Für Priscilla,

Penny, Ellen, Jim und Tim


Juli



1


Ken Dolby stand am Instrumentenpult, und seine langen Finger strichen zärtlich über die Schalthebel seiner Isabella. Er wartete, kostete den Moment noch ein wenig aus, schloss dann eine Sicherheitsabdeckung an der Konsole auf und legte einen kleinen roten Hebel um.

Kein Summen ertönte. Kein Geräusch wies darauf hin, dass der teuerste wissenschaftliche Apparat auf Erden soeben eingeschaltet worden war. Nur im dreihundert Kilometer entfernten Las Vegas wurden die glitzernden Lichter einen Hauch schwächer.

Während Isabella warm lief, spürte Dolby nun ihre leichte Vibration durch den Fußboden. Er stellte sich die Maschine stets als Frau vor, und in seinen phantasievolleren Augenblicken hatte er sich sogar ausgemalt, wie sie aussah – groß und schlank, mit muskulösen Schultern, schwarz wie die Wüstennacht, schimmernd vor Schweißperlen. Isabella. Diese Gedanken teilte er mit niemandem – wozu sich lächerlich machen? Für die übrigen Wissenschaftler, die an dem Projekt arbeiteten, war Isabella ein Ding, ein unbelebter Apparat, gebaut zu einem bestimmten Zweck. Aber Dolby hatte die Maschinen, die er erschuf, schon immer mit einer gewissen Zärtlichkeit be trachtet – seit er mit zehn Jahren sein erstes Radio aus einem Bausatz gebastelt hatte. Fred. So hatte das Radio geheißen. Und wenn er an Fred dachte, sah er einen dicken weißen Mann mit karottenrotem Haar. Der erste Computer, den er gebaut hatte, hieß Betty – die in seiner Vorstellung aussah wie eine forsche, tüchtige Sekretärin. Er konnte nicht erklären, weshalb seine Maschinen eine solche Persönlichkeit annahmen – es war einfach so.

Und nun diese hier, der leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger der Welt… Isabella.

»Wie sieht’s aus?«, fragte Hazelius, der Teamleiter, der nun zu ihm trat und ihm freundlich die Hand auf die Schulter legte.

»Schnurrt wie ein Kätzchen«, sagte Dolby.

»Gut.« Hazelius richtete sich auf und wandte sich an das gesamte Team. »Kommen Sie bitte mal alle her, ich habe Ihnen etwas zu sagen.«

Es wurde still, als die anderen erwartungsvoll von ihren Arbeitsplätzen aufstanden. Hazelius durchquerte den kleinen Raum und stellte sich vor dem größten Plasmabildschirm auf. Klein, dünn und rastlos wie ein Nerz im Käfig lief er kurz vor dem Bildschirm hin und her, bevor er sich mit strahlendem Lächeln dem Team zuwandte. Dolby staunte immer wieder über die charismatische Ausstrahlung dieses Mannes.

»Meine lieben Freunde«, begann Hazelius und blickte mit türkisblauen Augen in die Runde. »Wir schreiben das Jahr vierzehnhundertzweiundneunzig. Wir stehen am Bug der Santa Maria und beobachten den endlosen Horizont des Meeres, wenige Augenblicke, bevor die Küste der Neuen Welt in Sicht kommt. Heute ist der Tag, an dem wir über diesen unbekannten Horizont hinaussegeln und am Ufer unserer eigenen Neuen Welt anlanden werden.«

Er griff in seine handgefertigte Chapman-Tasche, die er stets mit sich herumtrug, und zog eine Flasche Veuve Clicquot hervor. Mit blitzenden Augen hielt er sie wie eine Trophäe hoch und knallte sie dann auf den Tisch. »Die ist für später, heute Abend, wenn wir den ersten Schritt auf den Strand getan haben. Denn heute Abend werden wir Isabella auf hundert Prozent hochfahren.«

Diese Ankündigung wurde schweigend aufgenommen. Kate Mercer, die stellvertretende Leiterin des Projekts, sprach als Erste. »Hatten wir nicht geplant, erst drei Durchläufe mit fünfundneunzig Prozent zu fahren?«

Hazelius erwiderte lächelnd ihren Blick. »Ich bin ungeduldig. Du etwa nicht?«

Mercer strich sich das glänzende schwarze Haar zurück. »Was, wenn wir eine unbekannte Resonanz erzeugen oder ein Schwarzes Mini-Loch?«

»Deine eigenen Berechnungen weisen nach, dass dieser Fall mit eins zu einer Quadrillion extrem unwahrscheinlich ist.«

»Meine Berechnungen könnten falsch sein.«

»Deine Berechnungen sind nie falsch.« Hazelius lächelte und wandte sich Dolby zu. »Was meinen Sie? Ist sie so weit?«

»Worauf Sie sich verlassen können.«

Hazelius breitete fragend die Hände aus. »Na dann?«

Alle im Raum wechselten Blicke. Sollten sie es riskieren? Wolkonski, der russische Programmierer, brach das Eis. »Ja, machen wir’s!« Er klatschte dem verblüfften Hazelius gegen die erhobene Hand, und dann fingen alle damit an, sich gegenseitig auf die Schultern zu klopfen, die Hände zu schütteln und einander zu umarmen wie eine Basketballmannschaft vor dem Spiel.


Fünf Stunden und ebenso viele Tassen schlechten Kaffees später stand Dolby vor dem riesigen Flachbildschirm. Er war noch dunkel – die Protonen-und Antiprotonen-Strahlen waren noch nicht miteinander in Kontakt gebracht worden. Es dauerte ewig, die Maschine hochzufahren und Isabellas supraleitende Magneten herunterzukühlen, die gewaltige Stromstärken aushalten mussten. Dann konnte die Leistung nur in Fünf-Prozent-Schritten gesteigert werden, da man ständig die Strahlen fokussieren und kollimieren, die supraleitenden Magneten überprüfen und diverse Testprogramme laufen lassen musste, ehe man wiederum um fünf Prozent steigern konnte.

»Neunzig Prozent«, verkündete Dolby.

»Jesus, Scheiße«, sagte Wolkonski irgendwo hinter ihm und versetzte der Kaffeemaschine einen Schlag, dass sie klapperte wie der Zinnmann aus dem Zauberer von Oz. »Schon wieder leer!«

Dolby verkniff sich ein Lächeln. Während der zwei Wochen, die sie hier auf der Mesa verbracht hatten, hatte Wolkonski sich als Klugscheißer entpuppt – ein fauler, gammeliger Kerl ohne Manieren, dem zu viel Geld in den Hintern geschoben wurde; er hatte langes, fettiges Haar, trug zerrissene T-Shirts, und an seinem Kinn klebte ein Klümpchen Bart, das an Schamhaar erinnerte. Er sah eher aus wie ein Drogensüchtiger denn wie ein brillanter Software-Spezialist. Aber vielleicht waren die alle so.

Ein weiteres gelassenes Ticken der Uhr.

»Strahlen ausgerichtet und fokussiert«, sagte Rae Chen. »Schwerpunktsenergie beträgt vierzehn Tera-Elektronenvolt.«

»Isabella macht gut«, sagte Wolkonski.

»Bei mir ist alles grün«, sagte Cecchini, der Teilchenphysiker.

»Sicherheit, Mr. Wardlaw?«

Der Sicherheitsbeauftragte, Wardlaw, meldete von seiner Überwachungskonsole: »Nur Kakteen und Kojoten, Sir.«

»Also schön«, sagte Hazelius. »Es ist so weit.« Er machte eine dramatische Pause. »Ken? Bringen Sie die Strahlen zur Kollision.«

Dolby spürte, wie sein Herz einen Satz machte. Er legte die spinnenartigen Finger an die Konsole und justierte die Regler; seine Berührung war so feinfühlig wie die eines Pianisten. Dann tippte er rasch einige Befehle auf der Tastatur.

»Kontakt.«

Auf einen Schlag erwachten die riesigen Flachbildschirme überall um sie herum zum Leben. Ein beinahe singendes Geräusch hing plötzlich in der Luft, das von überall und nirgends zu kommen schien.

»Was ist das?«, fragte Mercer erschrocken.

»Eine Billion Partikel, die durch die Detektoren geblasen werden«, sagte Dolby. »Die Kühlung erzeugt hohe Vibrationen.«

»Himmel, das hört sich an wie der Monolith aus Odyssee im Weltraum

Wolkonski gackerte wie ein Affe. Alle ignorierten ihn.

Ein Bild erschien auf dem zentralen Monitor, dem sogenannten Visualizer. Dolby starrte wie gebannt darauf. Es sah aus wie eine riesige Blume – flackernde, farbige Strahlen, die von einem einzigen Punkt ausgingen und sich verzerrten und wanden, als wollten sie sich von dem Bildschirm losreißen. Ehrfürchtig stand er vor diesem Bild intensivster Schönheit.

»Kontakt erfolgreich«, sagte Rae Chen. »Strahlen kollimiert. Lieber Himmel, das war perfekt!«

Freudenrufe und vereinzeltes Händeklatschen ertönten.

»Meine Damen und Herren«, sagte Hazelius, »willkommen in der Neuen Welt.« Er deutete auf den Visualizer. »Sie sehen vor sich eine Energiedichte, wie es sie seit dem Urknall in diesem Universum nicht mehr gegeben hat.« Er wandte sich Dolby zu. »Ken, bitte die Leistung in Zehntelschritten auf neunundneunzig erhöhen.«

Das ätherische Summen wurde noch ein wenig lauter, als Dolby sich an der Tastatur zu schaffen machte. »Sechsundneunzig«, sagte er.

»Schwerpunktsenergie siebzehn Komma vier TeV«, sagte Chen.

»Siebenundneunzig … Achtundneunzig.«

Angespanntes Schweigen senkte sich über das Team, einzig das Summen erfüllte nun den unterirdischen Kontrollraum; es klang, als singe der Berg um sie herum.

»Strahlen noch im Fokus«, sagte Chen. »Schwerpunktsenergie zweiundzwanzig Komma fünf TeV.«

»Neunundneunzig.«

Isabellas Summen klang immer höher und reiner.

»Moment mal«, sagte Wolkonski und beugte sich über die Workstation des Supercomputers. »Isabella ist … langsam.«

Dolby fuhr herum. »Mit der Hardware ist alles in Ordnung. Das muss eine weitere Software-Panne sein.«

»Software ist keine Problem«, sagte Wolkonski.

»Vielleicht sollten wir hier aufhören«, sagte Mercer. »Irgendwelche Hinweise auf Entstehung eines Schwarzen Mini-Lochs?«

»Nein«, antwortete Chen. »Keine Spur von Hawking-Strahlung.«

»Neunundneunzig Komma fünf«, sagte Dolby.

»Ich bekomme hier einen Teilchenjet von zweiundzwanzig Komma sieben«, sagte Chen.

»Welcher Art?«, fragte Hazelius.

»Eine unbekannte Resonanz. Seht euch das mal an.«

An der Blume auf dem Visualizer hatten sich zwei flackernde rote Halbkreise gebildet, wie zwei verrückte Clownsohren.

»Inelastische Streuung«, sagte Hazelius. »Gluonen vielleicht. Könnte ein Anzeichen von Kaluza-Klein-Gravitation sein.«

»Unmöglich«, sagte Chen. »Nicht bei dieser Schwerpunktsenergie.«

»Neunundneunzig Komma sechs.«

»Gregory, ich glaube, wir sollten nicht weiter hochfahren«, sagte Mercer. »Hier passiert auf einmal alles Mögliche.«

»Natürlich sehen wir unbekannte Resonanzen«, sagte Hazelius, der nicht lauter sprach als die anderen, dessen Stimme aber dennoch besonders deutlich klang. »Wir stoßen in unbekanntes Terrain vor.«

»Neunundneunzig Komma sieben«, verkündete Dolby. Er hatte volles Vertrauen in seine Maschine. Er konnte sie auf hun dert Prozent bringen und darüber hinaus, falls nötig. Er fand die Vorstellung aufregend, dass sie gerade fast ein Viertel der Turbinenleistung des Hoover-Staudamms auffraßen. Deshalb mussten sie ihre Versuche auch mitten in der Nacht durch führen – wenn alle anderen am wenigsten Strom brauchten.

»Neunundneunzig Komma acht.«

»Wir haben hier eine richtig große, unbekannte Wechselwirkung«, meldete Mercer.

»Was los, du Stück Scheiße?«, brüllte Wolkonski den Computer an.

»Ich sage euch, wir nähern uns gerade einem Kaluza-Klein-Raum an«, sagte Chen. »Das ist unglaublich.«

Auf dem großen Monitor mit der Blume begann es zu schneien.

»Isabella machte komisch«, sagte Wolkonski.

»Inwiefern?«, fragte Hazelius von seinem Standpunkt in der Mitte des Kontrollraums.

»Klebrig wie Muschi.«

Dolby verdrehte die Augen. Wolkonski war echt das Letzte. »Bei mir ist alles klar.«

Wolkonski hackte wütend auf der Tastatur herum, fluchte dann auf Russisch und schlug heftig mit der flachen Hand gegen seinen Monitor.

»Gregory, meinst du nicht, wir sollten sie herunterfahren?«, drängte Mercer.

»Noch eine Minute«, sagte Hazelius.

»Neunundneunzig Komma neun«, sagte Dolby. Sämtliche Augen im Raum, vor fünf Minuten noch schlaftrunken, waren nun weit aufgerissen. Nur Dolby war ganz entspannt.

»Ich sage, Kate hat recht«, erklärte Wolkonski. »Gefällt mir nicht, wie Isabella macht. Wir starte Abschaltsequenz.«

»Ich übernehme die volle Verantwortung«, sagte Hazelius. »Wir sind noch locker innerhalb der Spezifikationen. Der Datenstrom von zehn Terabits pro Sekunde ist ihr ein bisschen zu happig, weiter nichts.«

»Happig? Was sein happig?«

»Hundert Prozent Leistung«, sagte Dolby mit einem Hauch Selbstzufriedenheit in der entspannten Stimme.

»Schwerpunktsenergie beträgt siebenundzwanzig Komma eins acht zwei acht TeV«, meldete Chen.

Schneeflocken sprenkelten die Monitore. Das singende Summen erfüllte den Raum wie eine Stimme aus dem Jenseits. Die Blume auf dem Visualizer waberte und dehnte sich aus. Ein schwarzer Punkt, wie ein Loch, erschien in der Mitte.

»Ho!«, rief Chen. »Verlust sämtlicher Daten für K-Null.«

Die Blume flackerte. Dunkle Streifen schossen hindurch.

»Das ist verrückt«, sagte Chen. »Ich mache keine Witze, die Daten verschwinden.«

»Nicht möglich«, erwiderte Wolkonski. »Daten nicht verschwinden. Teilchen ist verschwindet.«

»So ein Blödsinn. Teilchen verschwinden hier nicht.«

»In Ernst, Teilchen ist verschwindet.«

»Software-Problem?«, fragte Hazelius.

»Keine Software-Problem«, sagte Wolkonski laut. »Hardware-Problem.«

»Fick dich ins Knie«, brummte Dolby.

»Gregory, Isabella zerstört vielleicht gleich die D-Brane«, sagte Mercer. »Ich finde wirklich, wir sollten jetzt abschalten.«

Der schwarze Punkt wuchs, dehnte sich aus und begann, das Bild auf dem Monitor zu verschlucken. An den Rändern flimmerten wie verrückt intensive Farben.

»Die Zahlen sind irre«, sagte Chen. »Ich habe eine Raum-Zeit-Krümmung genau bei K-Null. Sieht aus wie irgendeine Singularität. Vielleicht erschaffen wir gerade ein Schwarzes Loch.«

»Unmöglich«, sagte Alan Edelstein, der Mathematiker im Team, und blickte von der Workstation in der Ecke auf, über die er sich die ganze Zeit über still gebeugt hatte. »Es gibt keinerlei Hinweis auf Hawking-Strahlung.«

»Ich schwöre bei Gott«, rief Chen, »wir reißen gerade ein Loch in die Raumzeit!«

Auf dem Monitor, der die Daten in Echtzeit anzeigte, rasten die Symbole und Zahlen durch wie ein Expresszug. Auf dem großen Monitor über ihnen war die pulsierende Blume verschwunden und hatte ein schwarzes Nichts hinterlassen. Dann entstand Bewegung in dieser Leere – gespenstisch, fledermausartig. Überrascht starrte Dolby hinauf.

»Verdammt, Gregory, abschalten!«, rief Mercer.

»Isabella reagiert nicht Input!«, brüllte Wolkonski. »Ich verlieren Core Routines!«

»Einen Moment noch, bis wir herausfinden, was hier los ist«, sagte Hazelius.

»Weg! Isabella weg!«, schrie der Russe, warf die Hände in die Höhe und ließ sich mit einem angewiderten Ausdruck auf dem knochigen Gesicht in seinen Sessel fallen.

»Bei mir ist immer noch alles im grünen Bereich«, sagte Dolby. »Es kann sich nur um einen massiven Software-Fehler handeln.« Er wandte sich wieder dem Visualizer zu. Ein Bild erschien nun in der Leere, so seltsam, so schön, dass er es zuerst gar nicht begreifen konnte. Er blickte sich um, doch niemand sonst sah es; alle waren auf ihre eigenen Kontrollpulte konzentriert.

»He, entschuldigt mal – weiß jemand, was das da auf dem Monitor sein soll?«, fragte Dolby.

Niemand antwortete ihm. Niemand blickte auf. Alle arbeiteten wie besessen. Die Maschine gab einen seltsamen Gesang von sich.

»Ich bin ja nur der Ingenieur«, sagte Dolby, »aber hat eines von euch Theorie-Genies eine Ahnung, was das ist? Alan, ist das … normal?«

Alan Edelstein blickte beiläufig von seiner Workstation auf. »Das sind nur Zufallsdaten«, sagte er.

»Was soll das heißen, Zufallsdaten? Das Ding hat doch eine Form!«

»Der Computer spinnt. Das können nur noch Zufallsdaten sein.«

»Für mich sieht das aber gar nicht zufällig aus.« Dolby starrte den Monitor an. »Es bewegt sich. Da ist etwas, ich sage es euch – es sieht beinahe lebendig aus, als würde es versuchen, da herauszukommen. Gregory, sehen Sie das?«

Hazelius blickte zu dem Visualizer auf, stutzte und machte ein überraschtes Gesicht. Er drehte sich um. »Rae? Was ist denn mit dem Visualizer los?«

»Keine Ahnung. Ich bekomme ständig kohärente Daten von den Detektoren. Bei mir sieht es nicht so aus, als sei Isabella abgestürzt.«

»Wie würden Sie das Ding auf dem Monitor interpretieren?«

Chen blickte auf, und ihre Augen weiteten sich. »Himmel. Ich habe keine Ahnung.«

»Es bewegt sich«, sagte Dolby. »Es … Na ja, ich glaube, es wird deutlicher.«

Die Detektoren sangen, und ihr hohes Summen ließ den Raum vibrieren.

»Rae, das ist nur Datenschrott«, erwiderte Edelstein. »Der Computer ist abgestürzt – wie könnte er da noch echte Daten liefern?«

»Ich weiß nicht, ob das wirklich Schrott ist«, sagte Hazelius, der immer noch den Monitor anstarrte. »Michael, was meinen Sie?«

Der Teilchenphysiker starrte wie gebannt auf das Bild. »Das verstehe ich nicht. Die Farben und Formen korrespondieren überhaupt nicht mit irgendwelchen Teilchenladungen oder -klassen. Es ist nicht mal radial um K-Null zentriert – sieht aus wie eine seltsame, magnetisch gebundene Plasmawolke.«

»Ich sage euch«, drängte Dolby, »es bewegt sich, es kommt heraus. Das ist wie ein … Herrgott, was zum Teufel ist das?« Er kniff fest die Augen zu, kämpfte gegen Kopfschmerz und Erschöpfung. Vielleicht hatte er schon Halluzinationen. Er öffnete die Augen. Das Ding war immer noch da – und dehnte sich weiter aus.

»Abschalten! Sofort Isabella abschalten!«, schrie Mercer.

Plötzlich war nur noch flimmernder Grieß zu sehen, dann wurde der Monitor pechschwarz.

»Was zur Hölle …?«, rief Chen und tippte hektisch auf ihrer Tastatur herum. »Ich habe keinen Zugriff mehr!«

Mitten auf dem Monitor erschienen langsam zwei Worte. Schweigen senkte sich über die Gruppe, alle starrten hinauf. Sogar Wolkonski, der vor Aufregung recht laut geworden war, verstummte mitten im Wort. Niemand rührte sich.

Dann begann Wolkonski zu lachen, ein angespanntes, schrilles Lachen, hysterisch, verzweifelt.

Dolby packte die Wut. »Du Scheißkerl, du hast das getan.«

Wolkonski schüttelte den Kopf, dass seine fettigen Locken flogen.

»Findest du das etwa komisch?«, fragte Dolby und stand mit geballten Fäusten von seiner Workstation auf. »Du beschissener Hacker ruinierst ein Vierzig-Milliarden-Dollar-Projekt und findest das komisch?«

»Ich nichts hacken«, sagte Wolkonski und wischte sich den Mund ab. »Halt deine Maul.«

Dolby drehte sich zu den anderen um. »Wer war das? Wer hat an Isabella herumgespielt?« Dann drehte er sich wieder zu dem Visualizer um und las laut die beiden Worte vor, die dort in der Schwärze hingen – vor lauter Wut spuckte er sie förmlich aus. »SEID GEGRÜSST.«

Er wandte sich ab. »Ich bringe den Scheißkerl um, der das getan hat.«


September



2


Wyman Ford blickte sich im Büro von Dr. Stanton Lockwood III. um, dem wissenschaftlichen Berater des Präsidenten, der seinen Amtssitz in der 17th Street hatte. Aus langjähriger Erfahrung in Washington wusste Ford, dass ein solches Büro zwar stets so eingerichtet war, dass es den äußeren Eindruck, die öffentliche Persona eines Menschen, repräsentierte, doch irgendetwas darin verriet einem immer auch ein wenig über die wahre Persönlichkeit. Ford ließ den Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach diesem Geheimnis.

Das Büro war in dem Stil eingerichtet, den Ford als »WWMM« bezeichnete – Wichtiger Washingtoner Machtmensch. Die Antiquitäten waren sämtlich echt und von allerbester Qualität, von dem Schreibtisch im Stil des zweiten Empire, so mächtig und hässlich wie ein Hummer-Jeep, bis hin zu der vergoldeten französischen Kaminuhr und dem dezenten Sultanabad-Teppich. Alles in diesem Raum hatte ein verdammtes Vermögen gekostet. Und natürlich war da noch die obligatorische Wand, an der gerahmte Diplome, Ehrenurkunden, Auszeichnungen und Fotos des Büroinhabers mit diversen Präsidenten, Botschaftern und Mitgliedern der Regierung zur Schau gestellt wurden.

Stanton Lockwood wollte, dass die Welt ihn als bedeutenden und wohlhabenden Mann wahrnahm, einflussreich, aber diskret. Doch Ford nahm vor allem wahr, wie grimmig Lockwood sich um diesen Eindruck bemühte. Hier hatte er es mit einem Mann zu tun, der wild entschlossen war, etwas zu sein, das er nicht ist.

Lockwood wartete, bis sein Gast Platz genommen hatte, bevor er sich auf dem Sessel auf der anderen Seite der Sitzecke niederließ. Er schlug ein Bein über und strich mit langen, weißen Fingern über die Bügelfalte seiner Hose. »Sparen wir uns die üblichen Washingtoner Formalitäten«, sagte er. »Nennen Sie mich Stan.«

»Wyman.« Er lehnte sich zurück und musterte Lockwood: gutaussehend, Ende fünfzig, mit einem Hundert-Dollar-Haarschnitt, die Fitnessstudio-Figur in einem anthrazitfarbenen Anzug bestens zur Geltung gebracht. Vermutlich Squashspieler. Sogar das Foto auf dem Schreibtisch von drei perfekten, flachsblonden Kindern mit ihrer attraktiven Mutter wirkte so individuell wie die Aktienfonds-Werbung einer Bank.

»Also«, begann Lockwood in einem Kommen-wir-zur-Sache-Tonfall. »Ich habe nur das Beste über Sie gehört, Wyman, von Ihren ehemaligen Kollegen in Langley. Dort bedauert man Ihren Weggang sehr.«

Ford nickte.

»Es ist schrecklich, was Ihrer Frau zugestoßen ist. Mein aufrichtiges Beileid.«

Ford zwang seinen Körper, sich nicht zu versteifen. Er wusste bis heute nicht, wie er damit umgehen sollte, wenn jemand seine verstorbene Frau erwähnte.

»Man hat mir berichtet, Sie hätten zwei Jahre in einem Kloster verbracht.«

»Fast drei Jahre.«

»Aber das Leben im Kloster war dann doch nichts für Sie?«

»Nur ganz spezielle Menschen eignen sich wirklich zum Mönch.«

»Sie haben also das Kloster verlassen und sich selbständig gemacht.«

»Man muss schließlich von irgendetwas leben.«

»Und, schon interessante Fälle?«

»Überhaupt keinen Fall bisher. Sie sind mein erster Klient – falls es bei dieser Besprechung um einen Auftrag geht.«

»So ist es. Ich habe eine besondere Aufgabe für Sie, und Sie müssten sofort anfangen. Ich werde Sie zehn Tage brauchen, vielleicht auch zwei Wochen.«

Ford nickte.

