gehirn kollektive Quantenphänomene in großem Maßstab abspielten. Es gab im Gehirn sowohl globale Quantenkohärenz als auch Quantenverbindung zwischen den verschiedenen elektrischen Zuständen der Mikroröhrchen. Und dies besagte, daß all die kontra-intuitiven Phänomene und das reine Paradoxon der Quantenrealität ein integrierender Bestandteil des Bewußtsein waren. Tatsächlich hatte es erst kürzlich eine Gruppe französischer Forscher geschafft, durch Berücksichtigung der Quanteneffekte in den Cytoskeletten eine plausible Theorie darüber vorzubringen, weshalb Anästhetika überhaupt wirken — nach all den Jahrhunderten, in denen man sie fröhlich angewendet hatte.
Also waren wir mit noch einer bizarren Quantenwelt konfrontiert, in der es Fernwirkung gab, in der Entscheidungen keinen Einfluß auf tatsächliche Ereignisse haben konnten und in der gewisse Ereignisse teleologisch ausgelöst zu werden schienen; was besagt, verursacht durch Ereignisse, die zeitlich erst nach ihnen auftreten... Sax war von dieser Entwicklung nicht sehr überrascht. Sie sprach für ein Gefühl, das er sein ganzes Leben lang gehabt hatte, wonach der menschliche Geist höchst geheimnisvoll war, eine Black Box, welche die Wissenschaft kaum erforschen würde können. Und jetzt, da die Wissenschaft sich damit beschäftigte, geriet sie hart an die großen Unerklärbarkeiten der Realität selbst.
Immerhin konnte man sich an das halten, was die Wissenschaft gelernt hatte, und zugeben, daß sich Realität auf Quantenebene auf eine Weise verhielt, die auf der Ebene der menschlichen Sinne und gewöhnlichen Erfahrungen einfach unerhört war. Man hatte dreihundert Jahre lang Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen und schließlich dieses Wissen in sein Weltbild einzubauen und weiterzumachen. Sax hätte wirklich gesagt, daß er sich mit den gewohnten Quantenparadoxa wohl fühlte. Dinge im Mikrobereich, die bizarr, aber erklärbar waren, quantifizierbar oder unter Benutzung komplexer Zahlen zumindest beschreibbar, mit Riemannscher Geometrie und all dem übrigen Rüstzeug der passenden Zweige der Mathematik. Es hätte gar keine Überraschung sein sollen, wenn man solches Zeug im eigentlichen Arbeiten des Gehirns fand. Es war in der Tat, verglichen mit so etwas wie der menschlichen Geschichte, Psychologie oder Kultur, sogar etwas beruhigend. Schließlich war das alles doch nur Quantenmechanik. Etwas, das durch die Mathematik modelliert werden konnte. Und das wollte schon etwas heißen.
So war auf einer sehr feinen strukturellen Ebene im Gehirn vieles aus der Vergangenheit eines Menschen enthalten, aufgezeichnet in einem einzigartigen komplizierten Netzwerk von Synapsen, Mikroröhrchen, Dimeren, Vicinalwasser und Ketten aus Aminosäuren — alle klein genug und nahe genug beisammen, um gegenseitig Quanteneffekte zu erzielen. Muster von Quantenfluktuation, die sich verstreuten und zusammenbrachen — das war Bewußtsein. Und diese Muster wurden offenbar in spezifischen Teilen des Gehirns gehalten oder erzeugt. Sie waren das Ergebnis einer auf vielen Ebenen zum Ausdruck kommenden physikalischen Struktur. Zum Beispiel war der Hippocampus von kritischer Bedeutung, besonders die gezahnte Gyrusregion und die durchstoßenden Wegenerven, die zu ihm führten. Und der Hippocampus war äußerst sensibel gegen Aktivitäten im limbischen System, das im Gehirn direkt unterhalb von ihm sitzt. Und das limbische System war in mannigfacher Weise der Sitz der Emotionen, was die Alten als Herz bezeichnet hätten. Also hatte die emotionale Belegung eines Ereignisses viel damit zu tun, wie nachhaltig es im Gedächtnis festgehalten wurde. Es ereigneten sich Vorfälle, und das Bewußtsein war deren Zeuge oder erfuhr von ihnen; und unvermeidlicherweise veränderte ein großer Teil dieser Erfahrung das Gehirn und wurde für immer ein Teil von ihm. Besonders die durch Emotion gesteigerten Ereignisse. Diese Darstellung fand Sax überzeugend: Es erinnerte sich am deutlichsten an jene Vorfälle, die mit starken Empfindungen verbunden gewesen waren, und vergaß die, wie gewisse Experimente nahelegten, besonders beharrlich, die von einem unbewußten Bemühen begleitet wurden, sich ihrer nicht entsinnen zu wollen, was also gar kein echtes Vergessen war, sondern Verdrängung. Aber nach dieser anfänglichen Veränderung im Gehirn begann der langsame Prozeß der Verschlechterung. Die Stärke der Erinnerung war bei verschiedenen Menschen grundsätzlich unterschiedlich, aber, wie es schien, verlor die Speicherung im Gedächtnis allgemein an Deutlichkeit und war schwer zu steuern. So vieles war dem Gehirn eingeprägt, wurde aber nie hervorgeholt. Und wenn man sich niemals an ein Muster erinnerte, es nie wieder hervorholte und probte, dann erfuhr es nie die Verstärkung eines neuerlichen Durchlaufs. Und nach ungefähr 150 Jahren der Speicherung verfiel das Muster, offenbar infolge der angehäuften Quanteneffekte freier Radikale, die sich zufallsweise im Gehirn zusammenfanden, immer schneller. Das war es anscheinend, was den Alten passierte. Ein Prozeß des Zusammenbruchs, der unmittelbar nach einen Ereignis einsetzte, wurde dem Gehirn eingeprägt und erreichte schließlich ein Höchstmaß, wo die Effekte für die beteiligten Schwingungsmuster katastrophal wurden und damit auch für die Erinnerungen. Das war vermutlich ebenso zeitgebunden, dachte Sax beklommen, wie die thermodynamische Trübung der Augenlinse.
Wenn man allerdings all seine Erinnerungen Revue passieren lassen könnte, dann würde das die Muster wieder verstärken, sie auffrischen und die Uhr für den Verfall sozusagen wieder auf Null stellen. Eine Art Langlebigkeitsbehandlung für Dimerenmuster, in der Literatur manchmal als Anamnese oder Verlust durch Vergessen bezeichnet. Nach einer solchen Behandlung würde es leichter sein, sich an ein bestimmtes Ereignis zu erinnern, oder mindestens ebenso leicht, wie es kurz nach dem Eintreten des Ereignisses gewesen war. Das war die allgemeine derzeitige Richtung der Arbeiten über die Verstärkung des Gedächtnisses. Manche bezeichneten die dabei benutzten Drogen und elektrischen Maßnahmen als Nootrope, ein Wort, das Sax als ›auf den Verstand wirkend‹ deutete. Eine Menge Fachausdrücke wurden für den Prozeß in der gängigen Literatur gehandelt. Die Leute durchwühlten ihre griechischen und lateinischen Lexika in der Hoffnung, einen Namen für das Phänomen zu finden. Sax hatte Ausdrücke gesehen wie: Mnemonik, Mnemonistik und Mnemosynik nach der Göttin des Gedächtnisses; auch Mimneskesie von dem griechischen Wort für ›sich erinnenv. Sax zog das Wort Erinnerungsverstärker vor, obwohl er auch Anamnese mochte, welches ihm der genaueste Ausdruck für ihr Vorhaben zu sein schien. Sein Wunsch war die Herstellung eines Anamnestikums.
Aber die praktischen Schwierigkeiten der Ekphorisierung oder des sich Erinnerns an eine vollständige Vergangenheit waren groß. Es galt ja nicht bloß, ein Anamnestikums zu finden, sondern auch der Zeit, die es erfordern würde! Wenn man zwei Jahrhunderte gelebt hatte, erschien es möglich, daß es Jahre dauern könnte, um alle relevanten Ereignisse dieses langen Lebens wieder hervorzuholen.
Offenbar war ein rein chronologischer Durchlauf in mehrfacher Hinsicht nicht praktikabel. Vorzuziehen war eine Art von simultaner Erregung des Systems, die das ganze Netzwerk kräftigte ohne bewußte Erinnerung an jede seiner Komponenten. Ob eine solche Kräftigung elektromechanisch möglich war, wußte niemand. Aber wenn man den Durchgang zum Hippocampus elektrisch stimulieren und beispielsweise eine große Menge Adenosin-Triphosphat über die Blut-Gehirn-Schranke transportieren könnte und damit die langfristige Voraussetzung schuf, die an erster Stelle das Lernen unterstützte; und dann ein Gehirnwellenmuster zur Anregung und Unterstützung der Quantenschwingungen der Mikroröhrchen dazuschaltete und danach das Bewußtsein auf die einem am wichtigsten scheinenden Erinnerungen richtete, während auch der Rest unbewußt verstärkt würde...
Sax machte sich noch weiter stürmische Gedanken in dieser Richtung, erlitt aber jäh Schiffbruch. Da saß er nun Ergebnislos im Wohnzimmer seines Apartments und machte sich selbst Vorwürfe, daß er nicht wenigstens versuchte, seinem Computer etwas einzugeben. Es schien, daß er auf dem Weg gewesen war zu etwas wie ATP, oder war es LTP? Na schön, das war ein echt nützlicher Gedanke, der wiederkommen würde. Daran mußte er glauben. Es lag nahe.
Je mehr er über diese Dinge nachdachte, kam es ihm auch immer wahrscheinlicher vor, daß der Schock über Mayas momentane Amnesie Michel in den raschen Verfall getrieben hatte. Nicht, daß eine solche Erklärung jemals bewiesen werden könnte oder auch wirklich eine Rolle spielte. Aber Michel hätte weder seine noch ihre Erinnerungen überleben wollen. Er hatte sie geliebt als das Projekt seines Lebens, die Definition seiner selbst. Der Schock, daß Maya bei etwas so Fundamentalem und so Wichtigem ausfiel (wie dem Schlüssel zur Wiederherstellung seines Gedächtnisses) ... Die Verbindung von Körper und Geist war so stark, daß wahrscheinlich die Unterscheidung an sich falsch war, ein Nachklang von cartesianischer Metaphysik oder früheren religiösen Ansichten über die Seele. Der Geist war das Leben eines Körpers. Erinnerung war Geist. Und so war nach einer einfachen transitiven Gleichung Erinnerung gleich Geist. Darum war mit verschwundener Erinnerung auch das Leben wertlos. So mußte Michel in dieser letzten traumatischen halben Stunde gefühlt haben, als sein Ich unter der Sorge und dem Kummer über den geistigen Tod seiner Liebe in die verhängnisvolle Arhythmie verfallen war.
Man mußte sich daran erinnern, daß man am Leben war. Und darum mußte die Ekphorisation, das Wiederhervorholen aller früheren Eindrücke, versucht werden. Falls er sich die entsprechende anamnestische Methodologie erdenken könnte.
Natürlich konnte das gefährlich sein. Falls es ihm gelänge, einen Gedächtnisverstärker zu schaffen, würde dieser vielleicht das ganze System auf einmal erfassen, und niemand könnte vorhersagen, was das subjektiv für ein Gefühl sein würde. Man müßte es einfach versuchen. Es wäre ein Experiment. Ein Selbstversuch. Nun, das wäre nicht das erste Mal. Vlad hatte sich selbst die erste gerontologische Behandlung erteilt, obwohl sie ihn hätte töten können. Jennings hatte sich mit lebendem Pockenserum geimpft. Arkadijs Vorfahr Alexander Bogdanov hatte sein Blut gegen das eines jungen Mannes ausgetauscht, der an Malaria und Tuberkulose litt, und war gestorben, während der junge Mann noch weitere dreißig Jahre gelebt hatte. Und da gab es natürlich die Geschichte von den jungen Physikern in Los Alamos, die die erste Kernexplosion ausgelöst hatten und sich gefragt hatten, ob dadurch nicht die ganze Erdatmosphäre verbrennen könnte. Zugegebenermaßen ein etwas beunruhigender Fall von Selbstversuch. Im Vergleich damit schien die Einnahme von ein paar Aminosäuren keine große Sache zu sein — was die Brisanz anbelangte eher in der Tradition der Selbstversuche Dr. Hoffmanns mit LSD stehend. Vermutlich würde die Ekphorisation weniger desorientierend sein als ein LSD-Experiment. Das Bewußtsein würde sie bestimmt gar nicht bemerken. Der sogenannte Strom des Bewußtseins war recht unlinear, wie Sax nach eingehender Selbstbetrachtung glaubte sagen zu können. Daher könnte man höchstens einen raschen assoziativen Zug von Erinnerungen erleben oder ein wüstes Durcheinander — nicht unähnlich Saxens alltäglicher Stimmung, um ehrlich zu sein. Damit konnte er fertigwerden. Und er war auch bereit, etwas Traumatischeres zu wagen, falls das geschehen sollte.
Er flog nach Acheron.
In Acheron war eine neue Gruppe in den alten Labors zugange, die inzwischen stark erweitert worden waren, so daß die ganze hohe Felsrippe ausgehöhlt und bebaut war. Es war jetzt eine Stadt von über zweihunderttausend Einwohnern. Gleichzeitig war es natürlich immer noch ein ansehnlicher Felsensporn von etwa fünfzehn Kilometern Länge und sechshundert Metern Höhe, der an keiner Stelle mehr als ein Kilometer breit war. Und es war immer noch ein Labor oder Laborkomplex in einer Weise, wie es Echus Overlook schon lange nicht mehr war — mehr wie Da Vinci und mit einer ähnlichen Organisation. Nachdem Praxis die Infrastruktur erneuert hatte, war von Vlad, Ursula und Marina die Bildung einer neuen biologischen Forschungsstation unternommen worden. Vlad war tot, aber Acheron hatte ein eigenes Leben und schien ihn nicht zu vermissen. Ursula und Marina leiteten ihre eigenen kleinen Labors und lebten noch in den Wohnungen, die sie mit Vlad geteilt hatten, direkt unter dem Kamm des Sporns in einer zum Teil ummauerten und mit Bäumen bewachsenen, sehr windigen Spalte. Sie führten ein Privatleben wie immer schon, nur noch stärker in ihre eigene Welt zurückgezogen, als es mit Vlad der Fall gewesen war. Man war in Acheron an sie gewöhnt; die jüngeren Wissenschaftler behandelten sie wie die wohlwollenden Großmütter der Station oder in den Labors auch einfach als Kolleginnen.
Aber Sax wurde von den jüngeren Forschern ebenso verblüfft angestarrt, als würden sie Archimedes vorgestellt. Es war verwirrend, so behandelt zu werden, als begegnete man einem derartigen Anachronismus; und Sax führte etliche höchst mühsame Gespräche in dem Bemühen, jeden zu überzeugen, daß er nicht den Stein der Weisen in der Hosentasche mit sich herumtrug und Wörter in dem gleichen Sinn benutzte wie sie, und daß sein Geist noch nicht völlig vom Alter zerrüttet war etc.
Aber die Entfremdung konnte auch ein Vorteil sein. Junge Wissenschaftler in der Gruppe neigten dazu, sich zu naiven Empirikern zu entwickeln, oder aber zu idealistischen energischen Enthusiasten. Darum war Sax, der — neu und alt zugleich — von außen kam, imstande, sie in den Seminaren zu beeindrucken, die Ursula einberief, um den laufenden Stand der Arbeiten über das Gedächtnis zu diskutieren. Sax legte seine Hypothesen über die Schaffung einer möglichen Anamnesie dar, mit Vorschlägen für verschiedene Richtungen experimenteller Arbeit zu diesen Möglichkeiten; und er stellte fest, daß seine Anregungen für die jungen Forscher eine Art prophetischer Kraft besaßen, selbst wenn (oder vielleicht gerade wenn) sie recht allgemeine Bemerkungen enthielten. Falls diese vagen Anregungen zufällig mit irgendeiner Richtung zusammenfielen, in der diese Leute gerade arbeiteten, konnte die Reaktion äußerst enthusiastisch sein. Es war tatsächlich so: je aphoristischer, desto besser. Nicht sehr wissenschaftlich; aber so war es eben.
Während Sax sie beobachtete, erkannte er zum ersten Mal, daß die wendige, schnell reagierende und stark fokussierte Art der Wissenschaft, an die er sich in Da Vinci gewöhnt hatte, nicht auf Da Vinci allein beschränkt war, sondern eine Eigenschaft aller Labors war, die als kooperative Unternehmen organisiert waren. Es war die Natur der Marswissenschaft, der allgemeine Stil. Wenn die Forscher die Kontrolle über ihre eigenen Arbeiten hatten, in einem Maße, wie er es in seiner Jugend auf der Erde nie gesehen hatte, gewann die Arbeit eine noch nie dagewesene Schnelligkeit und Kraft. Zu seiner Zeit hatten die für die Arbeit erforderlichen Ressourcen anderen Leuten gehört, Institutionen mit deren eigenen Interessen und Bürokratien, wodurch eine schwerfällige und oft unvernünftig unbeholfene Kräftezersplitterung entstand. Und selbst die kohärenten Bemühungen wurden oft trivialen Dingen gewidmet, sehr häufig den finanziellen Profiten der Institution, welche die Kontrolle über das Labor hatte.
Acheron dagegen war eine halbautonome eigenständige Gemeinschaft, die den Umwelthöfen und natürlich der Verfassung unterstand, aber sonst niemandem. Sie suchten sich selbst aus, an was sie arbeiten wollten. Und wenn sie um Hilfe gebeten wurden, konnten sie, falls sie interessiert waren, sofort reagieren.
Also würde er keineswegs die ganze Arbeit, einen Verstärker für das Gedächtnis selbst zu entwickeln, alleine machen müssen. Die Acheronlabors waren hochinteressiert. Marina war im städtischen Labor des Komplexes aktiv geblieben, und die Stadt hatte immer noch eine enge Beziehung zu Praxis mit all deren Hilfsmitteln. Und viele Labors betrieben bereits Gedächtnisforschung. Sie hatte sich aus naheliegenden Gründen zu einem großen Teil des Langlebigkeitsprojekts entwickelt. Und Langlebigkeit als solche war witzlos, wenn das Gedächtnis nicht so weit reichte wie das System. Daher war es sinnvoll, wenn sich ein Komplex wie Acheron darauf konzentrierte.
Bald nach seiner Ankunft traf Sax sich mit Marina und Ursula allein zum Frühstück im Speisebereich ihrer Wohnungen. Nur die drei, umgeben von tragbaren Wänden, die mit Batiken von Dorsa Brevia bedeckt waren. Bäume in Töpfen standen in den Winkeln. Keine Erinnerung an Vlad. Sie erwähnten ihn auch nicht. Sax, der sich bewußt war, wie ungewöhnlich eine Einladung in ihr Heim war, hatte Mühe, sich auf die vorliegende Materie zu konzentrieren. Er kannte diese beiden Frauen von Anfang an und schätzte sie sehr, besonders Ursula wegen ihrer empathischen Qualitäten. Aber er hatte nicht den Eindruck, beide besonders gut zu kennen. So saß er nun da im Wind, aß und schaute sie an und auch hinaus durch die offenen Fensterwände. Dort gen Norden lag ein schmaler blauer Streifen, die Acheronbucht, ein tiefer Einschnitt in das Nordmeer. Im Süden erhob sich über dem nahen Horizont die enorme Masse von Olympus Mons. Dazwischen lag ein verteufelter Golfplatz, der mühsam aus alten Lavaströmen ausgearbeitet war, zerrissen und narbig auf der schwärzlichen Öde des Plateaus.
»Wir haben darüber nachgedacht, warum Experimentalpsychologen in jeder Generation ein paar isolierte Fälle von echt außergewöhnlichem Erinnerungsvermögen gemeldet haben«, sagte Marina, »es aber nie einen Versuch gegeben hat, diese durch die zeitgenössischen Gedächtnismodelle zu erklären.«
»Tatsächlich vergessen sie diese, sobald sie können«, warf Ursula ein.
»Ja. Und wenn dann die Berichte ausgegraben werden, hält niemand sie für völlig wahr. Es wird auf die Leichtgläubigkeit früherer Zeiten geschoben. Typischerweise kann man keinen Lebenden finden, der die beschriebenen Leistungen reproduzieren könnte. Darum besteht die Tendenz zu schließen, daß die früheren Forscher sich geirrt haben oder getäuscht worden sind. Aber eine Menge der Berichte war vorzüglich erhärtet.«
»Zum Beispiel?« fragte Sax. Es war ihm nicht eingefallen, sich nach echten funktionalen Berichten aus dem Organbereich der realen Welt umzuschauen, da diese stets anekdotisch sein mußten. Aber anscheinend war es doch sinnvoll, das zu tun.
»Der Dirigent Toscanini zum Beispiel kannte jede Note jedes Instruments in ungefähr zweihundertfünfzig symphonischen Werken auswendig«, sagte Marina, »und Text und Musik von rund einhundert Opern, dazu einer Menge kürzerer Werke.«
»Hat man das getestet?«
»Sozusagen in Stichproben. Einem Fagottisten zerbrach eine Taste seines Fagotts, und er meldete das Toscanini. Der überlegte und sagte ihm, er möge sich keine Sorgen machen, da er an diesem Abend diese Note nicht zu spielen haben würde. Und er dirigierte ohne Noten und schrieb fehlende Teile für Spieler auf und so weiter.«
»Oha!«
»Der Musikforscher Tovey hatte eine ähnliche Begabung«, fuhr Ursula fort. »Das ist bei Musikern nicht ungewöhnlich. Es ist so, als wäre die Musik eine Sprache, wo unglaubliche Leistungen manchmal möglich sind.«
»Hmm.«
»Ein Professor Athens an der Universität Cambridge im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert hatte eine umfassende Kenntnis aller möglichen Gebiete — wiederum Musik, aber auch Lyrik, Philosophie, Mathematik und das Tagesgeschehen seiner eigenen Gegenwart und Vergangenheit. Tag für Tag. Es wird berichtet, er hätte oft gesagt: ›»Interesse fokussiert die Aufmerksamkeit. ‹«
»Stimmt«, sagte Sax.
»Er benutzte sein Gedächtnis meistens für das, was er interessant fand. Das nannte er ein Interesse an der Bedeutung. Aber im Jahre 2060 erinnerte er sich noch genau an eine Liste von dreiundzwanzig Wörtern, die er 2032 für einen einzigen Test gelernt hatte. Es gibt noch tausend andere Geschichten.«
»Ich möchte gern mehr über ihn hören.«
»Ja, er war perfekter als manch anderer«, sagte Ursula. »Die sogenannten ›Kalender-Rechner‹ oder Leute, die sich an Bilder, die man ihnen gezeigt hat, in allen Einzelheiten erinnern können, sind oft in anderen Bereichen ihres Lebens behindert.«
Marina nickte. »Wie der Lette Schereschewskij und der als V.P bekannte Mann, die sich bei Tests und im allgemeinen an wirklich enorme Mengen zufälliger Fakten erinnerten. Aber beide litten an Synästhesie.«
»Hmm. Vielleicht Überaktivität des Hippoccampus.«
»Vielleicht.«
Sie erwähnten noch etliche Fälle mehr. Ein Mann namens Finkelstein, der die Wahlergebnisse der gesamten Vereinigten Staaten schneller ausrechnen konnte als alle Rechenmaschinen der 1930er Jahre. Talmudgelehrte, die nicht nur den Talmud auswendig kannten, sondern auch die Stellung jedes Wortes auf jeder Seite. Geschichtenerzähler, die sämtliche Verse Homers auswendig kannten. Sogar Menschen, von denen man sagte, sie hätten die Renaissancemethode des Gedächtnispalastes mit großem Erfolg benutzt. Sax hatte das nach seinem Schlag selbst mit recht gutem Erfolg versucht. Es gab viele Erscheinungsformen.
»Diese außerordentlichen Fähigkeiten scheinen aber nicht dasselbe zu sein wie das gewöhnliche Gedächtnis«, bemerkte Sax.
»Eidetisches Gedächtnis«, sagte Marina, »gründet sich auf Bilder, die bis ins kleinste Detail wiederkehren. Man sagt, das sei die Weise, in der sich die meisten Kinder erinnern. In der Pubertät ändert sich für die meisten von uns die Art, wie wir uns an Veränderungen erinnern. Das ist so, als würden jene Personen nie die kindliche Art des Erinnerns verlieren.«
»Hmm«, machte Sax. »Ich frage mich aber immer noch, ob es sich dabei um die oberen Extremfälle kontinuierlicher Verteilung von Fähigkeiten handelt, oder ob es Beispiele einer seltenen bimodalen Verteilung sind.«
Marina zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht. Aber wir haben hier ein Studienobjekt.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Zeyk. Er und Nazik sind hierher gezogen, so daß wir ihn untersuchen können. Er ist immer sehr kooperativ, und sie redet ihm zu. Sie sagt, es könnte vielleicht etwas Gutes dabei herauskommen. Er selbst liebt seine Fähigkeit nicht, mußt du wissen. Bei ihm hat es nicht viel mit Rechentricks zu tun, obwohl er darin besser ist als die meisten von uns. Aber er kann sich bis hin zu erstaunlichen Details an seine Vergangenheit erinnern.«
»Ich entsinne mich, davon gehört zu haben«, sagte er. Die beiden Frauen lachten, dann war es einen Moment still, er mit ihnen. »Ich möchte gern sehen, was ihr mit ihm anstellt.«
»Gewiß. Er ist unten in Smadars Labor. Das ist interessant. Sie sehen sich Bilder von Ereignissen an und stellen ihm Fragen dazu. Dann redet er darüber, an was er sich erinnert, während sie zugleich sein Gehirn nach den allerletzten Methoden abtasten.«
»Klingt sehr interessant.«
Ursula führte ihn nach unten zu einem langen Labor mit gedämpfter Beleuchtung, in dem einige Betten mit Personen belegt waren, die der einen oder anderen Art von Scans unterzogen wurden. Bunte Bilder flimmerten auf Schirmen oder holographisch in der Luft. Andere Betten waren leer und wirkten irgendwie verdächtig.
Unter all den jungen Eingeborenen sah Zeyk aus wie ein Exemplar von Homo habilis — aus der Vorgeschichte herbeizitiert, um auf seine geistigen Fähigkeiten hin getestet zu werden. Er trug einen Helm, der innen mit Kontaktpunkten bepflastert war. Sein weißer Bart war feucht und die Augen eingesunken und müde in seiner verwitterten dunklen Haut von der Farbe dunkler Hämatome. Nazik saß an der anderen Seite seines Bettes und hielt seine Hand in der ihren. In der Luft über einem Holographen nahe der Tür war ein detailliertes dreidimensionales transparentes Bild von Zeyks Gehirn zu sehen. Ständig zuckten Blitze farbigen Lichts hindurch und erzeugten grüne, rote, blaue und blaßgoldene Muster.
