ERSTER TEIL Peacock Mountain

Der Mars ist jetzt frei. Wir sind unter uns. Niemand sagt uns mehr, was wir zu tun haben.

Ann stand vorn im Zug, als sie das sagte.

Aber es ist so leicht, in alte Verhaltensweisen zurück zu fallen. Eine Hierarchie wird abgeschafft, und eine andere tritt an ihre Stelle. Wir müssen uns davor hüten; denn es wird immer Leute geben, die versuchen werden, hier eine zweite Erde zu erschaffen. Die Areophanie wird endlos sein müssen, ein ewiger Kampf. Wir werden schärfer denn je zuvor darüber nachdenken müssen, was es heißt, Marsianer zu sein.

Ihre Zuhörer hockten in Sesseln da und schauten zu, wie die Landschaft vor den Fenstern dahinglitt. Sie waren müde und hatten entzündete Augen. Rote mit geröteten Augen. Im scharfen Licht der Morgendämmerung sah alles aus wie neu. Das vom Wind gefegte Land war kahl bis auf gelbes Geröll mit Flechten und Gestrüpp. Sie hatten alle Mächte der Erde vom Mars verjagt. Es war ein langer Kampf gewesen, der in wilden Aktionen gipfelte, die der großen Überflutung auf Terra gefolgt waren.

Wir sind von der Erde zum Mars gekommen; und dieser Umzug war eine Form von Reinigung. Man konnte die Dinge leichter sehen, und wir hatten eine Handlungsfreiheit, wie wir sie früher nie besessen hatten. Eine Chance, den besten Teil unseres Selbst auszudrücken. Und so handelten wir auch. Wir schufen eine bessere Art zu leben.

Dies war der Mythos, mit dem sie alle aufgewachsen waren. Als Ann es ihnen jetzt wieder erzählte, starrten die jungen Marsianer durch sie hindurch. Sie hatten die Revolution zustande gebracht. Sie hatten auf dem ganzen Mars gekämpft und die terranische Polizei nach Burroughs hineingetrieben. Dann hatten sie Burroughs überflutet und die Terraner nach Sheffield auf Pavonis Mons gejagt. Sie mußten den Feind noch aus Sheffield hinausscheuchen, das Raumkabel hinauf und zurück nach Terra. Es gab noch einiges zu tun. Aber mit der erfolgreichen Evakuierung von Burroughs hatten sie einen großen Sieg errungen; und einige der blassen Gesichter, die Ann anschauten oder aus dem Fenster blickten, schienen nach einer Pause zu verlangen, einem Moment des Triumphs. Alle waren sie erschöpft.

Hiroko wird uns helfen, sagte ein junger Mann und brach das Schweigen, während der Zug über das Land schwebte.

Ann schüttelte den Kopf. Hiroko ist Grün, sagte sie, eine ursprüngliche Grüne.

Hiroko hat die Areophanie erfunden, entgegnete der junge Eingeborene. Ihr erstes Anliegen ist der Mars. Ich weiß, sie wird uns helfen. Ich habe sie kennengelernt. Sie hat es mir gesagt.

Es sei denn, sie ist tot, sagte jemand anders.

Wiederum Schweigen. Die Welt zog unter ihnen dahin.

Schließlich stand eine große junge Frau auf, ging durch den Mittelgang und drückte Ann an sich. Der Bann war gebrochen. Man verzichtete auf Worte. Sie standen auf und drängten sich in dem freien Raum vorn im Zug um Ann, umarmten sie oder schüttelten ihr die Hand oder berührten sie einfach — sie, Ann Clayborn, welche sie gelehrt hatte, den Mars um seiner selbst willen zu lieben, und die sie in den Kampf um seine Unabhängigkeit von der Erde geführt hatte. Und obwohl ihre von Blut unterlaufenen Augen immer noch starr auf die steinige zerklüftete Weite des Tyrrhena-Massivs gerichtet waren, lächelte sie. Sie drückte die jungen Leute ihrerseits an sich, schüttelte ihnen die Hand und berührte ihre Gesichter. Alles wird gut, sagte sie. Wir werden den Mars befreien. Und die Leute sagten: Ja, und gratulierten einander. Sie sagten:

Auf nach Sheffield! Die Arbeit beenden. Hiroko wird uns zeigen, wie.

Sofern sie nicht tot ist, wandte der junge Mann ein. Ich habe sie im vorigen Monat in Arcadia gesehen. Sie wird wieder auftauchen. Sie wird irgendwo zum Vorschein kommen.


In einem bestimmten Moment vor der Dämmerung leuchtete der Himmel in den gleichen rosa Bändern wie zu Anfang, blaß und klar im Osten, reich und voller Sterne im Westen. Ann erwartete diesen Moment, während ihre Gefährten sie nach Westen führten, auf eine Masse schwarzen Landes zu, das in den Himmel aufragte — den Tharsis-Buckel, gekrönt von dem breiten Kegel von Pavonis Mons. Während sie von Noctis Labyrinthus bergauf fuhren, stiegen sie über den größten Teil der neuen Atmosphäre empor. Der Luftdruck betrug am Fuß von Pavonis 180 Millibar und fiel dann, als sie die Ostflanke des großen Schildvulkans hinauffuhren, unter 100 Millibar und sank noch weiter. Langsam stiegen sie über alles sichtbare Blattwerk empor und die Reifen zerdrückten Flecken aus schmutzigem, vom Wind erodiertem Schnee, bis es nur noch Fels gab und die unablässigen dünnen kalten Winde des Jetstroms. Das kahle Land sah genau so aus, wie einst in den vormenschlichen Jahren, als ob sie wieder in die Vergangenheit reisen würden.

Aber so war es nicht. In Ann Clayborne erwärmte sich etwas Fundamentales beim Anblick dieser eisernen Welt von Stein auf Fels in dem ständigen Wind. Und als die Wagen der Roten den Berg hinauffuhren, waren alle Insassen ebenso hingerissen wie Ann, und in den Abteilen wurde es still, während die Sonne durch den fernen Horizont hinter ihnen stieß.

Die Straße, die sie hinauffuhren, wurde weniger steil, die Steigung nahm in einer vollkommenen Sinuskurve ab, bis sie sich auf dem flachen Gebiet des runden Gipfelplateaus befanden. Hier erblickten sie Kuppelstädte, die den Rand der gigantischen Caldera umgaben, besonders zusammengedrängt um den Fuß des Raumaufzugs etwa dreißig Kilometer südlich von ihnen.

Sie hielten ihre Wagen an. Das Schweigen in den Abteilen war von Verehrung in Grimm umgeschlagen. Ann stand an einem Fenster oben im Abteil und blickte nach Süden in Richtung von Sheffield, dem Kind des Raumaufzugs, das wegen dieses Aufzugs erbaut worden war. Es war zermalmt worden, als der Aufzug abstürzte, bei dessen Erneuerung aber neu aufgebaut worden. Dies war die Stadt, zu deren Vernichtung sie gekommen war, so gründlich, wie Rom es mit Karthago gemacht hatte; denn sie wollte auch das Ersatzkabel herunterholen, genau wie es mit dem ersten im Jahre 2061 geschehen war. Wenn dies geschähe, würde wieder ein großer Teil von Sheffield dem Marsboden gleichgemacht werden. Was bliebe, würde nutzlos auf dem Gipfel eines hohen Vulkans liegen, über dem größten Teil der Atmosphäre. Im Laufe der Zeit würden die übriggebliebenen Bauten aufgegeben und abgerissen werden, so daß nur die Kuppelfundamente übrig bleiben würden und vielleicht eine Wetterstation, sowie schließlich nur die lange, sonnige Stille eines Berggipfels. Das Salz befand sich schon im Boden.



Eine vergnügte Rote aus Tharsis kam ihnen in einem kleinen Rover entgegen und führte sie durch das Labyrinth von Lagerhäusern und kleinen Kuppeln, welche die Kreuzung der äquatorialen mit der den Rand umrundenden Piste umgaben. Während sie ihr folgten, schilderte sie ihnen die örtliche Lage. Der größte Teil von Sheffield und die es umgebenden Randsiedlungen waren schon in der Hand der Revolutionäre des Mars. Das galt aber nicht für den Raumaufzug und die Umgebung seines Basiskomplexes. Und darin lag das Problem. Die revolutionären Kräfte auf Pavonis waren zumeist schlecht ausgerüstete Milizen, die auch nicht unbedingt die gleichen Vorgehensweisen hatten. Daß sie bisher Erfolg gehabt hatten, beruhte auf mehreren Faktoren: Überraschung, der Beherrschung des Luftraums über dem Mars, etlichen strategischen Siegen, der Unterstützung durch die große Mehrheit der Marsbevölkerung, dem Unwillen der Übergangsbehörde der Vereinten Nationen (der UNTA), auf Zivilisten zu schießen, selbst wenn diese auf den Straßen Massendemonstrationen veranstalteten.

Infolgedessen hatten sich die Sicherheitskräfte der UNTA vom ganzen Mars zurückgezogen, um sich wieder in Sheffield zusammenzufinden. Und jetzt befanden sich die meisten in Wagen des Aufzugs unterwegs nach Clarke, dem Ballast-Asteroiden und der Raumstation am oberen Ende des Aufzugskabels. Der Rest der Truppe hielt sich zusamengepfercht in der Umgebung des massiven Basiskomplexes des Aufzuges, genannt die ›Steckdose‹ oder ›Muffe‹, auf. Dieser Stadtteil bestand aus Hilfseinrichtungen für den Aufzug, Lagerhäusern der Industrie und den Herbergen und Restaurants für Unterkunft und Verpflegung der Arbeitskräfte des Hafens. »Diese werden uns jetzt zugute kommen«, sagte Irishka, »denn sie sind wie in einer Presse zusammengedrängt, und wenn es nicht Nahrung und Unterkunft gegeben hätte, hätten sie versucht auszubrechen. Gegenwärtig ist die Lage noch angespannt, aber zumindest können sie leben.«

Ann dachte, daß sie dies irgendwie an die gerade in Burroughs gelöste Situation erinnerte. Die hatte gut geendet. Es war nur jemand erforderlich, der bereit wäre zu handeln, und die Sache wäre erledigt — die UNTA würde zur Erde evakuiert, das Kabel heruntergeholt und die Verbindung zwischen Mars und Erde endgültig zerbrochen. Und jeder Versuch zur Installation eines neuen Kabels könnte in den zehn Jahren, die für die orbitale Zurüstung notwendig waren, irgendwann vereitelt werden.

So führte Irishka sie nun durch den Wirrwarr, der East Pavonis darstellte; und ihre kleine Karawane kam zum Rand der Caldera, wo sie ihre Rover parkten. Im Süden konnten sie am Westrand von Sheffield eben noch das Kabel des Aufzugs erkennen als eine kaum sichtbare Linie, und die auch nur für ein paar seiner 24 000 Kilometer. Tatsächlich fast unsichtbar — und dennoch beherrschte seine Existenz jede Bewegung und jede Diskussion. Jeden Gedanken, den sie hatten — aufgespießt und angehängt an diesem schwarzen Faden, der sie mit der Erde verband.

Als sie sich in ihrem Camp eingerichtet hatten, rief Ann ihren Sohn Peter über das Handy an ihrem Handgelenk an. Er war einer der Anführer der Revolution auf Tharsis gewesen und hatte die Kampagne gegen die UNTA geleitet, wodurch deren Kräfte auf die Muffe und deren unmittelbare Umgebung zusammengedrängt worden waren. Bestenfalls ein bedingter Sieg; aber er machte Peter zu einem der Helden des vorigen Monats.

Jetzt meldete er sich auf ihren Anruf, und sein Gesicht erschien auf ihrem Handy. Er sah ihr sehr ähnlich, was sie beunruhigte. Wie sie bemerkte, war er tief in Gedanken und auf etwas anderes als ihren Anruf konzentriert.

»Gibt es was Neues?« fragte sie.

»Nein. Wir scheinen in einer Sackgasse zu stecken. Wir gestatten allen, die draußen erwischt werden, freien Zugang zum Passagedistrikt, so daß sie die Kontrolle des Bahnhofs und des Flughafens am Rande übernommen haben und auch der U-Bahnlinien von dort zur Muffe.«

»Sind die mit den Flugzeugen aus Burroughs Evakuierten hier angekommen?«

»Ja. Offenbar brechen die meisten von ihnen auf zur Erde. Hier drin herrscht großes Gedränge.«

»Kehren sie zur Erde zurück, oder gehen sie in den Marsorbit?«

»Zurück zur Erde. Ich glaube nicht, daß sie dem Orbit trauen.«

Dabei lächelte er. Er hatte im Weltraum vieles erreicht, unter anderem indem er die Bemühungen von Sax unterstützt hatte. Ihr Sohn, der Weltraum-Mann, der Grüne. Viele Jahre lang hatten sie kaum miteinander gesprochen.

»Was wirst du nun machen?« fragte Ann.

»Ich weiß nicht. Ich sehe keinen Weg, wie wir den´

Aufzug oder auch nur die Muffe erobern könnten. Und wenn es gelänge, könnten sie den Aufzug abstürzen lassen.«

»So?«

»Nun.« Er machte plötzlich ein besorgtes Gesicht. »Ich denke nicht, daß das gut wäre. Was meinst du?«

»Ich meine, er sollte heruntergeholt werden.«

Jetzt sah er verärgert aus. »Dann solltest du besser außerhalb der Fall-Linie bleiben.«

»Das werde ich auch.«

»Ich will nicht, daß jemand ihn herunterholt ohne eine gründliche Diskussion«, sagte er in scharfemATon. »Das ist wichtig. Es sollte eine Entscheidung sein, die von der ganzen Gemeinde auf dem Mars getroffen wird. Ich für meinen Teil denke, daß wir den Aufzug brauchen.«

»Es sei denn, wir hätten keine Möglichkeit, ihn in Besitz zu nehmen.«

»Das wird sich noch zeigen. Inzwischen solltest du besser die Hände von solchen Dingen lassen. Ich habe gehört, was in Burroughs passiert ist. Aber hier ist es anders. Verstehst du? Über Strategie entscheiden wir gemeinsam. Es muß diskutiert werden.«

»Es gibt eine Gruppe, die in so was sehr gut ist«, sagte Ann bitter. Ständig war alles gründlich erörtert worden, und immer hatte sie verloren. Die Zeit dafür war abgelaufen. Es mußte jemand handeln. Aber Peter tat wieder so, als würde er von seiner wirklichen Arbeit abgehalten. Er dachte, er würde die Entscheidungen bezüglich des Aufzugs treffen — das sah sie ihm an. Ohne Zweifel Teil eines allgemeineren Gefühls, den Planeten zu besitzen, das Geburtsrecht der Nisei, Vertreibung der Ersten Hundert und aller übrigen Issei. Bei Lebzeiten von John wäre das nicht leicht gewesen. Aber der König war tot — lang lebe der König, ihr Sohn, König der Nisei, der ersten wahren Marsianer.

