SIEBTER TEIL Die Dinge in Gang bringen

Ein von Eis ersticktes Meer bedeckte jetzt einen großen Teil des Nordens. Vastitas Borealis hatte ein oder zwei Kilometer, an manchen Stellen sogar drei unter dem Bezugsniveau gelegen. Jetzt stabilisierte sie sich bei der Zone von minus eins. Der größte Teil lag unter Wasser. Wenn es auf der Erde einen ähnlichen Ozean gegeben hätte, wäre er ein größeres Eismeer gewesen, hätte die größten Teile von Rußland, Kanada, Alaska, Grönland und Skandinavien bedeckt und weiter südlich zwei tiefere Intrusionen gebildet, schmale Meerengen, die sich bis zum Äquator erstreckten. Auf der Erde würden sie einen engen Nordatlantik gebildet haben und einen Nordpazifik, der in seiner Mitte eine große quadratische Insel barg.

Dieser Oceanus Borealis war mit etlichen großen Eis-Inseln besetzt, sowie einer langen niedrigen Halbinsel, die das Festland nördlich von Syrtis mit dem Ausläufer einer polaren Insel verband. Der Nordpol lag praktisch auf dem Eis des Olympia-Golfes, ein paar Kilometer vor der Küste dieser Polinsel.

Und das war es nun. Auf dem Mars würde es kein Gegenstück zum Südpazifik oder Südatlantik oder dem Indischen noch dem Antarktischen Ozean geben. Im Süden gab es nur Wüste, mit Ausnahme des Hellas-Meeres, eines runden Wasserbeckens in etwa von der Größe der Karibik. Während also auf der Erde der Ozean 70 Prozent der Oberfläche bedeckte, waren es auf dem Mars nur etwa 25 Prozent.

Im Jahre 2130 war der größte Teil des Oceanus Borealis von Eis bedeckt. Es gab aber große Pfützen flüssigen Wassers unter der Oberfläche, und im Sommer sammelte sich Schmelzwasser an der Oberfläche der gefrorenen Seen. Es gab auch viele freie Stellen, Rinnen und Risse. Weil der größte Teil des Wassers heraufgepumpt oder anderswie aus dem Permafrost geholt worden war, hatte es die Reinheit tiefen Grundwassers, war also fast destilliert. Borealis war ein Süßwasserozean. Allerdings wurde erwartet, daß er bald salzig werden würde, da die Flüsse durch den sehr salzhaltigen Regolith liefen und ihre Fracht im Meer abluden, dann verdunsteten, ausgefällt wurden und den Prozeß wiederholten, bis ein Gleichgewicht hergestellt sein würde. Diesen Vorgang hatten die Ozeanographen mit Interesse verfolgt, weil das Maß des Salzgehaltes der Weltmeere auf der Erde, der seit vielen Jahrmillionen stabil war, immer noch nicht recht verstanden worden war.

Die Küstenlinien waren wild. Die Polinsel, formell namenlos, wurde abwechselnd die polare Halbinsel, die polare Insel oder wegen ihrer Gestalt auf den Karten das Seepferdchen genannt. Praktisch war ihr Küstenverlauf an vielen Stellen noch von dem Eis der alten Polkappe überzogen und hin und wieder mit Schnee geweißt, der in die Gestalten gigantischer Sastrugi geweht wurde. Diese wellige weiße Fläche dehnte sich viele Kilometer über das Meer aus, bis Strömungen unter der Oberfläche sie aufbrachen und man zu einer ›Küstenlinie‹ aus Wasserrinnen und Druckgraten und den chaotischen Kanten großer Tafel-Eisberge gelangte, wie auch zu größeren und breiteren Stellen offenen Wassers. Mehrere große vulkanische oder meteoritische Inseln erhoben sich aus dem Trümmerfeld dieser Eisküste, einschließlich einiger Sockelkrater, die wie große schwarze Tafelberge aus dem Weiß aufragten.

Die südlichen Küsten des Borealis-Ozeans waren exponierter und vielfältiger. Wo das Eis gegen den Fuß der großen Böschung stieß, gab es etliche Hügelregionen, die zu Archipelen im Meer geworden waren, welche, ebenso wie die eigentliche Küste des Festlandes, durch viele vorstehende Meeresklippen, Steilufer, Kraterbuchten, Fossafjorde und lange Strecken glatten Strandes gebildet wurde. Das Wasser in den zwei großen Golfs des Südens war unter der Oberfläche weitgehend geschmolzen und im Sommer auch an der Oberfläche. Der Chryse-Golf hatte vielleicht die dramatischste Küstenlinie von allen. Acht große Ausbruchskanäle, die in den Chryse führten, waren teilweise mit Eis gefüllt gewesen und hatten sich, als dieses schmolz, zu Fjorden mit steilen Wänden vertieft. Am Südende des Golfs verflochten sich vier dieser Fjorde miteinander und flössen um mehrere große steilwandige Inseln, um die eindrucksvollste aller Meereslandschaften zu bilden.

Über all dieses Wasser flogen täglich große Vogelschwärme. Wolken entfalteten sich in der Luft und wurden vom Wind dahingetrieben, wobei sie das Weiß und Rot unter sich mit ihren Schatten befleckten. Eisberge flössen über die geschmolzenen Meere und prallten an ferne Küsten. Stürme wüteten von der Großen Böschung mit entsetzlicher Kraft herunter und trafen den Fels mit Hagel und Blitz. Es gab auf dem Mars jetzt annähernd vierzigtausend Kilometer Küste. Und durch den schnellen Wechsel von Frost und Tau in den Nächten und Jahreszeiten und unter dem ständigen Ansturm des Windes wurde jedes Stück davon lebendig.


Als der Kongreß endete, machte Nadia Pläne, Pavonis Mons sofort zu verlassen. Sie war der eigenen Streitereien in dem Lagerhaus überdrüssig, der Diskussionen, der Politik. Ihr war übel von der Gewalt und den Drohungen; übel von Revolution, Sabotage, der Verfassung, der Aufzugdiskussion, der Erde und dem drohenden Krieg. Erde und Tod — das war Pavonis Mons, Pfauenberg, wobei alle Pfauen sich aufspielten und brüsteten und Ich Ich Ich schrien. Das war der letzte Ort auf dem Mars, wo Nadia sein mochte.

Sie wollte vom Berg runter und die freie Luft atmen. Sie wollte an handfesten Dingen arbeiten. Sie wollte mit ihren neun Fingern, ihrem Rücken und ihrem Geist alles und jedes bauen, nicht bloß die Strukturen entwerfen, obwohl diese natürlich auch schön sein konnten; aber Dinge wie Luft oder Dreck, Teile eines für sie neuen Bauvorhabens, das einfach Terraformen an sich war, interessierten sie jetzt. Seit ihrem ersten Spaziergang in der freien Luft unten beim DuMartheray-Krater, frei von allem außer einer kleinen Maske mit Kohlendioxidfilter, war ihr Saxens Besessenheit sinnvoll erschienen. Sie war bereit, sich mit ihm zusammenzutun und den übrigen in diesem Projekt — und jetzt, da die Beseitigung der orbitalen Spiegel einen langen Winter ausgelöst hatte und mit einer komplette Eiszeit drohte, mehr denn je. Luft bauen, Dreck bauen, Wasser bewegen, Pflanzen und Tiere einführen. Diese Art von Arbeit klang jetzt faszinierend für sie. Und natürlich lockten auch die konventionelleren Bauvorhaben. Wenn das neue Nordmeer schmolz und seine Küstenlinie stabilisiert war, mußten überall Hafenstädte angelegt werden, wahrscheinlich dutzendweise, jede mit Kais, Kanälen, Werften und Docks. Und die Städte dahinter würden in die Berge aufsteigen. In größeren Höhen müßten mehr Kuppelstädte und überdachte Canyons gebaut werden. Man sprach sogar davon, einige der großen Calderas abzudecken und Seilbahnen zwischen den drei Prinzvulkanen verkehren zu lassen oder die Engen südlich von Elysium zu überbrücken. Man sprach davon, den polaren Inselkontinent zu besiedeln. Es gab neue Konzepte für Biohäuser, Wohnungen und Gebäude direkt aus manipulierten Bäumen wachsen zu lassen, so wie Hiroko Bambus benutzt hatte, aber in größerem Maßstab. Ja, ein Baumeister, der bereit war mehr von den neuesten Techniken kennenzulernen, hatte tausend Jahre verlockender Projekte vor sich. Es war ein Traum, der sich verwirklicht hatte.


Dann kam eine kleine Gruppe zu ihr und sagte, sie erkundeten Möglichkeiten für den ersten Exekutivrat der neuen globalen Regierung.

Nadia starrte die Leute an. Sie erkannte deren Bedeutung als große Falle in Zeitlupe und versuchte ihr Bestes, um zu entrinnen, ehe sie zuschnappte. Sie sagte: »Es gibt viele Möglichkeiten. Ungefähr zehnmal so viele gute Leute als Ratsposten.«

»Ja«, sagten sie nachdenklich. »Aber wir haben überlegt, ob du jemals daran gedacht hast...«

»Nein«, erklärte sie.

Art grinste und merkte, daß sie ärgerlich wurde. »Ich plane zu bauen.«

»Das könntest du auch machen«, sagte Art. »Der Rat ist eine Teilzeitarbeit.«

»Zum Teufel damit!«

»Nein, es stimmt.«

Es stimmte, daß das Konzept der Bürgerregierung überall in die neue Verfassung aufgenommen worden war, von der globalen Legislatur über die Gerichtshöfe bis zu den Kuppeln. Die Leute würden vermutlich einen großen Teil dieser Arbeit in Teilzeit leisten. Aber Nadia war sich ganz sicher, daß der Exekutivrat nicht in diese Kategorie gehören würde. »Müssen die Mitglieder des Exekutivrates nicht aus der Legislatur gewählt werden?« fragte sie.

»Durch die Legislatur«, sagten sie ihr fröhlich. Gewöhnlich wurden Kollegen aus der Gesetzgebung gewählt, aber nicht notwendigerweise. Nadia sagte: »Nun, genau da steckt ein Fehler in der Verfassung. Gut, daß ihr es so bald gemerkt habt. Beschränkt euch auf gewählte Gesetzgeber und laßt die Gruppenidee fallen!«

»Fallen lassen?«

»Und dann habt ihr immer noch viele gute Leute.« Damit zog sie sich zurück.

Sie waren aber hartnäckig und sie kamen immer wieder. In immer neuen Kombinationen; und Nadia rannte gegen die sich verengende Lücke zwischen den Zähnen der Falle an. Am Ende war es so weit, daß sie bettelten. Eine ganze kleine Delegation war gekommen. Es war jetzt der entscheidende Zeitpunkt für die neue Regierung. Sie brauchten einen Exekutivrat, der allgemeines Vertrauen genoß. Der müßte mit als erstes auf den Weg gebracht werden. Der Rest würde folgen. Der Senat war gewählt, die Duma war einberufen worden. Jetzt wählten die zwei Häuser die sieben Mitglieder des Exekutivrates. Zu den als Kandidaten genannten Personen gehörten Mikhail, Zeyk, Peter, Marina, Etsu, Nanao, Ariadne, Marion, Irishka, Antar, Rashid, Jackie, Charlotte, die vier Gesandten zur Erde und einige weitere, die Nadia erst im Lagerhaus kennengelernt hatte. »EineMenge Leute«, erinnerte Nadia sie. Das war die vielköpfige Revolution.

Manche Leute waren jedoch mit der Liste nicht zufrieden, wie sie Nadia wiederholt erklärten. Sie waren es gewohnt, daß sie für ein ausgeglichenes Zentrum sorgte, sowohl während des Kongresses als auch während der Revolution und davor bei Dorsa Brevia genau wie während der ganzen Jahre des Untergrunds und ganz von Anfang an. Die Leute wollten sie als mäßigenden Einfluß im Rat haben, einen kühlen Kopf, eine neutrale Partei.

»Raus mit euch«, sagte sie, plötzlich wütend, obwohl sie selbst nicht sagen konnte, warum. Sie waren besorgt und erregt, als sie ihren Zorn sahen. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie, während sie sie hinausdrängte, nur um sie in Bewegung zu halten.

Endlich waren nur noch Charlotte und Art da. Sie machten ernste Gesichter und sahen aus, als hätten sie nichts dazu beigetragen, daß all dies geschehen war.

»Sie scheinen dich im Exekutivrat haben zu wollen«, sagte Art.

»Halt den Mund!«

»Es ist aber so. Sie wollen jemanden, dem sie vertrauen können.«

»Du meinst, sie wollen jemanden, vor dem sie keine Angst haben. Sie wollen eine alte Babuschka, die nicht versuchen wird, irgend etwas zu unternehmen, damit sie ihre Gegner vom Rat fernhalten und ihre eigenen Tagesordnungen verfolgen können.«

Art runzelte die Stirn. Das hatte er nicht bedacht. Er war zu naiv.

»Du weißt«, sagte Charlotte nachdenklich, »eine Verfassung ist eine Art Blaupause. Eine richtige funktionierende Regierung daraus zu machen, ist der eigentliche konstruktive Akt.«

»Schluß!« sagte Nadia.


Aber am Ende sagte sie doch zu. Sie waren unbarmherzig, in überraschend großer Anzahl, und es machte nicht den Anschein, daß sie vorhätten, aufzugeben. Sie wollte nicht als Drückeberger erscheinen. Und so ließ sie die Falle an ihrem Bein zuschnappen.

Die Legislaturen traten zusammen, die Abstimmung fand statt. Nadia wurde als eine der Sieben gewählt, zusammen mit Zeyk, Ariadne, Marion, Peter, Mikhail und Jackie. Am gleichen Tage wurde Irishka zur obersten Richterin des Globalen Umwelthofes gewählt, ein echter Erfolg für sie persönlich und die Roten allgemein. Das war ein Teil der ›großen Geste‹, die Art am Ende des Kongresses ausgehandelt hatte, um die Unterstützung der Roten zu erhalten. Etwa die Hälfte der neuen Richter waren Rote der einen oder anderen Schattierung, was nach Nadias Meinung eine etwas zu großartige Geste war.

Unmittelbar nach diesen Wahlen kam eine andere Delegation zu ihr, diesmal angeführt von ihren Ratskollegen. Sie hatte das höchste Stimmergebnis in beiden Häusern erzielt, wie sie ihr sagten; und darum wollten sie sie zur Ratspräsidentin wählen.

»O nein!« sagte sie. Sie nickten gewichtig. Die Präsidentin war bloß ein Mitglied des Rates, sagten sie ihr, eine unter gleichen. Es handele sich nur um eine zeremonielle Position. Dieser Arm der Regierung war nach Schweizer Vorbild gestaltet; und die Schweizer wüßten gewöhnlich nicht einmal, wer ihr Präsident war. Diese Art der Argumentation. Obwohl sie natürlich ihre Zustimmung brauchten Qackies Augen glitzerten dabei leicht), ihr Einverständnis, daß sie den Posten annehmen würde.

»Raus mit euch!« sagte sie wieder.

Nachdem sie fort waren, saß Nadia zusammengesunken in ihrem Sessel und fühlte sich bestürzt.

»Du bist die einzige auf dem Mars, der jeder vertraut«, sagte Art sanft. Er zuckte die Achseln, als ob er sagen wollte, daß er nicht beteiligt gewesen sei, was, wie sie wußte, eine Lüge war. »Was kannst du tun?« fragte er und rollte mit den Augen wie ein theatralisch übertreibendes Kind. »Gib ihnen drei Jahre, und die Dinge laufen, und du kannst sagen, daß du deinen Teil geleistet hast und dich zurückziehen. Außerdem — die erste Präsidentin des Mars! Wie kannst du da widerstehen?«

»Leicht.«

Art wartete. Nadia starrte ihn an.

Schließlich sagte er: »Aber du wirst es doch auf alle Fälle machen, nicht wahr?«

»Wirst du mir helfen?«

»O ja.« Er legte eine Hand auf ihre geballte Faust. »Alles, was du willst. Ich meine, ich stehe dir zur Verfügung.«

»Ist das eine offizielle Praxis-Position?«

»Nun ja, ich bin sicher, daß sie das sein sollte. Praxisberater für die Präsidentin des Mars? Na und ob!«

So konnte sie ihn vielleicht dazu bringen, es zu tun.

Sie stieß einen schweren Seufzer aus. Versuchte, sich im Magen weniger verkrampft zu fühlen. Sie könnte den Job annehmen und dann die meiste Arbeit auf Art abwälzen und auf jeden Stab, den sie ihr geben würden. Sie würde weder die erste noch die letzte Präsidentin sein, die das tat.

»Praxisberater für die Marspräsidentin«, erklärte Art mit zufriedener Miene.

»Oh, hör auf!« sagte sie.

»Natürlich.«

Er ließ sie allein, damit sie sich daran gewöhnen konnte. Dann kam er mit einem dampfendem Topf Kava und zwei kleinen Tassen zurück. Er goß ein. Sie bediente sich und nippte an der bitteren Flüssigkeit.

»Auf jeden Fall gehöre ich zu dir, Nadia«, sagte er. »Das weißt du.«

»Hmm-hmm... «

Sie sah ihn an, als er seinen Kava schlürfte. Sie wußte, daß er das nicht nur politisch meinte. Er war von ihr angetan. Die ganze Zeit zusammen arbeiten, zusammen reisen, beisammen sein. Und sie mochte ihn. Ein Bär von einem Mannsbild, wunderbar bodenständig und voll bester Gedanken. Ein Kavaliebhaber, wie sein Schlürfen und seine Miene bewiesen. Er hatte den ganzen Kongreß getragen, wie sie merkte, mit der Kraft dieser guten Stimmung, die sich wie eine Epidemie ausbreitete. Das Gefühl, es mache nichts mehr Spaß als der Entwurf einer Verfassung — absurd! Aber es hatte geklappt. Und während des Kongresses waren sie irgendwie zu einem Paar geworden. Ja, das mußte sie zugeben.

Aber sie war jetzt 159 Jahre alt. Eine weitere Absurdität, aber es war so. Und Art war — sie war nicht sicher — irgendwo in seinen Siebzigern oder Achtzigern, obwohl er wie fünfzig aussah, wie das oft vorkam, wenn man die Behandlung frühzeitig bekam. Sie sagte: »Ich bin alt genug, um deine Urgroßmutter zu sein.«

Art zuckte verwirrt die Achseln. Er merkte, wovon sie sprach. »Ich bin alt genug, um der Urgroßvater dieser Frau zu sein«, sagte er und zeigte auf eine große Eingeborene, die an der Tür ihres Büros vorbeiging. »Und sie ist alt genug, um Kinder zu haben. So, das weißt du. Irgendwann spielt das keine Rolle mehr.«

»Vielleicht nicht für dich.«

»Na ja. Aber das ist die Hälfte der Meinungen, auf die es ankommt.«

Nadia sagte nichts.

»Schau, wir haben noch eine lange Lebenszeit vor uns«, erklärte Art. »An irgendeiner Stelle müssen die Zahlen ihre Bedeutung verlieren. Ich meine, ich war mit dir in den ersten Jahren nicht zusammen; aber wir sind jetzt schon eine lange Zeit beieinander und haben eine Menge durchgemacht.«

»Ich weiß.« Nadia schaute auf den Tisch hinunter und erinnerte sich an manches dieser Male. Da war der Stumpf ihres lange verlorenen Fingers. All dieses Leben war bereits vergangen. Jetzt war sie Präsidentin des Mars. »Shit!«

Art schlürfte seinen Kava und beobachtete sie voller Sympathie. Er mochte sie, sie mochte ihn. Sie waren schon eine Art Paar. »Du wirst mir bei diesem verdammten Ratskram helfen!« sagte sie und fühlte sich traurig, als alle ihre Technophantasien dahinschwanden.

»Oh, das werde ich.«

»Und dann — gut. Wir werden sehen.«

»Wir werden sehen«, sagte er und lächelte.


