Der klügste Mann der Welt hatte alle anderen als Hornochsen beschimpft. Der Aufschrei der Empörung war gewaltig. Die Washington Post druckte eine legendäre Schlagzeile:


HAZELIUS AN WELT: IHR SEID ALLE HORNOCHSEN


Talkmoderatoren in Radio und Fernsehen stilisierten sich zu Anwälten der breiten Masse und steigerten sich in ihren gerechten Zorn hinein. Hazelius wurde von jeder Kanzel und aus jedem Talkshow-Studio Amerikas verdammt und als anti-amerikanisch, antireligiös und unpatriotisch gebrandmarkt, als Angehöriger dieser widerlichsten Spezies von Mensch – ein Sherry nippender, elitärer Misanthrop aus dem Elfenbeinturm-Establishment der Ostküste.

Ford legte die Unterlagen beiseite und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein. Bisher passte das Dossier nicht zu dem Hazelius, den er gerade kennenlernte, der jedes Wort sorgsam bedachte und als Friedensstifter, Diplomat und wohlwollender Teamleiter auftrat. Er hatte bisher keine einzige politische Bemerkung von Hazelius gehört.

Vor einigen Jahren hatte Hazelius eine Tragödie erlitten. Vielleicht hatte er sich dadurch verändert. Ford blätterte in der Akte weiter, bis er die Stelle fand.

Vor zehn Jahren, als Hazelius sechsunddreißig war, starb Astrid urplötzlich an einer Gehirnblutung. Ihr Tod hatte ihn zu tiefst getroffen. Zwei Jahre lang hatte er sich von der Welt zurückgezogen und sich total abgekapselt. Dann, ganz plötzlich, war er mit dem Plan für Isabella wieder aufgetaucht. Er hatte sich tatsächlich völlig verändert: keine Talkshows mehr, keine provokanten Äußerungen, utopischen Visionen oder Kämpfe auf verlorenem Posten. Er löste seine Verbindungen zur feinen Gesellschaft und hängte die hässlichen Anzüge an den Nagel. Gregory North Hazelius war erwachsen geworden.

Außerordentlich geschickt, mit viel Geduld und Taktgefühl, hatte Hazelius das Isabella-Projekt vorangetrieben, sich Verbündete in der Wissenschaft gesucht, große Stiftungen umworben und den Mächtigen den Hof gemacht. Er nutzte jede Gelegenheit, um die Amerikaner daran zu erinnern, dass die USA in der Kernphysik dem Forschungsstand der Europäer weit hinterherhinkten. Er erklärte immer wieder, dass Isabella billige Lösungen für das Problem des weltweiten Energiebedarfs liefern könnte – und sämtliche Patente und alles Knowhow wären dann in amerikanischen Händen. Damit war ihm das Unmögliche gelungen: Er hatte dem Kongress trotz des defizitären Budgets vierzig Milliarden Dollar aus dem Kreuz geleiert.

Er war offenbar ein Meister der Überredungskunst, der still im Hintergrund agierte, ein vorsichtiger Visionär, bereit, ein gewagtes, wenn auch kalkuliertes Risiko einzugehen. Das war der Hazelius, den Ford hier kennenlernte.

Isabella war Hazelius’ geistiges Kind, sein Baby. Er war durch das ganze Land gereist und hatte sich aus der Elite der Physiker, Ingenieure und Programmierer ein handverlesenes Team zusammengestellt. Alles war glatt vorangegangen. Bis jetzt.

Ford schloss die Akte und grübelte darüber nach. Er hatte das Gefühl, dass er immer noch nicht die untersten Schichten abgelöst und das wahre menschliche Wesen dahinter entdeckt hatte. Genie, Selbstdarsteller, Musiker, utopischer Träumer, liebender Ehemann, arroganter Elitewissenschaftler, brillanter Physiker, geduldiger Lobbyist. Welcher von ihnen war der wah re Mensch? Oder steckte hinter all diesen Persönlichkeiten noch eine schattenhafte Gestalt, die all die Masken manipulierte?

Teilweise unterschied sich Hazelius’ Leben gar nicht so stark von seinem eigenen. Sie hatten beide auf tragische Weise ihre Ehefrau verloren. Als Fords Frau gestorben war, war die Welt, wie er sie kannte, mit ihr in die Luft geflogen, und er war ziellos durch die Ruinen geirrt. Doch Hazelius hatte genau gegensätzlich reagiert: Der Tod seiner Frau hatte ihm anscheinend einen neuen Fokus gebracht. Für Ford hatte das Leben seinen Sinn verloren; für Hazelius hatte es einen neuen Sinn bekommen.

Er fragte sich, was wohl in seinem eigenen Dossier stehen mochte. Zweifellos existierte es irgendwo – und Lockwood hatte es gelesen, genau wie er jetzt die Dossiers der anderen las. Wie würde seines aussehen? Privilegierte Herkunft, Privatschule, Harvard, MIT, CIA, Heirat. Und dann: Bombe.

Nach Bombe, was stand da? Kloster. Und schließlich: Advanced Security and Intelligence, Inc., der Name seiner neuen Detektei. Der erschien ihm auf einmal lächerlich, anmaßend. Wem wollte er etwas vormachen? Er hatte die Firma vor vier Monaten gegründet und bisher genau einen Auftrag bekommen. Zugegeben, der war phantastisch, aber man hatte ihn ja auch aus ganz speziellen Gründen dafür ausgewählt. An seinem großartigen Lebenslauf lag es jedenfalls nicht.

Er warf einen Blick auf die Uhr: Er würde zu spät zum Frühstück kommen, und hier saß er und verschwendete seine Zeit mit Grübelei und Selbstmitleid.

Er schob das Dossier zu den anderen in den Aktenkoffer, schloss ihn ab und machte sich auf den Weg zum Speisesaal. Die Sonne war gerade über dem Felsenkamm aufgegangen, ihre Strahlen schossen durch die Blätter der Pappeln und ließen sie leuchten, als bestünden sie aus grünem und gelbem Glas.

Im Speisesaal duftete es nach Zimtbrötchen und Speck. Hazelius saß an seinem angestammten Platz am Kopf der langen Tafel, in ein Gespräch mit Innes vertieft. Kate saß am anderen Ende, bei Wardlaw, und schenkte sich gerade Kaffee ein.

Bei ihrem Anblick spürte Ford ein Ziehen in der Magengegend.

Er ließ sich auf dem letzten freien Platz neben Hazelius nieder und nahm sich Rührei und Speck von einer großen Platte.

»Morgen«, sagte Hazelius. »Gut geschlafen?«

»Großartig.«

Alle waren da, bis auf Wolkonski.

»Sagt mal, hat jemand Peter gesehen?«, fragte Ford. »Sein Auto steht nicht in der Einfahrt.«

Die Unterhaltungen am Tisch erstarben.

»Dr. Wolkonski scheint uns verlassen zu haben«, sagte Wardlaw.

»Verlassen? Warum?«

Zunächst sprach niemand. Dann sagte Innes mit unnatürlich lauter Stimme: »Als Teampsychologe kann ich vielleicht ein wenig Licht in diese Sache bringen. Ohne meine berufliche Schweigepflicht zu verletzen, kann ich wohl behaupten, und ihr werdet mir sicher beipflichten, dass Peter hier nie glücklich war. Er hatte Schwierigkeiten damit, sich an die Isolation und den Arbeitsdruck hier oben anzupassen. Er hat seine Frau und sein Kind in Brookhaven sehr vermisst. Es überrascht mich nicht, dass er beschlossen hat, zu gehen.«

»Mr. Wardlaw, Sie sagten, er scheint uns verlassen zu haben?«

Hazelius sprang geschickt ein: »Sein Wagen ist weg, sein Koffer und ein Großteil seiner Kleidung ebenfalls – daher unsere Annahme.«

»Er hat niemandem etwas davon gesagt?«

»Das scheint Sie zu beunruhigen, Wyman«, bemerkte Hazelius und warf ihm einen recht eindringlichen Blick zu.

Ford bremste sich. Er war zu schnell vorangeprescht, und einem so scharfsinnigen Mann wie Hazelius musste das auf-fallen.

»Nicht beunruhigt«, sagte Ford. »Nur überrascht.«

»Ich fürchte, ich habe so etwas kommen sehen«, sagte Hazelius. »Peter war nicht für dieses Leben geschaffen. Wir werden sicher von ihm hören, sobald er zu Hause angekommen ist. Also, Wyman, erzählen Sie uns von Ihrem gestrigen Be-such bei Begay.«

Alle wandten sich ihm zu.

»Begay ist wütend. Er hat eine ganz Liste von Beschwerden über das Isabella-Projekt.«

»Zum Beispiel?«

»Sagen wir nur, es wurden eine Menge Versprechungen gemacht, aber nicht eingehalten.«

»Wir haben niemandem irgendetwas versprochen«, erwiderte Hazelius.

»Anscheinend hat das Energieministerium alles Mögliche versprochen, Arbeitsplätze und wirtschaftliche Vorteile.«

Hazelius schüttelte angewidert den Kopf. »Ich habe keine Kontrolle über das Energieministerium. Haben Sie es wenigstens geschafft, ihm diesen Protestritt auszureden?«

»Nein.«

Hazelius runzelte die Stirn. »Ich hoffe doch, Ihnen fällt etwas ein, wie Sie das verhindern können.«

»Es wäre vielleicht besser, es einfach geschehen zu lassen.«

»Wyman, das kleinste bisschen Ärger könnte im ganzen Land Schlagzeilen machen«, sagte Hazelius. »Schlechte Publicity können wir uns nicht leisten.«

Ford sah Hazelius ruhig an. »Sie haben sich hier oben auf der Mesa eingegraben mit Ihrem geheimen Regierungsprojekt und jeglichen Kontakt mit den Anwohnern vermieden – kein Wunder, dass es Spekulationen und Gerüchte gibt. Was in aller Welt haben Sie denn erwartet?« Das klang ein wenig schärfer, als er beabsichtigt hatte.

Alle starrten ihn an, als hätte er gerade einen Priester verflucht. Doch sie entspannten sich ein wenig, als Hazelius sich langsam zurücklehnte. »Also schön, ich würde sagen, diesen Tadel habe ich verdient. Ist angekommen. Vielleicht hätten wir die Sache geschickter angehen können. Also … was ist unser nächster Schritt?«

»Ich werde dem Vorsitzenden der lokalen Navajo-Selbstverwaltung in Blue Gap einen freundschaftlichen Besuch abstatten. Ich will versuchen, eine Art Bürgerversammlung mit den Anwohnern auf die Beine zu stellen. Zu der Sie alle erscheinen werden.«

»Wenn ich die Zeit erübrigen kann, gern.«

»Ich fürchte, Sie werden die Zeit erübrigen müssen.«

Hazelius winkte ab. »Darüber sprechen wir, wenn es so weit ist.«

»Ich hätte heute auch gern jemanden vom Team dabei.«

»Jemand Bestimmten?«

»Kate Mercer.«

Hazelius blickte sich um. »Kate? Bei dir steht heute nichts Großes an, oder?«

Kate errötete. »Ich habe zu tun.«

»Wenn Kate nicht kann, gehe ich mit«, sagte Melissa Corcoran und warf lächelnd das Haar zurück. »Es wäre herrlich, mal ein paar Stunden von diesem verdammten Berg herunterzukommen.«

Ford warf Kate einen Blick zu, dann Corcoran. Er zögerte, ihnen zu sagen, dass er in Blue Gap eigentlich lieber nicht mit einer eins achtzig großen, blauäugigen, blonden Granate auftreten wollte. Kate hingegen sah mit ihrem schwarzen Haar und dem halbasiatischen Gesicht beinahe indianisch aus.

»Was ist denn so dringend, Kate?«, fragte Hazelius. »Du sagtest doch, du wärst mit den neuen Berechnungen zu Schwarzen Löchern fast fertig. Das hier ist wichtig – und du bist schließlich die stellvertretende Leiterin.«

Kate warf Corcoran einen undurchdringlichen Blick zu. Corcoran erwiderte ihn kühl.

»Die Berechnungen kann ich wohl etwas aufschieben«, sagte Kate.

»Wunderbar«, sagte Ford. »Ich hole dich in einer Stunde mit dem Jeep ab.« Er ging zur Tür, eigenartig beschwingt. Als er an Corcoran vorbeikam, grinste sie ihn vielsagend an.

»Nächstes Mal dann«, sagte sie.


Wieder in seinem Häuschen angelangt, schloss Ford die Tür ab, brachte den Aktenkoffer ins Wohnzimmer, zog die Vorhänge vor, holte das Satellitentelefon aus dem Koffer und wählte Lockwoods Nummer.

»Hallo, Wyman. Haben Sie Neuigkeiten für mich?«

»Erinnern Sie sich an einen Wissenschaftler namens Peter Wolkonski, den Software-Spezialisten?«

»Ja.«

»Er ist gestern Nacht verschwunden. Sein Wagen ist weg, und sie behaupten, er hätte seine Kleidung mitgenommen. Könnten Sie herausfinden, ob er irgendwo aufgetaucht ist oder sich mit jemandem in Verbindung gesetzt hat?«

»Wir werden es versuchen.«

»Ich muss so bald wie möglich Bescheid wissen.«

»Ich rufe Sie sofort zurück, wenn ich etwas habe.«

»Und da sind noch ein paar Sachen.«

»Immer heraus damit.«

»Michael Cecchini – in seinem Dossier steht, dass er sich als Teenager einer Sekte angeschlossen hat. Ich wüsste gern mehr darüber.«

»Wird erledigt. Sonst noch etwas?«

»Rae Chen. Sie erscheint mir … wie soll ich das ausdrücken? Zu normal.«

»Das ist nicht gerade ein guter Anhaltspunkt für weitere Nachforschungen.«

»Kramen Sie mal in ihrer Vergangenheit, ob Sie da irgendetwas Seltsames finden.«

Zehn Minuten später blinkte der Leuchtring. Ford drückte auf die Empfangtaste, und Lockwoods Stimme drang zu ihm durch, nun wesentlich angespannter. »Was Wolkonski angeht – wir haben seine Frau angerufen und seine Kollegen in Brookhaven, aber niemand hat von ihm gehört. Sie sagen, er soll gestern Abend aufgebrochen sein? Wann genau?«

»Ich schätze, so gegen neun.«

»Wir schreiben sein Auto zur Fahndung aus. Wenn er nach Hause will, hat er vierzig Stunden Autofahrt bis New York State vor sich. Falls er in dieser Richtung unterwegs ist, werden wir ihn finden. Ist denn etwas vorgefallen?«

»Ich bin ihm gestern zufällig begegnet. Er hatte die ganze Nacht durchgearbeitet und getrunken. Er war übertrieben fröhlich, fast hysterisch. Und er hat zu mir gesagt: ›Vorher ich Sorgen machen. Jetzt mir geht gut.‹ Aber er sah ganz und gar nicht gut aus.«

»Haben Sie eine Ahnung, was er damit gemeint haben könnte?«

»Nein.«

»Ich will, dass Sie sein Haus durchsuchen.«

Kurzes Zögern. »Mache ich, heute Abend.«

Ford hielt das Telefon noch lange in der Hand und schaute hinaus auf die Pappeln vor seinem Fenster. Lüge, Spionage, Täuschung, und nun auch noch Einbruch. Eine schöne Art, sein erstes Jahr außerhalb der Klostermauern zu beginnen.


14


Ford erfasste Blue Gap, Arizona, mit einem einzigen Blick. Der Ort lag in einer staubigen Senke, umgeben von Fels nadeln und den grauen Skeletten verdorrter Pinyon-Kiefern. Das Dorf war im Wesentlichen eine Kreuzung zweier unbefestigter Straßen, die von ihrem Schnittpunkt im Ort aus nur jeweils knapp hundert Meter weit asphaltiert waren. Es gab eine Tankstelle aus ziegelfarbenem Betonschalstein und einen kleinen Lebensmittelladen mit einem Sprung im Schaufenster. Verdorrte Steppenhexen und Plastiktüten flatterten wie Banner an dem Stacheldrahtzaun hinter der Tankstelle. Neben dem Laden stand ein kleines Schulgebäude, umgeben von einem Maschendrahtzaun. Östlich und nördlich davon waren kleine Wohnhäuser, typisch sozialer Wohnungsbau, in zwei Quadraten streng symmetrisch im roten Staub angeordnet.

Die bläulich rote Silhouette der Red Mesa, nicht weit entfernt, bildete die hoch aufragende Kulisse.

»Also«, sagte Kate, als der Jeep den asphaltierten Teil der Straße erreichte, »wie sieht dein Plan aus?«

»Tanken.«

»Tanken? Der Tank ist noch halb voll, und bei Isabella bekommen wir Benzin umsonst, soviel wir wollen.«

»Spiel einfach mit, ja?«

Er hielt an der Tankstelle, stieg aus und tankte voll. Dann klopfte er an Kates Fenster. »Hast du Geld dabei?«, fragte er.

Sie sah ihn erschrocken an. »Ich habe meine Handtasche vergessen.«

»Gut.«

Sie gingen hinein. Eine rundliche Navajo-Frau stand an der Theke. Einige weitere Kunden – sämtlich Navajos – schlen derten an den Regalen entlang.

Ford suchte eine Packung Kaugummi, eine Flasche Cola, eine Tüte Chips und die Navajo Times zusammen. Dann trat er an die Theke und legte alles neben die Kasse. Die Frau gab alles ein, auch das Benzin.

Ford griff in die Tasche, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Auffällig suchte er sämtliche Hosentaschen ab.

»Verdammt. Hab meine Brieftasche vergessen.« Er warf Mercer einen Blick zu. »Hast du Geld dabei?«

Sie funkelte ihn finster an. »Nein, das weißt du doch.«

Ford hob die ausgebreiteten Hände und grinste die Dame an der Kasse verlegen an. »Ich habe meine Brieftasche vergessen.«

Ungerührt erwiderte sie seinen Blick. »Sie müssen aber bezahlen. Wenigstens das Benzin.«

»Wie viel macht das denn?«

»Achtzehn fünfzig.«

Wieder durchsuchte er demonstrativ seine Taschen. Die anderen Kunden waren inzwischen aufmerksam geworden.

»Ist das zu glauben? Ich habe keinen Cent bei mir. Das tut mir wirklich leid.«

Bleischweres Schweigen folgte. »Ich muss das kassieren«, sagte die Frau.

»Es tut mir leid. Ehrlich. Hören Sie, ich fahre schnell nach Hause und hole meine Brieftasche, dann komme ich sofort hierher zurück. Versprochen. Himmel, ich komme mir vor wie der letzte Trottel.«

»Ich kann Sie nicht gehen lassen, ohne das Benzin zu kassieren«, sagte die Frau. »Das ist mein Job.«

Ein kleiner, dürrer, unruhig wirkender Mann mit schulterlangem, pechschwarzem Haar, in einem braunen Cowboyhut und Motorradstiefeln, trat vor und zog eine abgegriffene Brieftasche an einer Kette aus der Tasche seiner Jeans. »Doris? Damit ist die Sache in Ordnung«, sagte er großspurig und reichte ihr einen Zwanzig-Dollar-Schein.

Ford wandte sich zu dem Mann um. »Das ist wirklich nett von Ihnen. Sie bekommen es zurück.«

»Aber sicher, kein Problem. Nächstes Mal, wenn Sie hier sind, geben Sie einfach Doris das Geld. Eines Tages können Sie mir ja den Gefallen erwidern, nicht?« Er hob die Hand, zwinkerte und zielte mit dem Zeigefinger auf Ford.

»Na klar.« Ford streckte ihm die Hand hin. »Wyman Ford.«

»Willy Becenti.«

Willy schüttelte ihm die Hand.

»Danke, Willy, sind ein guter Mann.«

»Verdammt richtig! Nicht, Doris? Der beste Mann in Blue Gap.«

Doris verdrehte die Augen gen Himmel.

»Das ist Kate Mercer«, sagte Ford.

»Hallo, Kate, wie geht’s?« Becenti nahm ihre Hand, beugte sich darüber und küsste sie wie ein echter Lord.

»Wir sind auf der Suche nach dem Gemeindehaus«, erklärte Ford. »Wir möchten mit dem Vorsitzenden des Ortsverbandes sprechen. Ist er da?«

»Ist sie da, meinen Sie wohl. Maria Atcitty. Klar, Mann. Das Gemeindehaus ist gleich die Straße runter. Letzte rechts, bevor der Asphalt aufhört. Es ist das alte Holzhaus mit dem Blechdach neben dem Wasserturm. Grüßen Sie sie schön von mir.«

Als sie von der Tankstelle abfuhren, sagte Ford: »Dieser Trick zieht im Reservat immer. Navajos sind die großzügigsten Menschen auf der Welt.«

»In zynischer Manipulation bekommst du also eine Eins mit Stern.«

»Es dient doch einem guten Zweck.«

»Na ja, er sah selber ein bisschen zwielichtig aus. Was wollen wir wetten, dass er Zinsen von dir verlangen wird?«

Sie hielten auf dem Parkplatz vor dem Gemeindehaus neben einer Reihe staubiger Pick-ups. An die Eingangstür hatte je mand eines von Begays Flugblättern mit dem Aufruf zum Pro testritt geklebt. Ein weiteres flatterte am nächsten Telefonmast. Sie baten darum, die Ortsvorsteherin sprechen zu dürfen. Eine adrette, kräftige Frau in türkisfarbener Bluse und brauner Anzughose erschien.

Sie begrüßten sie mit einem Händedruck und stellten sich ihr vor.

»Wir sollen Sie schön von Willy Becenti grüßen.«

»Sie kennen Willy?« Sie wirkte überrascht – und erfreut.

»Könnte man so sagen.« Ford lachte verlegen. »Er hat mir zwanzig Dollar geborgt.«

Atcitty schüttelte den Kopf. »Der gute alte Willy. Er würde seinen letzten Zwanziger auch irgendeinem Penner geben und dann den nächsten Mini-Markt überfallen, um sich dafür zu entschädigen. Kommen Sie herein, und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir.«

Aus einer Kaffeekanne am Empfangstisch schenkten sie sich schwachen Navajo-Kaffee ein und folgten mit ihren Bechern Atcitty in ein kleines, mit Unterlagen vollgestopftes Büro.

»Also, was kann ich für Sie tun?«, fragte sie mit breitem Lächeln.

»Nun ja, ich gebe es beinahe ungern zu, aber wir sind vom Isabella-Projekt.«

Ihr Lächeln erlosch. »Ich verstehe.«

»Kate ist die stellvertretende Leiterin, und ich bin gerade erst dazugestoßen und soll als Verbindungsstelle zu den umliegenden Gemeinden dienen.«

Atcitty sagte nichts.

»Ms. Atcitty, ich weiß, dass die Leute sich fragen, was zum Kuckuck wir da oben treiben.«

»Da haben Sie allerdings recht.«

»Ich brauche Ihre Hilfe, Maria. Wenn Sie die Leute hier im Gemeindehaus zusammenbringen könnten – zum Beispiel abends, noch diese Woche –, dann bringe ich Gregory North Hazelius persönlich hierher, damit er ihre Fragen beantworten und allen erklären kann, was wir hier tun.«

Lange herrschte Schweigen. Dann sagte sie: »Diese Woche ist zu kurzfristig. Sagen wir nächste Woche. Am Mittwoch.«

»Großartig. Es wird sich einiges verändern. Von jetzt an werden wir einen Teil unserer Einkäufe hier und drüben in Rough Rock tätigen. Wir werden unsere Autos hier unten betanken, unsere Lebensmittel und so weiter hier im Ort kaufen.«

»Wyman, ich glaube wirklich nicht …«, begann Mercer, doch er legte ihr sacht eine Hand auf die Schulter, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Das wäre hilfreich«, sagte Atcitty.

Sie erhoben sich und gaben einander die Hand.

Als der Jeep Blue Gap in einer Staubwolke hinter sich ließ, wandte Mercer sich Ford zu. »Nächsten Mittwoch erst, das ist zu spät, um den Protestritt zu verhindern.«

»Ich habe nicht die Absicht, diesen Protest zu verhindern.«

»Wenn du glaubst, wir würden in diesem Laden einkaufen und Doritos, Hammel und Bohnen aus der Dose essen, dann hast du sie nicht mehr alle. Und das Benzin da unten kostet ein Vermögen.«

»Wir sind hier nicht in New York oder Washington«, erwiderte Ford. »Das hier ist das ländliche Arizona, und diese Leute sind eure Nachbarn. Ihr müsst euch bei ihnen sehen lassen und ihnen zeigen, dass ihr kein Haufen verrückter Wissenschaftler seid, die kurz davorstehen, die Welt zu zerstören. Und sie könnten die Einnahmen wirklich gebrauchen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Kate«, sagte Ford, »was ist aus all deinen fortschrittlichen Ideen geworden? Aus deinem Mitgefühl für die Armen und Unterdrückten?«

»Halt mir bloß keine Vorträge.«

»Es tut mir leid«, sagte er, »aber du brauchst mal ein paar Vorträge. Du bist zum Teil des großen, bösen Establishments geworden und hast es noch nicht einmal gemerkt.« Er schloss mit einem kurzen Lachen, um die Stimmung aufzulockern, merkte aber zu spät, dass er einen Volltreffer auf einen wunden Punkt gelandet hatte.

Sie starrte ihn mit zusammengepressten Lippen an und schaute dann aus dem Fenster. Schweigend fuhren sie den Dugway hinauf und die lange Teerstraße zum Isabella-Projekt entlang.

Auf halbem Weg über die Mesa bremste Ford den Jeep ab, kniff die Augen gegen die Sonne zusammen und starrte durch die Windschutzscheibe.

»Was ist denn?«

»Da sind ganz schön viele Geier.«

»Na und?«

Er hielt den Wagen an und zeigte aus dem Fenster. »Sieh mal. Frische Reifenspuren, die von der Straße weg nach Westen führen – direkt auf die Geier zu.«

Sie weigerte sich, hinzuschauen.

»Ich will mir das mal ansehen.«

»Na toll. Ich werde jetzt schon die halbe Nacht drangeben müssen, um mit meinen Berechnungen fertig zu werden.«

Er parkte im schwächlichen Schatten eines Wacholderbuschs und folgte den Reifenspuren; seine Schritte knirschten auf dem trockenen, verkrusteten Boden. Es war immer noch sengend heiß, denn die Erde hatte die Hitze des Tages in sich aufgesogen und strahlte sie nun wieder ab. In der Ferne stahl sich ein Kojote davon, der irgendetwas im Maul trug.

Nach zehn Minuten erreichte Ford den Rand eines tiefen, schmalen, trockenen Bachbetts und blickte hinunter. Dort unten lag ein Auto auf dem Dach. Geier hockten wartend in einer toten Pinyon-Kiefer. Ein zweiter Kojote hatte den Kopf durch die geborstene Windschutzscheibe gesteckt, er riss und zerrte an irgendetwas. Als er Ford bemerkte, ließ er davon ab und rannte mit blutroter, heraushängender Zunge davon.

Ford kletterte die Sandsteinfelsen hinunter und musste sich das T-Shirt vor die Nase halten, um den Gestank des Todes, vermischt mit einem starken Geruch nach Benzin, etwas zu dämpfen. Die Geier erhoben sich als ungeschickt flatternde Masse. Er bückte sich und lugte ins Innere des zerschmetterten Wagens.