Auf dem Schirm am Bett schwankten Bilder einer kleinen Zeltsiedlung nach Einbruch der Dunkelheit. Eine junge Frau, vermutlich die Forscherin Smadar, stellte Fragen.
»Hat also Ahad die Fetah angegriffen?«
»Ja. Oder sie kämpften, und ich hatte den Eindruck, daß die Ahad damit angefangen hatten. Aber ich meinte, daß jemand sie aufeinander gehetzt hatte, indem er Slogans in die Fenster geritzt hat.«
»Hatte die Muslimische Bruderschaft oft so heftige interne Konflikte?«
»Damals schon. Aber warum in jener Nacht, weiß ich nicht. Es hat sie jemand gegeneinander aufgehetzt. Es war, als ob plötzlich alle verrückt geworden wären.«
Sax fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte. Dann empfand er einen Kälteschauer, als ob die Ventilation etwas von dem kalten Morgen draußen hereingelassen hätte. Die kleine Zeltstadt auf den Videos war Nicosia. Sie sprachen über die Nacht, in der John Boone getötet worden war. Smadar beobachtete die Videos und stellte Fragen. Zeyk wurde aufgezeichnet. Jetzt schaute er zu Sax hinüber und nickte zum Gruß. »Russell war auch dort.«
»Warst du?« fragte Smadar und sah Sax nachdenklich an.
»Ja.«
An diese Ereignisse hatte Sax seit Jahren nicht mehr zurück gedacht, seit Jahrzehnten. Vielleicht ein Jahrhundert. Er stellte fest, daß er nie wieder in Nicosia gewesen war, nicht seit jener Nacht. Als ob er es gemieden hätte. Ohne Zweifel Verdrängung. Er hatte John sehr gern gehabt, der vor der Ermordung mehrere Jahre für ihn gearbeitet hatte. Sie waren Freunde gewesen. »Ich habe gesehen, wie er angegriffen wurde«, sagte er zur allgemeinen Überraschung.
»Ja, das hast du!« rief Zeyk. Jetzt starrten ihn außer Zeyk auch Nazik und Ursula an, und Marina mit ihnen.
»Was hast du gesehen?« fragte ihn Smadar und schaute kurz auf Zeyks Gehirnbild, das in einem lautlosen Sturm flimmerte. Das war die Vergangenheit — genau so ein stiller, flimmernder elektrischer Sturm. Das war die Arbeit, auf die sie zustrebten.
»Es kam zu einem Handgemenge«, sagte Sax zögernd und unbehaglich und blickte in das Hologramm wie in eine Kristallkugel. »Auf einer kleinen Plaza, wo eine Seitenstraße auf den zentralen Boulevard mündete. Nahe der Medina.«
»Waren es Araber?« fragte die junge Frau.
»Vielleicht«, sagte Sax. Er schloß die Augen; und obwohl er es nicht sehen konnte, konnte er es sich irgendwie vorstellen in einer Art von blindem Sehen. »Ja, das nehme ich an.«
Er öffnete die Augen und sah, wie Zeyk ihn anstarrte. »Hast du sie erkannt?« krächzte Zeyk. »Kannst du mir sagen, wie sie ausgesehen haben?«
Sax schüttelte den Kopf. Aber das schien ein Bild loszuschütteln — schwarz und dennoch präsent. Das Video zeigte die dunklen Straßen von Nicosia, mit Licht flackernd wie der Gedanke in Zeyks Gehirn. »Ein großer Mann mit schmalem Gesicht und schwarzem Schnurrbart. Sie hatten alle schwarze Schnurrbarte, aber dieser war länger; und er schrie die anderen Männer an, die Boone angriffen, aber nicht Boone selbst.«
Zeyk und Nazik schauten einander an. »Yussuf«, sagte Zeyk. »Yussuf und Nejm. Sie führten damals die Fetah an und waren wütender auf Boone als irgendeiner von den Ahad. Und als Selim später in der Nacht sterbend bei uns erschien, sagte er: Boone hat mich getötet. Boone und Chalmers. Er sagte nicht: Ich habe Boone getötet; er sagte: Boone hat mich getötet.« Er sah wieder Sax an. »Aber was ist danach geschehen? Was hast du gemacht?«
Sax erschauerte. Das war es, warum er niemals nach Nicosia zurückgekehrt war und sich jeden Gedanken daran verboten hatte. In jener Nacht, in dem kritischen Moment, hatte er gezögert. Er hatte Angst gehabt. »Ich habe sie von der anderen Seite der Plaza aus gesehen, Ich war in einiger Entfernung und wußte nicht, was ich tun sollte. Sie haben John niedergeschlagen. Sie haben ihn fortgezerrt. Ich — habe zugesehen. Dann — war ich in einer Gruppe, die hinter ihnen her lief. Ich weiß nicht, wo der Rest war. Sie zogen mich mit. Aber die Angreifer schleppten ihn durch jene Nebenstraßen; und im Dunkeln... hat unsere Gruppe sie verloren.«
»In deiner Gruppe gab es wahrscheinlich Freunde der Angreifer«, sagte Zeyk. »Und zwar ganz gezielt, um dich bei der Verfolgung auf den falschen Weg zu führen.«
»Ah!« sagte Sax. Es hatte in der Gruppe Männer mit Schnurrbärten gegeben. »Möglich.«
Er fühlte sich schlecht. Er hatte gefroren und nichts getan. Die Schirmbilder flimmerten. In der Dunkelheit blitzte es auf, und Zeyks Cortex war mit mikroskopischen bunten Schlaglichtern erhellt.
»Also war es nicht Selim«, sagte Zeyk zu Nazik. »Und auch nicht Frank Chalmers.«
»Wir sollten es Maya sagen«, Nazik sprach nachdrücklich. »Sie muß es wissen.«
Zeyk zuckte die Achseln. »Das wird sie nicht kümmern. Wenn Frank Selim auf John angesetzt hat, aber ein anderer die Tat begangen hat, spielt das eine Rolle?«
»Aber du denkst, es war jemand anders«, hakte Snadar nach.
»Ja. Yusuf und Nejm. Die Fetah. Oder wer sonst die Leute gegeneinander aufgehetzt hat. Nejm, vielleicht ...«
»Der tot ist.«
»Und Yusuf auch«, sagte Zeyk grimmig. »Und wer auch immer den Krawall in jener Nacht ausgelöst hat... « Er schüttelte den Kopf, und das Bild über ihm zitterte leicht.
»Erzähl mir, was danach geschehen ist!« sagte Smadar und blickte auf ihren Schirm.
»Unsi al-Khan kam in den Hajr gelaufen, um uns zu sagen, daß Boone angegriffen worden war. Unsi... nun, jedenfalls ging ich mit einigen anderen zum Syrischen Tor, um zu sehen, ob es benutzt worden war. Die arabische Methode der Exekution war damals, daß man jemanden hinaus auf die Oberfläche warf. Wir entdeckten, daß das Tor einmal benutzt, aber niemand dadurch zurückgekommen war.«
»Erinnerst du dich an den Code des Tores?« fragte Smadar.
Zeyk runzelte die Stirn, seine Lippen bewegten sich, die Augen waren zugekniffen. »Es waren Teile der Fibonacci-Reihe. Ich entsinne mich, das damals bemerkt zu haben: Fünf — acht — eins — drei — zwei — eins.«
Sax schnappte nach Luft. Smadar nickte: »Fahr fort!«
»Dann kam eine Frau, die ich nicht kannte, vorbeigelaufen und sagte, man hätte Boone in der Farm gefunden. Wir folgten ihr zur medizinischen Klinik in der Medina. Die war neu, alles war blitzsauber und an den Wänden hingen noch keine Bilder. Sax, du warst dort und der Rest der Ersten Hundert in der Stadt: Chalmers und Toitovna und Samantha Hoyle.«
Sax stellte fest, daß er sich überhaupt nicht an die Klinik erinnern konnte. Halt... ein Bild von Frank mit gerötetem Gesicht und Maya in einem weißen Domino, ihr Mund ein blutleerer Strich. Aber das war draußen gewesen auf dem mit Glassplittern übersäten Boulevard. Er hatte ihnen von dem Angriff auf Boone erzählt, und Maya hatte sofort geschrien: »Hast du sie aufgehalten?« Und er hatte sofort erkannt, daß er versagt hatte, daß er sie nicht aufgehalten hatte, seinem Freund nicht geholfen hatte, daß er im Schock erstarrt dagestanden und zugesehen hatte, wie sein Freund angegriffen und weggezerrt wurde. Er hatte zu Maya gesagt: »Wir haben es versucht. Ich habe es versucht.« Obwohl das nicht stimmte.
Aber später in der Klinik? — nichts. Ihm fiel wirklich nichts über den ganzen Rest jener Nacht ein. Er schloß wie Zeyk die Augen und preßte die Lider zu, als ob das ein anderes Bild heraus quetschen könnte. Aber nichts kam. Das Gedächtnis war so merkwürdig. Er erinnerte sich an kritische traumatische Momente, wenn diese Erkenntnisse sich in ihn eingebohrt hatten. Der Rest war verschwunden. Sicher mußten das limbische System und die emotionale Belastung jedes Vorfalls entscheidend in der Befrachtung oder Encodierung oder Einbettung einer Erinnerung beteiligt sein.
Aber dann wiederum Zeyk, der langsam jede Person nannte, die er in dem Warteraum der Klinik gekannt hatte, obwohl dieser dicht gefüllt gewesen sein mußte. Dann beschrieb er das Gesicht der Ärztin, die herausgekommen war, um ihnen Boones Tod zu melden. »Sie sagte: ›Er ist tot. Zu lange draußen gewesene Maya legte Frank eine Hand auf die Schulter, und er zuckte zusammen.«
Nazik flüsterte: »Wir müssen es Maya sagen.«
»Er sagte zu ihr: ›Es tut mir leid‹, was ich seltsam fand. Sie sagte daraufhin zu ihm, daß er ja John ohnehin nie gemocht hätte, was richtig war. Und Frank stimmte sogar zu, ging dann aber fort. Er sagte: ›Was weißt du denn davon, was ich mag oder nicht mag?‹ So bitter. Ihm gefiel diese Mutmaßung nicht, der Gedanke, daß sie ihn kannte.« Zeyk schüttelte den Kopf.
»War ich während dieser Zeit dort?« fragte Sax.
»...Ja. Du hast auf der anderen Seite von Maya gesessen. Aber du warst abgelenkt. Du hast geweint.«
Sax fiel davon absolut nichts mehr ein. Plötzlich erinnerte er sich, daß ebenso, wie es viele Dinge gab, die er getan hatte und von denen niemals jemand etwas wissen würde, es auch Dinge gab, die er getan hatte und an die sich andere erinnerten, während er selbst sich nicht darauf besinnen konnte. So wenig wußten sie! So wenig!
Zeyk fuhr fort über den Rest jener Nacht und den nächsten Morgen zu berichten. Das Erscheinen von Selim und dessen Tod. Dann vom darauffolgenden Tag, als Zeyk und Nazik Nicosia verlassen hatten. Und auch noch vom Tag danach. Ursula sagte, daß er mit dieser Menge an Details über jede Woche seines Lebens fortfahren könnte.
Aber nun brach Nazik die Sitzung ab. Sie sagte zu Smadar: »Genug für heute. Laß uns morgen weitermachen!«
Smadar stimmte zu und tippte etwas auf der Konsole der Maschine neben sich. Zeyk starrte wie ein heimgesuchter Mann an die dunkle Zimmerdecke; und Sax sah, daß man zu den vielen Fehlfunktionen des Gedächtnisses auch solche Erinnerungen zählen mußte, die zu gut liefen. Aber wie? Welcher Mechanismus bewirkte das? Da war das Bild von Zeyks Gehirn, das in einem anderen Medium die Muster von Quantenaktivität wiedergab wie Blitze, die in seinem Cortex umherflimmerten... einem Gehirn, das die Vergangenheit viel besser festhielt als die übrigen Alten und unzugänglich war gegen Erinnerungsverluste, die Sax für einen unausweichlichen zeitbedingten Zusammenbruch gehalten hatte... Nun, sie unterzogen dieses Gehirn jedem erdenklichen Test. Aber es war durchaus möglich, daß das Geheimnis ungelöst blieb. Es passierte einfach zu viel, das ihnen völlig entging. Wie in jener Nacht in Nicosia.
Sax zog sich erschüttert einen warmen Pullover an und ging nach draußen. Das Land um Acheron hatte ihm willkommene Unterbrechungen seiner Laborzeit geliefert, und er freute sich jetzt sehr, es zu durchstreifen, einfach um wegzukommen.
Er wandte sich nach Norden auf die See zu. Einige der besten Gedanken über das Gedächtnis waren ihm gekommen, während er zu dieser Küste hinunterging, über so verschlungene Wege, daß er niemals denselben zweimal erwischte, teils weil das alte Lavaplateau durch Gräben und steile Böschungen so zerklüftet war, und teils weil er nie auf die größere Topographie achtete. Er war entweder in seinen Gedanken versunken oder von der Landschaft gefesselt und schaute sich nur ab und zu um, damit er wußte, wo er sich befand. Es war tatsächlich eine Region, in der man sich nicht verirren konnte. Man stieg auf eine kleine Anhöhe, und dort stand der Acheron-Sporn wie der Kamm eines ungeheuren Drachens. Und in der anderen Richtung, von um so mehr Stellen aus zu sehen, je näher man kam, lag die blaue Weite der AcheronBucht. Dazwischen gab es eine Million von Mikromilieus. Das steinige Plateau war gesprenkelt von versteckten Oasen, und jede Spalte war voller Pflanzen. Das war keineswegs der Schmelzlandschaft an der polaren Küste auf der anderen Seite des Meeres ähnlich. Dieses Steinplateau hier und seine kleinen verborgenen Habitate wirkten uralt, obwohl die Gartenarbeit sicher von den Okopoeten Acherons geleistet worden war. Viele dieser Oasen waren Experimente, und Sax behandelte sie auch als solche. Er blieb außerhalb davon und blickte in eine Grube mit steilen Wänden nach der anderen und fragte sich, was der dafür verantwortliche Ökopoet mit seiner oder ihrer Arbeit herausfinden wollte. Hier konnte man Humus ausstreuen, ohne zu befürchten, daß er ins Meer gespült würde, obwohl das aufregende Grün der sich bis in die Täler hinaufziehenden Flußmündungen zeigte, daß einiger fruchtbarer Boden seinen Weg stromabwärts nahm. Diese Mündungsmarschen würden sich mit erodierten Böden füllen, während sie gleichzeitig salziger werden würden wie das Nordmeer selbst...
Aber diesmal wurden seine Beobachtungen draußen immer wieder durch Gedanken an John unterbrochen. John Boone hatte in den letzten paar Jahren seines Lebens für ihn gearbeitet; und sie hatten viele Besprechungen, in denen sie die sich rasch entwickelnde Vegetation des Mars erörterten. Es waren vitale Jahre gewesen; und John war in ihnen stets glücklich gewesen, fröhlich, zuversichtlich, ein verläßlicher loyaler Freund, höflich, folgsam, heiter, fürsorglich, mutig, strahlend und hingebungsvoll. Nein, nicht genau. Er war auch schroff, ungeduldig, arrogant, faul, schlampig, drogenabhängig und stolz gewesen. Aber Sax hatte sich mit der Zeit mehr und mehr auf ihn verlassen. Er hatte ihn geliebt wie einen großen Bruder, der ihn draußen in der weiten Welt beschützte. Und dann hatten sie ihn getötet. Das sind die Typen, hinter denen die Killer immer her sind. Sie konnten diesen Mut nicht ertragen. Und so hatten sie ihn ermordet; und Sax hatte dagestanden, zugesehen und nichts unternommen. Erstarrt in Schock und persönlicher Angst. Hast du sie nicht aufgehalten? — hatte Maya geschrien. Er erinnerte sich jetzt an ihre scharfe Stimme. Nein, ich hatte Angst. Nein, ich habe nichts unternommen. Natürlich war es unwahrscheinlich, daß er überhaupt etwas hätte tun können. Zuvor, als die Angriffe auf John einsetzten, hätte er ihn vielleicht zu einer anderen Tätigkeit überreden und einige Leibwächter zu seinem Schutz anheuern können, die ihm heimlich folgten und ihn beschützten — wenn seine Freunde als schockierte Augenzeugen erstarrten. Aber er hatte niemanden verpflichtet. Und so war sein Bruder umgebracht worden, sein Bruder, der ihn ausgelacht, aber auch ebenso geliebt hatte, noch bevor ein anderer überhaupt an ihn gedacht hatte.
Sax ging heftig erregt über die zerklüftete Ebene, aufgebracht über den Verlust eines Freundes vor 153 Jahren. Manchmal schien es so, als gäbe es gar keine Zeit.
Dann blieb er plötzlich stehen, in die Gegenwart zurückgeholt durch den Anblick von Leben. Kleine weiße Nagetiere schnupperten auf dem Grün einer eingesunkenen Wiese herum. Es waren ohne Zweifel Schnee-Pfeifhasen oder so etwas; aber in ihrer weißen Farbe sahen sie Laborratten so ähnlich, daß es Sax einen Ruck gab. Weiße Laborratten, ja, aber schwanzlos; mutierte Laborratten, ja, endlich befreit von ihren Käfigen und draußen in der Welt. Sie wanderten über das intensiv grüne Wiesengras wie surreale Objekte einer Halluzination, ganz munter und mit schnuppernden Barthaaren, während sie den Boden nach Leckerbissen absuchten. Sie mampften Samen, Nüsse und Blüten. John hatte sich über die Geschichte von Sax mit den hundert Laborratten sehr amüsiert. Saxens Gedanken, jetzt frei und zerstreut. Das ist unser Körper.
Sax hockte sich hin und beobachtete die kleinen Nager, bis ihm kalt wurde. Auf dieser Ebene gab es auch größere Tiere, und er blieb bei ihnen immer kurz stehen, um sie zu beobachten: Hirsche, Elche, Dickhornschafe, Rentiere, Karibus, Schwarzbären, Grizzlybären, sogar Rudel von Wölfen wie flinke graue Schatten. Sie alle erschienen Sax wie Bürger aus einem Traum. Darum war er jedesmal, wenn er eine einzige Kreatur sichtete, erregt, überrascht und sogar erstaunt. Das schien ihm unmöglich. Es war sicher nicht natürlich. Aber es gab sie hier. Und jetzt diese kleinen Pfeifhasen, glücklich in ihrer Oase. Weder Natur noch Kultur — einfach Mars.
Er dachte an Ann. Er würde sie gerne sehen.
Er dachte in diesen Tagen oft an sie. So viele seiner Freunde waren jetzt tot, aber Ann lebte. Er konnte immer noch mit ihr sprechen, das war zumindest möglich. Er hatte sich erkundigt und festgestellt, daß sie jetzt in der Caldera von Olympus Mons lebte, als Mitglied einer kleinen Gemeinschaft roter Bergsteiger, die dort wohnten. Offenbar gab es in der Caldera Schichtwechsel, um die Bevölkerung klein zu halten trotz der steilen Wände des großen Lochs und der primitiven Bedingungen, die für sie so attraktiv waren. Aber Ann blieb, solange sie Lust hatte, wie Sax gehört hatte, und ging nur selten fort. Das hatte Peter ihm erzählt, obwohl der es auch nur aus zweiter Hand gehört hatte. Schade, daß die beiden sich entfremdet hatten, grundlos. Aber familiäre Entfremdungen schienen die unversöhnlichsten von allen zu sein.
Jedenfalls befand sie sich auf Olympus Mons. Der war fast in Sicht, gerade im Süden über dem Horizont. Und er wollte mit ihr sprechen. Er dachte, alle seine Überlegungen dazu, was auf dem Mars geschah, waren wie ein internes Gespräch mit Ann gestaltet. Nicht so sehr als Streitgespräch, so hoffte er, sondern als eine endlose Überredung. Wenn er durch die Realität des blauen Mars so verändert werden konnte, warum dann nicht auch Ann? War das nicht unvermeidlich und sogar notwendig? Hätte es vielleicht schon geschehen sein können? Sax fühlte, daß er im Laufe der Jahre das zu lieben gelernt hatte, was Ann am Mars gefiel. Und jetzt wollte er, daß sie, wenn möglich, es erwiderte. Sie war für ihn auf höchst unbequeme Weise sein Maß für den Wert dessen geworden, was sie geleistet hatten. Den Wert oder die Akzeptanz. Es war ein seltsames Gefühl, das sich in ihm gebildet hatte, aber es war da.
Noch ein unangenehmer Kloß in seinem Geist, wie die plötzlich wieder entdeckte Schuld an Johns Tod, die er versuchen wollte, wieder zu vergessen. Wenn er die interessanten Gedanken auslöschen konnte, sollte er auch imstande sein, die schrecklichen zu tilgen, nicht wahr? John war gestorben; und nichts, was in seiner Macht gestanden hatte, würde das verhindert haben. Sehr wahrscheinlich. Man konnte es nicht klären. Und man konnte auch nicht zurückgehen. John war getötet worden, und Sax hatte es versäumt, ihm zu helfen. Und Sax war am Leben, und John war tot. Nichts als ein starkes verknotetes Netzwerk in den Köpfen aller Leute, die ihn gekannt hatten. Und man konnte nichts machen.
Aber Ann lebte und kletterte da oben die Wände der Caldera von Olympus empor. Er konnte mit ihr reden, wenn er wollte. Obwohl sie nicht herauskommen würde. Er würde sie aufspüren müssen. Aber das konnte er machen. So war es. Der eigentliche Stachel von Johns Tod lag im Tod dieser Chance; er konnte nicht mehr mit ihm sprechen. Aber er konnte immer noch mit Ann sprechen. Diese Chance gab es.
Die Arbeiten an dem Anamnesie-Problem gingen weiter. Acheron war in dieser Hinsicht ein Vergnügen. Tagsüber in den Labors, Gespräche mit den Labordirektoren über ihre Experimente und sehen, ob er helfen konnte. Wöchentlich Seminare, wo man vor den Schirmen zusammenkam, die Resultate austauschte und sich über mögliche Auslegungen unterhielt, und was man als nächstes versuchen sollte. Leute unterbrachen ihre Arbeit, um auf der Farm zu helfen, andere Angelegenheiten zu erledigen oder auf Reisen zu gehen. Aber es gab andere zur Vertretung; und wenn die Wissenschaftler zurückkehrten, hatten sie oft neue Ideen gehabt und waren immer frisch mit Energie geladen. Sax saß nach den wöchentlichen Zusammenkünften immer noch eine Weile in den Seminarräumen und sah sich die Kaffeetassen und die Ringe von braunem Kaffee und schwarzen Kavaflecken auf den abgenutzten Tischplatten und die blanken Tafelschirme an. Sie waren bedeckt von Schemata chemischer Diagramme und großen gebogenen Pfeilen, die auf Akronyme zeigten und alchemische Symbole, wie sie Michel gefallen hätten. Und etwas in ihm erglühte, bis es schmerzte — irgendeine parasympathetische Reaktion, die aus seinem limbischen System ausströmte. Ja bei Gott, das war jetzt Wissenschaft, in den Händen der Wissenschaftler selbst, die zusammen für ein kollektives Ziel arbeiteten, das sinnvoll war, und dem Allgemeinwohl diente. Sie stießen bis an die Grenze ihres Wissens vor. Theorie und Experiment flogen hin und her wie Pingpongbälle. Woche um Woche fanden sie mehr und steckten sich neue Ziele. Sie dehnten den großen unsichtbaren Parthenon bis in das noch nicht kartierte Territorium des menschlichen Geistes aus, in das Leben selbst. Das machte ihn so glücklich, daß es ihn fast nicht kümmerte, wenn sie etwas herausfanden. Die Suche war alles.
Aber sein Kurzzeitgedächtnis war beschädigt. Er experimentierte jeden Tag mit den Ausfällen und Dingen, die ihm permanent auf der Zunge lagen. Manchmal mußte er in den Seminaren mitten im Satz innehalten, sich setzen und den anderen mit der Bitte fortzufahren zuwinken. Sie nickten dann, und die Person an der Wandtafel machte weiter. Nein, er brauchte die Lösung für dieses drängende Problem. Es würde später andere Rätsel geben, denen man nachzugehen hatte, ohne Zweifel. Zum Beispiel der schnelle Verfall selbst oder sonst etwas aus dem Rest des Alterungsproblems. Nein, es mangelte nicht an Unerklärbarem zur Weiterarbeit, und das würde immer so sein. Inzwischen war das Problem der Anamnese hart genug.
Immerhin wurden langsam die Umrisse einer Lösung deutlich. Ein Teil davon würde ein Drogencocktail sein, eine Mischung von Proteinsyntheseverstärkern einschließlich sogar Amphetaminen und chemischen Verwandten des Strychnins, außerdem Überträger wie Serotonin, Anreger von Glutamatrezeptoren, Cholinesterase, zyklische AMP und so weiter. Alles das würde es geben, um auf verschiedenen Wegen die Gedächtnisstrukturen zu verstärken, wenn man sie wieder ablaufen ließ. Andere Stoffe aus der allgemeinen Behandlung von Hirnplastizität, die Sax in der Zeit nach seinem Schlag erfahren hatte, würden hinzukommen. Sodann schien es nach den Experimenten mit elektrischer Stimulation, daß ein anregender Elektroschock und anschließend eine kontinuierliche Schwingung mit sehr raschen Frequenzen in Phase mit den natürlichen Gehirnwellen der Person dazu dienen könnte, die von dem Drogencocktail verstärkten neurochemikalischen Prozesse in Gang zu setzen. Danach würden die Personen die Arbeit des Gedächtnisses so gut steuern, wie sie konnten, vielleicht, indem sie sich von Knoten zu Knoten bewegten, falls das ginge, mit dem Gedanken, daß ein jeder Knoten wieder aufgerufen würde. Das den Knoten umschließende Netzwerk würde dann von den Oszillationen überflutet und entsprechend verstärkt werden. Im Grunde so, als ginge man im Theater des Gedächtnisses von Raum zu Raum. Die Experimente mit allen diesen vielfältigen Aspekten des Prozesses liefen mit Freiwilligen, oft den jungen eingeborenen Experimentatoren selbst. Sie erinnerten sich an sehr viele Dinge und sprachen mit einer Art erstaunter Scheu; und die allgemeinen Aussichten wurden immer besser. Woche um Woche feilten sie ihre Techniken aus und integrierten sie in einen Gesamtprozeß.
