Er blieb stehen. »Es ist schwer, das jemandem zu beschreiben, der so etwas nicht selbst durchgemacht hat.«
»Ich habe dasselbe durchgemacht«, sagte Ford, ehe er recht darüber nachgedacht hatte. Die schreckliche Kälte dieses Verlustes schlang sich um sein Herz und drückte zu.
Hazelius stützte sich mit einer Hand an den Sandstein. »Sie haben Ihre Frau verloren?«
Ford nickte. Er fragte sich, warum er mit Hazelius darüber redete, obwohl er sich in diesem Punkt nicht einmal seinem eigenen Seelenklempner geöffnet hatte.
»Wie sind Sie damit fertig geworden?«
»Gar nicht. Ich bin davongelaufen, in ein Kloster.«
Hazelius trat ein Stück näher. »Sind Sie denn ein gläubiger Mensch?«
»Ich … weiß es nicht. Ihr Tod hat meinen Glauben erschüttert. Ich musste herausfinden … wo ich stand. Woran ich eigent lich glaubte.«
»Und?«
»Je mehr ich mich bemüht habe, desto unsicherer wurde ich. Es hat mir gutgetan, zu erkennen, dass ich niemals ganz sicher sein würde. Dass ich eben doch nicht zum wahren Gläubigen geboren bin.«
»Vielleicht kann kein rationaler, intelligenter Mensch sich seines Glaubens jemals sicher sein«, sagte Hazelius. »Oder umgekehrt – ich kann mir niemals sicher sein, dass ich nicht glaube. Wer weiß, vielleicht sitzt Eddys Gott wirklich da oben – ein rachsüchtiger, sadistischer Völkermörder, bereit, jeden zu verbrennen, der nicht an ihn glaubt.«
»Als Ihre Frau starb …«, fragte Ford zögerlich, »wie sind Sie damit umgegangen?«
»Ich habe beschlossen, der Welt etwas zurückzugeben. Und da ich nun mal Physiker bin, habe ich mir Isabella einfallen lassen. Meine Frau hat immer gesagt: ›Wenn der klügste Mensch auf der Welt nicht rausfinden kann, wie wir hierhergekommen sind, wer denn dann?‹ Isabella ist mein Versuch, diese Frage zu beantworten – und viele andere. Das ist mein Glaubensbekenntnis.«
In einem kleinen Fleckchen Sonnenlicht entdeckte Ford eine junge Eidechse, die sich an die Felswand klammerte. Irgendwo über ihnen kreiste immer noch der goldene Adler, dessen schrille Rufe von den Klippen widerhallten.
»Wyman«, fuhr Hazelius fort, »wenn diese Hacker-Geschichte nach außen dringt, würde dies das Ende des Isabella-Projekts bedeuten, das Ende unserer Karrieren, und es würde die amerikanische Wissenschaft um eine Generation zurückwerfen. Das ist Ihnen doch bewusst, nicht wahr?«
Ford sagte nichts.
»Ich bitte Sie von ganzem Herzen, dieses Problem niemandem zu verraten, bis wir eine Chance hatten, es zu beseitigen. Alles andere würde unseren Ruin bedeuten – Kates Karriere eingeschlossen.«
Ford warf ihm einen scharfen Blick zu.
»Ja, ich merke, dass zwischen Ihnen beiden etwas ist«, fuhr Hazelius fort. »Etwas Gutes. Etwas Heiliges, falls ich dieses Wort dafür gebrauchen darf.«
Schön wär’s, dachte Ford.
»Geben Sie uns noch achtundvierzig Stunden Zeit, um dieses Problem zu lösen und das Isabella-Projekt zu retten. Ich flehe Sie an.«
Ford fragte sich, ob dieser unter Hochspannung stehende kleine Mann seinen wahren Auftrag kannte oder zumindest erraten hatte. Es kam ihm beinahe so vor.
»Achtundvierzig Stunden«, wiederholte Hazelius leise.
»Also gut«, sagte Ford.
»Ich danke Ihnen«, sagte Hazelius so emotional, dass seine Stimme ein wenig heiser klang. »Und jetzt hinauf mit uns.«
Ford legte die Hände auf die Stufe über seinem Kopf und folgte Hazelius langsam den gefährlichen Pfad hinauf. Die Witterung hatte die Stufenränder verwischt und glattgeschmirgelt, und Ford hatte Schwierigkeiten, mit Händen und Füßen Halt zu finden.
Als sie die kleine Ruine erreichten, blieben sie auf dem Felsvorsprung vor dem Eingang stehen, um zu verschnaufen.
»Sehen Sie.« Hazelius zeigte auf die Stelle, wo ein ehemaliger Bewohner des Hauses eine Schicht Lehmputz über die steinerne Wand gelegt hatte. Der Großteil dieses Putzes war erodiert, doch in der Nähe des hölzernen Türsturzes waren noch Handabdrücke und Reste eines Streifenmusters im getrockneten Lehm zu erkennen.
»Wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie sogar die Schleifen und Bögen in den Fingerabdrücken«, erklärte Hazelius. »Sie sind tausend Jahre alt, und dies ist alles, was von diesem Menschen geblieben ist.«
Er wandte sich dem Horizont zu. »So ist das mit dem Tod. Eines Tages, wumm. Alles weg. Erinnerungen, Hoffnungen, Träume, Häuser, geliebte Menschen, Besitz, Geld. Unsere Verwandten und Freunde verdrücken ein Tränchen, halten eine hübsche Feier ab und leben ihr Leben weiter. Wir werden zu ein paar verblassenden Fotos in einem Album. Und dann sterben jene, die uns geliebt haben, und jene, die sie geliebt haben, und bald ist auch die Erinnerung an uns ausgelöscht. Sie haben sicher schon diese alten Fotoalben in Antiquitätenläden gesehen, voller Leute, die nach der Mode des neunzehnten Jahrhunderts gekleidet sind – Männer, Frauen, Kinder. Niemand weiß mehr, wer diese Menschen sind. Wie der Mensch, der diesen Handabdruck hinterlassen hat. Fort und vergessen. Wozu?«
»Ich wünschte, ich wüsste es«, sagte Ford.
Obwohl der Tag allmählich recht warm wurde, lief Ford ein Schauer über den Rücken, als sie sich wieder an den Abstieg machten; ein Gefühl für seine eigene Sterblichkeit hatte ihn im Innersten berührt.
30
Als Ford zu Hause ankam, schloss er die Tür ab, zog die Vorhänge zu, holte den Aktenkoffer aus dem Schrank und gab die Kombination ein.
Schlaf, du Idiot, du sollst schlafen, schrie sein Körper. Stattdessen holte er den Laptop und Wolkonskis Zettel aus der Aktentasche. Er hatte bisher keinen Augenblick freie Zeit gehabt, um sich an der Entschlüsselung der Notiz zu versuchen. Im Schneidersitz, den Rücken ans Kopfteil gelehnt, setzte er sich aufs Bett und legte sich den Computer auf den Schoß. Er öffnete ein Hex-Editor-Programm und begann, die Ziffern und Buchstaben einzugeben. Erst mussten die hexadezimalen Daten dem Programm zur Verfügung stehen, ehe er damit arbeiten konnte.
Hinter dem Code konnte alles Mögliche stecken: ein kurzes Computerprogramm, eine Zahlen-oder Textdatei, ein kleines Bild, die ersten Noten von Beethovens Sinfonie Nr. 5. Er könnte sogar der private Schlüssel eines RSA-Kryptosystems sein – dann wäre er nutzlos, weil das FBI Wolkonskis privaten Computer mitgenommen hatte.
Ford nickte ein und neigte sich dabei so weit vornüber, dass schließlich der Laptop von seinem Schoß kippte. Er raffte sich auf, ging in die Küche und kochte Kaffee. Er hatte seit fast achtundvierzig Stunden nicht mehr geschlafen.
Als er den letzten Löffel Kaffeepulver in den Filter gab, spürte er einen Stich im Magen und dachte an den vielen Kaffee, den er seit Tagen in seinen Körper hineinschüttete. Also schob er die Kaffeemaschine beiseite, kramte im Schrank herum und fand ganz hinten eine Schachtel grünen Tee. Zwei Beutel, zehn Minuten ziehen lassen – und er kehrte mit einem Becher grüner Flüssigkeit ins Schlafzimmer zurück. Während er noch mehr von dem Code eingab, trank er den heißen, bitteren Tee mit großen Schlucken.
Er wollte schnell fertig werden, damit er noch ein wenig schlafen konnte, bevor er hinunter nach Blackhorse fuhr, um vor dem Protestritt ein letztes Mal mit Begay zu sprechen. Aber ihm verschwamm alles vor den Augen, während er ständig zwischen dem Blatt Papier und dem Bildschirm hin und her blickte, und er ertappte sich immer wieder dabei, wie er Fehler machte.
Er zwang sich, langsamer zu arbeiten.
Um halb elf war er fertig. Er lehnte sich zurück und glich die eingegebenen Daten ein letztes Mal mit Wolkonskis Notiz ab. Er speicherte das Dokument und ließ den Hex-Editor das Ganze von hexadezimalem in binären Code umwandeln.
Augenblicklich wurde der Code in binären Daten angezeigt – ein großer Haufen Nullen und Einsen.
Aus dem Bauch heraus aktivierte er den Modus, der binären in ASCII-Code verwandelte, und zu seiner Überraschung erschien eine kurze Botschaft in Plaintext auf dem Bildschirm.
Gratuliere, wer immer du sein magst. Haha! Deine IQ ist wenigstens bisschen besser als von normale menschliche Idiot.
Also. Ich schaffe meine dürre Arsch raus von diese Irrenhaus und gehe nach Hause. Ich hocke mit eine Flasche eiskalte Wodka und eine Joint vor die Fernseher und gucke
Affen in Affenhaus wie gegen Gitter schlagen. Haha! Und vielleicht ich schreibe lange Brief an Tante Natascha.
Ich kenne die Wahrheit, du Idiot. Ich habe die Wahnsinn durchgeschaut.
Um zu beweisen, ich gebe dir nur eine Name: Joe Blitz. Haha!
P. Wolkonski
Ford las die Botschaft zweimal durch und lehnte sich zurück. Das klang wie das irre Geschwätz eines gehetzten Menschen, der gerade den Verstand verlor. Welchen Wahnsinn hatte er gemeint? Die Malware? Isabella? Die Wissenschaftler selbst? Warum versteckte er die Botschaft in einem Code, statt einfach eine Nachricht zu hinterlassen?