Ein menschlicher Körper war seitwärts auf dem Vordersitz eingeklemmt. Augen und Lippen fehlten. Ein Arm, der aus dem geborstenen Seitenfenster ragte, war abgenagt, die Hand fehlte ganz. Trotz allem war die Leiche noch zu erkennen.

Wolkonski.

Ford blieb still hocken, seinem Blick entging kein noch so kleines Detail. Dann wich er zurück, achtete sorgsam darauf, keine Spuren zu zerstören, drehte sich um und krabbelte wieder aus dem Bachbett. Sobald es möglich war, atmete er ein paarmal tief die frische Luft ein und rannte dann zur Straße zurück. In der Ferne konnte er vor einer Anhöhe die Umrisse zweier Kojoten sehen, die sich kläffend um ein schlaffes Stück Fleisch stritten.

Er erreichte den Wagen und beugte sich durchs offene Seitenfenster. Kate stand die Missbilligung ins Gesicht geschrieben.

»Es ist Wolkonski«, sagte er. »Es tut mir leid, Kate … Er ist tot.«

Sie blinzelte und schnappte nach Luft. »O Gott … Bist du sicher?«

Er nickte.

Ihre Unterlippe bebte. Dann fragte sie mit heiserer Stimme: »Ein Unfall?«

»Nein.«

Ford schluckte gegen eine leichte Übelkeit an, zog sein Handy aus der Hosentasche und rief die Polizei an.


15


Lockwood betrat das Oval Office, und der dicke Teppich schluckte das Geräusch seiner Schritte. Wie immer fand er es erregend, dem stillen Mittelpunkt der Macht auf dieser veränderlichen Welt so nahe zu sein.

Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika kam um seinen Schreibtisch herum mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, ein strahlendes Politiker-Lächeln im Gesicht.

»Stanton! Schön, Sie zu sehen. Wie geht es Betsy und den Kindern?«

»Großartig, danke sehr, Mr. President.«

Der Präsident hielt Lockwoods Hand weiter fest, legte die andere an seinen Arm und führte ihn so zu dem Sessel, der dem Schreibtisch am nächsten stand. Lockwood setzte sich und legte die Akten auf seinen Knien ab. Durch das Fenster, das nach Osten hinausging, konnte er den Rosengarten im sanften, spätsommerlichen Abendlicht sehen. Der Stabschef, Roger Morton, trat ein und nahm in einem weiteren Sessel Platz, während Jean, die Sekretärin des Präsidenten, sich auf dem dritten niederließ, bereit, sich Notizen zu machen, und zwar auf die altmodische Art – mit einem Stenoblock.

Ein massiger Mann im dunkelblauen Anzug trat ein und setzte sich, ohne eine Einladung abzuwarten, auf den Sessel neben Lockwood. Das war Gordon Galdone, der die Kampagne zur Wiederwahl des Präsidenten leitete. Lockwood konnte den Mann nicht ausstehen. In letzter Zeit war der Kerl dabei, wo man hinsah, bei jeder Besprechung, einfach überall. Nichts wurde ohne seinen Segen entschieden oder veranlasst.

Der Präsident nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. »Also schön, Stan, Sie fangen an.«

»Ja, Mr. President.« Lockwood zog eine Aktenmappe hervor. »Ist Ihnen ein Fernsehprediger namens Don T. Spates ein Begriff? Er leitet von Virginia Beach aus eine virtuelle Gemeinde, die sich God’s Prime Time Ministry nennt.«

»Sie meinen den Kerl, den sie dabei erwischt haben, wie er es gleich mit zwei Nutten getrieben hat?«

Die Herren im Raum glucksten dezent. Der Präsident, ein ehemaliger Strafverteidiger aus den Südstaaten, war für seine unverblümte Ausdrucksweise bekannt.

»Ja, Sir, genau den meine ich. Er hat in seiner Sonntagspredigt im christlichen Kabelfernsehen das Isabella-Projekt zum Thema gemacht. Hat richtig vom Leder gezogen. Im Wesentlichen behauptet er, dass die Regierung vierzig Milliarden an Steuergeldern dafür ausgegeben hat, das Buch Genesis zu widerlegen.«

»Das Isabella-Projekt hat doch nichts mit der Genesis zu tun.«

»Selbstverständlich. Das Problem ist, dass er damit anscheinend einen Nerv getroffen hat. Soweit mir bekannt ist, haben einige Senatoren und Kongressabgeordnete zahlreiche E-Mails und Anrufe diesbezüglich erhalten. Und jetzt auch Ihr eigenes Büro. Diese Sache ist so groß, dass wir irgendwie darauf reagieren sollten.«

Der Präsident wandte sich an seinen Stabschef. »Ist das auch auf Ihrem Radarschirm aufgetaucht, Roger?«

»Bisher fast zwanzigtausend E-Mails, sechsundneunzig Prozent davon gegen Isabella.«

»Zwanzigtausend?«

»Ja, Sir.«

Lockwood warf einen Seitenblick auf Galdone. Dessen steinerne Miene gab rein gar nichts preis. Galdones typische Methode war, abzuwarten und als Letzter zu sprechen. Lockwood hasste Leute, die so vorgingen.

»Wir sollten im Kopf behalten«, sagte Lockwood, »dass zweiundfünfzig Prozent der amerikanischen Bevölkerung nicht an die Evolution glauben – und bei denen, die sich selbst als Republikaner bezeichnen, sind es sogar achtundsechzig Prozent. Die Attacke gegen Isabella fällt genau in dieses Raster. Das könnte eine Art Glaubensfrage werden – und damit sehr hässlich.«

»Woher haben Sie diese Zahlen?«

»Aus einer Gallup-Umfrage.«

Der Präsident schüttelte den Kopf. »Wir bleiben bei unserer Linie. Amerika muss auf den Gebieten der Forschung und Technologie weltweit konkurrenzfähig bleiben, und dafür brauchen wir das Isabella-Projekt. Nachdem wir jahrelang hinterhergehinkt sind, haben wir nun die Europäer und die Japaner überholt. Das Isabella-Projekt ist gut für die Wirtschaft, gut für unsere Forschung und Entwicklung, gut fürs Geschäft. Es könnte uns helfen, unseren Energiebedarf zukünftig selbst zu decken, und uns unabhängig vom Öl aus dem Nahen Osten machen. Stan, geben Sie dahin gehend eine Presse erklärung raus, organisieren Sie eine Pressekonferenz, machen Sie ein bisschen Lärm. Wir bleiben bei unserer Message.«

»Ja, Mr. President.«

Nun war Galdone an der Reihe. Sein massiger Körper rutschte auf dem Sessel herum. »Wenn das Isabella-Projekt jede Menge gute Nachrichten hervorbringen würde, wären wir nicht so angreifbar.« Er wandte sich Lockwood zu. »Dr. Lockwood, können Sie uns sagen, wann die Probleme da draußen endlich behoben sein werden?«

»In allerhöchstens einer Woche«, sagte er. »Wir haben die Sache im Griff.«

»Eine Woche ist sehr lang«, sagte Galdone, »wenn ein Mann wie Spates die Buschtrommel rührt und schon mal die Gewehre ölt.«

Lockwood verzog ob dieser Mischung von Metaphern das Gesicht. »Mr. Galdone, ich möchte Ihnen versichern, dass wir alles in unserer Macht Stehende unternehmen.«

Galdones talgiges Gesicht bewegte sich mit jedem Wort. »Eine Woche«, sagte er mit tiefster Missbilligung.

Lockwood hörte eine Stimme an der Tür des Oval Office, und ihm blieb fast das Herz stehen, als er sah, dass seine eigene Assistentin eingelassen wurde. Es musste wirklich wichtig sein, wenn sie ihn bei einer Besprechung mit dem Präsidenten störte. Sie kam in beinahe komisch unterwürfiger Haltung hereingeschlichen, reichte Lockwood einen Zettel und huschte wieder hinaus. Mit einem flauen Gefühl im Magen faltete er den Zettel auseinander.

Er versuchte zu schlucken, konnte aber nicht. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, gar nichts zu sagen, überlegte es sich dann aber anders: Lieber jetzt als später. »Mr. President, ich habe soeben erfahren, dass ein Mitarbeiter des Isabella-Projekts, einer der Wissenschaftler, in einem Bachbett auf der Red Mesa tot aufgefunden wurde. Das wurde vor etwa dreißig Minuten dem FBI gemeldet. Es sind bereits Agenten unterwegs dorthin.«

»Tot? Wie ist er gestorben?«

»An einem Schuss – in den Kopf.«

Der Präsident starrte ihn stumm an. Lockwood hatte sein Gesicht noch nie so stark gerötet gesehen, und das machte ihm Angst.


16


Bis die Navajo Tribal Police eintraf, hatte Ford zugesehen, wie die Sonne hinter einem Wirbel bernsteinfarbener Wolken unterging. Vier Streifenwagen und ein Bus kamen mit blitzendem Blaulicht den schimmernden Asphalt entlanggerast und hielten nebeneinander, mit perfekt aufeinander abgestimmtem Reifenquietschen.

Ein Navajo-Detective mit mächtiger Brust stieg aus dem ersten Wagen. Er war ansonsten mager, etwa sechzig, mit kurzgeschnittenem grauem Haar. Ein Kader Polizisten der Navajo Nation folgte ihm. In staubigen Cowboystiefeln marschierte er O-beinig an der Reifenspur entlang auf das trockene Bachbett zu, gefolgt von seinen Leuten. Am Rand des Bachbetts angekommen, begannen sie, die Umgebung des Tatorts mit Absperrband abzuriegeln.

Hazelius und Wardlaw trafen in einem Jeep ein, hielten am Straßenrand und stiegen aus. Schweigend sahen sie der Polizei bei der Arbeit zu, und dann wandte Wardlaw sich zu Ford um. »Sie sagen, er sei erschossen worden?«

»Aus nächster Nähe in die linke Schläfe.«

»Woher wissen Sie das?«

»Signifikante Schmauchspuren.«

Wardlaw musterte ihn, die Augen schmal und hart vor Argwohn. »Schauen Sie viele Krimiserien im Fernsehen, Mr. Ford? Oder gehören Tatort-Ermittlungen zu Ihren Hobbys?«

Der Navajo-Detective hatte den Fundort abgesichert und kam nun mit knarrenden Stiefeln und einem Diktiergerät in der Hand auf sie zu. Sein Gang war sehr bedacht, als schmerzte ihn jede Bewegung. Auf seinem Abzeichen standen »Bia« und der Dienstgrad Lieutenant. Er trug eine verspiegelte Sonnenbrille, die ihn ein wenig dümmlich aussehen ließ. Ford spürte, dass dieser Mann alles andere als dumm war.

»Wer hat das Opfer gefunden?«, fragte Bia.

»Ich.«

Die Brille schwenkte in seine Richtung. »Ihr Name?«

»Wyman Ford.« Er hörte Argwohn in der Stimme des Mannes, als meinte er, bereits jetzt belogen zu werden.

»Wie haben Sie ihn entdeckt?«

Ford beschrieb die Umstände.

»Sie haben also die Geier gesehen und die Reifenspuren und beschlossen, auszusteigen und bei dieser Hitze einen halben Kilometer weit durch die Wüste zu laufen, um mal nachzuschauen – einfach so?«

Ford nickte.

»Hm.« Bia machte sich mit geschürzten Lippen Notizen. Dann wandten sich die Brillengläser in Hazelius’ Richtung. »Und Sie sind …?«

»Gregory North Hazelius, Leiter des Isabella-Projekts, und das ist Senior Intelligence Officer Wardlaw. Werden Sie die Ermittlungen leiten?«

»Nur lokal, soweit es das Stammesland betrifft. Das FBI wird für diesen Fall zuständig sein.«

»Das FBI? Wann werden die hier sein?«

Bia wies mit einem Nicken gen Himmel. »Jetzt.«

Ein Helikopter wurde im Südwesten sichtbar, das Rattern der Rotoren klang immer lauter. In ein paar hundert Meter Entfernung sank er in einem kleinen Sandsturm zu Boden und setzte auf der Straße auf. Zwei Männer stiegen aus. Beide trugen Sonnenbrillen, kurzärmelige Hemden, am Kragen offen, und Baseball-Kappen mit dem eingestickten Schriftzug »FBI«. Trotz ihrer unterschiedlichen Hautfarbe und Größe hätten sie beinahe Zwillinge sein können.

Sie marschierten herüber, und der größere zückte seinen Dienstausweis. »Special Agent Dan Greer vom Flagstaff Field Office«, sagte er, »ich leite diesen Einsatz. Special Agent Franklin Alvarez.« Er steckte den Ausweis wieder in die Tasche und nickte Bia zu. »Lieutenant.«

Bia erwiderte das Nicken.

Hazelius trat vor. »Und ich bin Gregory North Hazelius, Leiter des Isabella-Projekts.« Er reichte Greer die Hand. »Das Opfer war einer meiner Wissenschaftler. Ich will genau wissen, was hier passiert ist, und zwar sofort.«

»Das werden Sie erfahren. Sobald unsere Ermittlungen abgeschlossen sind.« Greer wandte sich an Bia. »Fundort gesichert?«

»Ja.«

»Gut. Und jetzt bitte ich alle, die zum Isabella-Projekt gehören, zu ihrer Station zurückzukehren. Dr. Hazelius, ich möchte, dass Sie alle Ihre Mitarbeiter an einem zentralen Treffpunkt versammeln, um …« Er warf einen Blick in den Himmel, dann auf seine Uhr. »Sieben Uhr. Ich werde dann Ihre Aussagen aufnehmen.«

»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein«, sagte Hazelius. »Ich kann nicht alle auf einmal von der Arbeit abziehen. Sie werden ihre Aussagen in zwei Schichten machen müssen.«

Greer nahm seine Sonnenbrille ab und sah Hazelius mit harter Miene an. »Ich erwarte, dass alle um sieben Uhr irgendwo versammelt sind. Verstanden?« Er sprach überdeutlich und betonte jedes einzelne Wort.

Hazelius hielt dem Blick stand, und sein Gesichtsausdruck wirkte milde, alles andere als bedrohlich. »Mr. Greer, ich trage die Verantwortung für eine Vierzig-Milliarden-Dollar-Maschine im Inneren dieses Berges, und wir sind mitten in einem entscheidenden wissenschaftlichen Experiment. Sie wollen doch sicher nicht, dass irgendetwas schiefgeht – vor allem, wenn ich dann den Inspektoren vom Energieministerium sagen müsste, dass ich gezwungen war, die Maschine unbeaufsichtigt zu lassen, weil Sie darauf bestanden haben. Ich muss heute Nacht mindestens drei Teammitglieder im Berg lassen. Sie werden Ihnen morgen früh zur Verfügung stehen.«

Eine lange Pause, dann nickte Greer knapp. »Schön.«

»Wir sind um sieben im alten Handelsposten«, sagte Hazelius. »Das ist das große Blockhaus – Sie können es nicht verfehlen.«

Ford ging zurück zum Jeep und stieg ein. Kate folgte ihm. Er startete den Wagen und lenkte ihn wieder auf die Straße.

»Ich kann das gar nicht glauben«, sagte Kate mit zitternder Stimme und bleichem Gesicht. Sie kramte in ihrer Tasche, holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Augen. »Wie schrecklich«, sagte sie. »Ich kann es … einfach nicht fassen.«

Während der Jeep die Straße entlangbrummte, erhaschte Ford einen letzten Blick auf die beiden Kojoten, die ihr Mahl beendet hatten und jetzt das Treiben beobachteten und sich außer Reichweite herumdrückten, in der Hoffnung auf einen Nachschlag.

Trotz ihrer Schönheit, dachte er, war die Red Mesa ein erbarmungsloser Ort.


Um Punkt sieben Uhr folgte Lieutenant Joseph Bia den Agenten Greer und Alvarez in den ehemaligen Nakai-Rock-Handelsposten. Er kannte diesen Ort noch aus seiner Kindheit; damals war der alte Weindorfer der Händler hier gewesen. Nostalgie überkam ihn. Im Geiste konnte er den alten Laden noch vor sich sehen – die Mehltonne, die zum Verkauf gestapelten Ofenrohre, die Halfter und Lassos, die Gläser voller Süßigkeiten. Im Hinterzimmer wurden damals die Teppiche gestapelt, die Weindorfer als Tauschware nahm. Durch die Dürre im Winter 1954/55 kam die Hälfte aller Schafe auf der Mesa um, doch vorher hatten sie das Land regelrecht geschält. Damals holte Peabody Coal fast zwanzigtausend Tonnen Kohle pro Tag aus diesem Berg. Die Stammesregierung hatte Geld von dem Kohlekonzern bekommen; davon zahlten sie allen, die auf der Mesa wohnten, eine Entschädigung und quartierten sie in die sozialen Wohnbausiedlungen in Blue Gap, Piñon und Rough Rock um. Seine Eltern hatten zu denen gehört, die nach unten umgesiedelt wurden. Bia war heute zum ersten Mal seit fünfzig Jahren wieder hier. Das Haus sah völlig anders aus, aber er konnte noch den alten Duft nach Holzrauch, Staub und Schafwolle riechen.

Die Wissenschaftler hatten sich eingefunden, neun insgesamt, und alle warteten angespannt. Sie sahen völlig fertig aus, und Bia hatte das Gefühl, dass hier, abgesehen von Wolkon skis Tod, noch etwas nicht in Ordnung war. Und zwar schon seit einer ganzen Weile. Er wünschte nur, sie hätten den Fall nicht Greer übertragen. Greer war früher einmal ein guter Agent gewesen, bis ihm das passiert war, was allen guten Agenten irgendwann passierte: Er war zum leitenden Special Agent befördert und dadurch ruiniert worden, dass er die meiste Zeit über nur noch Papier von A nach B schieben musste.

»Guten Abend, Leute«, sagte Greer, nahm seine dunkle Brille ab und ermahnte Bia mit einem Blick, dasselbe zu tun.

Bia ließ seine auf. Er schätzte es nicht, wenn ihm jemand sagen wollte, was er zu tun hatte. Er war schon immer so gewesen – das lag ihm im Blut. Sogar seinen Nachnamen, Bia, verdankte er der Tatsache, dass sein Großvater sich geweigert hatte, seinen Familiennamen zu nennen, als er zwangsweise ins Internat verfrachtet wurde. Deshalb notierten sie damals »BIA« – für Bureau of Indian Affairs, schlicht die Abkürzung der zuständigen Behörde. Viele andere Navajos hatten es genauso gemacht, so dass Bia nun im Reservat ein verbreiteter Name war. Und er war stolz auf diesen Namen. Obwohl all die Bias nicht miteinander verwandt waren, hatten sie etwas gemeinsam – sie ließen sich nicht gern herumschubsen.

»Wir wollen das so rasch wie möglich hinter uns bringen«, sagte Greer. »Einer nach dem anderen, in alphabetischer Reihenfolge.«

»Haben Sie denn schon Fortschritte gemacht?«, fragte Hazelius.

»Einige«, erwiderte Greer.

»Wurde Dr. Wolkonski ermordet?«

Bia wartete gespannt auf Greers Antwort. Sie kam nicht. Mit dieser Frage hatten sie sich von Anfang an befasst, aber sie würden die Laborergebnisse abwarten. Und den Bericht des Gerichtsmediziners. Ging alles nach Flagstaff. Er selbst würde wohl kaum mehr als eine Zusammenfassung zu sehen bekommen. Er war überhaupt nur deshalb hier, weil irgendein FBIBürokrat einen Namen brauchte, den er an einer bestimmten Stelle in ein Formular eintragen musste – als Nachweis, dass die Stammespolizei »einbezogen« worden war, wie das bei denen gerne hieß.

Bia sagte sich, dass ihn dieser Fall sowieso nicht interessierte. Das waren nicht seine Leute.

»Melissa Corcoran?«, sagte Greer.

Eine sportliche Blondine stand auf, die eher wie ein Tennisprofi aussah denn wie eine Wissenschaftlerin.

Bia folgte den dreien in die Bibliothek, wo Alvarez einen Tisch und Stühle zurechtrückte und ein Aufnahmegerät bereitstellte. Greer und Alvarez führten die Befragung durch; Bia hörte zu und machte sich Notizen. Es ging schnell, einer nach dem anderen wurde vernommen. Bald ließ sich eine übereinstimmende Linie erkennen: Alle standen unter großem Druck, es lief nicht gut, Wolkonski war leicht erregbar und hatte sich alles besonders zu Herzen genommen, er hatte zu trinken begonnen, und es herrschte der Verdacht, er habe auch zu härteren Drogen gegriffen. Corcoran sagte aus, er habe eines Nachts betrunken an ihre Tür gehämmert und mit ihr schlafen wollen. Innes, der Teampsychologe, sprach über die Isolation hier oben und erklärte, Wolkonski sei depressiv gewesen und habe es nicht wahrhaben wollen. Wardlaw, der für die Sicherheit zuständig war, behauptete, der Russe habe sich unberechenbar verhalten und Sicherheitsregeln missachtet.

Die Durchsuchung von Wolkonskis Privaträumen hatte all das bestätigt: leere Wodkaflaschen, Spuren von Methamphe tamin-Pulver in einem Mörser, überquellende Aschenbecher und Porno-DVDs, und all das in einem erbärmlich schmutzigen, zugemüllten kleinen Haus.

Die Geschichten der anderen stimmten überein und wirkten glaubhaft, die Widersprüche wiesen darauf hin, dass die Aussagen nicht abgesprochen waren. Bei seiner Arbeit im Reservat hatte Bia schon viele Selbstmorde gesehen, und dieser Fall schien ganz klar zu sein, abgesehen von ein paar Kleinigkeiten. Es war gar nicht so einfach, sich selbst zu erschießen und gleichzeitig sein Auto einen Abhang hinunterstürzen zu lassen. Andererseits: Wenn es Mord war, hätte der Täter das Auto sicher in Brand gesteckt. Außer, er war besonders schlau. Die meisten Mörder waren das nicht.

Bia schüttelte den Kopf. Er dachte nach, statt zuzuhören. Das war eine sehr schlechte Angewohnheit.

Um halb neun war Greer fertig. Hazelius begleitete sie zur Tür, wo Bia, der bisher nichts gesagt hatte, noch einmal stehenblieb. Er nahm seine Brille ab und tippte sich damit auf den Daumen der anderen Hand. »Eine Frage, Dr. Hazelius.«

»Ja?«

»Sie sagten, Wolkonski habe unter großem Stress gestanden, wie Sie alle hier. Woran liegt das eigentlich?«

Hazelius antwortete gelassen: »Weil wir eine Maschine gebaut haben, die vierzig Milliarden Dollar gekostet hat, und wir das verdammte Ding nicht richtig zum Laufen kriegen.« Er lächelte. »Beantwortet das Ihre Frage, Lieutenant?«

»Ja, danke. Oh, da ist noch etwas, wenn Sie nichts dagegen haben?«

»Lieutenant«, sagte Greer, »meinen Sie nicht, dass wir genug erfahren haben?«

Doch er fuhr fort, als habe er nichts gehört. »Werden Sie einen neuen Mitarbeiter einstellen, der Mr. Wolkonskis Aufgabengebiet übernimmt?«

Kurze Pause, dann: »Nein. Rae Chen und ich schaffen das schon.«

Bia setzte die Sonnenbrille wieder auf und wandte sich zum Gehen. Irgendetwas an diesem Fall gefiel ihm nicht, aber er kam ums Verrecken nicht dahinter, was.


17


Es war drei Uhr morgens. Ford öffnete leise die Hintertür seines Häuschens und schlüpfte mit seinem Rucksack hinaus in die Dunkelheit. In der Ferne war ein Chor kläffender Kojotenstimmen zu hören, der gleich wieder verstummte. Der Mond war fast voll, und die Wüstenluft in dieser Höhe so klar, dass das Licht jede Einzelheit der Landschaft in silbrigem Relief hervorhob. Eine herrliche Nacht, dachte Ford. Ein Jammer, dass er keine Zeit hatte, sie zu genießen.

Er ließ den Blick über die kleine Siedlung schweifen. Die anderen Häuser waren dunkel, bis auf das letzte ganz am Ende der Kurve: Hazelius’ Haus. Gelber Lichtschein aus dem hinten gelegenen Schlafzimmer schimmerte durch die Vorhänge.

Wolkonskis Haus lag gut vierhundert Meter weit in der anderen Richtung.

Ford rannte durch den vom Mond beschienenen Garten und erreichte den Schatten der Pappeln. Er bewegte sich nur langsam voran und wich den Mondlicht-Pfützen im Wäldchen aus, bis er Wolkonskis Haus erreichte. Er beobachtete das Grundstück, sah oder hörte jedoch nichts.

Er ging hinter das Haus und drückte sich neben der Hintertür in den Schatten. Die Tür war wegen der Ermittlungen amtlich versiegelt. Er öffnete seinen Rucksack und holte Lederhandschuhe und ein Messer heraus. Dann drehte er am Türknauf – natürlich abgeschlossen. Ganz kurz dachte er an die Folgen, die es haben konnte, wenn er das Siegel brach, entschied aber dann, dass es das wert war.

Er schlitzte das Siegel auf, holte ein kleines Handtuch aus seinem Rucksack, wickelte es um einen Stein und drückte es kräftig gegen die Scheibe in der Tür, bis das Glas erschauernd nachgab. Vorsichtig zupfte er die letzten Splitter aus dem Rahmen, griff hinein, entriegelte die Tür und schlüpfte ins Haus.

Der Geruch von Wolkonskis Verzweiflung schlug ihm entgegen: schaler Zigaretten-und Marihuanarauch, billiger Fusel, Zwiebeldunst und ranziges Bratfett. Er zog eine LED-Taschenlampe aus dem Rucksack, richtete sie auf den Boden und schwenkte den Strahl herum. Die Küche war eine Schweinerei. Grünlich grauer Schimmel wucherte auf einem Pappteller mit gekochtem Kohl und Peperoni, der offenbar schon seit Tagen hier herumstand. Bierflaschen und Mini-Wodkaflaschen quollen aus dem überfüllten Mülleimer. Einige Flaschen waren auch auf dem Fliesenboden zerbrochen, die Scherben in eine Ecke gefegt worden.

Er ging weiter ins Wohn-und Esszimmer. Der Teppich war klebrig vor Dreck, das Sofa voller Flecken. An den Wänden hing keinerlei Dekoration, bis auf ein paar Kinderzeichnungen, die mit Tesafilm an eine Tür geklebt waren. Eine zeigte ein Raumschiff, die andere die pilzförmige Wolke einer Atombombenexplosion. Es gab keine Fotos von Wolkonskis Frau oder Kindern, keinerlei Erinnerungsstücke.

Warum hatte Wolkonski die Zeichnungen nicht mitgenommen? Vermutlich war er kein besonders guter Vater. Ford konnte sich ihn kaum als Vater vorstellen.