Aus den Experimenten ergab sich, daß der Kontext eine wichtige Komponente für den bestmöglichen Erfolg der Erinnerung war. An Listen, die man unter Wasser in Taucheranzügen auswendig gelernt hatte, konnte man sich viel besser erinnern, wenn die Personen wieder auf den Meeresboden gingen, als wenn sie sich an Land daran zu erinnern versuchten. Personen, denen man hypnotisch Gefühle des Glücks oder Kummers eingeflößt hatte, während sie eine Liste lernten, erinnerten sich besser, wenn sie wieder im gleichen Sinne hypnotisiert wurden. Das waren natürlich alles sehr grobe Experimente; aber die Verbindung zwischen Kontext und Erinnerungskraft wurde durch sie stark genug demonstriert, daß Sax ernsthaft erwog, ob er sich nicht der Behandlung unterziehen sollte, wenn sie damit fertig wären. Und wo und mit wem.
Für die abschließende Arbeit an der Behandlung rief Sax Bao Tahashi an und bat sie, für einige Konsultationen zu ihnen nach Acheron zu kommen. Ihre Arbeit war wieder viel theoretischer und bedeutend feinkörniger; aber nach ihrer Arbeit mit der Fusionsgruppe in Da Vinci hatte er einen großen Respekt vor ihrer Fähigkeit, bei jedem Problem zu helfen, bei dem Quantengravitation und die Ultramikrostruktur der Materie beteiligt waren. Sie sollte bloß durchsehen, was sie in Acheron getan hatten. Er war sich ganz sicher, daß ihr Kommentar dazu wertvoll sein würde.
Leider hatte Bao in Da Vinci wichtige Verpflichtungen, wie schon immer seit ihrer viel ausposaunten Rückkehr von Dorsa Brevia. Sax war in der ungewöhnlichen Position, seinen Heimatlabors eine ihrer besten theoretischen Kräfte zu entziehen. Aber er tat das ohne Gewissenbisse und erhielt Belas Hilfe, urh die derzeitige Administration unter Druck zu setzen. »Ka, Sax«, rief Bela bei einem Anruf aus. »Ich hätte nie geahnt, daß du dich als ein so wilder Kopfjäger erweisen würdest.«
Sax entgegnete: »Es ist ja auch mein eigener Kopf, nach dem ich auf der Jagd bin.«
Gewöhnlich war das Aufspüren einer Person so einfach wie das Kontaktieren ihres Handys nachschauen, wo sich die Person befand. Aber Anns Handy war auf dem Rande der Caldera von Olympus Mons bei der Abstiegstation nahe dem Festivalgelände bei Krater Zp zurückgeblieben. Das berührte Sax eigenartig, da sie Handys der einen oder anderen Art seit dem Anfang in Underhill getragen hatten, und Ann genau so wie jeder andere, erinnerte er sich. Oder doch nicht? Er rief Peter an und erkundigte sich. Aber Peter wußte natürlich nichts, da er lange nach den Jahren von Underhill geboren worden war. Auf jeden Fall war das Herumlaufen ohne Armbandgerät jetzt ein Verhalten, das von den neoprimitiven Nomaden entlehnt war, die durch die Canyonländer und die Küste des Nordmeeres zogen, was keine Lebensweise war, an der Ann, wie er sie kannte, irgendein Interesse haben könnte. Man konnte auf dem Olympus Mons nicht im paläolithischen Stil leben. Man brauchte dort oben jede Form von ständiger technischer Unterstützung, die in den meisten Gegenden des Mars nicht mehr notwendig war. Handys waren jedenfalls ein unerläßlicher Bestandteil davon. Vielleicht wollte Ann bloß entkommen. Peter wußte es nicht.
Aber er wußte, wie man sie erreichen konnte. »Du mußt hingehen und sie suchen.«
Über die Miene von Sax mußte er lachen. »So schlimm ist das nicht. In der Caldera sind nur ein paar hundert Leute; und wenn die sich nicht in ihren Hütten aufhalten, befinden sie sich an den Wänden der Klippen.«
»Ist sie Klettersportlerin geworden?«
»Ja.«
»Sie klettert zur — Erholung?«
»Sie klettert eben. Frag mich nicht, warum.«
»Also brauche ich bloß alle Klippen abzusuchen?«
»So hab ich sie gefunden, als Marian starb.«
Der Gipfel von Olympus Mons war größtenteils unverändert geblieben. Immerhin gab es ein paar niedrige Berghütten auf Rim Overlooks; und man hatte auf dem nordöstlichen Lavastrom, der den Böschungsring um den Vulkan durchbrach eine Piste gebaut, um leichteren Zugang zum Festivalkomplex bei Krater Zp zu haben. Aber sonst gab es nichts, das darauf hinwies, was mit dem Rest des Mars passiert war, der vom Rande der Caldera aus überhaupt nicht zu sehen war, da er unter dem Horizont der herumlaufenden Böschung lag. Von seinem Rand aus schien Olympus Mons die ganze Welt auszumachen. Die lokalen Roten hatten sich dagegen entschieden, über der Caldera eine molekulare Schutzkuppel zu errichten, wie man es über Arsia Mons gemacht hatte. Darum gab es dort sicher Bakterien und vielleicht einige Flechten, die von Winden hergeblasen, in die Caldera gesunken waren und überlebt hatten. Aber bei einem Luftdruck, der nur wenig höher war als die ursprünglichen zehn Millibar, würden sie nicht gedeihen. Wahrscheinlich waren die Überlebenden zumeist Chasmoendolithen, so daß nichts von ihnen zu sehen war. Es war für das Projekt der Roten ein Glück, daß die enormen Höhenunterschiede auf dem Mars den Luftdruck auf den großen Vulkanen so niedrig hielten. Eine unentgeltliche und wirksame Sterilisationstechnik.
Sax nahm den Zug nach Zp hinauf und dann einen Wagen zum Rand — ein Kombitaxi, das von den Roten betrieben wurde, die den Zugang zur Caldera beherrschten. Der Wagen erreichte die Kante des Randes, und Sax schaute hinunter.
Die Caldera hatte viele Ringe und war groß. Neunzig mal sechzig Kilometer, ungefähr ebenso groß wie Luxemburg, wie Sax sich entsann gehört zu haben. Der zentrale Hauptkreis, bei weitem der größte, war überlagert von kleineren Kreisen im Nordosten, im Zentrum und im Süden. Der südlichste Kreis halbierte einen etwas älteren und höheren Kreis im Südosten. Der Treffpunkt dieser drei gekrümmten Wälle galt, wie man Sax gesagt hatte, als eines der besten Klettergebiete auf dem Planeten mit der größten Höhe: einem Absturz von 26 Kilometern auf 22,5 Kilometer zum südlichsten Kraterboden. Eine Klippe von zehntausend Fuß, überlegte der Junge aus Colorado in Sax.
Der Boden der Hauptcaldera trug eine Menge gekrümmter Faltenmuster, die zu den Kraterwänden konzentrisch verliefen. Es waren bogenförmige Grate und Canyons, die von einigen geraderen Böschungen gekreuzt wurden. Diese Eigenschaften ließen sich alle erklären. Nach dem Ablauf von Magma aus der Hauptkammer unter dem Vulkan hatte es wiederholte Zusammenbrüche der Caldera gegeben. Aber als Sax von seiner hohen Position auf dem Rand in die Tiefe blickte, hatte er den Eindruck eines geheimnisvollen Berges, einer Welt für sich, von der nichts zu sehen war als der weite geschwungene Rand und die fünftausend Quadratkilometer der Caldera. Ring um Ring hoher, gekrümmter Wände und flacher runder Böden unter einem schwarzen Sternenhimmel. Die Klippen rundum waren alle höher als tausend Meter. In der Regel waren sie nicht völlig vertikal. Ihr Neigungswinkel schien gerade etwas steiler als fünfundvierzig Grad zu sein. Aber es gab überall auch steilere Partien. Ohne Zweifel strömten die Kletterer zu den steilsten Stellen, wenn man ihr Interesse betrachtete. Es schien da draußen einige sehr vertikale Flächen zu geben, sogar einen oder zwei Überhänge, direkt unter ihnen, dort, wo die drei Wände zusammentrafen.
»Ich suche Ann Clayborne«, sagte Sax zu den Fahrern, die von der Aussicht begeistert waren. »Wißt ihr, wo ich sie finden könnte?«
»Weißt du nicht, wo sie ist?« fragte eine der jungen Frauen.
»Ich habe gehört, daß sie in der Olympus-Caldera klettert.«
»Weiß sie, daß du sie suchst?«
»Nein. Sie antwortet nicht auf Anrufe.«
»Kennt sie dich?«
»O ja, Wir sind alte Freunde.«
»Und wer bist du?«
»Sax Russell.«
Sie starrten ihn an. Eine sagte: »He, alte Freunde, wie?«
Ihre Kameradin stieß sie mit dem Ellbogen an.
Die Stelle, an der sie sich befanden, trug den sehr passenden Namen Three Walls. Direkt unter ihrem Wagen auf einer kleinen Einsturzterrasse war eine Aufzugstation installiert. Sax sah sie sich mit dem Feldstecher an. Türen mit Außenschleusen, verstärktes Dach. Es hätte eine Konstruktion aus den frühen Jahren sein können. Der Aufzug bildete den einzigen Zugang für diesen Teil der Caldera, wenn man keine Zurückweisung riskieren wollte.
Zum Entsetzen ihrer Freundin sagte die Fahrerin: »Ann versorgt sich in der Marian-Station. Siehst du sie dort? Der quadratische Punkt, wo die Lavakanäle von dem Hauptboden in den Südkreis einschneiden.«
Das war auf dem gegenüberliegenden Rand des südlichsten Kreises, der auf Saxens Karte mit 6 bezeichnet war. Sax hatte Mühe, irgendeinen quadratischen Punkt auszumachen, selbst mit der Vergrößerung des Feldstechers. Aber dann sah er ihn. Ein winziger Block, etwas zu regelmäßig, um natürlich zu sein, obwohl er mit dem rostigen Grau des lokalen Basalts angestrichen war. »Ich sehe ihn. Wie komme ich dahin?«
»Nimm den Aufzug nach unten, und geh einfach rüber!«
Also zeigte er dem Aufzugspersonal den Paß, den ihm die Fahrerin gegeben hatte und machte die lange Fahrt mit dem Aufzug hinunter an der Wand des südlichen Kreises. Der Aufzug lief auf einer an der Wand der Klippe befestigten Schiene und hatte Fenster. Es war wie ein Abstieg im Helikopter oder während des letzten Stücks des Raumaufzugs über Sheffield. Bis er auf dem Calderaboden ankam, war es später Nachmittag. Er trug sich in der spartanischen Bleibe auf dem Boden ein und aß behaglich reichlich zu Abend. Von Zeit zu Zeit überlegte er, was er Ann sagen könnte. Langsam kam er darauf: Eine kohärente und anscheinend überzeugende Selbstdeutung oder Bekenntnis oder cri de cceur, Stück um Stück. Dann verschwand zu seinem großen Leidwesen das ganze Ding. Und da war er nun auf dem Boden einer vulkanischen Caldera. Über ihm blinzelte der Kreis des dunklen und gestirnten Himmels. Auf Olympus. Er suchte Ann Clayborne ohne zu wissen, was er ihr zu sagen hatte. Sehr traurig.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück legte er einen Marschanzug an. Obwohl die Materialien verbessert worden waren, umklammerte der elastische Stoff die Gliedmaßen und den Rumpf genau so dicht wie die alten Anzüge. Seltsam, wie seine Kinetik Gedankenketten aufrief, Blitze der Erinnerung: Das Aussehen von Underhill, als sie die quadratische Kuppel bauten. Sogar eine Art körperlicher Epiphanie, die eine Erinnerung seines allerersten Hinausgehens aus dem Landevehikel zu sein schien, mit der Überraschung naher Horizonte und der rötlichen Färbung des Himmels. Wiederum Kontext und Erinnerung.
Er ging quer über den Boden des Südkreises. An diesem Morgen war der Himmel ein dunkles Indigo, dunklem Marineblau sehr nahe, wie die Farbtafel sagte. Eine merkwürdige Namenswahl, wenn man bedachte, wie dunkel sie war. Viele Sterne waren zu sehen. Der Horizont war eine runde, nach allen Seiten aufsteigende Klippe. Der südliche Halbkreis drei Kilometer hoch, der nordöstliche Quadrant zwei Kilometer, der nordwestliche Quadrant drei Kilometer und zerklüftet. Wirklich ein erstaunlicher Anblick, diese Rundheit. Thermodynamik von abkühlendem Gestein in Magmakammern und Magmatrichtern. Draußen, inmitten der umgebenden Wände, bot sich ein atemberaubendes Bild. Die Wände sahen nach allen Richtungen gleich hoch aus, ein Schulbeispiel für die Fähigkeit der Verkürzung der Wahrnehmung vertikaler Distanzen.
Sax marschierte mit gleichmäßigen Schritten dahin. Der Calderaboden war ziemlich glatt, mit gelegentlichen Lavabomben- und Meteoritentreffern und flachen gebogenen Gräben. Einige von ihnen mußte man umgehen — ein sehr passendes Wort, da es sich wirklich um Umgehungen handelte. Aber zum größten Teil konnte er direkt auf den gebrochenen Klippensturz im Nordwestquadrant der Caldera zugehen.
Es erforderte sechs Stunden ständigen Marschierens, den Boden des Südkreises zu durchqueren, der weniger als zehn Prozent des Gesamtareals der Caldera ausmachte, von dem der ganze Rest für ihn während des Marsches unsichtbar blieb. Kein Anzeichen von Leben, keinerlei Störung des Calderabodens oder der Wände. Die Atmosphäre war sichtlich dünn, alles gleich scharf für das Auge, etwa um die ursprünglichen zehn Millibar, schätzte er. Die unberührte Natur der Dinge machte ihn unsicher wegen der Abdrücke seiner Stiefel; und er versuchte, auf harten Fels zu treten und Staubflecke zu vermeiden. Der Anblick der urtümlichen Landschaft war seltsam befriedigend: Rötlich, obwohl die Farbe meist ein Überzug aus dunklem Basalt war. Seine Farbtafel war bei ungewöhnlichen Mischungen nicht so gut.
Sax war noch nie in eine der großen Calderas hinunter gestiegen. Und selbst wenn man viele Jahre in großen Impaktkratern verbracht hatte, so war man, wie er fand, nicht vorbereitet auf die Tiefe der Kammern, die Steilheit der Wände und die Ebenheit des Bodens. Die schiere Größe der Dinge.
Um die Mitte des Nachmittags näherte er sich dem Fuß des nordwestlichen Bogens. Das Zusammentreffen von Felswand und Boden tauchte über seinem Horizont auf, und zu Saxens Trost erschien die Blockhütte direkt vor ihm. Seine APS-Peilung war recht genau gewesen. Keine komplizierte navigatorische Leistung, aber an einer so exponierten Stelle war es erfreulich, wenn man richtig auf Kurs war. Seit seinem Erlebnis in dem Sturm vor langer Zeit war er etwas achtsamer geworden. Allerdings würde es hier oben auch keine Stürme geben.
Als er sich den Schleusentüren der Hütte näherte, erschien aus dem Grund einer ungeheuer steilen Rinne in der gebrochenen Fläche der Klippe, die ungefähr einen Kilometer westlich der Schutzhütte in den Kraterboden einmündete, eine Gruppe von Leuten. Es waren vier Gestalten mit großen Rucksäcken. Sax blieb stehen. In seinem Helm war der Atem laut zu vernehmen. Er erkannte die letzte Person sofort. Ann kam herein, um sich wieder zu versorgen. Jetzt mußte er sich etwas ausdenken, das er ihr sagen konnte. Und es dann auch nicht vergessen.
In der Hütte nahm Sax seinen Helm ab und fühlte dabei eine vertraute, aber höchst unwillkommene Spannung im Magen. Es ging bei jeder Begegnung mit Ann immer schlechter. Er drehte sich um und wartete. Endlich kam Ann herein, nahm den Helm ab und sah ihn. Sie stutzte, als sähe sie ein Gespenst und rief: »Sax?«
Er nickte. Er erinnerte sich an ihre letzte Zusammenkunft vor langer Zeit auf der Insel von Da Vinci. Das kam ihm vor wie ein früheres Leben. Er hatte seine Zunge verloren.
Ann schüttelte den Kopf und lachte vor sich hin. Sie durchquerte den Raum mit einer Miene, die er nicht deuten konnte, und erfaßte mit beiden Händen seine Arme, beugte sich vor und küßte ihn sanft auf die Wange. Als sie sich zurückzog, hielt sie mit einer Hand weiter seinen linken Arm fest und ließ sie bis zum Handgelenk heruntergleiten. Sie sah ihn direkt an, und ihr Griff war wie Stahl. Sax war wieder sprachlos, obwohl er sehr zu sprechen wünschte. Aber es gab nichts zu sagen, oder zu viel. Er konnte nicht einmal sagen, welches von beiden. Seine Zunge war wie gelähmt. Diese Hand auf seinem Handgelenk. Das hinderte ihn mehr, als jeder scharfe Blick oder jede schneidende Bemerkung es je bewirkt hätten.
Eine Welle schien durch sie zu laufen, und sie wurde etwas mehr zu der Ann, die er kannte. Sie sah ihn bedenklich und dann alarmiert an. »Sind alle okay?«
»Ja, ja«, sagte Sax. »Ich meine, du hast von Michel gehört?«
»Ja.« Ihr Mund verengte sich. Für eine Sekunde wurde sie die schwarze Ann seiner Träume. Dann durchfuhr sie etwas anderes, und sie war diese neue Fremde, die immer noch sein Handgelenk umklammert hielt, als ob sie die Hand wegschleudern wollte. »Aber jetzt bist du einfach hier, um mich zu besuchen.«
»Ja. Ich wollte...« — er suchte krampfhaft nach einem Schluß dieses Satzes — »...reden! Ja, dir — einige Fragen stellen. Ich habe Schwierigkeiten mit meinem Gedächtnis. Ich fragte mich, ob wir hier miteinander sprechen könnten. Marschieren oder...« — er schluckte — »oder klettern. Könntest du mir etwas von der Caldera zeigen?«
Sie lächelte. Wieder war es eine andere Ann. »Du kannst mit mir klettern, wenn du willst.«
»Ich bin kein Kletterer.«
»Wir werden auf einer leichten Route aufsteigen. Wangs Gully hinauf und über den großen Kreis zum Nordkreis. Ich wollte ohnehin dort hinauf, solange es noch Sommer ist.«
»Es ist jetzt Ls 200. Aber ich finde, das klingt gut.« Sein Herz machte ungefähr 150 Schläge in der Minute.
Es stellte sich heraus, daß Ann alle benötigte Ausrüstung hatte. Als sie sich am nächsten Morgen anzogen, sagte sie zu ihm: »Hier, nimm das ab!« Sie zeigte auf sein Armbandgerät.
»Oje, ist das nicht ein Teil des Anzugsystems?« Das war es und Sax war nicht begeistert; aber sie schüttelte den Kopf. »Der Anzug ist autonom.«
»Halbautonom, hoffe ich.«
Sie lächelte. »Ja. Aber es ist kein Armbandgerät nötig. Schau — dies Ding verbindet dich mit der ganzen Welt. Es ist deine Handfessel zur Raumzeit. Heute wollen wir bloß in Wangs Gully gehen. Das wird genügen.«
Es war genug. Wangs Gully war eine breite verwitterte Rinne, die durch steilere Klippen nach oben eingeschnitten war wie ein gigantischer defekter Abzugskanal. Den größten Teil des Tages folgte Sax Ann durch engere Rinnen innerhalb dieser großen. Er krabbelte hüfthohe Stufen hinauf und benutzte die meiste Zeit seine Hände, aber selten mit dem Gefühl, daß ihn ein Sturz töten würde oder mehr als einen verrenkten Knöchel einbringen könnte. »Das ist nicht so gefährlich, wie ich gedacht hatte«, sagte er. »Ist das die Art von Kletterei, die du auch sonst immer machst?«
»Das hier ist überhaupt kein Klettern.«
»Ah.«
Also stieg sie normalerweise steilere Hänge empor.
Schon jetzt mit Sax ging sie Risiken ein, die eigentlich unverantwortlich waren.
Und in der Tat, am Nachmittag kamen sie zu einer kurzen Wand, die von horizontalen Rissen durchzogen war. Ann machte sich daran, sie ohne Seile oder Haken hochzuklettern. Sax folgte zähneknirschend. Nahe der höchsten Stelle eines für Geckos geeigneten Anstiegs, die Stiefelspitzen und Finger in Handschuhen in kleine Spalten gepreßt, sah er hinunter auf Wangs Gully, der plötzlich im ganzen viel steiler wirkte als in jedem Abschnitt davor. Alle seine Muskeln zitterten plötzlich vor Erschöpfung und Erregung. Es gab nichts anderes, als ganz hinaufzuklettern. Aber er mußte immer wieder diese riskante Position einnehmen, während er sich beeilte, nach oben zu kommen. Die Griffe wurden gerade dann noch glatter, wenn er unbedingt schneller werden mußte, um ihr auf den Fersen zu bleiben. Der Basalt war leicht genarbt. Sein dunkles Grau war in Rost und Siena getönt. Er sah gebannt auf eine Spalte mehr als einen Meter über seiner Augenhöhe. Er würde diese Spalte benutzen müssen. War sie tief genug, daß seine Finger überhaupt einen Angriffspunkt fanden? Er mußte es riskieren. Sicher sein konnte er nicht. Also holte er tief Luft, langte hoch und probierte es. Und es zeigte sich, daß sie durchaus nicht tief genug war. Aber mit einem raschen Ruck, unfreiwillig bei der Anstrengung stöhnend, war er oben und daran vorbei. Er benutzte Griffe, die er bewußt nicht einmal sehen konnte. Und dann langte er schweratmend auf Händen und Knien dicht bei Ann an. Sie saß heiter auf einer schmalen Felsleiste.
»Versuche, deine Beine mehr zu benutzen!« schlug sie vor.
»Aha.«
»Es hat deine Aufmerksamkeit beansprucht, nicht wahr?«
»Ja.«
»Keine Gedächtnisprobleme, hoffe ich?«
»Nein.«
»Das ist es, was mir am Klettern gefällt.«
Später an diesem Tage, als das Gully etwas hinter ihnen lag und sich öffnete, sagte Sax: »Hast du also auch Gedächtnisprobleme gehabt?«
Ann sagte: »Laß uns darüber später reden. Achte auf diese Spalte hier!«
»O ja.«
In dieser Nacht lagen sie in Schlafsäcken in einem Pilzzelt, das groß genug für sie beide war. Auf dieser Höhe mit ihrer superdünnen Atmosphäre war es eindrucksvoll, die Stärke des Zeltstoffs zu bedenken, der 450 Millibar Luft aushielt, ohne sich irgendwo nach außen zu wölben. Das klare Material war hübsch und straff, aber nicht hart wie Stein. Ohne Zweifel hielt es viele Bar weniger aus als sein Fassungsvermögen zuließ. Aber als Sax an die vielen Klafter von Steinen und Sandsäcken dachte, die sie auf ihre frühesten Wohngelegenheiten packen mußten, damit sie nicht explodierten, kam er nicht umhin, durch die enormen Fortschritte in der Materialwissenschaft beeindruckt zu sein.
Ann nickte, als er davon sprach. »Wir haben unsere Fähigkeit überschritten, unsere Technik zu verstehen.«
»Nun, ich denke, es läßt sich verstehen. Es ist nur schwer zu glauben.«
»Ich nehme an, daß ich den Unterschied verstehe«, sagte sie gleichmütig.
Er fühlte sich wohler und kam wieder auf das Gedächtnis zu sprechen. »Ich hatte sogenannte Blackouts, bei denen ich mich nicht an meine Gedanken in den letzten Minuten erinnern kann, bis hin zu einer Stunde. Kurzzeitiges Versagen des Gedächtnisses, das anscheinend mit Fluktuationen der Gehirnwellen zu tun hat. Und ich fürchte, daß auch die ferne Vergangenheit sehr unsicher wird.«
Lange Zeit antwortete sie nicht, sondern grunzte nur zum Zeichen, daß sie gehört hatte. Dann:
»Ich habe mein ganzes Selbst vergessen. Ich denke, daß jetzt jemand anders in mir ist. Mit geteilten Rollen. Eine Art Gegnerin. Mein Schatten oder der Schatten meines Schattens. Eingepflanzt und in mir wachsend.«
»Was meinst du?« fragte Sax, schnell begreifend.
»Eine Gegnerin. Sie denkt genau das, was ich nicht gedacht hätte.« Sie wandte wie scheu das Gesicht ab. »Ich nenne sie Gegen-Ann.«
»Und wie würdest du sie charakterisieren?«
»Sie ist... ich weiß nicht. Emotional. Sentimental. Stupide. Weint beim Anblick einer Blume. Fühlt, daß jeder sein Bestes tut. Derartiger Blödsinn.«
»Vorher warst du gar nicht so?«
»Nein nein nein. Es ist alles Mist. Aber ich empfinde es als wie real. So... gibt es Ann und Gegen-Ann. Und... vielleicht eine dritte.«
»Eine dritte?«
»Das nehme ich an. Etwas, das keines der anderen beiden ist.«
»Und was tust du — ich meine, hast du für die einen Namen?«
»Nein. Sie hat keinen Namen. Sie ist schwer zu fassen. Jünger. Weniger Ideen über Dinge, und die Ideen, die sie hat, sind seltsam. Nicht-Ann oder Gegen-Ann. Jemand wie jene Zo. Hast du sie gekannt?«
»Ja«, sagte Sax überrascht. »Ich habe sie gemocht.«
»Wirklich? Ich fand sie schrecklich. Und dennoch... in mir steckt auch etwas, das ihr ähnelt. Drei Personen.«
»Das ist eine seltsame Art, sich das vorzustellen.«
Sie lachte. »Bist du es nicht, der ein mentales Labor hatte, das all deine Erinnerungen enthielt, nach Zimmer- und Schranknummer registriert oder so?«
»Das war ein sehr leistungsfähiges System.«
Sie lachte wieder, schärfer. Er mußte grinsen, als er das hörte. Obwohl er auch Angst hatte. Drei Anns? Schon eine war mehr gewesen, als er verstehen konnte.