Und Joe Blitz?
Ford gab den Namen bei Google ein und bekam eine Million Treffer. Er sah die ersten durch, erkannte aber keinerlei Zusammenhang.
Er holte das Satellitentelefon aus dem Koffer und starrte es an. Er hatte Lockwood in die Irre geführt. Nein, er hatte ihn belogen. Und jetzt hatte er Hazelius sogar versprochen, die Malware nicht zu erwähnen.
Verdammte Scheiße. Warum hatte er sich eingebildet, dass er nach zwei Jahren im Kloster einfach so wieder zu den Lügen und Täuschungsmanövern seiner CIA-Zeit zurückkehren könnte? Zumindest von dieser Botschaft konnte er Lockwood doch berichten. Vielleicht hatte der sogar eine Ahnung, was es mit diesem mysteriösen Joe Blitz auf sich hatte. Er wählte die Nummer.
»Ihre vierundzwanzig Stunden sind längst um«, sagte Lockwood gereizt, ohne sich Zeit für eine kurze Begrüßung zu nehmen. »Was haben Sie getrieben?«
»Ich habe neulich Nacht in Wolkonskis Haus eine Nachricht gefunden und dachte, sie wüssten vielleicht gern davon.«
»Warum haben Sie das gestern nicht erwähnt?«
»Es war nur ein abgerissenes Blatt Papier mit Computercode darauf. Ich wusste nicht, dass es wichtig ist. Aber jetzt ist es mir gelungen, den Code zu entschlüsseln.«
»Und? Wie lautet die Nachricht?«
Er las am Telefon die kurze Botschaft vor.
»Wer zum Teufel ist Joe Blitz?«, fragte Lockwood.
»Ich hatte gehofft, dass Ihnen der Name etwas sagt.«
»Ich setze meine Leute darauf an. Und auf diese Tante Natascha.«
Ford legte zögernd auf. Ihm war noch etwas aufgefallen: Die Nachricht klang nicht so, als hätte sie ein Mann verfasst, der im Begriff war, sich umzubringen.
31
Nach einem kurzen Nickerchen und einem späten Mittagessen ging Ford hinüber zum Stall. Er musste etwas Wichtiges mit Kate besprechen: Sie war offen zu ihm gewesen, und jetzt war es an ihm, ihr die Wahrheit zu sagen.
Sie füllte gerade mit dem Wasserschlauch die Pferdetränken und blickte zu ihm auf, als er eintrat. Ihr Gesicht war immer noch blass, beinahe durchscheinend vor Sorge.
»Danke, dass du dich vorhin für mich verbürgt hast«, sagte Ford. »Es tut mir leid, dass ich dich in eine so unangenehme Situation gebracht habe.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts zu danken. Ich bin nur erleichtert, dass ich jetzt nichts mehr vor dir verbergen muss.«
Er stand immer noch in der Tür und versuchte, den Mut aufzubringen und es ihr zu sagen. Sie würde es nicht gut aufnehmen – da war er sicher. Der Mut verließ ihn. Er würde es ihr später sagen, unterwegs.
»Dank Melissa glauben jetzt alle, dass wir miteinander ins Bett gehen.« Kate sah ihn an. »Sie ist unmöglich. Erst hat sie Innes nachgestellt, dann Dolby, und jetzt hat sie es auf dich abgesehen. Was die braucht, ist ein guter Fick.« Sie rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Vielleicht solltet ihr Jungs euch mal zusammensetzen und Streichhölzchen ziehen.«
»Nein, danke.« Ford ließ sich auf einem Heuballen nieder. Es war kühl im Stall, und Staubflocken tanzten durch die Luft. Auf der kleinen Stereoanlage lief auch heute Blondie.
»Wyman, es tut mir leid, dass ich dich hier nicht besonders herzlich aufgenommen habe. Ich möchte dir nur sagen, ich bin froh, dass du da bist. Ich war nie ganz glücklich damit, wie wir uns damals getrennt haben.«
»Es war ziemlich hässlich.«
»Wir waren jung und dumm. Ich bin seitdem viel vernünftiger und erwachsener geworden – ich habe wirklich viel dazugelernt.«
Ford wünschte, er hätte ihr Dossier nicht gelesen, denn er wusste, wie schmerzlich die zurückliegenden Jahre für sie gewesen sein mussten.
»Ich auch.«
Sie hob die Arme und ließ sie wieder sinken. »Da sind wir also. Wieder.«
Sie sah so hoffnungsvoll aus, wie sie in der staubigen Luft vor ihm stand, mit Heu im Haar. Und so atemberaubend schön. »Hast du Lust auf einen Ausritt?«, fragte er. »Ich will Begay noch einen Besuch abstatten.«
»Ich habe so viel zu tun …«
»Wir waren aber letztes Mal ein ziemlich gutes Team.«
Sie strich sich das Haar zurück und sah ihn an – ein langer, forschender Blick. Schließlich sagte sie: »Also gut.«
Sie sattelten zwei Pferde, Ford nahm Ballew, und ritten in südwestlicher Richtung los, auf die Sandsteinklippen am Rand des Tals zu. Kate ritt voran. Ihr schlanker Körper passte sich gekonnt dem Pferd an, schwankte in einer rhythmischen, beinahe erotischen Bewegung mit. Ein zerknautschter australischer Cowboyhut saß auf ihrem Kopf, und ihr schwarzes Haar flatterte leicht im Wind.
O Gott, wie soll ich es ihr nur sagen?
Als sie sich dem Rand der Mesa näherten, wo der Midnight Trail durch eine Felsspalte hinunterführte, trieb Ford Ballew voran, bis er neben ihr ritt. Drei Meter vor dem Rand der Klippe hielten sie an. Kate starrte zum Horizont hinüber, einen bekümmerten Ausdruck auf dem Gesicht. Der Wind stieg in kräftigen Böen von unten auf und trug Wolken unsichtbaren Staubs mit sich. Ford spuckte den knirschenden Staub aus und rutschte im Sattel herum. »Denkst du immer noch über das nach, was gestern Nacht passiert ist?«, fragte er.
»Ich kann gar nicht mehr aufhören, daran zu denken. Wyman, wie konnte es diese Zahlen erraten?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie blickte über die weite rote Wüste hinaus, die sich bis zu blauen Bergen und von Wolken verhüllter Unendlichkeit hinzog. »Wenn man das hier so sieht«, murmelte sie, »fällt es einem nicht schwer, an Gott zu glauben. Ich meine, wer weiß? Vielleicht ist es Gott, mit dem wir sprechen.«
Sie strich sich das Haar zurück und sah ihn mit schiefem Lächeln an.
Ford war erstaunt. Das war eine völlig andere Kate als die überzeugte Atheistin, die er an der Universität kennengelernt hatte. Wieder einmal fragte er sich, was in jenen fehlenden zwei Jahren geschehen sein mochte.
32
Booker Crawley schob sich die Churchill zwischen die Lippen, während er das Billard-Spiel aufbaute. Als er mit der Anordnung zufrieden war, stieß er den Spielball mit einem entschiedenen Knall an und sah zu, wie die kleinen Kugeln ihre Bahnen liefen.
»Nett«, sagte sein Mitspieler, als die Kugel mit der Nummer drei in der ledernen Tasche landete.
Durch eine Reihe schmaler Fenster sah er die Sonne auf dem Fluss glitzern. Es war ein angenehmer Donnerstagvormittag im Potomac Club, die meisten Mitglieder bei der Arbeit. Crawley war auch bei der Arbeit, zumindest betrachtete er es so – er bespaßte gerade einen potenziellen Klienten, der eine Insel vor Kap Hatteras besaß und wollte, dass die Regierung zwanzig Millionen für eine Brücke auf seine Insel ausgab. Eine solche Brücke würde den Wert seiner spekulativen Investition, der Insel nämlich, verdoppeln oder verdreifachen. Für Crawley war das ein Kinderspiel. Der Junior Senator von North Carolina schuldete ihm nach diesem Golftrip nach St. Andrews einen Gefallen, und auf diesen Mann konnte man zählen, denn er war loyal und wusste solche netten Anreize zu schätzen. Ein Anruf, eine kleine Anweisung am offiziellen Budget vorbei, und Crawley würde dem Immobilienspekulanten Millionen einbringen und ein siebenstelliges Honorar dafür einstreichen. Wenn Alaska eine Brücke ins Nirgendwo bauen konnte, dann sollte North Carolina doch auch eine haben.
Er beobachtete, wie der Spekulant seinen Stoß vorbereitete. Der Mann gehörte zu diesem ganz besonderen Stamm Südstaatlern, die drei Nachnamen und obendrein eine römische Zahl dahinter aufwiesen. Safford hieß er, Safford Montague McGrath III. McGrath war von bester schottisch-irischer Abstammung, ein großer, blonder, fescher Spross des Großgrundbesitzertums in den Südstaaten. Mit anderen Worten, er war dumm wie eine Kuh im Regen. McGrath tat gern so, als wisse er genau, wie der Hase in Washington lief, doch es war offensichtlich, dass er in jedem seiner Landlümmel-Ohren eine dicke Bohne stecken hatte. Crawley hatte das Gefühl, dass der Kerl um das Honorar feilschen würde wie auf dem Viehmarkt. Er gehörte zu der Sorte Männer, die eine Verhandlung stets mit dem Gefühl beenden mussten, der anderen Seite das letzte Hemd ausgezogen zu haben, weil sie sonst zu Hause keinen mehr hochkriegten.
»Und, wie geht es Senator Stratham denn so?«, erkundigte sich McGrath, als würde er den Alten von früher kennen.
»Gut, ganz prächtig.« Zweifellos genoss der alte Knabe heutzutage seine Erbsen nur noch püriert oder trank gleich Flüssignahrung aus dem Strohhalm. In Wahrheit hatte Crawley niemals mit dem alten Senator Stratham zusammengearbeitet; er hatte die Firma Stratham & Co. gekauft, als Stratham sich zur Ruhe gesetzt hatte. Damit hatte Crawley sich den Nimbus der Achtbarkeit erkauft, eine Verbindung zur guten alten Zeit, was ihn auf angenehme Weise von den anderen Lobbyisten der K Street abhob, die nach der letzten Wahl wie die Pilze aus dem Boden geschossen waren.
McGraths nächster Ball berührte die Ecke, kullerte vor der Tasche vorbei und trieb über den Filz ab. Der Mann richtete sich stumm auf, presste aber die Lippen zusammen.