Die Tür vom Flur zum Schlafzimmer stand offen, dennoch roch die Luft im Zimmer abgestanden. Das Bett sah aus wie eines, das nie gemacht wurde, die Bettwäsche, als sei sie nie gewechselt worden. Schmutzige Wäsche hing aus dem übervollen Wäschekorb. Im Kleiderschrank, noch halbvoll mit Klamotten, fand Ford einen Anzug. Er betastete den Stoff – feine Wolle – und besah sich alles, was noch an der Stange hing. Wolkonski hatte eine Menge Kleidung mit in die Wildnis gebracht, einiges davon sogar recht schick, wenn auch auf billige, protzige Art. Offenbar war ihm nicht klar gewesen, was ihn hier erwartete, zumindest, was das gesellschaftliche Leben anging. Aber warum hatte er die Sachen nicht mitgenommen, als er weggefahren war?

Ford ging den Flur entlang zum zweiten Schlafzimmer, in dem ein Büro eingerichtet war. Der Computer fehlte, doch die ausgesteckten USB-und Fire-Wire-Kabel lagen noch da, außerdem ein Drucker, ein spezielles High-Speed-Modem und eine WLAN-Basis. CDs lagen überall verstreut. Es sah aus, als hätte sie jemand hastig durchwühlt und die unerwünschten einfach liegenlassen.

Er öffnete die oberste Schublade des Schreibtischs und fand weiteres Chaos vor: ausgelaufene Stifte, angekaute Bleistifte und Stapel von ausgedruckten Programmcodes in Assemblersprache, für deren Analyse man vermutlich Jahre brauchen würde. In der nächsten Schublade fand er einen unordentlichen Haufen Aktenmappen. Er sah sie rasch durch – weitere ausgedruckte Codefragmente, Notizen auf Russisch, Programm ablaufpläne. Er holte den ganzen Stapel heraus, und darunter kam ein Umschlag zum Vorschein, verschlossen, mit Briefmarke, ohne Adresse, und mittendurch gerissen.

Ford holte die zwei Hälften hervor, faltete sie auf und fand in dem Umschlag nicht etwa einen Brief, sondern einen hexadezimalen Computercode. Handgeschrieben. Das Datum darüber war vom Montag, dem Tag von Wolkonskis Abreise. Sonst nichts.

Fragen schwirrten Ford durch den Kopf. Warum hatte Wolkonski das geschrieben und es dann zerrissen? Warum hatte er den Umschlag frankiert, aber nicht adressiert? Warum hatte er ihn hier zurückgelassen? Was hatte der Code zu bedeuten? Und vor allem, warum hatte er ihn mit der Hand geschrieben? Niemand notierte Computercodes per Hand. Das dauerte ewig, und man machte viel zu leicht Fehler.

Ford kam ein Gedanke: In einer Computerumwelt mit so hoher Sicherheitsstufe wie dem Isabella-Projekt konnte man keinerlei Daten kopieren, ausdrucken, übermitteln oder per E-Mail verschicken, ohne dass der Vorgang aufgezeichnet wurde. Aber wenn man etwas handschriftlich kopierte, bekam der Computer natürlich nichts davon mit. Er stopfte sich die beiden Zettelhälften in die Tasche. Was auch immer das sein mochte, sie waren wichtig.

Von der Hintertür her hörte er das leise Knirschen von Kies unter einem Schuh.

Er schaltete die Taschenlampe aus und erstarrte. Stille. Dann ein kaum hörbares Scharren von irgendetwas zwischen einer Schuhsohle und dem Küchenfußboden.

Er konnte zu keiner Tür hinaus – weder durch die Hintertür noch durch die Haustür –, ohne gesehen zu werden.

Ein weiteres Flüstern von leisen Sohlen, näher diesmal. Der Eindringling wusste, dass Ford hier war, und bewegte sich sehr langsam, zweifellos, um überraschend zuzuschlagen.

Lautlos schlich Ford über den Teppich zum hinteren Fenster und streckte den Arm aus. Er legte den Hebel um und drückte gegen die untere Fensterhälfte, um sie hochzuschieben. Sie klemmte.

Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.

Ein kräftiger Ruck, und das Fenster bewegte sich. Keine Sekunde später griff der Eindringling an. Ford hechtete aus dem Fenster und zerriss dabei das Insektenschutznetz, im selben Moment, als zwei rasch hintereinander abgefeuerte Schüsse aus einer kleinkalibrigen Waffe mit Schalldämpfer die Fensterscheibe über ihm zerspringen ließen. Er rollte sich auf dem Boden ab, und um ihn herum regnete es Glassplitter.

Wie der Blitz war er auf den Beinen und rannte im Zickzack in den Schatten der Pappeln. Am anderen Ende des Wäldchens sprintete er über das offene Gelände aufwärts zum Rand des Tals. Der Mond schien so hell, dass er seinen Schatten neben sich herlaufen sah.

Im Laufen hörte er das typische dumpfe Pfeifen von Geschossen mit niedriger Mündungsgeschwindigkeit. Das musste Wardlaw sein – niemand sonst würde hier einen Schalldämpfer besitzen oder so gut schießen.

Ford sprintete auf den dunklen Umriss des Nakai Rock zu, bog hinter dem Felsen scharf links ab und rannte den Pfad entlang auf die Anhöhe dahinter. Das wespenartige Surren eines weiteren Geschosses schwirrte links an ihm vorbei. Er verließ den Pfad, kletterte über herabgestürzte Felsbrocken hinweg auf den niedrigen Felsenkamm zu und achtete darauf, stets Deckung zu haben. Gleich darauf kam er oben an. Seine Beine schmerzten von der Anstrengung, als er innehielt, um zurückzuschauen. Zweihundert Meter unter sich entdeckte er eine dunkle Gestalt, die ihm den felsigen Hang hinauf nachjagte.

Ford rannte weiter, einen Felsrücken entlang. Das Gestein war völlig kahl und bot keine Deckung – aber zumindest würde er hier keine Fußabdrücke hinterlassen. Vor sich sah er mehrere kleine, ausgetrocknete Bachbetten, die sich im Zickzack zum Rand der Mesa hin verzweigten. Kurz darauf hatte er den ersten Graben erreicht. Er sprang hinab und rannte das trockene Bachbett entlang, bis es eine scharfe Biegung beschrieb, schon dicht am Rand der Mesa. Er versteckte sich hinter einem Felsvorsprung und blickte zurück. Sein Verfolger war am Rand stehengeblieben und untersuchte den sandigen Boden mit einer Taschenlampe.

Es war unverkennbar Wardlaw.

Der Sicherheitschef erhob sich, schwenkte den Lichtstrahl im Bachbett hin und her, kletterte hinunter und bewegte sich mit gezogener Waffe in Fords Richtung weiter.

Ford kletterte im Schutz der Felsnase aus dem Bachbett. Als er den Rand der Schlucht erreichte und kurz seine Deckung aufgeben musste, folgten zwei weitere Schüsse dicht aufeinander; einer sprengte Splitter von einem nahen Felsen.

Ford rannte über den Sand und hoffte, das andere Ende der offenen Fläche zu erreichen, bevor der Sicherheitschef aus der Schlucht kletterte. Er lief aus voller Kraft, schnurgerade über den flachen Sandboden, er rannte so schnell, dass es sich anfühlte, als stieße ihm jemand ein Messer in die Lunge. Fast am Ende angekommen, bog er in Richtung einer kahlen Felsenplatte ab. Das war gefährlich offenes Gelände, aber dahinter kam ein Geröllfeld aus größeren Brocken, die ihm Deckung boten und zwischen denen er seinen Verfolger vielleicht würde abhängen können. Er sprang von der letzten Düne und rannte über die Felsenplatte, wo Wardlaw ihn im Augenblick nicht sehen konnte.

Plötzlich erkannte er eine Chance und änderte seinen Plan. Auf halbem Wege über die Felsenplatte befand sich eine ausgespülte Mulde, in die das Mondlicht nicht hineinfiel und die gerade tief genug war, um ihn zu verbergen. Er wirbelte dorthin herum, sprang hinein und drückte sich flach an den Fels. Das war kein großartiges Versteck – Wardlaw brauchte nur zufällig den Strahl seiner Taschenlampe in seine Richtung zu lenken, um ihn zu entdecken. Doch das würde er nicht tun. Nein, er würde davon ausgehen, dass Ford sich in die hervorragende Deckung der Geröllhalde dahinter geflüchtet hatte.

Ein paar Minuten vergingen – und dann hörte er Wardlaws schnelle Schritte auf dem Gestein, und keuchende Atemzüge hetzten an ihm vorüber.

Ford zählte bis sechzig und lugte dann vorsichtig über den Rand der Mulde. Drüben zwischen den Felsbrocken konnte er Wardlaws Lichtkegel tanzen sehen, der suchend immer tiefer in den Irrgarten des Geröllfelds vordrang.

Ford sprang auf und sprintete zurück zum Nakai Valley.


Nachdem Ford über Umwege nach Hause geschlichen war, näherte er sich vorsichtig seinem Häuschen. Er umkreiste das Grundstück und vergewisserte sich, dass Wardlaw es nicht überwachen ließ, dann schlüpfte er durch die Hintertür hinein. Der Mond war untergegangen, und im Osten graute der Morgen. Der ferne Schrei eines Berglöwen hallte über die Mesa.

Er ging ins Schlafzimmer in der Hoffnung, vor dem Frühstück noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Abrupt blieb er stehen und starrte das Bett an.

Auf dem Kopfkissen lag ein Umschlag. Er hob ihn auf und zog die Nachricht heraus. Schade, dass ich Dich verpasst habe, stand da in großzügiger, schwungvoller Schrift. Unterzeichnet war das Briefchen mit Melissa.

Ford ließ den Brief zurück aufs Kissen fallen und dachte mit schiefem Lächeln, dass sich das wahre Ausmaß der Risiken bei diesem Einsatz allmählich erst herausstellte.


18


Eine Stunde später betrat Ford den Frühstücksraum und wurde vom belebenden Duft von Kaffee, Speck und Pfannkuchen empfangen. In der Tür blieb er stehen. Hier saß ein recht kleines Häuflein beisammen – mehrere Mitglieder des Teams waren unten im Bunker, andere wurden im Aufenthaltsraum vom FBI vernommen. Hazelius saß an seinem üblichen Platz am Kopf der Tafel.

Ford atmete tief durch und suchte sich einen Platz. Hatten die Wissenschaftler zuvor schon erschöpft gewirkt, so sahen sie jetzt aus wie Zombies. Sie aßen schweigend, die rotgeränderten Augen starrten ins Leere. Hazelius sah noch übler aus als die anderen.

Ford schenkte sich einen Becher Kaffee ein. Als Wardlaw ein paar Minuten später kam, beobachtete Ford ihn aus den Augenwinkeln. Im Gegensatz zu den anderen wirkte der Mann ausgeschlafen, gelassen und ungewöhnlich freundlich, denn auf dem Weg zum Tisch nickte er hierhin und dorthin.

Kate lief zwischen Tisch und Küche hin und her und brachte weitere Platten mit Essen. Ford bemühte sich, sie nicht anzustarren. Um ihn herum begann eine niedergeschlagene Unterhaltung über Nebensächlichkeiten. Niemand wollte über Wolkonski sprechen. Bloß nicht Wolkonski.

Corcoran setzte sich neben ihn. Er spürte ihren Blick, wandte sich ihr zu und sah das wissende Lächeln in ihrem Gesicht. Sie beugte sich zu ihm hinüber und fragte leise: »Wo warst du denn letzte Nacht?«

»Spazieren.«

»Schon klar.« Sie grinste anzüglich und ließ den Blick über Kate gleiten.

Sie glaubt, ich hätte was mit Kate.

Corcoran wandte sich der Gruppe zu und verkündete: »Wir kamen heute Morgen groß in den Nachrichten. Habt ihr es gesehen?«

Alle unterbrachen ihr Frühstück.

»Niemand?« Corcoran blickte sich triumphierend um. »Aber nicht das, was ihr denkt. In den Nachrichten kam nichts über Peter Wolkonski – zumindest noch nicht.«

Wieder ließ sie den Blick über die anderen schweifen und genoss die allgemeine Aufmerksamkeit. »Es geht um etwas anderes. Echt seltsam. Kennt ihr diesen Fernsehprediger Spates, der diese Riesenkirche drüben in Virginia hat? In der Times online war heute Morgen eine große Story über ihn und uns.«

»Spates?« Innes beugte sich über den Tisch. »Der Fernsehprediger, der mit diesen Prostituierten erwischt wurde? Was soll der denn mit uns zu tun haben?«

Corcorans Lächeln wurde breiter. »In seiner Predigt letzten Sonntag ging es nur um uns.«

»Aber warum denn?«, fragte Innes.

»Er hat behauptet, wir seien ein Haufen gottloser Wissenschaftler, die das Buch Genesis als Lüge hinstellen wollen. Auf seiner Website kann man sich die komplette Predigt als Video anschauen. ‹Seid gegrüßt im Namen unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus‹«, zitierte sie, eine fast perfekte Imitation von Spates’ Südstaatenakzent, die wieder einmal ihr Talent zur Nachahmung bewies.

»Du machst wohl Witze«, sagte Innes.

Sie stupste Ford unter dem Tisch mit dem Bein an. »Hattest du davon noch nichts gehört?«

»Nein.«

»Wer von uns hat denn Zeit, im Internet herumzusurfen?«, bemerkte Thibodeaux mit lauter, gereizter Stimme. »Ich komme auch so schon kaum mit der Arbeit hinterher.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte Dolby. »Wie kommt er darauf, wir wollten das Buch Genesis als Lüge hinstellen?«

»Wir erforschen den Urknall – eine säkular-humanistische Theorie, die behauptet, das Universum sei ohne göttliches Eingreifen entstanden. Wir sind jetzt ein Teil des Feldzugs gegen den christlichen Glauben. Wir sind Jesushasser.«

Dolby schüttelte angewidert den Kopf.

»Der Times zufolge hat die Predigt einen Aufruhr entfacht. Mehrere Kongressabgeordnete aus dem Süden fordern einen Untersuchungsausschuss und drohen damit, uns den Geldhahn zuzudrehen.«

Innes wandte sich an Hazelius. »Wussten Sie davon, Gregory?«

Hazelius nickte müde.

»Was werden wir dagegen unternehmen?«

Hazelius stellte langsam seinen Kaffeebecher ab und rieb sich die Augen. »Der Stanford-Binet-Test belegt, dass siebzig Prozent aller Menschen einen Intelligenzquotienten im durchschnittlichen oder unterdurchschnittlichen Bereich aufweisen. Mit anderen Worten, über zwei Drittel aller menschlichen Wesen sind maximal durchschnittlich intelligent, was schon dumm genug ist, oder sie sind pathologische Hornochsen.«

»Ich weiß nicht so recht, was Sie damit meinen«, sagte Innes.

»Ich meine damit, dass die Welt eben so ist, George. Wir müssen damit leben.«

»Aber wir müssen doch mindestens eine Erklärung abgeben und diese Vorwürfe zurückweisen«, sagte Innes. »Wie ich das sehe, lässt sich die Urknalltheorie problemlos mit dem Glauben an Gott vereinbaren. Das eine schließt das andere doch nicht aus.«

Edelsteins Blick hob sich von seinem Buch, und seine Augen glitzerten belustigt. »Wenn Sie das wirklich glauben, George, dann haben Sie weder Gott noch den Urknall verstanden.«

»Moment mal, Alan«, unterbrach Ken Dolby. »Man kann doch eine rein materielle Theorie erforschen, wie den Urknall, aber immer noch daran glauben, dass Gott dahintersteckt.«

Edelsteins dunkle Augen richteten sich auf ihn. »Falls die Theorie eine umfassende Erklärung liefert – was eine gute Theorie ja tun sollte –, dann wäre Gott überflüssig. Ein bloßer Zuschauer. Was für ein nutzloser Gott soll das denn sein?«

»Alan, warum sagst du nicht offen, was du wirklich denkst?«, erwiderte Dolby sarkastisch.

Innes sprach laut und nun mit seiner professionellen Psychologenstimme. »Die Welt ist groß genug für Gott und die Wissenschaft.«

Corcoran verdrehte die Augen.

»Wenn im Namen des Isabella-Projekts eine Erklärung herausgegeben wird, die Gott auch nur erwähnt, würde ich ihr widersprechen«, sagte Edelstein.

»Genug diskutiert«, sagte Hazelius. »Es wird keine offiziellen Erklärungen geben. Überlassen wir das den Politikern.«

Die Tür zum Aufenthaltsraum ging auf, und drei Wissenschaftler kamen heraus, gefolgt von den Agenten Greer und Alvarez und Lieutenant Bia. Sofort wurde es still am Tisch.

»Ich möchte Ihnen allen für Ihre Kooperation danken«, erklärte Greer steif, ein Klemmbrett in der Hand. »Sie haben meine Karte. Falls Sie irgendetwas brauchen oder Ihnen noch etwas einfällt, das uns weiterhelfen könnte, rufen Sie mich bitte an.«

»Wann werden Sie denn Näheres wissen?«, fragte Hazelius.

»In zwei, drei Tagen.«

Schweigen. Dann meldete sich erneut Hazelius zu Wort: »Darf ich Sie etwas fragen?«

Greer stand abwartend da.

»Wurde die Waffe im Auto gefunden?«

Greer zögerte und sagte dann: »Ja.«

»Wo?«

»Auf dem Boden, auf der Fahrerseite.«

»Soweit ich informiert bin, wurde Dr. Wolkonski aus kürzester Distanz in die linke Schläfe geschossen, als er hinter dem Lenkrad saß. Ist das korrekt?«

»Korrekt.«

»War eines der Fenster geöffnet?«

»Alle Fenster waren geschlossen.«

»Und die Klimaanlage lief?«

»Ja.«

»Türen verriegelt?«

»So ist es.«

»Schlüssel im Zündschloss?«

»Ja.«

»Wurden an Dr. Wolkonskis rechter Hand Schmauchspuren gefunden?«

Kurzes Schweigen. »Die Laborergebnisse sind noch nicht da«, sagte Greer dann.

»Danke.«

Ford war bewusst, was diese Fragen bedeuteten, und offensichtlich war Greer das ebenfalls klar. Die Agenten verließen den Raum, und das Frühstück wurde in angespanntem Schweigen wieder aufgenommen. Das unausgesprochene Wort Selbstmord schien in der Luft zu hängen.

Als die meisten fertig waren, erhob sich Hazelius. »Ich möchte ein paar Worte sagen.« Er ließ den Blick einmal um den Tisch schweifen. »Ich weiß, dass Sie alle tief erschüttert sind, so wie ich selbst.«

Die Leute rutschten unbehaglich auf ihren Stühlen hin und her. Ford warf einen raschen Blick zu Kate hinüber. Sie sah mehr als erschüttert aus – sie war offenbar am Boden zerstört.

»Die Probleme mit Isabella haben Peter am meisten zu schaffen gemacht – die Gründe dafür kennen wir alle. Er hat übermenschliche Anstrengungen erbracht, um die Software-Probleme zu beheben. Ich nehme an, er hat schließlich einfach aufgegeben. Ich möchte seinem Gedenken ein paar Zeilen aus einem Gedicht von Keats widmen, über diesen transzendentalen Augenblick der Entdeckung.« Dann zitierte er auswendig:

»Wie einem Astronom erging’s mir da,


Schwimmt ihn ein neuer Stern im Fernrohr an;


Wie Cortez, als sein Adlerblick ganz nah


Auf den Pazifik fiel – und jeder Mann


Wild rätselnd ins Gesicht des Nachbarn sah –


Auf einem Pik Dariéns nur schweigend sann.«

Hazelius hielt kurz inne und blickte dann auf. »Wie ich schon einmal gesagt habe: Keine Entdeckung, die in dieser Welt etwas zählt, ist leicht zu machen. Eine große Expedition ins Unbekannte ist immer gefährlich – körperlich und psychisch. Denken Sie nur an Magellans Reise um die Welt oder Captain Cooks Entdeckung der Antarktis. Sehen Sie sich das Apollo-Programm oder das Spaceshuttle an. Gestern haben wir einen Mann an die Gefahren unserer Expedition verloren. Ganz gleich, was diese Ermittlungen ergeben werden – und ich denke, die meisten von uns ahnen schon, was dabei herauskommen wird –, für mich wird Peter immer ein Held sein.«

Er verstummte, überwältigt von seinen Emotionen. Gleich darauf räusperte er sich und fuhr fort: »Der nächste Testlauf mit Isabella beginnt morgen Mittag. Sie alle wissen, was Sie zu tun haben. Diejenigen von uns, die noch nicht im Berg sind, werden sich morgen um elf Uhr dreißig hier nebenan im Aufenthaltsraum versammeln und gemeinsam hinübergehen. Die Tür zum Bunker wird um elf Uhr fünfundvierzig geschlossen und verriegelt. Diesmal, meine Damen und Herren, das schwöre ich Ihnen, werden wir wie Cortez den Pazifik erblicken.«

In seiner Stimme schwang eine Inbrunst mit, die Ford berührte – die Inbrunst eines wahrhaft gläubigen Menschen.


19


Am selben Vormittag ließ sich Reverend Don T. Spates in seinen Bürosessel sinken, stellte an einem Hebel die Lendenwirbelstütze ein und spielte an den anderen Einstellungen herum, bis er es vollkommen bequem hatte. Er fühlte sich großartig. Das Isabella-Projekt hatte sich als brandheißes Thema erwiesen. Es gehörte ihm. Er allein hatte Anspruch darauf. Das Geld strömte nur so herein, sämtliche Telefonleitungen waren dauerhaft belegt. Die Frage war, wie er das Thema in seiner christlichen Talkshow am Freitagabend, Roundtable America, voranbringen sollte. In einer Predigt konnte man mit Emotionen spielen, melodramatisch und reißerisch sein. Aber die Talkshow sprach die Leute eher auf intellektueller Ebene an. Die Sendung galt als seriös und genoss durchaus Ansehen. Und dafür brauchte er Fakten, Tatsachen – von denen er herzlich wenig hatte, abgesehen von dem bisschen, was er auf der Website des Isabella-Projekts hatte finden können. Den vorgesehenen Gästen, die er schon vor Wochen gebucht hatte, hatte er bereits abgesagt und dafür einen neuen Talkgast gefunden, einen Physiker, der etwas über das Isabella-Projekt sagen konnte. Aber er brauchte mehr: Er brauchte eine Überraschung.

Sein Assistent Charles trat mit dem morgendlichen Aktenstapel ein. »Die E-Mails, die Sie haben wollten, Reverend. Nachrichten. Ihre Termine.« Er legte alles nebeneinander ab, still und effizient wie immer.

»Wo ist mein Kaffee?«

Seine Sekretärin kam herein. »Guten Morgen, Reverend!«, sagte sie fröhlich. Ihr auftoupiertes Haar, grau wie Rauhreif, wippte und glitzerte in der Morgensonne. Sie stellte ein Tablett vor ihn hin: silberne Kaffeekanne, Tasse, Zucker, Kaffeesahne, ein Keks mit Macadamianüssen, seine Lieblingssorte, und eine frisch gebügelte Ausgabe der Virginia Beach Daily Press.

»Schließen Sie die Tür, wenn Sie gehen.«

Nachdem die beiden gegangen waren, goss Spates sich in Ruhe einen Kaffee ein, lehnte sich im Sessel zurück, hob die Tasse an die Lippen und genoss den ersten bitteren, köstlichen Schluck. Er ließ die Flüssigkeit im Mund hin und her fließen, schluckte, atmete tief aus und stellte die Tasse ab. Dann griff er nach der Mappe mit den E-Mails. Jeden Tag sahen Charles und dessen drei Gehilfen Tausende eingegangener E-Mails durch, suchten jene heraus, deren Absender bereits eine Spende ab der »1000 Segnungen«-Ebene geleistet hatten oder dazu bereit schienen, außerdem die Mails von Politikern, Geschäftsleuten und anderen wichtigen Verbindungen, die gepflegt werden wollten. Diese Mappe enthielt die Ausbeute, die eine persönliche Antwort erforderte, für gewöhnlich einen Dankesbrief für Geld oder eine Bitte um Geld.

Spates nahm die erste ausgedruckte E-Mail vom Stapel, überflog sie, kritzelte eine Antwort darauf, legte sie beiseite, griff nach der zweiten und arbeitete sich so durch den ganzen Stapel.

Nach fünfzehn Minuten traf er auf eine E-Mail, die Charles mit einem Klebezettel versehen hatte. Sieht interessant aus, stand da. Spates knabberte an seinem Keks und las.

Lieber Reverend Spates,

gelobt sei Jesus Christus. Mein Name ist Russ Eddy, und ich bin der Pastor der Gathered in Thy Name Mission in Blue Gap, Arizona. Seit ich die Mission 1999 gegründet habe, verkünde ich die Frohe Botschaft hier im Navajo-Land. Wir sind eine sehr kleine Mission – genau genommen gibt es hier nur mich.

Ihre Predigt über das Isabella-Projekt war bei mir ein Volltreffer, Reverend. Ich sage Ihnen auch, warum. Isabella ist unsere Nachbarin – sie liegt hier oben auf der Red Mesa über mir, ich kann den Berg von meinem Fenster aus sehen, während ich Ihnen das schreibe. Ich habe mir von meinen Schäfchen schon einiges darüber anhören müssen. Es gibt eine Menge hässlicher Gerüchte. Und ich meine wirklich hässlich. Die Leute haben Angst; sie fürchten sich davor, was die da oben treiben.

Ich will nicht noch mehr Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch nehmen, Reverend – ich wollte Ihnen nur dafür danken, dass Sie den Kampf für das Gute aufgenommen haben und die Christen überall im Land auf diese gottlose Maschine hier draußen in der Wüste aufmerksam machen. Bitte weiter so.

Christliche Grüße


Pastor Russ Eddy


Gathered in Thy Name Mission


Blue Gap, Arizona

Spates las die E-Mail einmal, dann noch einmal. Er leerte seine Tasse, stellte sie auf das Tablett, drückte den Daumen auf den letzten feuchten Kekskrümel und leckte ihn ab. Dann lehnte er sich nachdenklich zurück. In Arizona war es jetzt Viertel nach sieben. Pastoren auf dem Lande standen doch früh auf, oder?

Er griff zum Telefon und wählte die Nummer, die am Ende der E-Mail stand. Es klingelte mehrmals, dann meldete sich eine schrille Stimme.