Da war sie nun also, stecken geblieben auf Pavonis Mons. Die neue Regierung trat’ dort zusammen. Sie zog aus dem Lagerhaus in das eigentliche Sheffield und besetzte die klotzigen Gebäude mit Fassaden aus poliertem Stein, welche die Metanats aufgegeben hatten. Natürlich wurde darüber diskutiert, ob diese für diese Bauten und den Rest ihrer Infrastruktur entschädigt werden müßten, oder ob alles ›globalisiert‹ oder durch Unabhängigkeit und die neue Ordnung ›kooptiert‹ wäre. »Man sollte sie entschädigen«, knurrte Nadia mürrisch Charlotte an. Aber es schien nicht so, als ob die Präsidentschaft des Mars eine Institution wäre, der die Leute aufs Wort gehorchen würden.

Auf jeden Fall zog die Regierung ein, und Sheffield wurde, wenn nicht die Hauptstadt, so doch mindestens der zeitweitige Sitz der globalen Regierung. Da Burroughs überschwemmt und Sabishii verbrannt waren, gab es keinen anderen Ort, der dafür in Frage gekommen wäre; und Nadia hatte auch nicht den Eindruck, daß irgendeine andere Kuppelstadt scharf darauf gewesen wäre. Der Bau einer neuen Hauptstadt war im Gespräch. Aber das brauche Zeit, und inzwischen mußten sie irgendwo zusammenkommen. Also zogen sie sich rund um die Piste nach Sheffield zurück, unter der Kuppel und seinem dunklen Himmel. Im Schatten des Aufzugskabels, das wie ein Riß in der Realität aus seiner westlichen Nachbarschaft schwarz und steil in die Höhe führte.

Nadia fand ein Apartment im westlichsten Bereich der Kuppel, hinter dem Randpark im fünften Stockwerk, wo sie einen schönen Blick in die ehrfurchtgebietende Caldera von Pavonis hatte. Art nahm ein Apartment im Erdgeschoß des gleichen Gebäudes nach hinten hinaus. Offenbar machte ihn die Caldera schwindlig. Aber da war er nun; nahe beim Praxisbüro, das sich in einem nahen Dienstgebäude befand, einem Kubus aus poliertem Jaspis, groß wie ein Häuserblock und von chromblauen Fenstern eingesäumt.

Fein. Sie war da. Zeit, tief Luft zu holen und die von ihr verlangte Arbeit zu tun. Es war wie ein Traum, in dem der konstituierende Kongreß plötzlich um drei Jahre verlängert worden war — drei m-Jahre.

Sie hatte ursprünglich die Absicht gehabt, gelegentlich von dem Berg herunterzukommen und bei irgendeinem Bauprojekt mitzuwirken. Natürlich würde sie ihren Pflichten im Rat nachkommen; aber es sah beispielsweise gut aus, an einer Vermehrung des Gasausstoßes der Treibhäuser zu arbeiten, zumal dies technische Probleme mit der Politik verband, dem neuen Regelwerk für Umwelt zu entsprechen. Von dort aus könnte sie ihre Arbeit für den Rat über den Handgelenkcomputer erledigen.

Aber die Ereignisse hatten sich verschworen, sie in Sheffield festzuhalten. Es kam eines nach dem anderen dazwischen. Nichts besonders Wichtiges oder Interessantes im Vergleich mit dem Kongreß selbst, aber diese Details waren notwendig, um die Dinge in Gang zu halten. Es war ungefähr so, wie Charlotte gesagt hatte — nach der Planungsphase die endlosen Einzelheiten der Konstruktion, Detail um Detail.

Das hätte sie voraussehen müssen. Sie mußte Geduld haben. Sie würde während der ersten heißen Phase noch arbeiten und sich dann langsam entfernen. Inzwischen verlangten die Medien nach ihr, ebenso das neue UN-Amt für den Mars, das sehr an der neuen Einwanderungspolitik und dem Procedere interessiert war; und auch die anderen Ratsmitglieder verlangten nach ihr. Wo würde der Rat zusammenkommen? Wie oft? Wie waren die Verfahrensregeln? Nadia überredete die anderen sechs Ratsmitgieder, Charlotte als Ratssekretärin und Protokollchefin zu verpflichten; danach stellte Charlotte eine große Gruppe von Assistenten von Dorsa Brevia ein. Damit stand zumindest der Sockel eines Stabes. Auch Mikhail hatte einen großen Fundus an praktischer Regierungserfahrung aus Bogdanov Vishniak. Also gab es Leute, die für diese Arbeit besser geeignet waren als Nadia. Trotzdem wurde sie täglich eine Million mal gerufen zu Besprechungen, Entscheidungen, Ernennungen, Beurteilungen und Verwaltungsakten.’ Es war kein Ende in Sicht.

Und wenn Nadia dann mit Gewalt freie Zeit für sich beschaffte, stellte sich heraus, daß das Amt eines Präsidenten es sehr schwierig machte, sich an einem bestimmten Projekt zu beteiligen. Alles, was ablief, passierte im Rahmen einer Kuppel oder einer Kooperative. Sehr oft waren das kommerzielle Unternehmungen, die in Transaktionen verwickelt waren, die zum Teil gemeinnützige öffentliche Arbeiten darstellten und andererseits auch marktwirtschaftlichem Wettbewerb unterlagen. Wenn daher die Präsidentin des Mars sich an irgendeiner Kooperative beteiligte, wäre das ein Zeichen offizieller Protektion und konnte nicht gestattet werden, wenn man fair sein wollte. Es war ein Interessenkonflikt.

»Shit!« sagte sie anklagend zu Art.

Er zuckte die Achseln und tat so, als habe er das nicht gewußt.

Es gab keinen Ausweg. Sie war eine Gefangene der Macht. Sie mußte die Lage studieren, als wäre es ein technisches Problem, als ob sie versuchen würde, in einem schwierigen Medium Gewalt auszuüben. Angenommen, sie wollte Gasfabriken mit Treibhäusern bauen. Es war mit ihrem Amt unvereinbar, irgendeiner bestimmten Fabrik-Kooperative beizutreten. Darum mußte sie es irgendwie anders machen. Auf höherem Niveau in Erscheinung treten. Vielleicht könnte sie Kooperativen koordinieren.

Es schien für sie gute Gründe zu geben, den Bau von Treibhausgasfabriken voranzutreiben. Das Jahr ohne Sommer hatte eine Reihe heftiger Stürme gezeitigt, die von der Großen Böschung in den Norden eingefallen waren; und die meisten Meteorologen waren sich einig, daß diese ›Hardley-Queräquatorialstürme‹ durch die Entfernung des Orbitalspiegels verursacht waren und die anschließende Minderung der Sonneneinstrahlung. Der Ausbruch einer Eiszeit war nicht auszuschließen; und das Hochpumpen von Treibhausgasen schien eine der besten Möglichkeiten zu sein, dem zu begegnen. Darum bat Nadia Charlotte, eine Konferenz einzuberufen, um Empfehlungen zur Verhinderung einer Eiszeit zu erbringen. Charlotte nahm Kontakte mit Leuten in Da Vinci, Sabishii und anderswo auf, und bald konkretisierte sich eine Konferenz, die — zweifellos von einigen Sax-Anhängern — den Namen: ›msolationsverlusteffektbekämpfungstreffen M-53‹ erhielt.


Aber Nadia schaffte es nie bis zu dieser Konferenz. Sie wurde statt dessen durch Angelegenheiten in Sheffield aufgehalten, die hauptsächlich die Einrichtung des neuen ökonomischen Systems betrafen, das sie immerhin für wichtig genug erachtete, sie hier festzuhalten. Die Legislatur brachte das Gesetzeswerk zur Sozio-Ökonomie heraus, das die in der Verfassung vorgezeichneten Knochen mit Fleisch versehen sollte. Sie wiesen Kooperativen, die es schon vor der Revolution gegeben hatte, an, den neuen unabhängigen lokalen Tochtergesellschaften der Metanats zu helfen, daß sie sich in ähnliche kooperative Organisationen verwandelten. Dieser Prozeß, genannt Horizontalisierung, genoß sehr weite Unterstützung, besonders durch die jungen Eingeborenen, und ging daher glatt voran. Sogar die Geschäfte auf dem Mars durften jetzt nur noch Eigentum ihrer Angestellten sein. Keine Koop konnte mehr als tausend Personen umfassen. Größere Unternehmen mußten aus Assoziationen von Koops gebildet werden, die zusammenarbeiteten. Für ihre inneren Strukturen wählten die meisten Firmen Varianten der bogdanovistischen Modelle, die ihrerseits auf der kooperativen baskischen Kommune von Mondragon in Spanien basierten. In diesen Firmen waren alle Angestellte Miteigner und kauften ihre Positionen dadurch, indem sie den Gegenwert der Einkünfte etwa eines Jahres ins Kapital der Firma einzahlten. Die Einkünfte wurden mit den Lehrprogrammen verschiedener Art nach der Ausbildung abgerechnet. Diese Einstandszahlung in das Kapital der Firma wuchs mit jedem Jahr der Betriebszugehörigkeit. Der Ertrag bildete die Grundlage für eine Rente oder wurde im Falle eines Ausscheidens dem Betreffenden ausbezahlt. Räte, die vom Werk gewählt wurden, stellten, gewöhnlich von außerhalb, ein Management ein, das dann die Vollmacht hatte, Entscheidungen hinsichtlich der Exekutive zu treffen, aber einer jährlichen Kontrolle der Räte unterlag. Kredit und Kapital erhielt man von zentralen kooperativen Banken oder dem globalen Startfonds oder den Hilfsorganisationen wie Praxis und den Schweizern. Auf nächsthöherer Ebene schlössen sich Koops in den gleichen Industrien oder Dienstleistungsbetrieben für größere Projekte zu Industriegilden zusammen, die professionelle Ausschüsse für Ausführungs-, Beurteilungs- und Meditationszentren sowie Handelsgewerkschaften einrichteten.

Die ökonomische Kommission führte auf dem Mars auch eine Währung für den internen Gebrauch und zum Wechsel gegen terranische Währungen ein. Die Kommission wollte eine Währung schaffen, die gegenüber terranischer Spekulation unempfindlich sein sollte; aber wegen des Fehlens einer Börse auf dem Mars tendierte die volle Kraft der terranischen Investitionen dazu, auf die Währung selbst als der einzigen Investitionsmöglichkeit, die angeboten wurde, zu entfallen. Dadurch neigte der Wert der Zechine des Mars auf den Geldmärkten der Erde zur Inflation. In den alten Tagen wäre der Wert der Zechine zum Nachteil des Mars im Handel durch den Kamin gejagt worden. Aber da die brüchigen Metanats weiter gegen Kooperativen auf der Erde kämpften, blieb die Finanzwirtschaft der Erde in einer gewissen Unordnung und hatte nicht ihre alte Intensität einer Feuersbrunst. Damit landete die Zechine stark, aber nicht allzustark auf der Erde. Und auf dem Mars war sie einfach Geld. Praxis war bei diesem Prozeß sehr hilfreich, da sie eine Art Bundesbank für die neue Wirtschaft wurde, die zinsfreie Darlehen gewährte und als vermittelnde Wechselstelle für terranische Währungen diente.


Zur Bewältigung dieser Aufgabe kam der Exekutivrat jeden Tag für lange Stunden zusammen, um Programme der Legislative und andere Regierungsfragen zu diskutieren. Das war so zeitraubend, daß Nadia fast die Konferenz vergaß, die sie zeitgleich in Sabishii veranlaßt hatte. An guten Abenden verbrachte sie eine oder zwei letzte Stunden mit Freunden aus Sabishii am Bildschirm, und es sah so aus, als ob die Dinge auch dort gut vorangingen. Viele Umweltforscher des Mars waren anwesend und weitgehend einig, daß massiv zunehmende Treibhausgas-Emissionen die Folgen des Spiegelverlustes mindern würden. Natürlich war CO2 das am leichtesten zu emittierende Gas; aber auch ohne seinen Einsatz — sie versuchten noch, seinen Anteil in der Atmosphäre auf ein atembares Niveau zu drücken — war man sich einig, daß die komplexeren und stärkeren Gase in den benötigten Mengen erzeugt und in die Atmosphäre entlassen werden konnten. Und zunächst dachte man, daß dies politisch kein Problem sein würde. Die Verfassung legalisierte eine Atmosphäre nicht dichter als 350 Millibar auf der Sechskilometerlinie, sagte aber nichts darüber aus, welche Gase benutzt werden durften, um diesen Druck zu erzeugen. Wenn die Halogenkohlenwasserstoffe und andere Treibhausgase herausgepumpt würden, bis sie 100 Teile pro Million der Atmosphäre bildeten anstelle der dort oben derzeitig vorhandenen 27 p.p.M., dann würde nach ihren Berechnungen die Wärmerückhaltung um einige Kelvin steigen, und eine Eiszeit wäre verhindert oder würde zumindest stark verkürzt werden. Also forderte der Plan die tonnenweise Produktion und Freigabe von Karbontetrafluorid, Hexafluoräthan, Schwefelhexafluorid, Methan, Stickoxid und Spuren anderer Chemikalien, die dazu beitragen würden, das Tempo zu senken, in dem UV-Strahlung diese Halokarbone zerstörte.

Die völlige Aufschmelzung des Nordmeeres war die andere naheliegende Milderungsstrategie, die bei der Konferenz am häufigsten erwähnt worden war. Bis alles flüssig war, würde die Albedo des Eises eine Menge Energie in den Weltraum zurückwerfen, und ein wirklich munterer Wasserkreislauf wäre gekappt. Falls sie einen flüssigen Ozean, oder in Anbetracht der hohen nördlichen Lage einen nur im Sommer aufgetauten Ozean bekommen könnten, wäre das Thema Eiszeit erledigt und das Terraformen im wesentlichen abgeschlossen. Sie würden robuste Strömungen, Wellen, Verdunstung, Wolken, Niederschläge, Schmelzprozesse, Ströme, Flüsse und Deltas haben — den vollen hydrologischen Zyklus. Das war ein primäres Ziel; und so wurden vielfältige Methoden vorgeschlagen, um das Schmelzen des Eises zu beschleunigen: Abwärme von Kernkraftwerken in den Ozean leiten, Schwarzalgen auf dem Eis verteilen, Mikrowellen- und Ultraschallsender als Erhitzer aufstellen und sogar große Eisbrecher durch die flache Eisschicht fahren zu lassen, um das Aufbrechen der Kruste zu beschleunigen.

Natürlich könnte man die vermehrten Treibhausgase auch hier benutzen. Das Oberflächeneis des Ozeans würde schließlich von selbst schmelzen, sobald die Luft regelmäßig über 273 K hatte. Aber im weiteren Verlauf der Konferenz wurde immer deutlicher, daß der Treibhausplan erhebliche Schwächen aufwies. Er brachte eine weitere enorme industrielle Anstrengung mit sich, fast den monströsen Projekten der Metanats wie den Stickstofftransporten von Titan oder auch der Soletta gleichzusetzen. Und es war keine einmalige Angelegenheit. Die Gase würden durch UV-Strahlung in der oberen Atmosphäre ständig zerstört werden, so daß man eine Überproduktion leisten müßte, um das angestrebte Niveau zu erreichen, und dann ständig weiterproduzieren, so lange man die Gase da oben haben wollte. Somit waren die bergmännische Gewinnung der Rohstoffe und der Bau von Fabriken, um diese Materialien in die gewünschten Gase zu verwandeln, enorme Vorhaben und notwendigerweise eine weithin robotische Bemühung mit selbstgesteuerten und sich selbst reproduzierenden Bergbaumaschinen, mit sich selbst erbauenden und steuernden Fabriken und unbemannten Fluggeräten in der Hochatmosphäre für die Entnahme von Proben — ein enormes maschinelles Projekt.

Die technische Herausforderung war dabei nicht das Problem. Wie Nadia ihren Freunden auf der Konferenz erklärt hatte, war die Technik des Mars von Anfang an in hohem Maße robotisch gewesen. In diesem Falle würden kleine robotische Wagen zu Tausenden über den Mars wandern und gute Kohlelager, Schwefel oder Fluorit suchen. Sie würden von einer Quelle zur andern wandern, wie die alten arabischen Bergarbeiterkarawanen auf der Großen Böschung. Wenn dann neue Vorkommen in hoher Konzentration gefunden wären, würden die Roboter sich niederlassen und — sofern Teile nicht vor Ort produziert werden konnten —, und aus Ton, Eisen, Magnesium und Spurenmetallen kleine Fabriken für die Verarbeitung errichten und die benötigten Maschinen montieren. Ganze Heere automatischer Grabmaschinen und Flotten von Lieferwagen würden hergestellt werden, um das bearbeitete Material in zentrale Fabriken zu liefern, wo es vergast und von großen mobilen Kaminen freigesetzt werden würde. Diese Methode unterschied sich nicht von der früheren bergmännischen Gewinnung atmosphärischer Gase. Nur ein größerer Maßstab.

Die bekannten Rohstofflager waren schon ausgebeutet worden, wie die Leute jetzt erklärten. Und Tagebau konnte nicht in der üblichen Weise betrieben werden. Jetzt entstanden fast überall Fabriken, und an vielen Stellen entwickelte sich infolge der Hydratation eine Art Pflasterung der Wüste, Bakterieneinfluß und chemische Reaktionen in den Tonen. Die so entstandene Kruste war sehr hilfreich bei der Verhinderung von Staubstürmen, die immer noch ein ständig drohendes Problem darstellten. Deshalb war es nicht mehr — weder ökologisch noch politisch — akzeptabel, den Boden aufzureißen, um an darunter liegende Ressourcen nutzbarer Mineralien heranzukommen. Rote Mitglieder der Regierung forderten ein Verbot gerade dieser Art robotischen Tagebaus, und das aus guten Gründen, selbst seitens der Terraformer.

Es war hart, dachte Nadia, wenn sie spät in der Nacht ihren Schirm ausschaltete, mit all den untereinander konkurrierenden Aspekten ihrer Aktionen konfrontiert zu werden. Die die Umwelt berührenden Anliegen waren so eng miteinander verflochten, daß es schwer war, sie auszudünnen und dann zu entscheiden, was getan werden mußte. Und es war auch hart, sich an die eigenen Regeln zu halten. Einzelne Organisationen konnten nicht mehr nur auf sich bezogen handeln, weil so viele ihrer Aktionen globale Verzweigungen hatten. Daher die Notwendigkeit von zahllosen Umweltvorschriften und des globalen Gerichtshofs für Umweltfragen, der schon eine außer Kontrolle geratende Fülle von Fällen zu bearbeiten hatte. Schließlich würde er auch über alle Pläne zu entscheiden haben, auf die man sich in dieser Konferenz einigen würde. Die Tage uneingeschränkten Terraformens waren dahin.

Was Nadia betraf, so war sie als Mitglied des Exekutivrats darauf beschränkt mitzuteilen, daß sie einen vermehrten Treibhausgasausstoß für eine gute Idee hielt. Im übrigen mußte sie sich heraushalten, um nicht den Eindruck zu erwecken, den Zuständigkeitsbereich des Umwelthofes zu verletzen, den Irishka sehr energisch verteidigte. Dadurch verbrachte Nadia mehr Zeit mit Bildschirmbesuchen bei einer Gruppe, die neue Robotmineure konstruierte, die die Oberfläche nur minimal schädigen würden, oder im Gespräch mit einem Team, das an Staubfixativen arbeitete, die auf die Oberfläche gesprüht werden oder dort wachsen sollten. Sie nannten sie ›dünne, schnelle Bepflasterungen‹. Die erwiesen sich indes als ein haariges Problem.


Soweit ging die Teilnahme Nadias an der Konferenz von Sabishii, die sie selbst initiiert hatte. Und da alle ihre technischen Probleme ohnehin mit politischen Erwägungen verknüpft waren, hätte man sagen können, daß sie noch nicht einmal etwas versäumt hätte, hätte sie nicht teilgenommen. Dort war kein bißchen reale Arbeit geleistet worden, weder von ihr, noch von einem anderen. Inzwischen war in Sheffield der Rat mit jeder Menge eigener Probleme konfrontiert. Unvorhergesehene Schwierigkeiten bei der Einführung der Sozio-Ökonomie; Klagen, daß die Kommission ihre Zuständigkeit überschreite; Klagen über die neue Polizei und das Kriminaljustizwesen; regelwidriges und stures Verhalten in beiden Häusern der Legislatur; Rote und andere Gruppen des Widerstandes im Hinterland und so weiter. Die Themen waren endlos und reichten über die ganze Skala vom höchst Wichtigen bis zum unglaublich Geringfügigen, bis Nadia jeden Sinn dafür verlor, wo auf diesem Kontinuum jedes individuelle Problem lag.