Crawley hätte ihn mit verbundenen Augen vom Tisch putzen können, aber das ging natürlich nicht. Nein – das Beste war, bis kurz vor Schluss dichtauf zu bleiben und dann zu verlieren. Er wollte den Deal abschließen, wenn der Kerl im Triumphrausch schwelgte.
Also versaute er den nächsten Stoß, aber so knapp, dass es echt aussah.
»Netter Versuch«, sagte McGrath. Er tat einen tiefen Zug an seiner Zigarre, legte sie in dem marmornen Aschenbecher ab, beugte sich vor und zielte. Dann der Stoß. Offensichtlich hielt er sich für einen verdammt tollen Spieler, doch er besaß nicht genug Finesse für Poolbillard. Trotzdem, dieser Stoß war einfach, und der Ball ging in die Tasche.
»Puh«, sagte Crawley. »Sie machen es mir wirklich nicht leicht, Safford.«
Ein Angestellter des Clubs trat ein, mit einer Nachricht auf einem Silbertablett. »Mr. Crawley?«
Crawley nahm mit großer Geste den Umschlag vom Tablett. Das Management des Clubs, dachte er lächelnd, hielt sich eben immer noch an das bewährte System einer kleinen Armee guter, alter, dunkelhäutiger Diener, die mit Nachrichten auf Silbertabletts herumschwebten – sehr nostalgisch. Ein Briefchen von einem Silbertablett entgegenzunehmen war schon verdammt viel angenehmer, als die Taschen nach einem schrillenden Handy zu durchwühlen.
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment, Safford.« Crawley faltete den Brief auf. Da stand Delbert Yazzie, Vorsitzender Navajo Nation, Anruf um 11.35 Uhr. Bitte so bald wie möglich zurückrufen. Dann eine Telefonnummer.
Wenn Crawley einen potenziellen Kunden umgarnte, machte er gern deutlich, dass er mindestens einen Klienten hatte, der noch wichtiger war. Die Leute verloren den Respekt, wenn sie glaubten, sie seien die Nummer eins.
»Ich bedaure sehr, Safford, aber diesen Anruf muss ich dringend erwidern. Bestellen Sie uns doch in der Zwischenzeit noch eine Runde Martini.«
Er eilte in eine der mit Eichenholz vertäfelten Telefonkabinen, die auf jedem Stockwerk zur Verfügung standen, schloss sich ein und wählte. Gleich darauf hatte er Delbert Yazzie am Apparat.
»Mr. Booker Crawley?« Die Stimme des Navajo klang schwach, alt und zittrig, als spreche Crawley mit Timbuktu.
»Wie geht es Ihnen, Mr. Yazzie?« Crawley achtete darauf, dass sein Tonfall freundlich, aber entschieden kühl klang.
Kurzes Schweigen. »Hier hat sich etwas Unerwartetes ergeben. Haben Sie schon mal von diesem Fernsehprediger gehört, Don T. Spates?«
»Ja, allerdings.«
»Also, seine Predigt hat hier draußen schon ganz schön Staub aufgewirbelt, und das nicht nur bei unseren eigenen Leuten. Wie Sie wissen, wird in der Navajo Nation eifrig missioniert. Jetzt muss ich hören, dass diese Sache vielleicht auch in Washington ein Problem werden könnte.«
»Ja«, sagte Crawley. »Das ist es bereits.«
»Ich glaube allmählich, das könnte das Isabella-Projekt gefährden.«
»Ganz sicher.« Crawley spürte eine Woge des Triumphs in sich aufsteigen. Er hatte Spates vor nicht einmal einer Woche angerufen. Das hier dürfte eines der Meisterstücke seiner Karriere werden.
»Na ja, Mr. Crawley, was können wir denn dagegen tun?«
Crawley zog sein Schweigen bewusst in die Länge. »Nun, ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas dagegen tun könnte. Ich hatte den Eindruck, dass Sie unsere Dienste nicht länger in Anspruch nehmen möchten.«
»Unser Vertrag mit Ihnen läuft erst in sechs Wochen aus. Wir haben bis zum ersten November bezahlt.«
»Mr. Yazzie, wir sprechen hier nicht über eine Mietwohnung. So läuft das in Washington nicht. Das tut mir leid. Unsere Arbeit für das Isabella-Projekt ist bedauerlicherweise auf Ihren Wunsch hin beendet.«
Knistern und Zischen in der Leitung. »Die Pacht zu verlieren, die wir von der Regierung für das Isabella-Projekt bekommen, wäre ein herber Schlag für die Navajo Nation.«
Crawley blieb stumm, den Hörer in der Hand.
»Soweit ich höre, will Spates in seiner Fernsehsendung morgen Abend wieder über das Isabella-Projekt herfallen. Und wir hören Gerüchte, mit Isabella soll etwas nicht stimmen. Einer der Wissenschaftler hat Selbstmord begangen. Mr. Crawley, ich werde mich mit dem Stammesrat zusammensetzen und zusehen, ob wir den Vertrag mit Ihnen verlängern können. Wir werden Ihre Hilfe wohl doch noch länger brauchen.«
»Ich bedaure sehr, Mr. Yazzie, aber wir haben an Ihrer Stelle einen neuen Klienten angenommen. Das tut mir wirklich aufrichtig leid – aber, wenn ich das sagen darf, ich hatte Sie eigens darauf hingewiesen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich das bedauere, auch ganz persönlich. Vielleicht finden Sie ein anderes Unternehmen, das sich Ihres Falles annimmt? Ich könnte Ihnen einige empfehlen.«
Die schlechte Verbindung füllte das Schweigen mit seltsamem Rauschen. Crawley hörte eine schwache, geisterhafte Unterhaltung vor dem Hintergrund der Statik. Herrgott, was hatten die da draußen eigentlich für ein Telefonnetz? Vermutlich waren das noch die Telegrafenleitungen, die Kit Carson persönlich verlegt hatte.
»Es würde zu lange dauern, bis ein anderes Unternehmen sich richtig eingearbeitet hat. Wir brauchen Crawley and Stratham. Wir brauchen Sie.«
Wir brauchen Sie. O Gott, das war Musik in seinen Ohren.
»Tut mir schrecklich leid, Mr. Yazzie. Diese Art von Auftrag erfordert viel Einsatz. Sehr personal-und zeitintensiv. Und wir sind bis oben hin ausgebucht. Wenn ich Ihren Fall jetzt wieder annehme … Dann müsste ich mehr Leute einstellen, vielleicht sogar mehr Büroraum anmieten.«
»Wir würden Ihnen gern …«
Crawley unterbrach ihn. »Mr. Yazzie, das tut mir wirklich schrecklich leid, aber Sie haben mich kurz vor einem wichtigen Termin erwischt. Wären Sie wohl so freundlich, mich am Montagnachmittag wieder anzurufen, sagen wir, gegen vier Uhr, Eastern Standard Time? Ich möchte Ihnen wirklich helfen, und ich verspreche Ihnen, dass ich mir ein paar Gedanken zu Ihrem Fall machen werde. Morgen Abend sehe ich mir Spates’ Sendung an, und Sie und Ihr Stammesrat sollten das auch tun, damit wir eine genauere Vorstellung davon haben, womit wir es zu tun bekommen. Wir unterhalten uns am Montag darüber.«
Er trat aus der kleinen Kabine, blieb stehen, um seine Zigarre wieder anzuzünden, und inhalierte tief. Wie süßes, berauschendes Parfüm war dieser Rauch. Die komplett versammelte Stammesregierung, die sich Spates’ Sendung anschaute – ein Bild für die Götter. Spates sollte seine Sache lieber gut machen.
Er rauschte zurück in den Billardsalon, eine Rauchfahne hinter sich herziehend und völlig von der eigenen Großartigkeit überzeugt, doch als er Safford gebückt am Tisch stehen und alle Winkel begutachten sah, verflog seine gute Laune ein wenig. Es war an der Zeit, den Wurm an die Angel zu hängen.
Crawley war dran, und Safford hatte den Spielball dummerweise prächtig vorgelegt.
Nach fünf Minuten war das Spiel vorbei. Safford hatte verloren – übelst.
»Na«, sagte Safford, griff nach seinem Martini und lächelte sportlich, »ich werde es mir gut überlegen, ob ich je wieder mit Ihnen Billard spiele, Booker.« Er rang sich ein gekünsteltes Lachen ab. »Und nun zu Ihrem Honorar«, fuhr er fort und setzte ein wahres High-Noon-Gesicht auf. »Unter keinen Umständen können wir das Preisniveau, das Sie in Ihrem Brief erwähnten, auch nur in Erwägung ziehen. Das gibt unser Budget einfach nicht her. Es erscheint mir auch nicht angemessen für den erforderlichen Arbeitsaufwand, wenn ich offen sprechen darf.«
Crawley räumte sein Queue in den Ständer und warf die Zigarre in den Sandeimer. Den Martini ließ er stehen, ohne ihn auch nur anzurühren, und würdigte den Mann keines Blickes, als er sagte: »Ich fürchte, es ist etwas dazwischengekommen, Safford. Ich bin leider gezwungen, unser Mittagessen abzusagen.«
Dann erst drehte er sich um, um den Gesichtsausdruck des Immobilienspekulanten zu genießen. Der Mann stand da – mit Queue, Zigarre, Martini und allem Drum und Dran – und sah aus, als hätte er eben einen Schlag auf den Kopf bekommen.
»Wenn Sie es sich anders überlegen, was unser Honorar angeht, rufen Sie mich doch an«, fügte Crawley hinzu und stolzierte hinaus.
Safford Montague McGrath III. würde heute Abend keinen hochkriegen, so viel war sicher.
33
Ford hatte die Mesa hinter sich gelassen und ritt die Schlucht in Richtung Blackhorse entlang. Kate holte zu ihm auf und ritt nun neben ihm her. Auf halbem Weg die Schlucht entlang hörte er ein Pferd leise wiehern und drehte sich um. »Da kommt jemand, hinter uns«, sagte er und brachte Ballew zum Stehen.
Hinter einem Dickicht von Tamarisken war Hufschlag zu hören, und gleich darauf kam ein hochgewachsener Mann auf einem kräftigen Quarterhorse aus dem Gebüsch. Es war Bia. Der Lieutenant der Stammespolizei hielt an und grüßte mit der Hand an der Hutkrempe. »Machen Sie einen Ausritt?«, erkundigte er sich.