»Pastor Russ.«

»Ah, Pastor Russ! Hier spricht Reverend Don T. Spates von God’s Prime Time in Virginia Beach. Wie geht es Ihnen, Pastor?«

»Sehr gut, danke.« Die Stimme klang zweifelnd, ja sogar argwöhnisch. »Was sagten Sie, wer Sie sind?«

»Reverend Don T. Spates! Von God’s Prime Time!«

»Oh! Reverend Spates! Das ist ja eine Überraschung. Sie haben meine E-Mail also gelesen.«

»Allerdings. Sie war sehr interessant.«

»Danke, Reverend.«

»Bitte, nennen Sie mich Don. Also, ich denke, Ihre Nachbarschaft zu dieser Maschine, Ihr Zugang zu dem wissenschaftlichen Experiment, das könnte ein Geschenk Gottes sein.«

»Warum denn das?«

»Ich brauche jemanden, der mir Insider-Informationen darüber liefern kann, was da draußen vorgeht, jemanden vor Ort. Vielleicht ist es Gottes Wille, dass Sie diese Quelle werden. Er hat Sie schließlich nicht umsonst dazu bewegt, diese E-Mail zu schreiben, Russ. Habe ich nicht recht?«

»Ja, Sir. Ich meine, nein, das hat Er nicht. Ich höre mir jeden Sonntag Ihre Predigt an. Wir haben hier draußen keinen Fernsehempfang, aber ich habe eine High-Speed-Internetverbindung via Satellit und schaue mir den Podcast auf Ihrer Website an, jede Woche.«

»Freut mich, das zu hören, Russ. Schön, dass unser Podcast so viele Menschen erreicht. Also, Russ, Sie haben in Ihrer E-Mail Gerüchte erwähnt. Was für Gerüchte hören Sie denn so?«

»Alles Mögliche. Sachen über Atomexperimente, Explosionen, Kindesmissbrauch. Es heißt, die würden da oben Missgeburten züchten, irgendwelche Monster. Dass die Regierung hier eine neue Waffe testet, um damit die Welt zu zerstören.«

Spates spürte einen Klumpen im Magen. Dieser sogenannte Pastor hörte sich an wie ein Fall für die Klapsmühle. Kein Wunder, wenn man mit einem Haufen Indianer da draußen in der Wüste lebte.

»Haben Sie vielleicht auch etwas, äh … Greifbareres?«

»Es hat da oben einen Mord gegeben, gestern erst. Einer der Wissenschaftler wurde mit einer Kugel im Kopf aufgefunden.«

»Ach, tatsächlich?« Das klang schon besser. Der Herr sei gepriesen. »Woher wissen Sie das?«

»Na ja, in so einer ländlichen Gegend spricht sich alles schnell herum. Auf der Mesa hat es nur so von FBI-Agenten gewimmelt.«

»Haben Sie sie gesehen?«

»Ja, sicher. Das FBI kommt nur dann ins Reservat, wenn es einen Mord gegeben hat. Alles andere macht eigentlich die Tribal Police.«

Spates lief ein Schauer über den Rücken.

»Eines meiner Schäfchen hat einen Bruder, der bei der Stammespolizei arbeitet. Das neueste Gerücht besagt, es sei in Wahrheit Selbstmord gewesen. Wird alles schön vertuscht.«

»Der Name des toten Wissenschaftlers?«

»Den weiß ich nicht.«

»Sie sind aber sicher, dass es einer der Wissenschaftler war, Russ, ganz sicher?«

»Glauben Sie mir, wenn es ein Navajo gewesen wäre, dann wüsste ich das. Wir leben hier in enger Gemeinschaft.«

»Sind Sie denn schon mal Wissenschaftlern dieses Teams begegnet?«

»Nein. Die bleiben unter sich.«

»Können Sie irgendwie Verbindung zu ihnen aufnehmen?«

»Na klar. Ich könnte wohl einfach mal vorbeischauen und mich als der hiesige Pastor vorstellen. Ganz freundlich, Sie wissen schon.«

»Russ, das ist eine ausgezeichnete Idee! Mir liegt besonders daran, mehr über den Mann zu erfahren, der Isabella leitet, er heißt Hazelius. Haben Sie schon mal von ihm gehört?«

»Der Name kommt mir bekannt vor.«

»Er hat sich selbst zum klügsten Menschen auf Erden ernannt. Er hat behauptet, alle stünden unter ihm, und wir seien ein Haufen Hornochsen. Erinnern Sie sich daran?«

»Ich glaube, ja.«

»Ganz schön unverschämte Behauptung, was? Vor allem aus dem Mund eines Mannes, der nicht an Gott glaubt.«

»Das überrascht mich nicht, Reverend. Wir leben in einer Welt, die das Böse verehrt.«

»So ist es, mein Sohn. Also: Kann ich auf Sie zählen?«

»Ja, Sir, Reverend Spates, Sie können sich auf mich verlassen.«

»Und noch etwas ist ganz wichtig: Ich brauche diese Information bis übermorgen, damit ich sie in Roundtable America am Freitag verwenden kann. Kennen Sie auch meine Talkshow?«

»Seit es die als Podcast gibt, verpasse ich keine einzige Sendung.«

»Für diesen Freitag habe ich einen Physiker eingeladen, jemanden mit einer christlichen Perspektive, um eingehender über das Isabella-Projekt sprechen zu können. Ich muss einfach mehr Informationen haben – aber nicht das übliche PRZeug. Ich meine den Dreck, die schmutzige Wäsche. Wie diesen Todesfall – was ist da passiert? Sprechen Sie mit diesem Navajo-Polizisten, den Sie eben erwähnt haben. Sie verstehen, Russ?«

»Natürlich, ja, sollen Sie haben, Reverend.«

Spates legte den Hörer auf und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Alles fügte sich wie von selbst zusammen. Die Macht Gottes kannte keine Grenzen.


20


Als Ford vom Frühstück zurückkam und gerade sein Haus betreten wollte, kam Wardlaw plötzlich um die Hausecke und verstellte ihm den Weg.

Ford hatte mit so etwas gerechnet.

»Hätten Sie was dagegen, wenn wir uns kurz unterhalten?«, fragte Wardlaw mit scheinbar freundlicher Stimme. Er kaute auf einem Kaugummi herum, und die Muskeln über seinen Ohren spannten sich rhythmisch an.

Ford wartete. Das war nicht der richtige Augenblick für eine Konfrontation, aber wenn Wardlaw sie wollte, sollte er sie bekommen.

»Ich weiß nicht, was Sie für ein Spielchen treiben, Ford, oder wer Sie wirklich sind. Ich nehme an, dass Sie in irgendeiner halboffiziellen Funktion hier sind. Das habe ich schon bei Ihrer Ankunft gespürt.«

Ford wartete weiter ab.

Wardlaw trat so dicht an ihn heran, dass Ford sein Aftershave riechen konnte. »Meine Aufgabe ist es, Isabella zu beschützen – auch vor Ihnen. Ich vermute, dass Sie undercover hier sind, weil irgendein Bürokrat in Washington um seinen kostbaren Arsch fürchtet. Das bietet Ihnen nicht sonderlich viel Schutz, nicht wahr?«

Ford schwieg. Sollte der Mann ruhig Dampf ablassen.

»Ich werde niemandem von Ihrer kleinen Eskapade gestern Nacht erzählen. Sie werden Sie natürlich Ihrem Herrchen melden. Falls die Sache zur Sprache gebracht wird, können Sie sich denken, wie meine Verteidigung lautet. Sie waren ein Eindringling, und mein Auftrag schreibt mir für einen solchen Fall vor, gezielt zu feuern. Oh, und falls Sie glauben, Greer würde sich auf das zerbrochene Fenster und das zerrissene Mückennetz stürzen, die sind schon wieder repariert. Außer uns beiden braucht niemand von der Sache zu wissen.«

Ford war beeindruckt. Wardlaw hatte die Angelegenheit tatsächlich gründlich durchdacht. Er war froh, dass der Sicherheitschef kein Idiot war. Ford fiel es immer leichter, mit einem intelligenten Gegner fertig zu werden. Dumme Menschen waren unberechenbar. Er sagte: »Sind Sie fertig mit Ihrer kleinen Ansprache?«

Die Halsschlagader an Wardlaws Stiernacken pulsierte. »Pass bloß auf, du Schnüffler.« Wardlaw trat beiseite, gerade weit genug, um Ford vorbeizulassen.

Ford trat einen Schritt vor und zögerte dann. Er war Wardlaw so nahe, dass er den Sicherheitschef in die Eier hätte treten können. Er sah den Mann an, dessen Gesicht nur Zentimeter von seinem entfernt war, und sagte freundlich: »Wissen Sie, was ich lustig finde? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen.«

Der Schatten eines Zweifels huschte über Wardlaws Gesicht, als Ford an ihm vorbeiging.

Er betrat das Haus und schlug die Tür zu. Wardlaw war also nicht absolut sicher, dass es Ford war, den er in der Nacht verfolgt hatte. Diese Unsicherheit würde ihn langsamer, vorsichtiger machen. Fords Deckung war angekratzt, aber noch nicht aufgeflogen.

Als er sicher war, dass Wardlaw sich verzogen hatte, ließ er sich aufs Sofa fallen, verärgert und frustriert. Er war nun seit fast vier Tagen auf der Mesa, wusste aber kaum mehr als damals in Lockwoods Büro.

Er fragte sich, wie er je auf den Gedanken gekommen war, das könnte ein relativ leichter Auftrag sein.

Es war an der Zeit, den nächsten Schritt zu tun; er hatte gehofft, das würde nicht nötig sein, schon seit dem Moment, als Lockwood ihm Kates Dossier gezeigt hatte.


Eine Stunde später fand Ford Kate im Stall, wo sie die Pferde fütterte und tränkte. Er blieb in der Tür stehen und sah zu, wie sie im Dämmerlicht Eimer mit Hafer füllte, einen Ballen Luzerne aufriss und ein, zwei Handvoll davon in jede Box warf. Er beobachtete ihre Bewegungen, ihren schlanken, straffen Körper, der diese banalen Arbeiten so sicher und anmutig verrichtete, obwohl sie offensichtlich erschöpft war. Es fühlte sich an wie damals vor zwölf Jahren, als er sie unter diesem Tisch hatte schlafen sehen.

Leise Rockmusik drang aus dem Stall zu ihm heraus.

Sie warf die letzte Handvoll Alfalfa einem Pferd vor, drehte sich dann um und bemerkte ihn. »Willst du wieder mal ausreiten?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.

Er trat in den kühlen Schatten. »Wie geht es dir, Kate?«

Sie stemmte die behandschuhten Hände in die Hüften. »Nicht besonders.«

»Das mit Peter tut mir leid.«

»Ja.«

»Kann ich dir helfen?«

»Bin schon fertig.«

Im Hintergrund lief immer noch die leise Musik. Jetzt erkannte er den Song. »Blondie?«

»Ich lasse oft Musik laufen, während ich bei den Pferden arbeite. Es gefällt ihnen.«

»Weißt du noch …«, begann er.

Sie fiel ihm ins Wort. »Ja.«

Stumm standen sie einander gegenüber. Am MIT hatte sie den Tag im LEES, dem Elektroniklabor, stets damit begonnen, dass sie »Atomic« über den Killian Court schallen ließ. Wenn er morgens reingekommen war, hatte sie meist im Labor herumgetanzt, Kopfhörer auf den Ohren und einen Kaffeebecher in der Hand, und sich möglichst skandalös aufgeführt. Sie hatte Skandale genossen – wie damals, als sie einen Liter Benzin in den Murphy-Memorial-Brunnen gegossen und angezündet hatte. Bei diesen Erinnerungen spürte er einen plötzlichen Stich – diese Zeiten waren vorbei. Wie naiv und hoffnungsvoll sie gewesen war, wie überzeugt davon, dass das Leben immer ein komischer Aufruhr sein würde. Aber irgendwann schaffte das Leben jeden – und sie ganz besonders.

Er schüttelte die Erinnerungen ab und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Bei Kate war der direkte Weg immer der beste. Sie hasste Leute, die um den heißen Brei herumredeten. Ford schluckte. Würde er sich selbst je verzeihen, was er jetzt gleich tun musste?

Ohne Vorwarnung stellte er seine Frage: »Okay, was verbergt ihr hier eigentlich alle?«

Sie sah ihn gelassen an. Keine aufgesetzte Überraschung, kein Protest, keine gespielte Unwissenheit.

»Geht dich nichts an.«

»Das geht mich allerdings etwas an. Ich gehöre auch zum Team.«

»Dann frag Gregory.«

»Ich weiß, dass du aufrichtig zu mir sein wirst. Aber Hazelius – bei dem weiß ich nicht, woran ich bin.«

Ihre Miene wurde weicher. »Glaub mir, Wyman, du willst das nicht wissen.«

»Doch, das will ich. Ich muss es wissen. Das gehört zu meiner Arbeit. Diese Geheimniskrämerei sieht dir gar nicht ähnlich, Kate.«

»Wie kommst du darauf, wir hätten Geheimnisse?«

»Seit ich hier angekommen bin, habe ich das Gefühl, dass ihr alle irgendetwas vor mir verbergt. Wolkonski hat etwas angedeutet. Du auch. Bei Isabella läuft irgendetwas furchtbar schief, oder?«

Kate schüttelte den Kopf. »Himmel, Wyman, du änderst dich wohl nie – du bist immer noch so verflucht neugierig.« Sie blickte an ihrer Bluse hinab, zupfte sich einen Strohhalm von der Schulter und runzelte die Stirn.

Ein weiteres langes Schweigen. Dann hob sie mit offenkundiger Überwindung den Blick, sah ihn mit ihren intelligenten braunen Augen an, und er erkannte, dass sie einen Entschluss gefasst hatte. »Ja. Mit Isabella stimmt etwas nicht. Aber es ist nicht so, wie du wahrscheinlich denkst. Im Grunde ist es uninteressant. Blöd. Es hat nichts mit dir oder deiner Arbeit hier zu tun. Ich will nicht, dass du davon weißt, weil … nun ja, es könnte dich in Schwierigkeiten bringen.«

Ford sagte nichts. Er wartete ab.

Kate stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Also schön. Du hast es so gewollt. Aber erwarte jetzt keine grandiose Enthüllung.«

Er hatte auf einmal ein entsetzlich schlechtes Gewissen ihr gegenüber. Aber er verdrängte die Schuldgefühle rasch – damit würde er sich später befassen.

»Wenn du das gehört hast, wirst du verstehen, warum wir es geheim halten.« Sie sah ihm fest in die Augen. »Isabella wurde sabotiert. Irgendein Hacker hält uns zum Narren.«

»Wie denn das?«

»Jemand hat ein Virus oder einen Trojaner in den Supercomputer eingeschleust. Offenbar handelt es sich um eine Logik bombe, die ausgelöst wird, wenn Isabella kurz davorsteht, hundert Prozent Leistung zu erreichen. Erst produziert sie ein bizarres Bild auf dem Visualizer, dann bringt sie den Supercomputer praktisch zum Absturz und schickt uns eine alberne Botschaft. Das ist unglaublich frustrierend – und extrem gefährlich. Bei so hohem Energieniveau könnten wir alle in die Luft fliegen, wenn die Strahlen aus der Bahn geraten. Schlimmer noch, eine plötzliche Energieschwankung könnte gefährliche Partikel oder Schwarze Mini-Löcher entstehen lassen. Das ist die Mona Lisa der Malware, ein echtes Meisterstück, das nur ein unglaublich guter Programmierer zustande gebracht haben kann. Wir können es nicht finden.«

»Was sind das für Botschaften?«

»Ach, SEID GEGRÜSST, HALLO oder IST DA JEMAND?«

»Wie der Anfänger-Scherz aus dem Programmierkurs – HALLO, ERDLING.«

»Genau. Ein Insider-Witz.«

»Und was passiert dann?«

»Das ist alles.«

»Mehr sagt das Ding nicht?«

»Es hat gar keine Zeit dazu. Wenn der Computer abstürzt, sind wir gezwungen, die Notabschaltung des gesamten Systems einzuleiten.«

»Ihr habt das Ding also noch nicht in ein Gespräch verwickeln können? Es ein bisschen zum Reden gebracht?«

»Machst du Witze? Wenn eine Vierzig-Milliarden-Dollar-Maschine kurz vor der Explosion steht? Außerdem würde uns das auch nicht weiterhelfen – das Ding würde nur noch mehr Blödsinn von sich geben. Und wenn der Supercomputer abgestürzt ist und Isabella noch läuft, dann ist das so, als würde man nachts bei Regen mit ausgeschalteten Scheinwerfern hundertfünfzig auf der Landstraße fahren. Wir müssten ja verrückt sein, um seelenruhig herumzusitzen und uns mit dem Ding zu unterhalten.«

»Und das Bild?«

»Sehr seltsam. Es ist schwer zu beschreiben – absolut spektakulär, ganz tiefgründig und schimmernd wie ein Geist. Wer auch immer das gemacht hat, ist auf seine Art ein Künstler.«

»Und ihr könnt die Malware nicht finden?«

»Nein. Sie ist teuflisch gerissen. Anscheinend bewegt sie sich eigenständig im System, löscht ihre Spuren aus und lässt sich einfach nicht aufdecken.«

»Warum berichtet ihr Washington nicht davon und lasst ein Team von Spezialisten anrücken, die das in Ordnung bringen?«

Sie schwieg einen Moment lang. »Dafür ist es jetzt zu spät. Wenn herauskäme, dass wir schon so lange von einem Hacker an der Nase herumgeführt wurden, gäbe es einen fürchterlichen Skandal. Das Isabella-Projekt hat es mit knapper Not durch den Kongress geschafft … Das wäre das Ende.«

»Warum habt ihr dann nicht sofort darüber berichtet? Warum versteckt ihr das Problem?«

»Wir wollten es ja melden!« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Aber dann fanden wir, es wäre besser, die Malware zu löschen, bevor wir Bericht erstatten, damit wir sagen können, wir hätten das Problem bereits beseitigt. Ein Tag verging, der nächste, und noch einer, und wir konnten das verdammte Programm nicht finden. So ging das eine Woche lang, dann zehn Tage – und dann wurde uns klar, dass wir schon zu lange gewartet hatten. Wenn wir es so spät gemeldet hätten, hätte man uns vorgeworfen, wir wollten die Sache vertuschen.«

»Das war ein dummer Fehler.«

»Allerdings. Ich weiß auch nicht genau, wie es so weit kommen konnte … Wir konnten vor Stress kaum mehr klar denken, außerdem dauert es achtundvierzig Stunden, einen vollständigen Zyklus laufen zu lassen …« Sie schüttelte den Kopf.

»Irgendeine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?«

»Gregory glaubt, es könnte eine Gruppe brillanter Hacker sein, die auf kriminelle Sabotage aus sind. Aber da ist immer diese Angst, die niemand aussprechen will … dass der Hacker einer von uns sein könnte.« Sie hielt inne und holte zittrig Atem. »Jetzt weißt du, wie böse wir in der Klemme stecken, Wyman.«

Im Halbschatten wieherte leise ein Pferd.

»Offenbar glaubt Hazelius deshalb, Wolkonskis Tod müsse ein Selbstmord gewesen sein«, sagte Ford.

»Natürlich war es Selbstmord. Er war unser Software-Techniker, und die Demütigung, von einem Hacker so zum Narren gehalten zu werden, hat ihn schier verrückt gemacht. Der arme Peter. Er war so verletzlich, auf dem emotionalen Stand eines Zwölfjährigen – nur ein hyperaktiver, unsicherer Junge in T-Shirts, die ihm alle zu groß waren.« Sie schüttelte den Kopf. »Er war dem Druck nicht gewachsen. Der Kerl hat ja nie geschlafen. Er war Tag und Nacht da drin bei seinem Computer. Aber er konnte dieses fiese Programm einfach nicht finden. Das hat ihn wahnsinnig gemacht. Er hat angefangen zu trinken, und es würde mich nicht wundern, wenn er auch härteres Zeug genommen hat.«

»Was ist mit Innes? Sollte er das Team nicht psychologisch betreuen?«

»Innes.« Sie runzelte die Stirn. »Er meint es gut, aber er ist uns intellektuell hoffnungslos unterlegen. Ich meine, diese wöchentlichen ›Gesprächsrunden‹, dieser Blödsinn von wegen ›Lasst alles raus‹, das funktioniert vielleicht bei normalen Leuten, aber nicht bei uns. Seine Tricks sind so leicht zu durchschauen, seine Suggestivfragen, seine Psychostrategien. Peter konnte ihn nicht ausstehen.« Mit dem in Leder gehüllten Handrücken wischte sie sich eine Träne von der Wange. »Wir mochten Peter alle sehr.«

»Alle bis auf Wardlaw«, bemerkte Ford. »Und Corcoran.«

»Wardlaw … Na ja, der mag im Grunde keinen von uns, außer Hazelius. Aber du darfst nicht vergessen, dass er unter noch größerem Druck steht als wir anderen. Er ist für die Sicherheit zuständig, für alles, was bei uns geschieht. Wenn die Sache herauskäme, würde er im Gefängnis landen.«

Kein Wunder, dass er ein wenig nervös ist.

»Und was Melissa angeht, die ist schon mit einigen Mitgliedern des Teams aneinandergeraten, nicht nur mit Wolkonski. Ich … wäre an deiner Stelle sehr vorsichtig bei ihr.«

Ford dachte an das Briefchen auf seinem Kissen, sagte aber nichts.

Kate zog sich die Handschuhe aus und warf sie in einen Korb, der an der Wand hing. »Zufrieden?«, fragte sie mit scharfer Stimme.

Als Ford zu seinem Häuschen zurückging, stellte er sich dieselbe Frage. Zufrieden?


21


Pastor Russ Eddy war in seinen alten Ford Pick-up gestiegen, starrte gerade auf die Tankanzeige und überlegte, ob er noch genug Benzin hatte, um es auf die Mesa und zurück zu schaffen, als er die unverkennbare, korkenzieherförmige Staubwolke am Horizont erkannte, die ein nahendes Fahrzeug ankündig te. Er stieg aus dem Wagen, lehnte sich an die Tür und wartete.

Gleich darauf hielt ein Streifenwagen der Navajo Tribal Police vor seinem Trailer, und die Staubwolke zerstreute sich im Wind. Die Autotür ging auf, und ein staubiger Cowboystiefel kam zum Vorschein. Ein großgewachsener Mann entfaltete sich aus dem Wageninneren und richtete sich auf.

»Morgen, Pastor«, sagte er und grüßte mit der Hand am Hut.

»Morgen, Lieutenant Bia«, erwiderte Eddy und bemühte sich, seine Stimme ganz locker und ruhig klingen zu lassen.

»Fahren Sie weg?«

»O nein, ich hab nur mal nach dem Benzin gesehen«, sagte Eddy. »Also, eigentlich hatte ich daran gedacht, hoch auf die Mesa zu fahren und mich den Wissenschaftlern vorzustellen. Ich mache mir Sorgen, was da oben wohl vor sich geht.«

Bia blickte sich um, und seine verspiegelte Sonnenbrille reflektierte den Horizont, wohin er den Kopf auch wandte. »Haben Sie Lorenzo in letzter Zeit mal gesehen?«

»Nein«, antwortete Eddy. »Nicht seit Montagmorgen.«

Bia zog sich die Hose hoch, und seine Ausrüstung klimperte am Gürtel wie ein riesiges Bettelarmband. »Komisch, er ist am Montag gegen Mittag per Anhalter nach Blue Gap gefahren und hat den Leuten, die ihn mitgenommen haben, erzählt, dass er hierherwollte, weil er mit der Arbeit nicht fertig war. Sie haben gesehen, wie er die Straße zur Mission entlanggegangen ist – ab da scheint er einfach verschwunden zu sein.«

Eddy ließ einen Moment verstreichen. »Also, ich habe ihn hier nicht gesehen. Ich meine, am Morgen schon, aber er ist gegen Mittag oder vielleicht auch früher wieder gegangen, und seitdem habe ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er sollte eigentlich für mich arbeiten, aber …«

»Heiß heute, was?« Bia drehte sich um, grinste Eddy an und warf einen Blick in Richtung seines Wohnwagens. »Kann ich Sie zu einer Tasse Kaffee überreden?«, fragte Bia.

»Natürlich.«

Bia folgte Eddy in die Küchenecke und setzte sich an den Tisch. Eddy füllte nur frisches Wasser in die Kaffeemaschine und schaltete sie ein. Navajos verwendeten den Kaffeesatz auch mehrmals, daher vermutete Eddy, dass Bia das nichts ausmachen würde.

Bia legte seinen Hut auf den Tisch. Das Haar klebte ihm wie ein nasser Ring am Kopf. »Also, eigentlich bin ich nicht wegen Lorenzo hier. Ich persönlich glaube eher, dass er wieder mal abgehauen ist. Die Leute in Blue Gap meinten, er sei ziemlich betrunken gewesen, als er am Montag durch den Ort kam.«

Eddy nickte. »Mir war auch aufgefallen, dass er wohl wieder an der Flasche hing.«

Bia schüttelte den Kopf. »Ein Jammer. Der Junge hatte so einen guten Neuanfang gemacht. Wenn er nicht bald auftaucht, widerrufen sie seine Bewährung, und er geht zurück nach Alameda.«

Eddy nickte erneut. »Wirklich schade um ihn.«

Die Kaffeemaschine begann zu gurgeln. Eddy nützte die Gelegenheit, sich zu beschäftigen, indem er Becher, Zucker und Kaffeesahne holte und auf den Tisch stellte. Dann schenkte er zwei Becher Kaffee ein und setzte sich wieder.

»Also, eigentlich«, sagte Bia, »bin ich wegen einer anderen Sache hier. Ich habe gestern mit dem Händler in Blue Gap gesprochen, und er hat mir von Ihrem … Problem mit dem Geld aus der Kollekte erzählt.«

»Aha.« Eddy trank einen Schluck Kaffee und verbrannte sich daran den Mund.

»Er hat gesagt, Sie hätten Geldscheine markiert und ihn gebeten, die Augen danach offen zu halten.«

Eddy wartete.

»Also, gestern sind ein paar dieser Scheine aufgetaucht.«

»Ich verstehe.« Eddy schluckte. Gestern?

»Das ist eine unangenehme Sache«, sagte Bia, »deshalb hat der Händler sich auch an mich gewandt, statt Sie direkt anzurufen. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, wenn ich Ihnen erst erklärt habe, warum. Ich will die Sache nicht unnötig aufbauschen.«

»Schon klar.«

»Kennen Sie die alte Benally? Elizabeth Benally?«

»Natürlich, sie besucht meine Gottesdienste.«

»Früher hat sie jeden Sommer ihre Schafe oben auf der Mesa geweidet und derweil in einem alten Hogan da oben gewohnt, in der Nähe von Piute Spring. Das war nicht ihr Land, sie hatte kein Recht dazu, aber sie hat diese Weiden fast ihr Leben lang genutzt. Als die Stammesregierung die Mesa für dieses Isabella-Projekt geräumt hat, hat sie ihr Weideland verloren und musste ihre Schafe verkaufen.«

»Tut mir leid, das zu hören.«

»War im Grunde nicht übel für sie. Sie ist schon über siebzig und hat von der Regierung ein nettes Häuschen drüben in Blue Gap zugewiesen bekommen. Das Problem ist, dass man mit einem solchen Haus plötzlich Stromrechnungen bekommt, Wasserrechnungen und so weiter – Sie verstehen, was ich meine? Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie eine Rechnung zu bezahlen. Und jetzt lebt sie nur noch von ihrer Rente, weil sie ja keine Schafe mehr hat.«

Er sagte, er verstehe schon.

»Na ja, diese Woche hat ihre Enkelin Geburtstag, sie wird zehn, und gestern hat die gute alte Benally ihr im Laden im Ort einen Gameboy gekauft – hat ihn als Geschenk verpacken lassen, mit allem Drum und Dran.« Er hielt inne und sah Eddy mit festem Blick an. »Sie hat ihn mit Ihren markierten Scheinen bezahlt.«

Eddy saß da und starrte Bia an.