Aber König oder nicht — es gab eine Rote Armee, die jetzt auf Pavonis Mons zustrebte. Sie stellte die stärkste noch auf dem Planeten verbliebene Streitmacht dar und beabsichtigte, das Werk zu vollenden, das begonnen worden war, als die Erde von ihrer großen Flut getroffen wurde. Diese Leute glaubten nicht an Konsens oder Kompromisse. Für sie bedeutete das Herunterreißen des Kabels die Erlegung von zwei Fliegen mit einer Klappe. Es würde das letzte Bollwerk der Polizei vernichten und würde auch den leichten Kontakt zwischen Erde und Mars zerreißen — ein Hauptziel der Roten. Nein, die Beseitigung des Kabels war das wichtigste Ziel.

Aber Peter schien das nicht zu begreifen. Oder vielleicht kümmerte es ihn nicht. Ann versuchte, es ihm zu sagen, aber er nickte bloß und brummte: »Ja ja, ja ja.« So arrogant wie alle Grünen, so munter und hartnäckig mit all ihren Ausflüchten und ihrem Umgang mit der Erde, als ob man von einem solchen Leviathan jemals etwas erhalten könnte. Nein. Es mußte direkt gehandelt werden, wie bei der Überflutung von Burroughs und in allen Sabotageakten, die die Bühne für die Revolution vorbereitet hatten. Ohne diese hätte die Revolution überhaupt nie begonnen — oder wäre sofort unterdrückt worden wie im Jahre 2061.

»Ja, ja, dann sollten wir wohl besser eine Versammlung einberufen«, sagte Peter und sah ebenso mißmutig aus, wie sie Mißmut ihm gegenüber empfand.

»Versammlungen«, sagte Ann finster. Versammlungen — aber sie erfüllen doch ihren Zweck; die Leute konnten davon ausgehen, daß sie eine Bedeutung hätten, während die wirklichen Entscheidungen anderswo getroffen wurden.

Dann sagte er: »Ich will versuchen, eine zu veranstalten.« Ann erkannte, daß sie wenigstens seine Aufmerksamkeit erweckt hatte; aber er machte eine unwirsche Miene, als ob man ihm gedroht hätte. »Ehe uns die Dinge aus der Hand gleiten.«

»Das sind sie schon«, sagte sie und brach die Verbindung ab.


Ann verfolgte die Nachrichten auf den verschiedenen Kanälen, auf Mangalavid, den privaten Netzen der Roten und in den Zusammenfassungen von der Erde. Obwohl alles auf dem Mars jetzt auf Pavonis und den Aufzug konzentriert war, war die physische Konvergenz auf dem Vulkan nur unvollkommen. Sie hatte den Eindruck, daß sich auf Pavonis mehr rote Guerilleros befanden als grüne Einheiten des Freien Mars und deren Verbündete. Aber es war schwierig, das genau zu bestimmen. Kasei und der radikalste Flügel der Roten, genannt Kakaze (›Feuerwind‹), hatten unlängst den Nordrand von Pavonis besetzt und in Lastflow den Bahnhof und die Kuppel übernommen. Die Roten, mit denen Ann gereist war, welche größtenteils aus dem alten roten Hauptkontingent kamen, diskutierten, ob sie sich am Rand des Kraters entlang bewegen sollte, um sich dann den Kakaze anzuschließen, entschieden dann aber am Schluß in Ost-Pavonis zu bleiben. Ann verfolgte diese Diskussion schweigend, freute sich aber über das Ergebnis, da sie von Kasei, Dao und deren Schar Distanz wahren wollte. Sie blieb gern in Ost-Pavonis.

Viele Truppen des Freien Mars hielten sich auch dort auf und zogen aus ihren Wagen in die verlassenen Lagerhäuser um. Ost-Pavonis wurde zu einer bedeutenden Konzentration revolutionärer Gruppen aller Art; und einige Tage nach ihrer Ankunft begab Ann sich hinein und ging über kompakten Regolith zu einem der größten Lagerhäuser in der Kuppel, um an einer allgemeinen Strategiekonferenz teilzunehmen.

Die Sitzung verlief ungefähr so, wie sie erwartet hatte. Nadia stand im Zentrum der Diskussion; und es war zwecklos, jetzt mit ihr zu sprechen. Ann nahm einfach auf einem Stuhl an der Rückwand Platz und beobachtete, wie die anderen sich zur Lage äußerten. Sie wollten nicht aussprechen, was Peter ihr schon privat eingeräumt hatte: Es gab keinen Weg, die UNTA vom Raumaufzug zu entfernen. Bevor sie das jedoch zugeben würden, würden sie versuchen, das Problem wegzudiskutieren.

Später bei der Konferenz kam Sax herüber und nahm neben ihr Platz.

»Einen Raumaufzug«, sagte er, »den könnte man... benutzen.«

Ann war es keineswegs angenehm, mit Sax zu sprechen. Sie wußte, daß er durch die Sicherheitsleute der UNTA einen Gehirnschaden erlitten hatte und einer Behandlung unterzogen worden war, die seine Persönlichkeit verändert hatte. Aber irgendwie hatte das überhaupt nicht geholfen. Dadurch war der Umgang sehr seltsam, manchmal kam er ihr vor wie der gleiche alte Sax, so vertraut wie ein vielgehaßter Bruder, während er ein andermal wirklich wie eine völlig andere Person wirkte, die in Saxens Körper hauste. Diese zwei entgegengesetzten Eindrücke wechselten manchmal rapide oder existierten sogar gleichzeitig. Gerade bevor er zu ihr kam, hatte er noch mit Nadia und Art gesprochen und ausgesehen wie ein Fremder, ein flotter alter Mann mit durchdringendem Blick, der mit der Stimme und in der alten Art von Sax sprach. Als er jetzt in ihrer Nähe saß, sah sie, daß die Veränderungen an seinem Gesicht rein oberflächlich waren. Aber trotz des vertrauten Aussehens steckte jetzt der Fremde in ihm; denn hier war ein Mann, der stockte und Sprünge machte, als er mühsam nach dem suchte, was er zu sagen sich bemühte, und dann oft etwas kaum Zusammenhängendes hervorstieß.

»Der Aufzug ist ein... eine Erfindung. Um... sich zu erheben. Ein... ein Werkzeug.«

»Nicht, wenn wir ihn nicht kontrollieren«, sagte Ann so behutsam zu ihm, als wenn sie ein Kind unterrichtete.

»Kontrollieren...«, sagte Sax und dachte über das Konzept nach, als ob es ihm völlig neu wäre. »Einfluß? Wenn der Aufzug heruntergeholt werden kann von jedem, der das wirklich will, dann... « Er verstummte, verloren in seinen Gedanken.

»Was dann?« fragte Ann ungeduldig.

»Dann wird er von allen kontrolliert. Einvernehmliche Existenz. Ist das nicht offenkundig?«

Es war, als ob er aus einer Fremdsprache übersetzen würde. Das war nicht Sax. Ann konnte nur den Kopf schütteln und sanft zu erklären versuchen. Der Aufzug war für die Metanationalen der Weg zum Mars, sagte sie ihm. Er war jetzt in deren Besitz; und die Roten hatten keine Mittel, um deren Polizeikräfte von ihm zu verjagen. Offenbar mußte er angesichts dieser Lage heruntergeholt werden. Man müßte die Leute warnen, ihnen einen Zeitplan geben und es dann machen. »Verluste an Menschenleben würden minimal sein, und wenn es welche geben würde, dürften sie hauptsächlich der Sturheit von Leuten zuzuschreiben sein, die auf dem Kabel oder dem Äquator ausharrten.«

Unglücklicherweise hörte Nadia dies von der Mitte des Raums her, und sie schüttelte den Kopf so heftig, daß ihre gestutzten grauen Locken wie bei der Perücke eines Clowns flatterten. Sie war immer noch sehr wütend auf Ann wegen Burroughs, ohne jeden Grund. Darum blitzte Ann sie an, als sie zu ihnen herüberkam und knapp sagte: »Wir brauchen den Aufzug. Er ist unsere Verbindung mit Terra ebenso wie deren Verbindung zum Mars.«

»Aber wir brauchen keine Verbindung zu Terra«, widersprach Ann. »Es ist keine physische Beziehung für uns. Siehst du das nicht ein? Ich sage nicht, daß wir keinen Einfluß auf Terra haben sollten. Ich bin keine Isolationistin wie Kasei oder Cojote. Ich gebe zu, daß wir versuchen müssen, an ihnen zu arbeiten. Aber es ist keine physische Angelegenheit, siehst du das nicht? Es ist eine Frage von Ideen, von Gesprächen und allenfalls ein paar Gesandten. Es ist ein Informationsaustausch. Zumindest dann, wenn es richtig läuft. Wenn aber ein physischer Kontakt besteht, es zu einem Austausch von Ressourcen kommt oder einer Masseneinwanderung oder gar Polizeikontrolle — dazu ist der Aufzug nützlich, ja sogar notwendig. Wenn wir ihn herunterholen, würden wir ihnen sagen: Wir werden mit euch verhandeln zu unseren Bedingungen, nicht zu euren.«

Das war einleuchtend. Aber Nadia schüttelte den Kopf, was Ann einfach nicht verstehen konnte.

Sax räusperte sich und sagte in seinem alten, dem Periodischen System entsprechenden Stil blinzelnd: »Wenn wir ihn herunterholen können, dann ist es effektiv so, als wäre er schon unten.« Wie ein plötzlich an ihrer Seite erschienener Geist, die Stimme des Terraformens, der Feind, den sie zeitweilig immer wieder verloren hatte, war Saxifrage Russell wieder er selbst, mehr als jemals zuvor. Und alles, was sie tun konnte, war, die gleichen Argumente vorzubringen, wie sie es immer getan hatte, die schwachen Argumente, wobei sie schon im Mund fühlte, daß die Worte nicht ausreichten.

Dennoch versuchte sie es. »Sax, die Leute handeln nach dem, was es hier gibt. Die Metanat-Direktoren und die UN und die Regierungen werden aufschauen und sehen, was es gibt und demgemäß handeln. Wenn das Kabel weg ist, haben sie eben jetzt einfach nicht die Mittel oder die Zeit, sich mit uns anzulegen. Aber solange das Kabel da ist, werden sie etwas von uns verlangen. Sie werden denken, daß wir es ihnen schuldig sind. Und es wird Leute geben, die danach schreien, zu versuchen, es uns zu entreißen.«

»Sie können immer kommen. Das Kabel spart nur Treibstoff.«

»Das wäre nur durch kostspielige Massentransporte möglich.«

Aber jetzt war Sax abgelenkt und verwandelte sich wieder in einen Fremden. Niemand widmete ihren Argumenten Aufmerksamkeit. Nadia fuhr fort, über Kontrolle des Orbits und sichere Verbindungsrouten und dergleichen zu reden.

Der fremdartige Sax unterbrach Nadia, ohne sie überhaupt gehört zu haben, und sagte: »Wir haben versprochen, ihnen... herauszuhelfen.«

»Indem wir ihnen mehr Metalle schicken?« fragte Ann. »Brauchen sie diese wirklich?«

»Wir könnten... Leute nehmen. Das könnte helfen.«

Ann schüttelte den Kopf. »Wir könnten nie genug aufnehmen.«

Er runzelte die Stirn. Nadia merkte, daß man ihr nicht zuhörte, und kehrte an den Tisch zurück. Sax und Ann verstummten.

Man stritt endlos weiter. Keine Partei war zu Kompromissen bereit, und es kam nie etwas zustande. Man diskutierte mit den gleichen Worten für unterschiedliche Dinge, und nur selten sprach überhaupt einer mit dem anderen. Früher war es anders gewesen, vor sehr langer Zeit, als sie in der gleichen Sprache diskutiert und einander verstanden hatten. Aber das war so lange her, daß Ann sich nicht einmal erinnern konnte, wann genau das gewesen war. In Antarctica? Irgendwo. Aber nicht auf dem Mars.

»Du weißt«, sagte Sax in gesprächsmäßigem Ton, wiederum sehr Sax-unähnlich, aber auf andere Art, »es war nicht die Rote Miliz, welche die Übergangsbehörde veranlaßt hat, Burroughs und den Rest des Planeten zu evakuieren. Wenn Guerilleros der einzige Faktor gewesen wären, dann wären die Terraner auf uns losgegangen und hätten wohl Erfolg haben können. Aber die Massendemonstrationen in den Kuppeln machten es deutlich, daß fast jeder auf dem Planeten gegen sie war. Das ist es, was Regierungen am meisten fürchten: Massenproteste in den Städten. Hunderttausende von Menschen, die auf die Straßen gehen, um das herrschende System abzusetzen. Das ist es, was Nirgal meint, wenn er sagt, daß politische Macht aus dem Blick in den Augen der Menschen erwächst. Und nicht aus Gewehrmündungen.«

»Und?« fragte Ann.

Sax zeigte auf das Volk im Lagerhaus. »Das sind alles Grüne.« Die anderen debattierten weiter. Sax beobachtete Ann wie einen exotischen Vogel.

Ann stand auf, verließ die Versammlung und ging in die seltsam ruhigen Straßen von Ost-Pavonis hinaus. Da und dort hatten Banden der Miliz Posten an Straßenkreuzungen bezogen, die ihren Blick nach Süden richteten, nach Sheffield und dem Kabelterminal. Glückliche, hoffnungsvolle, ernsthafte junge Eingeborene. An einer Ecke war eine Gruppe in lebhafter Diskussion; und als Ann vorbeikam, schrie eine junge Frau mit verzerrtem Gesicht: »Ihr könnt doch nicht einfach tun, was ihr wollt!«

Ann ging weiter. Währenddessen fühlte sie sich immer mehr und mehr unbehaglich, ohne zu wissen, weshalb. So ist es, wenn Leute sich in kleinen Quantensprüngen verändern, wenn sie ohne Absicht oder Plan von äußeren Ereignissen getroffen werden. Jemand sagt: »Blick im Auge der Menschen«, und zu dieser Phrase gesellt sich plötzlich ein Bild: Ein Gesicht, das vor leidenschaftlicher Überzeugung erglüht und eine andere Phrase: »Ihr könnt doch nicht einfach tun, was Ihr wollt!« Und so hatte sie den Eindruck beim Blick auf das Gesicht dieser jungen Frau, daß es nicht bloß das Geschick des Kabels wäre, über das sie entschieden, nicht bloß: »Sollte das Kabel heruntergeholt werden?«, sondern: »Wie treffen wir Entscheidungen?« Das war die kritische nachrevolutionäre Frage, wichtiger als jedes andere diskutierte Thema, wichtiger selbst als die Frage des Kabels. Bis jetzt hatten die meisten Leute im Untergrund nach der Maxime gehandelt: »Wenn wir mit dir nicht übereinstimmen, werden wir gegen dich kämpfen.« Diese Haltung war es, die Menschen in den Untergrund getrieben hatte, auch Ann. Und wenn man sich an diese Methode gewöhnt hatte, war es schwer, von ihr loszukommen. Schließlich hatten sie ja gerade bewiesen, daß sie funktionierte. Und so bestand die Neigung, sie weiter anzuwenden. Das empfand sie selbst so.