»Wir sind auf dem Weg nach Blackhorse«, sagte Ford.
Bia lächelte. »Ein schöner Tag für einen Spazierritt, nicht zu heiß, leichte Brise.« Er legte die Hände auf den Sattelknauf. »Ich nehme an, Sie wollen Nelson Begay besuchen.«
»So ist es«, sagte Ford.
»Er ist ein guter Mann«, sagte Bia. »Wenn ich befürchten müsste, dass es bei seinem Protestritt Ärger gibt, hätte ich Ihnen schon den Schutz der Stammespolizei angeboten. Aber ich denke, das wäre eher kontraproduktiv.«
»Ganz Ihrer Meinung«, sagte Ford, der froh war, es mit einem so verständigen Mann zu tun zu haben.
»Die sollen ruhig ihr Ding machen. Ich behalte sie im Auge – aber diskret.«
»Ich danke Ihnen.«
Bia nickte und beugte sich vor. »Wo Sie gerade da sind, würde ich Ihnen gern ein, zwei Fragen stellen, wenn Sie nichts dagegen haben?«
»Nur zu«, sagte Ford.
»Dieser Peter Wolkonski – ist er gut mit den anderen ausgekommen?«
Kate antwortete: »Meistens schon.«
»Keiner, der ihn nicht riechen konnte? Meinungsverschiedenheiten?«
»Er war ein bisschen hitzig, aber damit hatten wir kein Problem.«
»War er ein wichtiges Mitglied Ihres Teams?«
»Eines der wichtigsten.«
Bia zupfte an seinem Hut. »Der Mann wirft ein paar Klamotten in einen Koffer und fährt los. Es ist neun Uhr, plus oder minus eine Stunde, der Mond ist schon aufgegangen. Er fährt etwa zehn Minuten lang, verlässt dann die Straße und fährt knapp fünfhundert Meter weit durch die Wüste. Kommt an eine tiefe Schlucht. Parkt den Wagen auf einem Abhang dicht am Rand, zieht die Handbremse, stellt den Motor ab, nimmt den Gang raus. Dann hält er sich mit der linken Hand eine Waffe an den Kopf, löst mit der rechten Hand die Handbremse, schießt sich eine Kugel in die linke Schläfe, und der Wagen stürzt über den Rand in die Schlucht.«
Er hielt inne. Der Schatten seiner Hutkrempe verbarg seine Augen.
»Glauben Sie, dass es sich so abgespielt hat?«, fragte Kate.
»So hat es das FBI rekonstruiert.«
»Aber Sie glauben das nicht«, stellte Ford fest.
Aus dem Streifen tiefen Schattens unter seiner Hutkrempe hervor schien Bia ihn intensiv zu mustern. »Glauben Sie es denn?«
»Ich finde es etwas seltsam, dass er seinen Wagen von einer Klippe hat rollen lassen, nachdem er sich erschossen hat«, erwiderte Ford. Er dachte an die Nachricht. Sollte er Bia davon erzählen? Nein, es war besser, wenn Lockwood das aufklärte.
»Also, eigentlich«, sagte Bia, »ist das für mich noch der glaubhafteste Teil.«
»Wundert es Sie, dass er vorher noch einen Koffer gepackt hat?«
»Manche Selbstmörder machen so etwas. Der Suizid ist dann oft eine spontane Sache.«
»Wo sehen Sie dann das Problem?«
»Mr. Ford, woher wussten Sie, dass da draußen ein Wagen war?«
»Ich habe die frischen Reifenspuren und abgeknickte Zweige im Gebüsch gesehen – und die vielen Geier.«
»Aber die Schlucht haben Sie nicht gesehen?«
»Nein.«
»Weil sie von der Straße aus gar nicht zu sehen ist – ich habe das überprüft. Woher wusste Wolkonski dann, dass sie da war?«
»Er war fix und fertig, ist in die Wüste gefahren, um sich zu erschießen, hat dabei zufällig die Schlucht gefunden und beschlossen, die Sache damit noch sicherer zu machen.« Ford glaubte sich selbst nicht ganz; er fragte sich, ob Bia ihm das abnehmen würde.
»Genau das glaubt auch das FBI.«
»Aber Sie nicht.«
Bia richtete sich auf und berührte erneut die Hutkrempe. »Wir sehen uns.«
»Warten Sie«, sagte Kate.
Bia zögerte.
»Sie glauben doch nicht, dass einer von uns ihn getötet haben könnte?«, fragte Kate.
Bia fegte einen abgerissenen Zweig von seinem Oberschenkel. »Ich will es mal so ausdrücken: Wenn es kein Selbstmord war, dann war das ein sehr, sehr intelligenter Mord.«
Damit hob er ein weiteres Mal die Hand zum Hut, trieb sein Pferd voran und ritt an ihnen vorbei.
Ford dachte nur: Wardlaw.
34
Blackhorse sah heute noch trübseliger aus als bei Fords erstem Besuch am Montag – eine einsame Ansammlung staubiger Trailer, die sich zwischen den Flanken der Red Mesa und einer niedrigen gelblichen Hügelkette zusammendrängten. Der typische Geruch des überall wuchernden Wiesenknöterichs hing in der Luft. Auf dem kahlen, freien Platz, wo letztes Mal die Kinder gespielt hatten, schwang eine Schaukel einsam im Wind hin und her. Ford fragte sich, wo die Schule sein mochte – vermutlich in Blue Gap, fünfundvierzig Kilometer weit weg.
Nicht gerade schön, hier aufzuwachsen. Andererseits hatte diese Navajo-Siedlung eine beinahe klösterliche Leere und Stille an sich, die Ford angenehm fand. Navajos häuften keinen Besitz an, wie andere Leute das oft taten. Sogar ihre Häuser waren spärlich eingerichtet.
Als sie auf die Viehpferche zuritten, entdeckte Ford Nelson Begay; er beschlug gerade ein Pferd, das an einen Zedernholzpfosten angebunden war. Mit ein paar wohlgezielten Hammerschlägen formte er das Hufeisen auf einem Amboss. Die Schläge hallten von der Felswand der Mesa wider.
Begay legte Hammer und Hufeisen klappernd ab und richtete sich auf, als er sie näher kommen sah.
Ford und Kate hielten, stiegen ab und banden ihre Pferde an den Zaun des Pferchs. Ford hob die Hand zum Gruß, und Begay winkte sie heran.
»Das ist Dr. Kate Mercer, die stellvertretende Leiterin des Isabella-Projekts.«
Begay lüpfte den Hut vor Kate. Sie trat zu ihm und reichte ihm die Hand.
»Sie sind Physikerin?«, fragte Begay und beäugte sie skeptisch.
»Ja.«
Begays Augenbrauen hoben sich ein wenig. Dann wandte er ihr sehr bedächtig den Rücken zu, stemmte die Schulter gegen die Flanke des Pferdes, hob das Hinterbein an und beschäftigte sich damit, das Hufeisen anzupassen. Dann legte er es wieder auf den Amboss und schlug noch ein paarmal drauf.
Während Ford dastand und über die kulturellen Empfindlichkeiten der Navajos nachgrübelte, sagte Kate zu Begays blaukariertem Rücken: »Wir hätten gern mit Ihnen gesprochen.«
»Dann sprechen Sie.«
»Ich unterhalte mich ungern mit dem Rücken eines Menschen.«
Begay ließ das Pferdebein sinken und richtete sich auf. »Also, hören Sie, Ma’am, ich hab Sie nicht gebeten, herzukommen, und im Moment bin ich leider beschäftigt.«
»Kommen Sie mir nicht mit ›Ma’am‹. Ich habe einen Doktortitel.«
Begay hustete, legte sein Werkzeug weg und sah sie mit ausdrucksloser Miene an.
»Und?«, fragte sie. »Wollen wir hier in der heißen Sonne herumstehen, oder werden Sie uns auf einen Kaffee hereinbitten?«
Gereiztheit, vermengt mit Belustigung, zeichnete sich auf Begays Gesicht ab. »Also schön, also schön, kommen Sie rein.«
Wieder saß Ford in dem kargen Wohnzimmer mit den Militärfotos an der Wand. Während Begay Kaffee einschenkte, ließen Ford und Kate sich auf dem braunen Sofa nieder. Als sie volle Becher vor sich hatten, nahm Begay in dem kaputten Ledersessel Platz. »Sind alle weiblichen Wissenschaftler so wie Sie?«
»Wie denn?«
»Wie meine Großmutter. Sie lassen ein ›Nein‹ einfach nicht gelten, oder? Sie könnten selbst eine Diné sein. Moment mal« – er beugte sich vor und musterte ihr Gesicht –, »Sie sind doch nicht …?«
»Ich bin zur Hälfte Japanerin.«
»Aha.« Er lehnte sich zurück. »Na schön. Da wären wir also.«
Ford wartete ab, was Kate sagen würde. Sie hatte schon immer ein Händchen für den Umgang mit Leuten gehabt, wie sie bei Begay gerade eben bewiesen hatte. Er war neugierig, wie sie ihn anpacken würde.
»Ich hatte mich gefragt«, begann Kate, »was genau eigentlich ein Medizinmann ist.«
»Ich bin so etwas wie ein Arzt.«
»Inwiefern?«
»Ich führe Zeremonien durch. Ich heile Menschen.«
»Was sind das für Zeremonien?«
Begay antwortete nicht.
»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht aufdringlich sein«, sagte Kate und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Das ist bei mir sozusagen beruflich bedingt.«
»Na ja, ich habe nichts gegen die Frage, ich mag nur keine reine Neugier. Ich führe verschiedene Zeremonien durch – sie heißen Blessing Way, Enemy Way und Falling Star Way.«
»Was bewirken diese Zeremonien?«
Begay brummte, nippte an seinem Kaffee und entspannte sich ein wenig. »Die Blessing-Way-Zeremonie stellt Gleichgewicht und Schönheit im Leben eines Menschen wieder her – nach Problemen mit Drogen oder Alkohol oder einer Gefängnisstrafe. Enemy Way ist für Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehren. Diese Zeremonie reinigt sie, nachdem sie getötet haben. Denn wenn man tötet, bleibt ein bisschen von diesem Bösen an einem Menschen haften, auch wenn Krieg herrscht und die Tötung rechtmäßig war. Wenn man dieses Ritual nicht durchführt, wird das Böse diesen Menschen zerfressen.«
»Unsere Ärzte nennen das eine posttraumatische Belastungsstörung«, bemerkte Kate.