Zum Beispiel verbrachte sie einen guten Teil ihrer Zeit mit den inneren Kämpfen des Rates, die sie trivial fand, aber nicht vermeiden konnte. Bei den meisten dieser Streitigkeiten spielten Jackies Bemühungen, eine Mehrheit zusammenzubringen, die jedesmal mit ihr stimmen würde, eine Rolle, so daß Jackie den Rat als Freibrief für die Linie der Partei Freier Mars oder mit anderen Worten für sich selbst benutzen könnte. Das bedeutete für Nadia, den Rest der Ratsmitglieder besser kennenzulernen und sich ein Bild zu machen, wie man mit ihnen zusammenarbeiten konnte. Zeyk war ein alter Bekannter, Nadia mochte ihn, und er war eine Macht unter den Arabern und ihr derzeitiger Repräsentant für die allgemeine Kultur, nachdem er Antar in dieser Position geschlagen hatte. Großartig, smart, freundlich stimmte er mit Nadia in vielen Punkten überein, einschließlich der wesentlichen; das erleichterte ihre Beziehung und führte sogar zu einer wachsenden Freundschaft. Ariadne war eine der Göttinnen der Matriarchie von Dorsa Brevia und spielte haargenau ihre Rolle: herrisch und starr in ihren Prinzipien, war sie eine Ideologin, was sie wahrscheinlich allein daran hinderte, eine ernste Herausforderung für Jackies Prominenz unter den Eingeborenen zu sein. Marion war die Rote im Rat, auch eine Ideologin, aber nach ihren frühen radikalen Tagen sehr verändert; obwohl sie bei langatmigen Diskussionen immer noch eine schwer zu schlagende Gegnerin war. Peter, Anns kleiner Junge, hatte sich zu einer Macht in verschiedenen Teilen der Gesellschaft des Mars entwickelt, einschließlich der Weltraumcrew in Da Vinci, des grünen Untergrundes, der Kabel-Leute und — in gewissem Maße wegen Ann — der gemäßigteren Roten. Diese Wendigkeit war ein Teil seines Wesens, und Nadia hatte Mühe, ihn einzuordnen. Er war, wie seine Eltern, zurückgezogen und schien Nadia und den Rest der Ersten Hundert nicht besonders zu mögen. Er wollte Distanz zu ihnen haben, er war durch und durch Nisei. Mikhail Yangel war einer der ersten Issei, die den Ersten Hundert zum Mars gefolgt waren und hatte von Anfang an mit Arkadij zusammengearbeitet. Er hatte geholfen, die Revolution von 2061 auf den Weg zu bringen. Nadia hatte den Verdacht, daß er damals zu den extremen Roten gehört hatte, weswegen sie ihm immer noch manchmal grollte, was einfach töricht war und ihre Fähigkeit, mit ihm zu reden, behinderte. Aber so war es nun einmal, trotz der Tatsache, daß auch er sich sehr geändert hatte, ein Bogdanovist, der zu Kompromissen neigte. Seine Präsenz im Rat war für Nadia eine Überraschung, man könnte sagen, eine Geste gegenüber Arkadij, die sie beeindruckte.

Und dann war da noch Jackie, möglicherweise die beliebteste und mächtigste Politikerin auf dem Mars. Zumindest, bis Nirgal zurückkam.

So war es nun. Und Nadia hatte jeden Tag mit diesen sechs zu tun und lernte ihre Wege kennen, wenn sie Punkt für Punkt ihre Tagesordnungen durchgingen. Vom Wichtigen zum Trivialen, vom Abstrakten zum Persönlichen — alles erschien Nadia wie der Teil eines Gewebes, wo alles mit allem zusammenhing. Der Rat war keine Teilzeitbeschäftigung, sondern fraß jeden wachen Tag völlig auf. Er verzehrte ihr Leben. Und dabei hatte sie an diesem Punkt erst zwei Monate einer Dienstzeit von drei m-Jahren hinter sich.


Art sah, daß es ihr zusetzte; und er tat, was er konnte, um ihr zu helfen. Er kam jeden Morgen mit Frühstück in ihr Apartment wie ein Roomservice. Oft hatte er es selbst gekocht, und es war immer gut. Wenn er mit hoch erhobenem Servierteller hereinkam, rief er auf ihrem Computer Jazz auf als Hintergrund für ihren gemeinsamen Morgen. Nicht gerade Nadias geliebten Louis, obwohl er ausgefallene Aufzeichnungen von Satch aussuchte, um sie zu erfreuen, Dinge wie ›Give Peace a Chance‹ oder ›Stardust Memories‹, aber auch spätere Stile des Jazz, die sie früher nie gemocht hatte, weil sie so frenetisch waren. Aber das schien im Tempo dieser Tage zu liegen. Was auch immer der Grund war, Charlie Parker zuckte und sauste jetzt höchst eindrucksvoll umher, wie sie fand; und Charles Mingus ließ seine Big Band erklingen wie die von Duke Ellington unter Pandorph, was genau das war, was Ellington und alle die anderen vom Swing brauchten. Nach Nadias Ansicht eine sehr witzige und liebliche Musik. Und als Bestes von allen ließ Art häufig Clifford Brown erklingen, eine Entdeckung, die Art bei seinen Nachforschungen für sie gemacht hatte und auf die er sehr stolz war und ihr gegenüber ständig als logischen Nachfolger von Armstrong empfahl — ein vibrierender Trompetenton, der fröhlich, positiv und melodiös klang wie Satch und auch brillant und schwierig wie Parker, einfach heiter. Das war der perfekte Soundtrack für diese wilden Zeiten, anregend und intensiv, und so positiv wie möglich.

So brachte Art das Frühstück herein und sang ›A11 of Me‹, recht gut bei Stimme, und mit Satchmos Grunderkenntnis, daß amerikanische Liederlyrik nur als verrückter Spaß behandelt werden sollte: »All of me, why not take all of me, Can’t you see, I’m no good without you.« Mit Musik im Raum und dem Rücken zum Fenster machten die Morgen Spaß.

Aber ganz gleich, wie gut die Tage anfingen, der Rat verzehrte ihr Leben. Nadia hatte ihr Kontingent an Geduld fast aufgebraucht und wurde zusehends unruhiger. Das Zanken, Verhandeln, Kompromisse eingehen, Versöhnen — der Umgang mit Menschen, Minute um Minute. Sie haßte das mehr und mehr.

Art erkannte das und begann, sich zu sorgen. Schließlich, eines Tages nach der Arbeit, holte er Ursula und Vlad herbei. Die vier aßen in Nadias Apartment zusammen. Art kochte. Nadia genoß die Gesellschaft ihrer alten Freunde. Sie waren geschäftlich in der Stadt; aber sie zum Dinner her zu bringen, war Arts Idee gewesen, und die war gut. Er war ein gefälliger, freundlicher Mann, wie Nadia dachte, als sie ihn in der Küche wirtschaften sah. Geschickter Diplomat als harmloser Trottel — oder umgekehrt. Wie ein liebenswürdiger Frank. Oder eine Mischung aus Franks Geschicklichkeit und Arkadij s Fröhlichkeit. Sie lachte über sich selbst, weil sie immer in Begriffen der Ersten Hundert dachte, als ob ein jeder irgendwie eine Rekombination der Eigenschaften jener ursprünglichen Familie wäre. Das war eine schlechte Gewohnheit von ihr.

Vlad und Art sprachen über Ann. Sax hatte offenbar Vlad aus der Rakete bei der Rückkehr zum Mars angerufen, erschüttert durch seine Unterhaltung mit Ann. Er fragte sich, ob Vlad und Ursula in Betracht ziehen würden, Ann die gleiche plastische Behandlung angedeihen zu lassen, der sie ihn nach seinem Schlaganfall unterzogen hatten.

»Ann würde das nie machen«, sagte Ursula.

»Ich bin froh darüber«, erklärte Vlad. »Das wäre zuviel. Ihr Gehirn wurde nicht geschädigt. Wir wissen nicht, was diese Behandlung in einem gesunden Gehirn anrichten könnte. Und man sollte, solange man nicht verzweifelt ist nur das unternehmen, was man versteht.«

»Vielleicht ist Ann verzweifelt«, gab Nadia zu bedenken.

»Nein. Sax ist verzweifelt.« Vlad lächelte kurz. »Er möchte eine andere Ann haben, und zwar bevor er zurückkommt.«

»Du wolltest auch nicht, daß Sax diese Behandlung bekam«, warf Ursula ein.

»Das stimmt. Ich hätte es mir selbst nicht angetan. Aber Sax ist ein kühner Mann. Ein impulsiver Mann.« Vlad wandte sich Nadia zu. »Wir sollten bei Dingen bleiben wie deinem Finger. So etwas können wir jetzt reparieren.«

»Was stimmt damit nicht?« fragte Nadia überrascht.

Sie lachten. Ursula sagte: »Dir fehlt doch einer. Wir könnten ihn wieder wachsen lassen, wenn du willst.«

»Ka«, rief Nadia. Sie lehnte sich zurück und blickte auf ihre linke Hand, den Stumpf des fehlenden kleinen Fingers. »Nun, ich brauche ihn wirklich nicht.«

Sie lachten wieder. »Du hättest uns zum Narren halten können«, sagte Ursula. »Du hast dich immer beim Arbeiten darüber beklagt.«

»Wirklich?«

Sie nickten alle.

»Ich werde dir beim Schwimmen helfen«, schlug Ursula vor.

»Ich schwimme nicht mehr viel.«

»Vielleicht hast du wegen deiner Hand aufgehört.«

Nadia betrachtete ihre verstümmelte Hand. »Ka. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Seid ihr sicher, daß es funktionieren wird?«

»Er könnte sich zu einer ganzen weiteren Hand auswachsen«, meinte Art. »Dann zu einer weiteren Nadia. Du würdest zu einem siamesischen Zwillingspaar werden.«

Nadia stieß ihn von der Seite in seinen Sessel. Ursula schüttelte den Kopf. »O nein. Wir haben das schon für andere Amputierte gemacht und eine Menge Versuchstiere. Hände, Arme, Beine. Wir haben das von den Fröschen gelernt. Wirklich ganz prima.

Die Zellen entwickeln sich genau so wie beim ersten Mal, als der Finger wuchs.«

»Eine sehr wörtliche Interpretation von Epigenese«, sagte Vlad lächelnd. Nadia erkannte an diesem Lächeln, daß er an der Entwicklung dieses Verfahrens maßgeblich beteiligt gewesen war.

»Es funktioniert?« fragte Nadia ihn direkt.

»Allerdings. Wir lassen das, was praktisch ein neuer Finger ist, über deinem Stumpf knospen. Es ist eine Kombination embryonischer Stammzellen mit einigen Zellen von der Basis deines andern kleinen Fingers. Diese Kombination wirkt wie das Äquivalent der entsprechenden Gene, als du ein Fötus warst. Damit besitzt du die bestimmenden Elemente der Entwicklung, um die neuen Stammzellen sich richtig bilden zu lassen. Dann injiziert man zu gegebener Zeit mit Ultraschall eine schwache Dosis von fibroblastischem Wachstumsfaktor plus ein paar Zellen vom Knöchel und Fingernagel... und das klappt.«

Während er das erklärte, merkte Nadia, daß in ihr ein gewisser Schimmer von Interesse aufleuchtete. Wieder unversehrt zu sein. Art beobachtete sie mit seiner freundlichen Neugier.

»Na schön, sicher!« sagte sie schließlich. »Warum nicht?«

Also machten sie in der folgenden Woche einige Biopsien von ihrem verbliebenen kleinen Finger und gaben ihr einige Ultraschall-Injektionen in den Stumpf des fehlenden Fingers und in den Arm, sowie ein paar Pillen. Das war es dann. Danach war es nur noch eine Sache von ein paar Injektionen wöchentlich. Und dann Abwarten.

Sie vergaß es später wieder, weil Charlotte wegen eines Problems anrief. Cairo hat eine Anordnung des Exekutivrates hinsichtlich des Wasserpumpens ignoriert. »Du solltest lieber persönlich nachsehen. Ich denke, die Cairoleute stellen den Gerichtshof für eine Clique des Freien Mars, die die globale Regierung herausfordern will, auf die Probe.«

»Jackie?« fragte Nadia.

»Das nehme ich an.«

Cairo lag am Rand eines Plateaus mit Blick auf das nordwestliche U-förmige Tal von Noctis Labyrinthus. Nadia ging mit Art vom Bahnhof zu einer von hohen Palmen gesäumten Plaza. Sie betrachtete die Szene. Einige der schlimmsten Momente ihres Lebens hatten sich in dieser Stadt zugetragen, als sie 2061 angegriffen worden war. Sasha und viele andere waren umgekommen, und Nadia selbst hatte Phobos explodieren lassen, nur ein paar Tage, nachdem Arkadijs verbrannte Überreste gefunden worden waren. Sie war nie zurückgekehrt. Sie haßte diese Stadt.

Jetzt sah sie, daß sie bei den neuen Unruhen wieder Schaden genommen hatte. Teile der Kuppel waren in die Luft geflogen, und die physikalische Fabrik war schwer beschädigt. Man hatte sie wieder aufgebaut, und neue Kuppelsegmente waren auf der alten Stadt, die sich längs des Plateaurandes weit nach Osten und Westen hinzog, befestigt worden. Sie sah aus wie eine rasch aufblühende Stadt, was Nadia angesichts ihrer Höhenlage zehn Kilometer über dem Bezugsniveau wunderte. Sie würden hier oben nie die Kuppeln entfernen oder ohne Schutzkleidung hinausgehen können. Darum hatte Nadia angenommen, daß sie verfallen würde. Aber sie lag am Schnittpunkt der Pisten von Äquator und der nordsüdlich verlaufenden von Tharsis und war die letzte Stelle, an der man zwischen hier und den Chaosen, die einen Viertelumfang des Planeten entfernt lagen, den Äquator überqueren konnte. Wenn nicht irgendwo einmal eine Transmarinerisbrücke gebaut werden würde, läge Cairo immer an einer strategischen Kreuzung.

Und Kreuzung oder nicht, sie wollten mehr Wasser. Das Reservoir von Compton, das unter dem niedrigeren Noctis und den höheren Marineris lag, war ’61 zerstört worden, und sein Wasser war die ganze Länge der Marineris-Canyons hinab geströmt. Das war die Flut gewesen, in der Nadia und ihre Gefährten während der Flucht die Canyons hinunter fast umgekommen wären, nachdem Cairo erobert worden war. Der Großteil des Wassers war später entweder in den Canyons gefroren und hatte einen langen unregelmäßigen Gletscher gebildet, oder sich am Boden von Marineris gesammelt und war dort in den Chaosen erstarrt. Und etwas Wasser war natürlich in dem Reservoir geblieben. In den Jahren danach hatte man dieses Wasser herausgepumpt, um es in den Städten von Ost-Tharsis zu nutzen. Und der Marineris-Gletscher war langsam den Canyon abwärts geflossen und an seinem oberen Ende, wo es keine Quelle gab, um ihn aufzufüllen, zusammengeschrumpft. Er hatte nur verwüstetes Land und eine Reihe sehr seichter EisSeen hinterlassen. Cairo begann es daher an verfügbarem Wasser zu mangeln. Das hydrologische Amt hatte daher mit der Verlegung einer Rohrleitung zu dem großen südlichen Arm des Nordmeeres in der Chryse-Senke reagiert und das Wasser nach Cairo hochgepumpt. Soweit kein Problem. Jede Kuppel bekam irgendwoher ihr Wasser. Aber die Cairener leiteten nun Wasser in ein unter ihnen gelegenes Reservoir im Noctis-Canyon und ließen einen Strom daraus nach Ius Chasma fließen, wo es sich hinter dem oberen Ende des Marineris-Gletschers sammelte oder daran vorbeifloß. Sie hatten praktisch einen neuen Fluß geschaffen, der das große Canyonsystem hinunterfloß, weit von ihrer Stadt entfernt. Und jetzt waren sie dabei, eine Anzahl von Siedlungen am Fluß und Ackerbaukommunen flußabwärts der Stadt zu etablieren. Eine legale Gruppe der Roten war an den Globalen Umweltgerichtshof herangetreten, um gegen diese Aktion zu protestieren mit der Begründung, daß Valles Marineris als Naturwunder geschützt werden müsse, da es der größte Canyon im Sonnensystem sei. Wenn man ihn in Ruhe ließe, würde der Gletscher des Ausbruchs schließlich in das Chaos gleiten und die Canyons wieder mit freiem Boden zurücklassen. Das würde nach ihrer Ansicht geschehen; und der Allgemeine Umweltrat hatte ihnen zugestimmt und eine Anweisung gegen Cairo erlassen mit der Forderung, die Entnahme von Wasser aus dem Reservoir der Stadt unverzüglich einzustellen. Cairo hatte das abgelehnt und behauptete, daß die globale Regierung keine Jurisdiktion hätte über das, was sie lebenswichtige Lebenserhaltungs-Angelegenheiten‹ nannten. Inzwischen bauten sie stromabwärts neue Siedlungen, so schnell sie konnten.

Das war eine offene Provokation, eihe Herausforderung für das neue System. »Das ist ein Test«, knurrte Art, als sie über die Plaza gingen. »Das ist nur ein Test. Wäre es eine echte Verfassungskrise, würde man auf dem ganzen Planeten großes Geschrei hören.«

Ein Test. Etwas, dem gegenüber Nadia jede Geduld verloren hatte. So ging sie in übler Stimmung durch die Stadt. Ohne Zweifel half es nicht, daß die schrecklichen Tage von ’61 so lebhaft in Erinnerung gerufen wurden durch die Plaza, die Boulevards und die Stadtmauer am Rande des Canyons — genau so, wie sie damals gewesen waren. Man sagte, daß das Gedächtnis eines Menschen von seinen mittleren Jahren an nachließe; aber diese Erinnerungen hätte sie, wenn möglich, gern verloren. Doch Angst und Wut schienen jedoch immer noch als eine Art von Alptraumfixativ zu wirken. Denn es war alles noch da. Frank tastete wild auf seinen Monitoren, Sasha aß Pizza, Maya schimpfte laut über dieses oder jenes in den gefahrvollen Stunden, als man darauf wartete zu sehen, ob sie von den herunterfallenden Stücken von Phobos verschont bleiben würden. Sie sah Sashas leblosen Körper, aus den Ohren blutend. Sie hantierte an dem Sender, der Phobos heruntergeholt hatte.


Darum war es für sie sehr schwierig, ihren Ärger im Zaum zu halten, als sie zu der ersten Zusammenkunft mit den Cairenern ging und dort Jackie antraf, die deren Position unterstützte. Jackie war auch schon seit einiger Zeit schwanger und sah blühend, glänzend und schön aus. Niemand wußte, wer der Vater war. Das war ihre ganz eigene Angelegenheit. Eine Tradition, die Hiroko in Dorsa Brevia etabliert hatte und für Nadia noch ein weiterer Punkt, der sie irritierte.

Das Treffen fand in einem Gebäude bei der Stadtmauer statt, das den U-förmigen Canyon Nilus Noctis überblickte. Das Wasser, um das es ging, konnte man unten im Canyon deutlich sehen, ein breites, von Eis überzogenes Reservoir, das kurz vor den Illyrischen Toren und dem neuen Chaos der Compton-Bresche von einem Damm festgehalten wurde, der von hier oben nicht sichtbar war.

Charlotte stand mit dem Rücken zum Fenster und stellte den Beamten von Cairo genau die Fragen, die Nadia gestellt hätte, aber ohne die geringste Spur von Nadias Mißmut. »Ihr werdet immer in einer Kuppel leben. Die Wachstumsmöglichkeiten sind beschränkt. Warum Marineris fluten, wenn ihr davon keinen Nutzen haben werdet?«

Niemand schien Lust zu haben, darauf zu antworten. Schließlich sagte Jackie: »Die unten lebenden Leute werden davon profitieren, und sie sind ein Teil von Groß-Cairo. Wasser in jeder Form ist in diesen Höhen eine Ressource.«

»Wasser, das Marineris frei hinunterfließt, ist überhaupt keine Ressource«, entgegnete Charlotte.