»Aber ich verliere einige dieser Labors«, sagte er. »Ganze Einheiten meiner Vergangenheit. Manche Leute stellen sich das Gedächtnis als ein System von Knoten und Netzen vor. So ist es möglich, daß das Modell des Erinnerungspalastes intuitiv das beteiligte physikalische System widerspiegelt. Aber wenn man irgendwie den Knoten verliert, verschwindet auch das ganze Netzwerk drumherum. Wenn ich also in der Literatur einen Hinweis auf etwas finde, das ich getan habe, und versuche, mich daran zu erinnern, welche methodologischen Probleme wir hatten oder was auch immer und das Ganze, so weigert sich die ganze Ära einfach, zu mir zu kommen. Als ob es nie geschehen wäre.«
»Ein Problem mit dem Palast.«
»Ja. Ich habe das nicht erwartet. Selbst nach meinem — Unfall — war ich sicher, daß mit meiner Fähigkeit zu — denken nichts passieren würde.«
»Du scheinst heute noch tadellos zu denken.«
Sax schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich an die Ausfälle, die Gedächtnislücken, die presque vus, wie Michel sie genannt hatte, die Konfusionen. Denken war nicht bloß eine analytische oder kognitive Fähigkeit, sondern etwas Allgemeineres... Er versuchte zu beschreiben, was ihm kürzlich passiert war, und Ann schien aufmerksam zuzuhören. »Du siehst, ich habe die über das Gedächtnis erschienenen Arbeiten durchgesehen. Das ist wirklich interessant geworden, sogar dringend. Und Ursula und Marina und die Acheronlabors haben mir geholfen. Und ich denke, sie haben etwas ausgearbeitet, das uns helfen könnte.«
»Meinst du eine Gedächtnisdroge?«
»Ja.« Er erklärte die Wirkung des neuen anamnestischen Komplexes. »Also bin ich entschlossen, es auszuprobieren. Aber ich bin überzeugt, daß es am besten wirken wird, wenn sich ein Paar der Ersten Hundert in Underhill zusammenfänden und es gemeinsam in Angriff nähmen. Kontext ist sehr wichtig für Erinnerung, und der gegenseitige Anblick könnte helfen. Nicht jeder ist interessiert, aber eine überraschende Anzahl der von den Ersten Hundert noch Vorhandenen sind es wirklich.«
»Nicht so überraschend. — Wer?«
Er nannte alle, die er kontaktiert hatte. Es waren leider nur noch etwa ein Dutzend. »Und wir alle würden es begrüßen, wenn du auch da wärest. Ich weiß, daß ich mich mehr als über alles andere darüber freuen würde.«
»Interessant klingt das schon«, sagte Ann. »Aber erst müssen wir diese Caldera überqueren.«
Beim Gehen über den Fels war Sax aus neue erstaunt über die steinige Realität ihrer Welt. Die Fundamentalien: Stein, Sand, Staub, Grus. Dunkler, schokoladenfarbener Himmel heute und keine Sterne. Die weiten Distanzen waren mangels einer daraus resultierenden Trübung nicht als solche zu erkennen. Die Spanne von zehn Minuten. Die Länge einer Stunde, wenn man bloß marschierte. Das Gefühl in den Beinen.
, Und dann waren da rings um sie die Ringe der Calderas, die weit in den Himmel ragten. Auch wenn Sax und Ann im Zentruni des zentralen Kreises waren, wo die späteren, tieferen Calderas als große Einbuchtungen in der Rundung eines einzelnen Walls erschienen. Hier draußen hatte die starke Krümmung des Planeten keinen Einfluß auf die Perspektive, denn sie war nicht zu erkennen, und die Klippen waren selbst in dreißig Kilometern Entfernung frei und klar. Der Nettoeffekt war, wie es Sax schien, eine Art von Umzäunung.
Ein Park, ein Steingarten, ein durch eine Mauer von der anderen Welt abgetrenntes Labyrinth; die Welt, die, obwohl unsichtbar, hier alles bestimmte. Die Caldera war groß, aber nicht groß genug. Man konnte sich hier nicht verstecken. Die Welt strömte ein und überflutete das Gehirn ungeachtet seiner Kapazität von hundert Billionen Bits. Ohne Rücksicht auf die Größe der mentalen Einrichtung gab es immer noch einen einzelnen Faden reinen Bewußtseins, einen lebenden Draht des Denkens, der sagte: Stein, Klippe, Himmel, Stern.
Der Fels war durch Spalten stark zerrissen, von denen jede das Stück eines Kreisbogens bildete, dessen Zentrum in der Mitte des zentralen Kreises lag. Alte Spalten gegenüber den großen neuen Löchern der nördlichen und südlichen Kreise. Alte Spalten, gefüllt mit Geröll und Staub. Diese Felsspalten machten ihren Marsch jetzt zu einem Hin-und-her-Wechseln in einem echten Irrgarten mit Schluchten, die noch höher als Wände waren, zu einer Passage, die ebenso schwierig war wie ein ummauertes Labyrinth zu überwinden.
Aber sie fädelten sich hindurch und erreichten schließlich den Rand des nördlichen Kreises, Nummer 2 auf Saxens Karte. Wenn man hinabblickte, ergab das eine neue Perspektive auf die eigentliche Gestalt der Caldera und ihrer runden Einbuchtungen: einen jähen Absturz auf einen bis dahin verborgenen Boden tausend Meter tiefer.
Anscheinend gab es einen Kletterpfad hinunter zum Boden des Nordkreises. Aber wie Ann sein Gesicht sah, als sie darauf hinwies, daß er nur durch Abseilen zu schaffen war, mußte sie lachen. Sie sagte lässig, daß sie auch wieder herausklettern müßten; und die Calderawand sei schon hoch genug. Statt dessen könnten sie um den Nordkreis herum zu einer anderen Route gelangen.
Überrascht durch diese Anpassungsfähigkeit und dankbar dafür, folgte Sax ihr rund um den Nordkreis auf seiner westlichen Peripherie. Unter der großen Wand der Hauptcaldera machten sie für die Nacht halt, bliesen das Zelt auf und aßen schweigend.
Nach Sonnenuntergang schoß Phobos wie ein kleiner grauer Blitz über der Westwand der Caldera empor. Furcht und Schrecken — was für Namen!
Ann sagte von ihrem Schlafsack her: »Ich habe gehört, es war deine Idee, die Monde wieder in den Orbit zu bringen?«
»Ja, das ist richtig.«
»Nun, das ist etwas, das ich Wiederherstellung der Landschaft nenne«, sagte sie, und es klang erfreut.
Sax fühlte sich etwas erröten. »Ich wollte dir eine Freude machen.«
Nach einer Gesprächspause: »Ich sehe sie mir gern an.«
»Und wie hat dir Miranda gefallen?«
»Oh, es war sehr interessant.« Sie sprach über einige geologische Merkmale des merkwürdigen Mondes. Zwei Planetesimale, die unvollkommen miteinander verbunden waren...
»Es gibt eine Farbe zwischen Rot und Grün«, sagte Sax, als sie wohl damit fertig war, über Miranda zu sprechen. »Eine Mischung von beidem. Manchmal nennt man es Krapp-Alizarin. Manchmal sieht man es bei Pflanzen.«
»Na ja.«
»Es läßt mich an die politische Lage denken. Ob es nicht irgendeine Art von Rot-Grün-Synthese geben könnte.«
»Braun.«
»Ja. Oder Alizarin.«
»Ich denke, das ist es, was diese Koalition des Freien Mars war, Irishka und die Leute, die Jackie ausgebootet haben.«
»Eine Koalition gegen Immigration.« sagte Sax. »Die falsche Art einer Rot-Grün-Kombination. Damit verwickeln sie uns in einen Konflikt mit der Erde, der nicht nötig ist.«
»So?«
»Ja. Das Bevölkerungsproblem wird bald gemildert werden. Die Issei. Ich denke, wir stoßen an die Grenze. Und die Nisei liegen nicht weit zurück.«
»Schneller Verfall, denkst du.«
»Genau. Wenn er unsere Generation erfaßt und dann die nächste, wird die menschliche Bevölkerung des Sonnensystems weniger als die Hälfte betragen.«
»Dann werden sie einen anderen Weg finden, sie wieder hochzuschrauben.«
»Ohne Zweifel. Aber es wird nicht mehr das hypermalthusianische Zeitalter sein. Das wäre dann ihr Problem. Also ist es einfach nicht nötig, sich Sorgen wegen so viel Immigration bis hin zu einem interplanetaren Krieg zu machen. Das wäre kurzsichtig. Gäbe es auf dem Mars eine Rote Bewegung, die das darlegt, die der Erde Hilfe anbietet während der letzten Jahre des Anstiegs, könnte sie die Menschen davor bewahren, einander sinnlos umzubringen. Das wäre ein neuer Weg des Denkens über den Mars.«
»Eine neue Areophanie.«
»Ja. So hat Maya es genannt.«
Sie lachte. »Maya ist doch verrückt.«
»O nein«, entgegnete Sax scharf. »Das ist sie bestimmt nicht.«
Ann sagte nichts mehr, und Sax drängte nicht weiter auf dieses Thema. Phobos bewegte sich mit merklicher Geschwindigkeit über den Himmel rückwärts im Tierkreis.
Sie schliefen gut. Am nächsten Tag unternahmen sie eine steile Klettertour durch eine Klamm in der Wand, die Ann und die anderen roten Kletterer anscheinend als den Weg hinaus ansahen. Sax hatte sich in seinem Leben noch nie so hart plagen müssen. Aber selbst so schafften sie den ganzen Ausstieg nicht, sondern mußten bei Sonnenuntergang eilig auf einer schmalen Leiste das Zelt aufbauen und waren erst am folgenden Tag gegen Mittag wieder im Freien.
Auf dem großen Rand von Olympus Mons war alles wie zuvor. Ein riesiger Kreis flachen Landes mit Kern, der violette Himmel in einem Band um den weit unten liegenden Horizont, ein schwarzer Zenit in der Höhe, kleine Einsiedeleien in ausgeworfenen Felsblöcken, die man ausgehöhlt hatte, verstreut. Eine abgesonderte Welt. Blauer Mars...
Die Hütte, bei der sie zuerst halt machten, war von irgendwelchen sehr alten Roten Bettelmönchen bewohnt, die offenbar hier lebten, während sie darauf warteten, daß der rasche Verfall sie treffen würde. Danach würden ihre Körper verbrannt und die Asche in. den dünnen Strahlstrom geworfen werden.
Das berührte Sax als übertrieben fatalistisch. Ann war gleichermaßen unbeeindruckt. Sie sagte: »Also gut«, als sie sah, wie die ihr karges Mahl verzehrten. »Laß uns doch diese Gedächtnisbehandlung versuchen!«
Viele der Ersten Hundert argumentierten für andere Orte als Underhill, das sie nicht einmal als Teil ihrer Gruppennatur anerkennen wollten. Aber Sax war eisern und widersetzte sich allen Ansinnen für Olympus Mons, den niedrigen Orbit, Pseudophobos, Sheffield, Odessa, Hell’s Gate, Sabishii, Senzeni Na, Acheron, die Südpolkappe, Mangala und die hohe See. Er bestand darauf, daß der Schauplatz für eine solche Prozedur ein kritischer Faktor sei, wie Experimente über den Kontext erwiesen hätten. Cojote plärrte höchst unpassend bei seiner Schilderung des Experiments mit Studenten in Atemgeräten, die auf dem Boden des Nordmeeres Daten gebüffelt hatten; aber Daten waren Daten, und warum sollte man nicht angesichts dessen das Experiment dort ausführen, wo man die besten Ergebnisse erzielen konnte? Es ging um so viel, daß es gerechtfertigt war, alles zu tun, was man konnte, um es richtig zu machen. Sax wies darauf hin, wenn sie ihre Erinnerungen intakt zurückbekämen, dann könnte alles möglich sein, wirklich alles — ein Sieg über den raschen Verfall, eine Gesundheit, die noch Jahrhunderte länger anhielt, eine sich stets ausdehnende Gemeinschaft von Gartenwelten — und von da aus vielleicht weiter aufwärts zu einer sich abzeichnenden Phase eines Übergangs zu einer höheren Ebene des Fortschritts und einem Bereich des Wissens, den man sich derzeit nicht einmal vorstellen konnte. Darum beharrte er auf Underhill.
»Du bist dir zu sicher«, beklagte sich Marina. Sie hatte für Acheron plädiert. »Du mußt dir einen offenen Geist für viele Dinge bewahren.«
»Ja ja.« Einen offenen Geist bewahren. Das fiel Sax leicht, sein Geist war ein Labor, das abgebrannt war.
Jetzt stand er im Freien. Und niemand konnte die Logik von Underhill widerlegen, weder Marina noch alle übrigen. Diejenigen, die dagegen waren, hatten, wie er dachte, Angst vor der Macht der Vergangenheit. Sie wollten diese Macht über sich nicht anerkennen, sich ihr nicht völlig ausliefern. Aber gerade das war es, was sie nötig hatten. Michel hätte gewiß die Wahl von Underhill unterstützt, wenn er noch unter ihnen weilte. Der Ort war entscheidend wichtig, das hatten alle ihre Leben erwiesen. Und sogar die zweifelnden, skeptischen oder ängstlichen unter ihnen — sie alle mußten zugeben, daß Underhill der richtige Platz war in Anbetracht dessen, was sie versuchen wollten.
Also einigten sie sich am Ende, dort zusammenzukommen.
Zu diesem Zeitpunkt war Underhill eine Art Museum, in dem Zustand erhalten, den es 2138 gehabt hatte, in dem letzten Jahr, da es eine aktive Station gewesen war. Das bedeutete nicht, daß es genau so aussah wie in den Jahren, als es hoch bewohnt war; aber die alten Fragmente waren immer noch da. Darum würden die Veränderungen seit damals ihr Projekt nicht wesentlich behindern, meinte Sax. Nachdem er mit etlichen anderen eingetroffen war, unternahm er einen Rundgang, um sich umzuschauen. Und da waren sie, all die alten Gebäude: Die ursprünglichen vier Habitate, die als ganze aus dem Weltraum abgeworfen worden waren, ihre Müllhaufen, Nadias Quadrat von Zimmern mit Tonnengewölbe und ihrem überkuppelten Zentrum, Hirokos Treibhausgerüst ohne die umhüllende Kuppel, Nadias Grabenarkade im Nordwesten, Tschernobyl, die Salzpyramiden und endlich das Alchimistenviertel, wo Sax seinen Rundgang beendete. Er wanderte in dem Gewirr von Gebäuden und Rohren herum und versuchte, sich auf das Erlebnis des nächsten Tages vorzubereiten. Sich um einen offenen Geist zu bemühen.
Sein Gedächtnis brodelte bereits, als ob es zeigen wollte, daß es keine Hilfe nötig hätte, um seine Arbeit zu tun. Hier zwischen diesen Gebäuden hatte Sax das erste Mal die transformative Macht der Technik über die pure Materialität der Natur erlebt. Sie hatten tatsächlich mit den bloßen Steinen und Gasen angefangen und von da aus extrahiert, gereinigt, transformiert, rekombiniert und gestaltet, auf so mannigfaltige Art, daß keine einzelne Person das alles verfolgen oder sich gar dessen Wirkung vorstellen konnte. So hatte er zwar gesehen, aber nicht verstanden. Und sie hatten ständig in Unkenntnis ihrer wahren Kräfte und mit (vielleicht deshalb) sehr wenig Sinn für das, was sie vorhatten, gearbeitet. Aber dort im Alchimistenviertel war er imstande gewesen, das zu erkennen. Er war sich so sicher gewesen, daß die Welt, wenn sie erst grün gemacht worden war, ein schöner Ort sein würde.
Jetzt stand er hier im Freien, mit bloßem Kopf unter einem blauen Himmel in der Hitze des zweiten Augustes, schaute sich um und suchte sich zu erinnern. Es war schwer, das Gedächtnis zu steuern. Die Dinge fielen ihm einfach ein. Die Objekte in dem alten Teil der Stadt wirkten geradezu vertraut im echten Sinne des Wortes. Sogar die einzelnen roten Steine und Felsblöcke um die Ansiedlung herum und alle Buckel und Senken, die zu sehen waren, schienen wohlbekannt und kamen alle noch am rechten Platz auf der Kompaßrose zu liegen. Die Aussichten für das Experiment schienen Sax günstig zu sein. Kontext. Lage und Orientierung stimmten. Daheim.
Es kehrte zu dem Platz der Tonnengewölbe zurück, dorthin, wo sie bleiben würden. Während seines Spaziergangs waren einige Wagen eingetroffen, und ein paar kleine Ausflugszüge waren auf den Nebengleisen der Strecke geparkt. Es kamen Leute an. Da waren Maya und Nadia, die Tasha und Andrea umarmten, die gemeinsam angekommen waren. Ihre Stimmen klangen in der Luft wie eine russische Oper, wie Rezitative unmittelbar vor dem Übergang in Gesang. Von den Hundertundeinen, mit denen sie angefangen hatten, erschienen nur vierzehn: Sax, Ann, Maya, Nadia, Desmond, Ursula, Marina, Wasili, George, Edvard, Roger, Mary, Dmitri und Andrea. Nicht allzu viele; aber das waren alle von ihnen, die noch lebten und Kontakt mit der Welt hatten. Alle anderen waren tot oder fehlten. Falls Hiroko und die anderen Sieben der Ersten Hundert, die mit ihr verschwunden waren, noch am Leben waren, hatten sie nichts von sich hören lassen. Vielleicht würden sie unangemeldet auftauchen wie bei Johns erstem Festival auf Olympus. Vielleicht auch nicht.
Also waren sie vierzehn. So verkleinert wirkte Underhill unterbelegt. Obwohl ihnen alles zur Verfügung stand, um sich auszubreiten, drängten sie sich doch im Südflügel der Tonnengewölbe zusammen. Dennoch war die Leere des übrigen Platzes spürbar. Es war, als ob der Platz selbst ein Abbild ihrer versagenden Erinnerungen wäre mit ihren verlorenen Labors und verlorenen Ländern und verlorenen Gefährten. Jeder einzelne von ihnen litt an Erinnerungsverlusten und Störungen der einen oder anderen Art. Sie hatten unter sich fast alle Probleme des Gedächtnisses erlebt, die in der Literatur erwähnt waren, soweit Sax das übersehen konnte; und ein guter Teil ihrer Konversation handelte von vergleichender Symptomologie, im Wiedererzählen mannigfacher schrecklicher und/oder erhabener Erfahrungen, die sie in der letzten Dekade betroffen hatten. Sie wurden dadurch abwechselnd heiter und trübselig, als sie sich an diesem Abend durch die kleine Küche des Tonnengewölbes mit ihrem hohem Fenster in der Südwestecke wälzten. Es ging auf den Boden des zentralen Treibhauses hinaus, das noch unter seiner dicken Glaskuppel und dem dadurch veränderten Licht lag. Sie aßen ein Picknick-Dinner, das in Kühlbehältern hergeschafft worden war, plauderten, langten zu und verteilten sich dann im Südflügel, um die Schlafräume im oberen Stockwerk für eine unbequeme Nacht herzurichten. Sie blieben in endlosen Gesprächen so lange auf, wie sie konnten. Aber schließlich gaben sie auf, einzeln oder zu zweit, und versuchten zu schlafen. Mehrere Male in dieser Nacht erwachte Sax aus Träumen und hörte, wie Leute zu den Toiletten hinunter tappten, flüsternde Gespräche in der Küche oder Selbstgespräche im unruhigen Schlaf alter Leute führten. Er schaffte es jedesmal, sich wieder einzurollen und in einen leichten, von Träumen erfüllten Schlaf zu versinken.
Endlich kam der Morgen. Sie waren schon mit der Dämmerung auf. In dem horizontalen Licht nahmen sie ein rasches Frühstück ein: Obst, Croissants, Brot und Kaffee. Jeder Felsblock und Hügel warf lange Schatten nach Westen. So vertraut.
Dann waren sie bereit. Es gab anderes zu tun. Es gab einen kollektiven tiefen Atemzug, verlegenes Gelächter und die Unfähigkeit, dem anderen in die Augen zu schauen.
Maya weigerte sich noch immer, die Behandlung anzunehmen. Sie ließ sich durch kein Argument, das vorgebracht wurde, erschüttern. Sie hatte in der vorangegangenen Nacht immer wieder gesagt: »Ich will nicht! Ihr werdet auf jeden Fall einen Wärter brauchen, falls ihr verrückt werdet. Ich werde das übernehmen.«
Sax hatte gedacht, sie würde ihre Meinung ändern und es wäre bloß Mayas typisch ablehnende Haltung. Jetzt trat er enttäuscht vor sie. »Ich dachte, du hättest die schlimmsten Gedächtnisschwierigkeiten von allen.«
»Vielleicht.«
»Dann wäre es doch sinnvoll, die Behandlung zu machen. Michel hat dir massenhaft verschiedene Drogen für mentale Probleme gegeben.«
»Ich will nicht«, sagte sie und schaute ihm ins Auge.
Er seufzte. »Maya, ich verstehe dich nicht.«
»Ich weiß.«
Und sie ging in die alte medizinische Klinik an der Ecke und übernahm ihre Rolle als Wärterin für diesen Tag. Dort war alles bereit, und sie rief sie einzeln auf, nahm kleine Ultraschallinjektoren und setzte sie ihnen an den Nacken. Mit einem kleinen Knack- und Zischlaut injizierte sie einen Teil der Drogendosis und gab ihnen Pillen, die den Rest davon enthielten. Dann half sie ihnen, die Ohrstöpsel einzustecken, die für einen jeden eigens gemacht worden waren, um die stillen elektromagnetischen Wellen auszustrahlen. In der Küche wartete man in nervösem Schweigen, bis alle die Vorbereitungen beendet hatten. Als alle fertig waren, leitete Maya sie zur Tür und nach draußen. Und dann verschwanden sie.
Sax sah und fühlte ein Bild. Helle Lichter und eine Empfindung, als ob sein Schädel zertrümmert würde. Er würgte, keuchte und spuckte. Kühle Luft und die Stimme seiner Mutter wie das Jaulen eines Tiers. »Oh? Oh? Oh! Oh!« Dann lag er feucht und kalt auf ihrer Brust.
Der Hippocampus ist eine von etlichen Regionen des Gehirns, die durch die Behandlung sehr stark stimuliert werden. Dies bedeutet, daß sein limbisches System, das unter dem Hippocampus liegt wie ein Netz unter einer Walnuß, ebenso stimuliert wird, als ob die Nuß auf einem Trampolin von Nerven auf und ab hüpft, so daß das Trampolin widerhallt oder sogar kreischt. So empfand Sax den Anfang von etwas, das ohne Zweifel eine Flut von Emotionen sein würde, die, wie er bemerkte, nicht eine einzelne Emotion sein würde, sondern viele zugleich und mit fast derselben Intensität und frei von jeder Ursache — Freude, Kummer, Liebe, Haß, Heiterkeit, Melancholie, Hoffnung, Furcht, Edelmut, Eifersucht — von denen viele natürlich nicht zu ihrem Gegenstück paßten oder mit den meisten anderen, die gleichzeitig in ihm präsent waren. Das Resultat dieser übervollen Mischung war, zumindest für Sax, der auf einer Bank außerhalb des Tonnengewölbes saß und schwer atmete, eine Art von unter Adrenalin stehender atemberaubender Zunahme der Empfindung von Bedeutung. Eine Überflutung von Bedeutung durch alles. Es war herzzerbrechend oder herzerfüllend, als ob Ozeane von Wolken in seine Brust gestopft worden wären, so daß er kaum atmen konnte, eine Art von Nostalgie in der n-ten Potenz, eine Fülle, sogar Wonne, reine Gehobenheit, bloß dazusitzen, bloß die Tatsache, daß sie alle am Leben waren! Aber all dies mit einer Schärfe von Verlust, von Bedauern wegen der verlorenen Zeit, von Todesangst, von Furcht vor allem, von Trauer um Michel, um John, wirklich um sie alle. Das war dem gewöhnlichen ruhigen, beständigen, man könnte sogar sagen: phlegmatischen Zustand Saxens so unähnlich, daß er fast gelähmt war. Er konnte sich nicht richtig bewegen und bedauerte einige Minuten lang bitterlich, je ein solches Experiment in Gang gesetzt zu haben. Das war sehr töricht und idiotisch tollkühn, daß ein jeder ihn ohne Zweifel für immer dafür hassen würde.
Benommen, fast überwältigt, beschloß er, einen Spaziergang zu wagen, um zu sehen, ob das seinen Kopf klären könnte. Er stellte fest, daß er gehen konnte. Er stieß sich von der Bank ab, stand auf, gewann das Gleichgewicht und ging los. Er vermied andere, die in ihren eigenen Welten wanderten und denen er so gleichgültig war wie sie ihm. Alle gingen aneinander vorbei wie an Objekten, die man vermeiden mußte. Und dann war er draußen im freien Raum der Umgebung von Underhill in der kühlen morgendlichen Brise und ging unter einem seltsam blauen Himmel auf die Salzpyramiden zu.
Er blieb stehen und schaute sich um, überlegte, grunzte überrascht und machte halt, konnte nicht gehen. Ganz plötzlich konnte er sich an alles erinnern.