»Es gibt da einen kleinen Haken, den ich lieber gleich offen ansprechen möchte. Sobald ich Ihnen Einzelheiten über diesen Auftrag genannt habe, dürfen Sie ihn nicht mehr ablehnen. Ihr Einsatzgebiet befindet sich in den Vereinigten Staaten, es besteht keinerlei Risiko, und der Auftrag wird nicht schwer zu erfüllen sein – zumindest meiner Ansicht nach. Aber ob Sie es schaffen oder versagen, Sie dürfen niemals darüber sprechen, also fürchte ich, Sie werden Ihre Referenzenliste nicht damit schmücken können.«

»Und die Bezahlung?«

»Einhunderttausend Dollar in bar, unter der Hand, plus ein offizielles Honorar nach G-elf, Ihrem verdeckten Einsatz angemessen.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Wollen Sie mehr hören?«

Er zögerte nicht. »Nur zu.«

»Sehr schön.« Lockwood zog eine Aktenmappe aus dem Stapel. »Wie ich sehe, haben Sie in Harvard einen Abschluss in Ethnologie gemacht. Wir brauchen einen Ethnologen.«

»Dann fürchte ich, dass ich doch nicht der Richtige für Sie bin. In Ethnologie habe ich nur den Bachelor gemacht. Dann bin ich ans MIT und habe dort in Kybernetik promoviert. Bei meiner Tätigkeit für die CIA hatte ich es hauptsächlich mit Kryptologie und Computern zu tun.«

Lockwood machte eine wegwerfende Handbewegung, wobei sein Princeton-Ring im Licht aufblitzte. »Nicht wichtig. Sagt Ihnen das, äh, Isabella-Projekt etwas?«

»Wer hätte davon noch nicht gehört?«

»Dann verzeihen Sie, wenn ich etwas wiederhole, was Sie vielleicht schon wissen. Isabella wurde vor über zwei Monaten fertiggestellt – für insgesamt vierzig Milliarden Dollar. Ein ungeheuer leistungsfähiger Teilchenbeschleuniger der zweiten Generation für Super-Collider-Experimente. Er wurde gebaut, um die Energieverhältnisse des Urknalls zu erforschen und irgendwelche exotischen Ideen für die Energiegewinnung zu testen. Das ist das Lieblingsprojekt unseres Präsidenten – die Europäer haben schließlich gerade den Large Hadron Collider beim CERN fertiggebaut, und er wollte die amerikanische Führung in der Teilchenphysik nicht einfach abgeben.«

»Selbstverständlich.«

»Die Finanzierung von Isabella war nicht einfach. Die Linken haben ständig genörgelt, wir sollten das Geld lieber für die Krummen und Lahmen ausgeben. Die Rechten haben gejammert, das sei nur ein weiteres Milliardengrab für Steuergelder. Der Präsident musste zwischen Scylla und Charybdis herummanövrieren, aber er hat Isabella beim Kongress durchgeboxt und bis zur Fertigstellung begleitet. Er betrachtet sie als sein Vermächtnis an die Welt und will unbedingt, dass dort alles glattläuft.«

»Zweifellos.«

»Isabella ist, vereinfacht ausgedrückt, ein ringförmiger Tunnel, über neunzig Meter tief in der Erde versenkt und fünfundsiebzig Kilometer lang, in dem Protonen und Antiprotonen in gegensätzliche Richtungen mit annähernd Lichtgeschwindigkeit im Kreis herumsausen. Wenn die Partikel zur Kollision gebracht werden, entstehen Energiedichten, wie es sie nicht mehr gegeben hat, seit das Universum eine Millionstelsekunde alt war.«

»Beeindruckend.«

»Wir haben den perfekten Standort dafür gefunden – die Red Mesa, einen knapp tausenddreihundert Quadratkilometer großen Tafelberg im Navajo-Reservat, geschützt von sechshundert Meter hohen Felsklippen und mit zahllosen Stollen aufgegebener Kohlenbergwerke durchzogen, die wir für den Bau unterirdischer Arbeitsräume und Tunnel nutzen konnten. Die amerikanische Regierung entrichtet eine jährliche Pacht von sechs Millionen an den Stammesrat der Navajo in Window Rock, Arizona – ein Arrangement, mit dem alle Beteiligten sehr zufrieden sind. Die Red Mesa ist unbewohnt, und nur eine Straße führt hinauf. Am Fuß des Berges gibt es ein paar Navajo-Siedlungen. Diese Leute sind ihren Traditionen verhaftet – die meisten von ihnen sprechen noch Navajo und leben von der Schafhaltung und der Herstellung von Teppichen und Schmuck. Das wäre erst einmal der Hintergrund.«

Ford nickte. »Und wo liegt das Problem?«

»In den vergangenen Wochen hat ein selbsternannter Medizinmann die Leute gegen Isabella aufgehetzt, Fehlinformationen verbreitet und Gerüchte gestreut. Er gewinnt immer mehr Anhänger. Ihre Aufgabe ist es, dieses Problem zu lösen.«

»Was unternimmt der Stammesrat der Navajo in dieser Angelegenheit?«

»Nichts. Diese sogenannte Regierung, das Navajo Tribal Government, ist schwach. Der ehemalige Vorsitzende wurde wegen Unterschlagung verurteilt, und der neue Vorsitzende hat sein Amt gerade erst angetreten. Mit diesem Medizinmann müssen Sie schon allein fertig werden.«

»Erzählen Sie mir mehr über ihn.«

»Er heißt Begay, Nelson Begay. Alter unklar – wir konnten keine Geburtsurkunde auftreiben. Er behauptet, das Isabella-Projekt entweihe eine alte Begräbnisstätte und die Indianer benötigten die Red Mesa als Weideland und so weiter. Er organisiert gerade einen Protestmarsch oder vielmehr Protestritt.« Lockwood zog einen fleckigen Flyer aus einer weiteren Mappe. »Hier ist eines seiner Machwerke.«

Die schlechte Fotokopie zeigte einen Mann zu Pferde, der ein Schild hochhielt.


REITET ZUR RED MESA!


STOPPT ISABELLA!


14. und 15. September


Schützt das Diné Bikeyah, das Land unseres Volkes! Die Red Mesa, Dzilth Chíí, ist die Heimat der heiligen Blütenstaubfrau, die Blüten und Samen hervorbringt. ISABELLA ist eine todbringende Wunde in ihrem Fleisch, die alles mit Strahlung verseucht und Mutter Erde vergiftet.


Reitet mit uns zur Red Mesa. Wir treffen uns vor dem Gemeindehaus von Blue Gap, am 14. Sept. um 9 Uhr. Wir reiten den Dugway hinauf zum alten Nakai-Rock-Handelsposten. Am Nakai Rock Lager mit Schwitzhütte und Heilungsritual. Wir befreien das Land durch unsere Gebete.


»Ihr Auftrag lautet, sich als Ethnologe dem wissenschaftlichen Team anzuschließen und gute Beziehungen zur örtlichen Bevölkerung aufzubauen«, sagte Lockwood. »Gehen Sie auf deren Sorgen ein. Werden Sie ihr bester Freund, und beruhigen Sie die Leute.«

»Und wenn das nicht funktioniert?«

»Neutralisieren Sie Begays Einfluss.«

»Wie denn?«

»Graben Sie seine schmutzige Vergangenheit aus, lassen Sie ihn volllaufen, fotografieren Sie ihn mit einem Maulesel im Bett, ist mir vollkommen egal.«

»Ich betrachte das als misslungenen Versuch, zu scherzen.«

»Ja, ja, natürlich. Sie sind der Ethnologe; Sie sollten wissen, wie man mit diesen Leuten umgeht.« Lockwoods Lächeln war glatt, nichtssagend.

Unbehagliches Schweigen dehnte sich aus. Ford fragte schließlich: »Und was ist mein eigentlicher Auftrag?«

Lockwood faltete die Hände wie zum Gebet und beugte sich vor. Das Lächeln wurde breiter. »Herausfinden, was zum Teufel wirklich da draußen los ist.«

Ford wartete ab.

»Die Ethnologen-Nummer ist nur Ihre Tarnung. Ihr eigentlicher Auftrag muss absolut geheim bleiben.«

»Verstanden.«

»Isabella hätte vor acht Wochen kalibriert und betriebsbereit sein sollen, aber sie werkeln immer noch daran herum. Sie behaupten, sie bekämen sie nicht richtig zum Laufen. Sie kommen uns mit jeder erdenklichen Ausrede – Software-Probleme, fehlerhafte Magnetspulen, leckes Dach, gerissene Kabel, Computerfehler. Was immer ihnen einfällt. Zuerst habe ich ihnen das abgekauft, aber inzwischen bin ich sicher, dass sie mir die wahre Geschichte verschweigen. Da stimmt etwas nicht – und ich glaube, die tischen uns eine Lüge nach der anderen auf.«

»Erzählen Sie mir etwas über diese Leute.«

Lockwood lehnte sich zurück und holte tief Luft. »Wie Sie sicher wissen, stammt das Konzept für Isabella von einem Physiker namens Gregory North Hazelius, der sein handverlesenes Team auch selbst leitet. Die besten, klügsten Köpfe, die Amerika zu bieten hat. Das FBI hat sie gründlich überprüft, und an ihrer Loyalität kann es keine Zweifel geben. Zusätzlich sind ein hochrangiger Sicherheitsbeamter vom Energieministerium und ein Psychologe vor Ort.«

»Energieministerium? Was haben die denn damit zu tun?«

»Eines der Forschungsziele des Isabella-Projekts ist die Suche nach exotischen neuen Formen der Energiegewinnung – Fusionen, Schwarze Mini-Löcher, Studien mit Antimaterie und so weiter. Offiziell untersteht die ganze Sache dem Energieministerium, aber – wenn ich offen sprechen darf – leite ich im Moment die Show.«

»Und der Psychologe? Was spielt der für eine Rolle?«

»Da draußen ist es wie beim Manhattan-Projekt – isolierte Lage, hohe Sicherheitsstufe, lange Arbeitszeiten, keine Angehörigen auf dem Gelände erlaubt. Das ergibt hohe Stressbelastung. Wir wollten sicherstellen, dass uns niemand durchdreht.«

»Ich verstehe.«

»Das Team ist vor sechs Wochen da hinausgezogen, um Isabella betriebsbereit zu machen. Das hätte höchstens zwei Wochen dauern sollen, aber sie sind immer noch nicht fertig.«

Ford nickte.

»Aber sie verbrauchen gewaltige Mengen Elektrizität – bei Spitzenleistung verschlingt Isabella so viel Megawatt wie eine mittelgroße Stadt. Sie lassen die Maschine immer wieder mit hundert Prozent Leistung laufen, behaupten aber die ganze Zeit über, sie würde nicht funktionieren. Wenn ich versuche, Hazelius Einzelheiten aus der Nase zu ziehen, hat er für alles eine plausible Antwort. Der wickelt einen um den Finger und bringt einen so weit, dass man ihm Schwarz als Weiß abkauft. Aber da stimmt etwas nicht, und sie vertuschen es. Es könnte ein technisches Problem sein, ein Software-Problem oder – bei Gott nicht unwahrscheinlich – ein menschliches Problem. Aber das darf nicht ausgerechnet jetzt sein. Wir haben schon September. In zwei Monaten findet die Präsidentschaftswahl statt. Das wäre ein katastrophaler Zeitpunkt für einen Skandal.«

»Woher kommt der Name Isabella?«

»Der Chefingenieur, Dolby, der Mann, der das Designteam leitet, hat die Maschine so genannt. Und der Name ist irgendwie hängengeblieben – hörte sich eben viel besser an als SSCII, die offizielle Bezeichnung. Vielleicht ist Isabella der Name seiner Freundin oder so.«

»Sie haben einen hohen Sicherheitsbeamten erwähnt. Woher kommt er genau?«

»Tony Wardlaw heißt der Mann. War früher bei den Special Forces, hat sich in Afghanistan bewährt und ist dann zur Sicherheitsabteilung des Energieministeriums gewechselt. Erstklassiger Mann.«

Ford dachte einen Moment nach und sagte dann: »Stan, ich verstehe immer noch nicht ganz, warum Sie das Gefühl haben, dass die Ihnen nicht die Wahrheit sagen. Vielleicht haben sie tatsächlich die Schwierigkeiten, die Sie vorhin erwähnt haben.«

»Wyman, ich bin der beste Lügendetektor in der ganzen Stadt, und die Sache in Arizona riecht für mich nicht nach Chanel Nummer fünf.« Er beugte sich vor. »Kongressabgeordnete aus beiden Lagern wetzen schon die Messer. Die erste Runde haben sie verloren. Jetzt wittern sie eine zweite Chance.«

»Typisch Washington: Man baut einen Apparat für vierzig Milliarden Dollar und kappt dann die Gelder, mit denen er betrieben werden sollte.«

»Genau so ist es, Wyman. Die einzige Konstante in dieser Stadt ist ihre Sehnsucht nach Blödheit. Ihr Auftrag lautet also, herauszufinden, was da wirklich vor sich geht, und mir persönlich Bericht zu erstatten. Das ist alles. Handeln Sie keinesfalls eigenständig. Wir übernehmen das von hier aus.«

Er trat an seinen Schreibtisch, holte einen Stapel Dossiers aus einer Schublade und ließ sie mit lautem Klatschen neben das Telefon fallen. »Die Akten über sämtliche Wissenschaftler. Medizinische Befunde, psychologische Gutachten, religiöse Anschauungen – sogar außereheliche Affären, alles hier drin.« Er lächelte freudlos. »Die haben wir von der NSA, und Sie wissen ja, wie gründlich die sind.«

Ford betrachtete die oberste Mappe und schlug sie dann auf. An die Innenseite geheftet war ein Foto von Gregory North Hazelius, in dessen leuchtend blauen Augen ein rätselhafter Ausdruck von Belustigung tanzte.

»Hazelius – kennen Sie ihn persönlich?«

»Ja.« Lockwood senkte die Stimme. »Und ich möchte Sie … vor ihm warnen.«

»Inwiefern?«

»Er hat so eine Art, sich auf einen zu konzentrieren; er schmeichelt Ihnen und gibt Ihnen das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Sein Verstand brennt förmlich, so intensiv, dass er die Leute damit in seinen Bann schlägt. Jede noch so beiläufige Bemerkung von ihm scheint vor verborgener Bedeutsamkeit zu triefen. Ich habe schon erlebt, wie er die Leute auf etwas so Gewöhnliches wie Flechten auf einem Felsen hingewiesen und auf eine Art darüber gesprochen hat, die einem das Gefühl gab, diese Flechten seien ganz außergewöhnlich und voll geheimer Wunder. Er überschüttet einen förmlich mit Aufmerksamkeit und gibt einem das Gefühl, der wichtigste Mensch auf der Welt zu sein. Seine Art ist unwiderstehlich – etwas, das man nicht in einem Dossier darstellen kann. Das mag seltsam klingen, aber es ist … es fühlt sich beinahe an, als verliebe man sich, wenn dieser Mann einen in seinen Bann zieht und über die gewöhnliche Welt hinaushebt. Sie müssen das selbst erlebt haben, um es zu verstehen. Ich wollte Sie nur warnen. Wahren Sie innerlich Distanz zu ihm.«

Er hielt inne und sah Ford an. Der gedämpfte Verkehrslärm, Hupen und Stimmengewirr von der Straße draußen sickerten in die Stille des Büros. Ford verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah Lockwood über den Couchtisch hinweg an. »Normalerweise wäre eine solche Ermittlung Sache des FBI oder der Sicherheitsabteilung des Energieministeriums. Warum ich?«

»Ist das nicht offensichtlich? In zwei Monaten findet die Präsidentschaftswahl statt. Der Präsident will, dass die Angelegenheit schnell in Ordnung gebracht wird, ohne jedes Aufsehen, ohne eine Spur in den Akten. Er braucht schnelle Antworten und zugleich die Sicherheit, jegliches Wissen darüber öffentlich abstreiten zu können. Wenn Sie Mist bauen, kennen wir Sie nicht. Wenn Sie erfolgreich sein sollten, kennen wir Sie auch nicht.«

»Ja, aber warum ausgerechnet ich? Ich habe einen Bachelor in Ethnologie, das ist schon alles.«

»Sie haben den richtigen Hintergrund – Ethnologie, Computer, CIA-Erfahrung.« Er zog ein Dossier aus dem Stapel. »Sie haben einen weiteren entscheidenden Vorteil.«

Ford gefiel dieser plötzlich veränderte Tonfall nicht. »Wovon sprechen Sie?«

Lockwood schob das Dossier über den Tisch zu Ford hinüber, der es aufschlug und auf das Foto starrte, das an die Innenseite der Mappe geheftet war – eine lächelnde Frau mit glänzendem schwarzem Haar und mahagonifarbenen Augen.

Er schlug die Akte zu, schob sie zu Lockwood zurück und stand auf. »Sie lassen mich an einem Sonntagmorgen hier antanzen und ziehen so eine billige Nummer ab? Tut mir leid, Arbeit und Privatleben vermische ich grundsätzlich nicht.«

»Es ist zu spät, Sie können nicht mehr aussteigen.«

Ein kaltes Lächeln. »Wollen Sie mich vielleicht daran hindern, diesen Raum zu verlassen?«

»Sie waren bei der CIA, Wyman. Sie wissen, wozu wir in der Lage sind.«

Ford trat einen Schritt vor, so dass er über Lockwood aufragte. »Ich zittere vor Angst.«

Der wissenschaftliche Berater blickte mit gefalteten Händen und mildem Lächeln zu ihm auf. »Wyman, ich muss mich entschuldigen. Es war dumm von mir, das zu sagen. Aber ausgerechnet Sie müssen doch begreifen, wie wichtig das Isabella-Projekt ist. Es öffnet uns die Tür zu den Geheimnissen unseres Universums. Zu Erkenntnissen über den Moment der Schöpfung selbst. Es könnte uns zu einer unerschöpflichen Quelle von Energie führen, die unabhängig von fossilen Brennstoffen wäre. Es wäre eine ungeheuerliche Tragödie für die amerikanische Wissenschaft, wenn wir diese Investition im Klo hinunterspülen müssten. Bitte übernehmen Sie den Auftrag – wenn nicht für mich oder den Präsidenten, dann für Ihr Land. Ehrlich gesagt ist Isabelle das Beste, was diese Regierung zustande gebracht hat. Es ist unser Vermächtnis. Wenn all der politische Lärm um nichts längst verhallt ist, wird dieses eine Projekt immer noch von Bedeutung sein.« Er reichte Ford erneut die Akte. »Sie ist die stellvertretende Leiterin des Isabella-Projekts. Fünfunddreißig, in Stanford promoviert, gehört zu den besten Stringtheoretikern weltweit. Was zwischen Ihnen und ihr vorgefallen ist, liegt lange zurück. Ich habe sie kennengelernt. Brillant natürlich, professionell, immer noch Single, aber das wird wohl für Sie kein Thema sein. Sie ist Ihre Eintrittskarte zum Team, ein Freund, jemand, mit dem Sie dort reden können – weiter nichts.«

»Jemand, den ich anzapfen kann, um an Informationen zu kommen, meinen Sie wohl.«

»Hier steht das wichtigste wissenschaftliche Experiment in der Menschheitsgeschichte auf dem Spiel.« Er tippte auf das Dossier und sah Ford fragend an. »Also?«

Als Ford den Blick erwiderte, bemerkte er, dass Lockwoods linke Hand nervös einen kleinen Stein streichelte, der auf dem Schreibtisch gelegen hatte.

Lockwood folgte seinem Blick und lächelte verlegen, als hätte Ford ihn ertappt. »Das interessiert Sie wohl?«

Ford erkannte plötzliche Vorsicht in Lockwoods Blick. »Was ist das?«, fragte er.

»Mein Glücksstein.«

»Darf ich ihn mal sehen?«

Widerstrebend reichte Lockwood ihm den Stein. Er drehte ihn um und entdeckte ein kleines Fossil, einen Trilobiten, in der Unterseite.

»Interessant. Hat er für Sie eine bestimmte Bedeutung?«

Lockwood schien zu zögern. »Mein Zwillingsbruder hat ihn gefunden, als wir neun Jahre alt waren, und ihn mir geschenkt. Dieses Fossil hat mein Interesse für die Wissenschaft erst geweckt. Er … ist ein paar Wochen später ertrunken.«

Ford befühlte den Stein, der von Jahren der Berührung glattpoliert war. Er hatte also die wahre Persönlichkeit seines Gegenübers gefunden – und unerwarteterweise war sie ihm sympathisch.

»Es ist wirklich wichtig für mich, dass Sie diesen Auftrag übernehmen, Wyman.«

Und ich brauche ihn auch. Sacht legte er den Stein zurück auf den Schreibtisch. »Also schön. Ich mache es. Aber ich arbeite auf meine Weise.«

»Soll mir recht sein. Aber denken Sie daran – keine eigenmächtigen Aktionen.«

Lockwood erhob sich, holte einen schmalen Aktenkoffer aus seinem Schreibtisch, schob die Dossiers hinein und schloss den Koffer. »Hier drin haben Sie ein Satellitentelefon, einen Laptop, Kartenmaterial, eine Brieftasche, Bargeld und Ihre offizielle Einsatzbestätigung als Ethnologe. Ein Hubschrauber wartet bereits auf Sie. Der Wachmann vor meinem Büro wird Sie hinführen. Ihre Kleidung und alles Übrige schicken wir Ihnen separat nach.« Er verstellte das Zahlenschloss der Aktentasche und erklärte: »Die Kombination besteht aus der siebenten bis zehnten Nachkommastelle der Zahl ?.« Er lächelte über seinen eigenen Einfallsreichtum.

»Und wenn es zu Meinungsverschiedenheiten darüber kommen sollte, was genau eine ›eigenmächtige Aktion‹ darstellt?«

Lockwood schob den Aktenkoffer über den Schreibtisch. »Denken Sie einfach daran«, sagte er, »dass wir Sie noch nie gesehen haben.«


3


Booker Crawley lehnte sich in seinem lederbezogenen Chefsessel zurück und musterte die fünf Männer, die sich an dem Konferenztisch aus Bubinga-Holz niederließen. In seiner langen, erfolgreichen Karriere als Lobbyist hatte Crawley die Erfahrung gemacht, dass man die Leute eben doch nach ihrem Äußeren beurteilen konnte, meistens jedenfalls. Er betrachtete den Mann mit dem absurden Namen Delbert Yazzie, der ihm gegenübersaß; er hatte wässrige Augen und ein trauriges Gesicht, trug einen Anzug von der Stange mit einem halben Pfund Silber und Türkisen an der Gürtelschnalle, und Cowboystiefel, die offenbar schon mehrmals neu besohlt worden waren. Kurz, Yazzie sah aus, als würde Crawley bei ihm leichtes Spiel haben. Er war ein Bauerntölpel, ein proletenhafter Indianer, der den Cowboy spielte und vor kurzem irgendwie zum neuen Vorsitzenden der sogenannten Navajo Nation gewählt worden war. Vorherige Tätigkeit: Schulhausmeister. Crawley würde Yazzie erklären müssen, dass man in Washington üblicherweise Termine machte. Man schaute nicht einfach so herein – schon gar nicht am Sonntagmorgen.

Die Männer links und rechts von Yazzie stellten den sogenannten Stammesrat dar. Einer sah aus wie ein waschechter Filmindianer, mit besticktem Kopftuch, das lange Haar im Nacken verknotet, dazu ein samtenes Indianerhemd mit Silberknöpfen und Türkiskette. Zwei weitere steckten in Anzügen aus dem Versandhauskatalog. Der dritte Mann, verdächtig weiß, trug einen maßgefertigten Armani-Anzug. Das war der Kerl, den er im Auge behalten musste.

»Also!«, begann Crawley. »Es ist mir eine große Freude, den neuen Vorsitzenden der Navajo Nation kennenzulernen. Ich wusste gar nicht, dass Sie in der Stadt sind! Ich gratuliere zu Ihrer Wahl – Ihnen allen, werte Mitglieder des neuen Stammesrats. Willkommen in Washington!«

»Wir freuen uns auch, hier zu sein, Mr. Crawley«, sagte Yazzie mit recht leiser, neutraler Stimme.

»Bitte, nennen Sie mich Booker!«

Yazzie neigte den Kopf, erwiderte das Angebot, sich beim Vornamen zu nennen, aber nicht. Na ja, kein Wunder, dachte Crawley, wenn man Delbert hieß.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee? Tee? San Pellegrino?«

Alle wollten Kaffee. Crawley drückte auf einen Knopf der Sprechanlage, gab die Bestellung durch, und wenig später kam sein Assistent mit einem Servierwägelchen herein, auf dem sich eine silberne Kaffeekanne, Sahnekännchen, Zuckerdose und Tassen drängten. Crawley beobachtete schaudernd, wie ein Teelöffel Zucker nach dem anderen im schwarzen Loch von Yazzies Kaffee verschwand – fünf insgesamt.

»Die enge Zusammenarbeit mit der Navajo Nation war mir bisher ein persönliches Vergnügen«, bemerkte Crawley. »Da Isabella nun bald in Betrieb genommen werden kann, haben wir alle etwas zu feiern, nicht wahr? Die guten Beziehungen zur Navajo Nation sind uns sehr wichtig, und wir freuen uns auf die weitere, langfristige Zusammenarbeit.«

Er lehnte sich mit freundlichem Lächeln zurück und wartete.

»Die Navajo Nation ist Ihnen dankbar, Mr. Crawley.«

Nicken und zustimmendes Murmeln rund um den Tisch. »Wir sind Ihnen dankbar für alles, was Sie getan haben«, fuhr Yazzie fort. »Die Navajo Nation ist glücklich, einen so bedeutenden Beitrag zur amerikanischen Wissenschaft leisten zu können.«

Er sprach langsam, bedacht, als hätte er die Worte einstudiert, und Crawley spürte, wie sich ein kleiner, harter Knoten in seinem Bauch bildete. Vermutlich wollten sie sein Honorar herunterhandeln. Tja, das konnten sie gern versuchen – sie hatten ja keine Ahnung, mit wem sie es hier zu tun hatten. Was für ein trauriger Haufen Trottel.

»Sie haben sehr gute Arbeit geleistet, als es darum ging, das Isabella-Projekt auf unser Land zu bringen und einen fairen Vertrag mit der Regierung auszuhandeln«, fuhr Yazzie fort und hob den schläfrigen Blick zu Crawley, schaute aber irgendwie halb an ihm vorbei. »Sie haben das erreicht, was Sie zugesagt hatten. Das war im Umgang mit Washington eine neue Erfahrung für uns. Sie haben Ihre Versprechen eingehalten.«

War das alles, was er mit diesem Besuch ausdrücken wollte? »Ich danke Ihnen, Herr Vorsitzender, das ist sehr freundlich von Ihnen, und ich freue mich, dass Sie so zufrieden sind. In der Tat halten wir immer ein, was wir versprechen. Ich muss Ihnen ganz offen sagen, dass mit diesem Projekt viel harte Arbeit verbunden war. Wenn Sie mir das kleine Eigenlob verzeihen – das war eine der größten Herausforderungen, die ich als Lobbyist je bewältigt habe. Aber wir haben es geschafft, nicht wahr?« Crawley strahlte.

»Ja. Wir hoffen, dass Sie für Ihre Arbeit angemessen bezahlt wurden.«

»Nun, um die Wahrheit zu sagen, hat uns das Projekt wesentlich mehr gekostet, als wir erwartet hatten. Mein Buchhalter ist seit Wochen schlecht auf mich zu sprechen! Aber schließlich haben wir nicht jeden Tag Gelegenheit, die amerikanische Wissenschaft voranzubringen und zugleich der Navajo Nation Arbeitsplätze und neue Einnahmequellen zu verschaffen.«

»Was mich zum Anlass unseres Besuches bringt.«

Crawley nippte an seinem Kaffee. »Schön. Ich bin gespannt.«

»Da die Arbeit nun beendet ist und Isabella läuft, werden wir Ihre Dienste nicht mehr benötigen. Wenn unser Vertrag mit Crawley and Stratham Ende Oktober ausläuft, werden wir ihn nicht mehr verlängern.«

Yazzie sagte das so plump, mit so wenig Finesse, dass Crawley einen Moment brauchte, um diesen Schlag zu verdauen, doch er lächelte tapfer weiter.