Aber politische Macht... nimmt man einmal an, sie erwächst aus dem Blick im Auge des Menschen. Man könnte für immer kämpfen; aber wenn die Leute nicht hinter einem standen...


Ann dachte weiter darüber nach, als sie nach Sheffield hinunterfuhr. Sie hatte beschlossen, die Farce der Strategiesitzung am Nachmittag in Ost-Pavonis zu schwänzen. Sie wollte einen Blick in das Zentrum der Aktion werfen.

Es war seltsam, wie wenig sich im alltäglichen Leben von Sheffield geändert zu haben schien. Die Leute gingen immer noch zur Arbeit, aßen in Restaurants, plauderten auf dem Rasen in den Parks und versammelten sich auf den öffentlichen Plätzen dieser am dichtesten bevölkerten Kuppelstadt. Die Läden und Restaurants waren gedrängt voll. Die meisten Geschäfte in Sheffield hatten den Metanationalen gehört; und jetzt lasen die Leute auf ihren Bildschirmen lange Ausführungen darüber, was zu tun wäre, wie die neue Beziehung der Beschäftigten zu ihren alten Besitzern sein sollte, wo sie ihre Rohstoffe kaufen sollten, wo sie verkaufen sollten, wessen Vorschriften sie folgen und wem sie Steuern bezahlen sollten. Alles sehr verwirrend, wie die Diskussionen auf den Schirmen und die allabendlichen Nachrichtensendungen und die Handynetze zeigten.

Der Platz, auf dem der Lebensmittelmarkt stattfand, sah so aus wie immer. Die meisten Nahrungsmittel wurden von Kollektiven erzeugt und verteilt; es gab entsprechende Netze; die Treibhäuser auf Pavonis produzierten noch. Und so verlief auf dem Markt alles wie üblich. Bezahlt wurde mit UNTA-Dollars oder mit Kredit. Nur ein paarmal sah Ann Verkäufer mit ihren Schürzen, die mit roten Gesichtern Kunden anschrien, welche zurückschrien, und die sich über irgendeinen Punkt der Regierungspolitik stritten. Als Ann an einem solchen Streit vorbeiging, bei dem es nicht anders zuging als unter den Anführern in Ost-Pavonis, hielten die Diskutierenden plötzlich inne und starrten sie an. Man hatte sie erkannt. Der Gemüsehändler sagte laut: »Wenn ihr Roten endlich Ruhe geben würdet, würden sie einfach weggehen!«

»Ach komm!« erwiderte ein anderer. »Es liegt ja nicht an ihr.«

Sehr wahr, dachte Ann, als sie weiterging.

Eine Menschenmenge stand da und wartete auf die Straßenbahn. Die Transportsysteme waren noch in Betrieb; bereit für die Autonomie. Die Kuppel als solche funktionierte, was keineswegs selbstverständlich war, obwohl offenbar die meisten Leute das annahmen. Aber die Betreiber jeder Kuppel sahen ihre Aufgabe klar vor Augen. Sie gewannen ihre Rohstoffe selbst, hauptsächlich aus der Luft. Ihre Sonnenkollektoren und Kernreaktoren lieferten alle Energie, die sie brauchten. Somit waren die Kuppeln physisch schwach, konnten aber, wenn man sie in Ruhe ließ, durchaus politisch autonom sein. Es gab keinen Grund, sie besitzen zu wollen. Das zum Leben notwendige war vorhanden. Der Alltag nahm seinen Lauf, nicht sonderlich beunruhigt durch die Revolution.

So schien es auf den ersten Blick. Aber auch in den Straßen gab es bewaffnete Gruppen, junge Eingeborene zu dritt, viert oder fünft, die an Straßenecken standen. Revolutionäre Milizen bei ihren Granatwerfern und Fernspürgeräten. Ob es Grüne oder Rote waren, spielte keine Rolle — allerdings waren es zumeist Grüne. Die Leute bemerkten sie im Vorbeigehen oder blieben stehen, um mit ihnen zu reden und herauszufinden, was sie taten. Die Muffe im Auge behalten, sagten die bewaffneten Eingeborenen. Aber Ann sah, daß sie auch als Polizei fungierten. Sie waren ein akzeptierter und unterstützter Teil der Szene. Die Leute grinsten beim Plaudern. Dies war ihre Polizei, sie waren Kameraden vom Mars und hier, um sie zu schützen und Sheffield für sie zu bewachen. Die Leute wollten sie hier haben. Das war klar. Wenn sie sie nicht gewollt hätten, wäre jeder nahende Fragesteller eine Bedrohung und jeder unfreundliche Blick eine Attacke gewesen, was die Milizen letztlich von den Straßenecken an einen sichereren Ort gezwungen hätte. Die Gesichter der Leute bezeugten Eintracht. Das war der Lauf der Welt.


So grübelte Ann während der nächsten Tage. Und das noch mehr, nachdem sie mit einem Zug am Rand desKraters entlang, entgegen dem Uhrzeigersinn, in die entgegengesetzte Richtung von Sheffield, zum nördlichen Bogen des Kraterrandes gefahren war. Dort hatten Kasei und Dao Apartments in dem kleinen Kuppelbau von Lastflow in Besitz genommen. Offenbar hatten sie gewaltsam einige dort wohnende nicht zur Kampftruppe gehörende Bewohner vertrieben, die natürlich wütend mit dem Zug nach Sheffield geeilt waren, und verlangten, wieder in ihre Heime gelassen zu werden. Außerdem meldeten sie Peter und den anderen Grünen Anführern, daß die Roten am Nordrand Raketenwerfer auf Lastwagen montiert hätten, die auf den Aufzug und Sheffield allgemein zielten.

So begab Ann sich in schlechter Stimmung zu dem kleinen Bahnhof von Lastflow. Sie ärgerte sich über die Arroganz der Kakaze, die auf ihre Art ebenso stur waren wie die Grünen. Sie hatten bei dem Gefecht von Burroughs richtig gehandelt, als sie den Deich eingenommen hatten, um alle zu warnen, wonach sie ihn dann selbst zerstört hatten, nachdem sich alle anderen revolutionären Parteien auf den Höhen des Südens versammelt hatten, bereit, die Zivilbevölkerung der Stadt zu retten, während die Sicherheitskräfte der Metanationalen zum Rückzug gezwungen worden waren. Die Kakaze hatten gesehen, worauf es ankam, und es auch getan, ohne in einer Debatte darüber stecken zu bleiben. Ohne deren Entschlossenheit wären alle immer noch bei Burroughs versammelt, und die Metanats würden zweifellos gerade eine terranische Expeditonsstreitmacht organisieren, die Situation zu entschärfen. Es war ein perfekt ausgeführter Coup gewesen.

Jetzt hatte es den Anschein, als ob ihnen dieser Erfolg zu Kopf gestiegen wäre.

Lastflow war benannt nach der Senke, in der es gelegen war, ein fächerförmiger Lavastrom, der sich mehr als hundert Kilometer weit von der Nordostflanke des Berges herunter erstreckte. Er war der einzige Makel an einem sonst fehlerfreien Gipfelkegel und der Caldera. Er war offenbar sehr spät in der Geschichte der Eruptionen des Vulkans entstanden. Wenn man unten in der Senke stand, wurde der Blick auf den Rest des Gipfels abgeschnitten, als ob man sich in einem flachen Tal befände, wobei rundum wenig zu sehen war — bis man zu dem Abhang an der Kante des Randes hinausging und den riesigen Zylinder der Caldera vor sich hatte und am fernen Horizont die Silhouette von Sheffield, das wie ein mehr als vierzig Kilometer entferntes Mini-Manhattan aussah.

Die eingeschränkte Aussicht war wahrscheinlich der Grund dafür, warum diese Senke der letzte Teil des Randes war, der entwickelt worden war. Aber jetzt war sie gefüllt mit einer recht großen Kuppel von sechs Kilometern Durchmesser und ungefähr hundert Metern Höhe, die man kräftig verstärkt hatte, wie es bei allen Kuppeln hier oben erforderlich war. Die Siedlung war hauptsächlich von Pendlern bewohnt gewesen, die in den zahlreichen Industriebetrieben am Kraterrand arbeiteten. Jetzt war der Randbereich von den Kakaze besetzt worden; und gleich neben der Kuppel stand eine Flotte von großen Rovern, auf die ohne Zweifel das Gerücht von den Raketenwerfern zurückzuführen war.

Während Ann zu dem Restaurant geführt wurde, das Kasei als Hauptquartier ausgesucht hatte, versicherten ihr ihre Führer, daß an dem Gerücht etwas dran ist. Die Rover schleppten Raketenabschußvorrichtungen, die bereit waren, die letzte Zuflucht der UNTA auf dem Mars plattzumachen. Anns Führer waren offensichtlich darüber erfreut und auch darüber, daß sie ihr davon erzählen und sie herumführen konnten. Ein gemischter Haufen waren sie, zumeist Eingeborene, einige neu Hinzugekommene von der Erde, aber auch Oldtimer, mit allen möglichen ethnischen Wurzeln. Einige Gesichter waren darunter, die Ann erkannte: Etsu Okakura, al-Khan, Yussuf. Etliche ihr unbekannte Jugendliche hielten sie an der Tür des Restaurants auf, um ihr die Hand zu schütteln, und grinsten dabei enthusiastisch. Die Kakaze waren, das mußte sie sich eingestehen, der Flügel der Roten, für den sie am wenigsten Sympathie empfand. Ärgerliche Exterraner oder idealistische junge Eingeborene aus den Kuppeln — beim Lächeln zeigten sie dunkel ihre steinernen Eckzähne, und ihre Augen funkelten, weil sie diese Gelegenheit erhielten, sie kennenzulernen. Sie sprachen von kami, der Notwendigkeit zur Reinheit, dem inneren Wert von Stein, den Rechten des Planeten und so weiter. Kurzum: Fanatiker. Ann schüttelte ihnen die Hand und nickte, bemüht, nicht ihr Unbehagen zu zeigen.

Drinnen im Restaurant saßen Kasei und Dao an einem Fenster und tranken dunkles Bier. Alle im Raum hielten im Gespräch inne; und es dauerte einige Zeit, bis sie vorgestellt wurde, bis Kasei und Dao sie begrüßt und umarmt hatten und die Leute die Gespräche wieder aufnahmen. Man brachte ihr aus der Küche etwas zu essen. Auch die Angestellten des Restaurants kamen heraus, um sie zu begrüßen, denn auch sie waren Kakaze. Ann wartete, bis sie gegangen und die Leute zu ihren Tischen zurückgekehrt waren. Sie fühlte sich ungeduldig und unbehaglich. Das waren ihre geistigen Kinder, wie die Medien immer sagten. Sie war die ursprüngliche Rote; aber in Wahrheit fühlte sie sich unwohl.

Kasei, gutgelaunt, wie schon seit Beginn der Revolution, sagte: »Wir werden das Kabel in etwa einer Woche herunterholen.«

»Oh, tatsächlich«, sagte Ann. »Warum so lange warten?«

Dao entging ihr Sarkasmus. »Es kommt darauf an, die Leute zu warnen, damit sie Zeit haben, sich weit genug vom Äquator zu entfernen.« Obwohl er gewöhnlich ein mürrischer Mann war, war er heute ebenso vergnügt wie Kasei.

»Und auch das Kabel zu verlassen?«

»Wenn ihnen danach zumute ist. Aber selbst wenn sie es evakuieren und an uns übergeben, werden wir es herunterholen.«

»Wie denn? Sind das da draußen wirklich Raketenwerfer?«

»Ja. Aber die sind für den Fall gedacht, daß sie herunterkommen und versuchen Sheffield wieder einzunehmen. Was das Herunterholen des Kabels angeht — wir sollten es nicht hier an der Basis zerstören.«

»Die Kontrollraketen könnten imstande sein, mit Angriffen am Boden fertig zu werden«, erklärte Kasei. »Es ist wirklich schwer zu sagen, was geschehen würde. Aber ein Bruch genau über dem asynchronen Punkt würde den Schaden am Äquator vermindern und verhindern, daß New Clarke so schnell davonfliegt wie der alte. Weißt du, wir wollen das Ausmaß der Tragödie möglichst gering halten und Märtyrer vermeiden, wo wir können. Nur die Zerstörung eines Bauwerks! Eines Bauwerks, das keinen Nutzen mehr hat.«

»Ja«, sagte Ann, erleichtert über dieses Zeichen von Vernunft. Aber es war seltsam, wie es sie verwirrte zu hören, wie ihre Idee als Plan von einem anderen verkündet wurde. Sie stellte die Hauptquelle ihrer Besorgnis fest: »Was ist mit den anderen, den Grünen? Was ist, wenn sie widersprechen?«

»Das werden sie nicht«, erwiderte Dao.

»O doch!« sagte Ann in scharfem Ton.

Dao schüttelte den Kopf. »Ich habe mit Jackie gesprochen. Es mag sein, daß manche Grüne wirklich dagegen sind; aber ihre Gruppe vertritt diese Meinung bloß in der Öffentlichkeit, damit sie in den Augen der Terraner gemäßigt erscheinen und alles, was gefährlich ist, den Radikalen in die Schuhe schieben können, über die sie keine Kontrolle haben.«

»Also uns«, sagte Ann.

Sie nickten beide. »Genau wie mit Burroughs«, sagte Kasei lächelnd.

Ann dachte darüber nach. Das war ohne Zweifel richtig. »Aber einige von ihnen sind wirklich total dagegen. Ich habe mit ihnen darüber diskutiert. Das war kein Trick für die Öffentlichkeit.«

»So, so«, sagte Kasei bedächtig.

Sowohl er wie auch Dao sahen sie an.

Schließlich sagte sie: »So, ihr werdet es also auf jeden Fall tun.«

Sie blickten sie weiterhin an. Ann erkannte plötzlich, daß sie ihren Worten ebenso wenig folgen würden wie Jungen, die von einer senilen Großmutter Anweisungen bekommen. Sie ließen ihr den Willen und überlegten, wie sie sie am besten für ihre Zwecke benutzen könnten.