»Ja«, sagte Begay. »Wie bei meinem Neffen Lorenzo, er war im Irak … Er wird nie wieder derselbe sein.«
»Und heilt die Enemy-Way-Zeremonie diese posttraumatische Störung?«
»In den meisten Fällen, ja.«
»Das ist sehr interessant … Und der Falling Star Way?«
»Das ist eine Zeremonie, über die wir nicht sprechen«, erklärte Begay kurz angebunden.
»Würden Sie denn eventuell auch eine Zeremonie für einen Nicht-Navajo durchführen?«
»Warum, brauchen Sie eine?«
Kate lachte. »Ich könnte mal eine ordentliche Blessing-Way-Reinigung vertragen.«
Begay wirkte beleidigt. »Das ist keine leichtfertige Angelegenheit. Dazu braucht es sehr umfangreiche Vorbereitungen, und Sie müssen daran glauben, damit es funktioniert. Viele Bilagaana haben Schwierigkeiten damit, an etwas zu glauben, das sie nicht mit eigenen Augen sehen können. Oder New-Age-Anhänger, denen die harten Vorbereitungen nicht schmecken – Schwitzhütte, Fasten, sexuelle Enthaltsamkeit. Aber ich würde auch einem Bilagaana die Zeremonie nicht verweigern, nur weil er ein Weißer ist.«
»Ich wollte mich keineswegs darüber lustig machen«, sagte sie. »Es ist nur … Ich frage mich schon so lange, was das alles für einen Sinn haben soll. Was wir hier eigentlich tun.«
Er nickte. »Willkommen im Club.«
Nach langem Schweigen sagte Kate: »Danke, dass Sie uns davon erzählt haben.«
Begay lehnte sich zurück und legte die Hände auf die Knie. »In der Kultur der Diné gilt es als weise, Informationen auszutauschen. Ich habe Ihnen etwas von meiner Arbeit erzählt. Jetzt würde ich gern mehr über Ihre erfahren. Mr. Ford hier hat mir gesagt, dass Sie da oben beim Isabella-Projekt etwas erforschen, was sich Urknall nennt.«
»So ist es.«
»Ich habe darüber nachgedacht. Wenn das Universum durch einen Urknall erschaffen wurde, was kam dann vor dem Knall?«
»Das weiß niemand. Viele Physiker glauben, dass es vorher gar nichts gab. Ja, dass es nicht einmal ein ›vorher‹ gab. Dass die Existenz selbst erst mit dem Urknall angefangen hat.«
Begay stieß einen Pfiff aus. »Was hat dann den Urknall verursacht?«
»Es ist sehr schwierig, das einem Nichtwissenschaftler zu erklären.«
»Lassen Sie’s drauf ankommen.«
»Die Theorie der Quantenmechanik besagt, dass manche Dinge einfach passieren können, ohne jede Ursache.«
»Sie meinen, Sie kennen die Ursache nicht.«
»Nein, ich meine, dass es keine Ursache gibt. Es könnte sein, dass die plötzliche Entstehung des Universums aus dem Nichts tatsächlich keinem physikalischen Gesetz widerspricht beziehungsweise weder als unnatürlich noch als unwissenschaftlich anzusehen ist. Vorher gab es absolut nichts. Keinen Raum, keine Zeit, nichts existierte. Und dann ist es einfach geschehen – es entstand Existenz.«
Begay starrte sie an und schüttelte dann den Kopf. »Sie reden wie mein Neffe Lorenzo. Kluger Junge, Vollstipendium an der Columbia University, hat dort Mathematik studiert. Das hat ihn versaut – die ganze Bilagaana-Welt hat ihn um den Verstand gebracht. Hat das Studium abgebrochen, ist in den Irak gegangen, und als er zurückkam, glaubte er an gar nichts mehr. Und ich meine damit: wirklich nichts. Jetzt verdient er sein Geld damit, eine verdammte Kirche zu fegen. Zumindest bis er neulich einfach abgehauen ist.«
»Und Sie geben der Wissenschaft die Schuld daran?«, fragte Kate.
Begay schüttelte den Kopf. »Nein, nein, natürlich nicht. Nur als ich gerade gehört habe, wie Sie so reden, dass die Welt aus dem Nichts entstanden sei, das hörte sich an wie der Unsinn, den er oft von sich gibt … Wie konnte die Schöpfung einfach passieren?«
»Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Stephen Hawking hat die Idee postuliert, dass es vor dem Urknall noch keine Zeit gab. Ohne Zeit kann es keinerlei definierbare Existenz geben. Hawking hat es geschafft, mathematisch zu beweisen, dass die Nicht-Existenz dennoch eine Art räumliches Potenzial besitzt, und dass Raum sich unter bestimmten merkwürdigen Umständen in Zeit verwandeln kann und umgekehrt. Wenn ein winzig kleines Stück Raum sich in Zeit verwandelt, dann würde dieses Erscheinen der Zeit den Urknall auslösen – weil es plötzlich Bewegung geben konnte, Ursache und Wirkung, echten Raum und echte Energie. Er hat nachgewiesen, dass die Zeit all das möglich macht. Für uns sieht der Urknall aus wie eine Explosion aus Raum, Zeit und Materie von einem einzigen Punkt aus. Aber jetzt kommt das wirklich Seltsame. Wenn man diesen Sekundenbruchteil betrachtet, in dem das passiert, dann sieht man, dass es überhaupt keinen Anfang gab – es scheint so, als hätte die Zeit schon immer existiert. Deshalb haben wir eine Theorie über den Urknall, die sich in ihren beiden Aussagen zu widersprechen scheint: erstens, dass die Zeit nicht schon immer existiert hat; und zweitens, dass die Zeit keinen Anfang hat. Was bedeutet, dass Zeit ewig ist. Beides stimmt. Und wenn man mal wirklich darüber nachdenkt, erkennt man Folgendes: Wenn die Zeit vorher nicht existierte, dann kann es keinen Unterschied zwischen der Ewigkeit und einer Sekunde gegeben haben. Sobald also die Zeit erst einmal existierte, hatte sie schon immer existiert. Es gab keine Zeit, in der sie nicht existiert hätte.«
Begay schüttelte den Kopf. »Das ist doch total verrückt.«
Unbehagliches Schweigen senkte sich über das schäbige Wohnzimmer.
»Haben die Navajos eine Schöpfungsgeschichte?«, fragte Kate.
»Ja. Wir nennen sie Diné Bahané. Sie ist nirgends aufgeschrieben. Man muss sie auswendig lernen. Es dauert neun Nächte, sie vollständig zu singen. Das ist das Blessing-Way-Ritual, von dem ich Ihnen erzählt habe – ein Gesang, der die Schöpfungsgeschichte dieser Welt erzählt. Wenn man sie in Gegenwart eines kranken Menschen singt, wird er von der Geschichte geheilt.«
»Sie haben sie auswendig gelernt?«
»Natürlich, mein Onkel hat sie mir beigebracht. Hat fünf Jahre gedauert.«
»Etwa so lange, wie ich für meinen Doktortitel gebraucht habe.«
Begay schien sich über diesen Vergleich zu freuen.
»Würden Sie mir ein paar Zeilen vorsingen?«
Begay erwiderte: »Der Blessing-Way-Gesang sollte nie beiläufig angestimmt werden.«
»Ich weiß nicht, ob unsere Unterhaltung hier wirklich beiläufig ist.«
Er sah ihr lange in die Augen. »Ja, das ist wahr.«
Begay schloss die Augen. Als er den Mund öffnete, klang seine Stimme schrill und zittrig, und er sang in einer fremdartigen Fünftonleiter. Die nichtwestlichen Harmonien und der Klang der Navajo-Worte – einige wenige kannte Ford, die meisten nicht – erfüllten Ford mit einer Sehnsucht nach etwas, das er nicht benennen konnte. Nach etwa fünf Minuten verstummte Begay. Seine Augen waren feucht. »So fängt es an«, sagte er leise. »Die schönste Po esie, die je ersonnen wurde, zumindest meiner Meinung nach.«
»Könnten Sie das für uns übersetzen?«, bat Kate.
»Ich hatte gehofft, dass Sie mich nicht darum bitten würden. Also gut, bitte sehr.« Begay holte tief Luft.
»Daran denkt er, denkt er.
Vor langer Zeit, daran denkt er.
Wie die Dunkelheit entstehen wird, denkt er.
Wie die Erde entstehen wird, denkt er.
Wie der blaue Himmel entstehen wird, denkt er.
Wie der gelbe Morgen entstehen wird, denkt er.
Wie die Abenddämmerung entstehen wird, denkt er.
Wie Tau auf dunklem Moos entstehen wird, denkt er.
An Ordnung denkt er, an Schönheit denkt er.
Wie alles sich vermehren kann, ohne zu verlieren, denkt er.«
Begay hielt inne. »In Ihrer Sprache hört es sich nicht gut an, aber so ähnlich könnte man es übersetzen.«
»Wer ist ›er‹?«, fragte Kate.
»Der Schöpfer.«
Kate lächelte. »Sagen Sie mir, Mr. Begay: Wer hat den Schöpfer geschaffen?«
Begay zuckte mit den Schultern. »Das sagt uns die Geschichte nicht.«
»Was war vor Ihm?«
»Wer weiß?«
Kate sagte: »Offenbar haben unser beider Schöpfungsgeschichten ein Problem mit der Urheberschaft.«
Vom Spülbecken her unterbrach tröpfelndes Wasser die Stille, dann noch ein Tropfen, und noch einer. Schließlich stand Begay auf und humpelte hinüber, um den Hahn zuzudrehen. »Das war eine interessante Unterhaltung«, sagte er, als er zurückkehrte. »Aber da draußen gibt es noch die echte Welt, und in der steht ein Pferd herum, das neue Hufeisen braucht.«
Sie traten hinaus ins grelle Sonnenlicht. Auf dem Weg zum Pferch bemerkte Ford: »Mr. Begay, wir wollten Ihnen auch noch sagen, dass wir morgen einen Durchlauf mit Isabella vorhaben. Alle werden unter der Erde sein. Wenn Sie und Ihre Reiter kommen, werde nur ich da sein können, um Sie zu begrüßen.«
»Wir hatten nicht vor, jemandem einen gesellschaftlichen Besuch abzustatten.«
»Ich wollte nur nicht, dass Sie den Eindruck bekommen, wir würden Sie absichtlich ignorieren.«
Begay tätschelte sein Pferd und strich ihm über die Flanke. »Hören Sie, Mr. Ford, wir haben unsere eigenen Pläne. Wir werden eine Schwitzhütte bauen, einige Zeremonien abhalten und mit der Erde sprechen. Wir werden vollkommen friedlich sein. Wenn die Polizei kommt, um uns festzunehmen, werden wir ruhig abziehen.«
»Die Polizei wird nicht kommen«, sagte Ford.