»Ich weiß. Ganz schöne Überraschung.« Bia zog seine Geldbörse aus der hinteren Hosentasche. Seine große, staubige Hand holte einen Fünfziger heraus und schob ihn über den Tisch. »Aber es lohnt sich nicht, daraus eine große Sache zu machen.«

Eddy konnte sich nicht rühren.

Bia erhob sich und steckte die Brieftasche wieder ein. »Wenn so etwas noch einmal vorkommt, sagen Sie mir Bescheid, und ich ersetze den Schaden. Wie gesagt, ich fände es wenig sinnvoll, das Ganze offiziell zu machen, Anzeige zu erstatten und so weiter. Wahrscheinlich ist sie sowieso nicht ganz zurechnungsfähig.« Er nahm seinen Hut vom Tisch und stülpte ihn wieder über sein schweißnasses schwarzes Haar.

»Danke für Ihr Verständnis, Pastor.«

Er wandte sich zum Gehen, hielt aber noch einmal inne. »Und wenn Sie Lorenzo sehen, sagen Sie mir kurz Bescheid, ja?«

»Mache ich, Lieutenant.«

Pastor Russ Eddy sah zu, wie Lieutenant Bia zur Tür hinausging, verschwand und dann im Fenster wieder auftauchte, als er über den Hof ging. Genau über der Stelle, wo der Leichnam vergraben war, wirbelten seine Cowboystiefel kleine Staubfähnchen auf.

Eddys Blick fiel auf die schmuddelige Fünfzig-Dollar-Note, und ihm wurde schlecht. Dann wurde er zornig. Sehr zornig.


22


Ford betrat sein Wohnzimmer, stellte sich ans Fenster und betrachtete den krummen Umriss des Nakai Rock, der über den Pappeln aufragte. Er hatte seinen Auftrag erfüllt und stand nun vor der Entscheidung: Sollte er darüber Bericht erstatten?

Er ließ sich in einen Sessel fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Kate hatte recht: Wenn diese Neuigkeit nach außen drang, würde das Projekt es vermutlich nicht überstehen. Diese Sache würde die Karrieren aller Beteiligten ruinieren – Kates eingeschlossen. In der wissenschaftlichen Welt war schon der Verdacht einer Vertuschung oder Lüge ein absoluter Karriere-Killer.

Zufrieden?, fragte er sich erneut.

Er stand auf und ging ärgerlich auf und ab. Lockwood hatte von Anfang an gewusst, dass Ford die Antwort ausgraben würde, indem er Kate fragte. Er war nicht engagiert worden, weil er ein ach so brillanter ehemaliger CIA-Agent war, der sich selbständig gemacht hatte, sondern weil er zufällig etwas mit einer bestimmten Frau gehabt hatte, vor zwölf Jahren. Er hätte Lockwood auf seinem Auftrag sitzenlassen sollen, als er noch die Chance dazu gehabt hatte. Aber er hatte den Auftrag spannend gefunden. Sich geschmeichelt gefühlt. Und er musste sich eingestehen, dass die Vorstellung, Kate wiederzusehen, ihn sehr gereizt hatte.

Einen Moment lang sehnte er sich nach seinem Leben im Kloster, nach jenen dreißig Monaten, in denen ihm das Leben so einfach, so klar erschienen war. Dort hatte er beinahe vergessen, wie schrecklich grau und zwiespältig die Welt war, und welche unmöglichen moralischen Entscheidungen sie einem aufzwang. Doch er wäre nie ein guter Mönch geworden. Er war ins Kloster gegangen in der Hoffnung, seinen Glauben an sich selbst, seine Zuversicht wiederzufinden. Aber das Kloster hatte bei ihm genau das Gegenteil bewirkt.

Er senkte den Kopf und versuchte zu beten, doch das waren bloß Worte. Worte in der Stille.

Vielleicht gab es so etwas wie richtig oder falsch gar nicht mehr – die Menschen taten eben, was sie taten. Er traf seine Entscheidung. Auf keinen Fall würde er etwas unternehmen, was Kates Karriere schaden könnte. Sie hatte in ihrem Leben schon genug Tiefschläge einstecken müssen. Er würde ihnen noch zwei Tage geben, die Malware aufzuspüren. Und er würde ihnen dabei helfen. Er vermutete stark, dass der Saboteur ein Mitglied des Teams war. Niemand sonst hätte Zugang zum Computer oder das nötige Fachwissen.

Ford trat aus der Haustür und machte eine langsame Runde ums Haus, als wolle er frische Luft schnappen, um sich zu vergewissern, dass Wardlaw sich nicht hier herumtrieb. Dann ging er ins Schlafzimmer, schloss einen Schrank auf und holte seine Aktentasche heraus. Er tippte den Zifferncode ein, schloss den Aktenkoffer auf, holte das Telefon heraus und wählte die Nummer.

Lockwood meldete sich so schnell, dass Ford meinte, der wissenschaftliche Berater müsse neben dem Telefon gewartet haben.

»Neuigkeiten?«, fragte Lockwood atemlos.

»Nicht viel.«

Ein scharfes, ungeduldiges Seufzen von Lockwood. »Sie hatten schon vier Tage Zeit, Wyman.«

»Sie bekommen Isabella einfach nicht richtig zum Laufen. Allmählich glaube ich, Sie könnten sich geirrt haben, Stan. Die versuchen hier nichts zu vertuschen. Es ist genau so, wie sie sagen – die Maschine funktioniert einfach nicht richtig, und sie kriegen das nicht hin.«

»Verdammt noch mal, Ford, das kaufe ich Ihnen nicht ab!«

Er konnte Lockwood ins Telefon atmen hören. Auch Lockwoods Karriere stand hier auf dem Spiel. Doch Ford war der Mann völlig egal. Sollte er daran zugrunde gehen. Nur Kate war ihm wichtig. Wenn er ihnen ein bisschen mehr Zeit erkaufen konnte, um den Computerwurm zu finden, musste Lockwood überhaupt nicht erst davon erfahren.

Lockwood fuhr fort: »Sie haben sicher von diesem Evangelisten Spates und seiner Fernsehpredigt gehört?«

»Ja.«

»Das verkürzt unseren Zeitrahmen. Sie haben noch zwei, maximal drei Tage, ehe wir den Stecker rausziehen müssen. Wyman, finden Sie heraus, was diese Leute verheimlichen – haben Sie mich verstanden? Finden Sie es heraus!«

»Ich verstehe.«

»Sie haben Wolkonskis Haus durchsucht?«

»Ja.«

»Haben Sie etwas gefunden?«

»Nichts Besonderes.«

Schweigen von Lockwood, dann: »Ich habe gerade den vorläufigen Bericht der Gerichtsmedizin über Wolkonski bekommen. Sieht immer mehr nach Selbstmord aus.«

»Aha.«

Ford hörte Papier rascheln.

»Ich habe außerdem die Nachforschungen anstellen lassen, um die Sie gebeten haben. Was Cecchini angeht … Die Sekte hieß Heaven’s Gate. Vielleicht erinnern Sie sich, das war diese Sekte, deren Mitglieder neunzehnhundertsiebenundneunzig Massenselbstmord verübt haben, weil sie glaubten, ihre Seelen würden von einem außerirdischen Raumschiff aufgenommen werden, das sich im Schatten des Kometen Hale-Bopp der Erde näherte? Cecchini hat sich der Sekte fünfundneunzig angeschlossen, ist aber kaum ein Jahr dabeigeblieben und vor dem Massenselbstmord ausgestiegen.«

»Gibt es Hinweise darauf, dass er immer noch daran glaubt? Der Kerl kommt mir ein bisschen vor wie ein Roboter.«

»Die Sekte existiert nicht mehr, und es gibt keine Hinweise darauf, dass er noch daran glaubt. Seitdem führt er ein ganz normales Leben – ein bisschen einsam vielleicht. Trinkt nicht, raucht nicht, offenbar keine Freundinnen, und sehr wenig Freunde. Sein Leben dreht sich nur um seinen Beruf. Der Mann ist ein brillanter Physiker – geht völlig in seiner Arbeit auf.«

»Und Chen?«

»In ihrem Dossier steht, dass ihr Vater ein einfacher Arbeiter gewesen sei, Analphabet, gestorben, bevor sie und ihre Mutter aus China emigriert sind. Das stimmt nicht. Er war Physiker und hat auf dem chinesischen Atomwaffen-Testgelände in Lop Nor gearbeitet. Und er lebt noch, allerdings in China.«

»Wie ist die falsche Information in das Dossier gelangt?«

»Aus der Akte der Einwanderungsbehörde – und durch Chens eigene Angaben.«

»Sie lügt also.«

»Nicht unbedingt. Ihre Mutter hat sie aus China weggebracht, als sie zwei Jahre alt war. Könnte sein, dass die Mutter sie belogen hat. Aber es könnte eine weitere harmlose Erklärung für diese falschen Behauptungen geben: Die Mutter hätte kein Visum für die Einreise nach Amerika bekommen, wenn sie die Wahrheit gesagt hätte. Chen weiß vielleicht gar nicht, dass ihr Vater noch lebt. Wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass sie Informationen über das Projekt weitergibt.«

»Hmm.«

»Uns läuft die Zeit davon, Wyman. Hängen Sie sich rein. Ich weiß, dass die irgendetwas verheimlichen – ich weiß es einfach.«

Lockwood legte auf.

Ford trat wieder ans Fenster und starrte auf den Nakai Rock. Nun war er einer von ihnen – er hütete das Geheimnis mit. Doch im Gegensatz zu ihnen hatte er mehr als nur ein Geheimnis.


23


Um zwanzig nach elf raste Pastor Russ Eddy in seinem zerbeulten 1989er Ford Pick-up die brandneue, asphaltierte Straße entlang, die quer über die Red Mesa führte. Der Wind, der durch die offenen Fenster hereinwehte, ließ die Seiten der King-James-Bibel auf dem Beifahrersitz flattern, und sein Puls hämmerte von einer Mischung aus Verwirrung, Wut und Angst. Der Dieb war also doch nicht Lorenzo gewesen. Trotzdem, Lorenzo war betrunken gewesen, aufsässig – und er hatte Gott, den Herrn, auf abscheuliche Weise gelästert. Eddy hatte mit seinem Tod praktisch nichts zu tun – Lorenzo hatte sich selbst gerichtet. Doch letzten Endes gehorchte alles Gottes Plan. Und Gott wusste, was Er tat.

Gottes Wege sind unergründlich.

Das sagte er sich immer wieder vor. Sein Leben lang hatte er auf seine Berufung gewartet – darauf, dass Gott ihm seine wahre Aufgabe enthüllte. Es war ein langer, beschwerlicher Weg gewesen. Gott hatte ihn so streng geprüft wie Hiob, ihm seine Frau und sein Kind durch die Scheidung genommen, ihm seine Karriere genommen, sein Geld, seine Selbstachtung.

Und nun diese Sache mit Lorenzo. Lorenzo hatte sich der Blasphemie schuldig gemacht, er hatte Gott und Jesus mit den abscheulichsten Worten geschmäht, und Gott hatte ihn vor Eddys eigenen Augen dafür mit dem Tod bestraft. Vor seinen Augen. Aber Lorenzo war nicht der Dieb gewesen: Eddy hatte ihn zu Unrecht beschuldigt. Was hatte das zu bedeuten? Wo war Gottes Wille bei alldem? Was hatte Gott mit ihm vor?

Gottes Wege sind unergründlich.

Der Pick-up hustete und ratterte den glänzenden schwarzen Asphalt entlang, nahm eine weite Kurve, fuhr zwischen Sandsteinklippen hindurch – und dort unter ihm lag eine Ansammlung von Adobe-Häusern, halb unter Pappeln verborgen. Rechts von ihm, etwa anderthalb Kilometer entfernt, befanden sich die beiden neuen Start-und Landebahnen des kleinen Flugplatzes und ein paar große Hangars. Jenseits davon, am Rand der Mesa, war der Isabella-Komplex selbst, umgeben von doppelten Reihen hoher Zäune.

Das meiste von Isabella, so viel wusste er schon, befand sich unter der Erde. Der Eingang musste in diesem eingezäunten Bereich liegen.

Himmlischer Vater, führe mich, betete er.

Eddy fuhr in das grüne Tälchen hinab. Am anderen Ende erkannte er ein altes Blockhaus – das musste der alte Handelsposten von Nakai Rock sein. Zwei Männer und eine Frau gingen gerade darauf zu. Andere warteten bereits an der Tür. Gott hatte sie hier für ihn versammelt.

Er atmete tief durch, bremste den Pick-up und parkte vor dem Gebäude. Auf einem handbemalten Schild über der Tür stand: »Nakai Rock Trading Post, 1888«.

Durch die Fliegengittertür zählte er acht Menschen im ersten Raum. Er klopfte an den hölzernen Rahmen. Niemand reagierte. Er klopfte lauter. Der Mann ganz vorn drehte sich um, und Russ fielen sofort seine Augen auf. Sie waren so blau, dass er meinte, sie hätten ihm einen elektrischen Schlag versetzt.

Hazelius. Das musste er sein.

Russ murmelte ein kurzes Gebet und trat ein.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mann.

»Mein Name ist Russ Eddy. Ich bin der Pastor der Mission unten in Blue Gap«, erklärte er hastig. Er kam sich dumm und linkisch vor.

Mit einem herzlichen Lächeln löste sich der Mann von dem Sessel, an dem er gelehnt hatte, und kam auf ihn zu. »Gregory North Hazelius«, sagte er und drückte ihm kräftig die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Russ.«

»Danke, Sir.«

»Was kann ich denn für Sie tun?«

Russ spürte Panik in sich aufsteigen. Wo waren die gewählten Worte, die er eingeübt hatte, während der Pick-up sich den Dugway hinaufquälte? Doch zum Glück fand er sie wieder. »Ich habe von dem Isabella-Projekt gehört und beschlossen, Sie hier zu besuchen, um Ihnen von meiner Mission zu erzählen und Ihnen meine volle Unterstützung in Form meines geistlichen Beistands anzubieten. Wir treffen uns jeden Sonntag um zehn Uhr, drüben in Blue Gap, etwa vierhundert Meter westlich des Wasserturms.«

»Ich danke Ihnen sehr, Russ«, sagte Hazelius mit warmer, aufrichtig klingender Stimme. »Wir werden Sie bald besuchen – und wenn Sie mögen, bekommen Sie selbstverständlich eine Führung durch Isabella. Bedauerlicherweise stecken wir jetzt gerade mitten in einer wichtigen Besprechung. Möchten Sie vielleicht nächste Woche wiederkommen?«

Die Hitze stieg Russ ins Gesicht. »Äh, nein, Sir, ich glaube nicht.« Er schluckte. »Verstehen Sie, meine Schäfchen und ich, wir machen uns Gedanken darüber, was hier oben vor sich geht. Ich bin hier, um ihnen ein paar Antworten zu bringen.«

»Ich kann Ihre Besorgnis gut verstehen, Russ, wirklich.« Mr. Hazelius warf einem Mann, der ganz in der Nähe stand, einen Blick zu – ein großer, kantiger, hässlicher Kerl. »Pastor, darf ich Ihnen Wyman Ford vorstellen, unseren Verbindungsmann zur lokalen Bevölkerung?«

Der Mann trat mit ausgestreckter Hand vor. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Pastor.«

Hazelius zog sich bereits zurück.

»Ich bin hier, um mit ihm zu sprechen, nicht mit Ihnen«, sagte Eddy, und die schrille Stimme, die er an sich so verabscheute, brach beinahe vor Anstrengung.

Hazelius wandte sich um. »Entschuldigen Sie bitte, Pastor. Wir wollen gewiss nicht unhöflich sein. Wir haben nur im Augen blick sehr viel zu tun … Könnten wir uns morgen treffen, um dieselbe Zeit?«

»Nein, Sir.«

»Bei allem Respekt, darf ich fragen, warum es so wichtig ist, das sofort zu klären?«

»Weil ich erfahren habe, dass es hier einen … einen unerwarteten Trauerfall gegeben hat, und ich denke, so etwas muss angemessen zur Sprache gebracht werden.«

Hazelius starrte ihn an. »Sie meinen den Tod von Peter Wolkonski?« Seine Stimme war sehr ruhig geworden.

»Wenn das der Mann ist, der sich das Leben genommen hat, dann meine ich den, ja, Sir.«

Der Mann namens Ford mischte sich wieder ein. »Pastor, ich bin gern bereit, diese Themen gemeinsam mit Ihnen anzupacken. Das Problem ist, dass Dr. Hazelius im Begriff ist, einen weiteren Probelauf mit Isabella zu starten, und er kann Ihnen im Moment einfach nicht so viel Zeit widmen, wie er gerne möchte. Aber ich könnte das.«

Eddy würde sich nicht zu irgendeinem PR-Lakaien abschieben lassen. »Wie gesagt, ich will mit ihm reden – nicht mit Ihnen. Ist er nicht derjenige, der von sich behauptet hat, der klügste Mensch auf der Welt zu sein? Der gesagt hat, alle anderen wären Hornochsen? Derjenige, der diese Maschine gebaut hat, um das Wort Gottes in Zweifel zu ziehen?«

Kurz herrschte Schweigen.

»Das Isabella-Projekt hat nichts mit Religion zu tun«, sagte der PR-Mann dann.»Das ist ein rein wissenschaftliches Experiment.«

Eddy spürte, wie die Wut in ihm hochkochte – gerechter, rasender Zorn auf Lorenzo, auf seine Exfrau, auf den Scheidungsrichter und sämtliche Ungerechtigkeit der Welt. So musste Jesus im Tempel empfunden haben, als er die Geldverleiher hinausgeworfen hatte.

Mit zitterndem Zeigefinger deutete er auf Hazelius.»Gott wird Sie abermals bestrafen.«

»Das reicht jetzt …«, sagte der PR-Mann mit scharfer Stimme, doch Hazelius unterbrach ihn.

»Was soll das heißen, abermals?«

»Ich habe mich über Sie informiert. Ich weiß alles über Ihre Frau, die ihren Körper für pornographische Bilder im Playboy-Magazin entblößt hat, die sich selbst zum Goldenen Kalb machte, die Unzucht getrieben hat wie die Hure von Babylon. Gott hat Sie bestraft und sie Ihnen genommen. Dennoch haben Sie Ihre Sünden nicht bereut.«

Im Raum wurde es totenstill. Nach einem Moment des Schweigens sagte der PR-Mann: »Mr. Wardlaw, bitte begleiten Sie Mr. Eddy hinaus.«

»Nein«, sagte Hazelius. »Noch nicht.« Mit einem grässlichen Lächeln, das dem Priester wie eine eiskalte Hand ans Herz griff, wandte er sich Eddy zu.»Sagen Sie, Russ, Sie sind der Pastor einer Mission hier in der Nähe?«

»So ist es.«

»Welcher Konfession gehören Sie an?«

»Wir sind ungebunden. Evangelikal.«

»Aber – was sind Sie? Protestant? Katholik? Mormone?«

»Nichts von alledem. Wir sind wiedergeborene, fundamentalistische Christen.«

»Was bedeutet das?«

»Dass wir Jesus Christus von tiefstem Herzen als unseren Herrn und Erlöser angenommen haben und wiedergeboren wurden durch das Wasser und den Geist, der einzig wahre Weg zum Heil der Erlösung. Wir glauben, dass jedes Wort der heiligen Schriften das unfehlbare Wort Gottes ist.«

»Sie glauben also, dass Protestanten und Katholiken keine echten Christen sind und Gott sie in die Hölle schicken wird – ist das so richtig?«

Eddy fühlte sich bei diesem Exkurs in das fundamental-christliche Dogma nicht ganz wohl. Aber wenn es das war, worüber der klügste Mann der Welt mit ihm reden wollte – Eddy sollte es recht sein.

»Wenn sie nicht wiedergeboren wurden, dann – ja.«

»Juden? Muslime? Buddhisten? Hindus? Die Unsicheren, die Suchenden, die Verlorenen? Alle verdammt?«

»Ja.«

»Also werden die meisten Leute auf diesem kleinen Klumpen Matsch in einer abgelegenen Ecke einer eher unbedeutenden Galaxie in die Hölle kommen – bis auf Sie und ein paar Ihrer Gesinnungsgenossen?«

»Sie müssen verstehen …«

»Deshalb stelle ich Ihnen ja diese Fragen, Russ – um zu verstehen. Ich wiederhole: Glauben Sie, dass Gott den Großteil der Menschen auf dieser Welt in die Hölle schicken wird?«

»Ja, das glaube ich.«

»Wissen Sie das mit Bestimmtheit?«

»Ja. Die Heilige Schrift bestätigt das mehrmals. Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.«

Hazelius wandte sich der Gruppe zu.»Meine Damen und Herren, ich präsentiere Ihnen ein Insekt – nein, ein Bakterium –, das sich anmaßt, Gottes Willen zu kennen.«

Eddys Wangen brannten. Sein Verstand überschlug sich vor Anstrengung, eine passende Erwiderung zu finden.

Der hässliche Mann namens Ford sagte zu Hazelius:»Gregory, bitte, machen Sie es nicht noch schlimmer.«

»Ich stelle nur ein paar Fragen, Wyman.«

»Sie erschaffen eher ein Problem.« Der Mann wandte sich wieder einem uniformierten Wächter zu.»Mr. Wardlaw? Ich bitte Sie noch einmal, Mr. Eddy nach draußen zu begleiten.«

Der Wachmann sagte gelassen:»Dr. Hazelius ist hier der Leiter, Befehle nehme ich nur von ihm entgegen.« Er drehte sich um.»Sir?«

Hazelius sagte nichts.

Eddy war mit der kleinen Rede, die er sich auf der Fahrt hier herauf zurechtgelegt hatte, noch nicht fertig. Er hatte seinen Zorn gezügelt und sprach nun mit eiskalter Gewissheit, wobei er direkt in diese leuchtend blauen Augen blickte.»Sie halten sich für den klügsten Mann der Welt. Aber wie schlau sind Sie wirklich? Sie sind so klug, dass Sie glauben, die Welt sei durch eine Art Unfall entstanden, eine Explosion, den sogenannten Urknall, und dass alle Atome sich rein zufällig zusammengefunden hätten, um Leben hervorzubringen, ohne jede Hilfe von Gott. Wie klug soll das eigentlich sein? Ich sage Ihnen, wie klug das ist: so klug, dass es Sie schnurstracks in die Hölle bringen wird. Sie sind ein Teil des Feldzugs gegen den Glauben, Sie und Ihre gottlosen Theorien. Ihr Spinner wollt die christliche Gemeinschaft aufgeben, unsere Nation, die unsere Gründungsväter aufgebaut haben, um das Land in einen Tempel des säkularen Humanismus zu verwandeln, eine Kultur des Wohlgefühls und Müßiggangs, in der alles erlaubt ist – Homosexualität, Abtreibung, Drogen, vorehelicher Sex, Pornographie. Aber jetzt erntet ihr, was ihr gesät habt. Es hat bereits einen Selbstmord gegeben. Das ist es, wohin Blasphemie und Gotteshass führen. Selbstmord. Und Gott wird Seinen himmlischen Zorn abermals über Sie kommen lassen, Hazelius. Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«

Eddy verstummte keuchend. Der Wissenschaftler sah ihn mit einem seltsamen Blick an, und seine Augen glitzerten wie gefrorener Stahl.

Mit merkwürdig erstickter Stimme sagte Hazelius:»Es wird jetzt Zeit, dass Sie gehen.«

Eddy erwiderte nichts. Der bullige Wachmann trat vor.»Komm mit, hier lang, Kumpel.«

»Das ist nicht notwendig, Tony. Unser lieber Russ hat seine kleine Rede vorgetragen. Er weiß, dass es jetzt Zeit ist, zu gehen.«

Der Wachmann trat trotzdem einen weiteren Schritt auf ihn zu.

»Nur keine Sorge«, sagte Eddy hastig.»Ich kann es kaum erwarten, diesen gottlosen Ort zu verlassen.«

Als sich die Fliegengittertür hinter ihm schloss, hörte Eddy die ruhige Stimme sagen:»Das Bakterium reckt sein Flagellum, um zu verschwinden.«

Er drehte sich um, presste das Gesicht an das Fliegengitter und rief:»Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Johannes acht, Vers zweiunddreißig.«

Er wirbelte herum und ging steifbeinig zu seinem Pick-up; seine linke Gesichtshälfte zuckte vor Demütigung und grenzenloser, ungeheuerlicher Wut.


24


Ford sah der mageren Gestalt des Pastors nach, die sich über den Parkplatz in Richtung einer Schrottkarre von Pick-up entfernte. Wenn ein solcher Mann Anhänger gewann, konnte er dem Isabella-Projekt großen Schaden zufügen. Er fand es äußerst bedauerlich, dass Hazelius den Mann provoziert hatte, und er hatte das Gefühl, dass diese Angelegenheit noch nicht erledigt war – noch lange nicht.

Als er sich wieder umdrehte, sah Hazelius auf die Uhr, als sei nichts geschehen.

»Wir sind spät dran«, sagte der Wissenschaftler forsch und nahm seinen weißen Laborkittel vom Haken. Er blickte sich um.»Gehen wir.« Sein Blick fiel auf Ford.»Ich fürchte, Sie werden die nächsten zwölf Stunden allein verbringen müssen.«

»Also, eigentlich«, sagte Ford,»würde ich Isabella gern mal in Aktion erleben.«

Hazelius zog seinen Kittel an und griff nach seinem Aktenkoffer.»Bedaure, Wyman, das wird nicht möglich sein. Wenn wir zu einem Durchlauf unten im Bunker sind, hat jeder seine oder ihre feste, streng geregelte Aufgabe, und wir haben wenig Platz. Da kann keine zusätzliche Person einfach herumstehen. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis.«

»Ich bedaure das auch, Gregory, denn ich finde, um meine Aufgabe hier zu erfüllen, muss ich zumindest bei einem Durchlauf mal dabei gewesen sein.«

»Also schön, aber ich fürchte, bei diesem bestimmten Testlauf geht es leider nicht. Wir haben Schwierigkeiten, wir stehen alle unter Stress, und solange wir diese technischen Probleme nicht gelöst haben, können wir wirklich keine überflüssigen Leute auf der Brücke gebrauchen.«

Ford sagte ruhig:»Ich fürchte, ich muss darauf bestehen.«

Hazelius zögerte. Ein unangenehmes Schweigen machte sich breit.»Warum müssen Sie einen Durchlauf mit ansehen, um hier Ihren Job zu machen?«

»Ich wurde eingestellt, um der hiesigen Bevölkerung zu versichern, dass Isabella nicht gefährlich ist. Ich werde niemandem irgendetwas versichern, ehe ich mich nicht selbst vergewissert habe.«

»Haben Sie tatsächlich Zweifel an Isabellas Sicherheit?«

»Ich werde jedenfalls niemandem einfach aufs Wort glauben, was ich nicht selbst gesehen habe.«

Hazelius schüttelte langsam den Kopf.