»Wir müssen es tun«, erklärte Kasei. »Es liegt im Interesse des Mars. Nicht bloß für Rote, sondern für uns alle. Wir brauchen eine gewisse Distanz zwischen uns und Terra, und die Schwerkraft stellt diese Distanz wieder her. Ohne sie werden wir in den Mahlstrom hinuntergezogen werden.«

Das war Anns Argument, genau das, was sie bei den Versammlungen in Ost-Pavonis gesagt hatte. »Wenn sie aber versuchen, euch zu stoppen?«

»Ich glaube nicht, daß sie das können«, erwiderte Kasei.

»Wenn sie es aber versuchen?«

Die beiden Männer schauten einander an. Dao zuckte die Achseln.

So, dachte Ann und sah sie an. Sie waren gewillt, einen Bürgerkrieg zu starten.


Es kamen immer noch Leute die Hänge von Pavonis herauf zum Gipfel und füllten Sheffield, Ost-Pavonis, Lastflow und die anderen Kuppelbauten am Rand. Unter ihnen waren Michel, Spencer, Vlad, Marina und Ursula. Ferner Mikhail und eine ganze Brigade Bogdanovisten, sowie Cojote, wie immer allein, eine Gruppe aus Praxis, ein großer Zug mit Schweizern, Roverkarawanen von Arabern — sowohl Sufi als auch Weltliche — und Eingeborene aus anderen Städten und Niederlassungen auf dem Mars. Alle kamen herauf zum Endspiel. Überall sonst auf dem Mars hatten die Eingeborenen ihre Kontrolle gefestigt. Alle physikalischen Fabriken wurden von Einheimischen in Kooperation mit der Organisation ›zur Zerlegung der Atmosphäre‹ betrieben. Es gab natürlich kleine Widerstandsnester der Metanats, und draußen gab es auch einige Kakaze, die systematisch Terraformungsprojekte zerstörten, aber Pavonis war sicher der Wendepunkt für alle verbleibenden Probleme — entweder der Endkampf der Revolution oder, wie Ann zu befürchten begann, der erste Schritt in einen Bürgerkrieg. Oder beides. Es wäre nicht das erste Mal.

Also besuchte sie die Versammlungen und schlief nachts schlecht. Sie erwachte aus unruhigem Schlaf oder aus Nickerchen zwischen einem Meeting und dem nächsten. Die Treffen verloren ihre Kontur: Auf allen wurde gestritten, alle waren ergebnislos. Ann war müde, und der sporadische Schlaf half nicht. Sie war fast 150 Jahre alt und hatte seit 25 Jahren keine gerontologische Behandlung mehr gehabt. Sie fühlte sich immer durch und durch matt. So sah sie aus einem Schacht zunehmender Gleichgültigkeit zu, wie die anderen die Situation durchkauten. Die Erde war noch immer in Unordnung. Die durch den Zusammenbruch des westantarktischen Eisschildes bewirkte Flut erwies sich tatsächlich als der ideale Auslösemechanismus, auf den General Sax gewartet hatte. Sax hatte keine Gewissensbisse, aus dem Mißgeschick der Erde Nutzen zu ziehen. Das spürte Ann. Er verschwendete an die vielen Toten, welche die Flut da unten gefordert hatte, nicht einen Gedanken. Sie konnte die Gedanken gleichsam auf seinem Gesicht verfolgen, wenn das Gespräch darauf kam — welchen Sinn machten Gewissensbisse? Die Überschwemmung war ein Unglücksfall, eine geologische Katastrophe wie eine Eiszeit oder ein Meteoritentreffer. Niemand sollte Zeit darauf verlieren sich schuldig zu fühlen, selbst wenn man für sich selbst Vorteile daraus zog. Am besten man nahm sich alles, was man aus Chaos und Unordnung an Nutzen ziehen konnte, ohne sich Sorgen zu machen. All dies war deutlich auf Saxens Gesicht zu erkennen, wenn er darüber diskutierte, was man als nächstes der Erde gegenüber unternehmen sollten. Er schlug vor, eine Delegation zu entsenden. Eine diplomatische Mission, persönliches Erscheinen, irgend etwas darüber, daß man es gemeinsam tun solle; oberflächlich betrachtet unzusammenhängende Dinge, aber sie konnte ihn lesen wie einen Bruder, diesen alten Gegner! Nun gut, Sax — jedenfalls der alte Sax — war alles andere als irrational und deshalb leicht zu verstehen. Leichter als die jungen Fanatiker der Kakaze — wenn sie es bedachte.

Und man konnte ihm nur auf seinem eigenen Boden begegnen und sich mit ihm in seinen Worten verständigen. So setzte sie sich ihm bei den Versammlungen gegenüber und versuchte, sich zu konzentrieren, auch wenn sich ihr Geist irgendwie zu verhärten schien und sich in ihrem Kopf versteinerte. Die Argumente drehten sich im Kreis: Was war zu tun mit Pavonis? Pavonis Mons, Peacock Mountain. Wer würde den Peacock Thron besteigen? Überall gab es potentielle Schahs: Peter, Nirgal, Jackie, Zeyk, Kasei, Maya, Nadia, Mikhail, Ariadne, die unsichtbare Hiroko...

Jetzt verwies jemand auf die Konferenz von Dorsa Brevia als nützlichen Rahmen für eine Diskussion. Alles sehr gut; aber ohne Hiroko fehlte das moralische Zentrum, die einzige Person in der ganzen Geschichte des Mars außer John Boone, der sich jeder unterwerfen würde. Aber Hiroko und John waren verschwunden, zusammen mit Arkadij und Frank, der jetzt von Nutzen gewesen wäre, wenn er auf ihrer Seite gestanden hätte, was er nicht getan hätte. Alle waren sie fort. Und ihnen war Anarchie geblieben. Seltsam, wie an einem voll besetzten Tisch jene Abwesenden deutlicher präsent waren als die Anwesenden. Zum Beispiel Hiroko. Die Leute erwähnten sie ständig. Und ohne Zweifel war sie irgendwo draußen in der Wildnis und hatte sie, wie üblich, in der Stunde der Not verlassen. Sie aus dem Nest geworfen.

Seltsam auch, wie das einzige Kind ihrer verlorenen Helden, Kasei, der Sohn von John und Hiroko, hier der radikalste Anführer sein sollte, ein beunruhigender Mensch, auch wenn er auf ihrer Seite stand. Da saß er nun und schüttelte seinen ergrauten Kopf über Art, wobei ein leichtes Lächeln seinen Mund verzog. Er war nicht so wie John oder Hiroko. Obwohl, er hatte etwas von Hirokos Arroganz und von Johns Schlichtheit. Das Schlimmste von beiden. Und dennoch war er ein Machtfaktor. Er tat, was er wollte, und eine Menge Leute folgten ihm. Aber er war nicht so, wie seine Eltern gewesen waren.

Und Peter, der nur zwei Plätze neben Kasei saß, hatte keine Ähnlichkeit mit ihr oder Simon. Es war schwer zu erkennen, was Blutsverwandtschaft bedeutete — offenbar gar nichts. Dennoch verkrampfte es ihr Herz, wenn sie Peter sprechen hörte, wie er mit Kasei diskutierte und den Roten bei jedem Punkt entgegentrat, indem er sich für eine Art von interplanetarer Zusammenarbeit aussprach. Niemals wandte er sich in diesen Diskussionen an sie, oder sah sie auch nur an. Vielleicht war das als eine Art von Höflichkeit gedacht: Ich will mich nicht mit dir in der Öffentlichkeit streiten. Aber es sah auch ein wenig aus wie: Ich will mich mit dir nicht streiten, denn du spielst keine Rolle.

Er setzte sich weiter dafür ein, das Kabel zu behalten, und stimmte mit Art natürlich hinsichtlich des Dorsa-Brevia-Dokuments überein, in Anbetracht der großen Mehrheit, die es damals für die Grünen gegeben hatte und die heute noch bestand. Sich auf das Dorsa-Brevia Dokument zu beziehen, würde heißen, die Existenz des Kabels zu sichern. Das bedeutete die fortgesetzte Präsenz der UNTA — der Übergangsbehörde der Vereinten Nationen. Und wirklich sprachen einige von denen aus Peters Umfeld über ›SemiAutonomie gegenüber Terra‹, anstelle von Unabhängigkeit. Und Peter machte da mit, das machte sie krank. Und das alles, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Das war so Simon-typisch, irgendwie, eine Art von Stille. Es machte sie wütend.

»Es gibt keinen Grund, über langfristige Pläne zu sprechen, bis wir das Kabelproblem nicht gelöst haben«, sagte sie, indem sie ihn unterbrach, und erntete dafür einen sehr finsteren Blick, als hätten sie eine Vereinbarung. Aber es gab keine Vereinbarung, und warum sollten sie nicht gegeneinander argumentieren, wenn sie keine andere reale Beziehung hatten — außer der Biologie?

Art behauptete, die UN sagten jetzt, daß sie gewillt seien, der Semi-Autonomie des Mars zuzustimmen, solange der Mars in ›enger Konsultation mit der Erde bliebe und bei der Krise der Erde aktiv Hilfe leisten würde. Nadia sagte, sie stünde in Verbindung mit Derek Hastings, der sich jetzt oben auf New Clarke aufhielte. Hastings hatte Burroughs ohne eine blutige Schlacht aufgegeben, das stimmte; und jetzt behauptete sie, daß er zu Kompromissen bereit sei. Es gab keinen Zweifel daran, daß sein nächster Rückzug nicht so leicht wäre, noch würde es ihn an einen sehr angenehmen Ort verschlagen, denn trotz aller Notstandsmaßnahmen war die Erde jetzt eine Welt der Hungersnöte, der Seuchen und Plünderungen — der Zusammenbruch des Gesellschaftsvertrages, der stets sehr zerbrechlich gewesen war. Und es könnte auch hier passieren. Sie mußte diese Zerbrechlichkeit bedenken, wenn sie wie jetzt wütend genug wurde, um Kasei und Dao zu sagen, sie sollten die Diskussionen beenden und das Feuer eröffnen. Wenn sie das tun würde, würde es sehr wahrscheinlich dazu kommen. Es überkam sie ein eigenartiges Gefühl für ihre eigene Macht, als sie sich am Tisch umschaute und die verängstigten, ärgerlichen und unglücklichen Gesichter sah. Sie war das Zünglein an der Waage. Sie könnte das Gleichgewicht kippen.

Jeder Sprecher hatte fünf Minuten Redezeit, um seine Sache auf die eine oder andere Weise zu vertreten. Mehr Leute waren für das Abtrennen des Kabels, als Ann vermutet hatte. Nicht bloß Rote, sondern auch Vertreter jener Kulturen oder Bewegungen, die sich durch die metanationale Ordnung am meisten bedroht fühlten oder durch Massenimmigration von der Erde: Beduinen, Polynesier, die Bewohner von Dorsia Brevias und einige gerissenere Eingeborene. Dennoch waren sie in der Minderheit. Keine winzige Minderheit — aber immerhin doch in der Anzahl unterlegen. Isolationisten gegen Interaktive. Noch eine weitere Gruppe, die all den anderen hinzuzurechnen war, welche die Unabhängkeitsbewegung des Mars spalteten.

Jackie Boone stand auf und sprach fünfzehn Minuten lang für die Beibehaltung des Kabels und drohte jedem, der es herunterholen wollte, mit dem Ausschluß aus der Gesellschaft des Mars. Es war ein widerlicher Auftritt, aber populär; und danach stand Peter auf und sprach im gleichen Sinne, nur etwas subversiver. Es machte Ann so wütend, daß sie sofort, nachdem er fertig war, aufstand, um dafür zu plädieren, das Kabel herunterzuholen. Dies brachte ihr einen weiteren giftigen Blick von Peter ein, den sie kaum registrierte. Sie sprach in glühender Hitze und vergaß dabei völlig die Redezeit von fünf Minuten. Niemand versuchte, ihr das Wort abzuschneiden und so redete und redete sie, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie als nächstes sagen würde, und keine Erinnerung daran, was sie schon gesagt hatte. Vielleicht hatte ihr Unterbewußtsein alles wie das Memorandum eines Advokaten organisiert — was zu hoffen war; auf der anderen Seite dachte ein Teil von ihr, während ihr Mund weiter redete, vielleicht wiederholte sie auch immer nur wieder und wieder das Wort Mars, oder sie brabbelte dummes Zeug und ihre Zuhörer ertrugen es mit Geduld oder aber die Zuhörer verstanden sie tatsächlich auf wunderbare Weise in einem Moment glänzender Größe, wobei unsichtbare Flammen wie Diademe von Juwelen auf ihren Köpfen leuchteten. Und tatsächlich, so schien es Ann, sah das Haar der Zuhörer aus wie gesponnenes Metall, und die Glatzen der alten Männer wie Jaspissteine, und es schien, als ob hier drinnen alle toten und lebenden Sprachen gleich gut verstanden würden. Und für einen Augenblick, so meinte sie, waren sie alle in ihrem Bann gefangen, alle in einer Epiphanie des roten Mars vereint, frei von der Erde, auf dem Urplaneten lebend, den es gegeben hatte und den es wieder geben könnte.

Sie setzte sich. Diesmal war es nicht Sax, der aufstand, um ihr zu widersprechen, wie es früher so häufig vorgekommen war. Tatsächlich war er konzentriert nach innen gewandt und sah sie mit offenem Mund an in einem Erstaunen, das sie nicht deuten konnte. Sie beide starrten einander mit festen Blicken an. Aber sie hatte keine Ahnung, was er dachte. Sie wußte nur, daß sie endlich seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Diesmal war es Nadia, die ihr entgegentrat. Nadia, ihre Schwester, die sich ruhig und bedächtig für eine Zusammenarbeit mit der Erde aussprach, für einen Eingriff in die Lage Terras. Trotz der großen Flut waren die Nationen der Erde und die Metanationalen immer noch unglaublich mächtig, und in mancher Hinsicht hatte die Krise der Flut sie zusammenschweißt und noch mächtiger gemacht. Darum sprach Nadia von der Notwendigkeit eines Kompromisses, der Notwendigkeit sich zu engagieren, zu beeinflussen, zu verändern. Das widerspricht sich doch, dachte Ann; weil sie schwach wären, sagte Nadia, könnten sie es sich nicht leisten zu provozieren, und deshalb müßten sie die ganze soziale Realität der Erde verändern.