Die Cairener argumentierten für die Nützlichkeit von Wasser in Marineris. Es gab auch Vertreter der Siedler flußabwärts, viele davon Ägypter, die behaupteten, seit Generationen in Marineris zu sein und daß es ihr Recht sei, dort zu leben, daß es das beste Farmland auf dem Mars sei und daß sie kämpfen würden, ehe sie es aufgäben und so weiter. Manchmal schienen die Cairener und Jackie diese Nachbarn zu verteidigen; ein anderes Mal pochten sie auf ihr eigenes Recht, Marineris als Reservoir zu nutzen. Meistens schienen sie ihr Recht zu verteidigen, alles zu tun, was sie wollten. Nadia wurde allmählich immer ärgerlicher.

»Das Gericht hat geurteilt«, sagte sie. »Wir sind nicht hier, um darüber noch mal zu diskutieren. Wir sind hier, um darauf zu achten, daß es ausgeführt wird.« Und sie verließ die Versammlung, ehe sie etwas gesagt hätte, das sie dann nicht mehr zurücknehmen konnte.

An diesem Abend saß sie mit Charlotte und Art beisammen, so gereizt, daß sie sich nicht auf ein delikates äthiopisches Essen im Bahnhofsrestaurant konzentrieren konnte. »Was wollen die?« fragte sie Charlotte.

Charlotte zuckte mit vollem Munde die Achseln. Und nachdem sie geschluckt hatte: »Hast du gemerkt, daß es keine besonders tolle Machtposition ist, Präsidentin des Mars zu sein?«

»Verdammt, ja. Das war schwer zu übersehen.«

»Ja. Nun, mit dem Exekutivrat ist es dasselbe. Es scheint, daß die wahre Macht in dieser Regierung beim Umweltgericht liegt. Irishka wurde dort der Vorsitz gegeben als Teil der großartigen Geste; und sie hat viel getan, um gemäßigtes Rot durch Abstecken einer starken Mitte zu legitimieren. Das erlaubt viel Entwicklung unterhalb der Sechskilometergrenze; aber oberhalb davon sind sie sehr streng. Das wird alles durch die Verfassung gestützt. Darum konnten sie alles aufstellen. Die Legislative zieht sich zurück, sie hat noch keine Urteile umgestoßen. Darum ist das für Irishka und jene ganze Gruppe von Richtern eine eindrucksvolle erste Sitzung gewesen.«

»Also ist Jackie eifersüchtig«, sagte Nadia.

Charlotte zuckte die Achseln. »Das ist möglich.«

»Mehr als das«, sagte Nadia grimmig.

»Und dann ist da die Sache mit dem Rat selbst. Jackie denkt vielleicht, daß sie drei der anderen für sich zur Unterstützung gewinnen kann; und dann gehört der Rat noch mehr ihr. Cairo ist eine Arena, wo sie hoffen kann, daß Zeyk wegen des arabischen Teils der Stadt mit ihr stimmen wird. Dann fehlen nur noch zwei. Und sowohl Mikhail als auch Ariadne sind strenge Lokalisten.«

»Aber der Rat kann keine Entscheidungen des Gerichthofs umstoßen«, sagte Nadia. »Nur die Legislative, nicht wahr? Durch den Erlaß neuer Gesetze.«

»Stimmt, aber wenn Cairo sich weiterhin dem Gericht widersetzt, würde es Sache des Rates sein, die Polizei dorthin zu beordern und ihnen physisch Einhalt zu gebieten. Das erwartet man seitens der Exekutive. Falls der Rat das nicht tut, würde er untergraben, und Jackie würde effektive Kontrolle über ihn bekommen. Zwei Fliegen mit einem Schlag.«

Nadia warf ihr Stück schwammigen Brotes hin und preßte heraus: »Wenn das geschieht, dann soll mich der Teufel holen.«

Sie saßen schweigend da.

»Mir ist dies Zeug zuwider«, sagte Nadia.

»In ein paar Jahren haben wir einen Corpus von Praktiken, Institutionen, Gesetzen und Ergänzungen zur Verfassung, all so etwas«, sagte Charlotte. »Dinge, die die Verfassung nie aufgegriffen hat, und sie werden funktionieren. Wie es die Rolle politischer Parteien ist. Gerade jetzt sind wir im Begriff, all diese Dinge auszuarbeiten.«

»Vielleicht ja, aber es ist mir trotzdem verhaßt.«

»Stell es dir als eine Meta-Architektur vor! Das Bauen der Kultur, die der Architektur ihre Existenz ermöglicht! Dann wird es für dich weniger frustrierend sein.«

Nadia knurrte.

»Dies hier sollte ein klarer Fall sein«, sagte Charlotte. »Das Urteil ist gefällt; sie müssen es nur anerkennen.«

»Und was ist, wenn sie das nicht tun?«

»Dann ist es Zeit für die Polizei.«

»Bürgerkrieg, mit anderen Worten!«

»So weit werden sie es nicht kommen lassen. Sie haben die Verfassung unterzeichnet wie alle anderen, und wenn jeder andere sie anerkennt, werden sie zu Banditen wie die Roten Guerilleros. Ich denke nicht, daß sie es so weit treiben werden. Sie tasten nur die Grenzen ab.«

Das schien sie nicht zu kümmern. So waren die Leute nun einmal, schien ihre Miene zu sagen. Sie gab niemandem die Schuld und war nicht frustriert. Eine sehr ruhige Frau, diese Charlotte — entspannt, zuversichtlich und tüchtig. Mit ihr als Koordinatorin war die Arbeit des Exekutivrates bisher gut, wenn nicht sogar spielerisch organisiert worden. Wenn diese Kompetenz das war, was in einem Matriarchat wie Dorsa Brevia aufwuchs, dachte Nadia, dann sollte man ihm mehr Macht geben. Sie konnte nicht umhin, Charlotte mit Maya zu vergleichen mit all deren Stimmungsumschwüngen, ihrer Angst und Selbstdramatisierung. Nun, das war wohl in jeder Kultur eine Sache des Individuums. Aber es dürfte interessant sein, mehr Frauen von Dorsa Brevia bei sich zu haben, um diese Aufgaben in Angriff zu nehmen.

Bei dem Treffen am nächsten Morgen stand Nadia auf und sagte: »Eine Anordnung gegen Wasserdumping in Marineris ist bereits ergangen. Wenn ihr auf dem Dumping beharrt, werden die neuen Polizeikräfte der globalen Gemeinschaft eingesetzt werden. Ich nehme nicht an, daß irgendwer das wünscht.«

»Ich denke nicht, daß du für den Exekutivrat sprechen kannst«, erwiderte Jackie.

»O doch«, sagte Nadia knapp.

»Nein, das kannst du nicht!« sagte Jackie. »Du bist nur eine von sieben. Und dies ist nun mal keine Sache des Rates.«

»Das wird sich zeigen«, entgegnete Nadia.

Die Versammlung zog sich hin. Die Cairener trieben Obstruktion. Je mehr Nadia begriff, was sie taten, desto mehr brachte sie das auf. Ihre Führer spielten für den Freien Mars eine Rolle. Und selbst wenn diese Herausforderung versagte, könnte es auf anderen Gebieten zu Konzessionen an den Freien Mars kommen. Dadurch würde diese Partei mehr Macht gewonnen haben. Charlotte stimmte zu, daß dies ihr letztes Motiv sein könnte. Der darin liegende Zynismus widerte Nadia an; und sie fand es sehr schwer, Jackie höflich zu* begegnen, wenn diese mit ihrer leichten Heiterkeit zu ihr sprach, die schwangere Königin unter ihren Schranzen wie ein Schlachtschiff zwischen Ruderbooten. »Tante Nadia, es tut mir so leid, daß du glaubtest, dir für so etwas Zeit nehmen zu müssen... «

An diesem Abend sagte Nadia zu Charlotte: »Ich hätte gern eine Anordnung, wonach der Freie Mars überhaupt nichts bekommt.«

Charlotte lachte kurz. »Hast du mit Jackie gesprochen?«

»Ja. Warum ist sie so beliebt? Ich verstehe das nicht, aber sie ist es.«

»Sie ist zu vielen Leuten nett. Sie glaubt, zu allen Leuten nett zu sein.«

»Sie erinnert mich an Phyllis«, sagte Nadia. »Wieder die Ersten Hundert... Vielleicht auch nicht. Jedenfalls, gibt es nicht irgendeine Art von Strafe, die wir gegen frivole Prozesse und Herausforderungen verhängen können?«

»In manchen Fällen Gerichtskosten.«

»Sieh also zu, ob du ihnen die auferlegen kannst!«

»Erst wollen wir sehen, ob wir überhaupt gewinnen.«

Die Versammlungen gingen noch eine Woche lang weiter. Nadia überließ das Reden Charlotte und Art. Sie sah währenddessen aus dem Fenster hinunter in den Canyon und rieb sich den Stumpf ihres Fingers, der jetzt schon einen merklichen Buckel aufwies. Es war merkwürdig. Obwohl sie genau darauf achtete, konnte sie sich nicht entsinnen, wann der Buckel zu erscheinen begonnen hatte. Er war warm und rosig, ein zartes Rosa wie die Lippen eines Kindes. In der Mitte schien sich ein Knochen zu befinden. Sie scheute sich, ihn zu fest zu drücken. Sicher kniffen Hummer nicht in ihre nachwachsenden Gliedmaßen. Diese ganze Zellerzeugung war lästig wie ein Krebsgeschwür, nur kontrolliert und gezielt. Das Wunder der steuernden Fähigkeiten der DNS wurde darin manifestiert. Leben selbst, blühend in all seiner sich offenbarenden Komplexität. Und ein kleiner Finger war nichts, verglichen mit einem Auge oder einem Embryo. Es war schon seltsam.

Die politischen Versammlungen wurden immer schlimmer. Nadia verließ eine von ihnen und hatte nicht mitgekriegt, worum es überhaupt gegangen war, sicher, daß es sich um nichts Bedeutendes gehandelt hatte. Und sie machte einen langen Spaziergang hinaus zu einem Ausguck am westlichen Ende der Kuppelmauer. Sie rief Sax an. Die vier Reisenden näherten sich dem Mars nun immer mehr. Die Verzögerungen durch den Signallauf betrugen nur noch wenige Minuten. Nirgal schien wieder gesund zu sein. Er war guter Dinge. Michel sah tatsächlich erschöpfter aus als Nirgal. Es schien, als ob ihn der Besuch auf der Erde sehr mitgenommen hätte. Nadia hielt ihren Finger an den Schirm, um ihn aufzuheitern, und das wirkte.

»Ein kleiner Roter, oder?«

»Das nehme ich an.«

»Du scheinst nicht zu glauben, daß es funktionieren wird.«

»Nein. Wohl nicht.«

»Ich denke, wir leben in einer Übergangsperiode«, sagte Michel. »In unserem Alter können wir nicht recht glauben, daß wir noch am Leben sind; darum handeln wir, als ob es jede Minute enden würde.«

»Das könnte es auch.« Gedanken an Simon. Oder Tatiana Durowa. Oder Arkadij.

»Natürlich. Aber andererseits könnte es viele Dekaden und selbst Jahrhunderte weitergehen. Irgendwann müssen wir das einfach glauben.« Er klang, als wollte er sich selbst ebenso überzeugen wie sie. »Du wirst deine heile Hand ansehen und es dann glauben. Und das wird sehr interessant sein.«

Nadia wedelte mit dem rosigen Knopf, der seitlich an ihrer Hand saß. Noch kein Fingerabdruck in der frischen durchsichtigen Haut. Wenn er käme, würde es ohne Zweifel derselbe sein wie der auf dem anderen kleinen Finger. Sehr merkwürdig.

Art kam mit besorgter Miene von einem Treffen zurück. »Ich habe mich überall erkundigt und versucht, dahinter zu kommen, warum sie das tun. Ich habe einige Agenten von Praxis auf den Fall angesetzt; unten im Canyon, auf der Erde und auch innerhalb der Führerschaft des Freien Mars.«

Spione, dachte Nadia. Jetzt haben wir auch noch Spione.

»Es scheint, daß sie hinsichtlich der Immigration private Arrangements mit terranischen Regierungen treffen. Sie erbauen Siedlungen für Leute aus Ägypten und wahrscheinlich auch für Einwanderer aus China. Es wird wohl eine Gegenleistung erfolgen, aber wir wissen nicht, was sie da von diesen Ländern erhalten. Vielleicht Geld.«

Nadia knurrte.

In den nächsten paar Tagen kam sie per Bildschirm oder persönlich mit allen anderen Mitgliedern des Exekutivrates zusammen. Marion war natürlich dagegen, noch mehr Wasser nach Marineris hineinzupumpen. Darum brauchte Nadia nur noch zwei weitere Stimmen. Aber Mikhail, Ariadne und Peter waren gegen einen Polizeieinsatz, sofern das irgendwie vermieden werden könnte. Und Nadia vermutete, daß sie nicht viel weniger als Jackie über die relative Schwäche des Rates erfreut waren. Sie schienen bereit, Zugeständnisse zu machen, um eine unangenehme und gewaltsame Durchsetzung eines Gerichtsbeschlusses zu verhindern, hinter dem sie nicht bedingungslos standen.

Zeyk wollte deutlich gegen Jackie stimmen, fühlte sich aber durch die arabische Wählerschaft in Cairo behindert und die von der arabischen Gemeinschaft auf ihn gerichteten Augen. Die Kontrolle von Wasser und Land waren denen gleichermaßen wichtig. Aber die Beduinen waren Nomaden, und außerdem war Zeyk ein starker Verfechter der Verfassung. Nadia nahm an, er würde sie unterstützen. Damit mußte dann nur noch einer überredet werden.

Die Beziehung zu Mikhail hatte sich nie gebessert. Es war, als ob er der Erinnerung an Arkadij näher sein wollte als sie. Peter glaubte sie nicht zu verstehen.

Ariadne mochte sie nicht, aber auf eine Weise, die es leichter machte. Und Ariadne war auch nach Cairo gekommen. Also beschloß Nadia, sie zuerst zu bearbeiten.

Ariadne war der Verfassung ebenso ergeben wie die meisten von Dorsa Brevia. Aber sie waren auch Lokalisten, denen ohne Zweifel daran gelegen war, ihre eigene Regierung von der globalen weitgehend unabhängig zu halten. Und auch sie waren von jeder Wasserversorgungsstelle weit entfernt. Darum war Ariadne dazu übergegangen, Ausflüchte zu machen.

»Schau«, sagte Nadia zu ihr in einem kleinen Raum an der Plaza gegenüber den Stadtbüros, »du mußt Dorsia Brevia vergessen und an den Mars denken.«

»Das tue ich natürlich.«

Sie war ärgerlich, daß diese Zusammenkunft stattfand. Sie hätte Nadia lieber kurzerhand weggeschickt. Für sie spielte die Bedeutung des Falles keine Rolle. Es war bloß eine Frage der Priorität, daß man überhaupt keinen Issei angehört hatte. Für diese Leute ging es jetzt um Machtpolitik und Hierarchie. Sie hatten vergessen, worauf es hier wirklich ankam. Und in dieser verdammten Stadt. Nadia verlor die Geduld und brüllte beinahe: »Du denkst überhaupt nicht nach! Dies ist die erste Herausforderung für die Verfassung; und du siehst dich danach um, was für dich dabei herausspringen könnte! Das paßt mir nicht.« Sie drohte mit dem Finger vor Ariadnes überraschtem Gesicht. »Wenn du nicht dafür stimmst, die Entscheidung des Gerichtshofes durchzusetzen, dann wirst du beim nächsten Mal, wenn etwas bei einer Abstimmung des Rates ansteht, das du wirklich willst, Repressalien von mir erleben. Verstehst du?«

Ariadnes Augen waren wie Plakate — erst schockiert, dann ein Moment reiner Furcht und dann Wut.

»Ich habe nie gesagt, daß ich nicht für eine Durchsetzung stimmen würde!« erwiderte sie hitzig. »Warum diese wilde Szene?«

Nadia ging wieder zu einer normalen Argumentation über, wiewohl immer noch scharf und unerbittlich. Schließlich hob Ariadne die Hände: »Es ist das, was die meisten vom Rat in Dorsa Brevia machen wollen. Ich hatte ohnehin vor, dafür zu stimmen. Du brauchst dich deswegen nicht so aufzuführen!« Und sie lief aufgebracht aus dem Zimmer.

Nadia empfand zuerst eine Anwandlung von Triumph. Aber der Ausdruck von Angst in den Augen der jungen Frau hatte sie berührt, daß ihr im Magen leicht übel wurde. Sie erinnerte sich an Cojote in Pavonis, der gesagt hatte: »Macht korrumpiert.« Das war dieses üble Gefühl, dieser erste Schlag von genutzter — oder mißbrauchter — Macht.

Viel später in dieser Nacht war ihr immer noch schlecht vor Widerwillen; und* sie erzählte Art fast weinend von dieser Konfrontation. »Das hört sich nicht gut an«, sagte er besorgt, »das klingt, als hättest du einen Fehler gemacht. Du wirst mit ihr noch zu tun bekommen. Wenn das der Fall ist, darfst du die Leute nicht vergraulen.«

»Ich weiß, ich weiß. Verflucht, das ist mir zuwider! Ich möchte abhauen und etwas Reales machen.«

Er nickte ernst und klopfte ihr auf die Schulter.

Vor dem nächsten Treffen ging Nadia zu Jackie hinüber und sagte ihr ganz ruhig, daß sie die nötigen Stimmen im Rat hätte, um die Polizei zum Damm zu schicken, damit eine weitere Freigabe von Wasser verhindert würde. Dann erinnerte sie in der Versammlung alle mit einer überraschenden Bemerkung daran, daß Nirgal sehr bald wieder unter ihnen sein würde, zusammen mit Maya, Sax und Michel. Worauf etliche Anwesende der Gruppe Freier Mars bedenklich dreinschauten, obwohl Jackie natürlich keine Reaktion zeigte. Während sie anschließend meckerten und diskutierten, rieb Nadia zerstreut ihren Finger, innerlich immer noch erregt ob ihrer Begegnung mit Ariadne.

Am nächsten Tag stimmten die Cairener zu, das Urteil des Globalen Umweltgerichtshofes anzuerkennen. Sie würden aufhören, Wasser aus ihrem Reservoir abzulassen; und die Siedlungen weiter unten im Canyon müßten mit Leitungswasser auskommen, was sicher ihr Wachstum behindern würde.

»Gut!« sagte Nadia, immer noch bitter. »All das nur, um dem Gesetz zu genügen.«

»Sie werden Berufung einlegen«, erklärte Art.

»Das kümmert mich nicht. Sie sind erledigt. Und selbst wenn nicht, sind sie dem Prozeß unterworfen. Zum Teufel, meinetwegen können sie gewinnen. Der Prozeß ist es, der zählt. Darum gewinnen wir in jedem Fall.«

Art lächelte, als er das hörte. Ohne Zweifel ein Schritt in politischer Erziehung, ein Schritt, den Art und Charlotte schon vor langer Zeit gemacht hatten. Ihnen kam es nicht auf das Ergebnis bei irgendeiner einzelnen Meinungsverschiedenheit an, sondern auf die erfolgreiche Anwendung der Gerichtsbarkeit. Wenn der Freie Mars jetzt die Mehrheit repräsentierte — was er offenbar tat, da er die Ergebenheit fast aller Eingeborener besaß, der jungen Toren, die sie waren —, dann bedeutete die Anerkennung der Verfassung, daß sie nicht einfach Minoritäten kraft ihrer Zahl herumschubsen konnten. Wenn also der Freie Mars etwas gewann, so mußte das durch einen Präzedenzfall sein, beurteilt durch die Gesamtheit der Richter des Gerichtshofes, die aus allen Fraktionen kamen. Das war wirklich sehr befriedigend, so als ob man sähe, daß eine aus zartem Material gebaute Mauer wegen eines geschickten Fachwerks mehr Gewicht tragen konnte, als man ihr ansah.