»Ah ja«, sagte er. »Tut mir leid, das zu hören. Haben wir in Ihren Augen irgendetwas falsch gemacht – oder versäumt?«

»Nein, wie gesagt: Das Projekt ist beendet. Wozu brauchen wir da noch Lobbyarbeit?«

Crawley holte tief Luft und stellte die Kaffeetasse ab. »Ich kann nachvollziehen, dass Sie so denken – schließlich ist Window Rock weit weg von Washington.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Aber ich will Ihnen etwas verraten, Herr Vorsitzender. In dieser Stadt ist nichts jemals beendet. Isabella ist noch nicht funktionstüchtig, und wie heißt es so schön – man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Unsere Gegner – Ihre Gegner – haben noch längst nicht aufgegeben. Im Kongress gibt es viele Leute, die nichts lieber tun würden, als das Projekt zu kippen. So ist das eben in Washington – niemals vergeben, niemals vergessen. Morgen schon könnten sie eine Gesetzesvorlage einbringen und Isabellas weitere Finanzierung einstellen. Die könnten auch versuchen, die Pachtverträge neu zu verhandeln. Sie brauchen einen Freund in Washington, Mr. Yazzie. Dieser Freund bin ich. Ich bin der Mann, der seine Versprechen gehalten hat. Wenn Sie warten, bis irgendwelche schlechten Neuigkeiten bis nach Window Rock vordringen – wird es bereits zu spät sein.«

Er beobachtete ihre Gesichter, konnte aber keine Reaktion erkennen. »Ich würde Ihnen dringend empfehlen, den Vertrag für mindestens sechs Monate zu verlängern – betrachten Sie es als eine Art Versicherung.«

Dieser Yazzie war so undurchschaubar wie ein verdammter Chinese. Crawley wünschte, er hätte es noch mit Yazzies Vorgänger zu tun, einem Mann, der sein Steak blutig mochte, seinen Martini trocken und seine Frauen stark geschminkt. Wenn sie ihn bloß nicht mit der Hand in der Stammeskasse erwischt hätten.

Schließlich ergriff Yazzie wieder das Wort. »Wir haben viele dringende Bedürfnisse, Mr. Crawley – Schulen, Arbeitsplätze, Krankenhäuser und Freizeitangebote für unsere jungen Leute. Nur sechs Prozent unserer Straßen sind asphaltiert.«

Crawley hielt eisern an seinem Lächeln fest. Die undankbaren Scheißkerle. Sie würden von jetzt an bis zum Jüngsten Tag ihre sechs Millionen pro Jahr einsacken, und er würde nichts davon abbekommen. Aber er hatte nicht gelogen – dieser Lobbyauftrag war von Anfang an höllisch schwer gewesen.

»Sollte tatsächlich noch vor Ihrem sprichwörtlichen Abend etwas geschehen«, fuhr Yazzie in seiner langsamen, schläfrigen Art fort, »können wir Ihre Dienste ja wieder in Anspruch nehmen.«

»Mr. Yazzie, wir sind eine sehr exklusive Lobby-Agentur. Wir sind zu zweit, mein Partner und ich. Wir nehmen nur wenige Klienten an und haben eine lange Warteliste. Wenn Sie jetzt ausscheiden, wird Ihr Platz sofort von einem neuen Kunden eingenommen. Falls dann etwas geschieht und Sie erneut unsere Hilfe benötigen, nun ja …«

»Dieses Risiko gehen wir ein«, sagte Yazzie so trocken, dass Crawley fast der Kragen platzte.

»Dürfte ich Ihnen vorschlagen – nein, dringend nahelegen –, den Vertrag für weitere sechs Monate zu verlängern? Wir könnten sogar über eine Anpassung des Honorars sprechen. Dann könnten Sie sich in Washington zumindest Ihren Platz am Spieltisch freihalten.«

Der Vorsitzende des Stammesrats sah ihm ruhig ins Gesicht. »Sie sind für Ihre Arbeit reichlich entschädigt worden. Fünfzehn Millionen Dollar sind viel Geld. Wenn man sich Ihre Stunden-und Spesenabrechnung ansieht, ergeben sich auch einige Fragen. Aber das berührt uns im Augenblick nicht – Sie waren erfolgreich, und wir sind Ihnen dankbar. Also belassen wir es dabei.«

Yazzie erhob sich, und die anderen folgten seinem Beispiel.

»Sie bleiben aber doch noch zum Mittagessen, Mr. Yazzie! Selbstverständlich sind Sie eingeladen. Es gibt ein phantastisches neues Restaurant in der Nähe der K Street, französische Küche, geführt von einem alten Freund aus meiner Studentenverbindung. Wie wäre es mit einem richtig trockenen Martini und einem riesigen Pfeffersteak?« Er hatte noch nie erlebt, dass ein Indianer einen Drink ausschlug, für den er nichts bezahlen musste.

»Danke, aber wir haben hier in Washington noch viel zu tun, für so etwas haben wir keine Zeit.« Yazzie streckte die Hand aus.

Crawley konnte es kaum fassen. Sie gingen tatsächlich – einfach so.

Er erhob sich, um sie alle mit einem flauen Händedruck zu verabschieden. Als sie gegangen waren, lehnte er sich schwer an die Rosenholztür seines Büros. Zorn brannte in seinen Eingeweiden. Keine Warnung, kein Brief, kein Anruf, nicht einmal einen Termin hatten sie gemacht. Sie waren einfach hereinspaziert, hatten ihn gefeuert und waren wieder abgerückt – ein wahrhaftiger Tritt in den Arsch. Und sie hatten auch noch angedeutet, er hätte sie übers Ohr gehauen! Nach vier Jahren und fünfzehn Millionen, die er in die Lobbyarbeit für diese Leute gesteckt hatte, hatte er ihnen die Gans gefangen, die goldene Eier legte – und was hatten sie getan? Sie hatten ihn skalpiert und den Aasgeiern überlassen. So lief das nicht in der K Street. O nein. Hier kümmerte man sich gefälligst um seine Freunde.

Er richtete sich auf. Booker Hamlin Crawley ging nie beim ersten Schlag zu Boden. Er würde sich wehren – und schon kam ihm eine erste Idee, wie. Er ging zurück in sein Büro, schloss die Tür ab und holte ein Telefon aus der untersten Schreibtischschublade. Es war ein Festnetztelefon, angemeldet auf den Namen einer dementen alten Dame im Pflegeheim um die Ecke, bezahlt mit einer Kreditkarte, von der die Gute nicht einmal wusste, dass sie sie besaß. Er benutzte es nur selten.

Er drückte auf die erste Zifferntaste und zögerte dann, als der Hauch einer Erinnerung an seinem Geist zupfte und ein Bild aufblitzen ließ – ein Bild davon, wie und warum er als junger Mann nach Washington gekommen war, voller Ideale und Hoffnung. Ihm wurde ein wenig übel. Doch sofort flammte der Zorn wieder in ihm auf. Nie würde er der einzigen Todsünde erliegen, die man in Washington kannte: Schwäche.

Er tippte den Rest der Telefonnummer ein. »Könnte ich bitte mit Reverend Don T. Spates sprechen?«

Das Telefonat war kurz und klar, und sein Timing war perfekt gewesen. Er beendete das Gespräch und spürte eine Woge des Triumphs ob seiner eigenen Brillanz. Es würde kein voller Monat vergehen, bis er diese aus der Prärie gekrochenen Wilden wieder in seinem Büro sitzen hatte. Sie würden ihn anflehen, wieder für sie zu arbeiten – für das doppelte Honorar.

Seine feuchten, dünnen Lippen zuckten vor Befriedigung und Vorfreude.


4


Wyman Ford schaute durch das Fenster der Cessna Citation hinaus, als der Jet sich über den Lukachukai Mountains in die Kurve legte und auf die Red Mesa zuhielt. Das Hoch plateau war eine atemberaubende Felsformation, eine Insel im Himmel, von hohen Klippen gerahmt und mit gelben, roten und schokobraunen Sandsteinschichten eingefasst. Während er hinunterschaute, brach die Sonne durch eine Wolkenlücke, fiel auf die Mesa und ließ sie leuchten, als ginge sie in Flammen auf. Wie eine verlorene Welt sah sie aus.

Als sie näher heranflogen, traten mehr Einzelheiten hervor. Ford erkannte Landebahnen, die sich wie zwei schwarze Wundpflaster überkreuzten, mit Hangars und einem Hubschrauberlandeplatz daneben. Drei gewaltige Stränge Hochspannungsleitungen an Masten, so hoch wie dreißigstöckige Gebäude, zogen sich von Norden und Westen herüber und trafen sich am Rand des Tafelbergs in einem besonders gesicherten und von einem doppelten Zaun umgebenen Bereich. Anderthalb Kilometer weiter schmiegten sich ein paar Häuser in ein Tal mit einem Pappelwäldchen, grünen Feldern und einem großen Blockhaus – der alte Nakai-Rock-Handelsposten. Eine brandneue, asphaltierte Straße durchschnitt die Mesa von Westen nach Osten.

Fords Blick schweifte die Klippen hinab. Etwa hundert Meter unter ihm war eine gewaltige, rechteckige Öffnung in die Flanke der Mesa gehauen worden, mit einer Metalltür, die in den Fels hineinführte. Als das Flugzeug sich erneut in die Kurve legte, konnte er den einzigen Weg sehen, der sich wie eine Schlange an einem Baumstamm die steilen Klippen emporwand. Der Dugway.

Die Cessna senkte die Nase und begann mit dem Landeanflug. Die Oberfläche der Red Mesa kam näher, zerfurcht von Sturzbächen, die klaffende, vertrocknete Rinnen, Senken und Geröllhalden hinterlassen hatten. Vereinzelte Wacholderbüsche wechselten sich mit den grauen Skeletten von Pinyon-Kiefern ab, dazwischen trockenes Grasland, Beifuß und kahler Fels, durchsetzt mit Sanddünen.

Die Cessna setzte auf der Landebahn auf und rollte auf das Terminal zu, eine große Wellblechhütte. Dahinter standen mehrere Hangars, die in der Sonne glänzten. Der Pilot öffnete die Tür. Ford, der nur Lockwoods Aktenkoffer bei sich trug, trat hinaus auf den heißen Asphalt. Niemand kam, um ihn in Empfang zu nehmen.

Der Pilot winkte zum Abschied, stieg wieder ein, und gleich darauf war der kleine Jet wieder in der Luft und verschwand als glitzernder Aluminiumstreif im türkisfarbenen Himmel.

Ford sah dem Flugzeug nach und ging dann auf das Wellblech-Terminal zu.

An der Tür hing ein Holzschild, von Hand mit Buchstaben im Wildwest-Stil beschriftet.


KEIN ZUTRITT


EINDRINGLINGE WERDEN ERSCHOSSEN


DAMIT BIST DU GEMEINT, KUMPEL!


G. HAZELIUS,


MARSHALL


Er stupste das Schild mit dem Finger an, so dass es knarrend hin und her schwang. Daneben war an zwei im Boden versenkten Metallpfosten ein hellblaues, hochamtliches Schild angebracht, auf dem im Grunde dasselbe stand, nur in trockener Bürokratensprache. Ein Windstoß strich über die Landebahn und ließ eine Sandwolke über den Asphalt tanzen.

Ford drückte gegen die Tür des Terminals. Verschlossen.

Er trat zurück, blickte sich um und kam sich vor, als hätte der Pilot ihn in der Geisterstadt aus Zwei glorreiche Halunken abgesetzt.

Das Knarren des Schildes und der stöhnende Wind weckten plötzlich eine Erinnerung in ihm – dieser Augenblick, jeden Tag, wenn er von der Schule nach Hause kam, die Schnur mit dem Schlüssel über den Kopf zog, die Tür seines Elternhauses in Washington aufschloss und dann ganz allein in dieser riesigen, hallenden Villa stand. Seine Mutter war stets bei irgendeinem Empfang oder organisierte einen Wohltätigkeitsball, sein Vater war in Regierungsangelegenheiten unterwegs.

Das Dröhnen eines Motors brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Ein Jeep Wrangler kam über eine Anhöhe, verschwand hinter dem Terminal und raste dann über den Asphalt. Der Wagen legte sich mit quietschenden Reifen in die Kurve und blieb abrupt vor Ford stehen. Ein Mann sprang heraus, mit breitem Grinsen und freundlich ausgestreckter Hand. Gregory North Hazelius. Er sah genau so aus wie auf dem Foto im Dossier und vibrierte förmlich vor innerer Energie.

»Yá’át ééh, shi éi Gregory!«, sagte Hazelius und drückte Ford die Hand.

»Yá’át ééh«, erwiderte Ford. »Sagen Sie bloß, Sie sprechen Navajo.«

»Nur ein paar Worte, die ich bei einem ehemaligen Studenten aufgepickt habe. Willkommen.«

Ford hatte Hazelius’ Akte überflogen und festgestellt, dass der Mann angeblich zwölf Sprachen beherrschte, darunter Persisch, zwei chinesische Dialekte und Kisuaheli. Von Navajo hatte da nichts gestanden.

Ford war es bei seiner Größe von gut einem Meter neunzig gewohnt, hinabschauen zu müssen, wenn er anderen in die Augen sehen wollte. Diesmal musste er noch weiter nach unten schauen als sonst. Hazelius war knapp über einen Meter sechzig groß, eine leger, aber elegant wirkende Erscheinung in ordentlich gebügelter, khakifarbener Hose, einem cremeweißen Seidenhemd – und indianischen Mokassins. Seine Augen strahlten so blau wie hinterleuchtete Buntglasfenster. Er hatte eine scharf gebogene Nase, eine glatte Stirn und welliges braunes Haar, säuberlich gekämmt. Ein kleines Päckchen konzentrierter Energie.

»Ich hatte nicht erwartet, vom großen Chef selbst empfangen zu werden.«

Hazelius lachte. »Wir füllen hier alle mindestens zwei Positionen aus. Ich bin nebenbei auch noch der Chauffeur. Bitte, steigen Sie ein.«

Ford faltete seinen langen Leib auf den Beifahrersitz, während Hazelius leicht und anmutig hinters Lenkrad schlüpfte. »Während der heißen Phase, bis Isabella wirklich einsatzbereit ist, wollte ich hier nicht allzu viel zusätzliches Personal herumlaufen haben. Außerdem« – Hazelius wandte sich ihm mit strahlendem Lächeln zu – »wollte ich Sie persönlich kennenlernen. Sie sind unser Jona.«

»Jona?«

»Wir waren zwölf. Jetzt sind wir dreizehn. Ihretwegen müssen wir womöglich jemanden von Bord werfen.« Er kicherte.

»Sie sind wohl ein abergläubischer Haufen hier.«

Er lachte. »Wenn Sie wüssten! Ohne meine Hasenpfote gehe ich nirgendwo hin.« Er holte einen uralten, ekelhaften

und beinahe haarlosen, amputierten Hasenlauf aus der Tasche. »Die hat mein Vater mir geschenkt, als ich sechs war.«

»Entzückend.«

Hazelius trat das Gaspedal durch, und der Jeep schoss vorwärts, so dass Ford in den Sitz gedrückt wurde. Der Wrangler flog nur so über den Asphalt und bog dann mit kreischenden Reifen auf eine frisch geteerte Straße ein, die sich zwischen Wacholderbüschen hinzog. »Hier ist es wie im Ferienlager, Wyman. Wir verrichten alle alltäglichen Arbeiten selbst – Kochen, Putzen, Fahren, was auch immer. Wir haben eine Stringtheoretikerin, die am Grill einfach phantastisch ist, einen Psychologen, der uns geholfen hat, einen exzellenten Weinkeller anzulegen, und diverse andere Leute mit multiplen Talenten.«

Ford hielt sich am Handgriff fest, als der Jeep quietschend um eine Kurve schleuderte.

»Nervös?«

»Wecken Sie mich, wenn wir da sind.«

Hazelius lachte. »Ich kann diesen leeren Straßen nicht widerstehen – keine Cops, kaum ein anderes Auto, und das würde man schon von weitem sehen. Was ist mit Ihnen, Wyman? Was haben Sie für besondere Talente?«

»Ich bin ein sauguter Tellerwäscher.«

»Hervorragend!«

»Ich kann Holz hacken.«

»Wunderbar!«

Hazelius fuhr wie ein Irrer, er raste mit Vollgas dahin und ignorierte die durchgezogene Mittellinie völlig. »Tut mir leid, dass ich Sie nicht gleich bei der Landung in Empfang nehmen konnte. Wir beenden gerade einen Probedurchlauf mit Isabella. Hätten Sie gern eine Schlossführung?«

»Sehr gern.«

Der Jeep setzte bei rasender Fahrt über eine Hügelkuppe hinweg. Fords Körper fühlte sich einen Moment lang an wie schwerelos.

»Der Nakai Rock«, sagte Hazelius und deutete auf die Felsnadel, die Ford vom Flugzeug aus gesehen hatte. »Der alte Handelsposten ist nach diesem Felsen benannt. Unser Dorf nennen wir auch Nakai Rock. Nakai – was bedeutet das eigentlich? Das wollte ich schon immer mal erfahren.«

»Das ist das Navajo-Wort für Mexikaner.«

»Danke. Ich bin wirklich froh, dass Sie so kurzfristig herkommen konnten. Bedauerlicherweise haben wir es uns wohl mit den Einheimischen verscherzt. Lockwood spricht in den höchsten Tönen von Ihnen.«

Die Straße führte in einem Bogen in ein geschütztes Tal hinab, dicht mit Pappeln bewachsen und von roten Sandsteinfelsen umgeben. An der Außenseite des Bogens, unter den Pappeln kunstvoll verteilt, reihten sich ein gutes Dutzend Häuser im nachgeahmten Adobe-Stil aneinander, die mit ihren gepflegten Rasenflächen und Holzzäunen wie eine Postkarten-Kulisse wirkten. Ein smaragdgrünes Baseball-Spielfeld im Zentrum des Bogens bildete einen starken Kontrast zu den roten Klippen. Am anderen Ende des Tals ragte die hohe, ein wenig unheimliche Felsnadel auf wie ein Richter über seinen Gerichtssaal.

»Langfristig werden wir hier Wohnraum für bis zu zweihundert Familien bauen. Das wird ein richtiges kleines Dorf für Wissenschaftler, ihre Familien, Besucher und alle möglichen Angestellten.«

Der Jeep ratterte an den Häusern vorbei und folgte einer lässigen Kurve. »Tennisplatz.« Hazelius deutete nach links. »Stall mit drei Pferden.«

Sie erreichten ein pittoreskes Gebäude aus Holz und traditionellen Lehmziegeln im Schatten großer alter Pappeln. »Der alte Handelsposten. Wir haben ihn umgebaut, er dient jetzt als Speisesaal, Küche und Aufenthaltsraum. Billardtisch, Tischtennis, Kicker, Fernsehraum, Videothek, Bibliothek, Kantine.«

»Warum gab es denn so weit hier oben einen Handelsposten?«

»Bevor die Bergbaugesellschaft die Navajos vertrieben hat, haben sie auf der Red Mesa ihre Schafe geweidet. Der Handelsposten hat Nahrungsmittel und andere Vorräte gegen die Teppiche getauscht, die aus der Schafwolle gewebt wurden. Die Navajo-Teppiche von Nakai Rock sind weniger bekannt als die aus Two Grey Hills, aber von ebenso guter Qualität – sogar noch besser.« Er drehte sich halb zu Ford herum. »Wo haben Sie Ihre Feldforschung gemacht?«

»Ramah, New Mexico.« Was Ford nicht hinzufügte, war: Nur einmal, in den Semesterferien, und da war ich noch im Grundstudium.

»Ramah. Ist da nicht der berühmte Ethnologe Clyde Kluckhohn gestorben, bei Nachforschungen für sein berühmtes Buch Navaho Witchcraft?«

Das Ausmaß von Hazelius’ Kenntnissen überraschte Ford. »So ist es.«

»Sprechen Sie fließend Navajo?«, fragte Hazelius.

»Gerade genug, um mich um Kopf und Kragen zu reden. Navajo gilt als die vermutlich schwierigste Sprache der Welt.«

»Mich hat sie ja schon immer interessiert – hat uns schließlich geholfen, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen.«

Mit quietschenden Reifen kam der Jeep vor einem kleinen, gepflegten Häuschen zum Stehen; der Holzzaun umgab einen künstlich wirkenden grünen Rasen und eine Terrasse mit Picknicktisch und gemauertem Grill.

»Die Villa Ford«, verkündete Hazelius.

»Entzückend.« In Wahrheit war es alles andere als entzückend. Das billige kleine Einfamilienhaus im nachgeahmten Pueblo-Stil hätte in einer spießigen Vorstadtsiedlung stehen können. Aber die Umgebung war märchenhaft.

»Staatlicher Wohnungsbau sieht eben überall gleich aus«, sagte Hazelius. »Aber ich verspreche Ihnen, es ist sehr komfortabel.«

»Wo sind denn alle anderen?«

»Unten im Bunker. So nennen wir den unterirdischen Komplex, in dem sich Isabella befindet. Ach, übrigens, wo ist eigentlich Ihr Gepäck?«

»Das kommt erst morgen.«

»Die müssen es ja sehr eilig gehabt haben, Sie hier rauszuschaffen.«

»Sie haben mir nicht mal genug Zeit gelassen, um meine Zahnbürste einzupacken.«

Hazelius ließ den Motor aufheulen und legte die letzte Kurve des weiten Bogens auf qualmendem Gummi zurück. Dann hielt er, schaltete den Vierradantrieb ein und lenkte den Wagen vorsichtig von der Straße und einen löchrigen Feldweg entlang durchs Gebüsch.

»Wo fahren wir hin?«

»Sehen Sie gleich.«

In tiefen Rinnen drehten die Räder durch, und die beiden Männer wurden kräftig durchgerüttelt, während der Jeep sich in dem seltsamen, verkrüppelten Wäldchen aus Wacholder und abgestorbenen Pappeln ein paar Kilometer weit bergauf arbeitete. Vor ihnen ragte ein langer, steiler Felshang aus glattem rotem Sandstein auf.

Der Jeep blieb stehen, und Hazelius sprang heraus. »Es ist gleich da oben.«

Neugierig folgte Ford ihm den Abhang hinauf bis zum Gipfel der seltsam geformten Sandsteinklippe. Oben erwartete ihn eine Überraschung: Völlig unerwartet fand er sich am Rand der Red Mesa wieder, und vor ihm stürzten die Klippen fast sechshundert Meter in die Tiefe. Er hatte nicht das Gefühl gehabt, sich ganz am Rand zu befinden, und nichts hatte darauf hingewiesen, dass die Klippe direkt vor ihm lag.

»Schön, was?«, fragte Hazelius.

»Beängstigend. Man könnte glatt aus Versehen über den Rand hinausfahren.«

»Ja, es gibt da so eine Legende von einem Navajo-Cowboy, der zu Pferd einen Maverick verfolgt hat und hier von den Klippen gestürzt ist. Es heißt, sein chindii, sein Geist, reite in gewissen dunklen, stürmischen Nächten noch heute über den Rand der Klippe.«

Die Aussicht war atemberaubend. Unter ihnen breitete sich eine uralte Landschaft aus, kleine Tafelberge und Felsnadeln von blutroter Farbe, von Wind und Regen glattgeschliffen und zu seltsamen Formen verwittert. Dahinter lagen Mesas und viele Schichten ferner Berge. Man hätte beinahe glauben können, dies sei der Rand der Schöpfung selbst, wo Gott schließlich aufgegeben hatte, weil es ihm nicht gelingen wollte, das störrische Land friedlicher zu gestalten.

»Diese große Mesa in der Ferne, die wie eine Insel heraussticht«, sagte Hazelius, »ist die No Man’s Mesa, über vierzehn Kilometer lang und gut anderthalb Kilometer breit. Es heißt, es gebe einen geheimen Pfad dort hinauf, den noch kein weißer Mann je gefunden hat. Links davon liegt die Piute Mesa. Ganz vorn sehen Sie die Shonto Mesa, und weiter hinten die Goosenecks des San Juan River, die Cedar Mesa, Bears Ears und die Manti La Sal Mountains.«

Zwei Raben ließen sich vom Aufwind emportragen, setzten dann zum Sturzflug an und glitten zurück in die schattigen Tiefen. Ihr Krächzen hallte in den Canyons wider.

»Die Red Mesa ist nur an zwei Stellen zugänglich – es gibt den Dugway, jetzt hinter uns, und einen Pfad, der ein paar Kilometer weiter dort drüben beginnt. Die Navajos nennen ihn den Midnight Trail. Er führt nach Blackhorse, das ist die kleine Siedlung da unten.«

Als sie sich zum Gehen wandten, fiel Ford etwas an der Flanke eines riesigen Felsbrockens auf, der sich an der Grenze zweier Sedimentschichten gespalten hatte.

Hazelius folgte seinem Blick. »Haben Sie etwas entdeckt?«

Ford ging hinüber und legte eine Hand auf die unebene Oberfläche. »Versteinerte Löcher von Regentropfen. Und … die versteinerte Spur eines Insekts.«

»Na so was«, sagte der Wissenschaftler leise. »Alle waren schon hier oben, um die Aussicht zu bewundern. Aber Sie sind der Erste, dem das aufgefallen ist – abgesehen von mir, natürlich. Versteinerte Spuren von Regentropfen, die im Zeitalter der Dinosaurier fielen. Dann, nach dem Regen, ist ein Käfer über den nassen Sand gekrabbelt. Und entgegen aller Wahrscheinlichkeit ist dieser kleine Augenblick der Geschichte als Fossil verewigt.« Hazelius berührte es ehrfurchtsvoll. »Nichts, was wir Menschen auf dieser Erde geschaffen haben, keine unserer großen Schöpfungen – weder die Mona Lisa noch die Kathedrale von Chartres, ja, nicht einmal die ägyptischen Pyramiden – wird so lange überdauern wie die Spur dieses Käfers im nassen Sand.«

Ford fühlte sich eigenartig berührt von dieser Vorstellung.

Hazelius wandte sich nach Süden und deutete auf die weite Mesa. »Im Paläozän war das alles hier ein riesiges Sumpfgebiet. Dieser Tatsache verdanken wir ein paar der dicksten Kohlenflöze in ganz Amerika. Sie wurden in den fünfziger Jahren abgebaut. Diese alten Minen eigneten sich perfekt dafür, sie für Isabella umzurüsten.«

Die Sonne erleuchtete Hazelius’ glattes Gesicht, als er sich umdrehte und Ford anlächelte. »Wir hätten keinen besseren Standort finden können, Wyman – abgelegen, ungestört, unbewohnt. Aber für mich war am wichtigsten die Schönheit dieser Landschaft, denn die Schönheit und das Geheimnisvolle sind in der Physik von zentraler Bedeutung. Wie Einstein schon sagte: ›Das Schönste, was wir erleben können, ist das Mysteriöse. Aus ihm entspringt alle wahre Kunst und Wissenschaft.‹«

Ford beobachtete, wie die Sonne langsam in den tiefen Canyons im Westen erstarb, wie Gold, das zu Kupfer geschmolzen wurde.

Hazelius sagte: »Sind Sie bereit, unter die Erde abzutauchen?«


5


Der Jeep holperte zur Straße zurück. Ford packte den Handgriff über der Tür und bemühte sich, entspannt zu wirken, während Hazelius am Landeplatz vorbeiraste und auf der schnurgeraden Straße bis an die hundertvierzig beschleunigte.

»Sehen Sie hier irgendwelche Cops?«, fragte Hazelius grinsend.

Anderthalb Kilometer weiter wurde die Straße von Toren in zwei Zaunreihen mit Stacheldraht darüber blockiert; der Doppelzaun schützte einen großen Sicherheitsbereich am Rand der Mesa. Hazelius bremste im letzten Augenblick mit quietschenden Reifen vor dem ersten Tor.