»Aber wie?« schrie Ann. »Wenn man keinen Ansatzpunkt hat, kann man keine Welt bewegen! Ohne Ansatzpunkt kein Hebel und keine Kraft!«

»Es ist nicht bloß die Erde«, entgegnete Nadia. »Es werden weitere Siedlungen im Sonnensystem entstehen. Merkur, Luna, die großen äußeren Monde, die Asteroiden. Wir müssen ein Teil von alledem sein. Als die erste außerirdische Siedlung sind wir der natürliche Anführer. Eine nicht überbrückte Schwerkraft ist bloß ein Hindernis für das alles, eine Minderung unserer Fähigkeit zu handeln, eine Schwächung unserer Macht.«

»Dem Fortschritt im Wege stehen?« hielt Ann ihr erbittert entgegen. »Bedenke, was Arkadij dazu gesagt hätte! Nein, schau her! Wir hatten eine Chance, hier etwas ganz anderes zu tun. Darauf kam es eigentlich an. Wir haben diese Chance immer noch. Alles, was den Raum vergrößert, in dem wir eine neue Gesellschaft schaffen können, ist gut. Alles, was unseren Raum verkleinert, ist schlecht. Denkt darüber nach!«

Vielleicht taten sie es. Aber es machte keinen Unterschied. Alle Elemente auf der Erde schickten ihre Argumente für das Kabel — Argumente, Drohungen, Bitten. Sie brauchten da unten Hilfe. Jegliche Art von Hilfe. Art Randolph setzte sich — Praxis vertretend — weiter energisch für das Kabel ein. Es machte auf Ann den Eindruck, als ob es die nächste Übergangsbehörde sein würde, Metanationalismus in seiner spätesten Ausprägung oder Tarnung.

Aber die Eingeborenen ließen sich langsam von ihnen überzeugen, verlockt durch die Möglichkeit der ›Eroberung‹ der Erde, ohne sich darüber im klaren zu sein, wie unmöglich das war, da sie sich die Größe und Unbeweglichkeit der Erde nicht vorstellen konnten. Man konnte es ihnen immer und immer wieder sagen, aber sie würden es sich niemals vorstellen können.

Schließlich war es Zeit für eine informelle Abstimmung. Man hatte beschlossen, daß die Abstimmung repräsentativ sein sollte, je eine Stimme für die Gruppen, die das Dokument von Dorsa Brevia unterzeichnet hatten, und auch eine Stimme für alle interessierten Parteien, die seit damals entstanden waren — neue Siedlungen im Outback, neue politische Parteien, Vereine, Firmen, Guerillabanden und die verschiedenen roten Splittergruppen. Ehe es losging, schlug eine edle, einfältige Seele sogar eine Stimme für die Ersten Hundert vor; und alle lachten über die Idee, daß die Ersten Hundert imstande sein könnten, sich auf eine Meinung zu einigen. Diese edle Seele, eine junge Frau aus Dorsa Brevia, schlug dann vor, daß jedem der Ersten Hundert eine individuelle Stimme gegeben werden solle; aber das wurde abgelehnt, da es den schwachen Zugriff gefährden würde, den sie auf die repräsentative Herrschaft hatten. Es hätte ohnehin keinen Unterschied gemacht.

Also stimmten sie dafür, den Raumaufzug vorerst bestehen und im Besitz der UNTA zu lassen, bis herunter und einschließlich der Sockelmuffe, ohne Disput. Es war so, als ob König Canute die Gezeiten schließlich für legal erklärt hätte — aber niemand lachte außer Ann. Die anderen Roten waren wütend. Der Besitz der Muffe wurde immer noch aktiv umkämpft, wie Dao laut einwandte. Die Stadtteile drumherum waren verwundbar und konnten eingenommen werden. Es gab keinen Grund, so zurückzuweichen. Sie versuchten nur, ein Problem unter den Teppich zu kehren, weil es schwierig war! Aber die Mehrheit war sich einig. Das Kabel sollte bleiben.


Ann fühlte wieder den alten Drang, zu entfliehen. Kuppeln und Züge, Menschen, die kleine Silhouette von Sheffield vor dem Südrand, der Basalt des Gipfels, alles eingeebnet, zerstört und gepflastert... Es gab eine Piste um den ganzen Kraterand herum, aber die Westseite der Caldera war nahezu unbewohnt. So stieg Ann in einen der kleinsten Rover der Roten und fuhr entgegen dem Uhrzeigersinn auf dem Rand herum, bis sie zu einer kleinen meteorologischen Station kam, wo sie den Rover parkte und durch die Schleuse ausstieg. Sie bewegte sich steif in einem Marschanzug, der denen sehr ähnelte, in denen sie in den ersten Jahren ins Freie gegangen waren.

Sie war einen guten Kilometer von der Kante des Randes entfernt. Sie ging langsam Richtung Osten darauf zu und stolperte ein paarmal, bis sie sich vornahm, besser aufzupassen. Die alte Lava auf der ebenen Fläche des breiten Randes war stellenweise glatt und dunkel und an anderen Stellen rauh und etwas heller. Als sie sich der Kante näherte, war sie völlig auf Areologie eingestimmt und führte ein Felsballett auf, das jedem Buckel und jeder Spalte unter ihren Füßen angepaßt war. Und das war gut; denn in unmittelbarer Nähe der Kante senkte sich das Land in einer Reihe schmaler gekrümmter Vorsprünge ab, wobei der Höhenunterschied manchmal nur einen Schritt betrug, und manchmal größer war als ihre Körpergröße. Voraus spürte sie immer das Gefühl von leerer Luft, bis die andere Seite der Caldera und der Rest des großen Runds in Sicht kamen. Sie kletterte auf den letzten Felsvorsprung hinab, eine nur etwa fünf Meter breite Bank mit schulterhoher gekrümmter Rückwand. Darunter war nichts mehr als der große runde Abgrund von Pavonis.

Diese Caldera war eines der geologischen Wunder des Sonnensystems, ein Loch von 45 Kilometern Durchmesser und etwa fünf Kilometern Tiefe. Fast vollkommen regelmäßig in jeder Hinsicht — kreisförmig, mit ebenem Boden und fast vertikalen Wänden, ein perfekter Zylinder, der wie ein Bohrloch in den Vulkan geschnitten war. Keine der anderen drei großen Calderas erreichte diese perfekte schlichte Form. Ascraeus und Olympus waren komplizierte Palimpseste sich überlappender Ringe, während die breite flache Caldera von Arsia grob zylindrisch, aber in jeder Hinsicht zerrissen war. Allein Pavonis war ein regelmäßiger Zylinder, das platonische Ideal einer vulkanischen Caldera. Natürlich fügte von diesem wundervollen Aussichtspunkt, den sie hatte, die horizontale Schichtung der inneren Wände eine Menge unregelmäßiger Details hinzu. Rostfarbene, schwarze, schokoladen- und umbrafarbene Bänder ließen Variationen in der Zusammensetzung von Lava-Ablagerungen erkennen. Manche Bänder waren härter als die darüber und darunter befindlichen, so daß die Wand in verschiedenen Höhen von zahllosen isolierten, bogenförmigen Balkons gesäumt schien, die an der Flanke des ungeheuren Felsenschlotes saßen und zumeist nie besucht worden waren. Und der Boden war so flach! Die Senkung der Magmakammer des Vulkans, die sich mehr als 160 Kilometer unter dem Berg befand, mußte ungewöhnlich gleichmäßig gewesen sein. Sie war jedesmal an der gleichen Stelle niedergegangen. Ann fragte sich, ob man schon herausgefunden hatte, warum das so gewesen war. War die Magmakammer jünger gewesen als die anderen großen Vulkane, oder kleiner, oder war die Lava homogener gewesen... Wahrscheinlich hatte jemand dies Phänomen untersucht. Ohne Zweifel könnte sie es an ihrem Handgelenk nachschlagen. Sie gab den Code ein für das in Pavonis gedruckte Journal ofAreological Studies und fand Artikel über ›Hinweise auf strombolische explosive Aktivität, die in Sekundärgesteinen von West Tharsis gefunden wurden‹, und ›Radiale Grate in der Caldera und dem konzentrischen Graben außerhalb des Randes, die auf eine späte Absenkung des Gipfels hindeutenA Sie hatte gerade einen solchen Graben überquert. Ein weiterer Artikel beschäftigte sich mit der Freisetzung junger flüchtiger Stoffe in die Atmosphäre, berechnet aus radiometrischen Datierungen von Lastflow‹.

Sie schaltete das Armband aus. Sie war nicht mehr auf dem laufenden mit der jüngsten Areologie. Das war sie schon seit Jahren nicht mehr gewesen. Selbst die Lektüre der Zusammenfassungen würde mehr Zeit erfordern, als sie hatte. Und natürlich war eine Menge Areologie durch das Terraformungsprojekt arg behindert worden. Forscher, die für die Metanats arbeiteten, hatten sich auf Exploration und Bewertung von Ressourcen konzentriert und Anzeichen gefunden von alten Ozeanen, von der frühen warmen und feuchten Atmosphäre und möglicherweise sogar von uraltem Leben. Andererseits hatten radikale rote Wissenschaftler vor zunehmender seismischer Aktivität gewarnt, vor schnellen Absenkungen, massiven Verwüstungen und dem Verschwinden von Gesteinsformationen in ihrer ursprünglichen Verfassung. Politischer Druck hatte nahezu alles verzerrt, was in den letzten hundert Jahren über den Mars geschrieben worden war. Das Journal war die einzige Ann bekannte Publikation, die sich, wie sie wußte, allein auf Areologie im strengsten Sinne beschränkte und sich auf das konzentrierte, was in den fünf Milliarden Jahren der Einsamkeit geschehen war. Es war die einzige Publikation, die Ann noch las oder zumindest durchsah, indem sie die Titel und einige Zusammenfassungen las sowie die Mitteilungen der Herausgeber am Anfang. Ein paarmal hatte sie sogar Briefe an die Redaktion gesandt über das eine oder andere Detail, die die Verfasser ohne viel Aufhebens gedruckt hatten. Herausgegeben von der Universität in Sabishii, wurde das Journal von gleichgesinnten Areologen kritisch geprüft; und die Artikel waren exakt, gut fundiert und in ihren Folgerungen ohne erkennbare politische Absicht. Sie waren einfach Wissenschaft. Die Herausgeber befürworteten das, was man eine rote Position nennen mußte, aber nur im allerengsten Sinne, indem sie für die Erhaltung der ursprünglichen Landschaft eintraten, so daß weiterhin Studien durchgeführt werden können, die nicht durch grobe Umweltverschmutzung behindert werden. Das war von Anfang an Anns Position gewesen, und bei der war ihr am wohlsten. Sie war von dieser wissenschaftlichen Position zu politischem Aktivismus übergegangen, aber nur weil es ihr durch die Situation aufgezwungen worden war. Das traf auf viele Areologen zu, die jetzt die Roten unterstützten. Diese Menschen waren Gleichgesinnte, Leute, die sie verstand und mit denen sie sympathisierte.

Aber es waren nur wenige. Sie konnte sie fast alle einzeln nennen. Es waren die mehr oder weniger regelmäßigen Mitarbeiter des Journals. Was die übrigen Roten anging, wie Kakaze und die anderen Radikalen, so befürworteten sie eine Art von metaphysischer Position, trieben einen Kult. Sie waren religiöse Fanatiker, das Äquivalent zu Hirokos Grünen, Mitglieder einer Art felsenverehrender Sekte. Ann hatte mit ihnen im Grunde wenig gemein. Sie leiteten ihr Rotsein aus einer völlig anderen Weltanschauung ab.

Und wenn man mal annimmt, daß es diese Art von Gruppenbildung innerhalb der Roten schon gäbe, was sollte man da von der gesamten Unabhängigkeitsbewegung des Mars halten? Nun, sie würde sich entzweien. Das war schon jetzt im Gange.

Ann setzte sich nachdenklich auf die Kante des letzten Balkons. Eine herrliche Aussicht. Es schien ihr, als ob sich unten auf dem Boden der Caldera irgendeine kleine Station befände, obwohl man das aus einer Höhe von fünftausend Metern nicht genau erkennen konnte. Selbst die Ruinen des alten Sheffield waren kaum sichtbar — ah, jetzt ja, sie befanden sich unter dem Boden der neuen Stadt als ein kleiner Schutthaufen mit einigen geraden Linien und ebenen Flächen darin. Kaum erkennbare vertikale Kerben in der Wand darüber könnten durch den Fall der Stadt ’61 bewirkt worden sein. Das war schwer zu sagen.

Die überkuppelten Siedlungen, die sich noch auf dem Rand befanden, wirkten wie die Spielzeugdörfer in Briefbeschwerern. Nach Osten hin lagen Sheffield mit seiner Silhouette und die niedrigen Lagerhäuser. Ferner Lastflow und die verschiedenen kleinen Kuppeln um den ganzen Rand herum. Die meisten von ihnen waren zu einem größeren Sheffield zusammengewachsen, das fast 180° des Randes einnahm. Von Lastflow aus in Richtung Südwesten, wo Pisten dem heruntergefallenen Kabel entlang über den langen Abhang von West-Tharsis bis Amazonis Planitia folgten. Diese Städte und Stationen würden immer unter Kuppeln bleiben, weil die Luft in 27 Kilometern Höhe stets nur ein Zehntel der Dichte wie auf dem Bezugspunkt haben würde, den man auch als Meeresniveau bezeichnen konnte. Das heißt die Atmosphäre war hier oben nur dreißig oder vierzig Millibar dick.

Kuppelstädte für immer. Aber mit dem Kabel (sie konnte es gerade nicht erkennen), das Sheffield zerteilte, würde die Entwicklung sicher weitergehen, bis man eine Kuppelstadt gebaut hätte, die ganze Caldera umringend und in sie hinabschauend. Ohne Zweifel würde man auch die Caldera selbst überdachen und mit dem runden Boden etwa 1500 Quadratkilometer der Stadt hinzufügen, obwohl sie sich fragte, wer auf dem Boden eines solchen Lochs würde leben mögen, wo ringsum Felswände aufragten wie die Mauer einer runden Kathedrale ohne Dach... Vielleicht würde es manchen zusagen. Die Bogdanovisten hatten schließlich jahrelang in Moholes gelebt. Man würde Wälder wachsen lassen, Bergsteigerhütten oder eher Penthäuser für Millionäre auf den gebogenen Felsvorsprüngen erbauen, Treppen in die Flanken des Gesteins schneiden, gläserne Aufzüge installieren, die für die Fahrt hinauf oder hinunter einen ganzen Tag brauchten... Es würde Dachgärten geben, Reihenhäuser und Wolkenkratzer, die bis zum Rand aufragten, Helikopterlandeplätze auf deren flachen runden Dächern, Pisten, Autobahnen... O ja, der ganze Gipfel von Pavonis Mons mit Caldera und allem könnte von der großen Weltstadt bedeckt werden, die ständig wuchs wie ein Pilz auf jedem Fels im Sonnensystem. Milliarden, Billionen, Trillionen von Menschen, alle der Unsterblichkeit so nahe, wie sie sich selbst machen konnten...

Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Die Radikalen in Lastflow waren nicht ihre Leute, nicht wirklich, aber falls sie keinen Erfolg hätten, würde der Gipfel von Pavonis und alle anderen Stellen auf dem Mars ein Teil dieser gigantischen Weltstadt werden. Ann versuchte, sich auf die Aussicht zu konzentrieren und Ehrfurcht vor der symmetrischen Gestalt und Liebe zum Gestein unter sich zu empfinden. Ihre Füße hingen über die Kante des Vorsprungs, sie schlug ihre Fersen gegen den Basalt; sie könnte einen Stein werfen, der fünftausend Meter tief fallen würde. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie konnte es nicht fühlen. Versteinerung. So taub und schon so lange... Sie schnaubte, schüttelte den Kopf, winkelte ihre Beine wieder an. Sie ging zurück zum Rover.

Sie träumte von dem langen Endlauf. Der Erdrutsch donnerte über den Boden von Melas Chasma und hatte sie schon fast erreicht. Alles war mit surrealer Deutlichkeit zu erkennen. Sie erinnerte sich wieder an Simon. Sie stöhnte und verließ den kleinen Deich. Sie durchlebte die Gefühle noch einmal und hatte gut zu tun, den toten Mann in ihrem Innern zu beschwichtigen. Sie fühlte sich schrecklich. Der Boden erzitterte.

Sie erwachte mit einem Gefühl der Flucht, sie versuchte wegzulaufen, doch eine Hand, die heftig an ihrem Arm zog, hielt sie fest.

»Ann, Ann, Ann!«

Es war Nadia. Noch eine Überraschung. Ann richtete sich mühsam und unsicher auf. »Wo sind wir?«

»Pavonis, Ann. Die Revolution. Ich bin herübergekommen und habe dich geweckt, weil ein Kampf ausgebrochen ist zwischen Kaseis Roten und den Grünen in Sheffield.«

Die Gegenwart überrollte sie wie der Erdrutsch in ihrem Traum. Sie riß sich aus Nadias Griff los und langte nach ihrem Hemd.

»War mein Rover nicht verschlossen?«

»Ich bin eingebrochen.«

»Aha!« Ann stand auf, immer noch benommen, und wurde immer ärgerlicher, je besser sie die Lage verstand. »Was ist also geschehen?«

»Sie haben das Kabel mit Raketen beschossen.«

»Wirklich?« Ein neuer Ruck, der den geistigen Nebel beseitigte. »Und?«

»Es hat nicht geklappt. Die Abwehreinrichtungen des Kabels haben sie abgefangen. Die haben da oben jetzt eine Menge Geräte und freuen sich, sie endlich benutzen zu können. Aber jetzt rücken die Roten von Westen her nach Sheffield ein, schießen noch mehr Raketen ab; und die UN-Streitmäche auf Clarke bombardieren die ersten Abschußplätze drüben auf Ascraeus und drohen, jede bewaffnete Macht hier unten unter Beschüß zu nehmen. Das ist genau das, was sie gewollt haben. Und die Roten denken offenbar, daß es wie bei Burroughs geht, und versuchen die Aktion zu forcieren. Darum bin ich zu dir gekommen. Schau, Ann, ich weiß, daß wir schon viel gekämpft haben. Wie du weißt, bin ich nicht sehr geduldig gewesen; aber dies ist wirklich zu viel. Im letzten Augenblick könnte alles in Stücke gehen. Die UN könnten die Lage hier als Anarchie verstehen und von der Erde heraufkommen und versuchen, wieder die Macht zu übernehmen.«

»Wo sind sie?« krächzte Ann. Sie zog ihre Hose an und ging ins Bad. Nadia folgte ihr. Auch das war eine Überraschung. In Underhill hätte es zwischen ihnen normal sein können; aber es war schon lange her, daß Nadia ihr ins Bad gefolgt war und hartnäckig geredet hatte, während Ann sich das Gesicht wusch und sich zum Pinkeln hinsetzte. »Sie haben ihre Basis noch in Lastflow, haben jetzt aber die Randpiste und die Verbindung nach Cairo abgeschnitten und kämpfen in West-Sheffield und bei der Muffe. Rote kämpfen gegen Grüne.«

»Ja,ja.«

»Also wirst du mit den Roten sprechen. Wirst du sie aufhalten?«

Ann wurde von einer jähen Wut erfaßt. »Du hast sie dazu getrieben!« schrie sie Nadia ins Gesicht, so daß diese in die Tür zurückprallte. Ann stand auf, ging einen Schritt auf Nadia zu, zog sich die Hose hoch und brüllte weiter: »Du und dein selbstgefälliges Terraformen, das ist alles so grün, grün, grün, ohne eine Spur von Kompromiß! Es ist ebenso deine Schuld wie die ihre! Sie haben schließlich keine Hoffnung!«

»Vielleicht«, sagte Nadia störrisch. Offenbar kümmerte es sie nicht. Das war Vergangenheit und spielte keine Rolle mehr. Sie wischte es weg und wollte sich nicht in ihrer Meinung beirren lassen. »Aber wirst du es versuchen?«

Ann starrte ihre hartnäckige alte Freundin an, in diesem Augenblick fast jugendlich vor Furcht, konzentriert und lebendig.


Es war wirklich zu spät. Das Rovercamp, in dem Ann gewesen war, war verlassen; und als sie mit dem Handy an ihrem Handgelenk einen Rundruf machte, erhielt sie keine Antwort. Also ließ sie Nadia und die anderen im Komplex von Ost-Pavonis schmoren und fuhr mit ihrem Rover hinüber nach Lastflow, in der Hoffnung, einige der Roten dort zu finden. Aber Lastflow war von den Roten aufgegeben worden, und keiner der Ansässigen wußte, wohin sie gegangen waren. Die Leute saßen in den Stationen und Cafes vor den Fernsehern; aber als Ann auch hinschaute, sah sie keine Meldungen über den Kampf, nicht einmal über den auf Mangalavid. Ein Gefühl von Verzweiflung begann sich in ihre bittere Stimmung einzuschleichen. Sie wollte etwas tun, wußte aber nicht, wie. Sie probierte es wieder mit dem Handy, und zu ihrer Überraschung antwortete Kasei auf ihrer Privatfrequenz. Sein Gesicht sah in dem kleinen Bildausschnitt dem von John Boone erschreckend ähnlich, so daß Ann in ihrer Verwirrung zuerst gar nicht hörte, was er sagte. Er sah so glücklich aus; das war John, wie er leibte und lebte!

»...mußte es tun«, sagte er. Ann überlegte, ob sie ihn danach gefragt hatte. »Wenn wir nichts unternehmen, werden sie diese Welt zerreißen. Sie werden es bis zu den Großen Vier treiben.«

Dies spiegelte Anns Gedanken auf der Felsleiste genau genug wider, um sie erneut zu schockieren. Aber sie nahm sich zusammen und sagte: »Wir müssen innerhalb des Rahmens der Diskussionen arbeiten, Kasei, sonst lösen wir einen Bürgerkrieg aus.«

»Ann, wir sind in der Minderheit. Der Rahmen kümmert sich nicht um Minoritäten.«

»Ich bin nicht so sicher. Aber daran werden wir arbeiten müssen. Und selbst wenn wir uns für den aktiven Widerstand entscheiden, muß es nicht hier und jetzt sein. Es darf nicht sein, daß die Marsianer sich gegenseitig töten.«

»Sie sind keine Marsianer.« In seinen Augen glomm ein Feuer; seine Miene erinnerte an Hiroko in ihrer Distanz von der gewöhnlichen Welt. In diesem Sinne war er keineswegs wie John. Das Schlimmste von beiden Elternteilen war hier vereinigt. Und so hatten sie einen neuen Propheten, der eine neue Sprache sprach.

»Wo bist du jetzt?«

»West-Sheffield!«

»Was wirst du jetzt tun?«

»Die Muffe erobern und dann das Kabel herunterholen. Wir haben die Waffen und die Erfahrung. Ich erwarte keine großen Schwierigkeiten.«

»Beim ersten Versuch habt ihr es nicht geschafft.«

»Zu phantastisch. Diesmal werden wir es einfach abhacken.«

»Ich dachte, so würde es nicht gehen.«

»Es wird funktionieren.«

»Kasei, ich denke, wir sollten mit den Grünen verhandeln.«

Er schüttelte den Kopf, ungeduldig ihr gegenüber und enttäuscht, daß sie die Nerven verloren hatte, als es losging. »Wenn das Kabel unten ist, werden wir verhandeln. Schau, Anna, ich muß jetzt gehen. Bleib außerhalb der Fall-Linie!«

»Kasei!«

Aber er war fort. Niemand hörte ihr zu, weder ihre Feinde, noch ihre Freunde, noch ihre Familie; obwohl sie Peter anrufen müßte. Sie würde es noch einmal mit Kasei versuchen. Sie müßte selbst dort sein, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, genau wie sie die Aufmerksamkeit Nadias hatte. Ja, soweit war es gekommen. Um die Aufmerksamkeit dieser Leute zu gewinnen, mußte sie ihnen direkt ins Gesicht schreien.


Die Möglichkeit, bei Ost-Pavonis aufgehalten zu werden, veranlaßte sie, sich in das westliche Umland von Lastflow zu begeben, indem sie sich wie am Vortag entgegen dem Uhrzeigersinn um den Krater bewegte und die Rote Streitmacht von hinten erreichte — auf jeden Fall die bestmögliche Annäherung. Es war eine Fahrstrecke von ungefähr 150 Kilometern von Lastflow bis zum Westrand von Sheffield. Während sie um den Gipfel raste, knapp oberhalb der Piste, verbrachte sie die Zeit damit, die verschiedenen Gruppen, die auf dem Berg stationiert waren, zu erreichen; aber ohne Erfolg. Explodierende statische Störungen markierten den Kampf um Sheffield, und durch diese brutalen Stöße von weißem Rauschen brachen Erinnerungen an ’61 hervor und erschreckten sie. Sie fuhr den Rover mit Höchstgeschwindigkeit und hielt ihn auf der schmalen Außenseite der Piste, um glatter und rascher voranzukommen, mit etwa hundert Kilometern in der Stunde und dann noch schneller, in dem Versuch, einen Bürgerkrieg abzuwenden, der eine traumhaft entsetzliche Bedrohung darstellte. Ganz besonders deshalb, weil es beinahe zu spät war. In Momenten wie diesem war sie immer zu spät dran. Im Himmel über der Caldera erschienen plötzlich sternförmige Explosionswolken — ohne Zweifel durch Raketen verursacht, die auf das Kabel abgeschossen worden waren und mitten im Flug getroffen wurden. Weiße Wölkchen wie von einem fehlgezündeten Feuerwerk ballten sich über Sheffield und verpufften über dem ganzen weiten Gipfel; trieben dann mit dem Jetstrom nach Osten davon. Einige dieser Raketen wurden noch weit von ihrem Ziel ab, das einmal das Kabel sein sollte, erledigt.

Während sie die Schlacht über sich beobachtete, fuhr sie fast in die schon durchlöcherte erste Kuppel von West-Sheffield hinein. Als die Stadt sich nach Westen ausdehnte, waren neue Kuppeln an die früheren angefügt worden wie Lavaklumpen, die aneinander hafteten. Jetzt waren die Bau-Moränen außerhalb der jüngsten Kuppel mit Gerüststücken, die wie Glasscherben wirkten, bestreut, und das Kuppelmaterial fehlte in den verbliebenen städienartigen Gebilden. Anns Rover hüpfte wild über einen Haufen Basaltgeröll. Sie bremste scharf und hielt dicht an der Mauer. Die Türen des Fahrzeugs waren noch immer verschlossen. Sie legte ihren Schutzanzug und Helm an, kletterte die Stadtmauer empor und darüber, hinein nach Sheffield.

Die Straßen waren verlassen. Glasscherben, Ziegel, Bambusstücke und Magnesiumträger lagen verstreut auf dem Rasen. In dieser Höhe platzten beschädigte Häuser wie Ballons, wenn die Kuppel zerstört war. Fenster gähnten leer und finster; und hier und da lagen ganze Rechtecke nicht zerbrochener Fenster herum wie große durchsichtige Schilde. Und auch eine Leiche, das Gesicht mit Reif oder Staub bedeckt. Es würde eine Menge Tote geben. Die Menschen pflegten sich keine Gedanken mehr über die Dekompression zu machen, die eine ausgeprägte Furcht bei den alten Siedlern gewesen war. Das war heute anders.

Ann ging weiter nach Osten. »Ich suche Kasei oder Dao oder Marion oder Peter«, rief sie immer wieder in ihr Handy. Niemand antwortete.

Sie folgte einer schmalen Straße knapp innerhalb der Südwand der Kuppel. Grelles Sonnenlicht und scharfe schwarze Schatten. Einige Gebäude hatten standgehalten. In ihnen brannte noch Licht. Aber natürlich war drinnen niemand zu sehen. Voraus war das Kabel schwach sichtbar als ein schwarzer vertikaler Strich, der von Ost-Sheffield in den Himmel gezeichnet war wie eine geometrische Linie auf dem Bildschirm, die nun Realität erlangt hatte.

Das rote Notsignal wurde in rasch wechselnder Wellenlänge gesendet, synchron für jeden, der Kenntnis der jeweiligen Verschlüsselung hatte. Dieses System durchschnitt sehr gut manche Art der Funkstörung. Dennoch war Ann überrascht, als von ihrem Handgelenk eine Stimme krächzte: »Ann, hier ist Dao. Hier oben.«

Er war tatsächlich zu sehen und winkte ihr aus dem Eingang der kleinen Notschleuse eines Gebäudes zu. Er und eine Schar von etwa zwanzig Personen arbeiteten an drei mobilen Raketenwerfern draußen in der Straße. Ann rannte zu ihnen hin und duckte sich neben Dao in den Eingang. Sie schrie: »Das hier muß gestoppt werden!«

Dao machte ein überraschtes Gesicht. »Wir sind fast bis zur Muffe gelangt.«

»Aber was dann?«

»Sprich darüber mit Kasei! Er ist vor uns oben, unterwegs nach Arsiaview.«

Eine ihrer Raketen fauchte los. Das Geräusch war in der dünnen Luft schwach. Dao war wieder dabei. Ann rannte die Straße weiter hinauf und hielt sich, so dicht sie konnte, an den Flanken der Häuser. Das war ganz offensichtlich gefährlich; aber in diesem Moment kümmerte sie sich nicht darum, ob sie getötet werden würde oder nicht. Sie hatte keine Angst. Peter war irgendwo in Sheffield und hatte das Kommando über die grünen Revolutionäre, die von Anfang an hier gewesen waren. Diese Leute waren schlau genug gewesen, um die Kräfte der UNTA am Kabel und oben auf Clarke gefangen zu halten. Darum waren sie keineswegs die glücklosen pazifistischen jungen eingeborenen Straßendemonstranten, für welche Kasei und Dao sie anscheinend gehalten hatten. Anns geistige Schüler, die eine Attacke auf ihr einziges Kind ritten, und das im vollen Vertrauen, ihren Segen zu haben. Wie sie ihn früher gehabt hatten. Aber jetzt...? Sie bemühte sich weiterzulaufen. Ihr Atem ging schwer und stoßweise, Schweiß rieselte ihr über die Haut. Sie eilte zur Südwand der Kuppel, wo sie auf eine kleine Flotte von Felsenwagen stieß, Turtle Rocks aus der Wagenfabrik von Acheron. Aber niemand darin antwortete auf ihre Anrufe; und bei näherem Hinschauen sah sie, daß sämtliche Frontscheiben unter den steinernen Wagendächern durchlöchert waren. Alle Insassen waren tot. Ann rannte in zunehmender Panik weiter nach Osten und hielt sich nahe der Kuppelmauer, ohne auf den Schutt unter ihren Füßen zu achten. Sie war sich bewußt, daß ein einziger Schuß sie töten konnte; aber sie mußte Kasei finden. Sie versuchte es wieder mit dem Handy.