Aber sie hatte Drohungen anwenden müssen, und darum hinterließ die ganze Sache einen schalen Geschmack in ihrem Mund. »Ich möchte etwas Reales machen.«

»Zum Beispiel Rohre verlegen?«

Sie nickte, nicht gerade lächelnd. »Ja, Hydrologie.«

»Kann ich mitkommen?«

»Als Klempnergehilfe?«

Er lachte. »Ich habe das schon einmal gemacht.«

Nadia schaute ihn an. Seine Anwesenheit hob ihre Stimmung. Das war drollig und altmodisch — irgendwohin zu gehen, nur um mit jemandem zusammen zu sein. So etwas kam nicht mehr oft vor. Die Leute gingen dorthin, wohin sie gehen mußten, und trieben sich mit irgendwelchen Freunden herum, die sie dort antrafen, oder schlössen neue Freundschaften. Das war die marsianische Art. Oder" vielleicht die Art der Ersten Hundert. Oder ihre Art.

Jedenfalls war klar, wenn man dies tat und zusammen reiste, so war das mehr als eine Freundschaft, vielleicht sogar mehr als eine Affäre. Aber das war nicht so übel, sagte sie sich. Wirklich, gar nicht so übel. Vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig. Aber es gab immer etwas, an das man sich gewöhnen mußte.

Zum Beispiel ein neuer Finger. Art hielt ihre Hand und massierte das neue Fingerglied leicht. »Schmerzt das? Kannst du ihn biegen?«

Es schmerzte ein wenig und sie konnte es ein wenig biegen. Sie hatten einige Zellen aus der Knöchelzone injiziert; und jetzt war er gerade etwas länger als das erste Gelenk ihres anderen kleinen Fingers. Die Haut war noch babyrosa, ohne Kallus oder Narbe. Jeden Tag etwas größer.

Art drückte die Spitze ganz zart und fühlte den Knochen darin. Seine Augen wurden rund. »Spürst du das?«

»O ja. Er ist wie die anderen Finger, nur vielleicht etwas empfindlicher.«

»Weil er neu ist.«

»Das nehme ich an.«

Nur der verlorene alte Finger war irgendwie mit betroffen. Die Geisterstimme kam wieder, als ob jetzt Signale von jenem Ende der Hand kämen. Art nannte das den Finger im Kopf. Und ohne Zweifel war eine Gruppe von Gehirnzellen diesem Finger gewidmet, der die ganze Zeit ein gespenstisches Leben geführt hatte. Das war mangels Anregung im Laufe der Jahre abgeklungen, kam jetzt aber auch zurück oder wurde gereizt und verstärkt. Vlads Erklärungen dieses Phänomens waren komplex. Aber wenn sie in diesen Tagen den Finger befühlte, kam er ihr ebenso groß vor wie der an der anderen Hand, selbst wenn sie hinschaute. Als ob sie eine unsichtbare Hülle über dem neuen fühlte. Zu anderen Zeiten empfand sie das kleine Ding in seiner richtigen Größe, kurz, hautartig und schwach. Sie konnte es am ersten Gelenk etwas biegen und nur ein wenig am zweiten. Das letzte Gelenk, hinter dem Fingernagel, war noch nicht da. Aber es war unterwegs. Es wuchs. Nadia machte wieder Witze darüber, daß es ständig wuchs, obwohl das ein unheimlicher Gedanke war. »Das ist doch gut«, sagte Art. »Du legst dir einen Hund zu.«

Aber nun war sie zuversichtlich, daß das nicht geschehen würde. Der Finger schien zu wissen, was er tat. Er würde ganz in Ordnung sein. Er sah normal aus. Art war fasziniert von ihm. Aber nicht nur von ihm. Er massierte ihre Hand, die etwas wund war, und dann auch ihren Arm und die Schultern. Er würde alles an ihr massieren, wenn sie ihn gewähren ließe. Und danach, wie das Gefühl in ihrem Finger, in Armen und Schultern war, hätte sie das tun sollen. Er war so entspannt. Das Leben war für ihn immer noch alltägliches Abenteuer, voller Wunder und Frohsinn. Die Leute brachten ihn jeden Tag zum Lachen. Das war eine wundervolle Gabe. Groß, mit rundem Gesicht und rundem Körper, irgendwie Nadia selbst in gewissen Erscheinungsweisen ähnlich. Kahl werdend, unprätentiös, geschmeidig im Gang. Ihr Freund.

Nun, natürlich liebte sie Art. Mindestens seit Dorsa Brevia. Es war ähnlich wie bei ihrem Gefühl für Nirgal, der ein überaus geliebter Neffe oder Student oder Patenkind oder Enkel oder Kind war. Und deshalb war Art einer der Freunde ihres Kindes. Tatsächlich war er ein bißchen älter als Nirgal, aber dennoch waren diese beiden wie Brüder. Das war das Problem. Aber all diese Überlegungen wurden wegen ihrer zunehmenden Langlebigkeit immer mehr hinfällig. Wenn er nur um fünf Prozent jünger war als sie, würde das noch eine Rolle spielen? Wenn sie dreißig Jahre intensiver gemeinsamer Erfahrung hinter sich gebracht hatten, wie es schon der Fall war, als Gleichgestellte und Mitarbeiter, Architekten einer Proklamation, einer Verfassung und einer Regierung; enge Freunde, Vertraute, Helfer, Massagepartner; spielte da die Anzahl der Jahre seit ihrer Jugend eine Rolle? Nein, das tat sie nicht. Das war klar, man mußte nur daran denken. Und dann versuchen, es auch zu empfinden.

In Cairo wurde sie nicht mehr gebraucht, aber gerade jetzt in Sheffield. Nirgal würde bald zurück sein und helfen, Jackie im Zaum zu halten. Kein vergnüglicher Job, aber niemand konnte ihm dabei helfen. Es war hart, wenn man all seine Liebe auf eine Person fixierte. Wie sie es so viele Jahre lang mit Arkadij getan hatte, obwohl er für die meisten von ihnen tot gewesen war. Das ergab keinen Sinn; aber er fehlte ihr. Und trotzdem ärgerte sie sich noch über ihn. Er hatte nicht einmal lange genug gelebt, um zu begreifen, wieviel er versäumt hatte. Der glückliche Narr. Auch Art war glücklich, aber er war kein Narr. Wenigstens kein ausgesprochener. Für Nadia waren alle glücklichen Leute definitionsgemäß etwas verrückt, wie könnten sie sonst glücklich sein? Aber sie mochte sie trotzdem. Sie brauchte sie. Sie waren wie ihre geliebte Musik Satchmos. Und angesichts der Welt und allem, was darin war, war diese Fröhlichkeit ein sehr mutiger Weg zu leben — nicht eine Kombination von Verhältnissen, sondern von Verhaltensweisen. »Jawohl, komm mit mir klempnern!« sagte sie zu Art und drückte ihn ganz fest an sich, als ob man Glück einfangen könnte, wenn man es nur fest genug drückte. Sie zog sich zurück, und er machte vor Überraschung große Augen, genau wie wenn er ihren kleinen Finger hielt.

Aber sie war immer noch Präsidentin des Exekutivrats und trotz ihres Entschlusses wurde sie jeden Tag durch ›Entwicklungen‹ aller Art etwas fester an ihr Amt gefesselt. Deutsche Immigranten wollten eine neue Hafenstadt bauen namens ›Blocks Hoffnung‹ auf der Halbinsel, welche das Nordmeer halbierte, und dann einen breiten Kanal durch diese Halbinsel graben. Rote Guerilleros widersetzten sich diesem Plan und jagten die durch die Halbinsel verlaufende Piste in die Luft. Sie sprengten auch die zum Gipfel von Biblis Patera führende Piste, um zu zeigen, daß sie auch hier dagegen waren. Okopoeten in Amazonia wollten mächtige Waldbrände entfachen. Andere Okopoeten in Kasei wollten den vom Feuer abhängigen Wald beseitigen, den Sax in der großen Kurve des Tales angelegt hatte (dieser Antrag wurde als erster einmütig vom Großen Exekutivrat gebilligt). Rote, die bei White Rock lebten, einer acht Kilometer breiten rein weißen Mesa, wollten diese zu einem ›Kami-Gelände‹ erklärt sehen, wo menschlicher Zutritt verboten war. Ein Planungsteam von Sabishii empfahl, eine neue Hauptstadt an der Küste des Nordmeers auf 0° Länge zu erbauen, wo es eine tiefe Bucht gab. New Clarke wurde überfüllt von Leuten, die verdächtig nach Schnüfflertruppen der Metanats aussahen. Die Ingenieure von Da Vinci wollten, daß die Kontrolle des Weltraums über dem Mars einer Agentur der globalen Regierung übertragen würde, die es nicht gab. Senzeni Na wollten ihre Mohole auffüllen. Die Chinesen baten um Genehmigung, einen ganz neuen Raumaufzug zu bauen, der in der Nähe des Kraters Schiaparelli befestigt sein sollte, um ihre Einwanderer zu bedienen und andere auszuschalten. Die Immigration nahm jeden Monat zu.

Nadia behandelte alle diese Themen in halbstündigen Zusatzterminen, die von Art angesetzt wurden; und so vergingen die Tage im Nu. Es wurde sehr schwierig, sich dessen bewußt zu bleiben, daß manche dieser Dinge wichtiger waren als andere. Zum Beispiel würde der Mars von chinesischen Einwanderern überschwemmt werden, wenn sie auch nur den Abglanz einer Chance erhielten... Und die Roten Guerilleros wurden immer unverschämter. Es hatte sogar Morddrohungen gegen Nadia selbst gegeben. Sie hatte jetzt eine Eskorte, sobald sie ihr Apartment verließ, und dieses wurde diskret bewacht. Nadia ignorierte das und arbeitete weiter an ihren Aufgaben und daran, bei den Abstimmungen, die ihr wichtig waren, eine Majorität auf ihrer Seite zu haben. Sie stellte gute Arbeitsbedingungen mit Zeyk und Mikhail her und sogar mit Marion. Mit Ariadne liefen die Dinge allerdings nie wieder ganz so gut, was eine zweimal und darum auch gut gelernte Lektion war.

So machte sie ihre Arbeit. Aber die ganze Zeit wollte sie weg von Pavonis. Art sah, daß ihre Geduld jeden Tag knapper wurde. Sie merkte an seinem Blick, daß sie zunehmend widerborstig, mürrisch und diktatorisch wurde. Sie merkte es, konnte es aber nicht ändern. Nach Zusammenkünften mit frivolen oder obstruktiven Leuten ließ sie oft einen Erguß boshafter Schmähungen los mit einer gleichmäßig leise fluchenden Stimme, die Art entnervend fand. Es kamen Delegationen, um ein Ende der Todesstrafe zu fordern oder das Recht, in der Caldera von Olympus Mons zu bauen, oder einen freien achten Platz im Exekutivrat zu verlangen. Und sobald die Tür geschlossen war, pflegte Nadia zu sagen: »Nun, es gibt für dich einen Haufen verdammter, saublöder Idioten, die niemals über unentschiedene Abstimmungen nachgedacht haben und denen nie in den Sinn gekommen ist, daß man sein eigenes Lebensrecht verwirkt, wenn man jemandem das Leben nimmt« und so weiter. Der neuen Polizei ging eine Schar Roter Guerilleros ins Netz, die versucht hatten, die Sockelmuffe wieder in die Luft zu jagen, und dabei einen Sicherheitsmann getötet hatten. Da war sie der strengste Richter, den sie hatten. Sie rief »Exekutiert sie! Ihr habt das Recht zu leben verwirkt, wenn ihr jemanden tötet. Richtet sie hin oder verbannt sie lebenslänglich vom Mars! Laßt sie auf eine Weise bezahlen, die wirklich den Rest der Aufmerksamkeit der Roten auf sich zieht!«

»Na ja«, sagte Art unbehaglich. »Na ja, nach all dem.« Aber sie tobte weiter. Sie konnte erst aufhören, als ihre Wut nachgelassen hatte. Und Art stellte fest, daß das jedesmal länger dauerte.

Er gab sich selbst einen Teil der Schuld und empfahl ihr, eine neue Konferenz einzuberufen wie die, welche sie in Sabishii verpaßt hatte. Und sie sollte sich vergewissern, dieses Mal dabeizusein. Nadia war der Meinung, die Kanalisierung der Bemühungen verschiedener Körperschaften für eine einzelne Sache wäre nicht gerade, was man konstruktiven Aufbau nennt. Aber es schien doch notwendig zu sein.

Die Auseinandersetzungen in Cairo hatten ihre Aufmerksamkeit auf den hydrologischen Kreislauf gelenkt — was würde geschehen, wenn das Eis anfinge zu schmelzen? Wenn sie irgendeinen Plan für einen Wasserkreislauf austüfteln könnten, wenn auch nur näherungsweise, könnte dieser weitgehend zur Reduzierung von Konflikten über Wasser führen. Darum beschloß sie zu schauen, was sich machen ließe.

Wie es in diesen Tagen oft geschah, wenn sie über globale Themen nachdachte, stellte sie fest, daß sie den Wunsch hatte, mit Sax darüber zu sprechen. Die Reisenden von der Erde waren jetzt beinahe zurück, nahe genug, daß die Verzögerung der Übertragung unbedeutend war, fast als führe man eine normale Konversation mit dem Handgelenkapparat. So verbrachte Nadia ganze Abende im Gesprächen mit Sax übers Terraformen. Mehr als einmal überraschte er sie gewaltig. Er vertrat nicht die Ansichten, die sie bei ihm erwartet hatte. Er schien sich stets zu verändern. Eines Nachts sagte er: »Ich will die Dinge wild lassen.«

»Was meinst du damit?« fragte sie.

Sein Gesicht nahm den nachdenklichen Ausdruck an, den er hatte, wenn er scharf überlegte. Es dauerte erheblich länger als die Verzögerung der Übertragung, bis er antwortete: »Vielerlei. Das ist ein kompliziertes Wort. Aber — ich meine — ich will die ursprüngliche Landschaft so unversehrt wie möglich erhalten.«

Nadia konnte ihr Gelächter darüber beherrschen. Aber Sax sagte noch: »Was findest du daran belustigend?«

»Oh, nichts. Du klingst nur — ich weiß nicht — wie manche Rote. Oder die Leute in Christianopolis. Das sind keine Roten, aber sie haben vorige Woche fast dasselbe zu mir gesagt. Sie wollen, daß die primäre Landschaft des fernen Südens erhalten wird. Ich habe ihnen geholfen, eine Konferenz zu veranstalten, um über Wasserscheiden im Süden zu sprechen.«

»Ich dachte, du arbeitest an Treibhausgasen?«

»Sie wollen mich nicht arbeiten lassen. Ich muß Präsidentin sein. Aber ich werde zu dieser Konferenz gehen.«

»Eine gute Idee.«


Die japanischen Siedler in Messhi Hoko (was bedeutete ›Selbstopferung für die Sache der Gruppe‹) traten mit der Bitte an den Rat heran, daß ihrer Kuppel in Süd-Tharsis mehr Land und Wasser zugeteilt werden möge. Nadia machte sich auf den Weg zu ihnen und flog mit Art nach Christianopolis im fernen Süden hinunter.

Die kleine Stadt (und nach Sheffield und Cairo wirkte sie besonders klein) lag im Phillips-Randkrater Vier auf einer Breite von 67° Süd. Während des Jahres ohne Sommer hatte der tiefe Süden mehrere strenge Stürme erlebt, die ungefähr vier Meter Neuschnee abgeladen hatten — eine noch nie dagewesene Menge. Der vorige Jahresrekord war bei weniger als einem Meter gelegen. Jetzt war es Ls 281, also kurz nach dem Perihel und im Süden Hochsommer. Und die verschiedenen Strategien zur Vermeidung einer Eiszeit schienen gut zu funktionieren. Der meiste Schnee war in einem warmen Frühling geschmolzen, und jetzt gab es auf jedem Kraterboden runde Teiche. Der Teich im Zentrum von Christianopolis war ungefähr vier Meter tief und hatte einen Durchmesser von 300 Metern. Das gefiel den Einwohnern, da er ihnen einen schönen Parkteich bescherte. Aber dasselbe passierte in jedem Winter; und die Meteorologen glaubten, daß die kommenden Winter noch mehr Schnee bringen und die kommenden Sommer immer wärmer werden würden. Dann wäre ihre Stadt schnell durch Schneeschmelze überschwemmt und Phillipps-Randkrater Vier würde ein randvoller See werden. Und das galt für alle Krater auf dem Mars.

Die Konferenz in Christianopolis war zusammengekommen, um Strategien zu erörtern, wie man mit der Situation fertig werden konnte. Nadia hatte getan, was möglich war, um einflußreiche Leute hinunterzubekommen, einschließlich Meteorologen, Hydrologen, Ingenieure und möglichst auch Sax, dessen Rückkehr nun unmittelbar bevorstand. Das Problem der Kraterüberschwemmung sollte der einzige Ausgangspunkt der Diskussion über die Wasserscheiden und den hydrologischen Zyklus selbst sein.

Das Kraterproblem speziell sollte so gelöst werden, wie Nadia es vorhergesagt hatte — durch Rohrleitungen. Sie würden die Krater wie Badewannen behandeln und Drainagen bohren, um sie zu entleeren. Die Brecciapfannen unter den staubigen Kraterböden waren äußerst hart. Sie konnten aber mit Robotern durchtunnelt werden. Dann installierte man Pumpen und Filter, um das Wasser herauszupumpen und, wenn gewünscht, einen zentralen Teich zu behalten oder den Krater trockenzulegen.

Aber was würden sie mit dem herausgepumpten Wasser anfangen? Die südlichen Gebirgsländer waren zerklüftet, narbig, hüglig, eingesunken, gespalten und brüchig. Als Wasserscheiden waren sie nicht zu gebrauchen. Es gab in weitem Umkreis kein abschüssiges Gelände. Der ganze Süden war ein Plateau in drei bis vier Kilometern Höhe über dem alten Bezugsniveau, mit nur kleinen Buckeln und Senken. Auf der Erde hatten tektonische Bewegungen alle paar Dutzend Jahrmillionen Berge hochgedrückt; und dann war Wasser an diesen frischen Hängen heruntergeflossen auf den Wegen geringsten Widerstandes hin zum Meer und hatte überall die fraktalen Formen von Wasserscheiden eingegraben. Selbst die trockenen Beckenregionen der Erde waren von Arroyos gesäumt und mit Salztonebenen (Playas) durchsetzt.

Im Süden des Mars hingegen hatte das frühzeitliche Bombardement wüst auf das Land eingehämmert und allenthalben Krater und Auswürfe hinterlassen. Danach hatten die zerschlagenen Wüsten zwei Milliarden Jahre lang unter der rücksichtslosen Erosion der staubigen Winde gelegen, die an jeder brüchigen Stelle zerrten und schliffen. Wenn man Wasser auf dieses knubblige Land gießen würde, käme dabei ein verrückter Fleckenteppich aus kurzen Strömen zustande, die von lokalen Neigungen zum nächsten randlosen Krater flössen. Kaum irgendwelche Ströme würden es bis zu dem Meer im Norden schaffen oder gar zu den Hellas- oder Argyre-Becken, die umringt von den Gebirgsketten ihrer eigenen Auswürfe im Landesinnern lagen.

Es gab aber einige Ausnahmen von dieser Situation. Auf die frühe (noachische) Zeit folgte eine kurze ›warmfeuchte‹ Periode in der hesperischen Zeit, die vielleicht nur einhundert Jahrmillionen währte und in der eine dichte warme Kohlendioxid-Atmosphäre ermöglicht hatte, daß flüssiges Wasser an die Oberfläche strömte und einige Flußbetten in die sanften Hänge des Plateaus grub, die sich zwischen Kratermoränen ihren Weg suchten. Und diese Wasserläufe waren natürlich, nachdem die Atmosphäre ausgefroren war, als leere Arroyos geblieben, die lediglich vom Wind erweitert wurden. Diese fossilen Flußbetten wie Nirgal Vallis, Warrego Valles, Protva Valles, Patana Valles oder Otis Vallis waren enge, gewundene Canyons, eher flußartig als Gräben oder Fossae. Ein paar von ihnen besaßen unreife Zuflußsysteme, darum benutzte die Planung eines groß angelegten Wasserscheidensystems für den Süden natürlich diese Canyons als primäre Wasserläufe, die von oben her durch die Zuflüsse vollgepumpt wurden. Dann gab es noch eine Anzahl alter Lavakanäle, die man leicht zu Flüssen machen konnte, da die Lava, genau wie das Wasser, auf seinem Weg nach unten den Weg des geringsten Widerstandes zu nehmen pflegte. Außerdem waren da noch etliche geneigte Bruchgräben und Spalten, wie am Fuße von Eridania Scopulus, die genauso genutzt werden konnten.