»Alles da drin gehört zur Sicherheitszone«, erklärte er. Er gab einen Zahlencode in ein Tastenfeld am Torpfosten ein. Ein Warnton, und die beiden Tore rollten beiseite. Hazelius fuhr weiter und parkte den Jeep neben einigen anderen Autos. »Der Fahrstuhl«, sagte er und wies mit einem Nicken auf einen hohen Turm am Rand der Klippen, der von Antennen und Satellitenschüsseln starrte. Sie gingen darauf zu, und Hazelius zog eine Karte durch einen Schlitz neben der Metalltür. Dann legte er die Hand auf einen flachen Sensor. Gleich darauf sagte eine rauchige Frauenstimme: »Tag, Süßer. Wen hast du mir da mitgebracht?«

»Das ist Wyman Ford.«

»Ich will nackte Haut sehen, Wyman.«

Hazelius lächelte. »Soll heißen, bitte legen Sie Ihre Hand auf den Sensor, damit sie sie scannen kann.«

Ford legte die Hand auf das warme Glas. Ein Lichtstreifen glitt darunter entlang.

»Wart ’nen Moment, ich frag schnell den Boss.«

Hazelius kicherte. »Gefällt Ihnen die besondere Benutzeroberfläche unserer Zugangskontrolle?«

»Mal was anderes.«

»Das ist Isabella. Die meisten Computerstimmen klingen eher wie HAL-neuntausend, zu weiß und steif für meinen Geschmack.« Er ahmte eine gestelzte, leicht nasale Stimme nach: »›Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit. Unsere Menüauswahl hat sich geändert.‹ Isabella hingegen hat eine echte Stimme. Unser Ingenieur Ken Dolby hat sie programmiert. Ich glaube, er hat sich dafür die Stimme irgendeiner Rap-Sängerin geliehen.«

»Wer ist Isabella?«

»Das weiß ich nicht. Ken gibt sich in diesem Punkt ziemlich geheimnisvoll.«

Die Stimme troff wie Honig aus der Sprechanlage. »Der Boss sagt, das geht klar. Du bist drin, also bau keinen Scheiß.«

Die Metalltüren öffneten sich mit leisem Zischen und enthüllten einen Aufzug, der außen an der Bergflanke hinabging. Ein kleines Fenster in der Kabine gab den Blick auf die Aussicht beim Hinunterfahren frei. Als der Fahrstuhl anhielt, ermahnte Isabella sie, sie sollten aufpassen, wo sie hintraten.

Sie standen auf einer großzügigen Plattform unter freiem Himmel, die in die Klippe hineingehauen worden war. Vor ihnen, in der Felswand, war die riesige Titantür, die Ford schon aus der Luft gesehen hatte. Sie war etwa sieben Meter breit und mindestens zwölf Meter hoch.

»Das ist die Freilichtbühne. Auch eine nette Aussicht, was?«

»Sie sollten hier Luxusapartments bauen.«

»Das hier war der Zugang zu dem riesigen Wepco-Kohlenbergwerk. Allein aus diesem Flöz haben sie fünfundvierzig Millionen Tonnen Kohle abgebaut und dabei riesige Höhlen hinterlassen. Perfekte Voraussetzungen für uns. Es war unbedingt notwendig, Isabella unterirdisch bauen zu können, damit die Daten nicht von kosmischer Strahlung beeinflusst werden.«

Hazelius ging auf das Titanportal zu, das in die Felswand zurückversetzt war. »Diese Festung nennen wir den Bunker.«

»Gib mir deine Nummer, Süßer«, sagte Isabella.

Hazelius gab auf einem kleinen Tastenfeld eine Ziffernfolge ein.

Gleich darauf sagte die Stimme: »Kommt rein, Jungs.« Die Tür hob sich langsam vom Boden.

»Warum diese starken Sicherheitsvorkehrungen?«, fragte Ford.

»Eine Vierzig-Milliarden-Dollar-Investition muss gut geschützt werden. Und ein Großteil unserer Hard-und Software ist als geheim eingestuft.«

Die Tür gab den Weg in eine riesige, hallende Höhle frei, die aus dem Fels geschlagen worden war. Es roch nach Staub und Rauch, und die leicht muffige Luft erinnerte Ford an den Keller seiner Großmutter. Nach der Wüstenhitze draußen war es angenehm kühl hier drin. Rumpelnd senkte sich die Tür hinter ihnen, und Ford blinzelte, um sich an das Licht der Natriumdampflampen zu gewöhnen. Die Höhle war riesig, knapp zweihundert Meter lang und über fünfzehn Meter hoch. Direkt gegenüber, am anderen Ende der Höhle, konnte Ford eine ovale Tür zu einem Tunnel sehen, in dem Edelstahlröhren, dicke Rohre und Kabelstränge entlangliefen. Wasserdampf quoll durch die offene Tür, floss in kleinen Rinnsalen über den Boden und verschwand. Links davon war vor einer weiteren Öffnung im Fels eine Betonziegelwand errichtet worden, mit einer Stahltür darin. An der Tür stand: BRÜCKE. Auf der anderen Seite der Höhle stapelten sich stählerne Senkkästen, I-Träger und anderes übriggebliebenes Baumaterial, daneben einige schadstoffarme Toyotas und ein halbes Dutzend Golfwagen.

Hazelius nahm Ford beim Arm. »Dieser ovale Durchgang vor uns ist der Zugang zu Isabella selbst. Der Nebel ist Kondenswasser von den supraleitenden Magneten. Sie müssen mit flüssigem Helium konstant auf annähernd null Kelvin, also minus zweihundertdreiundsiebzig Grad Celsius, gekühlt werden, damit die Supraleitung erhalten bleibt. Dieser Tunnel führt unter die Mesa und bildet einen Torus mit einem Durchmesser von vierundzwanzig Kilometern – das ist der Ring, in dem wir die Teilchenstrahlen kreisen lassen. Die Flotte von Golfwagen da drüben brauchen wir für die langen Strecken. Kommen Sie, ich stelle Ihnen jetzt die anderen vor.«

Sie durchquerten die Höhle, wobei ihre Schritte hallten wie in einer Kathedrale. Ford fragte ganz nebenbei: »Wie läuft es denn so?«

»Probleme«, sagte Hazelius. »Ein verdammtes Problem nach dem nächsten.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Diesmal ist es die Software.«

Sie erreichten die Tür mit der Aufschrift »Brücke«. Hazelius öffnete sie und ließ Ford den Vortritt in einen Flur mit Betonziegelwänden, schleimgrün gestrichen und von Neonröhren an der Decke erhellt.

»Zweite Tür rechts. Moment, ich mache Ihnen auf.«

Ford betrat einen kreisrunden Raum, hell erleuchtet. Riesige Flachbildschirme an den Wänden ließen den Raum tatsächlich wie die Kommandobrücke eines Raumschiffs wirken, mit Fenstern zum Weltraum. Die Monitore wurden gerade nicht benutzt, und ein Bildschirmschoner mit Enterprise-Motiv, der auf allen gleichzeitig lief, perfektionierte die Illusion eines Raumschiffs, das durch ein Sternenfeld flog. Unter den Monitoren waren riesige Instrumentenpulte, Steuerkonsolen und Computerarbeitsplätze angeordnet. Im Zentrum des Raums war der Boden abgesenkt, und genau in der Mitte stand ein retrofuturistischer Drehstuhl.

Die meisten Wissenschaftler hatten ihre Arbeit unterbrochen und blickten Ford neugierig entgegen. Ihm fiel sofort auf, wie zermürbt alle aussahen; sie hatten die bleichen Gesichter von unterirdisch lebenden Wesen und trugen zerknitterte Kleidung. Sie sahen schlimmer aus als ein Haufen Doktoranden im bitteren Endspurt vor der Prüfung. Instinktiv suchte sein Blick Kate Mercer, doch er tadelte sich sogleich für sein Interesse an ihr.

»Kommt Ihnen bekannt vor, was?«, fragte Hazelius mit einem schalkhaften Funkeln in den Augen.

Überrascht blickte Ford sich noch einmal um. Der Raum kam ihm in der Tat bekannt vor – und plötzlich erkannte er auch, warum.

»Der Weltraum – unendliche Weiten …«, sagte er.

Hazelius lachte erfreut. »So ist es! Dies ist ein Nachbau der Kommandobrücke des Raumschiffs Enterprise aus Star Trek. Stellte sich zufällig als ideales Design für den Kontrollraum eines Teilchenbeschleunigers heraus.«

Die Illusion, man befinde sich auf der Kommandobrücke der U.S.S. Enterprise, wurde vor allem durch eine große Mülltonne gestört, die von Coladosen und Tiefkühlpizza-Schachteln überquoll. Notizzettel und Schokoriegelverpackungen waren über den Boden verstreut, und eine ungeöffnete Flasche Veuve Clicquot lag auf dem Boden an der gebogenen Wand.

»Entschuldigen Sie die Unordnung – wir sind gerade in der Endphase eines Testdurchlaufs. Das ist nur etwa die Hälfte des Teams – die anderen werden Sie beim Abendessen kennenlernen.« Er wandte sich an die Gruppe. »Meine Lieben, ich möchte euch das neueste Mitglied unseres Teams vorstellen, Wyman Ford. Er ist der Ethnologe, den ich angefordert habe, als Verbindungsmann zur indianischen Bevölkerung.«

Nicken, gemurmelte Begrüßungen, ein flüchtiges Lächeln hier und da – er war kaum mehr als eine kleine Ablenkung. Was ihm nur lieb sein konnte.

»Ich führe Sie schnell herum und stelle Ihnen kurz die Kollegen vor. Beim Abendessen haben Sie dann Gelegenheit, uns besser kennenzulernen.«

Die Gruppe wartete ergeben.

»Das ist Tony Wardlaw, der hier für die Sicherheit zuständig ist. Er sorgt dafür, dass wir keine Scherereien bekommen.«

Ein Mann, so breit und massig wie ein Hackklotz, trat vor. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir.« Er trug das Haar kurzgeschoren wie ein Soldat, seine Haltung hatte etwas Militärisches, seine Miene wirkte humorlos – und sein Gesicht war grau vor Erschöpfung. Wie Ford erwartet hatte, wurde seine Hand beim Händedruck beinahe zerquetscht. Er quetschte kräftig zurück.

»Das ist George Innes, unser Psychologe. Er leitet eine wöchentliche Gesprächsrunde und hilft uns, nicht den Verstand zu verlieren. Ich weiß nicht, was ohne seine Unterstützung und seinen beruhigenden Einfluss aus uns geworden wäre.«

Ein paar Leute wechselten Blicke und verdrehten die Augen, was Ford deutlich machte, was die anderen von Innes’ Unterstützung hielten. Innes’ Händedruck war kühl und professionell, Druck und Länge genau richtig. Er sah aus wie ein Mann, der sich gern im Freien aufhielt, und trug eine säuberlich gebügelte, khakifarbene Hose und ein kariertes Hemd. Hielt sich fit, machte einen gepflegten Eindruck – die Sorte Mensch, die glaubte, alle anderen außer ihm hätten Probleme.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Wyman«, sagte er und spähte über den Rand seiner Perlmuttbrille hinweg. »Sie müssen sich ein bisschen vorkommen wie ein Neuer, der mitten im Schuljahr in die Klasse kommt.«

»Allerdings.«

»Ich bin für Sie da, wenn Sie einmal über etwas sprechen möchten.«

»Danke.«

Hazelius schob ihn weiter zu einem Wrack von einem jungen Mann, Anfang dreißig, dürr wie ein Rechen, mit langem, fettigem blonden Haar. »Das ist Peter Wolkonski, unser Software-Ingenieur. Peter kommt aus Jekaterinburg in Russland.«

Widerstrebend löste Wolkonski sich von der Konsole, an der er gelümmelt hatte. Der Blick seiner rastlosen, irren Augen huschte über Ford. Er streckte nicht die Hand aus, sondern nuschelte nur mit einem gedankenverlorenen Nicken: »Hallo.«

»Schön, Sie kennenzulernen, Peter.«

Wolkonski schlurfte zurück zu seiner Tastatur und tippte weiter. Seine dünnen Schulterblätter zeichneten sich unter dem zerschlissenen T-Shirt ab wie die eines mageren Kindes.

»Und das ist Ken Dolby, unser Chefingenieur, der Isabella entworfen hat. Eines Tages werden sie ihm im Smithsonian ein Denkmal errichten.«

Dolby kam herüber – rundlich, groß, freundlich, schwarz, neununddreißig Jahre alt, mit der lockeren Ausstrahlung eines kalifornischen Windsurfers. Ford war er auf der Stelle sympathisch – ein vernünftiger Kerl. Auch er wirkte überanstrengt und hatte rotgeränderte Augen. Er streckte die Hand aus. »Willkommen«, sagte er. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass wir gerade nicht besonders präsentabel aussehen. Einige von uns haben seit sechsunddreißig Stunden nicht mehr geschlafen.«

Sie gingen weiter. »Und das ist Alan Edelstein«, fuhr Hazelius fort, »unser Mathematiker.«

Ein Mann, den Ford kaum bemerkt hatte, weil er abseits von den anderen saß, blickte von dem Buch auf, das er gerade las – Joyce’ Finnegans Wake. Er hob nur den Zeigefinger zur Begrüßung und sah Ford mit durchdringendem Blick an. Der schelmische Ausdruck in seinen Augen verriet eine Art hochmütiger Belustigung über die Welt im Allgemeinen.

»Und, wie ist das Buch?«, fragte Ford.

»Fesselnd.«

»Alan macht nicht viele Worte«, sagte Hazelius. »Aber in der Sprache der Mathematik ist er sehr beredt. Ganz zu schweigen von seinen Fähigkeiten als Schlangenbeschwörer.«

Edelstein nahm das Kompliment mit einer leichten Neigung seines Kopfes zur Kenntnis.

»Schlangenbeschwörer?«

»Alan hat ein nicht unumstrittenes Hobby.«

»Er hält Schlangen als Haustiere«, erklärte Innes. »Offenbar hat er ein Händchen für sie.« Das sollte scherzhaft klingen, doch Ford meinte, einen schärferen Unterton herauszuhören.

Ohne erneut von seinem Buch aufzublicken, sagte Edelstein: »Schlangen sind interessant und nützlich. Sie fressen Ratten. Von denen wir hier ziemlich viele haben.« Er warf Innes einen vielsagenden Blick zu.

»Alan tut uns damit einen Gefallen«, sagte Hazelius. »Diese Lebendfallen, die Sie im Bunker und auch sonst überall auf dem Gelände sehen werden, halten uns die Nager – und damit auch das Hanta-Virus – vom Hals. Er verfüttert sie an seine Schlangen.«

»Wie fängt man eine Klapperschlange?«, fragte Ford.

»Sehr vorsichtig«, antwortete Innes an Edelsteins Stelle, wobei er mit angespanntem Lachen seine Brille auf der Nase hochschob.

Edelsteins dunkle Augen begegneten Fords Blick. »Wenn Sie eine sehen, sagen Sie mir Bescheid, dann zeige ich es Ihnen.«

»Ich kann es kaum erwarten.«

»Sehr schön«, sagte Hazelius hastig. »Jetzt möchte ich Ihnen Rae Chen vorstellen, unsere Computertechnikerin.«

Eine Frau asiatischer Abstammung, die so jung aussah, dass sie in Bars wohl öfter ihren Ausweis vorzeigen musste, sprang von ihrem Stuhl, streckte die Hand aus und kam auf ihn zu, wobei ihr hüftlanges schwarzes Haar hinter ihr herschwang. Sie war gekleidet wie eine typische Berkeley-Studentin, schmuddeliges T-Shirt mit Peace-Zeichen vorne drauf und Jeans mit Flicken, die von einer britischen Flagge stammten.

»Hi, freut mich, Sie kennenzulernen, Wyman.« Hinter ihren schwarzen Augen funkelte eine ungewöhnliche Intelligenz, und noch etwas, das Ford wie Argwohn vorkam. Aber vielleicht lag das nur daran, dass sie, wie die anderen, völlig erschöpft aussah.

»Ganz meinerseits.«

»Also dann, muss wieder an die Arbeit«, sagte sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit und wies mit einem Nicken auf ihren Computer.

»Das war’s eigentlich schon«, sagte Hazelius. »Aber wo ist Kate? Ich dachte, sie wollte noch diese Berechnungen zur Hawking-Strahlung anstellen.«

»Sie hat früher Schluss gemacht«, sagte Innes. »Meinte, sie wollte schon mal mit dem Abendessen anfangen.«

Hazelius kehrte zurück in die Mitte des Raums und versetzte seinem zentralen Drehstuhl einen zärtlichen Klaps. »Wenn Isabella erst richtig läuft, werden wir uns den Augenblick der Schöpfung mit eigenen Augen ansehen können.« Er lachte leise. »Ich finde es so aufregend, in meinem Captain-Kirk-Sessel zu sitzen und zuzuschauen, wie wir in Gebiete vordringen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.«

Ford beobachtete, wie er sich in seinen Sessel setzte und lächelnd die Füße in die Luft schwang, und er dachte: Er ist der Einzige in diesem Raum, der nicht so aussieht, als wäre er krank vor Sorge.


6


Am Sonntagabend quetschte Reverend Don T. Spates seinen massigen Leib vorsichtig in den Make-up-Stuhl, um seine Hose und das von Hand genähte italienische Baumwollhemd ja nicht zu zerknittern. Sobald er saß, rutschte er seinen Hintern zurecht und schob ihn hin und her, dass der Ledersitz quietschte und knarrte. Behutsam lehnte er den Kopf zurück. Wanda stand neben seinem Stuhl und hielt den Friseur umhang bereit.

»Lassen Sie mich gut aussehen, Wanda«, sagte er und schloss die Augen. »Heute ist ein großer Sonntag. Ein richtig großer Sonntag.«

»Sie werden phantastisch aussehen, Reverend«, versprach Wanda, ließ den Umhang über ihn gleiten und befestigte ihn um seinen Hals. Dann machte sie sich an die Arbeit, begleitet vom beruhigenden Klappern ihrer Fläschchen, Kämme und Pinselchen; ihre besondere Aufmerksamkeit galt den Leberflecken des Reverend und den spinnenartigen Rötungen der Couperose auf den Wangen und der Nase. Sie war sehr gut in ihrem Beruf, und das wusste sie auch. Ganz gleich, was die anderen sagen mochten, sie fand den Reverend wunderbar und gutaussehend.

Ihre schlanken, weißen Hände gingen mit geübter Effizienz zu Werke, flott und präzise, doch die Ohren des Reverend waren immer eine besondere Herausforderung. Sie standen ein Stück zu weit vom Kopf ab und waren heller und stärker gerötet als die Haut drum herum. Manchmal, wenn er auf der Bühne hin und her ging, fingen die Scheinwerfer von hinten seine Ohren ein und ließen sie knallrosa leuchten. Um ihnen den richtigen Hautton zu verleihen, bedeckte sie sie mit einer schweren Grundierung, drei Schattierungen dunkler als sein Gesicht, und legte zuletzt Puder auf, der sie praktisch lichtundurchlässig machte.

Während sie auftrug, einmassierte, pinselte und tupfte, überprüfte sie ihre Arbeit immer wieder auf einem speziell kalibrierten Monitor, der das Bild einer Kamera wiedergab, die auf den Reverend gerichtet war. Es war ungeheuer wichtig, dass sie ihr Werk so sah, wie es auf dem Fernsehbildschirm wirken würde – etwas, das mit bloßem Auge perfekt erschien, konnte auf dem Bildschirm scheußlich fleckig aussehen. So bearbeitete sie den Reverend zweimal die Woche: für seine Fernsehpredigt am Sonntag und seine Talkshow im christlichen Kabelfernsehen am Freitag.

Ja, der Reverend war ein wunderbarer Mann.


Reverend Don T. Spates fand Wandas professionelles Herumgepussel beruhigend und angenehm. Er hatte ein übles Jahr hinter sich. Seine Feinde hatten ihm zugesetzt, ihm jedes Wort im Munde herumgedreht und ihn erbarmungslos attackiert. Jede Predigt regte die atheistische Linke zu neuen Verunglimpfungen an. Das waren traurige Zeiten, wenn sogar ein Mann Gottes dafür angegriffen wurde, dass er die schlichte Wahrheit aussprach. Ja, da war dieser unselige Zwischenfall mit den beiden Prostituierten im Motel gewesen. Die gottlosen Lügner hatten sich das Maul darüber zerrissen. Aber das Fleisch ist schwach – wie die Bibel doch mehrmals bestätigte. In Christus’ Augen sind wir alle hoffnungslose Sünder, stets in Gefahr, vom Glauben abzufallen. Spates hatte um göttliche Vergebung gebeten und sie auch erhalten. Doch die scheinheilige, böse Welt vergab nur langsam, wenn überhaupt.

»Jetzt kommen die Zähne, Reverend.«

Spates öffnete den Mund und spürte, wie Wanda geschickt das elfenbeinweiße Fluid auftrug. Im grellen Scheinwerferlicht würden seine Zähne auf dem Fernsehbildschirm so weiß blitzen wie die Himmelspforte selbst.

Danach nahm sie sich sein Haar vor, kämmte und zupfte das drahtige, leicht orangerote Haar zur Helmfrisur, bis sie perfekt saß. Sie sprühte einen Hauch Haarspray darüber und trug dann noch feinsten Puder auf, um die Farbe zu einem respektableren, nur leicht rötlichen Braun zu dämpfen.

»Ihre Hände, bitte, Reverend.«

Spates streckte die sommersprossigen, altersfleckigen Hände unter dem Umhang hervor und legte sie auf ein Maniküretischchen. Sie beugte sich darüber und trug zunächst eine Grundierung auf, die Falten verminderte und Flecken verblassen ließ. Seine Hände mussten zu seinem Gesicht passen. Spates legte sogar besonderen Wert darauf, dass seine Hände perfekt aussahen. Sie waren eine Erweiterung seiner Stimme. Ein versautes Hand-Make-up konnte die Wirkung seiner Botschaft ruinieren, denn Nahaufnahmen beim Handauflegen enthüllten Makel, die man mit bloßem Auge kaum gesehen hätte.

Für die Hände brauchte sie fünfzehn Minuten. Sie kratzte die Fingernägel sauber, trug farblosen Unterlack auf, reparierte kleine Scharten, feilte die Nägel und schnitt überschüssige Hautstückchen ab. Schließlich bedeckte sie die Hände mit einem Make-up in der genau passenden Farbe.

Ein abschließender Check im Fernsehbildschirm, ein paar letzte Handgriffe, und Wanda trat zurück.

»Fertig, Reverend.« Sie drehte den Bildschirm zu ihm herum.

Spates musterte sich – Gesicht, Augen, Ohren, Lippen, Zähne, Hände.

»Dieser Fleck an meinem Hals, Wanda? Den haben Sie vergessen – schon wieder.«

Ein rascher Tupfer mit dem Schwämmchen, ein bisschen Puder, und der Fleck war verschwunden. Spates tat seine Zufriedenheit mit einem Brummen kund.

Wanda nahm ihm den Umhang ab und trat zurück. Spates’ Assistent Charles eilte aus den Kulissen herbei und brachte die Anzugjacke des Reverend. Spates erhob sich aus dem Sessel und streckte die Arme aus. Charles zog ihm das Jackett an, zupfte es zurecht, strich es glatt, bürstete noch einmal rasch darüber, klopfte die Schultern auf, kontrollierte den Kragen und rückte die Krawatte gerade.

»Wie sehen die Schuhe aus, Charles?«

Charles polierte die Schuhe mit einem weichen Tuch.

»Zeit?«

»Sechs Minuten vor acht, Reverend.«

Vor Jahren schon war Spates auf die Idee gekommen, seine Sonntagspredigt abends auszustrahlen, zur besten Sendezeit, um dem morgendlichen Gedränge der übrigen Fernsehprediger auszuweichen. Er nannte seine Sendung God’s Prime Time. Alle hatten ihm prophezeit, dass er es nie schaffen würde, sich gegen die starken Programme am Sonntagabend durchzusetzen. Doch seine Idee hatte sich als Geniestreich erwiesen.

Spates verließ den Raum in Richtung Bühne, Charles dicht auf den Fersen. Als er sich den Kulissen näherte, hörte er schon das leise Rascheln und Murmeln der Gläubigen – Tausenden von Gläubigen –, die ihre Plätze in der Silver Cathedral einnahmen, von der aus God’s Prime Time jeden Sonntag zwei Stunden lang gesendet wurde.

»Drei Minuten«, flüsterte Charles ihm ins Ohr.

Spates sog im Schatten der Kulissen tief die Luft ein. Die Menge draußen wurde still, als die Publikumsanweisungen über die Leinwände liefen und die Zeit seines Auftritts näher rückte.

Er fühlte, wie die Macht Gottes seinen Körper mit der Kraft des Heiligen Geistes belebte. Er liebte diesen Augenblick kurz vor der Predigt; er ließ sich mit nichts auf der Welt vergleichen, eine Woge aus sengenden Flammen, Triumph und jubelnder Vorfreude.

»Besetzte Plätze?«, fragte er Charles flüsternd.

»Etwa sechzig Prozent.«

Eine kalte Klinge fuhr mitten ins Herz seiner Freude. Sechzig Prozent – letzte Woche waren es siebzig gewesen. Noch vor einem halben Jahr hatten die Leute um Karten Schlange gestanden, jeden Sonntag wieder, und viele hatten keine mehr abbekommen. Doch seit dem Zwischenfall im Motel waren die telefonischen Spenden während der Sendung um die Hälfte zurückgegangen, und die Einschaltquote war um vierzig Prozent gesunken. Die Bastarde vom Christian Cable Service standen kurz davor, seine wöchentliche Talkshow abzusetzen. God’s Prime Time Ministry, die kleine Gemeinde, die er vor dreißig Jahren in einem aufgegebenen Supermarkt gegründet hatte, blickte der dunkelsten Nacht in ihrer Geschichte entgegen. Wenn nicht bald reichlich Geld in die Kasse floss, würde er die Zinsen und Rückzahlungen der Anleihen nicht mehr leisten können, die er unter dem Schlagwort »Kauf ein Stück von Jesus« über das Fernsehen an Hunderttausende Mitglieder seiner Gemeinde verkauft hatte, um den Bau der Silver Cathedral zu finanzieren.

Seine Gedanken kehrten zu der Besprechung mit diesem Lobbyisten, Booker Crawley, zurück. Ein Zeichen göttlicher Gnade, dass ihm gerade heute Crawleys Vorschlag in den Schoß gefallen war. Wenn er es geschickt anpackte, könnte dies genau das Thema sein, das er gesucht hatte, um seine virtuelle Gemeinde neu zu beleben und zu finanzieller Unterstützung aufzurütteln. Die Debatte »Evolution versus göttliche Schöpfung« war ein alter Hut, und es war nicht leicht, sie so darzustellen, dass sie wirklich zog – vor allem bei der großen Konkurrenz vieler anderer Fernsehprediger. Crawleys Thema jedoch war frisch und neu und wartete nur darauf, gepflückt zu werden.

Er wollte verdammt sein, wenn er diese köstliche Frucht nicht selbst pflückte – und zwar jetzt.

»Es ist so weit, Reverend«, ertönte Charles’ leise Stimme hinter ihm.

Die Scheinwerfer flammten auf, und die Menge brüllte vor Begeisterung, als Reverend Spates die Bühne betrat; er senkte den Kopf, faltete die Hände und hob sie rhythmisch in die Höhe.