Während sie damit beschäftigt war, ging ein Anruf ein. Es war Sax. »Es ist nicht logisch, das Schicksal des Aufzugs mit Zielen des Terraformens zu verknüpfen«, sagte er, als ob er zu mehr Leuten spräche als nur zu ihr. »Das Kabel könnte an einem ganz kalten Planeten befestigt werden.«

Das war der Sax, der er früher gewesen war. Aber dann mußte er bemerkt haben, daß sie eingeschaltet war; denn er blickte eulenhaft in die kleine Kamera an seinem Handgelenk und sagte: »Hör zu, Ann! Wir können die Geschichte am Arm packen und ihn brechen, und es schaffen. Es neu machen.«

Ihr alter Sax hätte das nie gesagt. Er hätte auch nicht zu ihr geschwatzt, offenbar zerstreut, bittend, sichtlich nervös. Wirklich einer der erschreckendsten Anblicke, die sie je erlebt hatte. Tatsächlich: »Sie lieben dich, Ann. Das kann uns retten. Emotionale Geschichten sind die wahren Geschichten. Wasserscheiden von Verlangen und Devolution, Devotion. Du bist für die Eingeborenen die Personifizierung gewisser Werte. Dem kannst du nicht entrinnen. Du mußt damit handeln. Ich habe das in Da Vinci getan, und es hat sich als hilfreich erwiesen. Jetzt bist du an der Reihe. Du mußt! Ann, du mußt dich diesmal mit uns allen zusammentun. Zusammen oder getrennt bleiben. Benutze deinen Wert als Ikone!«

Seltsam, so etwas von Saxifrage Russell zu hören. Aber dann veränderte er sich wieder und schien sich zusammenzunehmen. »Logisch ist es, eine Art von Gleichung für gegensätzliche Interessen aufzustellen.« Wieder ganz wie sein altes Selbst.

Danach piepte es an ihrem Handgelenk, und sie schaltete Sax aus und beantwortete den eingehenden Anruf. Es war Peter, auf der Frequenz der Roten, mit einer finsteren Miene, wie sie sie noch nie bei ihm gesehen hatte.

»Ann!« Er blickte fest auf sein Handy. »Mutter, hör zu! Ich will, daß du diesen Leuten Einhalt gebietest!«

Sie platzte heraus: »Red mich nicht als Mutter an! Ich versuche es gerade. Kannst du mir sagen, wo sie sind?«

»Darauf kannst du Gift nehmen, daß ich das kann! Sie sind gerade in die Kuppel von Arsaview eingebrochen. So wie sie vorrücken, sieht es aus, als ob sie versuchten, von Süden her an die Sockelmuffe heranzukommen.« Er erhielt diese Nachricht von irgendwem außer Sicht der Kamera. »Stimmt.« Er sah sie wieder an. »Ann, kann ich dich mit Hastings oben auf Clarke in Verbindung bringen? Wenn du ihm sagst, daß du versuchst, den Angriff der Roten aufzuhalten, könnte er glauben, daß es nur einige wenige Extremisten sind und sich heraushalten. Er wird tun, was er tun muß, um das Kabel oben zu halten; und ich fürchte, daß er uns alle zu töten bereit ist.«

»Ich werde mit ihm reden.«

Und da war es, ein Gesicht aus tiefer Vergangenheit, sie hätte gesagt, einer für Ann verlorenen Zeit, und doch war es sofort vertraut. Ein Mann mit schmalem Gesicht, gequält und mit den Nerven nahezu am Ende. Hätte jemand in den vergangenen hundert Jahren solch enormen Druck aushalten können? Nein. Es war genau wie in jener Zeit, die jetzt wiedergekehrt war.

»Ich bin Ann Clayborn«, sagte sie; und als sich sein Gesicht noch mehr verzog, fügte sie hinzu: »Ich möchte klarstellen, daß die hier unten sich abspielenden Kämpfe nicht die Politik der Roten Partei darstellen.«

Ihr Magen verkrampfte sich, als sie dies sagte, und sie spürte Magensäure in der Kehle. Aber sie fuhr fort: »Es ist das Werk einer Splittergruppe, die Kakaze heißt. Sie sind es gewesen, die auch den Deich von Burroughs gebrochen haben. Wir versuchen, sie aus dem Weg zu schaffen, und erwarten bis zum Ende des Tages Erfolg zu haben.«

Das war die schrecklichste Reihe von Lügen, die sie je geäußert hatte. Sie fühlte sich, als ob Frank Chalmers heruntergekommen wäre und ihren Mund übernommen hätte. Sie ertrug das Gefühl solcher Worte auf ihrer Zunge nicht. Sie trennte die Verbindung, ehe ihr Gesicht verriet, welche Unwahrheiten sie ausspie. Hastings verschwand, ohne ein Wort gesagt zu haben. Sein Gesicht wurde durch das von Peter ersetzt, der nicht wußte, daß sie wieder in der Leitung war. Sie konnte ihn hören, aber sein Handy am Handgelenk wurde von einer Tür verdeckt, »...wenn sie nicht von sich aus aufhören, werden wir sie stoppen müssen, sonst tut es die UNTA und alles geht zum Teufel. Mach alles bereit für einen Gegenangriff! Ich werde den Befehl geben.«

»Peter!« sagte sie, ohne zu überlegen.

Das Bild auf dem kleinen Schirm schwenkte, und sein Gesicht erschien.

Sie sagte mit erstickter Stimme, kaum imstande, ihn anzusehen, diesen Verräter: »Du verhandelst mit Hastings. Ich werde mit Kasei reden.«


Arsiaview war die südlichste Kuppel, jetzt voller Rauch, der oben in langen formlosen Schlangenwindungen aufstieg, welche das Ventilationssystem der Kuppel erkennen ließen. Überall ertönten Alarmsignale, laut in der noch dicken Luft; und durchsichtiger Plastik war über das grüne Gras der Straße verstreut. Ann stolperte an einer zusammengekrümmten Leiche vorbei, welche genau wie die in Asche modellierten Körper in Pompeji aussah. Arsaview war schmal, aber lang, und es war nicht deutlich, wohin sie gehen sollte. Das Fauchen von Raketenstarts führte sie ostwärts zur Muffe, dem Magneten des Wahnsinns, wie ein Monopol, der die Unvernunft der Erde auf sie entlud.

Darin könnte ein Plan zum Ausdruck kommen. Die Verteidigungseinrichtungen des Kabels schienen imstande zu sein, mit den leichten Raketengeschossen der Roten fertig zu werden; wenn die Angreifer aber Sheffield und die Muffe völlig zerstörten, gäbe es nichts, womit die UNTA herunterkommen könnte, so daß es keine Rolle mehr spielte, ob das Kabel oben noch schwingen würde. Das war ein Plan, der den bei Verhandlungen mit Burroughs angewandten widerspiegelte.

Aber es war ein schlechter Plan. Burroughs lag im Tiefland, wo es eine Atmosphäre gab und die Menschen im Freien gelebt hatten, zumindest eine Zeit lang. Sheffield lag hoch; und damit waren sie wieder in der Vergangenheit, in ’61, als eine zerstörte Kuppel das Ende für jeden bedeutete, der darin den Elementen ausgesetzt war. Außerdem lag das meiste von Sheffield unter dem Boden, in vielen Stockwerken übereinander an die Wand der Caldera gedrängt. Ohne Zweifel hatte sich der größte Teil der Bevölkerung dorthin zurückgezogen. Wenn der Kampf ihr folgen würde, wäre das ein Alptraum. Aber oben auf der Oberfläche war es möglich zu kämpfen, und die Leute waren dem Feuer oben vom Kabel her ausgesetzt. Nein, das würde nicht funktionieren. Es war nicht einmal möglich, genau zu beurteilen, was überhaupt geschah. In der Nähe des Sockels gab es neue Explosionen, im Interkom herrschte Statik, nur hin und wieder waren einzelne Worte zu verstehen, wenn der Empfänger Fetzen anderer codierter Frequenzen erwischte, die hindurchliefen. »... Arsiaview erobert krrrrr...« — »Wir brauchen das AI wieder, aber ich würde sagen... X-Achse drei für zwei, Y-Achse acht krrrrr...«

Dann mußte eine weitere Serie von Abfangraketen am Kabel gestartet worden sein; denn oben sichtete Ann eine aufsteigende Reihe hell strahlender Explosionen von Licht ohne jedes Geräusch. Aber danach regneten auf die Kuppeln um sie herum große schwarze Trümmer nieder, brachen durch die Abdeckung oder prallten auf Teile des Gerüstes und fielen dann das letzte Stück hinunter auf die Gebäude wie herabstürzende Stücke verunglückter Fahrzeuge, laut krachend trotz der dünnen Luft und der dazwischen befindlichen Kuppeln. Der Boden bebte und hüpfte unter ihren Füßen. Das hielt für Minuten an, wobei die Trümmer immer weiter draußen herunterkamen und in jeder Sekunde in all diesen Minuten ihr den Tod hätten bringen können. Sie stand da, schaute zu dem finsteren Himmel auf und wartete, bis es vorbei war.

Es fielen immer noch Trümmer herunter. Ann hatte die Luft angehalten, nun atmete sie wieder. Peter hatte den Roten Code. Darum rief sie seine Nummer, empfing aber nur Störungen. Aber sie stellte die Lautstärke niedriger ein und bekam dann einige verzerrte halbe Sätze. Peter schilderte rote Unternehmungen gegen grüne Kräfte oder vielleicht sogar gegen die UNTA. Wer konnte dann von den Verteidigungssystemen des Kabels Raketen auf sie abschießen? Ja, das war Peters Stimme in Bruchstücken mit Statik dazwischen. Danach kamen nur noch Störgeräusche.

An der Basis des Aufzugs wechselten kurze Stöße explosiven Lichts den unteren Teil des Kabels von Schwarz zu Silbern und dann wieder zu Schwarz. In Arsaview ertönte Alarm jeder Art in Form von Klingeln oder Sirenengeheul. Der ganze Rauch wurde zum östlichen Ende der Kuppel getrieben. Ann betrat eine Gasse von Norden nach Süden und lehnte sich gegen die flache Ostwand eines Gebäudes aus Beton. In der Straße gab es keine Fenster. Dröhnen, Krach, Wind. Dann die Stille der Luftlosigkeit.

Sie stand auf und wanderte durch die Kuppel. Wohin sollte man gehen, wenn die Menschen getötet worden waren? Man finde, so man kann, seine Freunde. Wenn du sagen kannst, wer sie sind.

Sie raffte sich auf und suchte weiter nach Kaseis Gruppe. Sie ging dorthin, wo Dao sich nach eigenen Worten befinden mußte. Dann versuchte sie zu überlegen, wohin sie zunächst gehen sollte. Außerhalb der Stadt gab es eine Möglichkeit. Aber nachdem sie ins Innere gegangen war, könnte sie es mit der nächsten Kuppel in östlicher Richtung versuchen und eine nach der anderen in Angriff nehmen, sie dekomprimieren, jedermann nach unten zwingen und dann weiterziehen. Sie blieb auf der parallel zur Kuppelmauer verlaufenden Straße und bewegte sich im Laufschritt, so schnell sie konnte. Sie war gut in Form, aber das war lächerlich. Sie bekam nicht genügend Luft und tränkte die Innenseite ihres Schutzanzugs mit Schweiß. Die Straße war verlassen und unheimlich ruhig, so daß es kaum zu glauben war, daß sie jemals die Gruppe finden würde, nach der sie suchte.

Aber da waren sie. Oben voraus in den Straßen rings um einen der dreieckigen Parks waren Gestalten mit Schutzanzügen und Helmen mit automatischen Waffen und mobilen Raketenwerfern, die auf nicht erkennbare Gegner in einem Gebäude mit einer Front aus Kieselschiefer schössen. Nach den roten Ringen auf ihren Waffen waren es Rote.

Ein blendender Blitz, und sie wurde umgeworfen. Ihre Ohren dröhnten. Sie befand sich am Fuß eines Gebäudes, gegen seine Seite aus poliertem Stein gepreßt. Roter Jaspis und Eisenoxid in abwechselnden Reihen. Hübsch. Rücken, Hinterteil und Schulter sowie Ellbogen schmerzten. Aber es war nicht unerträglich, und sie konnte sich bewegen. Sie kroch herum und schaute auf den Dreieckspark zurück. Rund um die Einschlagstelle brannte es. Die zuckenden kleinen Flammen erloschen bereits durch Sauerstoffmangel. Die Gestalten waren weggeschleudert worden, lagen herum wie zerbrochene Puppen mit in die Seite gestemmten Gliedern in Positionen, die kein Knochen aushalten konnte. Ann stand auf und lief zu einer davon, angelockt durch einen vertrauten grauhaarigen Kopf, der seines Helms entblößt war. Das war Kasei, einziger Sohn von John Boone und Hiroko Ai. Eine Seite seines Kinnbackens war blutig, die Augen offen und blicklos. Er hatte sie zu ernst genommen. Und seine Gegner nicht ernst genug. Sein rötlicher Eckzahn war durch eine Wunde freigelegt. Ann sah es, stockte und wandte sich ab. Der Verlust. Alle drei waren jetzt tot.