Begay wirkte enttäuscht. »Keine Polizei?«
»Sollen wir sie denn für Sie rufen?«, fragte Ford trocken.
Begay lächelte. »Ich nehme an, ich habe mir eingebildet, mich für die gute Sache verhaften zu lassen.« Er wandte ihnen den Rücken zu, hob mit einer Hand das Bein des Pferdes an und zückte mit der anderen ein scharfes Messer. »Ruhig, Junge«, murmelte er und begann, das Horn zuzurichten.
Ford warf Kate einen Blick zu. Auf dem Heimweg würde er ihr endlich die Wahrheit sagen.
35
Als Ford und Kate das Plateau der Mesa erreichten, stand die Sonne schon so tief, dass sie auf dem Horizont zu wackeln schien. Während sie still durch den blühenden Wiesenknöterich ritten, versuchte Ford zum hundertsten Mal, sich zurechtzulegen, was er sagen wollte. Wenn er nicht bald zu reden anfing, würden sie Isabella zu schnell erreichen – und seine einzige Chance wäre vertan.
»Kate?«, begann er und schloss zu ihr auf.
Sie wandte sich um.
»Es gibt außer dem Besuch bei Begay einen weiteren Grund, warum ich dich gebeten habe, mit mir auszureiten.«
Sie sah ihn an; ihr Haar schimmerte im Sonnenlicht wie schwarzes Gold, und jetzt schon wurden ihre Augen schmal vor Argwohn. »Warum habe ich das Gefühl, dass mir dieser Grund nicht gefallen wird?«
»Ich bin nur zum Teil als Ethnologe hier, zum Teil aber auch aus einem anderen Grund.«
»Das hätte ich mir denken können. Also, was ist dein wahrer Auftrag, du Geheimagent?«
»Ich … wurde hierhergeschickt, um das Isabella-Projekt unter die Lupe zu nehmen.«
»Mit anderen Worten, du bist ein Spion.«
Er holte tief Luft. »Ja.«
»Weiß Hazelius Bescheid?«
»Niemand weiß es.«
»Ich verstehe … Und du hast meine Freundschaft gesucht, weil ich eine Abkürzung zu den Informationen darstelle, die du brauchst.«
»Kate …«
»Nein, warte – es ist sogar noch schlimmer: Sie haben dich angeheuert, weil sie von unserer früheren Beziehung wissen, in der Hoffnung, dass du die Glut wieder anschüren und mir die Informationen im Bett entlocken würdest.«
Wie üblich hatte Kate alles durchschaut, bevor er auch nur zu Ende beichten konnte.
»Kate, als ich mich bereit erklärt habe, diesen Auftrag anzunehmen, war mir nicht klar …«
»Was war dir nicht klar? Dass ich tatsächlich so blauäugig sein würde?«
»Mir war nicht bewusst … dass es gewisse Komplikationen geben könnte.«
Sie zog an den Zügeln, hielt ihr Pferd an und starrte ihn an. »Komplikationen? Was meinst du damit?«
Fords Gesicht brannte. Warum war das Leben plötzlich so wirr und unverständlich? Was sollte er ihr antworten?
Sie warf das Haar zurück und fuhr sich grob mit einer behandschuhten Hand über die Wange. »Du bist immer noch bei der CIA, nicht wahr?«
»Nein. Ich bin vor drei Jahren ausgestiegen, als meine Frau … Meine Frau …« Er brachte es nicht über die Lippen.
»Ja, klar, du bist ausgestiegen. Also – hast du ihnen unser Geheimnis schon verraten?«
»Nein.«
»Blödsinn. Natürlich hast du ihnen alles erzählt. Ich habe dir vertraut, war offen zu dir – und jetzt sind wir alle am Arsch.«
»Ich habe ihnen nichts gesagt.«
»Ich würde dir zu gerne glauben.« Sie trieb energisch ihr Pferd an und trabte davon.
»Kate, bitte hör zu …« Ballew trabte ebenfalls an. Ford wurde durchgerüttelt und musste sich mit einer Hand am Sattelknauf festhalten.
Kate gab ihrem Pferd eine neue Hilfe, und es verfiel in kurzen Galopp. »Scher dich weg von mir.«
Ungebeten galoppierte Ballew ebenfalls sacht an. Ford umklammerte den Sattelknauf, denn nun wurde er herumgeschleudert wie eine Stoffpuppe. »Kate, bitte – nicht so schnell, wir müssen darüber reden …«
Sie trieb ihr Pferd noch schneller voran, und Ballew donnerte ihr einfach hinterher. Die beiden Pferde flogen über die Mesa, dass der donnernde Hufschlag den Boden beben ließ. Ford, leicht in Panik, umklammerte den Sattelknauf, als ginge es um Leben und Tod.
»Kate!«, rief er. Der Zügel glitt ihm aus einer Hand. Er beugte sich vor, um ihn aufzuheben, doch Ballew trat auf den schleifenden Zügel und kam abrupt zum Stehen. Ford wurde von seinem Rücken geschleudert und landete kopfüber auf einem Teppich aus Wiesenknöterich.
Als er wieder zu sich kam, starrte er in den Himmel und fragte sich, wo zum Teufel er war.
Kates Gesicht hing plötzlich über ihm. Ihr Hut war weg, ihr Haar zerzaust, das Gesicht eine Studie in Besorgnis.
»Wyman? Du lieber Himmel, alles in Ordnung?«
Er japste und keuchte, als endlich wieder Luft in seine Lunge drang. Dann versuchte er sich aufzurichten.
»Nein, nein. Bleib liegen.« Als er zurücksank, spürte er, wie sie den Kopf auf ihren Hut bettete, den sie offenbar als provisorisches Kissen zusammengefaltet hatte. Er wartete darauf, dass die Sternchen vor seinen Augen verschwanden und die Erinnerung daran, wie er hierhergekommen war, zurückkehrte.
»O Gott, Wyman, einen Moment lang dachte ich schon, du bist tot.«
Er konnte seine Gedanken nicht sammeln. Er atmete ein, aus, wieder ein, so tief er konnte.
Sie hatte ihre Handschuhe ausgezogen und tätschelte mit kühlen Fingern sein Gesicht. »Hast du dir etwas gebrochen? Hast du Schmerzen? Oh, du blutest!« Sie zog ihr Halstuch ab und tupfte an seiner Stirn herum.
Allmählich wurde sein Kopf klarer. »Darf ich mich jetzt aufsetzen?«
»Nein, nein. Still liegen bleiben.« Sie drückte das Halstuch kräftig an seine Stirn. »Du bist mit dem Kopf aufgeschlagen. Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung.«
»Das glaube ich nicht.« Er stöhnte. »Jetzt musst du mich für einen Idioten halten. Da falle ich vom Pferd wie ein Mehlsack.«
»Du kannst einfach nicht reiten, das ist alles. Das war allein meine Schuld. Ich hätte nicht so losrasen dürfen. Aber du machst mich manchmal so wütend.«
Das dumpfe Pochen in seinem Kopf ließ allmählich nach. »Ich habe euer Geheimnis nicht verraten. Und das habe ich auch nicht vor.«
Sie sah ihn an. »Warum? Wurdest du nicht eigens dafür angeheuert?«
»Ist mir scheißegal, wozu ich angeheuert wurde.«
Sie tupfte an seiner aufgeschlagenen Stirn herum. »Du solltest dich noch ein bisschen ausruhen.«
Er blieb still liegen. »Muss man nach einem Sturz nicht sofort wieder aufsteigen?«
»Ballew ist allein zum Stall weitergelaufen. Das braucht dir nicht peinlich zu sein – jeder fällt irgendwann mal runter.«
Ihre Hand ruhte an seiner Wange. Er blieb noch einen Moment liegen, dann stützte er sich langsam auf einen Ellbogen. »Es tut mir leid.«
Nach kurzem Zögern sagte sie: »Du hast etwas von deiner Frau gesagt … Ich wusste gar nicht, dass du verheiratet bist.«
»Bin ich auch nicht mehr.«
»Ist sicher schwer, wenn man eigentlich mit der CIA verheiratet ist.«
Hastig sagte er: »Das war es nicht. Sie ist gestorben.«
Kate schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh – oh, das tut mir aber leid. Wie dumm von mir, so etwas zu sagen.«
»Schon gut. Wir haben zusammen für die CIA gearbeitet. Sie ist in Kambodscha ums Leben gekommen. Autobombe.«
»O Gott, Wyman. Wie schrecklich, das tut mir so leid.«
Er hätte nicht gedacht, dass er es über sich bringen würde, ihr davon zu erzählen. Aber es kam ihm ganz leicht von den Lippen. »Deshalb habe ich die CIA verlassen und bin in ein Kloster gegangen. Ich habe nach etwas gesucht und dachte, dieses Etwas sei Gott. Aber ich habe Ihn nicht gefunden. Ich bin einfach nicht zum Mönch geboren. Ich habe das Kloster verlassen und musste von irgendetwas leben, also habe ich mich als Privatdetektiv selbständig gemacht und wurde für diesen Auftrag engagiert. Den ich nie hätte annehmen sollen. Das ist alles.«
»Für wen arbeitest du? Lockwood?«
Er nickte. »Er weiß, dass ihr irgendetwas vertuscht, und ich sollte für ihn herausfinden, was. Er sagt, noch zwei Tage, dann zieht er Isabella den Stecker raus.«
»Himmel.« Wieder legte sie diese kühle Hand an seine Wange.
»Es tut mir leid, dass ich dich belogen habe. Wenn ich gewusst hätte, worauf ich mich da einlasse, hätte ich den Auftrag nie angenommen. Ich habe nicht damit gerechnet …« Er verstummte.
»Womit?«
Er antwortete nicht.
»Womit hast du nicht gerechnet?« Sie beugte sich über ihn, so dass ihr Schatten auf ihn fiel und ihr zarter Duft zu ihm herabtrieb.