»God’s Prime Time!«, rief er mit seiner klangvollen Bassstimme und reichlich Vibrato. »God’s Prime Time! Es naht die beste Zeit für den Ruhm und die Herrlichkeit Gottes!« In der Mitte der Bühne blieb er abrupt stehen, hob den Kopf und streckte die Arme den Zuschauern entgegen, als flehe er sie an. Seine Fingerspitzen zitterten. Seine Worte rollten wie eine Woge über das Publikum hinweg.

»Seid gegrüßt, alle, die ihr gekommen seid, im Namen unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus!«

Tosender Jubel brandete durch die riesige Silver Cathedral. Er hob die Hände, die Handflächen gen Himmel gereckt, und das Gebrüll setzte sich fort – unterstützt von den Publikumsanweisungen. Er ließ die Arme sinken, und es wurde still wie nach einem Donnerschlag.

Er neigte den Kopf zum Gebet und sagte mit leiser, demütiger Stimme: »Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Langsam hob er den Kopf so, dass die Zuschauer sein Profil zu sehen bekamen, hob einen Arm, nur zentimeterweise, und sprach mit seiner vollsten Stimme, jedes Wort deutlich und gedehnt: »Am Anfang«, tönte er, »schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe.«

Er machte eine Pause und schöpfte theatralisch Atem. »Und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.«

Plötzlich hallte seine Stimme durch die Silver Cathedral wie eine Kirchenorgel. »Und Gott sprach: Es werde Licht!«

Eine dramatische Pause, und er fuhr leise flüsternd fort: »Und es ward Licht.«

Er trat an den Rand der Bühne und schenkte den Gläubigen ein joviales Lächeln. »Wir alle sind mit diesen ersten Worten aus dem Buch Moses vertraut. Selten hat es machtvollere Worte gegeben. Eindeutig und unmissverständlich. Das sind wahrhaft die Worte Gottes, meine Freunde. Gott erzählt uns in Seinen eigenen Worten, wie Er das Universum erschuf.«

Gemächlich schlenderte er am Rand der Bühne entlang. »Meine lieben Freunde, würde es euch überraschen, wenn ich euch sage, dass die Regierung euer hartverdientes Geld, das Geld der Steuerzahler, für den Versuch ausgibt, Gottes Wort zu widerlegen?«

Er wandte sich dem schweigenden Publikum zu.

»Ihr glaubt mir nicht?«

Ein Murmeln erhob sich aus dem Meer von Gesichtern.

Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche seines Jacketts, riss es hoch und sagte mit donnernder Stimme: »Hier, seht selbst. Das habe ich vor nicht einmal einer Stunde aus dem Internet ausgedruckt.«

Weiteres Gemurmel.

»Und was musste ich da erfahren? Dass unsere Regierung vierzig Milliarden Dollar dafür ausgegeben hat, einen Beweis gegen die Schöpfungsgeschichte zu finden – vierzig Milliarden Dollar von eurem Geld, um die heilige Schrift des Alten Testaments zu widerlegen. Ja, meine Freunde, auch dies gehört zu dem Krieg, den die säkularen Humanisten mit finanzieller Unterstützung der Regierung gegen das Christentum führen, und es ist hässlich

Er ging erregt auf der Bühne auf und ab, schüttelte das Blatt Papier in seiner Faust, so dass es knitterte.

»Hier steht, dass sie in der Wüste von Arizona eine Maschine namens Isabella gebaut haben. Viele von euch haben schon davon gehört.«

Lautes, zustimmendes Murmeln.

»Ich hatte auch davon gehört. Ich dachte, das sei eben ein weiteres nutzloses Millionengrab der Regierung. Erst jetzt habe ich erfahren, welchem Zweck sie dienen soll.«

Abrupter Halt, langsame Drehung hin zu seinen Zuhörern. »Meine lieben Freunde, der Zweck dieser Maschine ist, die sogenannte Urknalltheorie zu überprüfen. So ist es, ihr habt richtig gehört, da ist wieder einmal dieses Wort Theorie!«

Seine Stimme troff vor Verachtung.

»Die Urknall theorie behauptet Folgendes: Vor dreizehn Milliarden Jahren explodierte ein winzig kleines Pünktchen im Weltraum und erschuf das gesamte Universum – ohne die hilfreiche Hand Gottes. Ihr habt richtig gehört: Schöpfung ohne Gott. Aa-thee-ISTische Schöpfung

Er wartete ab, während sich ungläubiges Schweigen im Saal ausbreitete. Wieder schüttelte er das Blatt in seiner Faust. »Genau das steht hier drin, Leute! Eine ganze Website, Hunderte von Seiten, will die Erschaffung des Universums erklären, ohne ein einziges Mal Gott zu erwähnen!«

Ein finsterer Blick ins Publikum.

»Diese Urknalltheorie ist keinen Deut besser als die Theorie, die behauptet, unsere Urgroßväter seien Affen gewesen. Oder die Theorie, die behauptet, das gesamte komplexe Leben auf Erden sei durch eine zufällige Veränderung von Molekülen in einer Schlammpfütze entstanden. Diese Urknalltheorie ist nichts als eine weitere säkular-humanistische, antichristliche, glaubensfeindliche Theorie, nichts anderes als die Evolutionstheorie, aber schlimmer. Viel, viel schlimmer!«

Drehung, Abwenden, erregtes Auf-und-ab-Gehen.

»Denn diese Theorie wendet sich gegen den Glauben, dass Gott das Universum erschaffen hat. Lasst euch nicht täuschen: Isabella ist ein direkter, offener Angriff gegen den christlichen Glauben. Die Urknalltheorie behauptet, dieses wunderschöne, dieses phantastische, dieses gottgegebene Universum sei ganz von allein entstanden, durch einen bloßen Zufall, vor dreizehn Milliarden Jahren. Und als wäre diese gotteslästerliche Theorie nicht schon schlimm genug, wollen sie jetzt auch noch vierzig Milliarden Dollar von unserem Geld dafür ausgeben, sie zu beweisen!«

Er ließ den zornfunkelnden Blick über die Zuschauer schweifen.

»Was würde passieren, wenn wir bei den Gelehrten in Washington Gleichbehandlung einfordern? Was, wenn wir vierzig Milliarden Dollar von ihnen verlangen würden, um zu beweisen, dass das Buch Genesis die Wahrheit enthält? Was würde passieren? Die eiskalten, jesusfeindlichen Liberalen in Washing ton würden mit den Zähnen knirschen, jawohl, sie hätten Schaum vorm Maul! Sie würden uns mit der alten Leier kommen, der Trennung von Kirche und Staat! Das sind die Leute, die Jesus aus unseren Schulzimmern verbannt, die Zehn Gebo te von den Wänden unserer Gerichtssäle gerissen, Weihnachts bäume und Krippen verboten, sich über unseren Glauben lustig gemacht und auf unsere Kirche gespuckt haben. Aber dieselben säkularen Humanisten denken sich nichts dabei, wenn sie unser Geld ausgeben, um zu beweisen, dass die Bibel sich irrt, um den christlichen Glauben als eine einzige Lüge hinzustellen!«

Das Gemurmel im Saal wurde lauter. Ein paar Leute standen auf, dann noch mehr, bis der gesamte Saal sich erhoben hatte. Die Menge schwoll förmlich an wie eine Flutwelle, und Tausende Stimmen vereinigten sich zu einem einzigen, zornigen Brüllen.

Die Bildschirme für die Zuschaueranweisungen blieben dunkel, denn sie wurden nun nicht mehr gebraucht.

»Dies ist ein Krieg gegen die Christenheit, meine Freunde! Ein Krieg bis zum bitteren Ende, und sie lassen euch und mich bluten dafür, wir müssen ihn auch noch mit unseren Steuern bezahlen! Werden wir zulassen, dass sie auf Jesus Christus spucken und uns dafür auch noch zur Kasse bitten?«

Reverend Don T. Spates blieb exakt in der Mitte der Bühne stehen. Keuchend starrte er auf den tobenden Saal seiner Kathedrale in Virginia Beach, fassungslos über die Wirkung seiner Predigt. Er konnte es hören, er konnte es sehen, er konnte es fühlen – die tosende Flut, das Aufschäumen gerechten Zorns – die Luft knisterte förmlich vor hitziger Empörung. Er konnte es kaum glauben. Sein Leben lang hatte er nur mit Steinen geworfen, und jetzt, plötzlich, hatte er eine Granate geschleudert. Dies war das Thema, die Streitfrage, um die er gebetet hatte, auf die er gehofft, nach der er gesucht hatte.

»Gelobt seien Gott und Jesus Christus!«, schrie er, hob die Arme gen Himmel und richtete den Blick an die glitzernde Decke. Er sank auf die Knie und betete mit bebender Stimme: »Jesus Christus, unser Herr, mit Deiner Hilfe werden wir jene aufhalten, die Deinen Vater zu beleidigen suchen. Wir werden diese infernalische Maschine, dieses Teufelswerk in der Wüste vernichten. Wir werden dieser Gotteslästerung namens Isabella ein Ende bereiten!«


7


Um Viertel vor acht verließ Wyman Ford sein Drei-Zimmer-Häuschen. Am Ende der Einfahrt blieb er stehen und atmete tief die duftende Nachtluft ein. Die Fenster des Speisesaals trieben als gelbe Vierecke in der Dunkelheit. Über das Plätschern der Sprinkleranlage auf dem Spielfeld hinweg hörte er ganz schwach ein Klavier Boogie-Woogie spielen, und leises Stimmengewirr. Er konnte sich Kate nicht anders vorstellen denn als die respektlose, kiffende, streitlustige Doktorandin, die er damals gekannt hatte. Aber sie musste sich verändert haben – und zwar sehr –, wenn sie inzwischen stellvertretende Leiterin des wichtigsten wissenschaftlichen Experiments in der Geschichte der Physik geworden war.

Wie von selbst drifteten seine Gedanken zu Erinnerungen an sie und ihre gemeinsame Zeit ab – Erinnerungen, die leider dazu neigten, nicht ganz jugendfrei zu sein. Hastig stopfte er sie zurück in die staubige Ecke seines Verstandes, aus der sie hervorgekrochen waren. Dies, so dachte er, war keine sonderlich verantwortungsbewusste Herangehensweise bei seinen Ermittlungen.

Er umging die Rasensprenger, erreichte den Haupteingang des Blockhauses und betrat den ehemaligen Handelsposten. Licht und Musik drangen aus dem Aufenthaltsraum rechts von ihm. Er ging hinein. Die Leute spielten Karten oder Schach, lasen oder arbeiteten an Laptops. Hier, abseits der Brücke, wirkten sie beinahe entspannt.

Hazelius persönlich saß am Klavier. Seine spinnendürren Finger hüpften noch ein paar Takte lang über die Tasten, dann stand er auf. »Wyman, herzlich willkommen! Das Essen ist fast fertig.« Er kam Ford auf halbem Weg durch den Raum entgegen, nahm ihn beim Arm und führte ihn zum Speisesaal. Die anderen erhoben sich und folgten ihnen gemächlich.

Ein massiver Tisch aus Kiefernholz mit Kerzen, Silberbesteck und frischen Blumen nahm die Mitte des Raums ein. In dem ummauerten Kamin brannte ein Feuer. Navajo-Teppiche hingen an den Wänden; Nakai-Rock-Stil, vermutete Wyman anhand der geometrischen Muster. Mehrere Weinflaschen waren bereits geöffnet worden, und der Duft von gegrilltem Steak trieb aus der Küche herüber.

Hazelius gab den geselligen Gastgeber, geleitete Leute zu ihren Plätzen, lachte und scherzte. Ford führte er zu einem Stuhl in der Mitte, neben einer gertenschlanken blonden Frau.

»Melissa? Das ist Wyman Ford, unser neuer Ethnologe. Melissa Corcoran, unsere Kosmologin.«

Sie gaben sich die Hand. Üppiges, blondes Haar fiel ihr über die Schultern, und ihre hellgrünen Augen, wie Strandglas, musterten ihn neugierig. Die Stupsnase war mit Sommersprossen gesprenkelt; eine mit Perlen bestickte Indianerweste, schlicht, aber schick, passte gut zu der einfachen Kombi aus Hose und Bluse. Doch auch Corcorans Augen waren ein wenig blutunterlaufen und gerötet.

Der Platz neben ihr am Tisch war noch frei.

»Bevor Sie sich auf Wyman stürzen«, sagte Hazelius zu Corcoran, »würde ich ihm gern die anderen vorstellen, die er vorhin noch nicht kennengelernt hat.«

»Nur zu.«

»Das ist Julie Thibodeaux, unsere Quantenfeldtheoretikerin.«

Gegenüber am Tisch warf eine Frau Ford ein knappes »Hallo« zu, bevor sie ihren gereizten Monolog wieder aufnahm, der dem weißhäuptigen, koboldähnlichen Mann neben ihr galt. Thibodeaux kam dem Stereotyp der klassischen Wissenschaftlerin sehr nahe: unscheinbar, übergewichtig, in einen schmuddeligen Laborkittel gehüllt und mit kurzem, strähnigem Haar, offensichtlich schon länger nicht mehr gewaschen. Zwei Kulis in einer Plastikhülle, die aus ihrer Kitteltasche ragten, vervollständigten die Karikatur. In ihrem Dossier stand, sie leide an einer psychischen Erkrankung mit der Bezeichnung »Borderline-Persönlichkeitsstörung«. Ford war gespannt, wie sich so etwas manifestierte.

»Der Herr, der sich gerade mit Julie unterhält, ist Harlan St. Vincent, unser Elektroingenieur. Wenn Isabella mit voller Kraft läuft, ist Harlan zuständig für die neunhundert Megawatt Energie, die sich wie die Niagarafälle in unsere Maschine ergießen.«

St. Vincent erhob sich und streckte die Hand über den Tisch. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Wyman.« Als er sich wieder setzte, nahm Thibodeaux augenblicklich ihren Sermon wieder auf, der sich offenbar um etwas namens Bose-Einstein-Kondensat drehte.

»Michael Cecchini, unser Feld-Wald-und-Wiesen-Teilchenphysiker, sitzt hier drüben.«

Ein kleiner, dunkler Mann stand auf und streckte die Hand aus. Ford drückte sie und betrachtete dabei die auffällig ausdruckslosen, dunkelgrauen Augen. Der Mann sah aus, als wäre er innerlich tot – und der Händedruck wirkte genauso: klamm und leblos. Aber als wolle er dem Nihilismus im Kern seines Wesens trotzen, hatte Cecchini sich geradezu pedantisch um sein Äußeres bemüht. Sein Hemd war so leuchtend weiß, dass es blendete, die Bügelfalte in seiner Hose war messerscharf, und sein Haar war mit militärischer Präzision gescheitelt und gekämmt. Sogar seine Hände waren makellos, so weich und sauber wie frischer Teig, die Nägel perfekt gefeilt und glänzend poliert. Ford erschnupperte den Hauch eines teuren After shaves. Doch nichts konnte die Aura existenzieller Verzweiflung überdecken, die an ihm klebte.

Hazelius beendete die Vorstellungsrunde und verschwand in der Küche, und sogleich stieg der Lärmpegel an.

Ford hatte Kate immer noch nicht gesehen. Er fragte sich, ob das Zufall sein konnte.

»Ich glaube, mir ist noch nie ein Ethnologe begegnet«, sprach Melissa Corcoran ihn an.

Er drehte sich um. »Und mir noch keine Kosmologin.«

»Sie würden staunen, wie viele Leute meinen, mein Beruf hätte mit Frisuren und Nagellack zu tun. Übrigens ist mir das Du lieber.« Ihr Lächeln wirkte einladend. »Also, was genau ist deine Aufgabe hier?«

»Ich soll die Einheimischen kennenlernen. Ihnen erklären, was hier vorgeht.«

»Hm, aber verstehst du, was hier vorgeht?« Ihre Stimme klang neckend.

»Vielleicht könntest du mir da ein bisschen Nachhilfe geben.«

Lächelnd streckte sie die Hand nach einer Flasche aus. »Wein?«

»Gern, danke.«

Sie musterte das Etikett. »Villa di Capezzana, Carmignano, zweitausend. Ich habe keine Ahnung, was das heißen soll, aber er ist gut. George Innes ist hier der Weinkenner. George? Erzähl uns was über den Wein.«

Innes unterbrach eine Unterhaltung am anderen Ende des Tisches, und ein freudiges Lächeln breitete sich über sein Gesicht. Er hob sein Glas. »Ich hatte Glück, diese Kiste zu ergattern – heute Abend wollte ich etwas wirklich Erlesenes servieren. Capezzana mag ich besonders, ein altes Weingut in den Hügeln westlich von Florenz. Die erste DOC, die Cabernet Sauvignon zugelassen hat. Er weist eine gute Farbe auf, dunkles Beerenaroma von Roten und Schwarzen Johannisbeeren und Kirsche, und eine hervorragende Fruchttiefe.«

Corcoran wandte sich mit schiefem Grinsen wieder Ford zu. »George ist ein schrecklicher Snob, was Wein angeht«, bemerkte sie, schenkte ihm großzügig ein, füllte ihr eigenes Glas auf und hob es. »Willkommen auf der Red Mesa. Ein grauenhafter Ort.«

»Warum denn das?«

»Ich habe meine Katze mitgebracht – ich konnte es nicht ertragen, sie zurückzulassen. Wir waren erst zwei Tage hier, da habe ich ein Jaulen gehört und einen Kojoten gesehen, der sie davongeschleppt hat.«

»Wie schrecklich.«

»Die schleichen hier überall herum, die räudigen Biester. Dann haben wir noch Taranteln, Skorpione, Bären, Rotfüchse, Baumstachler, Stinktiere, Klapperschlangen und Schwarze Witwen.« Diese Aufzählung schien ihr geradezu Spaß zu machen. »Ich hasse die Red Mesa«, verkündete sie genüsslich.

Ford lächelte bemüht verlegen und stellte ihr die dümmste Frage, die ihm einfallen wollte. Schließlich sollten die Leute hier ihn nicht für allzu schlau halten. »Also, wozu ist Isabella eigentlich da? Ich bin leider nur Ethnologe.«

»Theoretisch ist das ganz einfach. Isabella beschleunigt subatomare Teilchen auf beinahe Lichtgeschwindigkeit und lässt sie dann aufeinanderprallen, um so die Energiebedingungen beim Urknall nachzuvollziehen. Das ist wie bei einem Karambolage-Rennen. Zwei Teilchenstrahlen beschleunigen in entgegengesetzter Richtung in einer kreisförmigen Röhre mit einem Umfang von fünfundsiebzig Kilometern. Die Teilchen kreisen immer schneller in dem Ring, bis sie sich mit neunundneunzig Komma neun neun Prozent der Lichtgeschwindigkeit bewegen – wie gesagt, in entgegengesetzte Richtungen. Lustig wird es, wenn wir sie frontal aufeinanderprallen lassen. So reproduzieren wir die ungeheure Gewalt des Urknalls.«

»Was für Teilchen lasst ihr da zusammenstoßen?«

»Materie und Antimaterie – Protonen und Antiprotonen. Wenn die aufeinanderprallen – wumm! Die plötzlich frei werdende Energie ruft eine Streuung aller möglichen Teilchen hervor. Diese Streuung wird in den Detektoren erfasst, und dann können wir feststellen, was für Teilchen das sind und wie sie entstehen konnten.«

»Woher bekommt ihr denn Antimaterie?«

»Per Postversand aus Washington.«

Ford lächelte. »Und ich dachte, die verschicken nur Schwarze Löcher.«

»Nein, im Ernst, wir erschaffen unsere Antimaterie selbst vor Ort, indem wir eine Goldplatte mit Alphastrahlen beschießen. Die Antiprotonen sammeln wir in einem zweiten Ring und leiten sie dann in den Hauptring, wenn wir sie brauchen.«

»Und was hat das alles mit Kosmologie zu tun?«, fragte Ford.

»Ich bin hier, um finstere Dinge zu studieren!« Sie rollte dramatisch mit den Augen. »Dunkle Materie und dunkle Energie.« Sie nippte an ihrem Wein.

»Klingt beängstigend.«

Sie lachte. Er beobachtete, wie sie ihn mit ihren grünen Augen unverhohlen abwägend musterte, und fragte sich, wie alt sie wohl sein mochte. Dreiunddreißig? Vierunddreißig?

»Vor etwa dreißig Jahren wurde den Astronomen allmählich klar, dass die meiste Materie im Universum nicht von der Sorte ist, die man sehen oder berühren kann. Sie nannten sie Dunkle Materie. Offenbar ist Dunkle Materie überall um uns herum, unsichtbar, sie fließt quasi unbemerkt durch uns hindurch, wie ein Schattenuniversum. Galaxien liegen mitten in riesigen Seen aus Dunkler Materie. Wir wissen nicht, was sie ist, warum es sie gibt, oder wie sie entstand. Da die Dunkle Materie gleichzeitig mit normaler Materie beim Urknall entstanden sein muss, kann ich mit Hilfe von Isabella hoffentlich etwas davon erzeugen.«

»Und Dunkle Energie?«

»Wunderbares, unheimliches Zeug. Neunzehnhundertneunundneunzig fanden Kosmologen heraus, dass irgendein unbekanntes Energiefeld das Universum expandieren lässt, immer schneller, es wird praktisch aufgeblasen wie ein riesiger Luftballon. Dieses Energiefeld haben sie als Dunkle Energie bezeichnet. Niemand hat auch nur die geringste Ahnung, was sie ist oder woher sie kommt. Aber sie scheint ziemlich bösartig zu sein.«

Auf der anderen Seite des Tisches schnaubte Wolkonski und höhnte mit schriller Stimme: »Bösartig? Universum ist neutral. Kümmert sich keine Dreck um uns.«

»Tatsache ist«, fuhr Corcoran fort, »dass Dunkle Energie letzten Endes das Universum zerstören wird – beim Endknall.«

»Endknall?« Bisher hatte Ford den Ahnungslosen nur gespielt, doch der Endknall war ihm tatsächlich neu.

»Das ist die jüngste Theorie über das Schicksal des Universums. Ziemlich bald wird sich die Expansion des Universums so stark beschleunigen, dass Galaxien auseinandergerissen werden, dann die Sterne, die Planeten, du und ich – bis hinunter zu den Atomen selbst. Alles weg, mit einem gewaltigen Puff! Die Existenz selbst ist dann zu Ende. Ich habe den Wikipedia-Artikel darüber verfasst. Sieh ihn dir mal an.«

Sie trank einen weiteren Schluck, und Ford bemerkte, dass sie nicht die Einzige war, die sich den Wein schmecken ließ. Die Gespräche um sie herum waren immer lauter geworden, und ein halbes Dutzend leerer Flaschen stand auf dem Tisch.

»Sagtest du gerade ›ziemlich bald‹?«

»Es wird höchstens noch zwanzig bis fünfundzwanzig Milliarden Jahre dauern.«

»Bald ist Frage von Perspektive«, warf Wolkonski mit heiserem Lachen ein.

Corcoran sagte: »Wir Kosmologen betrachten alles auf lange Sicht.«

»Und wir Computerwissenschaftler kurze. Millisekunde kurze.«

»Millisekunden?«, bemerkte Thibodeaux verächtlich. »In der Quantenelektrodynamik habe ich es mit Femtosekunden zu tun.«

Hazelius kam mit einer Servierplatte herein, auf der sich gegrillte Filetsteaks türmten. Unter anerkennendem Gemurmel stellte er sie auf den Tisch.

Hinter ihm erschien Kate Mercer mit einer großen Schüssel Pommes frites. Ohne in Fords Richtung zu blicken, stellte sie sie ab und verschwand wieder in der Küche.

Nichts, was Ford sich ausgemalt hatte, hätte ihn hierauf vorbereiten können – den ersten Blick auf sie, seit sie sich getrennt hatten. Mit fünfunddreißig war sie sogar noch schöner, als sie es mit dreiundzwanzig gewesen war – nur ihre lange, wilde schwarze Mähne war einer schicken Kurzhaarfrisur gewichen. Die immer etwas schlampige Studentin in Jeans und übergroßen Männerhemden war erwachsen geworden. Vor zwölf Jahren hatte er sie zuletzt gesehen – aber es fühlte sich an, als seien nur ein paar Tage vergangen.

Er bekam einen Stups in die Rippen, wandte sich um und bemerkte, dass Corcoran ihm die Steakplatte hinhielt. »Ich hoffe doch, du bist kein Vegetarier, Wyman.«

»Ganz und gar nicht.« Er suchte sich ein bluttriefendes Stück aus, reichte die Platte weiter und bemühte sich, ganz entspannt zu wirken. Kates Erscheinen hatte ihn aus der Fassung gebracht.

»Glaub ja nicht, dass wir jeden Abend so ein Festmahl bekommen«, sagte sie. »Das ist nur zur Feier deiner Ankunft.«

Ein Löffel klingelte auf Glas, und Hazelius stand mit erhobenem Weinglas auf. Die Gespräche verstummten.

»Ich habe eine kleine Willkommensansprache vorbereitet …« Er blickte sich um. »Wo steckt denn bloß unsere stellvertretende Leiterin?«

Die Küchentür ging auf, Kate eilte heraus und setzte sich hastig neben Ford, den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet.

»Wie ich gerade sagte, möchte ich das neueste Mitglied unseres Teams ganz herzlich willkommen heißen: Wyman Ford.«

Ford schaute weiterhin Hazelius an und betrachtete nur aus den Augenwinkeln Kates schlanke Gestalt neben sich, spürte die Wärme ihres Körpers, roch ihren Duft.

»Wie die meisten von Ihnen bereits wissen, ist Wyman Ethnologe, das heißt, sein Fachgebiet ist die menschliche Natur – eine wesentlich komplexere Angelegenheit als alles, woran wir hier arbeiten.« Er hob das Glas höher. »Ich freue mich darauf, Sie näher kennenzulernen, Wyman. Und ein ganz, ganz herzliches Willkommen von uns allen.«

Am Tisch wurde geklatscht.

»Und nun, bevor ich mich wieder setze, möchte ich noch ein paar Worte zu unserer Enttäuschung gestern Abend verlieren …« Er zögerte kurz. »Wir sind verwickelt in einen Kampf, der schon andauert, seit das erste menschliche Wesen zu den Sternen aufblickte und sich fragte, was genau sie sein mochten. Die Suche nach der Wahrheit ist das größte menschliche Streben überhaupt. Von der Entdeckung des Feuers bis hin zur Entdeckung des Quarks ist diese Suche die Essenz dessen, was Menschsein ausmacht. Wir – wir vierzehn, die wir hier versammelt sind – sind die wahren Erben des Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl, um es den Menschen zu bringen.«

Er legte eine dramatische Pause ein.

»Sie alle kennen das Schicksal des Prometheus. Aus Rache ketteten die Götter ihn für alle Ewigkeit an einen Felsen. Jeden Tag stößt ein Adler herab und verschlingt seine Leber. Doch weil er unsterblich ist, muss er die Folter ewig ertragen.«

Im Raum war es so still, dass Ford das Feuer im Kamin knistern hörte.

»Die Suche nach der Wahrheit ist schwer, sehr schwer, wie wir nun selbst erfahren müssen.« Hazelius hob sein Glas. »Auf die Erben des Prometheus.«

Mit ernsten Mienen hoben alle die Gläser und tranken.