In der Konferenz wurden täglich auf großen Marsgloben verschiedene Wassersysteme aufgezeichnet. Es gab auch Räume voller topographischer 3D-Karten, in denen einzelne Gruppen herumstanden und über Vorzüge und Nachteile diverser Wasserscheidensysteme diskutierten oder auch nur ruhelos auf und ab gingen und darüber nachdachten, oder mit den Kontrollen herumspielten, um neue Lösungen zu finden. Nadia wanderte durch die Räume, schaute diese Hydrographien an und lernte viel über die Südhemisphäre, das sie bisher nicht gewußt hatte. Da war ein sechs Kilometer hoher Berg nahe dem Krater Richardson im fernen Süden. Auch die Südpolkappe lag recht hoch. Dorsa Brevia hingegen lag in einer Senke, die aussah wie ein aus dem Hellas-Aufprall geschnittener Strahl, ein Tal, so tief, daß ein See daraus werden mußte. Dieser Gedanke gefiel denen von Dorsa Brevia natürlich nicht. Das Gebiet konnte aber sicher dräniert werden, sollte man sich darum bemühen. Es gab Dutzende unterschiedlicher Pläne, und jedes einzelne System machte auf Nadia einen befremdlichen Eindruck. Sie hatte noch nie klar gesehen, wie sich ein durch Schwerkraft getriebenes Fraktal von zufälligen Impakten unterschied. In der rudimentären meteoritischen Landschaft war fast alles möglich, weil nichts auf der Hand lag — nichts außer der Tatsache, daß bei jedem möglichen System einige Kanäle und Tunnels gebaut werden müßten. Ihr neuer Finger juckte vor dem Verlangen, hier raus zu kommen und einen Bulldozer oder Tunnelbohrer zu steuern.

Allmählich nahmen die effizientesten, logisch oder ästhetisch ansprechendsten Pläne aus den Vorschlägen Gestalt an. Die für jede Region in Frage kommenden wurden in einer Art Mosaik zusammengeheftet. Im östlichen Quadranten des äußersten Südens tendierten die Ströme dazu, auf das Hellas-Becken hinzulaufen und schließlich durch einige Schluchten in das Hellas-Meer, was günstig war. Dorsa Brevia akzeptierte einen Plan, wonach der Grat des Lavatunnels ihrer Stadt eine Art Damm werden sollte, der eine Wasserscheide kreuzte, so daß sich ein See darüber und ein Fluß darunter befinden würde, der nach Hellas strömte. Um die südliche Polkappe herum würde fallender Schnee gefroren bleiben; aber die meisten Meteorologen sagten voraus, daß es nach dem Eintreten stabiler Verhältnisse nicht viel Schneefall in der Polregion geben würde und sich eine kalte Wüste bilden würde, ähnlich der Antarktis auf der Erde. Natürlich würde es schließlich zu einer großen Eiskappe kommen, und man würde etwas von dem Wasser schmelzen und wieder nach Norden pumpen müssen, vielleicht in das Hellas-Meer. Ähnliche Pumparbeiten würden im Argyre-Becken erforderlich sein, falls man sich dafür entscheiden sollte, Argyre trocken zu halten. Eine Gruppe gemäßigter Roter bestand vor dem Globalen Exekutivrat mit dem Argument darauf, daß eines der großen, mit Dünen gefüllten Impaktbecken auf dem Planeten erhalten bleiben müßte. Es schien sicher, daß dieser Anspruch vom Gerichtshof günstig aufgenommen werden würde. Darum mußten alle Wasserscheiden rings um Argyre das in Rechnung stellen.

Sax hatte einen eigenen Plan für Wasserscheiden entworfen, den er mit den übrigen zusammen zur Konferenz über den Bildschirm zur Beurteilung vorlegte, als ihre Rakete mit aerodynamischer Bremsung in den Orbit eintauchte. Dieser Plan sah ein Minimum an Oberflächenwasser vor, sah ausgiebig Tunnels vor und kanalisierte fast alles Drainagewasser in die fossilen Flußcanyons. Dabei würden weite Gebiete des Südens trockene Wüsten bleiben, so daß eine Hemisphäre aus trockenem Tafelland entstünde, das von ein paar engen Canyons mit Flußböden tief durchschnitten sein würde. In einem Anruf erklärte er Nadia: »Es wird wieder Wasser nach Norden geführt; und wenn man auf den Plateaus steht, wird es fast aussehen wie schon immer.«

Er sagte, daß es ihr bestimmt gefallen würde.

»Eine gute Idee«, sagte Nadia.

Und wirklich unterschied sich Saxens Plan nicht großartig von dem durch die Konferenz ausgearbeiteten Konsens. Feuchter Norden, trockener Süden, womit der großen Dichotomie ein neuer Dualismus hinzugefügt wäre. Und es war befriedigend, daß die alten Flußcanyons wieder Wasser führen sollten. Ein in Anbetracht des Terrains gut durchdachter Plan.

Aber die Tage, in denen Sax oder sonst jemand ein Projekt für das Terraformen aussuchen und dann hingehen und es ausführen konnte, waren längst vorbei. Nadia stellte fest, daß Sax das noch nicht ganz begriffen hatte. Schon ganz zu Anfang, als er mit Algen gefüllte Windmühlen in das Feld geschmuggelt hatte, ohne daß außer seinen Komplizen jemand etwas davon wußte oder zugestimmt hatte, pflegte er auf eigene Faust zu handeln. Das war eine eingefleischte Geisteshaltung; und jetzt schien er das Prüfungsverfahren seitens der Umweltämter zu vergessen, das jeder Plan über Wasserscheiden durchzumachen hatte. Aber es gab diesen Prozeß, der jetzt unvermeidbar war. Wegen der großen Geste waren die Hälfte der Richter am Globalen Exekutivrat Rote der einen oder anderen Schattierung. Jeder dahingehende Vorschlag aus einer Konferenz selbst mit Sax Russell als Teilnehmer aus der Entfernung würde genauer und mißtrauischer Kritik unterliegen.

Aber Nadia hatte den Eindruck, daß die Roten Richter, wenn sie den Vorschlag sorgfältig prüften, durch den Versuch von Sax erstaunt sein würden. Tatsächlich war dieser Sinneswandel fast wie ein DamaskusErlebnis — angesichts der Geschichte von Sax unerklärlich. Sofern man nicht alles darüber wußte. Aber Nadia verstand: Er wollte Ann einen Gefallen tun.

Nadia hielt das für möglich, wollte aber gern Saxens Versuch beobachten. »Ein Mann voller Überraschungen«, bemerkte sie Art gegenüber.

»Ein Gehirntrauma bringt so etwas mit sich.«

Auf jeden Fall hatten sie, als die Konferenz beendet war, eine ganze Hydrographie konstruiert, die alle künftigen größeren Seen, Flüsse und Ströme der Südhemisphäre verzeichnete. Dieser Plan würde schließlich mit ähnlichen Plänen für die Nordhemisphäre kollationiert werden müssen, die wegen der Ungewißheit, wie groß das Nordmeer sein würde, vergleichsweise beträchtlich ungeordnet waren. Es wurde kein Wasser mehr aus dem Permafrost und den Reservoiren gepumpt. Tatsächlich waren viele Pumpstationen im letzten Jahr durch Rote Guerilleros gesprengt worden. Aber einiges Wasser stieg immer noch unter dem Druck, den das bereits an die Oberfläche gepumpte Wasser auf das Land ausübte, auf. Und es floß auch im Sommer Wasser nach Vastitas herein, jedes Jahr mehr, sowohl von der nördlichen Polkappe wie von der Großen Böschung. Vastitas war das Auffangbecken für die großen Wasserscheiden auf allen Seiten. Darum mußte im Sommer eine Menge Wasser hineinströmen. Andererseits wurde durch die trockenen Winde immer viel Wasser mitgezogen, das dann irgendwo abregnete. Und Wasser pflegte viel schneller zu verdunsten, als das ständig vorhandene Eis sublimierte. Darum bestand der Arbeitstag eines Modellmachers darin, zu berechnen, wieviel verlorenging und wieviel wieder zurückkam. Auf der ganzen. Karte gab es Schätzungen, so daß Differenzen in der Vorhersage zu geschätzten Küstenlinien führten, die in manchen Fällen Hunderte von Kilometern auseinanderlagen.

Diese Unsicherheit pflegte, wie Nadia dachte, jeden Globalen Exekutivrat zu behindern, dessen Aufgabe es im Grunde war, alle laufenden Daten zu korrelieren und zu bewerten, ein Meeresniveau festzusetzen und dann alle Wasserscheiden entsprechend zu genehmigen. Es erschien an dieser Stelle speziell unmöglich, über das Schicksal des Argyre-Beckens zu entscheiden, ehe es einen Plan für den Norden gab. Einige Pläne verlangten, Wasser aus dem Nordmeer nach Argyre hochzupumpen, wenn es dort zu voll wurde, um eine Überflutung der Marineris-Canyons, Süd-Fossa und der neu im Bau befindlichen Häfen zu vermeiden. Radikale Rote drohten bereits damit, Siedlungen am Westufer‹ über ganz Argyre zu errichten, um jedem solchen Unternehmen zu begegnen.

Damit hatte der Globale Exekutivrat ein weiteres großes Problem zu lösen. Er wurde offenbar das wichtigste politische Gremium auf dem Mars. Mit der Verfassung und seinen vorangegangenen Gesetzen zur Führung beherrschte er fast jeden Aspekt ihres künftigen Lebens auf dem Mars. Nadia hielt das vermutlich auch für richtig oder fand wenigstens nichts Falsches dabei. Entscheidungen mit globalen Verzweigungen, die global beurteilt wurden, waren notwendig. Darauf lief es hinaus.

Aber unabhängig von zukünftigen Gerichtsentscheidungen — ein vorläufiger Plan für die südliche Hemisphäre war schließlich formuliert worden. Und zur allgemeinen Überraschung fand der Globale Exekutivrat sehr bald nach Vorlage zu einer positiven vorläufigen Beurteilung; denn er konnte, wie es hieß, stufenweise aktiviert werden, wenn im Süden Niederschläge fielen, und die ersten Stufen blieben fast unbeeindruckt davon, wie hoch das endgültige Meeresniveau im Norden sein würde. Daher gab es keinen Grund, den Beginn der konkreten Umsetzung weiter hinauszuschieben.

Art kam herein, strahlend über diese Nachricht.

»Wir können mit der Klempnerei anfangen«, verkündete er.


Aber Nadia konnte das natürlich nicht. Sie mußte wieder zu Sitzungen nach Sheffield zurückkehren. Es waren Entscheidungen zu treffen, und Leute mußten überzeugt oder gezwungen werden. Sie verrichtete verbissen diese Arbeit, ob sie ihr gefiel oder nicht. Im Lauf der Zeit wurde sie dabei immer besser und besser. Sie lernte, wie sie sanft Druck ausüben konnte, damit andere Leute in ihrem Sinne handelten und wie Menschen ihren Bitten entsprachen, wenn sie bestimmte Wünsche oder Anregungen äußerte. Der ständige Strom von Entscheidungen schliff manche ihrer Ansichten ab. Sie fand, daß es hilfreich war, zumindest einige bewußt eingehaltene politische Grundsätze zu haben, statt jeden Fall instinktiv zu lösen. Es half auch, verläßliche Verbündete zu besitzen, im Rat und anderswo, anstatt eine vermeintlich neutrale und unabhängige Person zu sein. Und so kam es allmählich dazu, daß sie sich den Bogdanovisten zuwandte, die zu ihrer Überraschung enger ihrer politischen Denkweise entsprachen als alle anderen Gruppierungen auf dem Mars. Natürlich war ihre Lesart von Bogdanovismus relativ einfach. Dinge sollten gerecht getan werden, wie Arkadij betont hatte, und alle sollten frei und gleich sein. Die Vergangenheit spielte keine Rolle. Sie mußten neue Formen erfinden, wo die alten unfair oder undurchführbar schienen. Der Mars war, wenigstens für sie, die einzige Realität, die zählte. Mit diesen Leitprinzipien fand sie es leichter, sich über Dinge klar zu werden, einen Kurs zu erkennen und direkt anzusteuern.

Sie wurde auch immer rücksichtsloser. Von Zeit zu Zeit empfand sie aufs neue, wie Macht korrumpieren konnte, spürte es wie einen leichten Ekel. Aber sie gewohnte sich daran. Sie stieß oft mit Ariadne zusammen; und wenn sie sich an die Gewissensbisse erinnerte, die sie bei ihrem ersten Gerangel mit der jungen Minoerin gehabt hatte, erschien ihr das lachhaft oder allzu überempfindlich. Sie war jetzt jeden Tag zäher gegenüber den Leuten, die ihr begegneten. Sie zeigte bei einer Sitzung nach der anderen in kalkulierten kleinen Ausbrüchen von Brutalität das Messer, was die Leute sehr wirksam auf Vordermann brachte. Und tatsächlich — je mehr sie es sich gestattete, kleine Ausbrüche von Wut und Ärger herauszulassen, desto sicherer konnte sie die Menschen kontrollieren und irgendwie nützlicher einsetzen. Sie war eine Macht, und die Leute wußten das, und Macht war ätzend. Macht war auch in mehr als einer Hinsicht stark. Nadia hatte deswegen nur sehr wenige Gewissensbisse. Im allgemeinen brauchten die Leute hin und wieder einen Nasenstüber. Sie hatten gedacht, eine harmlose alte Babuschka zu bekommen, die im großen Sessel saß, während sie untereinander ihre Spielchen spielten. Aber der große Sessel war der Sitz der Macht; und sie wäre dumm gewesen, wenn sie nicht all diesen Mist durchmachen und diese Macht nicht einsetzen würde, um das zu bekommen, was sie wollte.

Und so merkte sie immer seltener, wie häßlich das war. Als das einmal nach einem besonders harten Tage der Fall war, sank sie in einem Sessel zusammen und weinte fast, elend vor Mißmut. Es waren erst sieben Monate von ihren drei m-Jahren vergangen. Was würde sie werden, wenn ihr Pensum erledigt wäre? Sie hatte sich schon an die Macht gewöhnt. Bis dahin würde sie ihr vielleicht sogar gefallen.

Art, der durch all dies besorgt war, zwinkerte ihr am Frühstückstisch zu. Nachdem sie erklärt hatte, was sie bedrückte, sagte er einfach: »Nun, Macht ist Macht.« Seine Gedanken waren hart: »Du bist die erste Präsidentin des Mars. Also definierst du in gewisser Weise das Amt. Vielleicht solltest du erklären, daß du immer nur den jeweils ersten Monat des Marskalenders arbeiten wirst und nicht auch den zweiten, und die zweiten Monate jeweils an deinen Stab delegierst. Irgend etwas dieser Art.«

Sie starrte ihn an, den Mund voll mit Toast.

Später in dieser Woche verließ sie Sheffield und begab sich wieder nach Süden, zusammen mit einer Karawane von Leuten, die von Krater zu Krater zogen, um Drainagesysteme zu installieren. Jeder Krater war anders; aber im Grund kam es darauf an, den richtigen Winkel herauszufinden, der aus der Moräne hinausführte, und dann die Roboter in Gang zu setzen. Von Karman, Du Toit, Schmidt, Agassiz, Heaviside, Bianchini, Lau, Chamberlin, Stoney, Dokuchaev, Trumpler, Keeler, Charlier, Suess... Sie verrohrten alle diese Krater und viele namenslose dazu, obwohl die Krater schneller Namen bekamen, als sie sie anbohrten: 85 South, Too Dark, Fool’s Hope, Shanghai, Hiroko Slept Here, Fourier, Cole, Proudhon, Bellamy, Hudson, Kaif, 47 Ronin, Makoto, Kino Dokku, Ka Ko, Mondragon. Der Umzug vom einen Krater zum nächsten erinnerte Nadia an ihre Fahrten um die südliche Polkappe während der Jahre des Untergrundes. Nur fand jetzt alles offen statt, und während der Mittsommertage schwelgte das Team in der Sonne, im grellen Licht der Kraterteiche. Sie reisten durch rauhe gefrorene Sümpfe, die von sonnigem Schmelzwasser und Wiesengras schimmerten, und kreuzten natürlich immer die rostfarbene und schwarze Felsenlandschaft, die Ring um Ring und Spalte um Spalte ans Licht stieß. Sie verrohrten Krater und legten Leitungen durch Wasserscheiden und fügten den Schürfmaschinen Fabriken für Treibhausgase überall da hinzu, wo das Gestein irgendwelche Gasvorräte barg.

Aber kaum etwas davon erwies sich als eine Arbeit in dem Sinne, wie sie Nadia vorschwebte. Sie vermißte die alten Tage. Natürlich war das Bedienen eines Bulldozers keine schwere körperliche Arbeit gewesen; aber der Umgang mit der Schaufel war eine stark physische Tätigkeit gewesen und das ständige Schalten physisch anstrengend. Und es herrschte rundherum eine höhere Beflissenheit als bei dieser ›Arbeit‹, die darin bestand, zu Computern zu sprechen und dann umherzugehen und brummende und summende Teams hüfthoher Robotgraber, häuserblockhoher mobiler Fabrikeinheiten und Tunnelmaulwürfe mit Diamantzähnen zu beobachten, deren Zähne wie beim Haifisch nachwuchsen und aus biokeramisch-metallischen Legierungen bestanden, die stärker waren als das Aufzugskabel. Die Maschinerie lief ganz von alleine.

Das war es nicht, was sie erwartete.

Ein neuer Versuch. Sie durchlief einen anderen Zyklus. Rückkehr nach Sheffield, Betätigung in der Arbeit des Rates, zunehmender Widerwille, gemischt mit Verzweiflung, Ausschau nach irgend etwas, das sie da herausbringen könnte, Bemerken eines annehmbaren Projekts und Inangriffnahme desselben. Loslegen und prüfen. Wie Art gesagt hatte, konnte sie ungehindert handeln.

Bei der nächsten Pause interessierte sie sich für Böden. Art sagte: »Luft, Wasser, Erde. Das nächste Mal werden es Waldbrände sein, he?«

Aber sie hatte gehört, daß es in dem bogdanovistischen Vishniac Forscher gäbe, die Boden herzustellen versuchten; und das interessierte sie. So zog sie los und flog gen Süden nach Vishniac, wo sie seit Jahren nicht gewesen war. Art begleitete sie. »Es wird interessant sein zu sehen, wie sich die alten Städte des Untergrundes anpassen, jetzt, wo es nicht mehr nötig ist, sich zu verstecken.«

Als sie in die zerklüftete Region des Südpols flogen, sagte Nadia: »Um ehrlich zu sein, verstehe ich nicht, weshalb jemand hier unten bleibt. So weit im Süden herrscht ewiger Winter. Sechs Monate ganz ohne Sonne. Wer würde da bleiben wollen?«

»Sibirier.«

»Kein Sibirier, der richtig bei Verstand ist, würde hierher ziehen. Die wissen es besser.«

»Also dann Lappen oder Inuit. Leute, die die Pole lieben.«

»Das nehme ich an.«

Wie sich zeigte, schienen niemandem in Vishniac Bogdanov die Winter etwas auszumachen. Sie hatten den Abraumhügel ihres Moholes ringförmig um das Mohole selbst angelegt und damit ein riesiges rundes Amphitheater geschaffen das auf das Mohole ausgerichtet war. Dieses terrassierte Amphitheater sollte das Vishniac an der Oberfläche werden. Während der Sommer wäre es eine grüne Oase und in den dunklen Wintern eine weiße Oase. Sie beabsichtigten es mit Hunderten heller Straßenlaternen zu erleuchten und sich dadurch eine Art Bühnenbild zu schaffen in einer Stadt, die sich rings um eine runde Lücke selbst betrachtet oder von der oberen Mauer auf das frostige Chaos der polaren Gebirge blickt. Nein, keine Frage, sie würde nicht bleiben. Der Ort gehörte jenen Leuten.

Nadia wurde am Flughafen als Ehrengast begrüßt wie immer, wenn sie sich bei Bogdanovisten aufhielt. Zuvor hatte sie das als lächerlich und sogar etwas aggressiv empfunden: Freundin des Gründers! Aber jetzt nahm sie ihr Anerbieten einer Gästesuite an, die am Rande des Moholes mit einem leicht überhängenden Fenster, das einen Blick direkt in die Tiefe über achtzehn Kilometer erlaubte, lag. Die Lichter auf dem Boden des Moholes sahen aus wie durch den Planeten hindurchscheinende Sterne.