Nicht gerade an alles und jedes. Er konnte sich beispielsweise nicht daran erinnern, was er am 13. Tag des zweiten Augustes 2029 zum Frühstück gehabt hatte. Das paßte zu Experimenten, die nahelegten, daß tägliche gewohnte Aktivitäten nicht genügend differenziert wären, um individuelle Erinnerung zu bewirken. Aber als eine Klasse... In den späten 2020ern hatten seine Tage wieder im Tonnengewölbe begonnen, wo er sich mit Hiroko, Evgenia, Rya und Iwao ein Schlafzimmer im oberen Stockwerk geteilt hatte. Experimente, Ereignisse, Gespräche flimmerten in seinem Kopf, als er diesen Schlafraum mit dem Auge des Geistes erblickte. Ein Knoten in der Raumzeit, der durch ein ganzes Netz von Tagen vibrierte. Ryas hübscher Rücken auf der anderen Seite des Zimmers, wenn sie sich unter den Armen wusch. Dinge, die Leute sagten und die in ihrer Rücksichtslosigkeit verletzten. Vlad, wenn er über Gen-Spaltung sprach. Er und Vlad hatten hier an dieser Stelle beieinander gestanden in ihrer ersten Minute auf dem Mars und sahen sich um ohne ein Wort füreinander. Sie absorbierten einfach die Schwere und das Rosa des Horizonts und den nahen Horizont, der genau so aussah wie jetzt nach so vielen Jahren. Areologische Zeit, so langsam und lang wie die große Systole des Kosmos. Man hatte sich in den Außenanzügen hohl gefühlt. Tschernobyl hatte mehr Beton erfordert, als in der dünnen, trockenen und kalten Luft beschafft werden konnte. Nadia hatte das irgendwie erledigt, aber wie? Durch Erwärmung, das ist richtig. Nadia hatte in jenen Jahren eine Menge Dinge in Ordnung gebracht. Die Tonnengewölbe, die Manufakturen, die Arkade... Wer hätte gedacht, daß sich eine auf der Ares so stille Person als so kompetent und energisch erweisen würde? Er hatte sich an seinen Eindruck von ihr auf der Ares seit sehr langer Zeit nicht mehr erinnert. Sie war so erschüttert gewesen, als Tatiana Durova durch einen umstürzenden Kran getötet wurde. Das war für alle ein Schock gewesen — außer für Michel, der sich als erstaunlich distanziert von der Katastrophe erwiesen hatte, dem ersten Todesfall. Würde Nadia sich jetzt noch daran erinnern? Ja, das würde sie, wenn sie daran gedacht hätte. Für Sax gab es nichts Einmaliges; oder, um genauer zu sein, wenn die Behandlung bei ihm anschlug, würde sie es auch bei ihnen allen tun. Da war Wasili, der in beiden Revolutionen für UNOMA gekämpft hatte. An was erinnerte er sich? Er sah betroffen aus; aber das konnte Begeisterung gewesen sein — irgend etwas oder alles. Höchstwahrscheinlich war es die allgemeine Emotion, die Fülle — offenbar einer der ersten Effekte der Behandlung. Vielleicht erinnerte er sich auch an Tatianas Tod. Nur Sax und Tatiana waren damals zu einem Spaziergang in der Antarktis hinausgegangen, und Tatiana war auf einem lockeren Stein ausgerutscht und hatte sich einen Knöchel verrenkt, und sie hatten warten müssen, bis Nussbaum Riegel sie mit einem Helikopter von McMurdo ins Lager zurückbrachte. Er hatte das seit Jahren vergessen; und dann hatte Phyllis ihn an die Nacht erinnert, wo sie ihn festgenommen hatte, und er hatte das prompt bis zu diesem Moment wieder vergessen. Zwei Wiederholungen in zweihundert Jahren. Aber jetzt war es wieder da: Die niedrige Sonne, die Kälte, die Schönheit der Dry Valleys, die Eifersucht von Phyllis auf die große dunkle Schönheit Tatianas. Daß diese Schönheit zuerst sterben sollte, war wie ein Signal, ein alter Fluch. Mars als Pluto, Planet von Furcht und Schrecken. Und jetzt jener Tag in Antarctica, die zwei Frauen längst tot. Er war der einzige Überlieferer jenes Tages. Ohne ihn würde er ausgelöscht sein. O ja, woran man sich erinnern konnte, war genau der Teil der Vergangenheit, den man am stärksten empfunden hatte, die durch Emotionen über eine gewisse Schwelle gedrängten Ereignisse. Die großen Freuden, die großen Krisen, die großen Katastrophen. Aber auch die kleinen. Er war von dem Basketballteam des siebten Grades ausgeschlossen worden, hatte allein geweint, als er die Liste las, an einer Trinkfontäne am äußersten Ende der Schule, und hatte gedacht: Das wirst du nie vergessen. Aber, bei Gott, er hatte es behalten. Große Schönheit. Das erste Mal, daß man Dinge tat, die eine besondere Bedeutung hatten. Die erste Liebe — wer war das eigentlich gewesen? Eine leere Stelle, damals in Boulder, ein Gesicht, irgendeine Freundin eines Freundes. Aber das war keine Liebe gewesen, und er konnte sich nicht an ihren Namen erinnern. Nein — jetzt dachte er an Ann Clayborne, die vor ihm stand, ihn fest anschaute — irgendwann vor langer Zeit. Was hatte er versucht, sich in Erinnerung zu rufen? Der Sturm der Gedanken war so dicht und rasch, daß er sich an manches würde nicht erinnern können. Dessen war er sich recht sicher.
Ein Paradoxon, aber nur eines von vielen, die der einzelne Faden des Bewußtseins in dem riesigen Feld des Geistes bewirkte. Eine Kraft von zehn in der vierunddreißigsten Potenz, die Matrix, in der alle großen Vorkommnisse gediehen. Im Innern des Schädels war ein Universum — so ungeheuer groß wie das draußen. Ann — er hatte auch mit ihr einen Ausflug in Antarctica gemacht. Sie war kräftig. Seltsamerweise hatte er sich während des Ausflugs über die Caldera von Olympus Mons niemals an diesen Spaziergang über Wright Valley in Antarctica erinnert, trotz der Ähnlichkeiten, einen Spaziergang, auf dem sie so ernst über das Schicksal des Mars diskutiert hatten und wo er so sehr gewünscht hatte, ihre Hand zu ergreifen, oder daß sie die seine nehmen würde. Warum hatte er so für sie geschwärmt? Und er, der sich in seiner Laborratten-Art nie zu solchen Gefühlen aufgeschwungen hatte, erstickte jetzt aus lauter Schüchternheit. Sie hatte ihn neugierig angeschaut, aber die Bedeutung der Situation nicht verstanden und sich nur gewundert, daß er so stotterte. Er hatte als Junge ein wenig gestottert. Das war ein biochemisches Problem, das anscheinend durch die Pubertät verschwand, aber gelegentlich wiedererschien, wenn er nervös war. Ann — Ann — er sah ihr Gesicht, als er mit ihr diskutierte auf der Ares, in Underhill, in Dorsa Brevia, im Lagerhaus von Pavonis. Warum immer dieser Angriff auf eine Frau, die ihn so angezogen hatte? Warum? Sie war so stark. Und dennoch hatte er sie so deprimiert gesehen, als sie hilflos auf dem Boden lag in jenem Felsenwagen, viele Tage lang, als ihr roter Mars starb. Einfach so dagelegen. Aber dann hatte sie sich aufgerappelt und weitergemacht. Sie hatte Maya davon abgehalten, ihn anzuschreien. Sie hatte geholfen, ihren Partner Simon zu begraben. Sie hatte all das getan, und niemals war Sax für sie etwas anderes gewesen als eine Last. Ein Teil ihres Leides. Das ist es, was er für sie war. In Zygote oder Gamete war er wütend auf sie — Gamete — tatsächlich in beiden — ihr Gesicht so verzerrt — und dann hatte er sie zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen. Und dann später, als er ihr die Langlebigkeitsbehandlung aufgezwungen hatte, hatte er sie seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen. All diese Zeit vergeudet. Wenn sie tausend Jahre lang leben würden, wäre das nicht lange genug, um eine solche Vergeudung zu rechtfertigen.
Er ging im Alchimistenviertel umher. Er traf wieder auf Wasili, der mit tränenüberströmtem Gesicht im Staub hockte. Sie beide hatten das Experiment mit den Algen von Underhill verpfuscht, genau hier in eben diesem Gebäude. Aber Sax bezweifelte sehr, daß Wasili deshalb weinte. Vielleicht wegen etwas aus den vielen Jahren, die er für UNOMA gearbeitet hatte oder etwas anderes, unmöglich zu wissen. Nun, er könnte ihn fragen. Aber in Underhill herumspazieren, Gesichter sehen, und sich dann jäh an alles erinnern, was man wußte, war keine Situation, um nachfolgende Erkundigungen auszulösen. Nein — weitergehen, Wasili seiner Vergangenheit überlassen. Sax wollte nicht wissen, was Wasili bedauerte. Außerdem schritt auf halbem Wege zum Horizont im Norden eine einzelne Gestalt dahin — Ann. Eigenartig, sie ohne Helm im Freien zu sehen. Weißes Haar flatterte im Wind hinterher. Das genügte, um den Fluß der Erinnerungen anzuhalten. Aber er hatte sie zuvor so gesehen in Wright Valley. Ja, ihr Haar war damals auch hell gewesen. Aschblond nannte man das nicht sehr elegant. Es war gefährlich, unter den wachsamen Augen der Psychologen eine Bindung einzugehen. Sie waren im Dienst und unter Druck. Es gab keinen Raum für persönliche Beziehungen, die wirklich gefährlich waren, wie Natasha und Sergei bewiesen hatten. Aber es geschah dennoch. Vlad und Ursula wurden ein solides, beständiges Paar. Das Gleiche geschah mit Hiroko und Iwao, mit Nadia und Arkadij. Aber die Gefahr, das Risiko. Ann hatte ihn über den Labortisch beim Lunch anschaut; und in ihrem Blick war etwas, irgendein Interesse. Er wußte nicht was. Er hatte keine Menschenkenntnis. Sie waren alle solche Mysterien. An dem Tag, als er die Nachricht von seiner Aufnahme unter die Ersten Hundert bekam, hatte er sich so bekümmert gefühlt. Wieso? Kein Weg, es herauszufinden. Aber jetzt sah er den Brief in dem Faxkasten an dem Ahornbaum vor dem Fenster vor sich. Er hatte Ann angerufen, um zu erfahren, ob auch sie dabei wäre. Das war der Fall. Eine kleine Überraschung für ihn, der so einsam war. Aber er war ein bißchen glücklicher gewesen, wenn auch immer noch betrübt. Der Ahorn hatte rote Blätter gehabt. Herbst in Princeton, traditionell eine melancholische Zeit. Aber melancholisch war sie nicht gewesen. Einfach nur traurig. Als ob Leistung nichts wäre als eine gewisse Anzahl der drei Milliarden Herzschläge des Körpers, die vergangen waren. Und jetzt waren es zehn Milliarden, und es ging noch weiter. Nein, es gab keine Erklärung. Die Menschen waren Geheimnisse. Als Ann ihn fragte: »Sollen wir zum Lookout Point spazieren?«, in jenes trockene Labortal, hatte er sofort zugesagt, ohne zu stottern. Und ohne es richtig so eingerichtet zu haben, waren sie getrennt ausgezogen. Sie hatte das Camp verlassen und war zum Lookout Point marschiert; und er war ihr gefolgt. Und da draußen — o ja — beim Blick nach unten auf die Ansammlung von Hütten und die Treibhauskuppel, eine Art von Proto-Underhill, hatte er ihre Hand in Handschuhen in die seine genommen, als sie Seite an Seit dasaßen und vollkommen freundschaftlich übers Terraformen diskutierten, ohne daß eine besondere Absicht dabei im Spiele war.
Und sie hatte ihre Hand wie schockiert weggezogen und war erschauert (es war sehr kalt — jedenfalls für irdische Verhältnisse), und er hatte ebenso schlimm gestottert wie später nach seinem Schlaganfall. Eine limbische Hämorrhagie, die auf der Stelle bestimmte Elemente, Hoffnungen und Wünsche tötet. Liebe war tot. Und er hatte sie seither immer gequält. Nicht, daß diese Ereignisse richtige kausale Erklärungen boten, ganz gleich, was Michel gesagt hätte! Aber die antarktische Kälte auf dem Weg zurück zur Basis. Selbst in der eidetischen Klarheit seiner jetzigen Erinnerungskraft konnte er nicht viel von diesem Marsch sehen. Zerstreut. Weshalb? Weshalb hatte sie ihn so abgestoßen? Kleiner Mann. Weißer Labormantel. Es gab keinen Grund. Aber es war geschehen. Und hatte für immer seine Spur hinterlassen. Und selbst Michel hatte nie davon erfahren.
Verdrängung. Der Gedanke an Michel ließ ihn an Maya denken. Ann war jetzt am Horizont, er würde sie nie einholen und war sich in diesem Moment auch nicht sicher, ob er das wollte, immer noch benommen durch diese so überraschende und schmerzhafte Erinnerung. Er hielt weiter in seinen Gedanken Ausschau nach Maya. In der Vergangenheit hatte Arkadij über sie beide gelacht, als er von Phobos herunterkam, vorbei an Hirokos Treibhaus, wo sie ihn mit ihrer unpersönlichen Freundlichkeit verführt hatte, wie es Primaten in der Savanne tun, wenn sich ein Alphaweibchen so nebenbei ein Männchen greift, ein Alpha oder Beta oder aus einer Klasse, die Alpha sein könnte, aber nicht interessiert war, was er für den einzigen anständigen Weg hielt, sich zu benehmen. Vorbei an dem Wohnwagenpark, in dem sie alle als eine Familie zusammen auf dem Boden geschlafen hatten. Dann mit Desmond irgendwo in einer Kammer. Desmond hatte versprochen, ihnen zu zeigen, wie sie damals gelebt hatten in all den Versteckplätzen, die er kannte. Ein Durcheinander von Bildern Desmonds. Der Flug über den brennenden Kanal, dann der Flug über das brennende Kasei, die Angst in Kasei, als die Sicherheitsleute ihn an ihren wahnsinnigen Apparat angeschlossen hatten. Das war das Ende von Saxifrage Russell gewesen. Jetzt war er etwas anderes, und Ann war Gegen-Ann und auch die dritte Frau, welche weder Ann noch Gegen-Ann war. Vielleicht konnte er auf dieser Basis mit ihr reden, als zwei Fremde, die sich begegneten. Eher wie die zwei, die sich in der Antarktis begegnet waren.
Maya saß in der Küche des Tonnengewölbes und wartete darauf, daß ein großer Teekessel kochte. Sie machte für alle Tee.
»Maya«, sagte Sax und fühlte die Worte in seinem Mund wie Kieselsteine. »Du solltest es versuchen. Das ist nicht so schlimm.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich an alles, was ich will. Sogar jetzt, ohne eure Drogen, sogar jetzt, wenn ich mich kaum an etwas erinnere. Ich erinnere mich noch an mehr, als du dich je erinnern wirst. Ich will gar nicht mehr als das.«
Es war möglich, daß winzige Mengen der Drogen in die Luft und so auf ihre Haut gelangt waren und ihr einen kleinen Bruchteil der hyperemotionalen Erfahrung gegeben hatten. Oder vielleicht war das einfach ihr gewöhnlicher Zustand.
»Warum sollte das nicht genug sein?« fragte sie. »Ich will meine Vergangenheit nicht zurück haben. Wirklich nicht. Ich kann sie nicht ertragen.«
»Vielleicht später«, sagte Sax.
Was konnte man ihr raten? Sie war schon in Underhill so gewesen, unberechenbar und launisch. Es war erstaunlich, was für Exzentriker für die Ersten Hundert ausgewählt worden waren. Aber welche Wahl hatte das Selektionskomitee auch gehabt? Die Leute waren alle so, wenn sie nicht blöd waren. Und sie hatten kein blödes Volk auf den Mars geschickt, wenigstens nicht zuerst oder nicht zu viele. Und selbst die beschränkten Geister hatten ihre Komplexe.
»Vielleicht«, sagte sie jetzt, tätschelte seinen Kopf und nahm den Teetopf vom Brenner. »Vielleicht nicht. Ich erinnere mich so schon an zu vieles.«
»Frank?« fragte Sax.
»Natürlich. Frank, John — die sind alle hier präsent.« Sie klopfte sich mit dem Daumen auf die Brust. »Das schmerzt genug. Mehr brauche ich nicht.«
»Ah!«
Er ging wieder zurück nach draußen. Er fühlte sich vollgestopft, völlig verunsichert und aus dem Gleichgewicht. Das limbische System vibrierte wild unter dem Ansturm seines ganzen Lebens und dem Ansturm von Maya — so schön und verdammt. Jetzt wünschte er, daß sie glücklich sein möge. Aber was konnte er tun? Maya lebte ihr Elend voll aus; man könnte sagen, daß es sie glücklich machte. Oder vervollständigte. Vielleicht litt sie die ganze Zeit an dieser akut unangenehmen emotionalen Überfüllung. Oha! Es war doch so viel leichter, phlegmatisch zu sein. Und dennoch war sie so lebendig. Die Art, wie sie sie aus dem Chaos herausgepeitscht hatte, nach Süden, in Zygotes Sicherheit... So eine Stärke. All diese starken Frauen, die sich der Schrecklichkeit des Lebens stellten und sie empfanden, ohne Verneinung und ohne Abwehr. Die sie einfach erkannten und weitermachten. John, Frank, Arkadij, sogar Michel — sie alle hatten ihren großen Optimismus, Pessimismus, Idealismus, ihre Mythologien gehabt, um die Qual der Existenz zu kaschieren, alle ihre verschiedenen Wissenschaften. Und dennoch waren sie tot, auf die eine oder andere Weise ums Leben gekommen, und hatten Nadia, Maya und Ann zurückgelassen, die weitermachten. Ohne Zweifel konnte er sich glücklich schätzen, so robuste Schwestern zu haben. Selbst Phyllis machte mit der Hartnäckigkeit der Dummen ihren Weg recht gut. Jedenfalls letztlich ganz ordentlich, indem sie einfach dranblieb. Nie aufgeben. Nie etwas zugeben. Sie hatte, wie Spencer ihm gesagt hatte, gegen diese Tortur protestiert. Spencer und all ihre gemeinsamen Stunden der Aerodynamik. Spencer hatte ihm erzählt, wie sie nach zu vielen Whiskeys zum Sicherheitschef in Kasei gegangen war und verlangt hatte, er solle seine sanfte Behandlung aufgeben. Selbst nachdem er sie fast mit Stickoxid getötet und in ihrem eigenen Bett angelogen hatte. Sie schien ihm verziehen zu haben; und Spencer hatte Maya nie verziehen, obwohl er so tat, als wäre das der Fall. Sax hatte ihr verziehen, obwohl er jahrelang so getan hatte, als wäre es nicht der Fall, um eine gewisse Handhabe gegen sie zu behalten. Oh, was für einen Verhau hatten sie aus ihrem Leben gemacht. Alles infolge seiner übermäßigen Ausdehnung. Vielleicht war das immer in jedem Dorfe so. Aber so viel Trübsinn und Verrat! Vielleicht wurde die Erinnerung durch das Gefühl von Verlust ausgelöst, jetzt, da alles unausweichlich verloren war. Aber was war mit der Freude? Er versuchte sich zu erinnern. Konnte man durch Emotion umkehren? Eine interessante Idee. War das möglich? Daß man zum Beispiel wieder durch die Hallen der Terraformkonferenz ging und den Plakatanschlag sah, der den Wärmebeitrag des Russell-Cocktails auf 12 Kelvin schätzte. Daß man in Echus Overlook aufwachte und sah, daß der große Sturm vorbei war und der rosa Himmel vom Sonnenschein strahlte. Daß man die Gesichter sah im Zug, als sie aus dem Libya-Bahnhof fuhren. Daß er von Hiroko aufs Ohr geküßt wurde an einem Wintertag in Zygote, als den ganzen Nachmittag über Abend war. Hiroko! Oh, oh! Er hatte sich in der Kälte zusammengekauert, ganz verstört von dem Gedanken, durch einen Sturm getötet zu werden, gerade als die Dinge anfingen interessant zu werden. Wie er versucht hatte, seinen Wagen herbeizurufen; als es schien, daß er nicht zu ihm würde gelangen können. Und da war sie aus dem Schnee heraus erschienen, eine kleine Gestalt in einem rostroten Raumanzug, hell in dem weißen Sturm von Wind und horizontal fliegendem Schnee. Der Wind war so laut, das selbst das Interkom-Mikrophon in seinem Helm nicht mehr war als ein Flüstern. »Hiroko?« rief er, als er ihr Gesicht durch die von Schneematsch verschmierte Visierscheibe erblickte. Und sie sagte: »Ja.« Und zog ihn am Handgelenk hoch. Die Hand auf seinem Handgelenk! Er fühlte sie. Und kam hoch wie die Viriditas selbst. Die grüne Kraft durchströmte ihn, durch das weiße Rauschen, die weiße knisternde Statik. Ihr Griff war warm und fest, so voll wie das Plenum selbst. Ja. Hiroko war dort gewesen. Sie hatte ihn zum Wagen zurückgeführt, ihm das Leben gerettet und war dann wieder verschwunden. Und ganz gleich, wie sicher sich Desmond über ihren Tod in Sabishii war und wie überzeugend seine Argumente waren, ganz gleich, wie oft Kletterer in Bedrängnis sekundenlang Halluzinationen von Einzelkletterern gehabt hatten — Sax wußte es besser, wegen jener Hand auf seinem Handgelenk bei jenem Besuch im Schnee. Hiroko selbst in kompaktem Fleisch, so real wie ein Felsen. Lebendig! Darum konnte er es sich leisten, in diesem Wissen auszurasten. Er konnte etwas wissen — bei dem unerklärlichen Einsickern des Unsagbaren in alles konnte er in dieser gesicherten Tatsache Ruhe finden. Hiroko lebte. Damit sollte er anfangen und darauf aufbauen als dem Axiom lebenslänglicher Freude. Vielleicht sogar Desmond davon überzeugen und ihm Frieden geben.
Er war wieder draußen und sah sich nach Cojote um. Immer ein schwieriges Unterfangen. Welche Erinnerungen hatte Desmond von Underhill — verstecken, flüstern, die verlorene Farmcrew, dann die verlorene Kolonie, sich mit ihnen fortschleichen, draußen auf dem Mars in getarnten Felswagen umherfahren, von Hiroko geliebt werden, in einem getarnten Flugzeug bei Nacht über die Oberfläche fliegen, die Demimonde spielen, den Untergrund zusammenknüpfen. Sax konnte sich fast selbst daran erinnern, so lebhaft stand es ihm vor Augen. Telepathische Übertragung aller ihrer Stories an alle. Einhundert zum Quadrat, in den quadratischen Tonnengewölben. Nein. Das wäre zu viel. Schon die Vorstellung der Realität eines anderen war erstaunlich genug, war alles, was die Telepathie von einem verlangte oder vertragen konnte.
Aber wohin war Desmond gegangen? Hoffnungslos. Cojote konnte man nicht finden. Man wartete nur darauf, daß er einen finden würde. Er würde auftauchen, wann es ihm beliebte. Draußen, nordwestlich der Pyramiden und des Alchimistenviertels, lag das sehr alte Gerippe eines Landevehikels, wahrscheinlich eins von denen, die vor ihrer Landung abgeworfen worden waren. Sein Metall war bunt gestreift und mit Salz verkrustet. Der Anfang ihrer Hoffnungen, jetzt ein Skelett aus altem Metall, eigentlich gar nichts. Hiroko hatte ihm geholfen, es zu entladen.
Wieder im Alchimistenviertel. Alle Maschinen in den alten Gebäuden waren abgeschaltet und hoffnungslos veraltet, sogar der sehr geschickte SabatierProzessor. Er hatte sich gefreut, dieses Ding arbeiten zu sehen. Nadia hatte es eines Tages repariert, als alle anderen ratlos waren. Die kleine rundliche Frau summte eine Melodie in ihrer Welt vor sich hin und kommunizierte mit Maschinen zu Zeiten, da man sie noch verstehen konnte. Gott sei gedankt für Nadia, den Anker, der sie alle mit der Realität verband, und die einzige, auf die alle sich verlassen konnten. Er wollte sie umarmen, diese seine vielgeliebte Schwester, die anscheinend drüben im Fahrzeugpark war und versuchte, ein Museumsstück von Bulldozer in Gang zu bringen.
Aber dort am Horizont war eine Gestalt, die über einen Buckel nach Westen ging: Ann. Hatte sie, immer nur gehend, den Horizont umkreist? Er lief auf sie zu und stolperte, wie er es schon in der ersten Woche getan hätte. Er holte sie ein, allmählich, keuchend.
»Ann? Ann?«
Sie wandte sich um, und er sah die instinktive Furcht auf ihrem Gesicht, wie bei einem gejagten Tier. Er war eine Kreatur, vor der man weglief. Das war er für sie gewesen. »Ich habe Fehler begangen«, sagte er, als er vor ihr stehenblieb. Sie konnten in der freien Luft sprechen, in der Luft, die er gegen ihren Einwand hergestellt hatte. Obwohl sie immer noch so dünn war, daß man um sie ringen mußte. »Ich habe die... die Schönheit nicht gesehen, bis es zu spät war. Es tut mir außerordentlich leid.« Oh, er hatte das schon früher zu sagen versucht, in Michels Wagen, als sich die Sintflut ergoß, in Zygote in Tempe Terra. Es hatte nie geklappt. Ann und Mars, ganz ineinander verschlungen. Und dennoch hatte er sich beim Mars nicht entschuldigen müssen. Jeder Sonnenuntergang war schön; die Farbe des Himmels änderte sich jede Minute an jedem Tag als blaues Zeichen ihrer Macht und Verantwortlichkeit, ihres Platzes im Kosmos und ihrer Stärke darin, so klein und doch so bedeutend. Sie hatten Leben zum Mars gebracht, und das war gut. Dessen war er sich ganz sicher.
Aber bei Ann mußte er sich entschuldigen. Für die Jahre missionarischen Eifers, für den Druck, um sie zu einer Zustimmung zu zwingen, für die Jagd nach der Bestie ihrer Zurückweisung, um sie zu töten. Es tat ihm deswegen leid, so sehr, daß sein Gesicht von Tränen benetzt wurde. Und sie starrte ihn so an — genau so wie auf jenem kalten Felsen in Antarctica, der jetzt wiedergekommen war und in ihm ruhte. Seine Vergangenheit.
»Erinnerst du dich?« fragte er sie neugierig, auf diesen neuen Gedankengang geschaltet. »Wir gingen zusammen zum Lookout Point hinaus — ich meine nacheinander —, um uns zu treffen und privat miteinander zu sprechen? Ich meine, wir gingen einzeln. Du weißt, wie es damals war. Daß russische Paare sich in die Haare geraten und heimgeschickt worden waren. Wir alle verbargen alles, was wir konnten, vor den Auswahlleuten!« Er lachte und verschluckte sich etwas bei dem Bild ihrer tief irrationalen Anfänge. So raffiniert! Und alles, was danach gespielt worden war, entsprach einem solchen Anfang. Sie waren zum Mars hinausgezogen und hatten alles genauso gespielt, wie sie es zuvor schon immer gespielt hatten. Es war nichts als eine Wiederholung der immer gleichen Schemata. »Wir haben da gesessen, und ich dachte, wir kämen voran, und ich habe deine Hand ergriffen: Aber du hast sie weggezogen. Du mochtest das nicht. Ich fühlte mich schlecht. Wir gingen getrennt zurück und sprachen nie wieder darüber, niemals. Und dann habe ich dich wohl durch all dies gehetzt und dachte, es wäre wegen des... des...« Er zeigte auf den blauen Himmel.
»Ich erinnere mich«, sagte sie.
Sie sah ihn mit nach innen gewandtem Blick an. Er fühlte diesen Schock. Man tat so etwas nicht. Man sagte nie seiner verlorenen Jugendliebe, daß man sich daran erinnert. So etwas tut weh. Und doch stand sie da und schaute ihn überrascht an,
»Ja. Aber das war es nicht, was geschah«, sagte sie. »Ich war es. Ich meine, ich habe dir meine Hand auf die Schulter gelegt, ich hatte dich gern, und mir schien, wir könnten... Aber plötzlich hast du einen Sprung gemacht, als hätte ich dich mit einem Viehstachel erschreckt! Damals war die statische Elektrizität niedrig, aber dennoch... « Sie lachte scharf. »Nein. Du warst es. Du hast es nicht getan. Ich nahm an, es war nicht deine Art. Und es war eigentlich auch nicht die meine! Irgendwie hätte es klappen sollen, gerade deshalb. Aber es wurde nichts daraus. Und dann habe ich es vergessen.«
»Nein«, sagte Sax.