»Ich muss den Navajos glaubhaft versichern können, dass ich Zugang zu jedem Aspekt des Projekts habe und dass mir wirklich nichts verheimlicht wird.«

»Als zuständiger Sicherheitsoffizier«, mischte sich Wardlaw plötzlich ein,»möchte ich Mr. Ford davon in Kenntnis setzen, dass ihm aus Sicherheitsgründen der Zutritt zum Bunker verwehrt ist. Ende der Diskussion.«

Ford wandte sich Wardlaw zu.»Das ist wirklich keine Art, unsere Zusammenarbeit hier zu gestalten, Mr. Wardlaw.«

Hazelius schüttelte erneut den Kopf.»Wyman, ich verstehe ja, was Sie meinen. Wirklich. Das Problem ist nur …«

Kate Mercer unterbrach ihn.»Falls du dir Sorgen machst, er könnte von der Malware im System erfahren, kannst du dir die Mühe sparen. Er weiß schon davon.«

Alle starrten sie an. In schockiertem Schweigen stand die Gruppe da.

»Ich habe ihm alles gesagt«, erklärte Mercer.»Ich fand, er sollte Bescheid wissen.«

»Na toll«, sagte Corcoran und verdrehte die Augen zur Decke.

Kate fuhr zu ihr herum.»Er ist ein Mitglied dieses Teams. Er hat ein Recht darauf, Bescheid zu wissen. Ich kann mich hundertprozentig für ihn verbürgen. Er wird unser Geheimnis niemandem verraten.«

Corcoran errötete.»Ich denke, wir können alle zwischen den Zeilen dieser kleinen Ansprache lesen.«

»Es ist nicht so, wie du denkst«, gab Mercer kalt zurück.

Corcoran lächelte hämisch.»Was denke ich denn?«

Hazelius räusperte sich.»So, so.« Er wandte sich Ford zu und legte ihm, nicht unfreundlich, eine Hand auf die Schulter.»Kate hat Ihnen also alles erklärt.«

»Das hat sie.«

Er nickte.»Schön …« Er schien zu überlegen. Dann drehte er sich um und lächelte Kate an.»Ich respektiere deine Entscheidung. In diesem Fall werde ich deiner Menschenkenntnis vertrauen.« Dann wandte er sich wieder Ford zu.»Ich weiß, dass Sie ein ehrenhafter Mann sind. Willkommen in der Truppe – und diesmal wirklich. Sie haben jetzt Anteil an unserem kleinen Geheimnis.« Der Blick seiner blauen Augen war beunruhigend, durchdringend.

Ford versuchte, die Röte zurückzuhalten, die ihm ins Gesicht steigen wollte. Er warf Kate einen Blick zu und war erstaunt über ihren Gesichtsausdruck – was war das, Hoffnung? Erwartung? Sie schien nicht wütend auf ihn zu sein, weil er Hazelius so bedrängt hatte.

»Wir sprechen später darüber, Wyman.« Hazelius ließ die Hand von Fords Schulter gleiten und sagte zu Wardlaw:»Tony, es sieht ganz danach aus, als würde Mr. Ford nun doch beim nächsten Testlauf dabei sein.«

Der Sicherheitschef antwortete nicht. Seine Miene blieb vollkommen stoisch und ausdruckslos, und er starrte stur geradeaus.

»Tony?«

»Ja, Sir«, kam die gequält klingende Antwort. »Ich habe verstanden, Sir.«

Ford blickte Wardlaw fest ins Gesicht, als er an ihm vorbeiging. Der Mann erwiderte den Blick mit kalten, leeren Augen.


25


Ken Dolby sah zu, wie die riesige Titantür des Bunkers herabsank und sich mit einem dumpfen, hohlen Schlag verriegelte. Ein feuchter Luftzug glitt über sein Gesicht, er roch nach Höhlen, nassem Stein, warmer Elektronik, Motoröl und Kohlenstaub. Ken atmete tief ein. Das war ein berauschender, üppiger Duft – der Duft von Isabella.

Die Wissenschaftler gingen auf ihrem Weg zur Brücke einzeln an ihm vorbei. Als Hazelius kam, hielt Dolby ihn auf.

»Ich habe ein rotes Lämpchen am Magneten hundertvier«, sagte er.»Eine Warnung der Rauschsperre. Nichts Ernstes. Ich werde das gleich überprüfen.«

»Wie lange wird das dauern?«, fragte Hazelius.

»Weniger als eine Stunde.«

Hazelius tätschelte ihm freundlich den Rücken.»Tun Sie das, Ken, und erstatten Sie mir Bericht. Ich werde Isabella nicht einschalten, ehe wir von Ihnen gehört haben.«

Dolby nickte. Er blieb in der großen Höhle stehen, während die anderen in der Brücke verschwanden. Die Tür schloss sich mit einem metallischen Kleng, das durch den riesigen Hohlraum hallte.

Allmählich wurde es wieder still. Dolby sog einmal mehr die duftende Luft ein. Er hatte das Design-Team geleitet, das Isabella entworfen hatte – ein Dutzend hochqualifizierter Ingenieure von diversen Universitäten und fast hundert gewerbliche Designer, die jeweils ein spezifisches Subsystem entwarfen, und ebenso den Supercomputer. Und obwohl so viele Einzelpersonen beteiligt gewesen waren, hatte er alle Fäden fest in der Hand gehalten und war an allem selbst beteiligt gewesen. Er kannte jeden Quadratzentimeter von Isabella, jede ihrer Launen und Marotten, jede Kurve und jede Nische. Isabella war sein Geschöpf – seine Maschine.

Die ovale Öffnung zu Isabellas Tunnel, die aussah, als hätte jemand links und rechts etwas von einem Donut abgeschnitten, schimmerte in sanftem, bläulichem Licht. Kondenswasser schlängelte sich in sinnlichen Bahnen aus dem Portal, wandte sich hierhin und dorthin und verdampfte schließlich. Im Tunnel, jenseits der Öffnung, konnte Dolby gerade noch die massive, blaugraue Abschirmung aus abgereichertem Uran erkennen – und dahinter lag der K-Null-Bereich, Isabellas schlagendes Herz.

K-Null. Koordinate null. Der winzige Raum, im Durchmesser nicht größer als ein Stecknadelkopf, wo die Strahlen aus Materie und Antimaterie bei Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallten, um sich gegenseitig in einer Explosion reiner Energie auszulöschen. Wenn Isabella mit hundert Prozent Leistung lief, war dies die heißeste, hellste Stelle im gesamten Universum – eine Billion Grad Fahrenheit. Außer, dachte Dolby lächelnd, es gab da draußen eine Rasse intelligenter Lebewe sen, die einen noch größeren Teilchenbeschleuniger gebaut hatten.

Er glaubte das eher nicht.

Die meiste Energie der Materie-Antimaterie-Explosion wurde laut Einsteins berühmter Formel E = mc2 augenblicklich wieder in Masse umgewandelt, eine unglaubliche Streuung exotischer, subatomarer Teilchen, von denen einige zuletzt bei der Erschaffung des Universums durch den Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren zu sehen gewesen waren.

Er schloss die Augen und stellte sich vor, eines der Protonen zu sein, die im Ring kreisten, immer rundherum, und von den Supermagneten auf 99,999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wurden. Er umkreiste den 75 Kilometer langen Ring viertausendmal pro Sekunde, rundherum, rundherum. Er sah sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit den kreisrunden Tunnel entlangrasen, jeder Magnet verlieh ihm ein wenig mehr Geschwindigkeit, über drei Millionen solche Antriebe pro Sekunde, schneller, immer schneller … eine aufregende Vorstellung. Und nur anderthalb Zentimeter von ihm entfernt in dieser Röhre kreiste der Antiprotonenstrahl in die entgegengesetzte Richtung, sauste mit derselben unfassbaren Geschwindigkeit an ihm vorbei.

Er stellte sich vor, wie er im Kreis herumraste, immer rundherum – und dann kam der Augenblick des Zusammentreffens. Sein Teilchenstrahl wurde auf die Bahn des entgegenkommenden Strahls gezwungen. In eine frontale Kollision bei K-Null. Materie, die mit Lichtgeschwindigkeit auf Antimaterie stieß. Er flog mit seinem Teilchen dort hinein und spürte die Kollision – die reine, absolute, erregende Vernichtung. Er fühlte seine Wiedergeburt, als Streuung seltsamer neuer Teilchen, die in alle Richtungen davonspritzten und in die vielen Schichten der Detektoren prallten, deren Aufgabe es war, jedes Partikel zu registrieren, zu zählen und zu untersuchen.

Zehn Billionen Partikel pro Sekunde.


Dolby öffnete die Augen, erwachte aus seinem Tagtraum und kam sich ein wenig albern vor. Er untersuchte seine Taschen auf Münzen oder andere ferromagnetische Gegenstände und ging durch den großen, offenen Raum zu der Reihe elektrisch betriebener Golfwagen. Isabellas supraleitende Magneten waren tausendmal stärker als die, die etwa in medizinischen Geräten wie Magnetresonanztomographen steckten. Sie konnten einem ein Zehn-Cent-Stück mitten durch den Körper ziehen oder einem mit der eigenen Gürtelschnalle die Eingeweide herausreißen.

Isabella war gefährlich und forderte entsprechenden Respekt.

Er stieg hinter das Lenkrad, drückte auf einen Knopf, betätigte die Kupplung und legte sacht den ersten Gang ein.

Er hatte dieses Gefährt selbst entworfen, und das war mal ein hübsches kleines Wägelchen. Es fuhr zwar nicht schneller als 40 Kilometer pro Stunde, hatte aber fast so viel gekostet wie ein Ferrari Testarossa, vor allem deshalb, weil es vollständig aus nichtmagnetischen Materialien bestehen musste – Kunststoffe, Keramik und sehr schwachen diamagnetischen Metallen. Es war mit einem Kommunikationssystem ausgestattet, einem eingebauten Computer, Radarsensoren und Warnreglern vorn, seitlich und hinten, mit Strahlungssensoren, ferromagnetischem Alarm und einer besonderen, vibrationsarmen Kassette, in der empfindlichste wissenschaftliche Instrumente befördert werden konnten.

Er rollte über den Zementboden und durch die ovale Öffnung in Isabellas Tunnel. Die Kurve war eng, und er hielt den Wagen an.

»Hallo, Isabella.«

Langsam lenkte er den Wagen auf die Betonspur, die im Tunnel entlanglief, neben dem leicht gebogenen Bündel Rohre. Sobald er diese Betonbahn erreicht hatte, beschleunigte er, denn nun wurden die Räder in Rillen geführt. Eine Doppelreihe Leuchtstoffröhren an der Decke tauchte alles in ein grünlich blaues Licht. Während er den Tunnel entlangsauste, betrachtete er die dickste Röhre, eine Konstruktion aus einer schimmernden 7000er-Aluminium-Legierung, alle hundertachtzig Zentimeter geflanscht und mit dicken Bolzen verschraubt. Darin befand sich ein Vakuum, noch stärker als das auf der Mondoberfläche. Es musste absolut dicht sein: Ein einziges Atom, das in K-Null abdriftete, hätte denselben Effekt wie ein verirrtes Pferd, das plötzlich auf der Rennbahn in Daytona seitlich in das Feld sprengte. Chaos und Zerstörung.

Er beschleunigte auf Höchstgeschwindigkeit. Die Gummiräder flüsterten in ihren Spuren. Alle neunzig Meter kam er an einem Magneten vorbei, der wie ein großer Donut um die Röhre gewickelt war. Jeder Magnet, gekühlt auf viereinhalb Grad über dem absoluten Nullpunkt, gab einen feinen Nebel aus Kondensationsflüssigkeit ab. Dolby sauste durch die Wolken, die in kleine Wirbel zerstoben, und die Röhre raste an ihm vorbei.

In regelmäßigen Abständen kam er an einer Tür in der linken Tunnelwand vorbei, Öffnungen zu den alten Kohlenschächten. Notausgänge, falls einmal etwas passieren sollte. Aber es würde nichts passieren. Dies hier war seine Isabella.

Magnet Nummer 140 lag fast dreizehn Kilometer weit im Inneren des Tunnels … eine Fahrt von zwanzig Minuten. Es war nichts Ernstes. Dolby war beinahe froh über den kleinen Fehler – er genoss diese Zeit, allein mit seiner Maschine.

»Nicht übel«, sagte er laut,»für den Sohn eines kleinen Mechanikers aus Watts, was meinst du, Isabella?«

Er dachte an seinen Vater, der jeden Automotor auf Erden reparieren oder neu aufbauen konnte. Verdiente damit nie mehr, als dass es gerade so zum Leben reichte – es war beinahe ein Verbrechen, dass ein so guter Mechaniker nie eine echte Chance bekommen hatte. Dolby war entschlossen, das wettzumachen – und das gelang ihm auch. Als Dolby sieben war, schenkte sein Vater ihm einen Radio-Bausatz. Es erschien ihm wie ein Wunder, dass man einen Haufen Plastik-und Metallteilchen zusammenschraubte und -lötete und dann tatsächlich etwas vor sich hatte, aus dem eine Stimme kam. Mit zehn Jahren hatte Dolby seinen ersten Computer selbst gebaut. Dann konstruierte er ein Teleskop, baute noch ein paar CCD-Sensoren ein, schloss es an den Computer an und begann, Asteroiden zu beobachten. Er baute einen Teilchenbeschleuniger auf seinem Schreibtisch, mit einer alten Elektronenkanone aus einem Fernseher. Damit gelang ihm etwas, wovon jeder Alchemist träumte, etwas, das nicht einmal Isaac Newton geschafft hatte: Er hatte ein Stück Bleifolie mit Elektronen beschossen und dabei ein paar hundert Atome in Gold verwandelt. Sein armer Vater, Gott sei seiner gütigen Seele gnädig, hatte jeden Dollar, den er von seinem mageren Lohn entbehren konnte, in Bausätze, Ausrüstung und Material für seinen Sohn investiert. Ken Dolbys Traum war es, die größte, glänzendste, teuerste Maschine aller Zeiten zu bauen.

Und nun hatte er es geschafft.

Seine Maschine war perfekt, auch wenn sich irgendein Mistkerl in die Computersoftware hineingehackt hatte.

Magnet Nummer 140 kam in Sicht, er bremste heftig ab und hielt an. Er holte einen speziellen Laptop aus der Instrumentenkassette und schloss ihn an einem Steckplatz an der Seite des Magneten an. Dann hockte er sich auf die Fersen, arbeitete am Laptop und sprach dabei mit sich selbst. Er schraubte eine Metallplatte aus der Verkleidung des Magneten und schloss ein Gerät mit zwei Leitungen, eine rot, eine schwarz, an Steckplätze im Magneten an.

Er sah auf den Computerbildschirm, und seine Miene verfinsterte sich.»Na, du verfluchtes Miststück.« Die Kryopumpe, ein wichtiger Teil des Isoliersystems, war fast im Eimer. »Da bin ich ja froh, dass ich dich gleich erwischt habe.«

Schweigend packte er seine Instrumente wieder ein, schob den Laptop in seine Neoprenhülle und setzte sich hinters Lenkrad. Er nahm ein Funkgerät vom Armaturenbrett und drückte auf einen Knopf.

»Dolby an Brücke.«

»Wardlaw hier«, drang eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher.

»Ich muss mit Gregory sprechen.«

Gleich darauf meldete sich Hazelius.

»Sie können Isabella starten.«

»Der Überhitzungsalarm am Kontrollpult ist noch rot.«

Schweigen.»Sie wissen, dass ich meine Maschine niemals aufs Spiel setzen würde, Gregory.«

»Schön. Dann fahre ich sie jetzt hoch.«

»Wir müssen hier eine neue Kryopumpe einbauen, aber wir haben noch reichlich Zeit. Die hält noch mindestens zwei Durchläufe.«

Dolby verabschiedete sich, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und legte die Füße aufs Armaturenbrett. Zunächst kam es ihm vollkommen still vor, doch dann hörte Dolby allmählich leise Geräusche heraus – das Flüstern der Belüftung, das Summen der Kryopumpen, das Zischen von flüssigem Stickstoff in den äußeren Umhüllungen, das leise Stöhnen des Golfwagen-Motors, der weiter abkühlte, und das Ächzen und Knarren des Berges selbst.

Dolby schloss die Augen und wartete, bis er ein neues Geräusch hörte. Es klang wie sehr leiser Bassgesang, ein sattes, tiefes Summen.

Isabella war eingeschaltet worden.

Ein unbeschreiblicher Schauer des Staunens lief ihm über den Rücken, eine Art ehrfürchtiger Unglauben im Angesicht der Tatsache, dass er eine Maschine geschaffen hatte, die einen Blick in den Augenblick der Erschaffung des Universums werfen konnte – eine Maschine, die den Augenblick der Schöpfung tatsächlich nachschuf.

Eine Gott-Maschine.

Isabella.


26


Ford trank den bitteren Rest seines Kaffees aus und sah auf die Uhr: fast Mitternacht. Der Testlauf war unglaublich langweilig, das endlose Einstellen, Neujustieren und Herumspielen dauerte Stunde um Stunde. Während er alle bei der Arbeit beobachtete, fragte er sich: War einer von ihnen der Saboteur?

Hazelius kam herübergeschlendert.»Wir lassen die beiden Strahlen gleich kollidieren. Achten Sie auf den Visualizer – dieser große Bildschirm hier vorne.«

Der Physiker murmelte einen Befehl, und gleich darauf erschien ein heller Lichtpunkt in der Mitte des Monitors, gefolgt von flackernden Farben, die nach außen abstrahlten.

Ford wies mit einem Nicken auf den Bildschirm.»Was bedeuten diese Farben?«

»Der Computer setzt die Teilchenkollisionen bei K-Null in Bilder um. Jede Farbe steht für eine Art von Teilchen, die Streifen für Energieniveaus, und die strahlenförmigen Gebilde sind die Flugbahnen der Teilchen beim Verlassen von K-Null. So können wir auf einen Blick erkennen, was da drin vorgeht, ohne einen Haufen Zahlen auf einmal lesen zu müssen.«

»Genial.«

»Das war Wolkonskis Idee.« Hazelius schüttelte traurig den Kopf.

Ken Dolbys Stimme verkündete:»Neunzig Prozent Leistung.«

Hazelius hielt seinen leeren Kaffeebecher hoch.»Für Sie auch noch einen?«

Ford verzog das Gesicht.»Warum stellen Sie nicht eine anständige Espressomaschine hier rein?«

Hazelius machte sich mit leisem Kichern auf zu seinem Kaffee. Alle anderen schwiegen, auf ihre diversen Aufgaben konzentriert, bis auf Innes, der nichts zu tun hatte und nur auf und ab spazierte, und Edelstein, der in einer Ecke saß und Finnegans Wake las. Die Schachteln der Tiefkühlpizzen, die sie zum Abendessen aufgewärmt hatten, quollen aus der Mülltonne an der Tür. Kaffeeringe zierten viele der weißen Oberflächen. Die Flasche Veuve Clicquot lag immer noch an der Wand.

Ford hatte zwölf lange Stunden hinter sich – ewige Phasen erdrückender Langeweile, durchsetzt mit kurzen Ausbrüchen hektischer Geschäftigkeit, gefolgt von weiterer Langeweile.

»Strahl sieht gut aus, Schwerpunktsenergie vierzehn Komma neun TeV«, sagte Rae Chen, die sich so tief über ihre Tastatur beugte, dass ihr glänzendes schwarzes Haar wie ein verwehter Vorhang darüber wegglitt.

Ford spazierte auf dem erhöhten Teil der Brücke herum. Als er an Wardlaw vorbeikam, der an seinem eigenen Überwachungs pult saß, fing er sich einen feindseligen Blick ein, den er mit einem kühlen Lächeln erwiderte. Der Mann belauerte ihn.

Er hörte Hazelius’ ruhige Stimme:»Jetzt auf fünfundneunzig, Rae.«

Das leise Klackern einer Computertastatur war in der Stille des Raums deutlich zu hören.

»Strahl konstant«, sagte Chen.

»Harlan? Was macht die Energie?«

St. Vincents Koboldgesicht erschien über dem Rand seines Monitors.»Kommt rein wie die Flut: stark und beständig.«

»Michael?«

»So weit, so gut. Keine Anomalien.«

Der gemurmelte Katechismus setzte sich fort; Hazelius fragte der Reihe nach die Statusberichte ab, bekam von jedem eine kurze Antwort, und dann fing das Ganze wieder von vorn an. So ging das schon seit Stunden, doch jetzt spürte Ford, wie sich gespannte Erwartung breitmachte.

»Fünfundneunzig Prozent Leistung«, sagte Dolby.

»Strahl konstant. Kollimiert.«

»Schwerpunktsenergie siebzehn TeV.«

»Alles klar, Leute, jetzt betreten wir unerforschtes Gebiet«, sagte Chen, die Hände an einer Reihe von Reglern.

»Wir sind am Rand der Seekarte angekommen – da, wo die Ungeheuer eingezeichnet sind«, verkündete Hazelius.

Der Bildschirm füllte sich mit Farben wie eine ewig blühende Blume. Ford fand das Bild absolut fesselnd. Dennoch warf er einen Blick zu Kate hinüber. Sie arbeitete schon die ganze Zeit über still an einem Power Mac, der ans Netzwerk angeschlossen war, mit einem Programm, das er als Wolfram Mathematica erkannte. Auf dem Bildschirm war ein kompliziertes, verschachteltes Objekt zu sehen. Er trat zu ihr und blickte ihr über die Schulter.

»Störe ich dich?«

Sie seufzte und drehte sich um.»Eigentlich nicht. Ich wollte jetzt sowieso Schluss machen und mir den Testlauf zu Ende anschauen.«

»Was ist das?« Mit einem Nicken wies er auf den Bildschirm.

»Ein elfdimensionaler Kaluza-Klein-Raum. Ich habe ein paar Berechnungen zu Schwarzen Mini-Löchern angestellt.«

»Ich habe gehört, dass Isabella unter anderem erforschen soll, ob es möglich ist, mit Hilfe Schwarzer Mini-Löcher Energie zu gewinnen.«

»Ja. Das ist ein Teil unseres Projekts – sofern wir Isabella jemals richtig werden nutzen können.«

»Wie würde das funktionieren?«

Er sah, wie sie sich nervös nach Hazelius umschaute. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment.

»Na ja, es hat sich herausgestellt, dass Isabella genug Energie entwickeln könnte, um Schwarze Mini-Löcher zu erschaffen. Stephen Hawking hat aufgezeigt, dass Schwarze Mini-Löcher nach ein paar Billionstelsekunden verpuffen und dabei Energie frei wird.«

»Du meinst, sie explodieren.«

»Genau. Die Idee ist nun, dass wir diese Energie vielleicht einfangen und nützen könnten.«

»Es wäre also möglich, dass Isabella ein Schwarzes Loch erzeugt, das dann explodiert?«

Kate winkte ab.»Nein, so kann man das nicht sagen. Die Schwarzen Löcher, die Isabella erschaffen könnte – falls das überhaupt gelingt –, wären so klein, dass sie in einer Billionstelsekunde wieder verpuffen und dabei viel weniger Energie freisetzen würden als zum Beispiel eine platzende Seifenblase.«

»Aber die Explosion könnte auch größer ausfallen?«

»Äußerst unwahrscheinlich. Ich nehme an, es wäre möglich, dass das Schwarze Mini-Loch, wenn es sich, sagen wir mal, ein paar Sekunden hält, mehr Masse gewinnt und … dann explodiert.«

»Wie groß wäre diese Explosion?«

»Schwer zu sagen. Vermutlich etwa so wie eine kleine Atombombe.«

Corcoran glitt zu ihnen herüber und machte sich an Ford heran.»Aber das ist noch nicht mal das schlimmste Szenario«, sagte sie.

»Melissa.«

Sie musterte Kate mit hochgezogenen Brauen und aufgesetzter Unschuldsmiene.»Ich dachte, wir sollten Wyman nichts mehr verheimlichen.«

Sie wandte sich wieder Ford zu.»Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass Isabella ein Schwarzes Mini-Loch erschafft, das vollständig stabil bleibt. In diesem Fall würde es bis zum Mittelpunkt der Erde hinabsinken, es sich dort gemütlich machen und immer mehr Materie verschlingen, bis … puff! Tschüs, Planet Erde.«

»Besteht denn die Gefahr, dass das passiert?«, fragte Ford.

»Nein«, erklärte Kate gereizt.»Melissa will dich nur aufziehen.«

»Siebenundneunzig Prozent«, meldete Dolby.

»Schwerpunktsenergie siebzehn Komma neun zwei TeV.«

Ford senkte die Stimme.»Kate … Findest du nicht, dass auch nur die geringste Möglichkeit schon zu viel ist? Wir reden hier immerhin von der Zerstörung der Erde.«

»Wegen solcher weit hergeholter Möglichkeiten kann man doch nicht die ganze Wissenschaft auf Eis legen.«

»Ist dir das denn völlig gleichgültig?«

Kate brauste auf:»Verdammt, Wyman, natürlich ist mir das nicht gleichgültig. Ich lebe auch auf diesem Planeten. Glaubst du, den würde ich aufs Spiel setzen?«

»Wenn die Wahrscheinlichkeit für ein solches Ereignis nicht genau null ist, dann setzt du ihn aufs Spiel.«

»Die Wahrscheinlichkeit ist null.« Sie wirbelte auf ihrem Drehstuhl herum und wandte ihm brüsk den Rücken zu.

Ford richtete sich auf und bemerkte, dass Hazelius ihn noch immer beobachtete. Der Physiker erhob sich aus seinem Sessel und kam mit einem lockeren Lächeln auf den Lippen zu ihm herüber.

»Wyman? Ich kann Sie mit einer einfachen Tatsache beruhigen: Wenn Schwarze Mini-Löcher stabil wären, müssten wir sie überall sehen, als Überbleibsel des Urknalls. Ja, es gäbe dann so viele von ihnen, dass sie inzwischen längst alles verschluckt hätten. Die Tatsache, dass wir existieren, ist also der Beweis dafür, dass Schwarze Mini-Löcher instabil sind.«

Corcoran, die wieder an ihrem Platz saß, grinste hämisch, offenbar erfreut, dass ihre Worte eine solche Wirkung gezeitigt hatten.

»Irgendwie bin ich immer noch nicht ganz beruhigt.«

Hazelius legte ihm eine Hand auf die Schulter.»Es ist unmöglich, dass Isabella ein Schwarzes Loch erschafft, welches die Erde zerstören könnte. Das kann nicht geschehen.«

»Energie stabil«, sagte St. Vincent.

»Strahl kollimiert. Schwerpunktsenergie achtzehn Komma zwei TeV.«

Das Gemurmel im Raum war immer lauter geworden. Nun hörte Ford ein neues Geräusch – einen leisen, fernen Gesang.

»Hören Sie das?«, fragte Hazelius.»Dieses Geräusch wird von Billionen von Teilchen erzeugt, die in Isabellas Ring herumrasen. Wir wissen nicht genau, warum dabei überhaupt ein Geräusch entsteht – die Strahlen bewegen sich in einem Vakuum. Aber irgendwie lösen sie eine Vibration aus, die als Resonanz von den starken Magnetfeldern übertragen wird.«

Die Anspannung auf der Brücke war nun beinahe greifbar.

»Ken, erhöhen Sie auf neunundneunzig, und halten Sie sie dann da«, sagte Hazelius.