Ford sagte: »Dass ich mich wieder in dich verlieben könnte.«
Der ferne Ruf einer Eule erklang im Zwielicht.
»Meinst du das ernst?«, fragte sie schließlich.
Ford nickte.
Langsam beugte Kate sich zu ihm vor. Sie küsste ihn nicht – sie sah ihn nur an. Erstaunt. »Das hast du mir nie gesagt, als wir noch zusammen waren.«
»Wirklich nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das Wort Liebe gehörte nicht zu deinem Wortschatz. Was glaubst du, warum ich mich von dir getrennt habe?«
Er blinzelte. Das war der Grund? »Ich dachte, es hätte daran gelegen, dass ich zur CIA gegangen bin.«
»Damit hätte ich leben können.«
»Willst du … es noch einmal versuchen?«, fragte Ford.
Sie sah ihn an, und goldenes Abendlicht schimmerte überall um sie herum. Sie hatte noch nie so schön ausgesehen. »Ja.«
Sie streckte die Hand aus, um ihm aufzuhelfen. Sobald er saß, zog sie ihn zu sich heran und küsste ihn, langsam, leicht, köstlich. Er beugte sich vor, um den Kuss zu erwidern, doch sie hielt ihn mit einer Hand auf der Brust sacht zurück. »Es ist schon fast dunkel. Wir haben noch einen kleinen Fußmarsch vor uns. Und …«
»Und was?«
Sie blickte immer noch lächelnd auf ihn herab. »Nicht so wichtig«, sagte sie und beugte sich vor, um ihn zu küssen. Er ließ sich zurücksinken, und ihre weichen Brüste drückten sich an ihn. Ihre Hand glitt über sein Hemd, und sie knöpfte es auf, einen Knopf nach dem anderen. Dann schob sie es auseinander, öffnete seine Gürtelschnalle, ihre Küsse wurden tiefer und weicher, als wollten ihre Lippen mit seinen verschmelzen, während die abendlichen Schatten auf dem Wüstenboden immer länger wurden.
36
Pastor Russ Eddy lenkte seinen Pick-up vorsichtig von der Straße, die sich über die Mesa zog, auf eine Sandsteinnadel zu, hinter der er sein Auto verstecken konnte. Es war eine klare Nacht, der Mond war dreiviertelvoll, und Sterne sprenkelten den Himmel. Der Pick-up schlingerte und ratterte über den kahlen Fels, und bei jedem Holpern dengelte die lose Stoß-stange. Wenn er sich nicht bald das Schweißgerät von der Tankstelle in Blue Gap auslieh, würde die Stoßstange abfallen, aber er schämte sich so, sich ständig Werkzeug von den Navajos zu borgen und ihnen noch mehr Benzin auf Pump abzuschwatzen. Ständig musste er sich daran erinnern, dass er diesen Leuten schließlich das kostbarste aller Geschenke brachte, nämlich die Erlösung – wenn sie es denn nur annehmen wollten.
Den ganzen Tag lang hatte er an Hazelius gedacht. Je länger er sich die Worte des Mannes angehört hatte, die in seinem Kopf kreisten, desto mehr Verse aus den Ersten Episteln des Johannes schienen auf ihn zuzutreffen: Ihr habt gehört, dass der Widerchrist kommt … Das ist der Widerchrist, der den Vater und den Sohn leugnet … Und das ist der Geist des Widerchrists …
Die Erinnerung an Lorenzo, der auf dem Boden lag, stand ihm vor Augen, an die Klümpchen menschlichen Blutes, die nicht im Sand versickern wollten … Er verzog das Gesicht – warum kehrte dieses grauenhafte Bild immer wieder zurück? Mit einem lauten Stöhnen zwang er es, zu verschwinden.
Er lenkte den Pick-up vorsichtig hinter den Sandsteinfelsen, bis er gut versteckt war. Hustend erstarb der Motor. Er zerrte an der Handbremse und blockierte die Räder zusätzlich mit Steinbrocken. Dann steckte er den Schlüssel in die Tasche, atmete tief durch und machte sich auf den Weg zurück zur Straße. Der Mond schien hell genug, so dass er den Weg auch ohne Taschenlampe gut erkennen konnte.
Er fühlte mehr denn je, dass dies seine Bestimmung war. Gott hatte ihn berufen, und er hatte ja gesagt. Alles, was bisher geschehen war, all die Schwierigkeiten in seinem Leben, waren nur das Vorspiel gewesen. Gott hatte ihn geprüft, und Eddy hatte bestanden. Die letzte Prüfung war Lorenzo gewesen. Gottes Zeichen dafür, dass Er Eddy auf etwas Großes vorbereitete. Etwas Gewaltiges.
Der Herr hatte ihn auch am Nachmittag in Piñon geführt. Erst ein voller Benzintank – umsonst. Dann ein verirrter Tourist, der den Weg nach Flagstaff suchte und sich mit einer Zehn-Dollar-Note bei Eddy bedankte. Schließlich hatte er in der Tankstelle erfahren, dass Bia den Todesfall beim Isabella-Projekt für einen Mord hielt – nicht Selbstmord, Mord!
Ein Kojote heulte in der Ferne, ein zweiter antwortete ihm, von noch weiter weg. Das Heulen hörte sich an wie die einsamen, verlorenen Schreie der Verdammten. Eddy erreichte den Rand des Felsenkamms und krabbelte den Pfad ins Nakai Valley hinab. Der dunkle, klobige Umriss des Nakai Rock erhob sich zu seiner Rechten wie ein buckliger Dämon. Unterhalb markierten ein paar verstreute Lichter das Dorf; die Fenster des alten Handelspostens warfen quadratische Lichtflecken in die Dunkelheit.
Er hielt sich dicht an Felsen und Wacholder und näherte sich langsam dem Handelsposten. Er wusste weder, was er suchte, noch, wie er es finden sollte. Sein einziger Plan war, auf ein Zeichen von Gott zu warten. Gott würde ihm den Weg zeigen.
Leise trieb Klaviermusik durch die Wüstennacht. Er erreichte die Talsohle, tastete sich durch die Dunkelheit unter den Pappeln und sprintete dann über den offenen Rasen zur Rückseite des Handelspostens. Durch die alten Holzstämme und die mit Gips verputzten Ritzen konnte er eine gedämpfte Unterhaltung hören. Unendlich vorsichtig schlich er zu einem Fenster und spähte nach drinnen. Ein paar Wissenschaftler saßen um einen Couchtisch und unterhielten sich angeregt, sie schienen beinahe zu streiten. Hazelius spielte Klavier.
Beim Anblick des Mannes, der der Antichrist selbst sein könnte, spürte Russ eine Woge aus Angst und Wut in sich. Er duckte sich unter das Fenster und versuchte zu hören, was die Leute sagten, doch der Mann spielte so laut, dass Eddy kaum etwas verstehen konnte. Doch dann, über die Klaviermusik hinweg, durch das doppelt verglaste Fenster, drang ein einziges Wort, gesprochen von einem der Wissenschaftler, hinaus in die kalte Nachtluft, dorthin, wo Eddy sich ins Gras kauerte: Gott.
Wieder, von einer anderen Stimme ausgesprochen: Gott.
Die Fliegengittertür schlug zu, und zwei Stimmen trieben um die Ecke und drangen an seine Ohren: eine hoch und angespannt, die andere ruhig und bedächtig.
Mit klopfendem Herzen kroch Eddy durch die Dunkelheit bis an die Ecke, die der Eingangstür am nächsten lag. Er lauschte und wagte kaum zu atmen.
»… noch eines, worum ich Sie bitten möchte, Tony – vertraulich, könnte man sagen …« Der Mann senkte die Stimme, so dass Eddy den Rest nicht verstehen konnte, doch er wagte es nicht, näher heranzuschleichen.
»… wir die beiden einzigen Nichtwissenschaftler hier sind …«
Sie spazierten hinaus in die Dunkelheit. Eddy wich zurück, und die Stimmen verklangen. Er konnte die beiden dunklen Gestalten sehen, die langsam die Straße entlanggingen. Er wartete ab, schoss dann über die Straße in den Schutz der Bäume und drückte sich an den knorrigen Stamm einer Pappel.
Luft zog an seinem Gesicht vorbei. Das hätte der Heilige Geist sein können, der sich in eine Brise verwandelte, um die Stimmen der schattenhaften Gestalten zu Eddy zu tragen.
»… dieser möglichen Strafanzeige, aber ich habe mit dem Betrieb von Isabella nichts zu tun.«
Die tiefere Stimme antwortete: »Machen Sie sich bloß nichts vor. Wie ich vorhin sagte – mitgefangen, mitgehangen.«
»Aber ich bin doch nur der Psychologe.«
»Sie waren trotzdem an dem Betrug beteiligt …«
Betrug? Eddy schlich durch die Dunkelheit zu einem neuen Lauschposten.
»… zum Teufel sind wir da nur reingeraten?«, fragte die leicht schrille Stimme.
Die Antwort war so leise, dass Eddy sie nicht verstand.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass der verdammte Computer behauptet, Gott zu sein … Das ist eine Geschichte wie aus einem Science-Fiction-Roman …«
Eine weitere leise Antwort. Um ja nichts zu verpassen, lauschte Eddy so angestrengt, dass er die Luft anhielt.
Die Männer gingen auf die verstreuten Lichtpunkte der Wohnhäuser zu. Eddy huschte wie eine Spinne durch die Dunkelheit, während ihre Unterhaltung mit der launischen Brise mal leiser, mal lauter zu ihm drang.
»… Gott in der Maschine … Wolkonski in den Wahnsinn getrieben …« Das war wieder die hohe Stimme.
»… Zeitverschwendung, jetzt zu spekulieren, was …«, kam die barsche Antwort.
Die Unterhaltung wurde noch leiser fortgesetzt. Es machte Eddy schier verrückt, dass er nichts mehr verstand. Er riskierte es, noch näher heranzuschleichen. Die beiden Männer waren am Ende einer Einfahrt stehengeblieben. Im sanften gelben Licht wirkte der größere von beiden ziemlich ungeduldig, als wolle er den nervösen endlich loswerden. Die Stimmen waren nun deutlicher.
»… ein Zeug von sich gibt, wie kein Gott, von dem ich je gehört habe. Das ist doch ein Haufen New-Age-Mist. ›Die Existenz, das bin ich, der denkt‹ – also, bitte. Und Edelstein schluckt das auch noch. Na ja, er ist Mathematiker – und damit per Definition ein Spinner. Ich meine, der Kerl hält sich Klapperschlangen als Haustiere. …« Die hohe Stimme quakte lauter, als wolle der Sprecher allein dadurch den großen Kerl daran hindern, weiterzugehen.