»Unser nächster Durchlauf beginnt am Mittwochmittag. Bis dahin möchte ich, dass jeder Einzelne von Ihnen sich voll und ganz und ausschließlich auf die anstehende Aufgabe konzentriert.«

Er setzte sich. Die Leute am Tisch griffen zu Messer und Gabel und nahmen allmählich ihre Unterhaltung wieder auf.

Als die Stimmen laut genug geworden waren, sagte Ford leise: »Hallo, Kate.«

»Hallo, Wyman.« Ihr Blick war reserviert. »Das als Überraschung zu bezeichnen wäre stark untertrieben.«

»Du siehst gut aus.«

»Danke.«

»Stellvertretende Leiterin – du hast es wirklich weit gebracht.« Er war sich vorgekommen wie ein Voyeur, als er ihr Dossier gelesen hatte. Aber er hatte sich nicht davon abhalten können – es war fesselnd. Sie hatte seit ihrer Trennung einiges erlebt.

»Und du – was ist aus deiner Karriere bei der CIA geworden?«

»Die habe ich aufgegeben.«

»Und jetzt bist du Ethnologe?«

»Ja.«

Keiner von beiden sprach weiter. Der Klang ihrer Stimme, dieser singende Tonfall mit einem ganz schwachen Lispeln, traf ihn noch härter als ihre Erscheinung. Rasch dämmte er die Flut von Erinnerungen ein. Diese Reaktion war absurd – das mit ihnen war lange her. Seitdem hatte er ein halbes Dutzend Beziehungen gehabt, er war verheiratet gewesen. Ihre Trennung war außerdem ziemlich hässlich abgelaufen – keine Spur von »Lass uns Freunde bleiben«. Sie hatten einander unverzeihliche Dinge an den Kopf geworfen.

Kate hatte sich abgewandt und sprach mit jemand anderem. Er nippte an seinem Wein und hing seinen Gedanken nach – an damals, als er sie am MIT zum ersten Mal gesehen hatte. Eines frühen Nachmittags hatte er ganz hinten in der Barker Engineering Library nach einem stillen Eckchen zum Lesen gesucht, als ihm eine Frau auffiel, die dort unter einem Tisch schlief – ein gar nicht so ungewöhnlicher Anblick. Ihre rechte Wange ruhte auf ihrer Hand; der andere Arm war über ihre Bluse ausgestreckt. Ihr langes, glänzendes Haar war über den Teppich gebreitet. Sie war schlank und wirkte kühl, mit den feinen, zarten Gesichtszügen, die man oft bei Menschen von gemischter asiatischer und europäischer Abstammung findet. Sie sah aus wie eine schlafende Gazelle. Die blasse Kuhle an ihrem feingeschwungenen Hals, zwischen den Schlüsselbeinen, erschien ihm als das Erotischste, was er je gesehen hatte. Er betrachtete sie ausgiebig, genoss schamlos jedes erotische Detail ihres schlafenden Körpers. Er konnte sich einfach nicht losreißen. Er starrte sie an.

Eine Fliege streifte ihre Wange. Ihr Kopf zuckte, und sie riss die mahagonifarbenen Augen auf, deren Blick direkt auf ihn fiel. Er fühlte sich ertappt.

Sie errötete und kroch verlegen unter dem Tisch hervor. »Hast du ein Problem?«

Er nuschelte, er habe sich nur vergewissern wollen, dass ihr nichts fehlte.

Ihr Blick wurde weicher, und sie wirkte ein wenig betreten. »Muss schon seltsam ausgesehen haben, wie ich da auf dem Boden lag. Normalerweise kommt um diese Tageszeit nie jemand her. Hier kann ich mich zehn Minuten hinlegen und erfrischt wieder aufwachen.«

Er versicherte ihr noch einmal, dass er sich nur habe vergewissern wollen, ob sie Hilfe brauche. Sie bemerkte beiläufig, sie brauche höchstens einen doppelten Espresso, bevor sie sich wieder über die Bücher hermachte. Er sagte, er könne auch einen vertragen – und das war ihre erste Verabredung.

Sie waren grundverschieden. Das machte gerade den Reiz aus. Sie kam aus der Arbeiterschicht in einem Dorf, er gehörte der Großstadt-Elite an. Sie stand auf Blondie, er hörte gern Bach. Sie rauchte manchmal Haschisch, was er ein wenig skandalös fand. Er war Katholik, sie eine schreiende Atheistin. Er war beherrscht; sie war unberechenbar, spontan, manchmal sogar wild. Bei ihrer zweiten Verabredung war sie es, die sich an ihn heranmachte. Obendrein war sie eine brillante Studentin – vielleicht sogar ein Genie. Sie war so klug, dass es ihm Angst einjagte und ihn zugleich erst recht scharf machte. Sogar außerhalb der Physik war sie von dem Drang, die menschliche Natur verstehen zu wollen, wie besessen. Sie war eine leidenschaftliche Partisanin, zutiefst empört über die Ungerech tigkeit der Welt, und gehörte zu jenen, die Petitionen unterschrieben, auf der Straße demonstrierten und hitzige Leserbriefe schrieben. Er erinnerte sich daran, wie sie oft bis in die frühen Morgenstunden über Politik und Religion diskutiert hatten, an ihre überraschend tiefen Einsichten in die menschliche Psyche, so emotional ihre Ansichten auch sein mochten.

Seine Entscheidung, zur CIA zu gehen, hatte ihre Beziehung beendet. In ihren Augen war man entweder einer von den guten Jungs, oder eben nicht. Die CIA gehörte definitiv in die Kategorie »oder eben nicht«.

»Also, Wyman«, fragte Kate, »warum hast du sie aufgegeben?«

»Was?« Ford wurde in die Gegenwart zurückgerissen.

»Deine Karriere bei der CIA. Was ist passiert?«

Ford wünschte, er könnte sich überwinden, es einfach auszusprechen: Weil meine Frau bei einem unserer Undercover-Einsätze von einer Autobombe zerfetzt wurde. »Das war doch nichts für mich«, sagte er lahm.

»Verstehe. Wäre es … bestünde denn Grund zur Hoffnung, dass du deine Einstellung geändert hast?«

Und was ist mit deiner Einstellung?, dachte Ford, behielt das aber für sich. Das sah ihr so ähnlich: direkt zum springenden Punkt vorzudringen, koste es, was es wolle. Das hatte er an ihr geliebt, und er hatte es gehasst.

»Das Essen sieht toll aus«, sagte er, um das Gespräch unverbindlich zu halten. »Soweit ich mich erinnere, warst du früher die Königin der Mikrowelle.«

»Von dem ganzen Fertigfraß bin ich dick geworden.«

Wieder Schweigen.

Ford spürte von der anderen Seite einen weiteren Rippenstoß. Melissa Corcoran hielt eine Flasche in der Hand und bot an, ihm nachzuschenken. Ihr Gesicht war gerötet.

»Das Steak ist perfekt«, sagte sie. »Gut gemacht, Kate.«

»Danke.«

»Blutig – genau so, wie ich es mag. Aber, he!«, sagte sie und wies auf Fords Teller. »Du hast deines ja gar nicht angerührt!«

Ford aß einen Bissen, aber der Appetit war ihm vergangen.

»Das liegt sicher daran, dass Kate dir alles über die Stringtheorie erzählt hat. Ziemlich cool – auch wenn es reine Spekulation ist.«

»Ganz im Gegensatz zu Dunkler Energie«, bemerkte Kate mit einem scharfen Unterton in der Stimme.

Ford spürte sofort die Spannung zwischen den beiden Frauen.

»Dunkle Energie«, erklärte Corcoran kühl, »wurde experimentell entdeckt. Durch Beobachtung. Das Problem bei der Stringtheorie ist genau umgekehrt – sie existiert nur als ein Haufen hypothetischer Berechnungen ohne überprüfbare Voraussagen. Das ist eigentlich nicht wissenschaftlich zu nennen.«

Wolkonski beugte sich über den Tisch, und Ford roch einen Hauch von schalem Zigarettenrauch. »Dunkle Energie, Strings, pff! Wer interessiert das? Ich will wissen, was macht Ethnologe.«

Ford war froh über die Ablenkung. »Wir leben eine Zeitlang in der Wildnis bei irgendeinem Stamm und stellen eine Menge dumme Fragen.«

»Ha, ha!«, machte Wolkonski. »Vielleicht hast du gehört, Rothäute kommt zur Red Mesa. Ich hoffe, wird keine skalpieren hier!« Er stieß eine Art Indianergeheul aus und blickte sich beifallheischend um.

»Das ist nicht witzig«, sagte Corcoran bissig.

»Mach locker, Melissa«, erwiderte Wolkonski mit gerecktem Kinn, und das Klümpchen Bart daran zitterte vor unterdrückter Wut. »Lass mir in Ruhe mit politische korrekt.«

Corcoran wandte sich Ford zu. »Er kann nichts dafür. Er hat seinen Doktor in Verarschen gemacht.«

Noch so eine geladene Beziehung, dachte Ford. Er würde aufpassen müssen, nicht ins Kreuzfeuer zu geraten, bis er herausgefunden hatte, wie alle hier zueinander standen.

Wolkonski sagte: »Ich glauben, Melissa zu gut von die Wein getrunken heute Abend. Wie immer.«

»Joo, natürrrlick«, schnarrte sie, eine treffende Imitation von Wolkonskis starkem Akzent. »Liebärrr ich saufen Wodka wie du mittän in Nacht!« Sie hob das Glas, rief »Prrrost!« und kippte den Rest ihres Weins herunter.

»Wenn ich kurz unterbrechen darf«, begann Innes mit glatter, professioneller Stimme. »Es ist zwar gut, Gefühle offen zu zeigen, aber ich würde vorschlagen …«

Hazelius brachte ihn mit einem Wink zum Schweigen und blickte ruhig zwischen Wolkonski und Corcoran hin und her; der Druck dieses Blicks bewirkte augenblickliches Schweigen. Wolkonski lehnte sich mit zuckendem Mundwinkel zurück. Corcoran verschränkte die Arme vor der Brust.

Hazelius ließ das Schweigen unangenehm werden, ehe er sagte: »Wir sind alle ein bisschen übermüdet und niedergeschlagen.« Seine Stimme war leise und verständnisvoll. In der Stille knackte das Feuer. »Nicht wahr, Peter?«

Wolkonski sagte nichts.

»Melissa?«

Ihr Gesicht war rot. Sie nickte knapp.

»Lassen Sie es einfach gut sein … Immer mit der Ruhe … Seien Sie nachsichtig und verzeihen Sie einander … Um unserer gemeinsamen Arbeit willen.«

Seine Stimme war sanft, beruhigend, der Rhythmus beinahe hypnotisch – wie ein Trainer, der ein nervöses Pferd besänftigte. Im Gegensatz zu Innes’ Stimme war darin kein Anklang von Herablassung zu hören.

»So ist es«, mischte Innes sich ein, und seine Stimme l ieß die außergewöhnliche Ruhe zerplatzen, die Hazelius geschaffen hatte. »Ganz genau. Das war eine gesunde Aussprache. Wir können diese Themen bei unserer nächsten Gruppensitzung aufgreifen. Wie gesagt, es ist gut, so etwas offen anzusprechen.«

Wolkonski stand so abrupt auf, dass sein Stuhl hintenüberkippte. Er knüllte die Serviette zusammen und schleuderte sie auf den Tisch. »Scheiß auf Gruppensitzung. Ich muss arbeiten.«

Die Tür knallte hinter ihm zu.

Niemand sprach. Das einzige Geräusch im Saal war ein leises Rascheln von Papier, als Edelstein, der mit dem Essen fertig war, eine weitere Seite von Finnegans Wake umblätterte.


8


Pastor Russ Eddy trat aus dem Wohnwagen, warf sich ein Handtuch über die knochigen Schultern und blieb auf dem Hof stehen. Über der Mission war ein strahlender, klarer Montag heraufgezogen. Die aufgehende Sonne tauchte das sandige Tal in goldenes Licht und färbte auch die Äste der abgestorbenen Pappel neben seinem Trailer. Am Horizont ragte die gigantische Red Mesa wie eine Feuersäule in der frühen Morgensonne auf.

Er blickte zum Himmel auf, legte die Handflächen aneinander, verneigte sich und sagte mit klarer, kraftvoller Stimme: »Ich danke Dir, Herr, für diesen Tag.«

Nach einem Augenblick des Schweigens schlurfte er zu der Wasserpumpe in seinem Vorgarten und hängte das Handtuch über einen Pfosten, an dem man in früheren Zeiten die Pferde angebunden hatte. Energisch betätigte er ein gutes Dutzend Mal den Pumpschwengel. Ein Strom kalten Wassers ergoss sich in eine Zinkwanne. Russ klatschte sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht, tauchte ein Stück Seife in die Wanne, seifte sich ein, rasierte sich und putzte sich die Zähne. Er wusch sich Gesicht und Arme, spritzte sich Wasser auf die eingesunkene Brust, nahm das Handtuch vom Pfosten und rubbelte sich trocken. Dann inspizierte er sich in dem Spiegel, der an einem rostigen Nagel an einem Zaunpfahl hing. Sein Gesicht war dünn, und von seinem Kopf standen schüttere Haarbüschel ab. Er verabscheute seinen Körper; er sah aus wie ein zittriger kleiner Vogel. Vor langer Zeit hatte der Arzt seiner Mutter erklärt, das sei eine »Gedeihstörung«. Die Andeutung, seine körperliche Schwäche sei irgendwie seine Schuld, er sei schlicht »gestört«, schmerzte heute noch.

Sorgfältig kämmte er sein bisschen Haar über die kahlen Stellen und zog eine Grimasse, um sich seine krummen Zähne anzusehen, die richten zu lassen er sich nie leisten konnte. Aus irgendeinem Grund erinnerte ihn das an seinen Sohn Luke – er müsste jetzt elf sein –, und der Schmerz wurde tiefer. Er hatte Luke seit sechs Jahren nicht mehr gesehen, genauso lange, wie er die Unterhaltszahlungen schon nicht mehr aufbringen konnte. Plötzlich stand ihm eine lebhafte Erinnerung vor Augen – wie Luke an einem heißen Sommertag splitternackt durch den Tropfenfächer eines Rasensprengers gelaufen war … Es fühlte sich an, als schlitze ihm jemand die Kehle auf. So wie die Navajo-Frau, die er einmal dabei beobachtet hatte, wie sie einem Lamm die Kehle durchschnitt, das sich wehrte und schrill blökte, noch lebendig, aber eigentlich schon tot.

Er zitterte beim Gedanken an die vielen Ungerechtigkeiten in seinem Leben, an seine Geldsorgen, die Untreue seiner Frau, die Scheidung. Immer wieder war er zum Opfer geworden, ohne dass er selbst irgendeine Schuld daran trug. Als er zur Mission ins »Rez«, das Reservat, gekommen war, hatte er nichts besessen als seinen Glauben und zwei Kartons voll Bücher. Gott prüfte seinen Glauben mit einem harten, mühseligen Leben und ständigem Geldmangel. Eddy hasste es, überall Schulden zu haben, vor allem bei Indianern. Aber Gott, der Herr, würde schon wissen, was Er tat, und Eddy baute hier langsam seine Gemeinde auf, obwohl die Leute sich offenbar eher für die Kleidung interessierten, die er verschenkte, als für seine Predigt. Niemand legte je mehr als ein paar Dollar in das Kollektenkörbchen – an manchen Sonntagen kamen kaum zwanzig Dollar zusammen. Und viele seiner Schäfchen gingen danach weiter zur Messe der Katholischen Mission, um kostenlose Brillen und Medikamente einzusacken, oder zur LDS Church in Rough Rock, wo es Essen umsonst gab. Das war das Problem mit den Navajos: Sie konnten die Stimme des Mammons nicht von der Gottes unterscheiden.

Er hielt einen Moment inne und blickte sich nach Lorenzo um, doch sein Navajo-Gehilfe war noch nicht erschienen. Beim Gedanken an Lorenzo wurde ihm heiß vor Zorn. Das Geld aus der Kollektenkasse war schon zum dritten Mal verschwunden, und nun zweifelte er nicht mehr daran, dass Lorenzo der Dieb war. Es waren nur gut fünfzig Dollar gewesen, aber seine Mission brauchte diese fünfzig Dollar dringend, und schlimmer noch – er hatte den Herrn bestohlen. Lorenzos Seele war in Gefahr, und das wegen lausiger fünfzig Kröten.

Eddy hatte es satt. Letzte Woche schon hatte er beschlossen, Lorenzo zu feuern, aber dafür brauchte er einen Beweis. Und den würde er bald haben. Gestern, zwischen der Kollekte und dem Ende des Gottesdienstes, hatte er die Geldscheine im Körbchen mit einem gelben Stift markiert. Dann hatte er den Kaufmann in Blue Gap gebeten, die Augen danach offen zu halten, ob jemand mit diesen Scheinen bei ihm bezahlte.

Er zog sein T-Shirt an, reckte die mageren Arme und ließ mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Abscheu den Blick über seine bescheidene Missionsstation gleiten. Der Trailer, in dem er wohnte, war praktisch Schrott. In der Nähe stand der Heuschuppen aus Faserzement-Bauteilen, den er einem Rancher in Ship Rock abgekauft hatte; er hatte den Schuppen zerlegt, hierhertransportiert und wieder aufgebaut – das war seine Kirche. Echte Knochenarbeit. Plastikstühle in verschiedensten Größen, Farben und Formen ersetzten die Kirchenbänke. Die »Kirche« hatte nur eine Wand, nach drei Seiten hin war sie offen, und während seiner Predigt gestern hatte der Wind aufgefrischt und seine Gemeinde mit Sand bedeckt. Sein einziger wertvoller Besitz war im Wohnwagen, ein iMac Intel Core Duo mit Zwanzig-Zoll-Bildschirm; ein frommer Tourist, der das Navajo-Land bereist hatte, hatte ihm den Computer geschickt, beeindruckt von Eddys Missionsarbeit unter schwierigsten Bedingungen. Der Computer war ein Geschenk Gottes, denn er verband ihn mit dem Rest der Welt außerhalb des Reservats. Täglich verbrachte er viele Stunden im Internet, besuchte christliche Foren und Chatrooms, empfing und verschickte E-Mails und organisierte die Kleiderspenden.

Eddy ging in die Kirche, rückte die Stühle zurecht, bis sie wieder ordentliche Reihen bildeten, und fegte mit einem Handbesen den Sand von den Sitzflächen. Währenddessen dachte er an Lorenzo und wurde immer wütender, scheppernd riss er die Stühle auseinander und stieß sie grob an ihre Plätze. Das wäre eigentlich Lorenzos Arbeit gewesen.

Als er damit fertig war, holte er den großen Besen, ging zu dem hölzernen Podest, auf dem er seine Predigten hielt, und begann, auch dieses zu fegen. Da sah er Lorenzo im Hof erscheinen. Endlich. Der Navajo ging die drei Kilometer von Blue Gap hierher immer zu Fuß, und er hatte die Angewohnheit, lautlos einzutreffen, unerwartet, wie ein Geist.

Eddy richtete sich auf und stützte sich auf den Besenstiel, als der junge Navajo den Schatten der Kirche betrat.

»Hallo, Lorenzo«, sagte Eddy und bemühte sich, gelassen zu klingen. »Der Herr segne und schütze dich an diesem Tag.«

Lorenzo warf sich die langen Zöpfe über die Schulter zurück. »Hi.«

Eddy forschte in dem missmutigen Gesicht nach Anzeichen von Drogen-oder Alkoholrausch, doch Lorenzo wich seinem Blick aus, nahm ihm wortlos den Besen aus der Hand und machte sich an die Arbeit. Navajos waren schwer zu durchschauen, aber Lorenzo war besonders unzugänglich – ein schweigsamer Einzelgänger, der nur sich selbst zu vertrauen schien. Es war schwierig zu beurteilen, ob in diesem Kopf überhaupt etwas vorging, außer der Gier nach Drogen und Alkohol. Eddy konnte sich nicht erinnern, dass Lorenzo in seiner Gegenwart je einen einzigen vollständigen Satz gesprochen hätte. Kaum zu glauben, dass er an der Columbia University studiert, wenn auch keinen Abschluss gemacht hatte.

Er trat zurück und sah zu, wie Lorenzo fegte, langsam und ungeschickt, so dass er breite, sandige Streifen hinterließ. Eddy unterdrückte den Drang, Lorenzo jetzt gleich auf die Kollekte anzusprechen. Eddy hatte selbst kaum mehr genug zu essen und würde sich das Benzingeld schon wieder borgen müssen, und dieser Lorenzo stahl Gottes Geld, zweifellos, um damit Drogen oder Schnaps zu kaufen. Bei der Vorstellung, Lorenzo endlich damit zu konfrontieren, regte er sich immer mehr auf. Aber er musste erst abwarten, bis er von dem Ladenbesitzer hörte, denn er brauchte einen Beweis. Wenn er Lorenzo beschuldigte, und der Junge stritt alles ab – und das würde er, der kleine Lügner –, was konnte er dann ohne Beweise gegen ihn unternehmen?

»Lorenzo, wenn du hier fertig bist, könntest du dann bitte die neuen Kleiderspenden sortieren?« Er deutete auf mehrere Kartons, die am Freitag angekommen waren, gespendet von einer Kirche in Arkansas.

Der junge Indianer ließ ihn mit einem Brummen wissen, dass er verstanden hatte. Eddy beobachtete ihn noch einen Moment lang bei seiner schlampigen Kehrarbeit. Lorenzo war high, daran bestand kein Zweifel – er hatte die Kollekte gestohlen und sich davon Drogen gekauft. Jetzt würde Eddy nicht einmal mehr diese Woche überstehen, ohne sich Geld für Benzin und Essen leihen zu müssen.

Er bebte vor Zorn – doch er sagte nichts, wandte sich ab und marschierte steif zu seinem Trailer, um sein kärgliches Frühstück zuzubereiten.


9


Ford blieb auf der Schwelle des Stalls stehen. Die Montagmorgensonne fiel schräg herein und erleuchtete einen kleinen Sturm aus Staubflocken. Er hörte, wie sich die Pferde in ihren Boxen beim Fressen leicht bewegten. Er trat ein, schlenderte die Stallgasse entlang und blieb stehen, um sich das Pferd in der ersten Box anzusehen. Ein Paint Horse, das gerade an einem Maul voll Hafer kaute, blickte ihm entgegen.

»Howdy, Partner, wie heißt du denn?«

Das Pferd schnaubte laut und senkte dann das Maul wieder zum Hafer.

Am anderen Ende des Stalls klapperte ein Eimer. Ford drehte sich um und sah einen Kopf aus der letzten Box ragen: Kate Mercer.

Sie starrten einander an.

»Morgen«, sagte Ford und rang sich ein Lächeln ab, das hoffentlich locker wirkte.

»Morgen.«

»Stellvertretende Leiterin, Stringtheoretikerin, Köchin und … Stallbursche? Du bist eine vielseitig begabte Frau.« Er bemühte sich, das leichthin klingen zu lassen. Sie besaß nämlich noch weitere Talente, an die zu denken er möglichst vermied.

»Das könnte man so sagen.«

Sie drückte sich den behandschuhten Handrücken gegen die Stirn und kam dann mit einem Eimer voll Getreide auf ihn zu. Ein Strohhalm hatte sich in ihrem glänzenden Haar verfangen. Sie trug enge Jeans und eine uralte Jeansjacke über einem frischen weißen Männerhemd. Der Kragenknopf war offen, und er erhaschte einen Blick auf den gerundeten Ansatz ihrer Brüste.

Ford schluckte, und alles, was er herausbrachte, war ein dümmliches: »Du hast dir die Haare abschneiden lassen.«

»Haare neigen nun mal zum Wachsen, das ist richtig.«

Er ging nicht auf die Spitze ein. »Sieht hübsch aus«, sagte er freundlich.

»Das ist sozusagen meine Version einer traditionellen japanischen Frisur, die man umano-o nennt.«

Kates Frisur war schon immer ein empfindliches Thema gewesen. Ihre japanische Mutter wollte nicht, dass Kate irgendetwas Japanisches an sich hatte. In ihrem Haus durfte kein Japanisch gesprochen werden, und sie bestand darauf, dass Kate ihr Haar lang und offen trug, wie jedes amerikanische Durchschnittsmädchen. Kate hatte nachgegeben, was die Frisur anging, doch als ihre Mutter anzudeuten begann, dass Ford einen idealen, echt amerikanischen Ehemann abgeben würde, suchte Kate nur umso gründlicher nach seinen Fehlern und Mängeln.

Ford begriff plötzlich, was diese neue Frisur bedeuten musste. »Deine Mutter?«

»Sie ist vor vier Jahren verstorben.«

»Das tut mir leid.«

Kurze Pause. »Willst du ausreiten?«, fragte Kate.

»Ich hatte daran gedacht.«

»Ich wusste gar nicht, dass du reiten kannst.«

»Ich habe einen Sommer auf einer Pferderanch verbracht, als ich zehn war.«

»In diesem Fall würde ich dir nicht empfehlen, Snort zu reiten.« Sie wies mit einem Nicken auf das Paint Horse. »Wohin willst du denn ausreiten?«

Ford zog eine genaue Karte der Umgebung aus seiner Tasche und faltete sie auf. »Ich wollte nach Blackhorse, um den Medizinmann dort zu besuchen. Sieht so aus, als wären das mit dem Auto dreißig Kilometer auf furchtbar schlechten Straßen. Aber zu Pferd sind es nur knapp zehn Kilometer, wenn man den Pfad an der Rückseite der Mesa nimmt.«

Kate nahm ihm die Karte ab und begutachtete die Strecke. »Das ist der Midnight Trail. Nichts für unerfahrene Reiter.«

»Aber so spare ich mir die stundenlange Fahrerei.«

»Ich würde trotzdem lieber den Jeep nehmen.«

»Ich will da nicht in einem Auto voll hochoffizieller Regierungsembleme vorfahren.«

»Hm. Ich verstehe, was du meinst.«

Ein Schweigen entstand.

»Also schön«, sagte Kate. »Das richtige Pferd für dich ist Ballew.« Sie nahm ein Halfter von einem Haken, betrat eine Box und führte gleich darauf ein staubgraues Pferd mit Hirschhals, Rattenschwanz und einem dicken Heubauch heraus.

»Den wollte die Hundefutterfabrik wohl nicht nehmen.«

»Beurteile ein Pferd nie allein nach dem Aussehen. Der alte Ballew ist bombensicher. Und er ist klug genug, um beim Abstieg auf dem Midnight Trail Ruhe zu bewahren. Hol seinen Sattel und die Satteldecke von dem Ständer da, ich helfe dir beim Aufzäumen.«

Sie bürsteten und sattelten das Pferd, legten ihm das Zaumzeug an und führten es hinaus.

»Weißt du, wie du allein da hochkommst?«, fragte sie.

Ford sah sie verwundert an. »Fuß in den Steigbügel und hochschwingen – oder?«

Sie hielt ihm die Zügel hin.

Ford fummelte ein wenig damit herum, warf dann ein Ende über den Hals des Pferdes, hielt den Steigbügel fest und stellte den Fuß hinein.

»Warte, du musst erst …«

Doch er hatte schon schwungvoll aufzusteigen versucht. Der Sattel rutschte nach unten, Ford verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Hintern im Staub. Ballew blieb gleichmütig stehen, den Sattel nun seitlich am Bauch.