Art war starr vor Entsetzen, nicht wegen der Aussicht, sondern bloß wegen des Gedankens daran, und er wollte sich ihr nicht weiter als durch die Hälfte des Raums nähern. Nadia lachte ihn aus und schloß die Vorhänge, als sie sich sattgesehen hatte.

Am nächsten Tag ging sie hinaus, um die Bodenforscher zu besuchen, die sich über ihr Interesse freuten. Sie wollten unabhängig sein, sich selbst ernähren; und das wurde, ohne mehr Land schwierig, als immer mehr Siedler in den Süden zogen. Sie fanden aber heraus, daß die Herstellung von Boden zu den schwierigsten technischen Aufgaben zählte, die sie sich jemals gestellt hatten. Nadia war überrascht, das zu hören. Schließlich waren dies doch die Vishniac-Labors, in der Welt bei technisch getragenen Ökologien führend, die Jahrzehnte lang in einem Mohole versteckt gelebt hatten. Und Ackerkrume war — na ja — Boden. Vermutlich Dreck mit Zusätzen und Beischlägen, die man noch dazutun konnte.

Zweifellos brachte sie etwas von diesem Urteil gegenüber den Bodenforschern zum Ausdruck; und der Mann namens Arne, der sie herumführte, teilte ihr etwas gereizt mit, daß Boden wirklich sehr komplex wäre. Ungefähr fünf Gewichtsprozent davon bestand aus Lebewesen, nämlich dichte Populationen von Nematoden, Würmern, Mollusken, Arthropoden, Insekten, Arachniden, kleinen Säugetieren, Schwämmen, Protozoen, Algen und Bakterien. Die Bakterien allein umfaßten mehrere tausend verschiedene Arten und konnten pro Gramm Boden bis zu hundert Millionen Individuen zählen. Und die anderen Mitglieder der Mikrogemeinschaft waren fast ebenso reichlich in Zahl und Mannigfaltigkeit.

Derart komplexe Ökologien konnten nicht einfach auf die Art hergestellt werden, wie Nadia sich das eingebildet hatte: daß man die Ingredienzen separat züchtete und dann wie einen Kuchen in einem Mixer zusammenmischte. Aber sie kannten nicht alle Ingredienzen und konnten einige davon nicht züchten; und manche, bei denen das gelang, starben bei der Vermischung. »Würmer sind besonders empfindlich. Auch Nematoden machen Schwierigkeiten. Das ganze System neigt dazu zusammenzubrechen, wobei uns nur Mineralien und tote organische Substanzen verbleiben. Das nennt man dann Humus. In der Herstellung von Humus sind wir sehr gut. Aber Ackerkrume muß wachsen.«

»So wie in der Natur?«

»Richtig. Wir können nur versuchen, ihn schneller wachsen zu lassen, als es von Natur aus geschieht.

Wir können ihn nicht zusammensetzen oder in großen Mengen herstellen. Und viele der lebendigen Bestandteile wachsen am besten im Humus selbst. Darum ist es ein Problem, Organismen, die den Grundstock bilden, schneller zu beschaffen, als die natürliche Bodengestaltung sie liefern würde.«

»Hmm«, machte Nadia.

Arne führte sie durch ihre Labors und Gewächshäuser, die voller zylindrischer Bottiche oder Rohre waren, in Gestellen, alle mit Boden oder dessen Komponenten gefüllt. Das war experimentelle Agronomie; und Nadia vermochte nach ihrer Erfahrung mit Hiroko nur sehr wenig davon zu verstehen. Die esoterischen Dinge der Wissenschaft überstiegen ihr Fassungsvermögen. Aber sie begriff, daß man fabrikmäßige Versuche anstellte, in denen die Bedingungen in jedem Bodenkörper variierten, und verfolgte, was geschah. Arne zeigte ihr eine einfache Formel, die die allgemeinsten Aspekte des Problems beschrieb:


S=/(PM,C,R,B,T)

die besagte, daß jede Bodeneigenschaft S ein Faktor / der halbunabhängigen Variablen ist, nämlich Elternmaterial (PM)/ Klima (C), Topographie oder Relief (R), Flora und Fauna (B) und Zeit (T). Die Zeit war natürlich der Faktor, den sie beschleunigen wollten. Und das Elternmaterial war bei ihren meisten Versuchen der überall vorhandene Ton an der Oberfläche des Mars. Klima und Topographie wurden manchmal verändert, um verschiedene Feldbedingungen zu simulieren. Aber am meisten variierten sie die biotischen und organischen Elemente. Das bedeutete MikroÖkologie der raffiniertesten Art; und je mehr Nadia darüber lernte, desto schwieriger erschien ihr das Vorhaben — nicht so sehr Konstruktion als vielmehr Alchimie. Viele Elemente mußten einen Bodenzyklus durchmachen, um als Wachsmedium für Pflanzen zu dienen; und jedes Element hatte seinen eigenen speziellen Zyklus, der durch eine unterschiedliche Kombination von Agenzien angetrieben wurde. Es gab die Makro-Nährstoffe: Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Phosphor, Schwefel, Kalium, Calcium und Magnesium; dann die Mikro-Nährstoffe Eisen, Mangan, Zink, Kupfer, Molybdän, Bor und Chlor. Keiner dieser Nahrungszyklen war geschlossen. Es gab auch Verluste durch Sickern, Erosion, Abernten und Ausgasen. Die Inputs waren ebenso vielfältig, einschließlich Absorption, Verwitterung, Einwirkung von Mikroben und Anwendung von Düngemitteln. Die Bedingungen, die es ermöglichten, daß alle diese Elemente ihre Zyklen durchliefen, waren so vielfältig, daß verschiedene Böden jeden Zyklus in unterschiedlichem Maße aussichtsreich erscheinen ließen. Jede Bodenart hatte spezielle ph-Werte, Salzgehalte, Kompaktheiten und so fort. Darum gab es allein in diesen Labors Hunderte benannter Böden und noch Tausende mehr unten auf der Erde.

Natürlich bildete in Vishniac-Labors das Elternmaterial vom Mars die Basis der meisten Experimente. Äonen von Staubstürmen hatten dieses Material auf dem ganzen Planeten wiederverarbeitet, bis es überall fast die gleiche Zusammensetzung hatte. Der typische Marsboden bestand aus feinen Partikeln, hauptsächlich Silizium und Eisen. An der Oberfläche war es oft lockeres Treibmaterial. Darunter hatten unterschiedliche Grade von Zementation zwischen den Partikeln ein krustiges Material gebildet, das um so klumpiger wurde, je tiefer man grub.

Tone, mit anderen Worten Smektite, ähnlich dem Montmorilonit und Nontromit der Erde, mit Zusatz von Materialien wie Talkum, Quarz, Hämatit, Anhydrit, Dieserit, Clacit, Beidelit, Rutil, Gips, Maghämit und Magnetit. Und alles war von amorphen Eisenoxihydroxiden und anderen mehr kristallinen Eisenoxiden umschlossen, die für die rötlichen Farben verantwortlich waren.

Das war also ihr universelles Elternmaterial: eisenreicher Smektit-Ton. Dessen locker gepackte und geschichtete Struktur bedeutete, daß es Wurzeln trug und ihnen dennoch Raum zum Wachstum bot. Aber es gab darin keine Lebewesen, zu viele Salze und zu wenig Stickstoff. Also bestand ihre Aufgabe im wesentlichen darin, Elternmaterial zu sammeln, Salz und Aluminium herauszuziehen und Stickstoff und die biotische Gemeinschaft so schnell wie möglich hinzuzufügen. So gesehen war das einfach. Aber der Ausdruck ›biotische Gemeinschaft bereitete eine ganze Welt von Schwierigkeiten. »Mein Gott, das ist so, als ob man diese Regierung in Funktion zu setzen versuchen würde«, sagte Nadia eines Abends zu Art. »Die haben große Schwierigkeiten.«

In der Praxis fügten die Leute dem Ton einfach Bakterien hinzu und dann Algen und andere Mikroorganismen, danach Flechten und halophyllische Pflanzen. Dann hatten sie gewartet, bis diese Biogemeinschaften den Ton in Humus verwandelt hatten, was viele Generationen von Leben und Sterben erforderte. Das funktionierte immerhin. Aber es ging sehr langsam. Eine Gruppe in Sabishii hatte geschätzt, daß — über die ganze Oberfläche gemittelt — ein Zentimeter Ackerkrume in jedem Jahrhundert geschaffen wurde. Und das hatte man unter Einsatz ingenieurgenetisch erzeugter Populationen, die auf größte Geschwindigkeit gezüchtet waren, geschafft.

In den Treibhausfarmen andererseits waren die verwendeten Böden durch Nährstoffe, Düngemittel und Impfstoffe aller Art stark ergänzt worden. Das Resultat entsprach in etwa dem, was diese Forscher beabsichtigt hatten; aber die Bodenmenge in den Treibhäusern war winzig im Vergleich mit den Mengen, die sie auf die Oberfläche ausbringen wollten. Ihr Ziel war ein Boden für die Massenproduktion. Aber sie mußten sich intensiver mit der Materie befassen, als sie erwartet hatten, das war nicht zu übersehen. Alle hatten sie diese gequälte, erstarrte Miene eines Hundes, der an einem Knochen, von dem er schon längst eingesehen hat, daß er zu groß für ihn ist, aber dennoch nicht davon ablassen kann, weiter zu versuchen, ihn zu verschlingen.

Die bei diesen Problemen beteiligten Disziplinen der Biologie, Chemie, Biochemie und Ökologie lagen weit außerhalb von Nadias Fachwissen, und es gab nichts, was sie hätte vorschlagen können. In vielen Fällen konnte sie nicht einmal die hineinspielenden Prozesse verstehen. Das war keine Konstruktion, ja nicht einmal die Analogie einer Konstruktion.

Aber sie mußten doch zumindest eine Konstruktion realisieren bei einer der von ihnen versuchten Produktionsmethoden; und hier war Nadia wenigstens imstande zu verstehen, auf was es ankam. Sie konzentrierte sich auf diesen Aspekt. Sie schaute nach dem mechanischen Entwurf der Bodenproben und auch den Tanks für die lebenden Bestandteile des Bodens. Sie studierte die molekulare Struktur der Elterntone, um zu sehen, ob sie ihr irgendeine Anregung geben würde, wie man damit arbeitete. Sie stellte fest, das die Smektite des Mars Aluminiumsilikate waren. Das bedeutete, daß jede Einheit des Tons eine Schicht von Aluminium-Oktaedern besaß, die zwischen zwei Schichten von Silizium-Tetraedern verpackt waren. Die verschiedenen Arten der Smektiten hatten unterschiedliche Variationsanteile in diesem allgemeinen Muster. Und je größer diese Abweichungen waren, umso leichter konnte Wasser in die Flächen der Zwischenschichten einsickern. Montmorillonit, der häufigste Smektit auf dem Mars, hatte viele Spielarten und war daher für Wasser sehr empfänglich. Er dehnte sich im feuchten Zustande aus und schrumpfte bis zum Zerbrechen, wenn er trocken war.

Nadia fand das interessant. »Schau, wie wäre es mit einer Bodenprobe«, sagte sie zu Arne, »die mit einer Matrix aus zuführenden Adern gefüllt ist, welche die Biota durch das ganze Elternmaterial verteilen würden?« Sie fuhr fort, man sollte einen Klumpen von Elternmaterial nehmen, ihn anfeuchten und dann trocknen lassen. In die rissigen Systeme die Matrix der zuführenden Adern einbringen. Dann allerlei wichtige Bakterien und andere Bestandteile zum Wachsen hinzufügen. Danach könnten die Bakterien und anderen Kreaturen sich ihren Weg aus den zuführenden Adern herausfressen und das Material auf ihrem Weg hinaus verdauen. So würden sie dann alle in dem Ton wechselwirken. Das wäre eine heikle Zeit. Ohne Zweifel würden viele Versuche nötig sein, um die anfänglichen Mengen der verschiedenen Biota zu kalibrieren, die erforderlich wären, um übermäßige Vermehrungen oder Zusammenbrüche der Population zu vermeiden. Aber man könnte sie dazu bringen, sich in ihren gewöhnlichen Gemeinschaften zu etablieren; und dann hätte man plötzlich lebendigen Boden. »Es gibt derartige Systeme zuführender Adern bei gewissen sich schnell setzenden Baumaterialien; und ich höre gerade, daß Ärzte auf die gleiche Weise eine Apatit-Paste in gebrochene Knochen injizieren. Die Zuführ-Adern macht man aus Protein-Gelen, die für jede Substanz geeignet sind, die sie enthalten sollen, eingeschmolzen in die entsprechenden tubularen Strukturen.«

Eine Matrix für Wachstum. Arne sagte, das wäre wert, sich damit zu befassen. Nadia lächelte, als sie das hörte. Sie ging an diesem Nachmittag in glücklicher Stimmung umher und rief Art, als sie ihn abends traf, zu: »He! Ich habe heute etwas geleistet!«

»Gut!« sagte Art. »Dann laß uns ausgehen und feiern!«


Leicht getan, in Bogdanov Vishniac. Natürlich, es war schließlich eine Stadt der Bogdanovisten und so heiter wie Arkadij selbst. Jeden Abend eine Party. Sie hatten oft an der Abendpromenade teilgenommen; und Nadia liebte es, an der Brüstung der höchsten Terrasse entlangzugehen. Das Gefühl, Arkadij könnte dort irgendwo sein, hatte irgendwie überdauert. Und nie mehr als an diesem Abend, als ein Stück getaner Arbeit gefeiert wurde. Sie hielt Arts Hand und schaute nach unten und hinüber zu den dicht gefüllten unteren Terrassen mit ihren Feldern, Obstgärten, Teichen, Sportplätzen, Alleen und bogenförmigen Plazas, die besetzt waren von Cafes, Bars, Tanzpavillons und lautstarken Bands. Die Menge drängte sich darum. Manche tanzten, aber der größte Teil der Leute machten wie Nadia einen Abendspaziergang. All das noch unter einer Kuppel, die man eines Tages entfernen zu können hoffte. Inzwischen war es warm; und die jungen Eingeborenen trugen fremdartige Bekleidung aus Pantalons, Kopfputz, Schärpen, Westen und Halsbänder, so daß Nadia an die Videofilme von dem Empfang Nirgals und Mayas in Trinidad erinnert wurde. War das ein Zufall, ober bedeutete es, daß sich bei den jungen Leuten irgendeine interplanetare Kultur anbahnte? Und falls ja, bedeutete dies, daß ihr Cojote, der aus Trinidad stammte, unsichtbar die zwei Welten erobert hatte? Oder posthum ihr Arkadij? Arkadij und Cojote, die Könige der Kultur. Sie mußte bei diesem Gedanken grinsen und nahm Schlückchen aus Arts Becher mit heißem Kavajava, dem bevorzugten Getränk in dieser kalten Stadt, und beobachtete alle die jungen Leute, die sich wie Engel bewegten, immer tanzend, ganz gleich, was sie taten, und über die graziösen Bogen von Terrasse zu Terrasse strömten. »Welch große kleine Stadt!« war Arts Kommentar.

Und dann trafen sie auf ein altes Foto von Arkadij, das eingerahmt an einer Wand neben einer Tür hing. Nadia blieb stehen und ergriff Art am Arm: »Das ist er! Das ist er, wie er leibt und lebt!«

Das Foto war aufgenommen worden, als er mit jemanden sprach. Er stand vor einer Kuppelwand und gestikulierte. Haar und Bart standen vom Kopf ab und verschmolzen mit einer Landschaft, die genau die Farbe seiner wilden Locken hatte. Es sah aus wie ein Bild, das aus einer Bergflanke herauskommt. Blaue Augen blinzelten im Glanz all der roten Fröhlichkeit. »Ich habe nie ein Foto gesehen, das ihm so ähnlich war. Er mochte es nicht, wenn eine Kamera auf ihn gerichtet war, und das Bild wurde dann meistens schlecht.«

Sie starrte das Bild an und merkte, daß sie errötete und sich seltsam glücklich fühlte. Eine derart lebensechte Begegnung! Als ob man plötzlich jemanden trifft, den man seit Jahren nicht gesehen hat. »Ich finde, daß du ihm ähnelst. Aber entspannter.«

Art sah sich das Foto genau an und sagte: »Es sieht so aus, als ob es schwierig wäre, noch entspannter zu sein.«

Nadia lächelte. »Für ihn war das leicht. Er war sich immer sicher, recht zu haben.«

»Keiner von uns übrigen hat dieses Problem.«

Sie lachte. »Du bist fröhlich, wie er war.«

»Warum auch nicht?«

Sie gingen weiter. Nadia dachte weiter an ihren alten Kameraden und behielt das Foto im Geiste vor Augen. Es gab noch so viel, an das sie sich erinnerte. Die mit den Erinnerungen verbundenen Gefühle verblaßten freilich allmählich, der Schmerz ließ nach, die Beize wurde ausgelaugt. All das Fleisch und Trauma war jetzt nur noch ein fernes Muster — wie ein Fossil. Und ganz unähnlich dem gegenwärtigen Moment, der, wenn sie sich umsah und ihre Hand in der von Art fühlte, real, lebendig und kurz war und sich ständig veränderte. Es konnte alles mögliche geschehen, alles wurde empfunden.

»Gehen wir in unser Zimmer zurück?«


Die vier Erdreisenden kamen schließlich an dem Kabel von Sheffield zurück. Nirgal, Maya und Michel gingen ihrer Wege, aber Sax flog nach unten und traf sich mit Nadia und Art im Süden. Das erfreute Nadia außerordentlich. In ihr war allmählich der Eindruck entstanden, daß dort, wohin Sax auch immer ging, das Herz der Aktion schlug.

Er sah noch genau so aus wie vor der Reise zur Erde und war, wenn eine Veränderung festzustellen war, höchstens noch schweigsamer und wunderlicher geworden. Er sagte, er wolle die Labors sehen. Und dann, nach einiger Zeit: »Aber ich überlege, was wir sonst noch tun könnten.«

»Terraformen?« fragte Art.

»Nun gut... «

Um Ann eine Freude zu machen, dachte Nadia. Das war seine Absicht. Sie drückte ihn an sich, was ihn überraschte; und hielt ihre Hand auf seiner mageren Schulter, während sie redeten. Es war so gut/ihn leibhaftig hier zu haben! Wann hatte sie diese Neigung für Sax Russell entwickelt? Wann war sie dazu gekommen, ihm so sehr zu vertrauen?

Auch Art hatte herausgefunden, was sie meinte. Er sagte: »Du hast doch schon eine Menge geleistet, nicht wahr? Ich meine, du hast inzwischen alle monströsen Methoden der Metanats ausgeräumt, nicht? Die Wasserstoffbomben unter dem Permafrost, die Soletta und die Luftlinse, die Stickstofftransporte vom Titan...«

»Diese kommen immer noch«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, wie wir sie aufhalten könnten. Vermutlich abschießen. Aber Stickstoff können wir immer gebrauchen. Ich bin mir nicht sicher, daß ich mich so freuen würde, wenn die eingestellt würden.«

»Aber Ann?« sagte Nadia. »Was würde Ann gefallen?«

Sax zwinkerte wieder. Wenn sein Gesicht durch Ungewißheit verzerrt wurde, nahm es wieder seinen alten rattenhaften Ausdruck an.

»Was würde euch beiden gefallen?« fragte Art erneut.

»Schwer zu sagen.« Und seine Miene wurde zu einer Grimasse aus Unsicherheit, Unentschlossenheit und geteilten Motiven.

Art deutete an: »Ihr wollt Wildnis haben.«

»Wildnis ist eine... eine Idee. Oder ein ethischer Standpunkt. Die kann nicht überall sein, das meine ich nicht. Aber...« Sax wedelte mit der Hand und versank wieder in seinen Gedanken. Zum ersten Mal in dem Jahrhundert, seit Nadia ihn kannte, hatte sie das Gefühl, Sax wüßte nicht, was zu tun wäre. Er löste das Problem, indem er sich vor einen Bildschirm hockte und Befehle eingab. Er schien ihre Anwesenheit vergessen zu haben.