»Alles klar.«

»Rae?«

»Schwerpunktsenergie knapp über neunzehn TeV, steigend.«

»Harlan?«

»Alles bestens.«

»Michael?«

»Keine Anomalien.«

Wardlaw sprach aus seiner Sicherheitskabine am anderen Ende des Raums. Seine Stimme klang in der gespannten Stille sehr laut.»Ich habe einen Eindringling.«

»Was?« Hazelius richtete sich verdutzt auf.»Wo?«

»Oben am Sicherheitszaun, in der Nähe des Fahrstuhls. Ich gehe mal näher ran.«

Hazelius eilte hinüber, und Ford gesellte sich dazu. Ein grünliches Bild des Zauns erschien auf einem von Wardlaws Bildschirmen, aus der Perspektive der Kamera, die an einem Mast hoch über dem Fahrstuhl angebracht war. Sie sahen einen Mann, der rastlos am Zaun auf und ab ging.

»Können Sie noch näher rangehen?«

Wardlaw betätigte einen Schalter, und sie bekamen ein neues Bild, auf Höhe des Zauns von einer anderen Kamera aufgenommen.

»Das ist dieser Prediger!«, sagte Hazelius.

Die Gestalt von Russ Eddy, mager wie eine Vogelscheuche, blieb nun stehen, krallte die Finger in den Maschendraht und spähte mit argwöhnisch gerunzelter Stirn durch den Zaun. Hinter ihm tauchte der Mond die kahle Mesa in einen grünlichen Schimmer.

»Ich kümmere mich darum«, sagte Wardlaw und erhob sich.

»Sie werden nichts dergleichen tun«, sagte Hazelius.

»Er begeht Hausfriedensbruch.«

»Lassen Sie ihn. Er ist harmlos. Wenn er versucht, über den Zaun zu klettern, brüllen Sie ihn über die Lautsprecher an und sagen ihm, er solle verschwinden.«

»Ja, Sir.«

Hazelius drehte sich um.»Ken?«

»Ich halte sie auf neunundneunzig.«

»Was macht der Supercomputer, Rae?«

»So weit alles in Ordnung. Hält mit dem Teilchenstrom mit.«

»Ken, um ein Zehntel erhöhen.«

Die Blume auf dem großen Monitor flammte auf, flackerte, breitete sich aus und spielte alle Farben des Regenbogens durch. Ford starrte auf den Visualizer, gebannt von diesem Bild.

»Ich sehe jetzt das tiefste Ende dieser Resonanz«, meldete Michael Cecchini.»Sie ist stark.«

»Noch ein Zehntel rauf«, wies Hazelius an.

Die zuckende Blume auf dem Bildschirm wurde noch leuchtender, und zwei schwache, schimmernde Kreise erschienen zu beiden Seiten der Mitte, sie schossen immer wieder nach außerhalb wie eine grapschende Hand.

»Alle Energiesysteme in Ordnung«, meldete St. Vincent.

»Ein Zehntel rauf«, sagte Hazelius.

Chen machte sich an ihrer Tastatur zu schaffen.»Jetzt sehe ich etwas – eine extreme Raum-Zeit-Krümmung bei K-Null.«

»Ein Zehntel rauf.« Hazelius’ Stimme klang ruhig und fest.

»Da ist es!«, rief Chen, und ihre Stimme hallte durch die Brücke.

»Siehst du?«, sagte Kate zu Ford.»Dieser schwarze Punkt da, genau bei K-Null. Es ist, als würden die gestreuten Teilchen kurz verschwinden und dann wieder in unser Universum eintreten.«

»Zweiundzwanzig Komma fünf TeV.« Sogar die lockere Chen klang nun angespannt.

»Alles in Ordnung, bin bei neunundneunzig Komma vier.«

»Ein Zehntel rauf.«

Die Blume wand und verzerrte sich und schien Schleier und Spritzer aus Farbe um sich zu werfen. Das dunkle Loch in der Mitte breitete sich aus, die Ränder flackerten. Und plötzlich stürzte sich die Resonanz nach außen und sprengte den Rahmen des Monitors.

Ford sah einen Schweißtropfen über Hazelius’ Wange rinnen.

»Das ist die Quelle des Teilchenstroms bei zweiundzwanzig Komma sieben TeV«, sagte Kate Mercer.»Scheinbar durchbrechen wir jetzt die Brane.«

»Ein Zehntel rauf.«

Das Loch wuchs, es pulsierte eigenartig, wie ein schlagendes Herz. In der Mitte war es schwarz wie die Nacht. Ford konnte den Blick nicht mehr davon losreißen.

»Unendliche Krümmung bei K-Null«, sagte Chen.

Das Loch war so groß geworden, dass es den mittleren Bereich des Bildschirms verschlungen hatte. Ford sah plötzlich etwas in seiner unendlichen Tiefe aufblitzen, wie ein Schwarm Fische, der in tiefem Wasser herumflitzt.

»Was macht der Computer?«, fragte Hazelius mit scharfer Stimme.

»Gefällt mir nicht«, sagte Chen.

»Ein Zehntel rauf«, sagte Hazelius leise.

Die Flecken wurden heller. Das singende Geräusch, das immer lauter geworden war, bekam nun einen zischenden, schrillen Oberton.

»Der Computer fängt an zu spinnen«, sagte Chen gepresst.

»Was macht er denn?«

»Sehen Sie selbst.«

Alle standen jetzt vor dem großen Bildschirm – alle außer Edelstein, der seelenruhig weiterlas. Irgendetwas materialisierte sich in dem Loch in der Mitte, kleine Pünktchen und Blitze aus Farben tauchten auf, schwärmten herum, als stiegen sie aus unendlicher Tiefe auf, schimmerten und nahmen allmählich Gestalt an. Das Bild war so seltsam, dass Ford nicht sicher war, ob sein Gehirn es noch richtig interpretierte.

Hazelius zog die Tastatur zu sich heran und tippte einen Befehl ein.»Isabella hat Schwierigkeiten mit dem Datenstrom. Rae, schalten Sie die Prüfsummen-Verfahren aus – das dürfte den Prozessor ein bisschen befreien.«

»Moment mal«, sagte Dolby.»Die sind unser Frühwarn-system.«

»Die sind ein Back-up für ein Back-up. Rae? Bitte weg damit.«

Chen hämmerte den Befehl in die Tastatur.

»Der Computer spinnt immer noch, Gregory.«

»Ich finde, Ken hat recht – wir sollten die Prüfsummen wieder laufen lassen«, bemerkte Kate.

»Noch nicht. Ein Zehntel rauf, Ken.«

Kurzes Zögern.

»Ein Zehntel rauf.«

»Okay«, sagte Dolby mit leicht zitternder Stimme.

»Harlan?«

»Die Energie ist stark und sauber.«

»Rae?«

Chens Stimme klang schrill.»Es passiert schon wieder. Der Computer fängt an zu spinnen, genau wie bei Wolkonski.«

Das Schimmern wurde intensiver.

Cecchini sagte:»Strahlen weiterhin kollimiert. Schwerpunktsenergie zweiundzwanzig Komma neun. Hier ist alles klar.«

»Neunundneunzig Komma acht«, sagte Chen.

»Ein Zehntel rauf.«

Dolbys sonst so lakonische Stimme klang ungewöhnlich angespannt.»Gregory, sind Sie sicher …?«

»Ein Zehntel rauf.«

»Ich verliere den Computer«, sagte Chen.»Ich verliere ihn. Es passiert schon wieder.«

»Das kann nicht sein. Ein Zehntel rauf!«

»Wir nähern uns neunundneunzig Komma neun«, sagte Chen mit einem leichten Zittern in der Stimme.

Das Singen war lauter geworden, es erinnerte Ford an das Geräusch des Monolithen in Odyssee im Weltraum – wie ein Chor von Stimmen.

»Rauf auf neunundneunzig Komma neun fünf.«

»Er ist weg! Er nimmt keinen Input mehr an!« Chen warf den Kopf zurück, und ihr Haar wirbelte wie eine zornige schwarze Wolke um ihr Gesicht.

Ford stand bei den anderen direkt hinter Hazelius, Cecchini, Chen und St. Vincent, die wie verrückt an ihren Tastaturen arbeiteten. Das Bild, das Ding in der Mitte des Visualizers, sah nun solider aus und vibrierte immer schneller, violette und dunkelrote Strahlen schossen hinein und heraus, es war ein wirbelnder Ameisenhaufen von Farben, tief und dreidimensional.

Es sah beinahe lebendig aus.

»Mein Gott«, keuchte Ford unwillkürlich.»Was ist das?«

»Unsere Logikbombe«, bemerkte Edelstein trocken, ohne auch nur von seinem Buch aufzublicken.

Plötzlich verschwand das Bild vom Visualizer.

»O nein. O Gott, nein«, stöhnte Hazelius.

Zwei Worte erschienen mitten auf dem Bildschirm: Seid gegrüßt.

Hazelius schlug mit der flachen Hand auf die Tastatur.»Verfluchter Mistkerl!«

»Der Computer hat sich aufgehängt«, sagte Chen.

Dolby sagte zu Chen:»Runterfahren, Rae. Sofort.«

»Nein!« Hazelius fuhr zu ihm herum.»Rauf auf hundert Prozent!«

»Sind Sie wahnsinnig?«, kreischte Dolby.

Plötzlich, binnen eines Augenblicks, wurde Hazelius vollkommen ruhig.»Ken, wir müssen diese Malware finden. Offenbar ist es ein Bot-Programm – es bewegt sich von allein. Es steckt nicht im Hauptcomputer. Also, wo ist es? Die Detektoren haben eingebaute Mikroprozessoren – es kann sich nur in den Detektoren bewegen. Und das bedeutet, wir können es finden. Wir können den Output jedes Detektors isolieren und das Ding in die Ecke drängen. Richtig, Rae?«

»Absolut. Das ist eine geniale Idee.«

»Um Himmels willen«, sagte Dolby mit schweißnassem Gesicht,»wir fliegen blind. Wenn die Strahlen dekollimieren, könnten sie hier reinbrechen und uns alle zu Staub zerblasen – ganz abgesehen von gegrillten Detektoren im Wert von zweihundertfünfzig Millionen Dollar.«

»Kate?«, fragte Hazelius.

»Ich bin ganz deiner Meinung, Gregory.«

»Bringen Sie sie auf hundert, Rae«, sagte Hazelius kühl.

»Okay.«

Dolby wollte sich auf die Tastatur stürzen, doch Hazelius stellte sich ihm in den Weg.

»Ken«, sagte Hazelius hastig,»hören Sie mir zu. Wenn der Computer abstürzen könnte, dann wäre das schon passiert. Die Kontroll-Software läuft immer noch, im Hintergrund. Wir können sie nur nicht sehen. Geben Sie mir zehn Minuten, um dieses Mistding aufzuspüren.«

»Auf keinen Fall.«

»Dann fünf Minuten. Bitte. Das ist keine unüberlegte Entscheidung. Meine stellvertretende Leiterin stimmt mir zu. Wir haben hier das Sagen.«

»Niemand hat das Sagen über diese Maschine außer mir.«

Keuchend starrte Dolby erst Hazelius an, dann Mercer, bevor er sich abwandte, die Arme steif an der Seite, die Hände zu Fäusten geballt.

Ohne sich umzudrehen, sagte Hazelius:»Kate? Wir werden es mit der Methode versuchen, über die wir schon einmal gesprochen haben. Gib eine Frage ein – irgendwas. Wir wollen sehen, ob wir das Ding zum Reden bringen.«

»Was soll das nützen, verdammt?« Dolby fuhr herum.»Das ist ein Chatbot-Programm, na und?«

»Vielleicht können wir den Output zum Ursprung zurückverfolgen. Zurück zu der Logikbombe.«

Dolby starrte Hazelius an.

»Rae«, sagte Hazelius,»wenn es Output liefert, suchen Sie sämtliche Detektoren nach dem Signal ab.«

»Alles klar.« Chen sprang von ihrem Platz auf und setzte sich an einen anderen Computer, wo sie sofort zu tippen begann.

Die anderen standen reglos herum, wie unter Schock. Ford sah, dass Edelstein endlich sein Buch gesenkt hatte, um zuzuschauen, einen vagen Ausdruck von Interesse auf dem Gesicht.

Hazelius und Dolby stritten sich immer noch, und Hazelius versperrte dem Ingenieur weiterhin den Weg zu dem Pult, an dem Isabella ausgeschaltet werden konnte.

»Sei ebenfalls gegrüßt«, tippte Kate.

Der LED-Bildschirm über ihrer Konsole flackerte und wurde dunkel. Dann erschien eine Antwort: Es freut mich, mit dir sprechen zu können.

»Es reagiert!«, rief Kate.

»Haben Sie das, Rae?«, brüllte Hazelius.

»Ja«, sagte Chen aufgeregt.»Ich habe da was im Output-Strom. Sie hatten recht, es kommt tatsächlich von einem Detektor! Das ist es! Wir haben das Ding! Weiter so!«

»Freut mich auch, mit dir zu sprechen«, tippte Kate. »Herrgott, was soll ich denn sagen?«

»Frag es, wer es ist«, sagte Hazelius.

»Wer bist du?«, gab Kate ein.

In Ermangelung eines besseren Wortes – ich bin Gott.

Verächtliches Schnauben von Hazelius.»Beschissener Hacker!«

»Wenn du wirklich Gott bist«, tippte Kate ein, »dann beweise es.«

Wir haben nicht viel Zeit für Beweise.

»Ich denke an eine Zahl zwischen eins und zehn. Welche Zahl ist es?«

Du denkst an die transzendentale Zahl e.

Kate zog die Finger von der Tastatur und wich zurück.

»Wie läuft’s, Rae?«, rief Hazelius Chen zu.

»Ich bin ihm auf der Spur! Tippt einfach weiter!«

Kate straffte die Schultern und lehnte sich vor, um weiterzuschreiben.

»Jetzt denke ich an eine Zahl zwischen null und eins.«

Die chaitinsche Konstante: Omega.

Kate stand abrupt auf, trat von der Tastatur zurück und schlug sich die Hand vor den Mund.

»Was hast du?«, fragte Ford.

»Macht weiter!«, kreischte Chen, über ihre Tastatur gebeugt.

Kate schüttelte den Kopf. Sie war blass, hielt immer noch eine Hand vor den Mund gedrückt und wich weiter von dem Computer zurück.

»Warum gibt denn keiner Input?«, schrie Chen.

Hazelius wandte sich an Ford.»Wyman – übernehmen Sie.«

Ford trat vor, an die Tastatur. »Wenn du Gott bist …« Was konnte er nur fragen? Rasch tippte er weiter »… was ist dann der Sinn des Lebens?«

Den ultimativen Sinn kenne ich nicht.

»Ich krieg ihn!«, brüllte Chen.»So ist es gut! Weiter!«

»Das ist ja toll«, schrieb Ford, »ein Gott, der den Sinn des Lebens nicht kennt.«

Wenn ich ihn kennen würde, wäre alle Existenz sinnlos.

»Warum?«

Wenn das Ende des Universums an seinem Anfang bereits gegenwärtig wäre – wenn wir lediglich mitten im deterministischen Ablauf einer Reihe anfänglicher Bedingungen wären –, dann wäre das Universum ein sinnloses Unterfangen.

»Okay«, sagte Dolby laut und drohend.»Die Zeit ist um. Ich will Isabella zurückhaben.«

»Ken, wir brauchen mehr Zeit«, sagte Hazelius.

Dolby versuchte, sich an Hazelius vorbeizudrängen, doch der Physiker hielt ihn zurück.»Noch nicht.«

»Ich habe ihn fast!«, rief Chen.»Gebt mir noch eine Minute, Herrgott noch mal!«

»Nein!«, beharrte Dolby.»Ich fahre sie jetzt runter!«

»Den Teufel werden Sie tun«, sagte Hazelius.»Verflucht, Wyman, mehr Input!«

»Erkläre mir das«, tippte Ford hastig.

Wenn du an deinem Ziel angekommen bist, warum dann noch den Weg zurücklegen? Wenn du die Antwort kennst, warum die Frage stellen? Deshalb ist die Zukunft vollkommen verborgen, und das muss sie auch sein, sogar vor mir, vor Gott. Ansonsten hätte das Dasein keine Bedeutung.

»Das ist ein metaphysisches Argument, kein physikalisches«, gab Ford ein.

Das physikalische Argument lautet, dass kein Teil des Universums Dinge schneller berechnen kann als das Universum selbst. Das Universum»sagt die Zukunft voraus«, so schnell es kann.

Dolby versuchte erneut, an Hazelius vorbeizukommen, doch der Physiker trat beiseite und fing ihn ab.

»Haltet es am Reden, ich hab es gleich!«, kreischte Chen, die tippte wie der Teufel.

»Was ist das Universum?«, gab Ford ein, dem jede zufällige Frage recht war. »Wer sind wir? Was tun wir hier?«

Dolby warf sich nach vorn und stieß Hazelius beiseite. Hazelius taumelte rückwärts, fing sich aber rasch, packte den Ingenieur von hinten und zog ihn mit erstaunlicher Kraft von dem Kontrollpult zurück.

»Sind Sie denn wahnsinnig?«, brüllte Dolby und versuchte ihn abzuschütteln.»Sie zerstören meine Maschine …!«

Die beiden rangen miteinander, der schmächtige Physiker klammerte sich wie ein Affe an den breiten Rücken des Ingenieurs – und dann stürzten sie zu Boden, mit einem Krachen kippte der Sessel um.

Die anderen waren starr vor Entsetzen. Niemand wusste, wie er auf diese Prügelei reagieren sollte.

»Sie verdammter Spinner!«, brüllte Dolby, rollte sich auf dem Boden herum und versuchte, den Physiker abzuschütteln, der sich mit aller Kraft an ihm festhielt.

Die Logikbombe gab weiterhin Output an den Bildschirm.

Das Universum ist eine riesige, nicht reduzierbare, laufende Rechenoperation, deren Ergebniszustand ich nicht kenne und nicht kennen kann. Der Sinn aller Existenz ist, diesen finalen Zustand zu erreichen. Doch der Zustand selbst ist sogar für mich ein Geheimnis, und das muss er auch sein, denn wenn ich die Lösung wüsste, was sollte das Ganze dann für einen Sinn haben?

»Lassen Sie mich los!«, schrie Dolby.

»Hilf mir doch jemand«, rief Hazelius.»Lasst ihn nicht an die Tastatur!«

»Was meinst du mit Rechenoperation?«, tippte Ford ein. »Stecken wir alle in einem Computer?«

Mit Rechenoperation meine ich Denken. Die gesamte Existenz, alles, was geschieht, ist ein Denkprozess Gottes. Ein fallendes Blatt, eine Welle am Strand, der Kollaps eines Sterns – alles nur ich, alles Gott, der denkt.

»Ich hab ihn!«, rief Chen triumphierend.»Ich habe – Moment mal! Was zum Teufel …?«

»Was denkst du gerade?«, tippte Ford ein.

Dolby bäumte sich ein letztes Mal auf, riss sich von Hazelius los und warf sich auf die Konsole.

»Nein!«, kreischte Hazelius.»Nicht abschalten! Warten Sie!«

Dolby lehnte sich keuchend zurück.»Abschaltsequenz eingeleitet.«

Das summende Geräusch, das den Raum erfüllte, wurde leiser, der Bildschirm vor Ford flackerte, und die Worte lösten sich auf. Er erhaschte noch einen kurzen Blick auf eine unheimliche Gestalt, die aufflatterte und dann als Pünktchen im Zentrum des Bildschirms verschwand, dann wurde alles dunkel.

Hazelius zuckte mit den Schultern, strich seine Kleidung glatt, bürstete sich den Staub von den Schultern und wandte sich dann mit ruhiger Stimme an Chen.»Rae? Haben Sie ihn gefunden?«

Chen starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an.

»Rae?«

»Ja«, sagte sie langsam.»Ich habe ihn.«

»Und? Von welchem Prozessor kommt das Zeug?«

»Von keinem.«

Schweigen breitete sich im Kontrollraum aus.

»Was soll das heißen, von keinem?«

»Es kam von K-Null selbst.«

»Was reden Sie denn da?«

»Genau so war es. Der Output kam direkt aus dem Raum-Zeit-Loch bei K-Null.«

Im schockierten Schweigen blickte Ford sich nach Kate um. Sie stand ganz allein und sehr still am hinteren Ende der Brücke. Rasch ging er zu ihr hinüber und sagte leise zu ihr:»Kate? Alles in Ordnung?«

»Es wusste es«, flüsterte sie mit gespenstisch blassem Gesicht.»Es wusste alles.« Ihre Hand tastete nach seiner und schloss sich zitternd darum.


27


Eddy trat aus seinem Trailer, das Handtuch über der Schulter, die Rasiertasche in der Hand, und starrte auf die Kisten voll unsortierter Kleidung, die während der Woche gekommen waren. Nach seiner mitternächtlichen Fahrt auf die Mesa hatte er nicht schlafen können und fast die ganze Nacht im Internet verbracht, in den christlichen Chatrooms.

Er zog ein paar Mal am Pumpschwengel, fing das kalte Wasser mit der Hand auf und klatschte es sich ins Gesicht, um durch den Schreck ein wenig wacher zu werden. Vor lauter Müdigkeit hatte er ein ständiges Summen im Kopf.

Er seifte sich ein, rasierte sich, säuberte die Klinge in der Waschschüssel und kippte das Wasser in den Sand. Er sah zu, wie es versickerte und kleine Schaumklümpchen an der Oberfläche zurückließ. Plötzlich erinnerte ihn das an Lorenzos Blut. Mit einem Gefühl der Panik trampelte er innerlich auf dem Bild herum, um es zu vertreiben. Gott hatte Lorenzo bestraft – nicht er. Es war nicht seine Schuld – es war Gottes Wille. Gott tat niemals etwas ohne Grund. Und dieser Grund hatte etwas mit dem Isabella-Projekt zu tun – und mit Hazelius.

Hazelius. In Gedanken durchlebte er die gestrige Begegnung noch einmal. Er errötete bei der Erinnerung, und seine Hände begannen zu zittern. Immer wieder formulierte er sich vor, was er noch alles hätte sagen können; bei jedem Durchgang wurde seine Ansprache länger, eloquenter und inbrünstiger, befeuert von gerechtem Zorn. Vor aller Augen hatte Hazelius ihn als Insekt bezeichnet, als Bakterium – weil er ein Christ war. Der Mann war ein Exempel für alles, das in Amerika schieflief, ein Hohepriester im Tempel des säkularen Humanismus.

Eddys Blick huschte zu den Kisten hinüber, die vorgestern eingetroffen waren. Da Lorenzo nicht mehr da war, hatte er viel mehr Arbeit als sonst. Donnerstag war der»Kleidertag«, an dem er die gespendeten Altkleider an die Indianer verschenkte. Über das Internet hatte Russ eine Abmachung mit einem halben Dutzend Kirchengemeinden in Arkansas und Texas geschlossen, die gebrauchte Kleidung sammelten und ihm schickten, damit er sie an die bedürftigen Familien verteilen konnte.

Mit seinem Taschenmesser schlitzte Eddy die erste Pappkiste auf und begann, den mageren Inhalt zu sortieren. Er holte hier eine Jacke heraus, dort eine Jeans, und hängte die Sachen an Kleiderständer oder legte sie auf den Kunststofftischen im Schatten des Heuschuppens aus. Eifrig arbeitete er in der morgendlichen Kühle, sortierte, hängte auf, faltete zusammen. Der gewaltige Umriss der Red Mesa ragte im Hintergrund auf und waberte violett im Morgenlicht. Eddys Gedanken kreisten weiterhin um Hazelius, immer wieder spielte er sich die hässliche Szene vor. Gott hatte ihm gezeigt, was ein Gotteslästerer wie Lorenzo von Ihm zu erwarten hatte. Was würde Er dann erst mit Hazelius tun?

Eddy blickte zum Umriss der hohen Mesa auf, die ein wenig bedrohlich vor ihm aufragte, und erinnerte sich an die Dunkelheit der vergangenen Nacht, die Verzweiflung, die Leere. Das Summen und Knistern der Stromleitungen, den Geruch nach Ozon. Er konnte die Gegenwart Satans da oben fühlen.

Eine verräterische Staubwolke am Horizont kündigte ein nahendes Fahrzeug an. Er kniff gegen die tiefstehende Sonne die Augen zusammen, und bald erschien ein Pick-up aus dem Staub, der sich schlingernd und stöhnend über die löchrige, unbefestigte Straße quälte. Bebend kam er zum Stehen. Eine große Indianerin stieg aus, gefolgt von zwei Jungen. Der eine trug ein Star-Wars-Gewehr, der andere eine Plastik-Uzi. Sie rannten ins Gestrüpp und taten so, als würden sie aufeinander schießen. Russ folgte ihnen mit Blicken, dachte an seinen eigenen Sohn, der ohne ihn aufwuchs, und sein Zorn wurde stärker.

»Hallo, Pastor, na, wie geht’s?«, rief die Frau fröhlich.

»Sei gegrüßt im Geiste Christi, Muriel«, sagte Eddy.

»Was ham Sie denn heute?«

»Bedienen Sie sich.« Sein Blick huschte wieder zu den Jungen hinüber, die aus der Deckung magerer Beifußbüsche aufeinander schossen.

Die Klingel, die er außen am Trailer angebracht hatte, schrillte und sagte ihm, dass drinnen das Telefon läutete. Er eilte hinein und suchte zwischen Stapeln von Büchern nach dem schnurlosen Telefon.

»Hallo?«, meldete er sich atemlos. Es kam sehr selten vor, dass ihn jemand anrief.

»Pastor Russ Eddy?« Das war Reverend Don T. Spates.

»Guten Morgen, Reverend Spates. Gott sei mit …«

»Ich habe mich gerade gefragt, ob Sie sich schon ein wenig umgesehen haben – worum ich Sie gebeten hatte.«

»Das habe ich, Reverend. Ich war gestern Nacht noch einmal auf der Mesa. Die Häuser und das Dorf waren völlig verlassen. Die Hochspannungsleitungen, alle drei, haben gesummt vor Spannung. Mir haben geradezu die Haare zu Berge gestanden.«

»Ach ja?«

»Dann gegen Mitternacht habe ich eine Vibration gespürt, eher ein singendes Geräusch, aus dem Boden. Es hat etwa zehn Minuten lang angehalten.«

»Sind Sie über den Sicherheitszaun gekommen?«

»Ich … ich konnte es nicht riskieren.«

Ein Brummen, dann ein langes Schweigen. Eddy hörte draußen weitere Pick-ups kommen, und jemand rief seinen Namen. Er ignorierte es.