»Ich wollte gerade sagen, du musst erst den Sattelgurt nachziehen.« Sie verkniff sich offenbar das Lachen.

Ford rappelte sich auf und klopfte sich den Schmutz von der Hose. »Macht ihr das hier draußen mit allen Neuen so?«

»Ich habe ja versucht, dich zu warnen.«

»Na ja, ich sollte jetzt wirklich los.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du könntest sonst wo auf der Welt sein – ich kann es nicht fassen, dass du ausgerechnet hier bist.«

»Du klingst nicht gerade erfreut.«

»Bin ich auch nicht.«

Ford verbiss sich eine Erwiderung. Er hatte hier eine Aufgabe zu erledigen. »Darüber bin ich schon lange hinweg. Ich hoffe, du schaffst das auch irgendwann.«

»Oh, darum brauchst du dir keine Sorgen zu machen – ich bin längst darüber weg. Eine solche Komplikation kann ich im Augenblick nur nicht gebrauchen.«

»Und was für eine Komplikation soll ich sein?«, fragte Ford.

»Vergiss es.«

Ford schwieg. Er würde sich auf keine persönlichen Geschichten mit Kate einlassen. Konzentrier dich auf deinen Auftrag. »Gehst du heute wieder in den Bunker?«, fragte er gleich darauf beiläufig.

»Ich fürchte es.«

»Noch mehr Probleme?«

Ihr Blick flackerte – argwöhnisch, glaubte er. »Kann sein.«

»Was denn für welche?«

Sie blicke zu ihm auf und schaute wieder weg. »Hardware-Fehler.«

»Hazelius hat mir erzählt, die Software sei das Problem.«

»Die auch.« Wieder wich sie seinem Blick aus.

»Kann ich euch irgendwie helfen?«

Nun sah sie ihn direkt an, und der Blick ihrer mahagonifarbenen Augen wirkte verschleiert und bekümmert. »Nein.«

»Ist es … etwas Ernstes?«

Sie zögerte. »Wyman? Mach du deinen Job, und lass uns unseren machen – okay?«

Abrupt wandte sie sich ab und ging zurück in den Stall. Ford sah ihr nach, bis sie drinnen im Schatten verschwunden war. Sie wirkte so … unglücklich.


10


In Ballews Sattel entspannte Ford sich allmählich. Er bemühte sich, seine Gedanken von Kate abzulenken, die darin für seinen Geschmack viel zu viel Raum einnahm. Es war ein herrlicher Spätsommertag, geprägt von einem Hauch Melancholie, der ihn daran gemahnte, dass der Sommer bald vorüber sein würde. Zwischen den trockenen Gräsern blühte goldgelbes Snakeweed. Die Feigenkakteen starrten schon vor Stacheln, und die Apache Plumes hatten ihre Blüten gegen die rot-weißen, fedrigen Büschel getauscht, die den Herbst ankündigten.

Der Pfad endete, und Ford setzte seinen Weg mit Hilfe des Kompasses fort. Alte, verkrüppelte Wacholderbüsche und bizarre Felsformationen ließen die Landschaft der Mesa irgendwie urzeitlich wirken. Er entdeckte die Spur eines Bären im Sand, und die Prankenabdrücke wirkten beinahe menschlich. Shush – das längst vergessene Navajo-Wort für »Bär« fiel ihm plötzlich wieder ein.

Vierzig Minuten später erreichte er den Rand der Mesa. Die Klippe stürzte ein paar hundert Meter weit fast senkrecht in die Tiefe, bevor sie sich über terrassenförmige Sandsteinschichten gemächlicher nach Blackhorse absenkte, das sechshundert Meter unterhalb lag. Die Siedlung sah aus wie eine Ansammlung geometrischer Figuren in der Wüste, knapp einen Kilometer vom Fuß des Tafelbergs entfernt.

Ford stieg aus dem Sattel und suchte den Rand der Klippe ab, bis er den Spalt im Felsen fand, wo der Midnight Trail hinabführte. Er war auf der Karte als alter Pfad aus den Zeiten der Uranprospektion eingezeichnet, aber abbröckelnde Felsen, Gerölllawinen und Erosion hatten den Weg an vielen Stellen unterbrochen. Er schnitt sich durch den Fels am Rand der Mesa und zog sich in steilen Spitzkehren die Klippe hinab, querte eine alte Abbaukante und setzte sich im Zickzack weiterer Serpentinen bis nach unten fort. Fords Blicke folgten dem Verlauf des Pfades, der an manchen Stellen kaum mehr als einen Meter breit war, und allein davon wurde ihm schon schwindlig. Vielleicht hätte er doch lieber mit dem Jeep fahren sollen. Aber er wollte verdammt sein, wenn er jetzt umkehrte.

Er führte Ballew an die Kante, begann den Abstieg und führte das Tier hinter sich her. Unbeeindruckt senkte das alte Pferd den Kopf, schnupperte kurz und folgte Ford brav hinunter. Ford empfand so etwas wie Bewunderung, ja Zuneigung, für den hässlichen alten Gaul.

Eine halbe Stunde später kamen sie unten an. Ford saß auf und ritt das letzte Stück Weges einen flachen, von Tamarisken beschatteten Canyon entlang nach Blackhorse. Viehpferche, eine Windmühle, ein Wassertank und ein Dutzend schäbige Trailer bildeten den gesamten Ort. Hinter einem Trailer standen mehrere achtseitige Hogans aus Zedernholzbrettern mit Lehmdächern. In der Mitte des Ortes spielte ein halbes Dutzend Vorschulkinder an einer verrosteten Schaukel, und ihre Schreie hallten schrill durch die Leere der Wüste. Neben den Wohnwagen waren Pick-ups abgestellt.

Ford ließ Ballew etwa fünfzehn Meter vor dem nächsten Trailer anhalten und wartete. Aus Ramah wusste er, dass der Raum, den ein Navajo als seinen persönlichen, privaten Bereich betrachtete, weit vor der Haustür begann. Gleich darauf wurde krachend eine Tür geöffnet, und ein schlaksiger Mann mit O-Beinen und Cowboyhut kam aus einem der Wohn wagen gehumpelt. Er kam auf Ford zu und hob die Hand. »Binden Sie Ihr Pferd da drüben an«, rief er laut, um den Wind zu übertönen.

Ford stieg ab, band Ballew an und lockerte den Sattelgurt. Der Mann kam näher und schirmte mit der Hand die Augen gegen die Sonne ab. »Wer sind Sie?«

Ford streckte die Hand aus. »Yá’át ééh, shi éí Wyman Ford yinishyé.«

»O nein, nicht noch ein Bilagaana, der versucht, Navajo zu sprechen!«, rief der Mann fröhlich und fügte dann hinzu: »Zumindest ist Ihr Akzent besser als bei den meisten anderen.«

»Danke.«

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich suche Nelson Begay.«

»Sie haben ihn gefunden.«

»Haben Sie einen Moment Zeit?«

Begay musterte ihn mit schmalen Augen. »Sind Sie von der Mesa gekommen?«

»So ist es.«

»Oh.«

Schweigen.

Begay sagte: »Das ist ein verdammt schwieriger Weg.«

»Nicht, wenn man das Pferd führt.«

»Kluger Mann.« Eine weitere verlegene Pause. »Sie sind … Sie sind also von der Regierung, ja?«

»Ja.«

Begay starrte ihn erneut mit zusammengekniffenen Augen an, schnaubte dann, wandte sich ab und humpelte zu dem Trailer zurück. Gleich darauf knallte die Tür zu. Stille senkte sich über den Ort Blackhorse.

Was jetzt? Ford stand im aufgewirbelten Sand und kam sich vor wie ein Idiot. Wenn er jetzt an die Tür klopfte, würde Begay nicht aufmachen; er würde sich damit nur selbst zu einem weiteren aufdringlichen Bilagaana stempeln. Andererseits war er hier, um mit Begay zu sprechen, und das würde er auch tun.

Verdammt, der Kerl kann ja nicht ewig in seinem Trailer bleiben. Ford setzte sich auf den Boden.

Die Minuten zogen sich endlos hin. Der Wind wehte. Der Staub wirbelte.

Zehn Minuten vergingen. Ein Käfer marschierte zielstrebig durch den Staub und wurde zu einem kleinen schwarzen Punkt, der schließlich verschwand. Fords Gedanken schweiften ab und landeten wieder einmal bei Kate, ihrer Beziehung und dem langen Weg, den sein Leben seither zurückgelegt hatte. Unweigerlich musste er auch an seine Frau denken. Ihr Tod hatte ihm jegliches Gefühl von Sicherheit im Leben genommen. Vorher war ihm gar nicht bewusst gewesen, wie willkürlich und launenhaft das Leben sein konnte. Tragödien stießen nur anderen Menschen zu. Ja, schön, Lektion gelernt. Ihm konnte das auch passieren. Und weiter im Text.

Er bemerkte einen Vorhang am Wohnwagen, der sich leicht bewegte, und schloss daraus, dass Begay ihn beobachtete.

Er fragte sich, wie lange der Kerl brauchen würde, um zu kapieren, dass Ford nicht die Absicht hatte, sich von der Stelle zu rühren. Hoffentlich begriff er es bald – der Sand drang allmählich durch seine Hose, arbeitete sich in seine Stiefel vor und rieselte bis in seine Socken.

Die Tür schlug knallend auf, und Begay erschien unter dem hölzernen Vorbau; er verschränkte die Arme und wirkte sehr verärgert. Er musterte Ford mit finsterem Blick, hinkte dann die klapprigen Holzstufen herunter und kam auf ihn zu. Er streckte die Hand aus und half Ford auf.

»Sie sind verdammt noch mal der geduldigste weiße Mann, dem ich je begegnet bin. Sie werden wohl reinkommen müssen. Aber bürsten Sie sich ab, ehe Sie mir mein neues Sofa ruinieren.«

Ford klopfte sich den Staub von der Hose und folgte Begay ins Wohnzimmer, wo sie sich setzten.

»Kaffee?«

»Ja, gern.«

Begay kam mit zwei Bechern Flüssigkeit zurück, so dünn wie Tee. Auch daran erinnerte Ford sich – der Grund dafür war Sparsamkeit. Die Navajos brühten den Kaffeesatz mehrmals auf.

»Milch? Zucker?«

»Nein, danke.«

Begay löffelte Unmengen Zucker in seinen Becher, gefolgt von einem kräftigen Schluck Kaffeesahne.

Ford sah sich inzwischen um. Das braune Sofa mit billigem Baumwollsamt-Bezug sah alles andere als neu aus. Begay mach-te es sich in einem kaputten Ledersessel bequem. Ein riesiger, teurer Fernseher stand in der Ecke, soweit Ford sehen konnte, das einzige wertvolle Stück in diesem Heim. Die Wand dahinter war mit Familienfotos bedeckt, auf denen oft junge Männer in Uniformen zu sehen waren.

Ford warf Begay einen neugierigen Blick zu. Der Medizinmann war völlig anders, als er erwartet hatte – weder ein hitzköpfiger junger Aktivist noch ein weiser, runzliger Ältester. Er war schlaksig, hatte ordentlich kurz geschnittenes Haar und sah aus wie Anfang vierzig. Statt der Cowboystiefel, die die meisten Navajo-Männer in Ramah trugen, hatte er knöchelhohe Sneakers an den Füßen, zerschrammt und ausgebleicht und mit halb abgelöstem Gummi an den Zehen. Das einzige Zugeständnis an seine indianische Identität war eine Halskette aus ungeschliffenen Türkisen.

»Also schön, was wollen Sie nun von mir?« Er sprach leise, mit einer Stimme so weich wie ein Holzblasinstrument und diesem seltsamen Navajo-Akzent, der jedem Wort eine besondere Bedeutung zu verleihen schien.

Ford wies mit einem Nicken auf die Fotowand. »Ihre Familie?«

»Neffen.«

»Sie sind beim Militär?«

»Bei der Army. Einer ist in Südkorea stationiert. Der andere, Lorenzo, hat eine Runde Irak hinter sich und ist jetzt …« Kurzes Zögern. »Wieder da.«

»Sie müssen sehr stolz auf sie sein.«

»Das bin ich.«

Wieder Schweigen. »Wie ich höre, organisieren Sie den berittenen Protestmarsch gegen das Isabella-Projekt.«

Keine Antwort.

»Nun, deshalb bin ich hier. Um mir Ihre Bedenken dagegen anzuhören.«

Begay verschränkte die Arme. »Es ist zu spät fürs Zuhören.«

»Geben Sie mir eine Chance.«

Begay ließ die Arme sinken und beugte sich vor. »Niemand hat die Leute hier in der Gegend damals gefragt, ob wir Isabella wollten. Das wurde alles in Window Rock ausgehandelt. Die kriegen das Geld, und wir kriegen gar nichts. Sie haben uns erzählt, es würden Arbeitsplätze entstehen – dann habt ihr Bauarbeiter von auswärts hergebracht. Sie haben uns erzählt, unsere Wirtschaft würde sich endlich entwickeln – aber ihr Leute da oben lasst euch Essen und Vorräte mit Lastwagen aus Flagstaff bringen. Nicht ein einziges Mal hat einer von euch in unseren Geschäften in Blue Gap oder Rough Rock eingekauft. Ihr habt eure Häuser in einem Anasazi-Tal gebaut, ihr habt Gräber entweiht und uns Weideland weggenommen, das wir regelmäßig benutzt haben, ohne jede Entschädigung. Und jetzt hören wir alles Mögliche über zerschossene Atome und gefährliche Strahlung.«

Er legte die großen Hände auf die Knie und funkelte Ford an.

Ford nickte. »Ich höre zu.«

»Schön, dass Sie nicht taub sind. Sie wissen so verdammt wenig über uns – ich wette, Sie wissen nicht mal, wie spät es ist.« Fragend zog er die Brauen hoch. »Na los, sagen Sie schon – was meinen Sie, wie spät es ist?«

Ford wusste, dass der andere ihm irgendeine Falle stellte, spielte aber mit. »Neun.«

»Falsch!«, rief Begay triumphierend. »Es ist zehn.«

»Zehn?«

»So ist es. Hier im Reservat sind wir das halbe Jahr lang in einer anderen Zeitzone als der Rest von Arizona, und das übrige halbe Jahr in derselben. Wenn Sie im Sommer ins Big Rez kommen, ist es hier eine Stunde später als im übrigen Staat. Stunden und Minuten sind sowieso eine Erfindung der Bilagaana, aber der springende Punkt ist: Ihr Genies da oben wisst so wenig über uns, dass ihr noch nicht mal eure Uhren richtig gestellt habt.«

Ford sah ihn gelassen an. »Mr. Begay, wenn Sie bereit sind, mit mir zusammenzuarbeiten, um wirklich etwas zu verändern, dann verspreche ich Ihnen, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht. Sie haben einige berechtigte Einwände vorgebracht.«

»Was sind Sie überhaupt, Wissenschaftler?«

»Ich bin Ethnologe.«

Plötzlich herrschte Schweigen. Dann lehnte Begay sich gemächlich zurück. Ein trockenes Lachen schüttelte den mageren Mann. »Ein Ethnologe. Als wären wir irgendein primitiver Stamm von Eingeborenen. Oh, das ist ja todkomisch.« Er hörte auf zu lachen. »Also, ich bin Amerikaner, genau wie Sie. Ich habe Verwandte, die für dieses Land kämpfen. Es passt mir nicht, dass ihr hier raus zu meiner Mesa kommt, eine Maschine baut, die allen furchtbare Angst einjagt, einen Haufen Versprechungen macht, die ihr dann nicht einhaltet – und jetzt schickt ihr uns noch einen Ethnologen, als wären wir Wilde, die Tier-knochen in der Nase tragen.«

»Sie haben mich deshalb hierhergeschickt, weil ich einige Zeit in Ramah verbracht habe. Ich möchte Sie gern zum Isabella-Projekt einladen, damit Sie sich alles ansehen können, Sie mit Gregory Hazelius bekannt machen, Ihnen zeigen, was wir dort tun, und Ihnen das gesamte Team vorstellen.«

Begay schüttelte den Kopf. »Die Zeit für Führungen ist vorbei.« Er zögerte und fragte dann beinahe widerstrebend: »Was für Forschung betreiben Sie da oben eigentlich genau? Ich habe ein paar seltsame Geschichten gehört.«

»Wir erforschen den Urknall.«

»Was ist das?«

»Die Theorie, dass das Universum vor dreizehn Milliarden Jahren durch eine Explosion entstanden ist und sich seither immer weiter ausdehnt.«

»Mit anderen Worten, ihr steckt die Nase in die Angelegenheiten des Schöpfers.«

»Der Schöpfer hat uns sicher nicht umsonst mit Verstand ausgestattet.«

»Ihr da oben glaubt also nicht, dass ein Schöpfer das Universum erschaffen hat.«

»Ich bin Katholik, Mr. Begay. Ich sehe das so: Der Urknall war einfach die Art, wie Er es getan hat.«

Begay seufzte. »Wie ich schon sagte: Genug geredet. Wir reiten am Freitag auf die Mesa. Das ist die Nachricht, die Sie Ihrem Team ausrichten können. Und wenn Sie jetzt so freundlich wären, ich habe zu arbeiten.«


Ford ritt auf Ballew zurück zu der Stelle, wo der Steilpfad anfing. Er blickte zu den Felstürmen, Spalten und Klippen auf. Nun, da er wusste, dass Ballew die Serpentinen und schwierigen Passagen meistern konnte, brauchte er nicht mehr zu laufen. Er würde das alte Pferd dort hinaufreiten.

Als sie eine Stunde später den Rand der Mesa erreichten, drängte Ballew im Trab voran, begierig, den heimischen Stall zu erreichen. Ford klammerte sich panisch an den Sattelknauf und war froh, dass ihn niemand sehen konnte, denn er musste einen lächerlichen Anblick bieten. Gegen ein Uhr ragte der Nakai Rock vor ihm auf, und die felsigen Hügel rund um das Tal kamen in Sicht. Als er in das Pappelwäldchen hinunterritt, hörte er ein heiseres Lachen und sah eine Gestalt, die schnell und offenbar wütend von Isabella zur Siedlung lief.

Es war Wolkonski, der Computerprogrammierer. Sein langes, fettiges Haar war zerzaust. Er sah abgehärmt und zornig aus, grinste aber zugleich wie ein Irrer.

Ford ließ Ballew anhalten, stieg rasch ab und benutzte das Pferd dazu, den Weg zu versperren.

»Hallo.«

»Darf ich?«, sagte Wolkonski und versuchte, sich vorbeizudrücken.

»Schöner Tag, meinen Sie nicht?«

Wolkonski blieb stehen und starrte ihn mit zorniger Belustigung an. »Sie fragen: Ist das schöner Tag? Und ich antworte Ihnen: Nie bessere Tag geben!«

»Tatsächlich?«, fragte Ford.

»Und was gehen Sie an, Ethnologe?« Er warf den Kopf zurück und bleckte die bräunlichen Zähne zu einer Grimasse aufgesetzten Humors.

Ford trat so dicht an den Russen heran, dass er ihn hätte berühren können. »So, wie Sie aussehen, würde ich vermuten, dass Sie alles andere als einen schönen Tag hatten.«

Wolkonski legte Ford in gespielter Freundlichkeit eine Hand auf die Schulter und beugte sich vor. Eine Alkoholfahne und der Dunst von Zigaretten hüllten Ford ein. »Vorher ich Sorgen machen. Jetzt mir geht gut!« Er warf den Kopf zurück und brüllte vor heiserem Lachen; sein unrasierter Adamsapfel hüpfte auf und ab.

Hinter ihnen waren Schritte zu hören. Wolkonski richtete sich abrupt auf.

»Ah, Peter«, sagte Wardlaw, der den Pfad entlang auf sie zukam. »Und Wyman Ford. Seid gegrüßt.« Seine angenehme Stimme, die seltsam ironisch klang, legte besondere Betonung auf die letzten Worte.

Wolkonski zuckte zusammen.

»Kommen Sie aus dem Bunker, Peter?« Wardlaws Worte wirkten drohend.

Wolkonski behielt sein irres Grinsen bei, doch Ford sah nun Verlegenheit in seinem Blick – oder war es Angst?

»Das Sicherheitslogbuch sagt aus, dass Sie die ganze Nacht lang dort drin waren«, fuhr Wardlaw fort. »Ich mache mir Sorgen um Sie. Ich hoffe, Sie bekommen trotzdem genug Schlaf, Peter.«

Stumm ging Wolkonski an ihm vorbei und marschierte steif den Weg entlang davon.

Wardlaw wandte sich Ford zu, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen. »Schöner Tag für einen Ausritt.«

»Darüber hatten wir uns gerade unterhalten«, bemerkte Ford trocken.

»Wo waren Sie denn?«

»Ich bin nach Blackhorse geritten, um den Medizinmann kennenzulernen.«

»Und?«

»Ich habe ihn kennengelernt.«

Wardlaw schüttelte den Kopf. »Dieser Wolkonski … regt sich ständig über irgendetwas auf.« Er ging einen Schritt weiter und blieb dann erneut stehen. »Er hat nichts gesagt, was Ihnen … seltsam vorkam, oder?«

»Zum Beispiel?«, fragte Ford.

Wardlaw zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Der Mann ist nicht ganz richtig im Kopf.«

Ford beobachtete, wie Wardlaw weiterging, die fleischigen Fäuste in die Taschen gestopft – wie die anderen stand auch dieser Mann offenbar kurz vor dem Zusammenbruch, er war nur viel besser darin, das zu verbergen.


11


Eddy stand vor seinem Wohnwagen, ein Glas kaltes Wasser in der Hand, und sah zu, wie die Sonne hinter dem fernen Horizont versank. Lorenzo war nirgends zu sehen – er war irgendwann gegen Mittag verschwunden, ebenso lautlos, wie er gekommen war, und ohne seine Arbeit beendet zu haben. Ein Haufen unsortierter Kleidung lag auf einem Tisch, und der Sand um die Kirche herum war nicht mit dem Rechen geglättet. Eddy starrte auf den Horizont, innerlich glühend vor Ärger. Er hätte sich nie bereit erklären sollen, Lorenzo einzustellen. Der junge Mann hatte im Gefängnis gesessen, wegen fahrlässiger Tötung – die Verteidigung hatte das Gericht von Mord so weit heruntergehandelt. Er hatte bei einer Prügelei im Suff jemanden erstochen, in Gallup. Und dafür nur achtzehn Monate abgesessen. Eddy war nur bereit gewesen, ihn einzustellen, weil die Familie, die in der Nähe wohnte, ihn darum gebeten hatte, damit der junge Mann die Bewährungsauflagen erfüllen konnte.

Schwerer Fehler.

Eddy trank noch einen Schluck kaltes Wasser, als könnte es ihm helfen, den heißen Groll und die Wut zu kühlen, die in ihm kochten. Er hatte noch nichts von dem Händler in Blue Gap gehört, aber er zweifelte nicht daran, dass der sich bald melden würde. Dann würde er endlich den Beweis haben, den er brauchte, um Lorenzo endgültig loszuwerden, ihn zurück ins Gefängnis zu schicken, wo er hingehörte. Achtzehn Monate für einen Mord – kein Wunder, dass die Verbrechensrate im Reservat so hoch war.

Er trank einen weiteren Schluck und entdeckte zu seiner Überraschung einen Mann, der die Straße zur Mission entlangkam und vor der sinkenden Sonne nur als Silhouette auszumachen war. Er kniff die Augen zusammen und starrte hinüber.

Lorenzo.

Selbst auf diese Entfernung konnte er an Lorenzos unsicherem Gang erkennen, dass der Mann betrunken war. Eddy verschränkte die Arme und wartete, und beim Gedanken an die bevorstehende Konfrontation schlug sein Herz schneller. Er würde das nicht einfach auf sich beruhen lassen – nicht diesmal.

Lorenzo erreichte das Tor, lehnte sich einen Moment lang gegen den Pfosten und trat dann ein.

»Lorenzo?«

Der Navajo wandte langsam den Kopf. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine albernen Zöpfe halb aufgelöst, das Stirnband saß schief. Er sah furchtbar aus und hielt sich so krumm, als trüge er die Last der gesamten Welt auf seinen Schultern.

»Komm bitte her. Ich möchte mit dir sprechen.«

Lorenzo starrte ihn nur an.

»Lorenzo, hast du mich nicht gehört?«

Der Indianer wandte sich ab und schlurfte zu dem Haufen Kleidung.

Eddy hastete hinüber und stellte sich Lorenzo in den Weg. Der Indianer blieb stehen, hob den Kopf und sah ihn an. Der säuerliche Geruch von Bourbon hüllte Eddy ein.

»Lorenzo, du weißt genau, dass der Genuss von Alkohol einen Verstoß gegen deine Bewährungsauflagen darstellt.«

Lorenzo starrte ihn stumm an.

»Außerdem bist du einfach gegangen, obwohl du noch nicht mit der Arbeit fertig warst. Ich muss deinem Bewährungs helfer berichten, ob du hier anständig arbeitest, und ich werde ihn nicht belügen. Ich werde nicht für dich lügen, hörst du? Du bist entlassen.«

Lorenzo ließ den Kopf sinken. Einen Moment lang hielt Eddy das für ein Anzeichen von Reue, doch dann hörte er ein röchelndes Geräusch, Lorenzo hustete Schleim hoch, schob den Schleimklumpen über die Lippen und ließ ihn zu Eddys Füßen in den Sand klatschen wie eine rohe Auster.

Eddys Herz hämmerte. Er raste vor Zorn.

»Spuck mich nicht an, wenn ich mit dir rede, Bürschchen«, sagte er laut.

Lorenzo versuchte, mit einem Schritt zur Seite um Eddy herumzugehen, doch der Pastor vertrat ihm erneut den Weg. »Hörst du mir überhaupt zu, oder bist du betrunken?«

Der Indianer stand einfach nur da.

»Woher hattest du das Geld für deinen Schnaps?«

Lorenzo hob die Hand und ließ sie schwer wieder sinken.

»Ich habe dich etwas gefragt.«

»Jemand war mir was schuldig.« Seine Stimme klang heiser.

»Ach ja? Wer denn?«

»Sie kennen seinen Namen nicht.«

»Du kennst seinen Namen nicht«, erwiderte Eddy.

Lorenzo machte einen weiteren halbherzigen Versuch, ihn zu umgehen, und Eddy trat wieder dazwischen. Er merkte, dass seine Hände zitterten. »Zufällig weiß ich, woher du das Geld hast. Du hast es gestohlen. Aus der Kirchenkollekte.«

»Niemals.«

»O doch. Du hast es gestohlen. Über fünfzig Dollar.«

»Blödsinn.«

»Red nicht so mit mir, Lorenzo. Ich habe gesehen, wie du es genommen hast.« Die Lüge war ihm über die Lippen gekommen, ehe er es recht gemerkt hatte. Doch das war jetzt gleich; er hätte ihn ja leicht dabei beobachten können – und das Schuldbewusstsein stand dem Jungen ins Gesicht geschrieben.

Lorenzo sagte nichts.

»Das waren fünfzig Dollar, die diese Mission dringend braucht. Aber du hast nicht nur die Mission bestohlen. Du hast nicht nur mich bestohlen. Du hast Gott, den Herrn, bestohlen.«

Keine Erwiderung.