Sie hockte sich hin und nestelte Kaseis Armbandgerät los. Wahrscheinlich würde sie jetzt eine direkte Frequenz zum Zugriff auf Kakaze haben. Als sie wieder im Schutz eines Obsidiangebäudes war, das von großen weißen Trefferspuren verunziert war, tastete sie den allgemeinen Rufcode ein und sagte: »Hier spricht Ann Clayborn. Sie ruft alle Roten. Alle Roten. Hört, hier spricht Ann Clayborne. Der Angriff auf Sheffield ist mißlungen. Kasei ist tot und viele andere. Weitere Angriffe hier werden nicht gelingen. Sie würden bewirken, daß die ganze Sicherheitsmacht der UNTA wieder auf den Planeten zurückkehrt.« Sie wollte sagen, wie dumm der Plan von Anfang an gewesen war, hielt sich aber zurück. »Diejenigen von euch, die dazu in der Lage sind, verlaßt den Berg! Jeder in Sheffield soll nach Westen gehen, die Stadt verlassen und vom Berg verschwinden. Hier spricht Ann Clayborne.«

Es gingen etliche Bestätigungen ein, die sie sich anhörte, während sie nach Westen ging, zurück durch Arsaview zu ihrem Rover. Sie machte keinen Versuch, sich zu verstecken. Wenn sie getötet wurde, wäre sie eben tot. Aber sie glaubte nicht, daß es jetzt geschehen würde. Sie ging unter den Flügeln eines finsteren Schutzengels, der sie vor dem Tod bewahrte, was immer auch geschehen würde. Er zwang sie, Zeugin des Todes aller derer zu sein, die sie kannte, und des ganzen Planeten, den sie liebte. Ja, das waren Dao und seine Leute, alle sofort tot und in Lachen ihres eigenen Blutes liegend. Sie war dem knapp entronnen.

Und dort unten, auf einem breiten Boulevard mit einer Reihe von Linden in der Mitte, war ein weiterer Leichenhaufen. Keine Roten, sie trugen grüne Kopfbinden, und einer von ihnen sah von hinten aus wie Peter. Sie ging mit weichen Knien hinüber, wie vom Zwang eines Alptraums getrieben. Sie ging um den Leichnam herum. Aber es war nicht Peter. Irgendein hochgewachsener junger Eingeborener mit Schultern wie Peter. Armer Kerl! Ein Mann, der tausend Jahre hätte leben können.

Sie ging unbehelligt weiter. Sie erreichte ohne Zwischenfall ihren kleinen Rover am Westende von Sheffield, stieg ein und fuhr zum Hauptbahnhof im Westen der Stadt.

Dort führte eine Piste den Südhang von Pavonis hinunter in den Sattel zwischen Pavonis und Arsia. Als sie das sah, faßte sie einen sehr einfachen und elementaren Plan, der gerade deshalb durchführbar war. Sie schaltete die Frequenz der Kakaze ein und gab Empfehlungen so, als es wären es Befehle. Weglaufen und Verschwinden! Geht hinab zum Südsattel, dann um Arsia herum auf dem westlichen Hang oberhalb der Schneegrenze, danach schlüpft in das obere Ende von Aganippe Fossa, einem langen geraden Canyon, in dem es ein verborgenes Refugium der Roten gab, eine Klippe in der nördlichen Wand. Dort konnten sie sich verstecken und eine neue lange Untergrundkampagne starten gegen die neuen Herren des Planeten. UNOMA, UNTA, Metanat, Dorsa Brevia. Sie waren alle Grün.

Sie versuchte Cojote anzurufen und war etwas überrascht, als er antwortete. Auch er befand sich irgendwo in Sheffield, das konnte sie erkennen. Ohne Zweifel glücklich, am Leben zu sein, mit einer bitteren, wilden Miene in seinem rissigen Gesicht.

Ann erzählte ihm ihren Plan. Er nickte.

»Im Laufe der Zeit werden sie sich weiter entfernen müssen«, erwiderte er.

Ann konnte nicht umhin zu sagen: »Es war dumm, das Kabel anzugreifen.«

»Ich weiß«, sagte Cojote resigniert.

»Hast du nicht versucht, es ihnen auszureden?«

»Das habe ich.« Seine Miene wurde noch finsterer. »Kasei ist tot?«

»Ja.«

Sein Gesicht verzerrte sich vor Kummer. »O Gott! Diese Schufte!«

Ann schwieg. Sie hatte Kasei nicht gut gekannt und auch nicht besonders gemocht. Cojote hingegen hatte ihn von Geburt an gekannt, damals in Hirokos verborgener Kolonie, und hatte ihn seit jungen Tagen bei seinen heimlichen Unternehmen auf dem ganzen Mars mitgenommen. Jetzt rannen Tränen die tiefen Runzeln auf Cojotes Wangen herab; Ann biß die Zähne zusammen.

»Kannst du sie nach Aganippe hinunterbringen?« fragte sie. »Ich werde bleiben und mit den Leuten in Ost-Pavonis sprechen.«

Cojote nickte. »Ich werde sie hinunterbringen, so schnell ich kann. Treffpunkt Westbahnhof.«

»Ich werde es ihnen sagen.«

»Die Grünen werden wütend auf dich sein.«

»Scheiß auf die Grünen!«

Ein Teil der Kakaze schlich sich im Licht eines verrauchten trüben Sonnenuntergangs in die westliche Endstation von Sheffield. Kleine Gruppen in schmutzigen Anzügen, die Gesichter weiß, erschrocken und ärgerlich, desorientiert im Schock. Abgenutzt. Am Ende waren es drei- oder vierhundert, die die schlechten Nachrichten des Tages austauschten. Als Cojote sich zurückzog, stand Ann auf und erhob ihre Stimme laut genug, daß alle sie hören konnten. Es war ihr bewußt, daß sie in ihrem Leben noch nie in der Führungsposition der Roten gewesen war, oder was das jetzt bedeutete. Diese Leute hatten sie ernstgenommen; und hier waren sie jetzt, geschlagen und froh, noch am Leben zu sein, mit toten Freunden allenthalben in der Stadt östlich von ihnen.

Sie sagte hilflos: »Der direkte Angriff war eine schlechte Strategie. Sie war in Burroughs erfolgreich. Aber das war eine andere Situation. Hier hat sie versagt. Menschen, die tausend Jahre hätten leben können, sind tot. Das Kabel war das nicht wert. Wir gehen ins Versteck und warten auf unsere nächste Chance, eine reale Chance.«

Es gab groben Widerspruch und ärgerliche Rufe: »Nein! Niemals! Holt das Kabel herunter!«

Ann wartete ab. Dann hob sie die Hand, und langsam trat wieder Ruhe ein.

»Es könnte sehr leicht einen Rohrkrepierer geben, wenn wir jetzt gegen die Grünen kämpfen. Das würde den Metanats einen Vorwand geben, wieder einzurücken. Das wäre weitaus schlimmer, als mit einer eingeborenen Regierung auszukommen. Mit den Marsianern können wir zumindest sprechen. Der von der Umwelt handelnde Teil der Übereinkunft von Dorsa Brevia gibt uns einen gewissen Hebelarm. Wir brauchen bloß so gut weiterzuarbeiten, wie wir können. Irgendwo anders beginnen. Versteht ihr?«

Am Morgen wäre das nicht gelungen. Jetzt wollten sie noch nicht. Ann wartete die protestierenden Stimmen ab und starrte ihre Gegner an, bis sie verstummten. Der scharfe eindringende Blick von Ann Clayborne... Eine Menge von ihnen war ihretwegen mit in den Kampf gezogen, in jenen Tagen, da der Feind der Feind war und der Untergrund eine wirklich funktionierende Allianz, locker und geteilt, aber mit allen Elementen mehr oder weniger auf derselben Seite...

Sie senkten die Köpfe und erkannten widerstrebend an, daß, wenn Clayborne gegen sie war, ihre moralische Führerschaft dahin wäre. Und ohne diese, ohne Kasei, ohne Dao, während die Eingeborenen zumeist Grüne waren und fest hinter Nirgal und Jackie als Führern standen, während Peter der Verräter war...

»Cojote wird euch von Tharsis wegbringen«, gab sie bekannt. Sie fühlte sich unwohl und verließ den Raum, ging durchs Terminal und durch die Schleuse wieder in ihren Rover. Das Handy von Kasei lag auf dem Armaturenbrett; sie warf es aufstöhnend durch die Kabine. Sie setzte sich auf den Fahrersitz und nahm sich zusammen. Dann startete sie den Wagen und machte sich auf, um nach Nadia, Sax und dem ganzen Rest Ausschau zu halten.


Endlich befand sie sich wieder in Ost-Pavonis: und in dem Lagerhauskomplex waren sie alle noch da. Als sie zur Tür hereinkam, starrten sie sie an, als wäre der Angriff auf das Kabel ihre Idee gewesen und als ob sie persönlich verantwortlich wäre für alles Üble, das geschehen war, sowohl an diesem Tage wie während der ganzen Revolution. Genau so, wie man sie nach Burroughs angestarrt hatte. Peter, der Verräter, war wirklich da; und sie wandte sich von ihm ab und ignorierte die übrigen, oder versuchte es wenigstens. Jackie mit verweinten Augen und wütend. Ihr Vater war schließlich an diesem Tag getötet worden; und obwohl sie sich selbst in Peters Camp befunden hatte und damit zum Teil schuld an der verheerenden Reaktion auf die Offensive der Roten, konnte man mit einem Blick auf sie erkennen, daß jemand würde bezahlen müssen. Aber Ann ignorierte das alles und ging durch den Raum zu Sax, der in seinem Winkel in der gegenüberliegenden Ecke des großen Raums vor einem Bildschirm saß, lange Kolumnen von Zahlen las und mit seinem Computer flüsterte. Ann wedelte mit der Hand zwischen seinem Gesicht und dem Schirm. Er schaute überrascht auf.

Eigenartigerweise war er der einzige in der Menge, der ihr keine Vorwürfe zu machen schien. Statt dessen sah er sie mit zur Seite geneigtem Kopf mit einer vogelartigen Neugier an, die fast an Sympathie grenzte.

»Schlechte Nachrichten über Kasei und den ganzen Rest«, sagte er. »Ich bin froh, daß du und Desmond überlebt habt.«

Sie überging das und sagte ihm rasch und in gedämpftem Ton, wohin die Roten gingen und was sie ihnen zu tun aufgetragen hatte. »Ich denke, ich kann sie davon abhalten, noch weitere direkte Angriffe auf das Kabel zu versuchen. Und auch von den meisten weiteren Gewaltakten abzusehen, jedenfalls vorerst.«

»Gut!« sagte Sax.

Sie fuhr fort: »Aber ich verlange etwas dafür. Ich will es, und wenn ich es nicht bekomme, werde ich sie für immer auf dich hetzen.«

»Die Soletta?« fragte Sax.

Sie starrte ihn an. Er mußte ihr öfter zugehört haben, als sie gedacht hatte. »Ja.«

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, während er darüber nachdachte. »Das könnte eine Art Eiszeit bewirken«, gab er zu bedenken.

»Gut!«

Er sah sie an und überlegte. Sie konnte ihm das ansehen — in raschen Gedankenblitzen: Eiszeit — dünnere Atmosphäre — langsameres Terraformen — neue Öko-Systeme vernichtet — vielleicht ausgleichen — Treibhausgase. Und so weiter und so fort. Es war fast komisch, wie sie im Gesicht dieses Fremden lesen konnte, wie dieser verhaßte Bruder einen Ausweg suchte. Er würde immer weiter zusehen; aber Wärme war der wichtigste Antrieb des Terraformens, und wenn die riesige Anordnung von Spiegeln in der Soletta verschwunden wäre, wären sie auf das normale Niveau an Sonnenlicht für den Mars beschränkt und damit zu einem eher ›natürlichen‹ Tempo des Fortschritts gezwungen. Es war möglich, daß die damit zusammenhängende Stabilität den Konservatismus von Sax sogar ansprach.

»Okay!« sagte er.

»Kannst du für diese Leute sprechen?« fragte sie und zeigte geringschätzig auf die Menge hinter ihnen, als ob all ihre ältesten Gefährten nicht darunter wären, als ob es sich um UNTA-Technokraten oder Metanat- Funktionäre handelte...

»Nein. Ich spreche nur für mich«, erwiderte er. »Aber ich kann die Soletta loswerden.«

»Würdest du das ihren Wünschen entgegen tun?«

Er runzelte die Stirn. »Ich denke, daß ich sie dazu überreden kann. Falls nicht, so weiß ich, daß ich das Da-Vinci-Team dazu bringen kann. Die lieben Herausforderungen.«

»Okay«, sagte sie.

Das war schließlich das beste, was sie von ihm bekommen konnte. Sie reckte sich, immer noch in Verlegenheit. Sie hatte nicht erwartet, daß er zustimmen würde. Und jetzt, da er es doch getan hatte, entdeckte sie, daß er immer noch ärgerlich war, immer noch mißmutig. Die Konzession, die sie jetzt hatte, bedeutete nichts. Man würde andere Wege aushecken, um die Lage anzuheizen. Sax würde ohne Zweifel sein Argument zu diesem Punkt vorbringen. Er würde sagen: ›Gebt Ann die Soletta als ein Mittel, um die Roten zu bestechen. Und dann drängt weiter !‹

Ann verließ den großen Raum ohne einen Blick für die anderen. Raus aus dem Lagerhaus zu ihrem Rover.

Eine Weile fuhr sie blind dahin, ohne ein Gefühl für die Richtung. Nur wegkommen, nur ausreißen. So wandte sie sich zufällig nach Westen und mußte bald danach anhalten oder die Kante des Randes überqueren.

Abrupt hielt sie den Wagen an.

Benommen blickte sie durch die Frontscheibe. Im Mund einen bitteren Geschmack, die Eingeweide verkrampft, jeden Muskel angespannt und schmerzend. Der große Ring um die Caldera rauchte an einigen Stellen, hauptsächlich bei Sheffield und Lastflow, aber auch an einem Dutzend anderer Punkte. Das Kabel über Sheffield war nicht zu sehen, aber es war noch da, markiert durch konzentrierten Rauch um seine Basis, der bei dem dünnen, steifen Wind nach Osten zog. Wieder ein Banner des Gipfels, entfaltet durch den endlosen Strahlstrom. Die Zeit war ein Wind, der sie davontrieb. Die Rauchfahnen befleckten den dunklen Himmel und verdunkelten einige der vielen Sterne, die in der Stunde vor Sonnenuntergang erschienen. Es sah so aus, als ob der alte Vulkan wieder erwachen würde, als ob er sich aus seinem langen Schlaf erheben und sich auf einen Ausbruch vorbereiten würde. Durch den dünnen Rauch war die Sonne ein dunkelrot glühender Ball und sah ganz ähnlich aus, wie ein junger geschmolzener Planet wohl erschienen wäre, dessen Farbe die Rauchfetzen kastanienbraun, rost- und karmesinfarben machte. Roter Mars.

Aber der rote Mars war dahin und endgültig entschwunden. Soletta oder nicht, Eiszeit oder nicht — die Biosphäre würde wachsen und sich ausdehnen, bis sie alles bedeckte mit einem Ozean im Norden und Seen im Süden und mit Strömen, Wäldern, Prärien, Städten und Straßen. Oh, sie sah das alles: Weiße Wolken, die auf die alten Hochebenen abregneten und sie in Schlammlöcher verwandelten, während die sorglosen Massen ihre Städte erbauten, so schnell sie konnten — der lange Ausklang einer Zivilisation, die ihre Welt begrub.

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