Er schüttelte den Kopf in einem primitiven Versuch, seine Gedanken neu zu sammeln und sich zu erinnern. Er konnte immer noch in diesem mentalen Theater am Lookout Point den Moment sehen, das ganze Ding fast wortwörtlich deutlich, Zug um Zug. Es ist ein reiner Gewinn an Ordnung, hatte er gesagt, um den Zweck der Wissenschaft zu erklären. Und sie hatte gesagt: Dafür wirst du das ganze Antlitz eines Planeten vernichten. Daran erinnerte er sich.
Aber da war dieser Zug in Anns Gesicht, als sie sich an den Vorfall erinnerte. Der Blick eines Menschen, der sich jedes Moments seiner Vergangenheit sicher war, lebendig mit der Aufwallung. Sicher erinnerte sie sich auch daran. Aber sie erinnerte sich dennoch an etwas anderes als er. Einer von ihnen mußte sich irren, nicht wahr?
»Könnten wir wirklich...«, sagte er und mußte innehalten und noch einmal anfangen.
»Könnten wir wirklich so ungeschickt gewesen sein, beide loszugehen — in der Absicht — uns zu erklären...«
Ann lachte. »Und sind beide fortgegangen mit dem Gefühl, einander zurückgewiesen zu haben.« Sie lachte noch einmal. »Aber sicher.«
Auch er lachte. Sie wandten die Gesichter zum Himmel und lachten.
Aber dann schüttelte Sax den Kopf voll schmerzlicher Wehmut. Was auch immer geschehen war — na gut. Jetzt war es nicht mehr festzustellen. Selbst mit seinem Gedächtnis, das wie ein artesischer Brunnen hochquoll, sogar wie eine jener kataklysmischen Fluten, gab es keinen Weg mehr, sicher zu sein, was wirklich geschehen war.
Das ließ ihn jäh erschauern. Wenn er diesen aufquellenden Erinnerungen nicht trauen konnte, wenn eine so entscheidende wie diese jetzt in Zweifel gezogen war, was war dann mit den anderen: was war mit Hiroko dort im Sturm, wo sie ihn zu seinem Wagen geführt hatte, die Hand auf seinem Handgelenk. Konnte das auch...? Nein! Aber Anns Hand hatte sich wirklich von ihm losgerissen, ein kinetisches Ereignis, an das sich sein Körper erinnert hatte in seinem Zellmuster, solange er leben würde. Das eine mußte wahr sein. Beide mußten wahr sein.
Und so?
Das also war die Vergangenheit. Da und nicht da. Sein ganzes Leben. Wenn nichts real war als dieser Moment, ein Planckscher Augenblick nach dem anderen, eine unvorstellbar dünne Membran des Werdens zwischen Vergangenheit und Zukunft — sein Leben? Was war es dann, so dünn, so ohne jede greifbare Vergangenheit oder Zukunft? Ein Aufblitzen von Farbe. Die Realität so zart, kaum da. Gab es nichts, was sie tun konnten?
Er versuchte, etwas davon zu sagen, stammelte, versagte, gab es auf.
»Gut«, sagte Ann, die ihn offenbar verstand. »Zumindest erinnern wir uns an so viel. Ich meine, wir sind uns einig, daß wir dort hinausgegangen sind. Wir hatten Ideen, die nicht verwirklicht wurden. Es geschah etwas, das wir damals wahrscheinlich beide nicht verstanden haben. Darum ist es nicht überraschend, daß wir uns jetzt nicht richtig daran erinnern können, oder daß unsere Erinnerungen nicht übereinstimmen. Wir müssen etwas begreifen, um uns daran zu erinnern.«
»Ist das so?«
»Ich denke, ja. Darum können sich Zweijährige nicht erinnern. Sie empfinden Dinge als verrückt, erinnern sich aber nicht daran, weil sie sie nicht wirklich verstehen.«
»Vielleicht.«
Er war sich nicht sicher, daß das Gedächtnis so arbeitete. Frühe Kindheitserinnerungen waren eidetische Bilder wie belichtete Photoplatten. Aber wenn es stimmte, dann war vielleicht alles in Ordnung; denn er hatte Hirokos Erscheinung im Sturm ganz entschieden verstanden, ihre Hand auf seinem Handgelenk. Diese Dinge des Herzens, in der Heftigkeit des Sturms...
Ann trat vor und drückte ihn an sich. Er wandte das Gesicht zur Seite. Sein Ohr drückte gegen ihr Schlüsselbein. Sie war groß. Er fühlte ihren Körper gegen seinen gedrückt und preßte sie seinerseits fest an sich. »Daran wirst du dich immer erinnern«, dachte er. Sie hielt ihn an den Armen von sich weg. »Das ist die Vergangenheit. Ich denke, sie erklärt nicht, was zwischen uns auf dem Mars geschehen ist. Das ist eine andere Sache.«
»Vielleicht.«
»Wir haben uns nicht geeinigt, aber wir hatten die gleichen — Beziehungen. Die gleichen Dinge waren für uns wichtig. Ich entsinne mich, wie du in jenem Felsenwagen in Marineris während des Flutausbruches versucht hast, mich aufzumuntern.«
»Und du mich. Als Maya mich nach Franks Tod ankreischte.«
»Ja«, sagte er und dachte zurück. Eine solche Kraft der Erinnerung hatten sie in jenen aufregenden Stunden! Der Wagen war damals ein Schmelztiegel gewesen. Sie hatten sich alle in einer ureigenen individuellen Art darin verwandelt. »Ich denke, ja. Das war nicht fair. Du versuchtest gerade, ihr zu helfen. Und der Ausdruck auf deinem Gesicht...«
Sie standen da und schauten zurück auf die verstreuten niedrigen Gebäude, aus denen Underhill bestand.
Schließlich sagte Sax: »Und hier sind wir nun.«
»Ja. Da sind wir.«
Ein peinlicher Augenblick. Noch ein peinlicher Augenblick. So war das Leben miteinander. Ein peinlicher Moment nach dem anderen. Er hätte sich schon irgendwie daran gewöhnen müssen. Dann trat er zurück, langte hin, faßte ihre Hand und drückte sie kräftig. Dann ließ er sie los. Sie wollte, wie sie sagte, durch die Arkade der verstorbenen Nadia hinaus in die unberührte Wildnis westlich von Underhill gehen. Sie empfing einen Schwall von Erinnerungen, der zu stark war, um sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Sie mußte gehen.
Er verstand. Sie ging winkend fort. Winkend! Und da war Cojote, drüben nahe den Salzpyramiden, die im Licht des Nachmittags leuchteten. Sax empfand erstmals seit Dekaden die Schwere des Mars, als er zu dem kleinen Mann hinüberhüpfte. Der einzige Mann unter den Ersten Hundert, der kleiner gewesen war als Sax. Sein Waffenbruder.
Während er durch sein Leben schweifte, Schritt für Schritt an einem anderen Ort, jeden Moment von neuem schockiert, war es wirklich recht schwierig, sich auf Cojotes facettiertes asymmetrisches Gesicht zu konzentrieren. Aber da war etwas, eine Vibration, die anscheinend auch in all seinen früheren Gestalten pulsiert hatte. Desmond war sich wenigstens immer selbst mehr oder weniger ähnlich gewesen. Gott wußte, wem Sax für die anderen ähnelte, oder was er sehen würde, wenn er jetzt in einen Spiegel schaute. Die Idee war verwirrend. Es könnte sogar ein interessantes Experiment sein, in einen Spiegel zu blicken, während man sich an etwas aus seiner Jugend erinnerte. Das Bild könnte sich verzerren. Desmond, ein Mann indianischer Abstammung aus Trinidad, sagte jetzt etwas, das schwer zu verstehen war, etwas über die Verzückung in der Tiefe — unklar, ob er die Gedächtnisdroge meinte oder eine Tiefseerfahrung aus seiner Jugend. Sax hatte den dringenden Wunsch, ihm zu sagen, daß Hiroko lebte. Aber als ihm die Worte schon auf der Zunge lagen, hielt er inne. Desmond sah in diesem Moment so fröhlich aus, und er würde Sax nicht glauben. Also würde er ihn nur aufregen. Wissen durch Erfahrung ist nicht immer in diskursives Wissen übertragbar. Das war schade, aber nicht zu ändern. Desmond würde ihm nicht glauben, weil er jene Hand an seinem Handgelenk nicht gefühlt hatte. Und warum sollte er schließlich auch?
Sie gingen hinaus nach Tschernobyl und redeten über Arkadij und Spencer. Sax sagte: »Wir werden alt.«
Desmond johlte. Er hatte immer noch höchst alarmierende Lachanfälle, die aber ansteckend waren, und Sax lachte auch. »Alt werden? Alt werden?«
Der Anblick ihres kleinen Rickover-Kernreaktors versetzte sie in Verzückung. Er war pathetisch, tüchtig, stupide und geschickt. Sax stellte fest, daß ihre limbischen Systeme noch überladen waren und mit allen Emotionen zugleich krächzten. Seine ganze Vergangenheit wurde immer klarer in einer Art von simultanen Überlagerungen von Sequenzen. Jedes Ereignis hatte seine eigene emotionale Ladung, die jetzt alle zugleich losgingen. So voll, so voll! Vielleicht voller als... was? Der Geist? Die Seele? Voller, als es zu sein vermochte. Überfließend, so war das Gefühl. »Desmond, ich fließe über.«
Desmond lachte nur noch heftiger.
Sein Leben hatte das Stadium bereits überschritten, in dem es möglich gewesen wäre, alles zugleich zu empfinden. Was war das überhaupt, dieses Fühlen? Ein limbisches Summen, das Brausen des Windes in den Fichten hoch in den Bergen, wenn man nachts in einem Schlafsack im Felsengebirge liegt und der Wind durch die Nadeln der Fichten faucht... Sehr interessant. Möglicherweise eine Wirkung der Droge, die vorbeigehen würde, obwohl er hoffte, daß es Effekte der Droge gab, die anhalten würden. Und wer konnte sagen, ob das nicht auch für diesen Aspekt als einen integralen Teil des Ganzen gelten konnte? Also: Wenn man sich an seine Vergangenheit erinnern kann und die sehr lang ist, dann fühlt man sich notwendigerweise sehr voll, voller Erfahrungen und Emotionen, bis zu dem Punkt, an dem es nicht leicht sein dürfte, noch viel mehr zu empfinden. War das nicht möglich? Oder vielleicht würde man alles intensiver fühlen als es angemessen war. Vielleicht hatte er sie alle zu schrecklich sentimentalen Leuten gemacht, die von Kummer befallen wurden, wenn sie auf eine Ameise traten und beim Anblick eines Sonnenaufgangs vor Freude weinten. Das wäre ungünstig. Genug war genug oder bereits zuviel. Genug war so gut wie ein Festmahl. Tatsächlich war Sax immer der Meinung gewesen, daß die Amplitude emotionaler Reaktion, die in den Leuten seiner Umgebung zum Ausdruck kam, ohne großen Verlust für die Menschheit ein gutes Stück heruntergeschraubt werden konnte. Natürlich würde es nicht gelingen, ganz gezielt jemandes Emotionen zu dämpfen. Das wäre Verdrängung und Sublimation mit dem daraus resultierenden Überdruck an anderer Stelle. Seltsam, wie nützlich das Freudsche Modell von der Dampfmaschine blieb — Kompression, Entspannung, der ganze Apparat, als ob das Gehirn von James Watt konstruiert worden wäre. Aber reduktive Modelle waren nützlich, sie lagen am Herzen der Wissenschaft. Und er hatte es lange Zeit nötig gehabt, Dampf abzulassen.
So gingen er und Desmond durch Tschernobyl, warfen Steine nach dem Reaktor, lachten und plauderten in rasch wechselnder Folge, weniger in einer Konversation als in einer simultanen Sendung, als wären sie beide absorbiert von ihren eigenen Gedanken. So war das Gespräch sehr wirr, aber dennoch gesellig. Es war tröstend zu hören, wie jemand sich so konfus anhörte. Und zugleich eine große Freude, sich diesem Mann, der sich von ihm in so vieler Hinsicht unterschied, so nahe zu fühlen und mit ihm über die Schule, die Schneelandschaften der südlichen Polgegend und die Parks in der Ares zu schwatzen. Auf diese Weise wurden sie einander irgendwie ähnlich.
»Wir machen alle die gleichen Dinge durch.«
»Das ist wahr! Das ist wahr!«
Seltsam, daß dieser Umstand das Verhalten der Menschen nicht stärker beeinflußte.
Schließlich gingen sie zum Wohnwagenpark zurück. Als sie hindurchliefen, wurden sie langsamer, festgehalten durch die Spinnweben vergangener Erinnerungen. Es war kurz vor Sonnenuntergang. In den Tonnengewölben strömten Leute herum, die auf das Abendessen warteten. Die meisten waren während des Tages zu abgelenkt gewesen, um zu essen, und die Droge schien ein milder Appetitzügler zu sein. Aber jetzt waren die Leute ausgehungert. Maya hatte einen großen Eintopf gekocht und Kartoffeln geschält und dazu getan. Borschtsch? Bouillabaisse? Sie hatte auch daran gedacht, am Morgen einen Backofen in Gang zu setzen, und jetzt füllte der Geruch frischen Brotes die warme Luft der Tonnengewölbe.
Sie versammelten sich in dem großen Doppelgewölbe in der Südwestecke, dem Raum, in dem Sax und Ann zu Beginn des offiziellen Terraformens ihre berühmte Debatte geführt hatten. Hoffentlich würde das Ann nicht einfallen, wenn sie hereinkam. Dagegen sprach nur, daß auf einem kleinen Schirm in der Ecke ein Videoband der Debatte abgespielt wurde. Na schön. Sie würde kurz auf ihre alte Art nach Einbruch der Dunkelheit kommen. Diese Beständigkeit machte allen Spaß. Dadurch war es irgendwie möglich zu sagen: Hier sind wir; die anderen sind heute abend nicht da, sonst ist alles dasselbe. Eine gewöhnliche Nacht in Underhill. Man redete über Arbeit und verschiedene Plätze. Es gab Essen, und es waren die alten vertrauten Gesichter. Als ob Arkadij oder John oder Tatiana jeden Moment hereinspazieren könnten, so wie Ann es jetzt tat, genau pünktlich, mit den Füßen stampfend, um sie aufzuwärmen und die anderen ignorierend, genau wie immer.
Aber sie kam und setzte sich neben ihn. Sie aß ihr Mahl (ein Stew auf provenAalische Art, wie Michel es zu kochen pflegte) an seiner Seite. Mit ihrem gewohnten Schweigen. Dennoch schauten Leute her. Nadia beobachtete sie mit Tränen in den Augen. Anhaltende Sentimentalität. Das könnte ein Problem werden.
Später, beim Klappern von Tellern und Stimmgeräuschen, wobei anscheinend alle zugleich sprachen und es manchmal sogar möglich schien, daß man etwas verstand bei dem Lärm, beugte Ann sich zu Sax herüber und sagte:
»Wohin gehst du nachher?«
»Nun«, sagte er, plötzlich wieder nervös, »einige von Da Vinci haben mich eingeladen zum... zum Segeln. Um ein neues Boot auszuprobieren, das sie für meine... meine Segeltouren konstruiert haben5 Ein Segelboot. Auf Chryse G.«
»Ah.«
Schreckliches Schweigen, trotz all des Lärms.
»Kann ich mitkommen?«
Eine brennende Empfindung in der Gesichtshaut. Sehr merkwürdige Verkrampfung der Blutgefäße. Aber er mußte sich aufraffen zu sprechen. »O ja!«
Und dann saßen alle herum, dachten nach, plauderten, erinnerten sich und tranken Mayas Tee. Maya sah zufrieden aus und kümmerte sich um sie. Ziemlich spät in der Nacht, als fast alle noch in den Sesseln lagen oder sich über dem Heizgerät fläzten, beschloß Sax, zum Wohnwagenpark hinüberzugehen, wo sie ihre ersten paar Monate verbracht hatten.
Nadia war auch draußen. Sie lag auf einer Matratze. Sax zog eine andere von der Wand herunter. Ja, es war seine alte Matratze. Dann kam Maya und alle übrigen. Man mußte dem ängstlichen Desmond zureden und ihn auf einer Matratze in der Mitte unterbringen. Man sammelte sich um ihn, manche an ihren alten Plätzen. Andere schliefen in anderen Wohnwagen und belegten die leeren Matratzen, die Leute benutzt hatten, die jetzt dahingegangen waren. Ein einziger Wagen nahm jetzt leicht alle auf. Und irgendwann tief in der Nacht lagen sie alle da und sanken langsam in unruhigen Schlummer. Auch das war eine liebe und warme Erinnerung, als alle im Raum in ihren Betten einschliefen. So hatte sich das immer angefühlt, in einem Bad mit Freunden dahinzutreiben, müde vom Tagewerk, der ach so interessanten Arbeit, eine Stadt und eine Welt zu erbauen. Schlaf, Erinnerung, Schlaf, Körper. Dankbar in dem Moment versinken und träumen.
Sie segelten an einem windigen wolkenlosen Tag aus der Florentine, Ann am Steuer und Sax hoch an dem steuerbordseitigen Bug des glatten neuen Katamarans, um sich zu vergewissern, daß die Kette den Anker gesichert hatte, der nach anaerobem Bodenschlamm roch — so sehr, daß Sax abgelenkt wurde und einige Zeit damit verbrachte, über der Reling hängend Proben des Schlamms mit der Lupe seines Handys zu betrachten: Eine große Menge toter Algen und anderer Bodenorganismen. Eine interessante Frage, ob das für den Boden des Nordmeers typisch war oder nicht. Oder war das aus irgendeinem Grund auf die Umgebung der Chryse-Bucht beschränkt oder die Florentine, oder allgemeiner auf Untiefen.
Ann rief: »Sax, komm wieder her! Du bist es, der weiß, wie man segelt.«
»Allerdings.«
Obwohl der Schiffscomputer eigentlich alles auf einen sehr allgemeinen Befehl hin tun würde. Man konnte zum Beispiel sagen: »Kurs auf Rhodos!«, und für den Rest der Woche gäbe es nichts mehr zu tun. Aber Sax hatte Freude daran, eine Ruderpinne in der Hand zu haben. Darum gab er den Dreck am Anker einstweilen auf und begab sich zu dem breiten niedrigen Cockpit, das zwischen den zwei schmalen Rümpfen hing.
»Da Vinci verschwindet gleich unter dem Horizont. Sieh doch!«
»So ist es.«
Die äußeren Punkte des Kraterrandes waren die einzigen Teile der Da-Vinci-Insel, die noch über dem Wasser zu sehen waren, obwohl sie nicht mehr als zwanzig Kilometer entfernt waren. Der kleine Globus hatte etwas Intimes an sich. Und das Boot war sehr schnell. Es ging bei jedem Wind über 50 Stundenkilometern ins Hydroplaning über; und die Rümpfe hatten Outriggerkiele unter Wasser, die ausfuhren und sich in verschiedenen delphinartigen Konfigurationen einstellten, wodurch zusammen mit Gegengewichten in den Querstreben der zum Wind gerichtete Rumpf mit dem Wasser in Kontakt blieb, während der leeseitige nicht zu weit untertauchte. Darum schob sich selbst bei mäßigen Winden wie dem, der jetzt ihr entfaltetes Mastsegel wölbte, das Boot auf das Wasser und glitt darüber wie ein Eisboot über das Eis und bewegte sich nur ein paar Prozent langsamer als der Wind selbst. Beim Blick über das Heck konnte Sax erkennen, daß nur ein ganz kleiner Teil der Rümpfe wirklich Kontakt mit dem Wasser hatte. Es sah so aus, als wären das Ruder und die Kiele der Outrigger das einzige, was sie am Fliegen hinderte. Er sah das letzte Ende der Insel Da Vinci unter einem hüpfenden und gezackten Horizont, der nicht mehr als vier Kilometer von ihnen entfernt war, verschwinden. Er sah zu Ann hinüber. Sie klammerte sich an die Reling und schaute zurück auf die strahlend weißen Muster ihres Kielwassers. »Bist du schon einmal auf See gewesen?« fragte Sax. »Das sollte heißen, völlig außer Sicht des Landes.«
»Nein.«
»Ah!«
Sie fuhren weiter nach Norden in die Chryse-Bucht hinaus. Die Insel Copernicus erschien über dem Wasser zu ihrer Rechten und dann dahinter die Insel Galileo. Dann blieben beide wieder unter dem blauen Horizont zurück. Die Dünung am Horizont war merklich, wodurch der Horizont keine gerade blaue Linie vor dem Himmel bildete, sondern vielmehr eine sich verlagernde Anordnung von Wellengipfeln, die rasch aufeinander folgten. Die Grundströmung kam von Nord, fast direkt von vorn, so daß die Linie des Horizonts beim Blick nach Backbord oder Steuerbord besonders gezackt war, eine wellige Linie blauen Wassers gegen den blauen Himmel, die in einem allzu kleinen Kreis das Schiff umrundete, als ob die ›richtige‹ terranische Distanz zum Horizont in der Optik des Gehirns eingebettet wäre. Darum schienen die Dinge, die man hier deutlich sah, immer auf einem Planeten zu sein, der für sie zu klein war. Anns Gesicht zeigte höchstes Mißbehagen. Sie starrte auf die Wellen, die Woge um Woge den Bug und dann das Heck anhoben. Fast rechtwinklig zur Grunddünung gab es einen kurzen unregelmäßigen Wellenschlag, der vom Westwind angetrieben wurde und die größeren breiteren Wellen kräuselte. Physik wie in einem Wellentank. Man konnte alles dargeboten sehen. Es erinnerte Sax an den Physikunterricht im zweiten Stock des am äußersten nordöstlichen Rand des Campus gelegenen Gebäudes seiner High School, wo die Stunden vergangen waren wie Minuten und der flache Wellentank voller Wunder war. Hier war die Grunddünung, die in der ständig nach Osten um den Globus gerichteten Bewegung des Nordmeers entstand. Die Dünung war größer oder kleiner je nachdem, ob sie durch lokale Winde verstärkt oder behindert wurde. Die geringe Schwere bewirkte große breite Wellen, die von starken Winden rasch erzeugt wurden. Wenn zum Beispiel heute der Wind viel stärker würde, müßte der kurze Wellenschlag von Westen rasch größer werden als die Grunddünung von Norden und diese völlig überdecken. Wellen in dem Nordmeer waren bekannt für ihre Größe und Wechselhaftigkeit und die ständigen Überraschungen. Obwohl es auch stimmte, daß sie sich recht langsam durch das Wasser bewegten. Große langsame Berge wie die großen Dünen von Vastitas weit unter ihnen, die um den Planeten wanderten. Manchmal konnten sie wirklich sehr groß werden. Im Gefolge der Taifune, die über das Nordmeer bliesen, waren siebzig Meter hohe Wellen gemessen worden.
Die lebhafte Querdünung schien für Ann schlimm zu sein. Sie sah ziemlich gequält aus. Sax wußte nicht, wie er sie trösten sollte. Er bezweifelte, daß seine Gedanken zur Wellenmechanik hier am Platz waren, obwohl das natürlich für einen jeden, der sich für Physik begeisterte, sehr interessant war. Das galt auch für Ann. Aber vielleicht nicht jetzt. Jetzt sah es so aus, als ob die bloßen Sinneseindrücke von Wasser, Wind und Himmel für sie genug wären. Vielleicht war Schweigen angebracht.
Weiße Schaumkronen begannen über einige Querwellen zu rollen, und Sax schaltete sofort das Wettersystem des Schiffs ein, um nach der Windgeschwindigkeit zu schauen. Sie betrug 32 Kilometer pro Stunde. Das war ungefähr die Geschwindigkeit, bei der die Wellenköpfe zu Brechern wurden. Das war eine einfache, berechenbare Frage des Verhältnisses der Oberflächenspannung zur Windgeschwindigkeit... Ja, die entsprechende Gleichung der Flüssigkeitsdynamik besagte, daß die Wellen bei 35 Stundenkilometern umkippen würden. Und da waren sie: Schaumkronen, die sich grellweiß vom dunkelblauen Wasser abhoben. Sax dachte, es könnte Preußischblau sein. Der Himmel war an diesem Tag fast himmelblau. Im Zenit neigte er sich leicht ins Purpurne und um die Sonne herum erschien er etwas weißlich. Zwischen der Sonne und dem darunter liegenden Horizont lag ein metallischer Schimmer.
»Was tust du?« fragte Ann, sichtlich besorgt.
Sax erklärte es, und sie hörte ihn in eisigem Schweigen an. Er wußte nicht, was sie dachte. Daß die Welt irgendwie erklärbar war, hatte er immer als tröstlich empfunden. Aber Ann... nun, vielleicht war sie einfach seekrank. Oder etwas aus ihrer Vergangenheit lenkte sie ab. Sax hatte in den Wochen seit dem Experiment in Underhill bemerkt, daß er oft durch ein früheres Ereignis abgelenkt wurde, das ungebeten aus einer Menge von Erinnerungen in seinem Geist aufstieg. Unfreiwilliges Gedächtnis. Und für Ann könnte das negative Vorfälle der einen oder anderen Art einschließen. Michel hatte gesagt, daß sie als Kind mißhandelt worden war. Das fand Sax immer noch zu schockierend, um es glauben zu können. Auf der Erde hatten Männer Frauen mißbraucht; auf dem Mars niemals. Was stimmte? Sax wußte es nicht sicher, fühlte aber, daß es wahr war. Das war es, was es bedeutete, in einer gerechten und rationalen Gesellschaft zu leben. Das war einer der Hauptgründe, weshalb das etwas Gutes war und einen Wert darstellte. Vielleicht wußte Ann mehr über die Realität der Lage in diesen Tagen. Aber er mochte sie nicht fragen. Es war deutlich, daß das nicht der Zeitpunkt dafür war.
»Du bist schrecklich still«, sagte sie.