»Was meinst du, wie der Herr darauf reagieren wird? Hast du einmal daran gedacht, als du dir das Geld genommen hast, Lorenzo? Und wenn deine rechte Hand dir Anlass zur Sünde gibt, so hau sie ab und wirf sie von dir; denn es ist besser, dass eins deiner Glieder umkommt und nicht dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird

Lorenzo wandte sich brüsk ab und ging den Weg zurück, den er gekommen war, in Richtung des Ortes. Eddy stürzte sich auf ihn und hielt sein T-Shirt an der Schulter fest. Lorenzo riss sich los und ging weiter. Plötzlich bog er ab und lief auf den Trailer zu.

»Wo willst du hin?«, rief Eddy. »Geh nicht da rein!«

Lorenzo verschwand im Wohnwagen. Eddy rannte ihm nach und blieb in der Tür stehen. »Raus hier!« Er zögerte, dem jungen Mann nach drinnen zu folgen, denn er fürchtete einen Angriff. »Du bist ein Dieb!«, schrie er hinein. »Das bist du. Ein gewöhnlicher Dieb. Verlass sofort mein Haus! Ich rufe die Polizei!«

Von der Küche her ertönte ein Krachen, und eine Besteckschublade flog durch den einzigen Raum.

»Den Schaden wirst du mir bezahlen! Jeden Cent!«

Ein weiteres Krachen, noch mehr Besteck flog durch die Gegend. Eddy wollte unbedingt dort hinein, aber er hatte zu viel Angst. Zumindest war der betrunkene Indianer in der Küche und nicht im Schlafbereich, wo sein Computer stand.

»Raus da, du Säufer! Abschaum! In den Augen Jesu bist du nichts als Schmutz! Ich werde deinem Bewährungshelfer hiervon berichten, und dann gehst du zurück ins Gefängnis! Das garantiere ich dir!«

Plötzlich stand Lorenzo vor dem Eingang, ein langes Brotmesser in der Hand.

Eddy wich zurück und trat von der kleinen Veranda. »Lorenzo. Nein.«

Lorenzo stand unsicher unter dem Vorbau, fuchtelte mit dem Messer herum und blinzelte in die untergehende Sonne. Er ging nicht weiter auf Eddy zu.

»Leg das Messer weg, Lorenzo. Lass es fallen.«

Die Hand senkte sich.

»Lass es sofort los.« Eddy konnte sehen, wie die vor Anspannung weißen Fingerknöchel über dem Griff sich ein wenig lockerten. »Lass es fallen, sonst wird Jesus dich bestrafen.«

Plötzlich drang ein zorniges Gurgeln aus Lorenzos Kehle. »Ich ficke deinen Jesus in den Arsch, siehst du!« Er stieß das Messer so heftig aufwärts in die Luft, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor.

Eddy taumelte rückwärts, von den Worten getroffen wie von einem Tritt in den Bauch. »Wie – kannst – du – es – wagen, dich so an unserem Erlöser zu versündigen? Du kranker – du bösartiger Mistkerl! Du wirst in der Hölle schmoren, Satan! Du …!« Eddys schrille Stimme erstarb, als ihm die Hysterie die Kehle zuschnürte.

Lorenzo gab ein schmutziges, schleimiges Lachen von sich. Er schwenkte das Messer durch die Luft und grinste, als weide er sich an Eddys Grauen. »Ja, Mann, in den Arsch

»Du wirst in der Hölle schmoren!«, schrie Eddy, der auf einmal seinen Mut wiedergefunden hatte. »Du wirst Jesus anflehen, deine verdorrten Lippen zu benetzen, doch Er wird dich nicht erhören. Weil du Abschaum bist. Menschlicher Dreck und Abschaum!«

Lorenzo spuckte erneut aus. »Wenn du meinst.«

»Gott wird dich niederschlagen, sage ich dir. Er wird dich zerschmettern und verfluchen, du Gotteslästerer! Du hast Ihn bestohlen, du dreckiger, diebischer Indianer!«

Lorenzo stürzte sich auf Eddy. Doch der Prediger war klein und flink, und als das Messer in einem weiten, schlechtgezielten Bogen auf ihn zu schwang, wich Eddy seitlich aus und packte Lorenzos Unterarm mit beiden Händen. Der Navajo wehrte sich und versuchte, das Messer wieder gegen Eddy zu wenden, doch der hielt den Unterarm mit beiden Händen fest wie ein Terrier; er verdrehte und zerrte an dem Arm, damit der Indianer das Messer fallen ließ.

Lorenzo grunzte und kämpfte gegen ihn an, doch in seinem betrunkenen Zustand hatte er nicht viel Kraft. Plötzlich wurde sein Arm schlaff, und Eddy hielt ihn immer noch umklammert.

»Lass das Messer fallen.«

Lorenzo stand unsicher da. Eddy witterte seine Chance, rammte Lorenzo mit der Schulter, wirbelte ihn herum und schnappte nach dem Messer. Eddy verlor das Gleichgewicht, stürzte rücklings zu Boden, und Lorenzo fiel auf ihn. Doch im Fallen hatte Eddy den Griff des Messers zu fassen bekommen. Lorenzo fiel in die Klinge, die ihn aufspießte. Eddy spürte heißes Blut über seine Hände rinnen, ließ mit einem Aufschrei das Messer los und kroch unter dem Navajo hervor. Das Messer steckte in Lorenzos Brust, direkt über dem Herzen.

»Nein!«

Es war unglaublich, aber Lorenzo kam wieder auf die Beine, obwohl das Messer noch aus seiner Brust ragte. Er taumelte rückwärts und legte, offenbar mit letzter Kraft, beide Hände um den Messergriff. So blieb er einen Moment lang stehen, beide Hände um den Griff geklammert, und bemühte sich verzweifelt, mit rasch schwindenden Kräften die Klinge herauszuziehen, das Gesicht völlig ausdruckslos, der Blick schon verschleiert. Dann kippte er nach vorn, fiel schwer auf den Sand, und die Wucht des Aufpralls trieb die Klinge tiefer hinein, bis sie aus seinem Rücken ragte.

Eddy starrte ihn an und konnte nur stumm die Lippen bewegen. Unter dem hingestreckten Körper bildete sich eine Blutlache im Sand, die im durstigen Boden versickerte und nur geleeartige Klümpchen zurückließ.

Der erste Gedanke, der Eddy durch den Kopf schoss, war: Ich werde nie wieder Opfer sein.


Die Sonne war längst untergegangen, und die Luft hatte sich abgekühlt, als Eddy mit der Grube fertig war. Der Sand war weich und trocken, und er hatte ein tiefes Loch gegraben – sehr tief.

Er hielt inne, schweißgebadet und zitternd zugleich. Er kletterte aus dem Loch, zog die Leiter heraus, stemmte einen Fuß gegen die Leiche und ließ sie in die Grube rollen. Sie landete mit einem hässlichen, feuchten Plumps.

Sorgfältig schaufelte er den ganzen blutgetränkten Sand in das Loch, grub so tief, wie das Blut versickert war, und ließ kein Körnchen blutigen Sand zurück. Dann zog er seine Kleidung aus und warf sie hinterher. Als Nächstes kam das blutige Wasser, in dem er sich die Hände gewaschen hatte, das mitsamt dem Eimer in dem Loch verschwand, gefolgt von dem Handtuch, mit dem er sich abgetrocknet hatte.

Zitternd stand er am Rand der dunklen Grube, splitternackt. Sollte er beten? Aber der Gotteslästerer hatte kein Gebet verdient – und was sollten Gebete jemandem nützen, der sich ohnehin schon kreischend im Fegefeuer wand? Eddy hatte ihm gesagt, dass Gott ihn niederschmettern würde; und keine fünfzehn Sekunden später hatte Gott genau das getan. Gott hatte die Hand des blasphemischen Diebes gegen ihn selbst gerichtet. Eddy war selbst Zeuge geworden – er hatte das Wunder mit angesehen. Gott war da gewesen, an seiner Seite.

Immer noch nackt füllte Eddy das Loch auf, Schaufel um Schaufel, um sich durch die harte körperliche Arbeit warm zu halten. Gegen Mitternacht war er fertig. Mit dem Rechen ließ er die letzten Spuren seiner Arbeit verschwinden, räumte sein Werkzeug weg und ging in den Wohnwagen.

Als Pastor Eddy in dieser Nacht im Bett lag und so inbrünstig betete, wie er noch nie im Leben gebetet hatte, hörte er, dass der Wind auffrischte, wie so oft. Er stöhnte und rüttelte und schüttelte an dem alten Trailer, während der Sand an den Fenstern zischte. Bis zum Morgen, dachte Eddy, würde der Hof vom Wind sauber gefegt sein, eine glatte Fläche jungfräulichen Sandes, alle Spuren des Zwischenfalls getilgt.

Der Herr reinigt den Boden für mich, denn Er vergibt mir und tilgt die Sünde auch aus meiner Seele.

Eddy lag im Dunkeln, zitternd und triumphierend.


12


Am selben Abend folgte Booker Crawley dem Oberkellner in den schummrigen hinteren Teil des Steakhouse in McLean, Virginia. Er fand Reverend Don T. Spates bereits am Tisch vor, wo er die fünf Pfund schwere, in Leder gebundene Speisekarte studierte.

»Reverend Spates, wie schön, Sie wiederzusehen.« Er gab dem Mann die Hand.

»Ist mir ein Vergnügen, Mr. Crawley.«

Crawley setzte sich, schüttelte seine kunstvoll gefaltete Leinenserviette aus und legte sie sich in den Schoß.

Ein Cocktail-Kellner glitt an ihren Tisch. »Darf ich den Herren etwas zu trinken bringen?«

»Einen Seven and Seven«, sagte der Reverend.

Crawley verzog das Gesicht und war froh, dass er ein Restaurant ausgewählt hatte, wo ihn niemand erkennen würde. Der Reverend roch nach Old Spice, und seine Koteletten waren einen Zentimeter zu lang. Leibhaftig sah der Mann zwanzig Jahre älter aus als im Fernsehen; das Gesicht war leberfleckig und unrein, mit diesem rötlichen Schleifpapier-Teint, der einen Menschen als Trinker auswies. Sein orangerotes Haar schimmerte in der trüben Beleuchtung. Wie konnte ein Mann, der sich die Medien so geschickt zunutze machte, einen Friseur tolerieren, der so schlecht im Haarefärben war?

»Und für Sie, Sir?«

»Einen Bombay Sapphire Martini, sehr trocken, ohne Eis, mit einem Schnitz Zitrone.«

»Kommt sofort, die Herren.«

Crawley zwang sich zu einem breiten Lächeln. »Also, Reverend, ich habe Ihre Sendung gestern gesehen. Sie war … groß-artig.«

Spates nickte und klopfte mit einer plumpen, manikürten Hand auf das Tischtuch. »Der Herr war auf meiner Seite.«

»Ich habe mich gefragt, ob Sie schon Reaktionen darauf bekommen haben.«

»Allerdings. Mein Büro hat in den vergangenen vierundzwanzig Stunden über achtzigtausend E-Mails erhalten.«

Schweigen. »Achtzehntausend?«

»Nein. Acht zig tausend.«

Crawley war sprachlos. »Von wem?«, fragte er schließlich.

»Von Zuschauern natürlich.«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass das eine ungewöhnlich starke Zuschauerreaktion ist?«

»Absolut. Die Predigt hat wirklich einen Nerv getroffen. Wenn die Regierung das Geld der Steuerzahler dafür ausgibt, das Wort Gottes als Lüge hinzustellen – nun, dann erheben sich empörte Christen überall im Land.«

»Ja, natürlich.« Crawley brachte mühsam ein zustimmendes Lächeln zustande. Achtzigtausend. Da würde sich jedes Kongressmitglied in die Hose machen. Er wartete, während der Kellner ihre Cocktails servierte.

Spates schlang eine dickliche Hand um das schwitzende Glas, genehmigte sich einen tiefen Schluck und stellte es wieder ab. »Dann kommen wir zu dem Versprechen, das Sie meiner Gemeinde gegenüber gemacht haben.«

»Selbstverständlich.« Crawley berührte das Jackett über der Innentasche. »Alles zu seiner Zeit.«

Spates trank einen weiteren Schluck. »Wie war die Reak tion in Washington?«

Crawleys Kontakte hatten in Erfahrung gebracht, dass auch diverse Kongressabgeordnete eine nicht unerhebliche Anzahl von E-Mails bekommen hatten, außerdem war das Telefonaufkommen ungewöhnlich hoch. Doch er durfte bei Spates keine übertriebenen Erwartungen wecken. »Ein solches Thema muss eine Weile vorangetrieben werden, bis es durch die harte Schale Washingtons vordringt.«

»Meine Zuschauer haben mir etwas anderes berichtet. Eine Menge dieser E-Mails ging in Kopie nach Washington.«

»Zweifellos, zweifellos«, sagte Crawley hastig.

Der Kellner kam und nahm ihre Bestellung entgegen.

»Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Spates, »würde ich jetzt gern diese Spende in Empfang nehmen, bevor das Essen kommt. Ich möchte schließlich keine Fettflecken darauf.«

»Nein, nein, natürlich nicht.« Crawley zog den Umschlag aus der Innentasche und legte ihn beiläufig auf den Tisch. Dann wand er sich innerlich, als Spates die Hand ausstreckte, den Umschlag aufhob und alles andere als unauffällig musterte. Dabei glitt Spates’ Ärmelsaum zurück und entblößte ein fleischiges Handgelenk mit einem Pelz orangeroter Haare. Dieses Orangerot war also echt. Wie konnte das Detail an Spates, das ihm am falschesten erschien, sich als das einzig Echte erweisen? Crawley rang seine Gereiztheit nieder.

Spates drehte den Umschlag um und ritzte ihn mit einem lackierten Fingernagel auf. Er zog den Scheck heraus, hielt ihn ins Licht und untersuchte ihn genau.

»Zehntausend Dollar«, las er langsam.

Crawley blickte sich um und war froh, dass sie den hinteren Teil des Restaurants für sich hatten. Der Mann hatte so gar keine Klasse.

Spates musterte weiterhin den Scheck. »Zehntausend Dollar«, wiederholte er.

»Ich nehme doch an, der Scheck ist in Ordnung?«

Der Reverend steckte den Scheck wieder in den Umschlag und stopfte ihn in die Tasche seines Jacketts. »Wissen Sie, wie viel es kostet, meine kleine Gemeinde zu unterhalten? Fünftausend pro Tag. Fünfunddreißigtausend pro Woche, fast zwei Millionen im Jahr.«

»Ein großes Unternehmen«, bemerkte Crawley gelassen.

»Ich habe eine volle Stunde meiner Predigt Ihrem Problem gewidmet. Ich hoffe, es diesen Freitag in Roundtable America wieder aufgreifen zu können. Kennen Sie die Sendung?«

»Ich verpasse sie nie.« Crawley wusste, dass der christliche Kabelsender Spates’ wöchentliche Talkshow ausstrahlte, aber er hatte sie noch nie gesehen.

»Ich habe vor, an der Sache dranzubleiben, bis ich den gerechten Zorn der Christen im ganzen Land geschürt habe.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Reverend.«

»Dafür sind zehntausend Dollar ein Tropfen auf den heißen Stein.«

Verdammter Scheinheiliger, dachte Crawley. Wie er es hasste, sich mit solchen Leuten abgeben zu müssen. »Reverend, bitte verzeihen Sie, aber nach unserem Gespräch hatte ich den Eindruck, dass Sie sich gegen eine einmalige Spende dieses Themas annehmen würden.«

»Das habe ich auch: einmalige Spende, einmalige Predigt. Jetzt spreche ich von einer Beziehung.« Spates setzte das Glas an die feuchten Lippen, trank durch die gestapelten Eiswürfel seinen Drink aus, stellte das Glas wieder ab und wischte sich die Lippen.

»Ich habe Ihnen ein hervorragendes Thema auf dem Silbertablett serviert. Den Zuschauerreaktionen nach zu schließen, scheint es sich zu lohnen, es weiterzuverfolgen, ganz unabhängig von den, äh, finanziellen Aspekten.«

»Mein Freund, da draußen wird gerade ein Krieg des Glaubens geführt. Wir kämpfen gleich an mehreren Fronten gegen die säkularen Humanisten. Ich könnte meine Schlachtreihen jeden Augenblick an einen anderen Schauplatz beordern. Wenn Sie wollen, dass ich an Ihrer Front weiterkämpfe, nun dann – müssen Sie dazu etwas beitragen

Der Kellner brachte die Filets mignons. Spates hatte seines gut durch bestellt, und das feine Neununddreißig-Dollar-Fleischstück ähnelte nun in Größe, Form und Farbe einem Hockey-Puck. Spates faltete die Hände und neigte den Kopf über den Teller. Crawley brauchte einen Moment, bis er begriff, dass der Mann seine Mahlzeit segnete und nicht daran schnupperte.

»Kann ich den Herren sonst noch etwas bringen?«, fragte der Kellner.

Der Reverend hob den Kopf und hielt ihm das Glas hin. »Noch einen.« Mit schmalen Augen schaute er dem Kellner nach. »Ich glaube fast, dieser Mann ist homosexuell.«

Crawley atmete tief durch. »Was für eine Beziehung schlagen Sie also vor, Reverend?«

»Quid pro quo. Sie tun mir einen Gefallen, und ich Ihnen.«

Crawley wartete ab.

»Sagen wir fünftausend die Woche, und ich garantiere Ihnen, dass ich das Isabella-Projekt in jeder Predigt erwähnen und in mindestens einer Talkshow ansprechen werde.«

So dachte er sich das also. »Zehntausend pro Monat«, erwiderte Crawley kühl, »und Sie garantieren mir, dass das Thema in jeder Predigt mindestens zehn Minuten lang behandelt wird. Was die Talkshows angeht, so erwarte ich, dass die erste Sendung komplett Isabella gewidmet ist und das Thema in den nachfolgenden Sendungen weiter angeheizt wird. Meine Spende wird jeweils am Monats ende eintreffen, nach der Ausstrahlung der Talkshow. Jede einzelne Zahlung wird korrekt als Spende für wohltätige Zwecke verbucht, was ich schriftlich bestätigt haben möchte. Das ist mein erstes, letztes und endgültiges Angebot.«

Reverend Don T. Spates betrachtete Crawley nachdenklich. Dann breitete sich ein gewaltiges Lächeln über sein Gesicht, er streckte die fleckige Hand über den Tisch und entblößte einmal mehr die orangefarbenen Härchen.

»Der Herr wird Ihnen Ihre Spende reichlich vergelten, mein Freund.«


13


Am Dienstagmorgen, noch vor dem Frühstück, saß Ford am Küchentisch in seinem Häuschen und starrte auf den Stapel Dossiers. Natürlich schützte ein hoher IQ per se nicht vor den Wechselfällen des Lebens, aber diese Gruppe von Menschen schien überdurchschnittlich stark mit Problemen belastet zu sein: schwierige Kindheiten, kaputte Elternhäuser, Probleme mit der sexuellen Orientierung, persönliche Krisen, sogar ein paar Fälle von totalem Bankrott. Thibodeaux war seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr in psychologischer Behandlung, die Diagnose lautete Borderline-Persönlichkeitsstörung. Cecchini war als Teenager in die Fänge einer obskuren Sekte geraten. Edelstein litt unter immer wiederkehrenden Depressionen. St. Vincent war früher Alkoholiker. Wardlaw hatte an einer post-traumatischen Belastungsstörung gelitten, nachdem er mit angesehen hatte, wie dem Anführer seiner Einheit in einer der Tora-Bora-Höhlen in den Bergen Afghanistans der Kopf von den Schultern gesprengt wurde. Corcoran war erst vierunddreißig, aber bereits geschieden – zweimal. Innes war offiziell abgemahnt worden, weil er mit Patientinnen geschlafen hatte.

Nur Rae Chens persönliche Geschichte wirkte ganz gewöhnlich – eine von vielen chinesischen Familien der ersten Generation in Amerika, die ein Restaurant betrieb. Auch Dolbys Persönlichkeit schien recht normal, außer dass er in einem der übelsten Stadtviertel von Los Angeles aufgewachsen war; sein Bruder saß im Rollstuhl, seit er bei einer Bandenschießerei von einer verirrten Kugel getroffen worden war.

Kates Dossier war das spannendste von allen. Er las es mit einer Art krankhafter, schuldbewusster Faszination. Ihr Vater hatte Selbstmord begangen, kurz nachdem Ford sich von ihr getrennt hatte – er hatte sich erschossen, als sein Geschäft pleitegegangen war. Der Zustand ihrer Mutter hatte sich danach ständig verschlechtert, bis sie mit siebzig in einem Pflegeheim landete und ihre eigene Tochter nicht mehr erkannte. Nach dem Tod ihrer Mutter klaffte in dem Bericht eine Lücke von zwei Jahren. Kate hatte die Miete für ihre Wohnung in Texas für vierundzwanzig Monate im Voraus bezahlt, war verschwunden und erst nach diesen zwei Jahren wieder aufgetaucht. Ford war sehr beeindruckt davon, dass weder das FBI noch die CIA herausfinden konnten, wo sie gewesen war und was sie getan hatte. Sie weigerte sich, ihre Fragen zu beantworten – auch auf die Gefahr hin, bei dem Sicherheitscheck durchzufallen und nicht stellvertretende Leiterin des Isabella-Projekts werden zu können. Doch Hazelius hatte sich für sie eingesetzt, und der Grund dafür war nicht schwer zu erkennen – sie hatten damals eine Beziehung gehabt. Offenbar hatte sie aber eher auf Freundschaft denn auf Leidenschaft beruht und war auch friedlich beendet worden.

Ford packte die Akten weg, angeekelt von der Verletzung der Intimsphäre vieler Menschen, dem unverschämten Eindringen der Regierung in das Privatleben, das diese Dossiers widerspiegelten. Er fragte sich, wie er es überhaupt so lange bei der CIA ausgehalten hatte. Das Kloster hatte ihn doch mehr verändert, als ihm bewusst gewesen war.

Er holte das Dossier über Hazelius wieder hervor und schlug es auf. Er hatte es nur rasch überflogen, doch jetzt ging er es gründlicher durch. Es war chronologisch geordnet, und Ford las es in dieser Reihenfolge, um sich ein Bild von der Lebensgeschichte des Mannes zu machen. Hazelius stammte aus überraschend gewöhnlichen Verhältnissen, einziges Kind einer soliden Mittelschicht-Familie mit skandinavischen Wurzeln, aufgewachsen in Minnesota, Vater Ladenbesitzer, Mutter Hausfrau. Nüchterne, langweilige Leute, die jeden Sonntag zur Kirche gingen. Ein Umfeld, von dem man wahrlich nicht erwartete, dass es ein transzendentales Genie hervorbrachte. Hazelius hatte sich rasch als echtes Wunderkind erwiesen: Abschluss summa cum laude von der Johns-Hopkins-Universität mit siebzehn, Doktortitel vom California Institute of Technology mit zwanzig, Lehrstuhl an der Columbia mit sechsundzwanzig, Nobelpreis mit dreißig.

Abgesehen von seiner Brillanz, war der Mann aber schwer zu fassen. Er gehörte nicht zu den typischen Scheuklappen-Akademikern, die nur ihr enges Forschungsfeld sahen. An der Columbia University hatten seine Studenten ihn auch wegen seines trockenen Humors, seines verspielten Temperaments und seines überraschenden musikalischen Talents verehrt. Er spielte in einem Schuppen an der 110th Street Boogie-Woogie und Jazz am Klavier und füllte die Kneipe regelmäßig mit seinen ihn anhimmelnden Studenten. Er ging mit seinen Studenten in Jazzlokale. Er entwickelte eine Theorie des Aktienmarktes, die auf der des chaotischen Attraktors basierte, und verdiente damit Millionen, bevor er das System an einen Hedge-Fonds verkaufte.

Nachdem Hazelius mit seiner Arbeit über die Quantenverschränkung den Nobelpreis errungen hatte, trat er locker in die Fußstapfen des Starphysikers Richard Feynman. Er veröffentlichte nicht weniger als dreißig theoretische Abhandlungen über die Unvollständigkeit der Quantentheorie und erschütterte damit die Disziplin in ihren Grundfesten. Er bekam die Fields-Medaille, die höchste Auszeichnung der Mathematik, für seine Arbeit über Aspekte der Bayesschen Wahrscheinlichkeitstheorie verliehen und war damit der einzige Mensch, der sowohl einen Nobelpreis als auch die Fields-Medaille gewonnen hatte. Hinzu kam noch ein Pulitzer-Preis für einen Gedichtband – fremdartig schöne Gedichte, die ausdrucksvolle Sprache mit mathematischen Gleichungen und wissenschaftlichen Theoremen verbanden. Er hatte ein Hilfsprojekt in Indien auf die Beine gestellt, das medizinische Hilfe für Mädchen leistete, in Regionen, wo es ansonsten üblich war, kranke Mädchen einfach sterben zu lassen; dazu gehörten auch sensible, aber intensive Aufklärungsprogramme, die darauf abzielten, die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Mädchen im Allgemeinen zu verändern. Er hatte Millionen für eine Kam pagne gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen in Afrika gespendet. Außerdem besaß er ein Patent – und das fand Ford geradezu komisch – für eine verbesserte Mausefalle, human, aber wirkungsvoll.

Oft erschien er in den Gesellschaftsseiten der Washington Post auf Fotos an der Seite der Reichen und Berühmten, stets in seinen typischen Anzügen aus den Siebzigern, mit fettem Revers und dicken Krawatten. Er brüstete sich damit, sie alle bei der Heilsarmee gekauft und nie mehr als fünf Dollar dafür bezahlt zu haben. Er war regelmäßig bei Letterman zu Gast, und man konnte sich darauf verlassen, dass er jedes Mal unerhört unverschämte, alles andere als politisch korrekte Dinge von sich gab – er nannte sie »unangenehme Wahrheiten« – und wortgewandt über seine utopischen Visionen schwadronierte.

Im Alter von zweiunddreißig hatte er alle Welt überrascht, indem er das Supermodel und ehemalige Playboy-Bunny Astrid Gund heiratete, zehn Jahre jünger als er und berüchtigt für ihre fröhliche Geistlosigkeit. Sie begleitete ihn überallhin, sogar in diverse Talkshows, wo er sie anhimmelte, während sie gutgelaunt über ihre herzlich gut gemeinten, aber eher vagen politischen Ansichten sprach. Berühmt wurde sie mit dem Satz, geäußert in einer Diskussion über die Anschläge vom 11. September: »Ich meine, warum können die Menschen sich nicht einfach vertragen?«

Das war schlimm genug. Doch während dieser Phase hatte eine Äußerung von Hazelius die Öffentlichkeit dermaßen empört, dass sie unvergesslich wurde, wie die Behauptung der Beatles, sie seien beliebter als Jesus. Ein Reporter fragte den Physiker, warum er eine Frau geheiratet habe, die »Ihnen intellektuell so stark unterlegen ist«. Hazelius regte sich furchtbar darüber auf. »Wen soll ich denn Ihrer Meinung nach heiraten?«, brüllte er den Journalisten an. »Alle Welt ist mir intellektuell unterlegen! Zumindest weiß Astrid, wie man jemanden von ganzem Herzen liebt, und das ist mehr, als ich euch übrigen menschlichen Hornochsen zutraue.«

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