Nadia drückte Arts Arm. Er umklammerte ihre Hand und drückte sanft den kleinen Finger. Der war inzwischen schon zu drei Vierteln seiner Größe gediehen, wuchs aber nun langsamer, als er sich der vollen Größe näherte. Ein Nagel bildete sich aus, und in dem Polster zeigten sich die zarten Rillen eines Fingerabdrucks. Es war ein angenehmes Gefühl, wenn er gedrückt wurde. Nadia sah Art kurz in die Augen und senkte dann den Blick. Er drückte ihre Hand, dann ließ er sie los. Nach einer Weile, als klar war, daß Sax völlig abgelenkt war und sich längere Zeit in seiner eigenen Welt befinden würde, gingen sie auf Zehenspitzen in ihr Zimmer und ins Bett.


Sie arbeiteten tagsüber und gingen nachts aus. Sax zwinkerte umher wie in seinen Tagen als Labor-Ratte. Er war besorgt, weil es keine Nachricht von Ann gab. Nadia und Art trösteten ihn, so gut sie konnten, was nicht viel war. An den Abenden gingen sie auf die Promenade. Es gab einen Park, wo Eltern mit kleinen Kindern zusammenkamen und die Leute vorbeigingen wie an einem kleinen Zoogehege, grinsend über die kleinen Primaten beim Spiel. Sax verbrachte in diesem Park Stunden in Gesprächen mit Kindern und Eltern; und dann pflegte er zu den Tanzflächen weiterzuschlendern, wo er selbst stundenlang tanzte. Art und Nadia hielten Händchen. Der Finger wurde kräftiger. Er hatte jetzt fast seine volle Größe erreicht, und in Anbetracht dessen, daß es sowieso der kleine Finger war, sah er schon ausgewachsen aus, wenn sie ihn nicht gerade neben sein Gegenstück hielt. Art knabberte bei ihrem Liebesspiel gelegentlich sanft daran, und das machte sie wild. Sie knurrte: »Erzähl bloß Leuten nichts von diesem Effekt, sonst könnte es schrecklicherweise dazu führen, daß Menschen sich Körperteile abhacken, um sie nachwachsen zu lassen und dadurch empfindsamer zu machen!«

»Blödsinn!«

»Du weißt, wie die Leute sind. Für einen Kick geben sie alles.«

»Sprich ja nicht darüber!«

»Okay.«


Aber dann war es Zeit, wieder zu einer Ratsversammlung zu gehen. Sax reiste ab, um Ann zu finden — oder sich vor ihr zu verstecken. Das konnte man nicht genau sagen. Sie flogen wieder nach Sheffield. Nadia war also wieder da, und jeder Tag wurde in Zeitabschnitte von lähmenden dreißig Minuten aufgeteilt. Außer es gab etwas Wichtiges. Das Ersuchen der Chinesen um einen weiteren Raumaufzug bei Schiaparelli war akut geworden. Und das war eines von vielen Einwanderungsthemen, mit denen sie konfrontiert waren. Die in Bern ausgearbeitete Übereinkunft zwischen den UN und dem Mars besagte ausdrücklich, daß der Mars alljährlich mindestens zehn Prozent seiner Bevölkerung an Einwanderern aufnehmen müßte, wobei die Hoffnung ausgedrückt wurde, daß es noch mehr sein würden — so viel wie möglich —, solange die hypermalthusianischen Verhältnisse der Überbevölkerung andauerten. Nirgal hatte das als eine Art von Versprechen gemacht und sehr enthusiastisch (und wie Nadia fühlte, unrealistisch) davon gesprochen, daß der Mars der Erde zu Hilfe kommen würde und sie durch Geschenke freien Landes vor Überbevölkerung bewahren würde. Aber wie viele Menschen konnte der Mars wirklich aufnehmen, wenn sie nicht einmal ausreichend Boden herstellen konnten? Wie groß war überhaupt das Fassungsvermögen des Mars?

Das wußte niemand, und es gab kein überzeugendes Verfahren, das wissenschaftlich zu berechnen. Schätzungen der Aufnahmefähigkeit der Erde hatten zwischen 100 Millionen und 200 Billionen gelegen; und selbst die ernstlich vertretbaren Schätzungen bewegten sich zwischen zwei und dreißig Milliarden. In Wahrheit war die Aufnahmefähigkeit ein sehr unscharfer abstrakter Begriff, der von einer ganzen Menge verflochtener Komplexitäten abhing wie der Biochemie des Bodens, der Ökologie und der menschlichen Kultur. Daher war es fast unmöglich zu sagen, mit wie vielen Menschen der Mars zurechtkommen könnte. Inzwischen betrug die Erdbevölkerung mehr als fünfzehn Milliarden, während der Mars mit fast ebenso viel Landfläche eine tausendfach geringere Population hatte, gerade um fünfzehn Millionen. Die Ungleichheit war augenfällig. Es mußte etwas geschehen.

Massentransport von Menschen von der Erde zum Mars war sicher eine Möglichkeit. Aber die Transfergeschwindigkeit wurde durch die Größe des Transportsystems begrenzt und durch die Fähigkeit des Mars, die Einwanderer zu absorbieren. Jetzt argumentierten die Chinesen und überhaupt die UN allgemein, daß sie als einen ersten Schritt in dem Prozeß intensivierter Immigration das Transportsystem in großem Stil ausbauen könnten. Ein zweiter Raumaufzug auf dem Mars wäre der erste Schritt in diesem vielstufigen Projekt.

Die Reaktion auf diesen Plan war auf dem Mars meistens negativ. Die Roten widersetzten sich natürlich weiterer Immigration und opponierten — obwohl sie einräumten, daß etwas passieren müßte — gegen jede spezifische Weiterentwicklung des Transfersystems, nur um den Prozeß möglichst zu verlangsamen. Diese Position paßte zu ihrer allgemeinen Philosophie und erschien Nadia sinnvoll. Indessen war die Opposition des Freien Mars zwar wichtiger, aber nicht so klar. Nirgal war vom Freien Mars gekommen und war zur Erde gegangen und hatte den Terranern eine allgemeine Einladung überbracht, sie sollten so viele Leute herüberschicken, wie sie könnten. Und historisch hatte der Freie Mars sich immer für starke Bande mit der Erde eingesetzt, um die sogenannte Strategie, wonach ›der Schwanz mit dem Hund wedelt‹, zu versuchen. Aber der derzeitigen Führerschaft schien diese Position nicht besonders zu gefallen. Und Jackie befand sich inmitten dieser neuen Gruppe. Sie hatten sich schon während des Verfassungskongresses zu einem mehr isolationistischen Standpunkt verlagert, wie sich Nadia erinnerte, und immer für mehr Unabhängigkeit von der Erde plädiert. Andererseits machten sie offenbar privatim Geschäfte mit gewissen Ländern der Erde. Daher war die Position des Freien Mars zwiespältig und vielleicht sogar heuchlerisch. Sie schien darauf abzuzielen, ihre Macht in der politischen Szenerie zu vergrößern.

Aber selbst wenn man den Freien Mars beiseite ließ, gab es da draußen viel isolationistische Stimmung. Neben den Anarchisten tendierten einige Bogdanovisten, die matriarchistischen Leute von Dorsa Brevia und die von Mars Zuerst hierin nach der Seite der Roten. Sie alle argumentierten, wenn Millionen und Abermillionen Terraner auf den Mars zu strömen begännen, was würde dann aus dem Mars werden — nicht bloß aus der Landschaft, sondern auch der Kultur des Mars, die sich im Laufe der m-Jahre herausgebildet hatte? Würde die nicht in den alten Wegen untergehen, die der neue Zustrom mit sich brächte, der rasch die eingeborene Bevölkerung an Zahl übertreffen dürfte? Die Geburtenraten sanken doch überall, und kinderlose Familien und Familien mit einem Kind waren auf dem Mars so verbreitet wie auf der Erde. Daher wäre wohl kein großes Anwachsen der eingeborenen Population zu erwarten. Sie würde zahlenmäßig bald an den Rand gedrängt werden.

So argumentierte Jackie, zumindest in der Öffentlichkeit, und die von Dorsa Brevia und viele andere stimmten ihr zu. Nirgal, eben zurück von der Erde, schien in dieser Situation keinen großen Einfluß zu haben. Und während Nadia verstehen konnte, worauf es ihren Opponenten ankam, fühlte sie auch, daß es angesichts der Lage auf der Erde unrealistisch wäre zu denken, sie könnten den Mars einfach dichtmachen. Der Mars konnte die Erde nicht retten, wie Nirgal während seines Besuches dort anscheinend manchmal verkündet hatte; aber es war ein Abkommen mit den UN geschlossen und ratifiziert worden. Darum waren sie verpflichtet, mindestens so viele Terraner hereinzulassen, wie der Vertrag festlegte. Darum mußte die Brücke zwischen den Welten erweitert werden, wenn sie dieser Verpflichtung nachkommen und den Vertrag erfüllen wollten. Andernfalls, so dachte Nadia, könnte alles mögliche passieren.

Aus diesen Gründen sprach sich Nadia in der Debatte über die Genehmigung eines zweiten Kabels dafür aus. Es erhöhte die Kapazität des Transportsystems, so wie sie versprochen hatten, wenn auch nur indirekt. Und es würde auch von den Städten auf Tharsis und jener Seite des Mars allgemein etwas von dem Druck nehmen. Karten der Bevölkerungsdichte zeigten, daß Pavonis wie das Zentrum einer Zielscheibe war, mit Menschen, die von ihm nach draußen strebten und sich so nahe wie angängig dabei niederließen. Wenn man ein Kabel auf der anderen Seite der Welt hätte, würde das helfen, etwas auszugleichen.

Aber für die Gegner des Kabels war das ein zweifelhafter Nutzen. Die wollten eine lokalisierte, zusammengehaltene Bevölkerung und ein verlangsamtes Wachstum. Der Vertrag interessierte sie wenig. Als es daher im Rat zu einer Abstimmung kam, die ohnehin für die Legislative nur eine Empfehlung sein konnte, stimmte nur Zeyk mit Nadia. Das war Jackies bisher größter Sieg, der sie in eine zeitweilige Allianz mit Irishka und dem Rest der Umweltgerichtshöfe versetzte, die prinzipiell gegen alle Formen einer raschen Entwicklung waren.

Nadia kam an diesem Tag entmutigt und bekümmert in ihr Apartment zurück. »Wir haben der Erde versprochen, eine Menge Einwanderer aufzunehmen, und dann die Zugbrücke hochgezogen. Das wird zu Unannehmlichkeiten führen.«

Art nickte. »Wir werden etwas ausarbeiten müssen.«

Nadia stieß enttäuscht einen tiefen Seufzer aus. »Arbeit. Wir werden nichts ausarbeiten. Arbeit ist nicht das richtige Wort dafür. Wir werden feilschen und hadern und streiten und meckern. Ich werde immer weitermachen. Ich dachte, daß Mrgal zurück ist, würde helfen; aber das nützt nichts, wenn er nicht mitmacht.«

»Er hat keine Position inne«, gab Art zu bedenken.

»Die könnte er aber haben, wenn er wollte.«

»Stimmt.«

Nadia dachte darüber nach. Ihre Gedanken wanderten, während ihre Stimmung sank.

»Du weißt, ich habe erst zehn Monate von meiner Amtszeit hinter mir. Es stehen mir noch zweieinhalb m-Jahre bevor.«

»Ich weiß.«

»m-Jahre sind so verdammt lang.«

»Ja. Aber die Monate sind kurz.«

Sie fauchte ihn an und blickte aus dem Fenster ihres Apartments in die Caldera von Pavonis hinunter. »Die Schwierigkeit ist, daß Arbeit keine Arbeit mehr ist. Du weißt, wir gehen von hier hinaus und beteiligen uns an diesen Projekten, und die Arbeit daran ist noch keine Arbeit. Ich meine, ich komme nie dazu, Dinge zu tun. Ich erinnere mich, in Sibirien, als ich jung war, da war Arbeit noch wirkliche Arbeit.«

»Vielleicht siehst du das etwas romantisch.«

»Nun ja, sicher. Aber auch auf dem Mars. Ich entsinne mich, wie ich Underhill zusammengesetzt habe. Das hat wirklich Spaß gemacht. Und eines Tages auf unserem Ausflug zum Nordpol, um eine Permafrostgalerie zu installieren...« Sie seufzte. »Was würde ich nicht für eine solche Arbeit geben!«

»Es sind immer noch viele Bauarbeiten im Gange«, erklärte Art.

»Durch Roboter.«

»Vielleicht könntest du dich wieder etwas mehr Menschlichem zuwenden. Baue selbst etwas. Ein Haus auf dem Land oder ein Erschließungsprojekt. Oder eine der neuen Hafenstädte, von Hand errichtet, um verschiedene Designs, Bauverfahren oder was auch immer auszuprobieren. Das würde den Bauvorgang verlangsamen. Dafür würde der Globale Exekutivrat aufkommen.«

»Vielleicht. Du meinst, nach Ende meiner Amtszeit.«

»Oder sogar davor. Bei Pausen, oder wenn du auf Reisen bist. Die sind alle so etwas Ähnliches wie Konstruktionen gewesen, wenn auch nicht gerade Bauten. Das Erbauen realer Dinge. Das mußt du versuchen und dann zurückkehren und zwischen den beiden pendeln.«

»Interessenkonflikt.«

»Nicht, wenn es ein offizielles Projekt ist. Wie wäre es mit dem Vorschlag, eine globale Hauptstadt unten auf Meeresniveau zu bauen?«

»Hmm«, machte Nadia. Sie holte eine Karte heraus, und sie brüteten darüber. Auf der Linie der Länge Null krümmte sich die Südküste des Nordmeeres zu einer kleinen runden Halbinsel mit einer Kraterbucht im Zentrum. Sie lag etwa auf halber Strecke zwischen Tharsis und Elysium. »Wir müssen hinfahren und es uns ansehen.«

»Ja. Hier, komm ins Bett! Wir können später darüber sprechen. Ich habe jetzt eine ganz andere Idee.«


Einige Monate später flogen sie von Bradbury Point wieder nach Sheffield zurück, und Nadia erinnerte sich an dieses Gespräch mit Art. Sie bat den Piloten, an einer kleinen Station nördlich des Kraters Sklodowska auf dem Abhang des Kraters Zm, genannt Zoom, zu landen. Als sie auf die Rollbahn niedergingen, sahen sie im Qsten eine große, jetzt mit Eis bedeckte Bucht. Ihr gegenüber lagen die rauhe Gebirgsgegend von Mamers Valliso und die Deuteronilus Mensae. Die Bucht war ein Einschnitt in die Große Böschung, die hier recht sanft war. Länge 0°, Breite 46° Nord. Also ziemlich weit im Norden, aber die nördlichen Winter waren im Vergleich mit den südlichen milde. Sie konnten einen großen Teil des Eismeeres längs einer langen Küstenlinie sehen. Die Zoom umgebende Halbinsel war hoch und glatt. Die kleine Station an der Küste war das Heim von ungefähr fünfhundert Menschen, die dort draußen mit Bulldozern, Kränen, Baggern und Schürfgeräten arbeiteten. Nadia und Art stiegen aus, schickten das Flugzeug weg, nahmen ein Zimmer in einem Gasthaus und verbrachten ungefähr eine Woche bei den Leuten dort mit Gesprächen über die neue Siedlung. Die Einwohner hatten von dem Vorschlag gehört, hier an der Bucht eine neue Hauptstadt zu bauen. Manchen gefiel der Gedanke, manchen nicht. Sie hatten daran gedacht, ihre Siedlung wegen ihrer Länge Greenwich zu nennen, hatten aber gehört, daß die Briten den Namen ›Green Witch‹ aussprachen und waren dadurch verunsichert und sagten dann ›Greenich‹. Vielleicht einfach London. Sie sagten, sie würden sich etwas ausdenken. Die Bucht selbst hieß, wie sie sagten, schon lange Chalmers Bay.

»Wirklich?« rief Nadia. Sie lachte. »Wie perfekt!«

Sie war von der Landschaft schon sehr angetan. Die konische Moräne von Zoom, die Wölbung der großen Bucht, roter Fels über weißem Eis und vermutlich eines Tages auch über blauer See. Während der Tage ihres Besuchs zogen ständig mit dem Westwind Wolken vorbei und sprenkelten Land und Eis mit ihren Schatten. Manchmal gab es aufgeblähte weiße Cumuluswolken, die wie Galeonen vorbeizogen, zu anderen Zeiten rollten Muster wie Heringsgräten über ihren Köpfen dahin und markierten das dunkle Himmelsgewölbe über ihnen und das kurvenreiche felsige Land unter ihnen. Es könnte eine kleine hübsche Stadt sein, an einer Bucht wie San Francisco oder Sidney, ebenso schön wie diese, nur kleiner, in menschlichem Maßstab und in Bogdanovistischer Architektur von Hand erbaut. Und manA könnte daran arbeiten wie an einem Kunstwerk. Während sie mit Art an den Küsten des Eismeeres lange Spaziergänge unternahm, sprach Nadia durch ihre CO2-Maske über ihre Ideen, während sie zusah, wie die Wolkenparade in der dumpf brausenden Luft dahingaloppierte.

»Sicher, das würde gehen«, sagte Art. »Es wird sowieso eine Stadt werden, darauf kommt es an. Es ist eine der besten Buchten an diesem Küstenstrich und muß darum auch als Hafen genutzt werden. So würdest du nicht jene Art von Hauptstadt bekommen, die einfach ins Niemandsland gepflanzt wurde wie Canberra, Brasilia oder Washington, D.C. Sie wird als Seehafen ein ganz anderes Leben haben.«

»Sehr richtig. Das wäre prima.« Nadia ging erregt von diesem Gedanken weiter und fühlte sich besser, als sie es seit Monaten getan hatte. Die Bestrebung, anderswo als in Sheffield eine Hauptstadt zu erstellen, war stark und wurde von fast jeder Partei da oben unterstützt. Diese Bucht war bereits von den Sabishiiern vorgeschlagen worden; und es wäre bloß die Unterstützung einer bereits existierenden Idee, anstatt dem Volk eine neue aufzuzwingen. Die Unterstützung würden sie haben. Und bei einem Vorhaben öffentlicher Arbeit würde sie an dem Bau voll mitmachen können. Das war ein Teil der Gaben-Ökonomie. Vielleicht würde es ihr auch möglich sein, auf die Planung Einfluß auszuüben. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr reizte sie die Aufgabe.

Sie waren längs der Küste der Bucht weit gegangen. Jetzt kehrten sie um und machten sich auf den Weg zurück in die kleine Niederlassung. Wolken wälzten sich bei steifem Wind über ihnen dahin. Die Kurve des roten Landes grüßte zur See hin. Direkt unter der Wolkendecke befiederte ein offenes V schreiender Gänse den Wind in Richtung Norden.


Später an diesem Tage flogen sie nach Sheffield zurück. Art ergriff ihre Hand und hielt sie fest, um ihren Finger zu untersuchen. Er sagte zögernd: »Du weißt, die Gründung einer Familie wäre auch ein Bauvorhaben, das viel körperlichen Einsatz erfordert.«

»Was?«

»Und man hat sich über Fortpflanzung ziemlich viele Gedanken gemacht.«

»Was?«

»Ich sagte, so lange du lebst, kannst du recht viele Kinder haben, so oder so.«

»Was?«

»So redet man eben. Falls du wolltest, könntest du es machen.«

»Nein.«

»So sagt man.«

»Nein.«

»Es wäre vielleicht keine schlechte Idee.«

»Nein!« »Nun, du weißt selbst, Bauen — ist gewiß etwas Großartiges; aber man kann nicht ewig mit der Klempnerei weitermachen, Rohre verlegen, Nägel einschlagen, mit Bulldozern arbeiten — das ist natürlich alles interessant, wie ich annehme, aber dennoch... Wir müssen eine Menge Zeit ausfüllen. Und die einzige Arbeit, die wirklich auf lange Sicht wahrzunehmen wäre, ist das Aufziehen eines Kindes, nicht wahr?«

»Nein, das mache ich nicht!«

»Hast du überhaupt schon mal ein Kind gehabt?«

»Nein.«

»Also los!«

»O Gott!«

Ihr Phantomfinger juckte. Aber jetzt war er wirklich da.

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