»Ich genieße die Aussicht«, erwiderte er rasch. Vielleicht sollte er doch besser über Wellenmechanik reden. Er erklärte die Grunddünung, die Querstöße, die negativen und positiven Interferenzmuster, die sich ergeben konnten. Aber dann sagte er: »Hast du dich bei dem Experiment in Underhill viel an die Erde erinnert?«
»Nein.«
»Ah.«
Das war vermutlich eine Art von Verdrängung, und genau das Gegenteil der psychotherapeutischen Methode, die Michel wahrscheinlich angewendet hätte. Aber sie waren keine Dampfmaschinen. Und manche Dinge blieben ohne Zweifel besser vergessen. Zum Beispiel würde er sich bemühen müssen, Johns Tod wieder zu vergessen und sich besser an jene Teile seines Lebens erinnern, als er in der Lage gewesen war, sozial zu reagieren, wie etwa während der Jahre, da er in Burroughs biotisch gearbeitet hatte. Also hatte er im Cockpit Gegen-Ann vor sich oder jene dritte Frau, die sie erwähnt hatte, während er — zumindest teilweise — Stephen Lindholm gewesen war. Fremde, trotz der aufregenden Begegnung in Underhill. Oder gerade deswegen. Hallo! Nett, dich kennenzulernen.
Später, als sie zwischen den Fjorden und Inseln im Rücken der Chryse-Bucht durchfuhren, drehte Sax die Ruderpinne, und das Boot schwenkte nach Nordosten gegen den Wind und die Schaumkronen. Dann war der Wind hinter ihnen, und das Mastsegel entfaltete sich in seine Version eines Spinnakers mit gespreizten Flügeln, und die Rümpfe ritten auf den weichen Wellenkämmen, ehe sie ihre überlegene Geschwindigkeit verloren. Vor ihnen erschien die Ostküste der Chryse- Bucht. Sie war weniger eindrucksvoll als die westliche, aber in vieler Hinsicht schöner. Häuser, Türme, Brücken. Es war eine gut besiedelte Küste, wie in jenen Tagen die meisten. Wenn man von Olympus kam, mußten aber alle Städte ein wenig schockieren.
Nachdem sie dann die breite Mündung des AresFjords passiert hatten, tauchte Soochow Point über dem Horizont auf und dahinter die Oxia-Inseln, eine nach der anderen. Ehe das Wasser gekommen war, waren sie das Oxia-Gebirge gewesen, eine Gruppe runder Hügel, die gerade die Höhe hatten, um später ein Archipel zu bilden. Sax segelte in die schmalen Wasserwege zwischen diesen Inseln, von denen jede ein niedriger runder brauner Buckel war, der vierzig oder fünfzig Meter über die See ragte. Bei weitem der größte Teil war unbewohnt, außer vielleicht von Ziegen. Aber auf den größten, besonders den nierenförmigen, die Buchten bildeten, hatte man die die Hügel bedeckenden Steine zu Wällen aufgeschichtet, welche die Hänge in Felder und Weiden aufteilten. Diese Inseln waren bewässert und grün von mit Früchten überladenen Obstgärten oder Weiden, die von weißen Schafen oder Miniaturkühen gesprenkelt waren. Die Seekarte des Schiffs nannte die Namen dieser Inseln: Kipini, Wahoo, Wabash, Naukan, Libertad. Ann knurrte, als sie sie las. »Das sind die Namen der Krater in der Mitte des Golfs. Die liegen unter Wasser.« »Ah.«
Jedenfalls waren es hübsche Inseln. Die Fischerdörfer an den Buchten waren weiß getüncht, mit blauen Jalousien und Türen. Wieder das ägäische Vorbild. Auf einer hohen spitzen Klippe stand ein dorischer Tempel, quadratisch und stolz. Die Schiffe unten in den Buchten waren kleine Schaluppen oder einfach Ruderboote und Dories. Als sie vorbeisegelten, deutete Sax auf eine Windmühle hier und eine Lamaweide dort. »Das scheint ein hübsches Leben zu sein.«
Dann sprachen sie über die Eingeborenen, leicht und ohne heimliche Spannung. Über Zo. Über die ›Wilden‹ und ihre seltsame Lebensweise als Jäger, Sammler und Städtebesucher; über die Ackernomaden, die von Feld zu Feld zogen wie die Wanderarbeiter, denen die Farmen gehörten; über die gegenseitige Befruchtung all dieser Stile; über die neuen terranischen Siedlungen, die in die Landschaft vordrängten; über die zunehmende Anzahl von Hafenstädten. Draußen, mitten in der Bucht, sichteten sie eines der neuen große Stadtschiffe, eine schwimmende Schiffsinsel mit einer Bevölkerung, die in die Tausende geht. Sie war zu groß, um in den Oxia-Archipel einzulaufen und schien Kurs durch den Golf nach Nilokeras zu nehmen oder hinab in die südlichen Fjorde. Da das Land auf dem ganzen Mars immer dichter bewohnt war und die Möglichkeit seiner Besiedlung durch die Umwelthöfe immer stärker eingeschränkt wurde, zogen ständig mehr Leute auf das Nordmeer und machten Stadtschiffe wie dieses zu ihrem ständigen Wohnsitz.
»Laß uns hingehen und es besuchen! Können wir?« fragte Ann.
Sax, durch diese Frage überrascht, sagte: »Wir können es sicher erwischen.«
Er wendete den Katamaran und fuhr nach Südwesten auf das Stadtschiff zu, wobei er sein Boot möglichst schnell laufen ließ, um die Seefahrer zu beeindrucken. In weniger als einer Stunde erreichten sie seine Breitseite, eine runde Steilböschung von ungefähr zwei Kilometern Länge und fünfzig Metern Höhe. Ein Dock knapp über der Wasserlinie hatte ein gegen die Stadt gerichtetes Teilstück, das als offener Aufzug angehoben werden konnte. Als sie vom Katamaran auf das Dock gegangen waren und ihr Boot vertäut hatten, betraten sie diese durch ein Geländer abgetrennte Sektion und wurden auf das Deck des Stadtschiffs gehoben.
Das Deck war fast ebenso breit wie lang. Sein Mittelstück war eine Farm mit vielen kleinen Bäumen darauf, so daß die andere Seite schwer zu erkennen war. Aber nach dem, was sie sehen konnten, war klar, daß die Peripherie des Decks eine Art rechtwinkliger Straße oder Arkade war, zu beiden Seiten von Gebäuden gesäumt, die zwei bis vier Stockwerke hoch waren. Auf den äußeren Bauten standen Masten und Windmühlen; die inneren öffneten sich zu breiten Lücken, wo Parks und Plazas zu den Feldern und Hainen der Farm und zu einem großen Süßwasserteich führten. Eine schwimmende Stadt, die etwas an eine ummauerte Stadt der Renaissance in der Toscana erinnerte, nur daß alles außergewöhnlich sauber und ordentlich war. Klarschiff, könnte man sagen. Eine kleine Gruppe der Bürger der Stadt begrüßte sie auf der Plaza oberhalb des Docks. Und als sie merkten, daß ihre Besucher beeindruckt waren, bestanden sie darauf, daß die Reisenden zu einem Essen blieben, und einige von ihnen führten sie zu einem Spaziergang über einen Teil des Schiffs; »oder so weit, wie ihr wollt. Es ist ein gutes Stück zu gehen«.
Man sagte ihnen, dies wäre ein kleine Schiffsstadt. Bevölkerung fünftausend. Seit ihrem Stapellauf war sie fast ganz autark geblieben. »Wir ziehen fast all unsere Nahrung, und den Restbedarf fischen wir. Es gibt jetzt Streit mit anderen Stadtschiffen wegen des Überfischens bestimmter Arten. Wir pflegen ganzjährige Polykultur und züchten neue Stämme von Mais, Sonnenblumen, Sojabohnen, Sandpflaumen und so weiter, alles durcheinander und von Robotern geerntet, weil die Ernte eine das Kreuz brechende Arbeit ist. Wir haben endlich die Technik bekommen, um die Ernte von zu Hause aus zu erledigen. Darauf läuft es hinaus. An Bord gibt es viel Baumwollindustrie. Wir haben Winzereien — man sieht da draußen die Weingärten — und Branntweindestillationen. Das machen wir von Hand. Wir fertigen auch spezielle Halbleiter und haben einen berühmten Fahrradladen.«
»Die meiste Zeit fahren wir auf dem Nordmeer herum. Manchmal gibt es wirklich heftige Stürme; aber das Schiff ist so groß, daß wir sie leicht überstehen. Die meisten von uns leben hier schon die ganzen zehn Jahre, seit das Schiff existiert. Es ist ein großartiges Leben. Das Schiff bietet alles, was man braucht. Obwohl es viel Spaß macht, von Zeit zu Zeit an Land zu gehen. Wir kommen bei jedem Ls Null zum Frühlingsfest nach Nilokeras. Wir verkaufen, was wir hergestellt haben, und ergänzen unsere Vorräte und haben Parties die ganze Nacht. Dann wieder hinaus auf See.«
»Wir brauchen nichts als Wind und Sonnenschein und ein paar Fische. Die Umwelthöfe mögen uns und sind sich einig, daß wir eine minimale Last sind. Die Bevölkerung des Areals des Nordmeeres könnte jetzt sogar noch größer sein, als wenn es Land geblieben wäre. Es gibt inzwischen Hunderte von Stadtschiffen.«
»Tausende. Und die Hafenstädte mit den Werften und den Seehäfen, die wir besuchen, um Handel zu treiben, denen geht es jetzt wirklich sehr gut.«
»Und ihr denkt, daß dies ein Weg ist, etwas von dem Bevölkerungsüberschuß der Erde aufzunehmen?« fragte Ann.
»Ja, allerdings. Einer der besten Wege. Es ist ein großer Ozean, er könnte viel mehr Schiffe aufnehmen als die wenigen, die bereits unterwegs sind.«
»Solange sie sich nicht zu sehr aufs Fischen verlegen.«
Während sie weitergingen, sagte Sax zu Ann: »Das ist ein weiterer Grund, der eine Krise wegen des Immigrationsthemas heraufbeschwören könnte.«
Ann antwortete nicht. Sie starrte in das in der Sonne glänzende Wasser und dann hinauf zu einem der paar Dutzend Masten, die jeder mit einen Schonersegel versehen waren. Die Stadt sah aus wie ein tafelförmiger Eisberg, dessen Oberfläche völlig von Erde in Beschlag genommen war. Eine schwimmende Insel.
»So viele verschiedene Arten von Nomaden«, bemerkte Sax. »Es scheint, daß nur sehr wenige Eingeborene geneigt sind, sich auf einem festen Platz niederzulassen.«
»Anders als wir.«
»Du hast es erfaßt. Aber ich möchte wissen, ob diese Tendenz bedeutet, daß sie zu einer gewissen Roten Haltung neigen. Verstehst du, was ich meine.«
»Nein.«
Sax versuchte zu erklären. »Mir scheint, daß Nomaden im allgemeinen dazu neigen, das Land zu nutzen, wie sie es vorfinden. Sie ziehen mit den Jahreszeiten und leben von dem, was sie zu der jeweiligen Zeit natürlich wachsend vorfinden. Und seefahrende Nomaden natürlich noch mehr, da die See den meisten menschlichen Versuchen gegenüber, sie zu verändern, so unzugänglich ist.«
»Bis auf die Leute, die versuchen, das Niveau des Meeresspiegels zu regulieren oder den Salzgehalt des Wassers. Hast du von denen gehört?«
»Ja. Aber sie werden damit nicht viel Glück haben, nehme ich an. Die Mechanik der Versalzung kennt man noch zu wenig.«
»Wenn sie Erfolg haben, werden viele Süßwasserspezies getötet.«
»Zugegeben. Aber die Salzwasserarten werden sich freuen.«
Sie gingen durch die Mitte des Stadtschiffs zur Plaza über dem Dock. Vorbei an langen Reihen von Reben, die zu brusthohen T-Formen beschnitten waren. Die horizontalen Reben dazwischen waren schwer von indigoblauen Traubenbüscheln. Hinter den Weingärten war der Boden wie eine Art Prärie mit einem wilden Gestrüpp bedeckt, und von schmalen Fußwegen durchzogen.
In einem Restaurant vor der Plaza wurden sie mit einer Mahlzeit aus Pasta und Shrimps bewirtet. Die Konversation berührte viele Gebiete. Aber dann kam jemand aus der Küche gerannt und zeigte auf sein Handy. Es waren gerade Nachrichten über Schwierigkeiten am Raumaufzug gekommen. Die UN-Truppen, die den Zolldienst auf New Clarke versahen, hatten die Station übernommen und alle Marspolizisten mit dem Vorwurf der Korruption heruntergeschickt und erklärt, daß die UN von jetzt an den Dienst am oberen Ende des Aufzugs allein ausüben würden. Der Sicherheitsrat der UN sagte beschwichtigend, daß ihre lokalen Beamten ihre Kompetenzen überschritten hätten; aber dieser Rückzieher beinhaltete keine Aufforderung an die Marsianer, wieder auf dem Kabel hochzukommen. Darum machte es für Sax den Eindruck eines Verschleierungsversuchs. »Oje«, sagte er. »Ich fürchte, Maya wird sehr ärgerlich sein.«
Ann rollte mit den Augen. »Das ist nicht die wichtigste Verzweigung, wenn du mich fragst.« Sie sah schockiert aus; und zum ersten Mal, seit Sax sie in der Caldera von Olympus gefunden hatte, war sie voll in der gegenwärtigen Situation engagiert. Aus ihrer Distanziertheit geholt. Es war wirklich recht alarmierend, wenn er jetzt darüber nachdachte. Sogar die Seefahrer waren sichtlich erschüttert, obwohl sie zuvor wie Ann von allem, was an Land geschah, distanziert erschienen waren. Sax sah, wie die Nachricht durch die Gespräche im Restaurant lief und alle denselben Schluß zogen: Umwälzung, Krise, Kriegsdrohung. Die Stimmen waren ungläubig und die Gesichter wütend.
Die Leute an ihrem Tisch sahen Sax und Ann an, gespannt auf ihre Reaktion. Einer ihrer Führer bemerkte: »Ihr werdet etwas dagegen tun müssen.«
»Warum wir?« entgegnete Ann scharf. »Ihr müßt etwas dagegen tun, wenn ihr mich fragt. Ihr tragt jetzt die Verantwortung. Wir sind bloß ein Paar alter Issei.«
Ihre Tischgenossen sahen überrascht aus und wußten nicht, wie sie das verstehen sollten. Der Gastgeber, der gesprochen hatte, schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht. Aber du hast recht, wir werden aufpassen und mit den anderen Stadtschiffen reden, wie zu reagieren ist. Wir werden unseren Teil leisten. Ich sagte bloß, daß die Leute auf euch schauen werden, um zu sehen, was ihr macht. Das gilt für uns nicht so sehr.«
Ann wurde dadurch zum Schweigen gebracht. Sax wandte sich wieder seinem Essen zu und dachte intensiv nach. Er stellte fest, daß er mit Maya reden mußte.
Der Abend zog sich hin, die Sonne sank, das Dinner schleppte sich, während sie alle versuchten, zur Normalität zurückzufinden. Sax unterdrückte ein kleines Lächeln. Es konnte eine interplanetare Krise geben oder nicht, das Dinner mußte jedenfalls inzwischen stilgerecht abgewickelt werden. Und diese Seefahrer waren nicht der Menschenschlag, der geneigt war, sich um das Sonnensystem Sorgen zu machen. So erholte sich die Stimmung wieder, und sie widmeten sich gesellig ihrem Dessert, immer noch sehr erfreut, daß Clayborne und Russell sie besuchten. Und dann empfahlen sich im letzten Tageslicht die beiden und wurden auf Meeresniveau und zu ihrem Boot geleitet. Die Wellen auf der Chryse-Bucht waren viel größer, als es von oben ausgesehen hatte.
Sax und Ann fuhren schweigend davon, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Sax blickte auf das Stadtschiff zurück und dachte über das nach, was sie an diesem Tag gesehen hatten. Es schien ein gutes Leben zu sein. Aber etwas daran... Er verscheuchte den Gedanken und fing ihn dann am Ende des raschen Hindernisrennens wieder ein und hielt ihn fest: In diesen Tagen hatte es keine Ausfälle gegeben. Das war eine große Befriedigung, obwohl dieser ganze Gedankengang rein melancholisch war. Sollte er ihn mit Ann teilen? War es möglich, so etwas zu sagen?
Dann sagte er: »Es scheint ironisch, aber manchmal bedauere ich, wenn ich diese Seefahrer und das Leben, das sie führen, so sehe, daß wir erst auf der Schwelle eines goldenen Zeitalters stehen...« — so, nun hatte er es ausgesprochen und fühlte sich töricht —, »...das erst kommen wird, wenn unsere Generation gestorben ist. Wir haben unser ganzes Leben dafür gearbeitet; und dann müssen wir gehen, ehe es soweit ist.«
»Wie Moses angesichts des verheißenen Landes.«
»Ja? — Ist er nicht hineingekommen?« Sax schüttelte den Kopf. »Diese alten Geschichten...« So ein Zusammentreffen. Wie die Wissenschaft in seinem Herzen, wie das Aufblitzen von Einsicht, wenn man an ein Experiment heranging und alles dabei geklärt war und man einiges verstand. »Nun, ich kann mir vorstellen, wie er sich gefühlt hat. Das ist — frustrierend. Ich würde lieber sehen, was danach geschieht. Manchmal werde ich so neugierig. Über die Geschichte werden wir nie etwas erfahren. Die Zukunft nach unserm Tod. Und alles übrige. Weißt du, was ich meine?«
Ann sah ihn prüfend an. Schließlich sagte sie: »Alles stirbt eines Tages. Besser du denkst, daß du ein goldenes Zeitalter verfehlst, als zu denken, daß du die Chancen deiner Kinder mit dir genommen hast. Daß du deine Nachkommen mit giftigen langfristigen Schulden aller Art zurückgelassen hast. Das wäre doch wirklich deprimierend. So wie es ist, müssen wir uns nur für uns selbst schlecht fühlen.«
»Stimmt.«
Und das war Ann’ Clayborn, die da sprach. Sax fühlte, daß sein Gesicht glühte. Diese kapillare Aktivität konnte eine ganz angenehme Empfindung sein.
Sie kehrten zum Archipel von Oxia zurück und segelten zwischen den Inseln und redeten darüber. Es war möglich, sich zu unterhalten. Sie aßen im Cockpit und schliefen jeder in seiner Kabine in den Rümpfen im Back- und Steuerbord. An einem frischen Morgen, als der Wind kühl und aromatisch von der Küste her wehte, sagte Sax: »Ich frage mich immer noch, ob auch Braun eine Möglichkeit wäre.«
Ann sah ihn an. »Und wo ist das Rot darin?«
»Nun, in dem Wunsch, die Dinge zu bewahren, wie sie sind. Einen großen Teil des Landes unangetastet zu lassen. Die Areophanie.«
»Das ist immer Grün gewesen. Es klingt wie Grün mit nur einer kleinen Spur von Rot, wenn du mich fragst. Khaki.«
»Ja, das nehme ich an. Das wären Irishka und die Koalition des Freien Mars, nicht wahr? Aber auch gebranntes Umbras, Siennas, Alizarins und Indischrote.«
»Ich glaube nicht, daß es Indischrote gibt.« Und sie lachte dunkel.
Sie lachte wirklich häufig, obwohl der darin ausgedrückte Humor oft recht bissig war. Eines Abends war Sax in seiner Kabine und sie nahe dem Bug ihres Rumpfes (sie hatte das Backbord belegt, er das Steuerbord), und er hörte sie laut lachen, herauskommen und sich umschauen. Er dachte, es könnte durch den Anblick von Pseudophobos bewirkt sein (die meisten Leute nannten ihn einfach Phobos), der, auf seine alte Art, wieder schnell im Westen aufging. Die Monde des Mars segelten wieder durch die Nacht, wie kleine graue Kartoffeln, die sich kaum voneinander unterschieden. Aber es gab sie. Wie auch dieses dunkle Lachen bei ihrem Anblick.
Als sie sich eines Abends in ihre Rümpfe zurückzogen, frage Ann: »Hältst du diese Übernahme von Clarke für ernst?«
»Das ist schwer zu sagen. Manchmal denke ich, es könnte nur eine Drohgebärde sein; denn wenn es ernst wäre, wäre es ziemlich dumm. Sie müssen wissen, daß Clarke sehr verwundbar ist hinsichtlich — seiner Beseitigung.«
»Kasei und Dao fanden nicht, daß er leicht zu beseitigen war.«
»Nein, aber...« Sax wollte nicht sagen, daß deren Versuch verpfuscht worden war, aber er befürchtete, daß sie aus seinem Schweigen diese Bemerkung herauslesen könnte. »Wir in Da Vinci haben in der Caldera von Arsia Mons einen Röntgenlaser installiert, der hinter einem Felsschirm in der Nordwand versteckt ist; und wenn wir ihn einschalten, wird das Kabel genau in dem areosynchronen Punkt schmelzen. Es gibt kein Verteidigungssystem, das das verhindern könnte.«
Ann starrte ihn an. Er zuckte die Achseln. Er war nicht persönlich für die Aktionen von Da Vinci verantwortlich, ganz gleich, was die Leute dachten.
»Aber der Fall des Kabels«, sagte sie und schüttelte den Kopf, »würde viele Menschen umbringen.«
Sax erinnerte sich, wie Peter den Sturz des ersten Kabels überlebt hatte, indem er in den Weltraum hinausgesprungen war. Durch Zufall gerettet. Vielleicht würde Ann weniger leicht die Leben abschreiben, die unvermeidlich verloren gehen würden. Er sagte: »Das ist wahr. Es ist keine gute Lösung. Aber es könnte so gemacht werden, und ich könnte mir vorstellen, daß die Terraner das wissen.«
»Also ist es vielleicht bloß eine Drohung.«
»Ja. Sofern sie nicht darauf vorbereitet sind, noch weiter zu gehen.«
Nördlich des Oxia-Archipels passierten sie die McLaughin-Bucht, die Ostseite eines überschwemmten Kraters. Nördlich davon war Mawrth Point und dahinter der Eingang zum Mawrth-Fjord, einem der engsten und längsten Fjorde von allen. Man mußte ständig lavieren, um hindurch zu fahren, wobei man von tückischen Winden hin und her gedrückt und zwischen steilen gewundenen Wänden herumgewirbelt wurde. Aber Sax schaffte es irgendwie, denn es war ein hübscher Fjord, am Boden eines sehr tiefen und engen Ausbruchkanals, der sich erweiterte, sobald man weiter hineinfuhr. Und dahinter und über dem Ende des Wassers setzte sich der Canyon mit steinernem Boden weiter ins Landesinnere fort, so weit man sehen konnte und noch viele Kilometer darüber hinaus. Sax hoffte, Ann zeigen zu können, daß die Existenz der Fjorde nicht unbedingt das Überfluten aller Ausbruchkanäle bedeutete. Ares und Kasei hatten auch sehr lange Canyons über dem Meeresniveau behalten und ebenso Al-Kahira und Ma’adim. Aber er sagte nichts davon, und Ann machte keine Bemerkungen.
Nach dem Manövrieren in Mawrth fuhr er fast genau nach Westen. Um aus der Chryse-Bucht in die Acidalia-Region des Nordmeeres zu gelangen, mußte man sich um ein langes Landstück herumarbeiten, das Sinai-Halbinsel hieß und vor der Westseite von Arabia Terra in den Ozean ragte. Die Meerenge, welche die Chryse-Bucht mit dem Nordmeer verband, war 500 Kilometer breit. Aber ohne die Sinai-Halbinsel wären es 1500 Kilometer gewesen.
Also segelten sie nach Westen in den Wind, Tag um Tag, redend oder still. Oft kamen sie darauf zurück, was es bedeuten könnte, Braun zu sein. »Vielleicht sollte man diese Kombination Blau nennen«, sagte Ann eines Abends und blickte über die Seite auf das Wasser. »Braun ist nicht sehr attraktiv und riecht nach Kompromiß. Vielleicht sollten wir an etwas völlig Neues denken.«
»Vielleicht sollten wir.«
Abends nach dem Essen und nachdem sie einige Zeit die über der spiegelnden Oberfläche der See schwimmenden Sterne angeschaut hatten und sie sich in ihre Rumpfkabinen zurückgezogen hatten, manövrierte der Computer sie langsam durch die Nacht und umging die gelegentlichen Eisberge, die in dieser Breite aufzutauchen begannen, und brachte sie aus der Bucht ins Nordmeer.
Es war recht angenehm.
Eines Morgens wachte Sax früh auf. Er war durch eine große Woge unter dem Rumpf, die sein schmales Bett auf und ab stieß, aufgescheucht worden. Sein träumender Geist hatte das als ein riesiges Pendel gedeutet, das sie in die eine und andere Richtung schwenkte. Er zog sich etwas mühsam an und ging an Deck. Und Ann, die an den Falleinen stand, rief: »Es scheint, daß die Grunddünung und die Windstöße ein positives Interferenzmuster bilden.«
»Das tun sie!« Er versuchte, zu ihr zu kommen und wurde durch ein plötzliches Heben des Bootes in einen Cockpitsitz geschleudert. »Ah!«
Sie lachte. Er packte die Reling des Cockpits und zog sich an ihre Seite hoch. Er sah sofort, was sie meinte. Der Wind war stark, vielleicht 65 Kilometer in der Stunde, und das Winseln in der minimalen Betakelung des Bootes war laut und anhaltend. Überall auf der blauen See waren Schaumkronen zu sehen, und der über all das zerwühlte Wasser brausende Wind klang ganz anders als an Land. Es gab hier unter den Milliarden platzender Blasen ein hohes, durchdringendes Kreischen und ein tiefes starkes Dröhnen. Jede Welle hatte weiße Kappen, und die großen Wogen der Gunddünung waren von Gischt bedeckt, die von den Kämmen herunterflog und in die Wellentäler rollte. Der Himmel war schmutzig grobe Umbra und sah sehr unheilvoll aus. Die Sonne lag verschattet wie eine matte alte Münze, obwohl es keine Wolken gab. Grus in der Luft. Ein Staubsturm. Und jetzt nahmen die Wellen an Kraft zu, so daß der Katamaran viele lange Sekunden eine Wellenseite hochschoß und dann fast ebenso lange in das Tal der nächsten hinunter sauste. Auf und ab in einem langen Rhythmus. Die positive Interferenz, von der Ann gesprochen hatte, ließ manche Wellen das Doppelte ihrer Größe gewinnen. Das Wasser, welches nicht schäumte, nahm die Farbe des Himmels an — bräunlich und trübe, dunkel, obwohl immer noch keine Wolke zu sehen war, nur diese verhängnisvolle Farbe des Himmels. Nicht das gewohnte Rosa, sondern eher wie die von Staub erstickte Luft des Großen Sturms. Die weißen Kappen ließen in diesem Gebiet nach, und der Klang von Wasser gegen das Schiff wurde lauter, ein matschiges Rumpeln. Das Meer war hier mit brüchigem Eis bedeckt oder den dickeren elastischen Schichten aus Eiskristallen, die Nilas hießen. Dann kamen die weißen Kämme wieder, doppelt so dick wie zuvor.