»Ich will Ihnen mein Problem schildern«, sagte Spates. »Meine Talkshow – Roundtable America – wird morgen Abend um sechs Uhr live im Fernsehen gesendet. Als Gast habe ich einen Physiker von der Liberty University. Ich brauche unbedingt etwas Neues über das Isabella-Projekt.«

»Ich verstehe, Reverend.«

»Deshalb habe ich Ihnen neulich gesagt, dass Sie etwas wirklich Gutes für mich ausgraben müssen. Sie sind mein Mann vor Ort. Dieser Selbstmord ist ein Anfang, aber das reicht noch nicht. Wir brauchen etwas, das den Leuten Angst macht. Was tun die wirklich da oben? Gibt es Lecks, durch die radioaktive Strahlung entweicht, wie die Gerüchte behaupten, von denen Sie mir berichtet haben? Werden sie die Erde in die Luft sprengen?«

»Das kann ich doch nicht wissen …«

»Das ist es ja gerade, Russ! Sehen Sie zu, dass Sie da reinkommen und es herausfinden. Begehen Sie ruhig Landfriedensbruch, beugen Sie die bloßen menschlichen Gesetze, um dem Gesetz Gottes zu dienen. Ich zähle auf Sie!«

»Danke, Reverend. Ich danke Ihnen. Ich werde es schaffen.«

Nach dem Telefonat trat Pastor Russ wieder hinaus ins helle Sonnenlicht und ging zu dem halben Dutzend Leuten hinüber, die die Kleiderspenden durchwühlten – die meisten waren alleinstehende Mütter mit Kindern. Er hob die Hände. »Leute? Tut mir leid, aber wir müssen für heute Schluss machen. Etwas Wichtiges ist dazwischengekommen.«

Enttäuschtes Murmeln war zu hören, und Eddy fühlte sich mies – er wusste, dass einige der Mütter eine lange Strecke gefahren waren, um hierherzukommen, obwohl Benzin teuer war.

Sobald sie weg waren, hängte Russ ein Schild auf, das erklärte, der Kleidertag müsse heute ausfallen, und stieg in seinen Pick-up. Er warf einen prüfenden Blick auf die Tankuhr: ein Achtel voll, nicht genug Benzin, um auf die Mesa und wieder zurück zu fahren. Er fischte seine Brieftasche heraus und fand darin drei Dollar. Er hatte bereits Schulden in Höhe von ein paar hundert Dollar bei der Tankstelle in Blue Gap und beinahe ebenso viel in Rough Rock. Er musste eben beten, dass er es bis Piñon schaffen würde, wo er hoffentlich noch anschreiben lassen konnte. Er war ziemlich sicher, dass sie ihm Kredit einräumen würden – bei Navajos konnte man immer borgen.

Es hatte keinen Zweck, tagsüber näher an Isabella heranzufahren, wenn sie ihn sehen konnten. Er würde erst nach Sonnenuntergang hochfahren, seinen Pick-up hinter dem Nakai Rock verstecken und dann im Dunkeln herumschnüffeln. Bis dahin würde es ihm vielleicht gelingen, in Piñon etwas mehr über den Selbstmord auf der Mesa zu erfahren.

Er atmete tief und befriedigt durch. Gott hatte ihm endlich eine große Aufgabe anvertraut. Gregory North Hazelius, diese antichristliche Dreckschleuder, musste aufgehalten werden.


28


Ford saß in einem alten, ledernen Sessel in einer Ecke des Aufenthaltsraums und beobachtete, wie der Rest des Teams aus dem Bunker zurückkehrte, erschöpft und demoralisiert. Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich über den Horizont, fielen grell durch die östlich gelegenen Fenster herein und erfüllten den Raum mit goldenem Licht. Stumm ließen sich die Leute auf die Stühle sinken, alle Blicke wirkten leer. Hazelius kam als Letzter. Er ging zum Kamin und entzündete das Papier unter dem bereits fertig aufgeschichteten Holz. Dann sank auch er auf einen Stuhl am Tisch.

Eine Weile saßen sie schweigend herum, nur das Knacken des Feuers war zu hören. Schließlich stand Hazelius langsam auf. Alle Blicke wandten sich ihm zu. Er schaute von einem zum anderen, die blauen Augen vor Erschöpfung dunkelrosa umrandet, die Lippen weiß vor Anspannung.»Ich habe einen Plan.«

Diese Ankündigung wurde schweigend aufgenommen. Ein feuchtes Holzscheit im Kamin knallte so laut, dass alle zusammenzuckten.

»Morgen Mittag bereiten wir alles für einen weiteren Durchlauf vor«, erklärte Hazelius,»bei hundert Prozent, wohlgemerkt. Und jetzt kommt das Wichtigste: Wir lassen Isabella laufen, bis wir die Logikbombe zu ihrer Quelle zurückverfolgt haben.«

Ken Dolby holte ein Taschentuch hervor und wischte sich über das feuchte Gesicht.»Hören Sie, Gregory, Sie haben meine Maschine schon beinahe ruiniert. Ich kann nicht zulassen, dass das noch einmal passiert.«

Hazelius neigte den Kopf.»Ken, Sie haben recht. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich weiß, dass ich manchmal zu energisch vorgehe. Ich war wütend und frustriert und habe mich aufgeführt wie ein Irrer. Bitte verzeihen Sie mir.« Er streckte Dolby die Hand hin.

Nach kurzem Zögern schlug Dolby ein.

»Sind wir wieder Freunde?«

»Ja, klar«, sagte Dolby.»Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich keinen Betrieb bei hundertprozentiger Leistung mehr zulassen werde, bis wir dieses Hackerproblem gelöst haben.«

»Und wie sollen wir Ihrer Meinung nach dieses Problem lösen, ohne hundertprozentige Leistung zu fahren?«

»Vielleicht ist es an der Zeit, das Versagen unseres Projekts einzugestehen und Washington darüber zu informieren. Sollen die sich was einfallen lassen.«

Danach herrschte lange Schweigen, bis Hazelius fragte:»Hat noch jemand einen Vorschlag?«

Melissa Corcoran wandte sich Dolby zu.»Ken, wenn wir jetzt zugeben, dass wir versagt haben, können wir unsere Karriere gleich im Klo runterspülen. Ich weiß nicht, wie das bei euch ist, aber für mich war das eine einmalige Chance. Und die will ich auf keinen Fall hinschmeißen.«

»Wer hat noch eine Meinung dazu?«, fragte Hazelius.

Rae Chen stand auf, doch weil sie so zierlich und klein war, hob sie sich kaum von den anderen ab, die noch saßen. Aber die förmliche Geste des Aufstehens verlieh ihren Worten mehr Gewicht.»Ich möchte etwas dazu sagen.« Der Blick ihrer schwarzen Augen wanderte einmal um den Tisch herum.

»Ich bin im Hinterzimmer eines China-Restaurants in Culver City, Kalifornien, aufgewachsen. Meine Mutter hat sich halb zu Tode geschuftet, um mir das Studium zu ermöglichen. Sie ist stolz auf mich, weil ich es in diesem Land zu etwas gebracht habe. Und hier bin ich nun. Die Augen der gesamten Welt sind auf uns gerichtet.« Ihre Stimme brach.»Ich würde lieber sterben, als aufzugeben. Das ist alles, was ich zu sagen habe. Ich würde eher sterben.«

Sie setzte sich abrupt wieder hin.

Wardlaw brach das unbehagliche Schweigen.»Ich weiß, wie so etwas im Energieministerium läuft. Wenn wir das jetzt erst melden, wird man uns Vertuschung vorwerfen. Es könnte sogar sein, dass sie uns deswegen vor Gericht stellen.«

»Uns vor Gericht stellen?«, rief Innes von weiter hinten.»Herrgott, Tony, wir wollen doch nicht in Absurdität verfallen.«

»Ich meine es ernst.«

»Das ist reine Panikmache.« Innes’ bleiches Gesicht strafte seinen verächtlichen Tonfall Lügen. Sein Blick huschte um den Tisch.»Und selbst wenn, ich bin ja nur der Team-Psychologe. Ich hatte mit der Entscheidung, Informationen zurückzuhalten, nichts zu tun.«

»Ja, aber Sie haben das Problem auch nicht gemeldet«, sagte Wardlaw mit schmalen Augen.»Machen Sie sich nichts vor, Sie wandern mit dem Rest von uns vor Gericht.«

Vogelgezwitscher drang von draußen durch die Stille.

»Ist denn sonst jemand mit Ken einer Meinung?«, fragte Hazelius schließlich.»Dass wir das Handtuch werfen und Washington von unserem Problem berichten sollten?«

Niemand stimmte dem zu.

Dolby blickte sich um.»Denkt doch nur mal an das Risiko!«, rief er.»Wir könnten Isabella zerstören! Wir können sie nicht einfach hochfahren und blind laufen lassen!«

»Das ist richtig, Ken«, sagte Hazelius.»Und ich habe das bei meinem Plan berücksichtigt. Möchten Sie ihn hören?«

»Dass ich ihn mir anhöre, heißt aber noch lange nicht, dass ich damit einverstanden bin«, betonte Dolby.

»Verstanden. Wie Sie wissen, wird Isabella von drei Servern der neuesten Generation gesteuert – IBM p-fünf fünfneunfünf. Sie haben sie selbst ausgewählt, Ken. Diese Server kontrollieren die Telekommunikation, E-Mail, LAN und einen Haufen anderes Zeug. Das ist eigentlich des Guten schon fast zu viel – diese Server wären leistungsstark genug für das gesamte Pentagon. Meine Idee wäre, dass wir sie neu konfigurieren, als Back-up für Isabella.« Er wandte sich Chen zu.»Machbar?«

»Ich denke schon.« Sie warf Edelstein einen Blick zu.»Alan, was meinst du?«

Er nickte langsam.

»Aber wie wollen Sie das denn bewerkstelligen?«, fragte Dolby.

»Das größte Problem ist die Firewall«, sagte Chen.»Wir werden alle Verbindungen nach draußen kappen müssen. Inklusive sämtlicher Telekommunikation. Unsere Festnetz-und Mobiltelefone würden nicht mehr funktionieren. Dann schließen wir die Server zusammen und verbinden sie direkt mit Isabella. Machbar wäre es.«

»Aber – überhaupt keine Kommunikation nach draußen mehr?«

»Keine, solange Isabella läuft. Die Firewall ist unüberwindlich. Wenn Isabellas Software irgendeine Verbindung nach draußen aufspürt, schaltet sie sofort ab, aus Sicherheitsgründen. Deshalb müssten wir sämtliche Verbindungen zur Außenwelt einstellen.«

»Ken?«

Dolby trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum und runzelte die Stirn.

Hazelius sah sich um.»Sonst noch jemand?« Sein Blick fiel auf Kate Mercer, die weiter hinten saß und bisher nichts zur Diskussion beigetragen hatte.»Kate? Was denkst du?«

Schweigen.

»Kate? Fühlst du dich nicht wohl?«

Ihre Stimme war kaum hörbar.»Es wusste es.«

Schweigen. Dann sagte Corcoran forsch:»Na ja, das ist vielleicht nicht so erstaunlich, wie es im ersten Moment aussieht. Offensichtlich haben wir es mit einem Programm zu tun, das so ähnlich funktioniert wie Eliza – erinnert ihr euch an Eliza?«

»Dieses alte FORTRAN-Programm aus den Achtzigern, das sich mit einem unterhalten konnte wie ein Psychoanalytiker?«, fragte Cecchini.

»Genau das meine ich«, sagte Corcoran.»Das Programm war ganz einfach – es hat aus allem, was man ihm gesagt hat, eine Frage gemacht. Man tippt zum Beispiel Meine Mutter hasst mich, und Eliza antwortet: Warum glaubst du, dass deine Mutter dich hasst? Ein simples Programm, aber wirkungsvoll.«

»Das war kein Eliza-Programm«, sagte Kate.»Es wusste, woran ich denke.«

»Im Grunde ist es sogar sehr einfach«, sagte Melissa und warf Kate einen überheblichen Blick zu.»Der Hacker, der diese Logikbombe programmiert hat, weiß, dass wir ein Haufen hochspezialisierter Eierköpfe sind, oder? Er weiß, dass wir nicht so denken wie normale Leute. Du hast geschrieben: ›Ich denke an eine Zahl zwischen eins und zehn‹. Der Hacker hatte schon damit gerechnet, dass jemand so eine Frage stellen würde. Er konnte sich ausrechnen, dass du als Erstes wahrscheinlich nicht an eine ganze Zahl oder auch nur an eine rationale Zahl denken würdest – nein, er ist davon ausgegangen, dass du an alle Zahlen zwischen eins und zehn denkst. Und was ist die interessanteste Zahl zwischen eins und zehn? Entweder Π oder e. Und von den beiden ist e die mysteriösere.« Sie blickte sich triumphierend um.

»Aber was ist mit der nächsten Antwort, die es erraten hat?«

»Dafür gilt dieselbe Regel. Was ist mit Abstand die merkwürdigste Zahl zwischen null und eins? Das ist leicht: die verflixte chaitinsche Konstante – Omega. Hab ich nicht recht, Alan?«

Alan Edelstein neigte leicht den Kopf.

Melissa richtete ihr strahlendes Lächeln wie eine Waffe auf Kate.»Siehst du?«

»Blödsinn.«

»Ach, du glaubst also, wir unterhalten uns mit Gott?«

»Sei nicht albern«, erwiderte Kate gereizt.»Ich sage nur, was immer da mit mir gesprochen hat, wusste es.«

Rae Chen meldete sich zu Wort.»Hört mal, ich will ja hier nicht die Geisterstunde ausrufen, aber ich habe den Output direkt ins Zentrum von K-Null zurückverfolgt. Er kam nicht von einem Detektor oder sonst irgendwelcher Hardware. Er kam aus diesem seltsamen Datennebel in dem Raum-Zeit-Loch bei K-Null.«

»Rae«, sagte Hazelius,»Sie wissen doch, dass das nicht stimmen kann.«

»Ich sage Ihnen nur, was ich gesehen habe. Diese Datenwolke hat binären Code ausgespien, direkt in die Detektoren. Außerdem hatten wir einen Energieüberschuss – es kam mehr Energie aus K-Null heraus, als hineingepumpt wurde. Ich habe die Berechnung hier.« Sie schob Hazelius eine Mappe hin.

»Unmöglich. Das kann nicht sein.«

»Na ja, dann rechnen Sie es doch noch mal durch.« Chen breitete einladend die Hände aus.

»Deshalb müssen wir das unbedingt noch einmal tun«, sagte Hazelius.»Aber nicht unter Druck, nicht mit irgendeiner Deadline im Nacken. Wir müssen einen weiteren Durchlauf machen, bei dem Rae genug Zeit bekommt, um diese Logikbombe wirklich aufzuspüren.«

Edelstein ergriff das Wort.»Ich war während der Kommunikation mit Konsole drei beschäftigt. Hat jemand ein Transkript? Ich möchte gern lesen, was diese Malware genau für einen Output geliefert hat.«

»Wozu soll das gut sein?«, fragte Hazelius.

Edelstein zuckte mit den Schultern.»Reine Neugier.«

Hazelius sah sich fragend um.»Hat jemand mitgeschrieben?«

»Ich habe das irgendwo«, sagte Chen.»Ich habe es mitsamt den übrigen Daten ausgedruckt.« Sie blätterte in ihren Unterlagen herum und zog ein Blatt heraus. Hazelius nahm es ihr ab.

»Lesen Sie doch laut vor«, sagte St. Vincent.»Ich habe das meiste auch nicht mitbekommen.«

»Ich auch nicht«, sagte Thibodeaux. Die anderen stimmten zu.

Hazelius räusperte sich und las in nüchternem Tonfall vor:

»Seid gegrüßt.


Sei ebenfalls gegrüßt.


Es freut mich, mit dir sprechen zu können.


Freut mich auch, mit dir zu sprechen. Wer bist du?


In Ermangelung eines besseren Wortes – ich bin Gott.«

Hier machte Hazelius eine Pause.»Wenn ich den Mistkerl in die Finger kriege, der diese Logikbombe in unserem System installiert hat, reiße ich ihm die Eier ab.«

Thibodeaux lachte nervös.

»Woher wollen Sie wissen, dass es keine Frau war?«, fragte Corcoran.

Hazelius las nach kurzem Zögern weiter vor.

»Wenn du wirklich Gott bist, dann beweise es.


Wir haben nicht viel Zeit für Beweise.


Ich denke an eine Zahl zwischen eins und zehn. Welche Zahl ist es?


Du denkst an die transzendentale Zahl e.


Jetzt denke ich an eine Zahl zwischen null und eins.


Die chaitinsche Konstante: Omega.


Wenn du Gott bist, was ist dann der Sinn des Lebens?


Den ultimativen Sinn kenne ich nicht.


Das ist ja toll, ein Gott, der den Sinn des Lebens nicht kennt.


Wenn ich ihn kennen würde, wäre alle Existenz sinnlos. Warum?


Wenn das Ende des Universums an seinem Anfang bereits gegenwärtig wäre – wenn wir lediglich mitten im deterministischen Ablauf einer Reihe anfänglicher Bedingungen wären –, dann wäre das Universum ein sinnloses Unterfangen.


Erkläre mir das.


Wenn du an deinem Ziel angekommen bist, warum dann noch den Weg zurücklegen? Wenn du die Antwort kennst, warum die Frage stellen? Deshalb ist die Zukunft vollkommen verborgen, und das muss sie auch sein, sogar vor mir, vor Gott. Ansonsten hätte das Dasein keine Bedeutung.


Das ist ein metaphysisches Argument, kein physikalisches.


Das physikalische Argument lautet, dass kein Teil des Universums Dinge schneller berechnen kann als das Universum selbst. Das Universum ›sagt die Zukunft voraus‹, so schnell es kann.


Was ist das Universum? Wer sind wir? Was tun wir hier? Das Universum ist eine riesige, nicht reduzierbare, laufende Rechenoperation, deren Ergebniszustand ich nicht kenne und nicht kennen kann. Der Sinn aller Existenz ist, diesen finalen Zustand zu erreichen. Doch der Zustand selbst ist sogar für mich ein Geheimnis, und das muss er auch sein, denn wenn ich die Lösung wüsste, was sollte das Ganze dann für einen Sinn haben?


Was meinst du mit Rechenoperation? Stecken wir alle in einem Computer?


Mit Rechenoperation meine ich Denken. Die gesamte Existenz, alles, was geschieht, ist ein Denkprozess Gottes. Ein fallendes Blatt, eine Welle am Strand, der Kollaps eines Sterns – alles nur ich, alles Gott, der denkt.


Was denkst du gerade?«

Hazelius ließ das Blatt sinken.»Das ist alles, was festgehalten wurde.«

Edelstein murmelte:»Das ist wirklich außergewöhnlich.«

»Hört sich für mich an wie ein Haufen New-Age-Geschwafel«, sagte Innes.»Alles nur ich, alles Gott, der denkt. Ich empfinde das als geradezu infantil. Genau das, was man von einem typischen, sozial unterentwickelten Computer-Hacker erwarten würde.«

»Meinen Sie?«, fragte Edelstein.

»Allerdings meine ich das.«

»Darf ich dann darauf hinweisen, dass diese Malware – zumindest bisher – den Turing-Test bestanden hat?«

»Den Turing-Test?«

Edelstein sah ihn mit schmalen Augen an.»Davon müssen Sie doch schon einmal gehört haben.«

»Ich bitte um Entschuldigung, aber ich bin schließlich nur ein einfacher Psychologe.«

»Die bahnbrechende Abhandlung über den Turing-Test wurde in der psychologischen Fachzeitschrift Mind veröffentlicht.«

Innes setzte eine professionell nichtssagende Miene auf.»Vielleicht sollten Sie einmal darüber nachdenken, Alan, warum Sie dieses starke Bedürfnis nach Selbstbestätigung verspüren.«

»Turing«, sagte Edelstein,»war eines der großen Genies des zwanzigsten Jahrhunderts. Er hat die Idee des Computers bereits in den dreißiger Jahren entwickelt. Während des Zweiten Weltkriegs hat er den Enigma-Code der Deutschen geknackt. Nach dem Krieg wurde er wegen seiner Homosexualität verfolgt und beging schließlich Selbstmord, indem er einen vergifteten Apfel aß.«

Innes runzelte die Stirn.»Offenbar eine gefährlich instabile Persönlichkeit.«

»Wollen Sie damit sagen, Homosexuelle seien psychisch instabil?«

»Nein, ganz und gar nicht, natürlich nicht«, sagte Innes hastig.»Das bezog sich auf seine Methode, Selbstmord zu begehen.«

»Turing hat England vor den Nazis gerettet – ohne ihn hätten die Briten den Krieg verloren –, und England hat es ihm mit erbarmungsloser Verfolgung und Misshandlung gedankt. Unter diesen Umständen, finde ich, ist ein Selbstmord nicht … unlogisch. Und was die Methode angeht, sie war sauber, wirkungsvoll und in ihrem Symbolgehalt sehr aussagekräftig.«

Innes errötete.»Ich bin sicher, wir würden es alle begrüßen, wenn Sie endlich zur Sache kämen, Alan.«

Edelstein fuhr gelassen fort:»Der Turing-Test war ein Versuch, die Frage zu beantworten: ›Kann eine Maschine denken?‹ Turing schlug dafür folgende Versuchsanordnung vor: Ein menschlicher Proband führt eine schriftliche Konversation mit zwei Gesprächspartnern, die er nicht sehen kann – der eine ist ein Mensch, der andere eine Maschine. Wenn der Proband nach einer längeren Unterhaltung nicht unterscheiden kann, wer von beiden Mensch und wer Maschine ist, dann kann man von der Maschine sagen, sie sei ›intelligent‹. Der Turing-Test wurde zur Standarddefinition der künstlichen Intelligenz.«

»Sehr interessant«, sagte Innes,»aber was hat das mit unserem Problem zu tun?«

»Da die Menschheit noch nichts erschaffen hat, das annähernd als künstliche Intelligenz gelten könnte, nicht einmal mit Hilfe der leistungsfähigsten Supercomputer, finde ich es doch erstaunlich, dass ein bloßes Computervirus – ein Programm, das vermutlich nur ein paar tausend Zeilen umfasst – den Turing-Test bestehen sollte. Und das mit einer Unterhaltung zu einem so abstrakten Thema wie Gott und der Sinn des Lebens.« Er deutete auf die Abschrift.»Und deshalb ist das da nicht kindisch – ganz im Gegenteil.« Er verschränkte die Arme und blickte sich um.

»Aus genau diesem Grund müssen wir noch einen Durchlauf machen«, sagte Hazelius.»Wir müssen das Ding zum Reden bringen, damit Rae es zu seinem Ursprung zurückverfolgen kann.«

Die Leute sanken auf ihren Stühlen zusammen. Niemand sprach.

»Also?«, fragte Hazelius.»Ich habe einen Vorschlag gemacht. Wir haben darüber diskutiert. Stimmen wir ab: Stöbern wir morgen diese Logikbombe auf oder nicht?«

Halbherziges Nicken und vage zustimmendes Raunen liefen durch den Raum.

Ford sagte:»Morgen findet der Protestritt statt.«

»Wir können das auf keinen Fall aufschieben«, erklärte Hazelius. Mit glühendem Blick sah er von einem zum anderen.»Also, ich bitte um Handzeichen. Wer ist dafür?«

Eine Hand nach der anderen hob sich. Nach kurzem Zögern schloss Ford sich den anderen an. Nur Dolbys Hände blieben unten.

»Ohne Sie können wir das nicht schaffen, Ken«, sagte Hazelius leise.»Isabella ist Ihr Baby.«

Kurze Pause, dann fluchte Dolby.»Also schön, verdammt, ich bin dabei.«

»Einstimmig angenommen«, sagte Hazelius.»Wir fangen morgen Mittag an. Wenn alles gutgeht, erreichen wir gegen Sonnenuntergang hundert Prozent Leistung. Und jetzt – legen wir uns aufs Ohr.«

Als Ford über das Spielfeld zu seinem Haus lief, ging Kates Satz ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es wusste es. Es wusste es.


29


Auf dem Weg zu seinem Häuschen hörte Ford, wie jemand leise seinen Namen rief, und drehte sich um. Die kleine, schlanke Gestalt Hazelius’ kam quer über das Spielfeld auf ihn zu.

»Die Ereignisse der vergangenen Nacht müssen ein Schock für Sie gewesen sein«, sagte der Projektleiter und schloss zu ihm auf.

»Allerdings.«

»Und wie denken Sie darüber?« Hazelius neigte den Kopf leicht zur Seite und schaute schräg zu Ford auf. Dieser Blick fühlte sich an, als liege man unter einem Mikroskop.

»Ich denke, dass Sie sich in eine Ecke manövriert haben, indem Sie das Problem nicht sofort gemeldet haben.«

»Was geschehen ist, ist geschehen. Ich bin erleichtert, dass Kate Ihnen davon erzählt hat. Es gefiel mir gar nicht, Sie zu täuschen. Ich hoffe aber, Sie können verstehen, warum wir vorher nicht ganz offen zu Ihnen waren.«

Ford nickte.

»Ich weiß, dass Sie Kate Ihr Stillschweigen zugesichert haben.« Er machte eine vielsagende Pause.

Ford traute sich nicht, zu antworten. Er wusste nicht, wie gut er als Lügner noch war.

»Haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte Hazelius.»Ich würde Ihnen gern die indianische Ruine weiter oben im Tal zeigen, die diese Auseinandersetzung ausgelöst hat. Außerdem könnten wir uns dann ein bisschen unterhalten.«

Sie überquerten die Straße und folgten einem Pfad durch die Pappeln, der bald in ein steiles, ausgetrocknetes Bachbett mündete, einen Seitenarm des Nakai Wash. Ford spürte, wie sein Körper und seine Sinne nach der anstrengenden Nacht wieder zum Leben erwachten. Die Sandsteinwände zu beiden Seiten der Schlucht rückten immer dichter zusammen, bis Ford die Wellen und Strudel, die uralte Fluten in dem weichen Gestein geformt hatten, hätte berühren können. Ein goldener Adler glitt über den Rand in ihr Sichtfeld. Seine Flügelspanne war so weit, wie Ford groß war, und die Männer blieben stehen, um ihn zu beobachten. Als er in weiten Spiralen außer Sicht gesegelt war, berührte Hazelius Ford an der Schulter und deutete den Canyon entlang. Etwa fünfzehn Meter hoch in der steilen Sandsteinwand der Schlucht befand sich eine kleine Anasazi-Ruine, in einem Felsvorsprung erbaut. Ein uralter, in den Fels gehauener Stufenpfad führte hinauf.

»Als ich noch jünger war«, erzählte Hazelius leise, »war ich ein arrogantes Arschloch. Ich hielt mich für viel klüger als den Rest der Welt. Ich dachte, das mache mich automatisch zu einem besseren Menschen, wertvoller als jene, die mit einer normalen Intelligenz zur Welt gekommen sind. Ich wusste nicht, woran ich glaubte, und es war mir auch egal. Ich habe mein Leben vorangetrieben und Beweise für meinen besonderen Wert gesammelt – einen Nobelpreis, die Fields-Medaille, Ehrendoktoren, Auszeichnungen, säckeweise Geld. Ich habe andere Leute als Requisiten für den Film mit mir in der Hauptrolle betrachtet. Und dann habe ich Astrid kennengelernt.«

Er hielt inne, als sie den Fuß der uralten Treppe im Fels erreichten.

»Astrid war der einzige Mensch auf der Welt, den ich jemals wirklich geliebt habe, der mich dazu gebracht hat, etwas außer mir selbst zu sehen. Dann ist sie gestorben. Jung und lebhaft, plötzlich tot in meinen Armen. Da dachte ich, alles Leben wäre zu Ende.«

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