Sax kletterte ins Cockpit und sah sich den Wetterbericht auf dem Computer an. Ein katabatischer Wind kam von Kasei Vallis herunter zur Chryse- Bucht. Ein Howler, wie die Flieger von Kasei sagen würden. Aber wie viele katabatische Stürme war er in einer Stunde aufgekommen und war noch ein recht lokales Phänomen. Dafür aber sehr stark. Das Boot war wie auf einer Berg- und Talbahn und wackelte wie unter Hammerschlägen der Luft, wenn es auf der riesigen Grunddünung auf und ab schoß. An der Seite sahen die Wellen aus, als würden sie vom Wind umgestoßen, aber das Stampfen des Bootes zeigte, daß sie so stark wie immer dem fliegenden Gischt unterlagen. Oben hatte sich das Mastsegel fast zu einer Stange in Form einer aerodynamischen Folie zusammengezogen.
Sax beugte sich vor, um den Computer näher zu betrachten. Der Laustärkeregler des Piepsers war ganz heruntergedreht. Vielleicht hatte er also doch versucht, sie zu warnen.
Heftige Windstöße kamen rasch über die See herangebraust. Die nur vier Kilometer entfernten Horizonte halfen nichts. Die Winde auf dem Mars waren in all den Jahren der Verdichtung der Atmosphäre nie viel langsamer geworden. Unter den Füßen erbebte das Schiff, als ob es durch unsichtbare Eisschollen preschte. Es schien jetzt halb loses Packeis zu sein oder das zerbrochene dünne Scheibeneis, das währen der Nacht wieder leicht überfroren war. In all der fliegenden Gischt war das schwer zu erkennen. Gelegentlich fühlte Sax den Anprall eines größeren Eisbrockens. Sie waren wahrscheinlich mit einer Nordströmung durch die Chryse-Straße getrieben und wurden jetzt gegen die leeseitige Küste der südlichen Sinai-Halbinsel gedrückt.
Sie wurden gezwungen, das Cockpit mit seiner transparenten Haube abzudecken. Unter ihrem wasserdichten Schutz wurde ihnen sofort angenehm wärmer. Es würde ein echter Howler werden. Kasei Vallis diente als Führung für einen extrem kräftigen Luftstrom. Der Computer verzeichnete bei Santorini Windgeschwindigkeiten, die zwischen 180 und 220 Kilometern in der Stunde schwankten und ihr Tempo kaum verminderten, wenn sie den Golf überquerten. Es war sicher immer noch ein sehr starker Wind, 160 Stundenkilometer maß er an der Mastspitze. Die Wasseroberfläche wurde jetzt bereits zerteilt. Abgerissene Schaumkronen schleuderten durch den Wind. Das Schiff schoß als Reaktion auf all dies nach unten, der Mast wurde eingezogen, das Cockpit bedeckt und die Luken verklemmt. Dann wurde der Seeanker, eine Art Windsack, ausgeworfen. Der zerrte unter Wasser zur Luvseite, verlangsamte ihre leeseitige Abtrift und milderte die knarrenden Stöße gegen kleine Eisberge, die häufiger wurden, als sie sich alle leeseitig zusammendrängten. Jetzt mit ausgefahrenem Seeanker waren es das Packeis und die kleinen Eisberge, die mit dem Wind schneller schwammen, gegen den zum Wind gerichteten Rumpf stießen, auch als der leeseitige Rumpf noch auf eine dicker werdende Eismasse traf. Beide Rümpfe waren größtenteils unter Wasser. Das Schiff wurde praktisch zu einer Art U-Boot, das an der Oberfläche lag und knapp darunter. Die Stärke des Materials konnte jeden Stoß aushalten, den selbst ein Howler und eine leeseitige Küste von Eisbergen ausüben würden. Es konnte sogar Kräfte aushalten, die um einige Größenordnungen stärker waren. Aber die Schwachpunkte waren, wie Sax überlegte, als er hart gegen Sitzgurt und Schulterharnisch gestoßen wurde und sich grimmig an der Ruderpinne und der Rückenlehne festhielt, ihre Körper. Der Katamaran erhob sich auf einer Woge, sank mit einem Übelkeit verursachenden Stoß nach unten, stieß gegen einen großen Eisberg, so daß er stoppte und Sax atemlos in die Halterungen geschleudert wurde. Es sah so aus, als könnten sie totgeschüttelt werden — ein unangenehmer Abgang, wie er allmählich begriff. Innere Organe konnten durch die Sitzgurte beschädigt werden. Aber wenn sie sich losschnallten, würden sie im Cockpit umherfliegen, gegeneinander oder auf etwas Scharfes, bis irgend etwas zerbrach. Nein. Das war keine erträgliche Situation. Vielleicht würden die Halterungen, die er an seinem Bettgestell gesehen hatte, sanfter sein; aber die negativen Beschleunigungen, wenn das Boot gegen die Eismassen stieß, waren so abrupt, daß er zweifelte, ob die horizontale Lage besondere Erleichterung bringen würde.
»Ich werde sehen, ob uns der Computer in die Arigato-Bucht bringen kann«, rief er Ann ins Ohr. Sie nickte zum Zeichen, daß sie verstanden hatte. Er brüllte die Anweisung direkt in die Eingabe des Computers; und der hörte und begriff. Das war gut so; denn es wäre schwer gewesen, es einzutasten, während das Schiff rollte, stampfte und schlingerte, wenn es auf Eis stieß. Bei all diesem Krach war es nicht möglich, den Schiffsmotor zu beobachten, der die ganze Zeit lief. Aber ein kleiner Winkel gegen die Bodendünung überzeugte Sax, daß er nun stärker arbeitete, während der Computer ihn weiter nach Westen zu dirigierte.
Unten, auf der Südseite nahe der Spitze der SinaiHalbinsel, bildete ein großer überschwemmter Krater namens Arigato eine runde Bucht. Die Einfahrt in diese Bucht lag ungefähr bei 60 Grad vom Kreis des Kraters in südwestlicher Richtung. Auch Wind und Wellen kamen aus Nordwest, also genau durch die Mündung der Bucht, die als ein niedriger Teil des alten Kraterrandes recht seicht war. Das bedeutete unruhiges Wasser und sicher eine schwierige Passage. Wenn man aber erst einmal in der Bucht war, würde die Grunddünung durch eben diesen Rand abgeschnitten sein und Wellen wie Wind stark geschwächt, besonders wenn man hinter das westliche Kap der Bucht gelangte. Dort könnten sie den Howler abwarten und danach weiterfahren. Theoretisch war das ein ausgezeichneter Plan, obwohl Sax Bedenken wegen der Bedingungen in der Mündung der Bucht hatte. Die Karte zeigte, daß sie nur zehn Meter tief war, wodurch die Grunddünung sicher gebrochen wurde. Andererseits könnte in einem Schiff, das zu einer Art U-Boot geworden war (und trotzdem weniger als zwei Meter Tiefgang hatte), das Zurechtkommen mit den Brandungswellen kein großes Problem sein. Man ging einfach mit ihr. Der Computer schien seine Anweisungen im Rahmen des Möglichen zu erfüllen, denn das Schiff hatte den Seeanker eingeholt und bahnte sich mit seinen starken kleinen Motoren seinen Weg gegen Wind und Wellen auf die Bucht hin, die nicht zu sehen war. In der schmutzigen Luft war nichts von der Lee-Küste erkennbar.
Sie hielten sich an der Cockpit-Reling fest und warteten schweigend die Strecke ab. Es war wenig zu sagen; und das dröhnende Gebrüll des Howlers machte die Verständigung schwierig. Sax wurden durch das Festhalten Hände und Arme sehr erschöpft, aber man konnte nichts dagegen tun, außer das Cockpit aufzugeben und sich in den Betten anzuschnallen. Das wollte er aber nicht. Trotz der Unbequemlichkeit und der quälenden Sorge wegen der Eintritts in die Bucht war es ein außergewöhnliches Erlebnis zu sehen, wie der Wind die Wasseroberfläche zerstäubte.
Eine kleine Weile später (obwohl der Computer angab, daß es 72 Minuten gewesen waren) bekam Sax Landsicht — ein dunkler Streifen über den Schaumkronen an der Leeseite. Daß man ihn sah, bedeutete, daß sie vielleicht zu nahe dran waren; aber voraus verschwand er und kam weiter westlich wieder zum Vorschein. Der Eingang der Arigato-Bucht. Die Ruderpinne bewegte sich gegen sein Knie, und er bemerkte eine Änderung im Kurs des Bootes. Zum ersten Mal konnte er das Summen der kleinen Motoren im Heck der beiden Rümpfe hören. Das Knarren gegen das Eis wurde gröber, und sie mußten sich gut festhalten. Jetzt wurden die Wellen der Grunddünung höher, die Schaumkronen wurden abgerissen und weggeschleudert; aber der größte Teil jeder Woge blieb erhalten und stieg hoch, wenn er auf Grund traf. Und jetzt konnte er in der über das Wasser gleitenden Gischt Eisschollen erkennen und größere Brocken — klar, blau, jade, aquamarin, genarbt, roh, glasig. Es mußte eine Menge Eis gegen die vor ihnen liegende Leeküste getrieben worden sein. Wenn die Mündung der Bucht mit Eis verstopft war und trotzdem Wellen über diese Schranke brachen, würde es wirklich eine üble Passage werden. Und danach sah es aus. Sax rief dem Computer ein paar Fragen zu, aber dessen Antworten waren unbefriedigend. Er schien zu sagen, daß das Schiff jeden Stoß vertragen würde, den die Situation mit sich bringen könnte, aber daß die Motoren es nicht durch Packeis zu fahren vermochten. Und tatsächlich wurde das Eis rasch dicker. Es schien, als ob sie allmählich von einer lockeren Masse großer Schollen umgeben würden, die über die ganze Bucht vom Wind an die Küste getrieben wurden. Deren Knirschen und Krachen war jetzt eine deutliche Komponente in dem überwältigenden Lärm des Sturms. Es sah tatsächlich so aus, als würde es jetzt schwierig werden, mit Motorkraft der Lage zu entkommen, direkt von der Küste weg in den Wind und die Wellen und hinaus auf See. Jetzt, da er wirklich hier hinaus wollte und von Wellen auf und ab geschüttelt wurde, die immer größer und wilder wurden, war das Kentern eine ernste Gefahr. Aber wegen der unerwarteten Dicke des Eises war ihnen die Chance, sich von der Küste zu entfernen, wohl verschlossen. Sie hatten also einen harten Kampf vor sich.
Ann schien sich in ihren Halterungen nicht wohl zu fühlen. Sie hielt sich mit Leibeskräften an der Cockpitreling fest, was Sax eine gewisse Beruhigung gab. Sie zeigte durchaus keine Neigung loszulassen. Er beugte sich hinüber, so daß er ihr ins Ohr brüllen konnte, und drehte sich dann so, daß er sie zu hören vermochte.
»Hier können wir nicht bleiben!« rief sie. »Wenn wir schlappmachen, wird es uns wie die Puppen zerreißen!«
»Wir können uns in unseren Betten anschnallen«, schrie Sax zurück.
Sie machte mürrisch ein zweifelndes Gesicht. Und es stimmte, daß diese Lösung auch nicht besser sein würde. Er hatte das nie probiert; und man mußte erst herausfinden, ob man auf diese Weise überhaupt sicherer wäre. Der Wind kreischte erstaunlich laut, das Wasser brauste und das Eis donnerte. Die Wellen wurden immer noch größer. Wenn sich das Schiff hob, dauerte es zehn oder zwölf herzzerreißende Sekunden, bis es wieder in die Tiefe schoß. Und wenn sie wieder hoch kamen, sahen sie Eisschollen zwischen den Wogen, die mit der fliegenden Gischt auf ihre Kollegen runterkrachten und manchmal auch auf die Rümpfe und das Deck des Bootes und auf die transparente Cockpithülle und zwar mit einer Wucht, die sie mit dem ganzen Körper fühlen konnten.
Sax beugte sich hinüber, um Ann wieder etwas ins Ohr zu schreien. »Ich glaube, dies ist eine der Situationen, wo wir die Rettungsbootfunktion benutzen sollten.«
»...Rettungsboot?« fragte Ann.
Sax nickte. Er rief: »Dies Schiff ist sein eigenes Rettungsboot! Es kann fliegen!«
»Was meinst du?«
»Es fliegt!«
»Du machst Witze!«
»Nein! Ein Luftschiff!« Er beugte sich vor und hielt den Mund ihr direkt ans Ohr. »Die Rümpfe, Kiele und der Boden des Cockpits werfen ihren Ballast ab. Sie füllen sich aus den Heliumtanks im Bug. Und es entfalten sich Ballons. Man hat mir das dort in Da Vinci gesagt, aber ich habe es nie gesehen! Ich dachte nicht, daß wir es brauchen würden!« Das Schiff konnte aber auch zum U-Boot werden, hatten sie ihm in Da Vinci erklärt, stolz und höchst befriedigt über die Vielseitigkeit des neuen Vehikels. Aber das Packeis vor der Leeküste verwehrte ihnen diese Möglichkeit, was Sax nicht bedauerte. Aus keinem besonderen Grund erschien ihm die Idee, mit dem Boot nach unten zu gehen, nicht besonders verlockend.
Ann zog sich, über diese Mitteilung erstaunt, nach hinten. Sie rief: »Weißt du, wie man es fliegt?«
»Nein!«
Vermutlich würde sich der Computer darum kümmern. Falls sie in die Luft steigen könnten. Es kam nur darauf an, den Notschalter zu finden und die richtigen Schalter umzulegen. Sax deutete auf das Kontrollpaneel, um seinen Gedanken auszudrücken. Dann beugte er sich vor, um ihr etwas ins Ohr zu schreien. Ihr Kopf schwenkte herum und stieß ihn heftig auf Nase und Mund. Er blinzelte wegen des heftigen Schmerzes, und das Blut lief ihm aus der Nase wie Wasser aus einem Hahn. Ein Zusammenstoß, genau wie die zwei Planetesimale. Er grinste und öffnete die Lippen noch etwas weiter. Das war ein schmerzhafter Irrtum. Er leckte und leckte und schmeckte sein Blut. Er brüllte: »Ich liebe dich!« Sie hörte ihn nicht.
»Wie starten wir es?« rief Ann.
Er deutete wieder auf das Kontrollpaneel und dann den Computer daneben. Das Schaltbrett für den Notfall befand sich unter einer Schutzkappe.
Aber wenn sie sich entschlossen, durch die Luft zu fliehen, würde das einen gefährlichen Moment mit sich bringen. Wenn sie sich erst einmal mit der Geschwindigkeit des Windes bewegten, müßte man auf das Boot nur sehr wenig Kraft ausüben. Sie würden einfach dahinschweben. Aber in dem Moment des Abhebens, während sie noch fast stillstanden, würde der Howler scharf an ihnen zerren. Sie würden wahrscheinlich taumeln; und das könnte die Ballons behindern, so daß das Boot wieder in die von Eis erstickten Brecher zurück oder auf die Leeküste geworfen würde. Er sah, daß Ann die gleichen Gedanken erwog. Aber — was auch immer geschah, es dürfte den knochenbrechenden Stößen vorzuziehen sein, die sie ständig schüttelten. Es wäre nur vorübergehend — so oder so.
Ann sah ihn an und bei seinem Anblick verfinsterte sich ihre Miene. Wahrscheinlich wegen seines vermanschten Gesichts. Sie.rief: »Es ist einen Versuch wert!«
Also entfernte Sax die Schutzkappe von der Notkonsole und legte mit einem letzten Blick auf Ann, wobei sich ihre Augen begegneten mit einem Blick, den er nicht genau deuten konnte, der ihn aber erwärmte, die Finger auf die Schalter. Das Schiff fiel irgendwie ins Wellental, traf mit dem gewohnten Ruck auf die brüllenden Wogen, hüpfte dann direkt hoch und davon. Es stieg auf und kippte seitlich über den leeseitigen Rumpf, so daß sie in ihren Gurten hingen. Die Ballons hatten sich zweifellos verhakt, und die nächste Welle würde sie kentern lassen, und das wäre es dann gewesen. Aber dann zog sich das Boot über Eis, Wasser und Gischt davon, fast ohne Kontakt, und rollte sie Hals über Kopf in ihren Halterungen. Ein wildes Intervall des Taumeins, und dann richtete sich das Boot selbst auf und fing an, wie ein großes Pendel hin und her zu schwingen, von einer Seite nach der anderen, von vorn nach hinten, und dann wieder kopfüber zurück. Dann richtete es sich wieder auf und fing wieder an zu schaukeln. Auf, auf, auf, hin und her geworfen. Festhalten! Sein Schultergurt löste sich, und seine Schulter stieß gegen die von Ann, als ob er gegen sie gepreßt wäre. Die Ruderpinne schlug gegen sein Knie. Er hielt sich daran fest. Noch ein Zusammenprall; und er hielt sich, in seinem Sitz verdreht, an Ann fest. Er packte sie, und danach waren sie wie siamesische Zwillinge, die Arme einander um die Schultern gelegt und in Gefahr, sich gegenseitig bei jedem Stoß die Knochen zu brechen. Sie schauten sich eine Sekunde lang an, die Gesichter nur um Zentimeter getrennt und Blut an beiden von dem einen oder anderen Schnitt. Wahrscheinlich war es nur von seiner Nase. Ann sah teilnahmslos aus. Sie schössen in den Himmel empor.
Sein Schlüsselbein schmerzte da, wo Anns Stirn oder Ellbogen es getroffen hatte. Aber sie flogen immer höher in ihrer unbequemen Umarmung. Und als das Schiff auf annähernd die Geschwindigkeit des Windes beschleunigt war, ließ die Turbulenz stark nach. Die Ballons schienen durch Gurte mit der Mastspitze verbunden zu sein. Gerade, als Sax dann auf eine Art zeppelinartiger Stabilität zu hoffen begann, ja sie sogar erwartete, schoß das Schiff senkrecht hoch und fing wieder sein schreckliches Taumeln an. Ohne Zweifel ein Aufwind. Sie waren jetzt wahrscheinlich über Land; und es war recht gut möglich, daß sie wie ein Hagelkorn in einen Gewitterkopf hochgesogen wurden. Auf dem Mars gab es Gewitterköpfe von zehn Kilometern Höhe, die oft von weit entfernten Südhowlern ihre Kraft erhielten; und lange Zeit flogen Hagelkörner darin auf und ab. Manchmal erreichten Hagelkörner die Größe von Kanonenkugeln, bevor sie herunterkrachten. Sie zerstörten Getreidefelder und töteten sogar Menschen. Und wenn sie beide jetzt in zu große Höhe gerissen würden, konnten sie den Höhentod sterben wie jene frühen Ballonfahrer in Frankreich. Waren es die Montgolfiers selbst, denen das passiert war? Sax konnte sich nicht erinnern. Auf und auf durch Wind und roten Dunst brechend, keine Chance, sehr weit zu sehen.
BUM! Sax sprang hoch, stieß gegen seinen Sitzgurt und kam hart herunter. Donner dröhnte in einer Lautstärke um sie herum, die gut über 130 Dezibel sein mußte. Ann schien dagegen taub zu sein. Er rückte nach der Seite und drehte ihr Ohr, um ihren Kopf so zu wenden, daß er ihr Gesicht sehen konnte. »He!« schrie sie, obwohl es für ihn in dem Brausen des Windes nur wie ein Flüstern klang. »Es tut mir leid«, sagte er, obwohl er sicher war, daß sie ihn nicht hören würde. Es war zum Sprechen zu laut. Sie rotierten wieder, aber ohne starke Zentrifugalkraft. Das Boot kreischte, als der Wind es hochstieß. Dann tauchten sie hinab, und seine Trommelfelle schmerzten bis zum Platzen. Er wackelte mit seinen Kinnbacken nach hinten und vorn, nach hinten und vorn. Dann wurden sie wieder schmerzhaft in die Höhe gerissen. Er fragte sich, wie hoch sie kommen würden. Sehr wahrscheinlich würden sie an der dünnen Luft sterben. Obwohl die Techniker von Da Vinci vielleicht daran gedacht haben könnten, das Cockpit unter Druck zu setzen. Wer konnte das schon wissen? Es gefiel ihm, das Boot als ein Kleinluftschiff zu verstehen oder zumindest als ein System, das die Höhenanpassung beherrschte. Nicht, daß man hier viel gegen solche Auf- und Abwinde tun konnte. Plötzlich prasselte Hagel gegen die Kappe des Cockpits. Auf dem Notpaneel waren kleine Kippschalter angebracht. In einem Moment weniger heftiger Stöße gelang es ihm, sein Gesicht weit genug nach unten zu neigen, um das in dem Paneel eingesetzte Terminal abzulesen. Höhe... nicht deutlich. Er versuchte zu berechnen, wie hoch das Boot steigen würde, ehe es durch sein Eigengewicht in die Horizontale gezwungen würde. Das war schwer, wenn er weder das aktuelle Gewicht des Schiffs kannte noch die Menge des freigesetzten Heliums.
Dann schüttelte sie irgendeine Turbulenz im Sturm wieder durch. Rauf, runter, rauf; dann wieder runter, immer viele Sekunden hintereinander. Sax saß der Magen im Hals. Die Nase lief oder blutete ständig. Dann wieder hoch. Auch nach Luft schnappen. Er fragte sich wieder, wie hoch sie wohl wären und ob sie immer noch aufstiegen. Aber draußen, außerhalb der Hülle des Cockpits, war nichts zu sehen. Nichts als Staub und Wolken. Er schien nicht Gefahr zu laufen, ohnmächtig zu werden. Ann hing reglos neben ihm, und er wollte sie wieder am Ohr zupfen, um zu sehen, ob sie bei Bewußtsein wäre. Aber er konnte seinen Arm nicht bewegen. Er stieß sie mit dem Ellbogen in die Seite. Sie stieß zurück. Wenn er sie zu stark gestoßen hatte, würde er daran denken, das nächste Mal sanfter vorzugehen. Er versuchte einen leichten Stoß mit dem Ellbogen und fühlte als Antwort einen weniger heftigen Stoß. Vielleicht konnten sie auf Morsecode übergehen. Er hatte ihn als Junge ohne jeden Grund gelernt und konnte ihn jetzt in seinem wiedergeborenen Gedächtnis genau hören — jeden Punkt und Strich. Aber vielleicht hatte Ann ihn nicht gelernt, und jetzt war keine Zeit für Unterricht.
Die heftige Fahrt ging so lange weiter, daß er es gar nicht abschätzen konnte. Eine Stunde? Der Lärm ließ mit einemmal so weit nach, daß sie sich durch Zurufe verständigen konnten; und das taten sie, während es möglich war. Eigentlich gab es nicht viel zu sagen.
»Wir stecken in einem Gewitterkopf!«
»Ja!«
Dann zeigte sie mit einem Finger nach unten. Da waren rosa Kleckse. Und sie sanken rasch. Ihre Trommelfelle schmerzten wieder. Sie wurden wie Hagel von der Wolke ausgespien. Rosa. Braun. Staub. Amber. Umbra. Ach ja, die Oberfläche des Planeten. Sie sah aus der Luft nicht viel anders aus als von unten. Abstieg. Er erinnerte sich, daß er und Ann beim allerersten Mal im gleichen Landevehikel heruntergekommen waren.
Jetzt eilte das Schiff unterhalb der Wolkendecke in Hagel und Regen dahin. Aber das Helium konnte sie wieder,nach oben in die Wolke hineinziehen. Sax drückte einen kleinen Schalter auf dem Paneel, und das Schiff begann, sich zu senken. Ein Paar kleiner Kippschalter. Deren Bedienung schien das Boot nach vorn zu kippen und anzuheben. Lagesteuerung. Er drückte sie sanft nach unten.
Sie schienen sich im Sinkflug zu befinden. Und nach einer Weile wurde es unten klarer. Sie konnten gezackte Bergketten und Mesas erkennen. Das würde dann die Cydonia Mesa auf dem Festland von Arabia Terra sein. Kein guter Platz zum Landen.
Aber der Sturm trug sie weiter, und bald waren sie über dem Osten von Cydonia jenseits der ebenen Flächen von Arabia. Jetzt mußten sie bald hinuntergehen, ehe sie über das Nordmeer getrieben würden, das ebenso wild und voller Eis sein könnte, wie Chryse es gewesen war. Unten lag ein Fleckenteppich von Feldern, Obstgärten, Bewässerungskanälen und sich windenden Flüssen, die von Bäumen gesäumt waren. Farmhäuser drängten sich in kleinen Dörfern zusammen. Auf den Feldern nur Nebengebäude, Scheunen und Geräteschuppen. Eine ganz flache, liebliche ländliche Gegend. Überall Wasser. Diesmal kamen sie langsam herunter. Anns Hände waren in dem trüben Nachmittagslicht bläulich weiß und ebenso seine.
Er fühlte sich sehr müde und riß sich zusammen. Die Landung würde wichtig sein. Er drückte fest auf die Lagesteuerung.
Sie sanken schneller, wurden über eine Baumreihe getrieben, dann hinab und rasch über ein breites Feld. Das war am anderen Ende bewässert. Braunes Regenwasser füllte die Furchen. Dahinter war ein Obstgarten, und eine Wasserlandung würde sicher gut sein. Aber sie bewegten sich horizontal recht schnell und waren immer noch vielleicht zehn oder fünfzehn Meter über dem Feld. Sax schob die Haltungskontrollen voll nach vorn und sah, wie die unteren Rümpfe sich wie tauchende Delphine nach unten wendeten; und das Schiff kippte auch; und dann kam das Land direkt auf sie zu. Braunes Wasser, großes Platschen, weiße Wellen, die sich nach beiden Seiten entfernten; und sie wurden durch schlammiges Wasser gezerrt, bis das Boot direkt in eine Reihe junger Bäume rutschte und mit einem Ruck stehenblieb. Unten an der Baumreihe liefen eine Schar von Kindern und ein Mann auf sie zu. Ihre Münder bildeten alle ein perfektes O.
Sax und Ann rappelten sich in sitzende Haltung auf. Sax öffnete die Kapsel des Cockpits. Braunes Wasser strömte über das Schanzdeck. Ein windiger, dunstiger Tag in der ländlichen arabischen Gegend. Das eindringende Wasser fühlte sich ausgesprochen warm an. Anns Gesicht war naß, und ihr Haar stand in wilden Büscheln hoch, als wäre sie auf dem elektrischen Stuhl gewesen. Sie lächelte etwas verkrampft und sagte: »Gut gemacht.«