Der Große trat von einem Fuß auf den anderen, so dass Eddy nun sein Gesicht sehen konnte. Das war der Wachmann.
Mit seiner tiefen Stimme sagte er etwas von »noch eine Runde drehen, ehe ich mich aufs Ohr haue«. Ein Händedruck, und der Schmächtige ging den kurzen Weg zu seinem Haus, während der Wachmann die Straße entlangblickte, erst in die eine, dann in die andere Richtung und schließlich zu dem Pappelwäldchen hinüber, als verschaffe er sich einen Überblick, um zu entscheiden, wo er mit seinem Rundgang beginnen wollte.
Bitte, lieber Gott, bitte. Eddys Herz schlug so heftig, dass er sein eigenes Blut in seinen Ohren rauschen hörte. Schließlich machte sich der Mann in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg. Eddy bewegte sich extrem vorsichtig, um nicht auf herabgefallene Zweige zu treten, schlich langsam durch die Pappeln und tastete sich den dunklen Pfad hinauf aus dem Tal heraus.
Erst auf der Rückfahrt über den Dugway gestattete er sich, zu jubeln und zu schreien vor schwindliger Freude. Er hatte genau das, was Reverend Spates brauchte. In Virginia war es jetzt mitten in der Nacht, aber es würde dem Reverend gewiss nichts ausmachen, um dieser Neuigkeiten willen geweckt zu werden. Ganz bestimmt nicht.
37
Am Freitagmorgen, bei Tagesanbruch, lehnte Nelson Begay am Türrahmen des Gemeindehauses und sah zu, wie die ersten Pferdehänger eintrafen. Viele Hufe wirbelten den Staub zu rotgoldenen, feurigen Wolken auf, während die Reiter ihre Pferde ausluden und sattelten. Sporen klirrten, Leder klatschte. Begays eigenes Pferd, Winter, war schon gesattelt und bereit für den Ritt; er hatte ihn im Schatten der einzigen Pinyon-Kiefer weit und breit angebunden, das Maul in einem Hafersack. Begay wünschte, er könnte den Bilagaana die Schuld für all die toten Kiefern hier geben, doch soweit er das beurteilen konnte, stimmte das, was man in den Fernsehnachrichten sah: Borkenkäfer und Dürre hatten keine weiteren Helfer gebraucht.
Maria Atcitty, die Vorsitzende des Ortsverbands, trat zu ihm. »Ganz schöner Zulauf«, sagte sie.
»Besser, als ich dachte. Kommst du mit?«
Atcitty lachte. »Alles, nur nicht im Büro hocken.«
»Wo ist dein Pferd?«
»Bist du verrückt? Ich fahre.«
Begay beobachtete weiter die bunte Mischung von Pferden, die sich zu dem Protestritt versammelten. Abgesehen von ein paar guten Quarterhorses und einem Araber, waren die meisten Reservatsklepper, unbeschlagen, mager, nervös. Die Szene erinnerte ihn an seinen Onkel Silvers drüben in Toh Ateen. Silvers hatte ihm die Blessing-Way-Zeremonie beigebracht, aber er war auch Rodeoreiter gewesen, war zwischen Santa Fe und Amarillo von einem Rodeo zum nächsten gezogen, bis er sich den Rücken ruiniert hatte. Danach hielt er noch einen Haufen struppiger Pferde, damit die Kinder darauf reiten konnten; dort hatte Begay alles gelernt, was er über Pferde wusste. Er schüttelte den Kopf. Das schien eine Ewigkeit her zu sein. Onkel Silvers war nicht mehr, die alten Sitten starben aus, und die Kinder heutzutage konnten weder reiten, noch beherrschten sie die Sprache ihres Volkes. Begay war der Einzige, den der alte Onkel Silvers dazu hatte überreden können, den Blessing Way zu lernen.
Der Ritt war mehr als nur ein Protest gegen das Isabella-Projekt; er sollte auch eine Lebensweise wiedererwecken, die viel zu schnell ausstarb. Es ging hier um ihre Traditionen, ihre Sprache und ihr Land, darüber, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen.
Ein klappriger Isuzu fuhr vor, mit einem Viehanhänger, der viel zu groß für den altersschwachen Pick-up war. Mit einem lauten Jubelruf sprang ein schlaksiger Mann in einem T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln heraus. Er reckte einen mageren Arm in die Luft, stieß erneut sein Gebrüll aus und ging dann um den Anhänger herum, um sein Pferd auszuladen.
»Willy Becenti ist da«, bemerkte Atcitty.
»Schwer zu übersehen.«
Das Pferd, bereits gesattelt, trat rückwärts in den Staub. Becenti führte es um den Wagen und band es an die Anhängerkupplung.
»Er packt.«
»Das sehe ich.«
»Willst du ihm erlauben, das da mitzunehmen?«
Begay dachte kurz darüber nach. Willy war hitzköpfig, aber er hatte ein gutes Herz und war sehr verlässlich, wenn er nicht betrunken war. Und auf diesem Ritt würde es keinen Alkohol geben – das war die einzige Regel, auf deren Einhaltung Begay strikt bestehen würde.
»Willy macht schon keinen Unsinn.«
»Was, wenn es da oben hässlich wird?«, fragte Maria.
»Wird es nicht. Ich habe gestern mit zwei von den Wissenschaftlern gesprochen. Da oben wird gar nichts passieren.«
Atcitty fragte: »Welche beiden waren das denn?«
»Der eine, der sich als Ethnologe bezeichnet, Ford, und die stellvertretende Leiterin, eine Frau namens Mercer.«
Atcitty nickte. »Die zwei habe ich auch schon kennengelernt.« Nach kurzem Schweigen fragte sie: »Bist du sicher, dass dieser Protestritt eine gute Idee ist?«
»Das werden wir wohl jetzt herausfinden, oder?«
38
Ken Dolby sah auf seine Armbanduhr. Sechs Uhr abends. Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu und überprüfte die Temperatur des schadhaften Magneten. Hielt sich gut, immer noch weit innerhalb der Toleranzgrenzen. Er scrollte sich durch mehrere Seiten von Isabellas Software-Kontrollprogrammen. Alle Systeme in Ordnung, alles lief wie am Schnürchen. Sie waren nun bei achtzig Prozent Leistung.
Es war die perfekte Nacht für einen Durchlauf. Da Isabella einen großen Anteil des Stroms aus dem lokalen Verteilernetz für sich beanspruchte, konnte schon die kleinste Störung – ein Blitzeinschlag, ein kaputter Transformator, unterbrochene Stromleitungen – eine Lawine von Störfällen auslösen. Doch im Großteil des Südwestens herrschte ruhiges, kühles Wetter, kaum jemand schaltete seine Klimaanlage ein, es gab keine Gewitter und nur schwachen Wind.
Dolby hatte so ein Gefühl im Bauch – das Gefühl, dass sie heute Nacht das Problem lösen würden. Dies war die Nacht, in der Isabella sich in ihrer ganzen Pracht zeigen würde.
»Ken, erhöhen Sie auf fünfundachtzig«, sagte Hazelius aus seinem Ledersessel in der Mitte der Brücke.
Dolby warf St. Vincent, der die Energiezufuhr überwachte, einen Blick zu. Der koboldartige Mann reckte einen Daumen in die Luft und zwinkerte ihm zu.
»Alles klar.«
Am äußersten Rand seiner Wahrnehmung spürte er die schwache Vibration des gewaltigen Energiestroms. Die beiden Strahlen aus Protonen und Antiprotonen, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit in entgegengesetzte Richtungen durch den Ring kreisten, waren noch nicht zur Kollision gebracht worden. Das würde erst bei neunzig Prozent Leistung geschehen. Sobald sie erst miteinander in Kontakt standen, brauchte man wesentlich mehr Energie, wesentlich mehr Zeit und ein unendlich geschicktes Händchen für die Feinabstimmung, um das System bis auf hundert Prozent hochzubringen.
Die Anzeigen stiegen reibungslos auf fünfundachtzig Prozent.
»Prächtige Nacht für einen Durchlauf«, sagte St. Vincent.
Dolby nickte und war froh, dass die Energiezufuhr St. Vincents Aufgabe war. Er war ein ruhiger, umgänglicher, älterer Mann, der selten ein Wort sprach, aber den Strom mit so viel Feingefühl kontrollierte wie ein Dirigent sein Sinfonieorchester – mit Präzision und großer Finesse. Dabei verlor er nie die Ruhe.
»Fünfundachtzig Prozent«, meldete Dolby.
»Alan?«, fragte Hazelius. »Was machen die Server?«
»Hier drüben ist alles bestens.«
Hazelius drehte wohl zum fünfzigsten Mal seine Runde durch den Kontrollraum und fragte die Meldungen seines Teams ab. Bisher war es ein Durchlauf wie aus dem Bilderbuch.
Dolby überprüfte seine Systeme. Alles lief wie am Schnürchen. Die einzige Schwachstelle war der warme Magnet, aber »warm« war in diesem Fall auch nur drei Hundertstelgrad wärmer, als er hätte sein sollen.
Isabella lief sich auf fünfundachtzig Prozent ein, während Rae Chen feine Justierungen an den Strahlen vornahm. In diesem freien Augenblick sah Dolby sich im Raum um und dachte über die Gruppe nach, die Hazelius sich zusammengesucht hatte. Edelstein zum Beispiel. Dolby vermutete, der könnte sogar noch intelligenter sein als Hazelius – aber auf eine merkwürdige Art und Weise. Edelstein war verschroben, ein wenig beängstigend, als sei sein Gehirn zur Hälfte das eines Aliens. Und was sollte das mit den Klapperschlangen? Ein echt abartiges Hobby. Und dann war da Corcoran, die so ähnlich aussah wie Daryl Hannah. Sie war nicht Dolbys Typ, zu groß und zu aggressiv. Viel zu hübsch und zu blond, um so klug zu sein, wie sie es offensichtlich war … Dies war eine brillante Gruppe, sogar der Roboter Cecchini, der Dolby immer so vorkam, als würde er jeden Moment Amok laufen. Die einzige Ausnahme war Innes. Er war ein ehrlicher Kerl, der sich auch bemühte, aber einfach nicht genug Watt in der Birne hatte, um mehr als die Mitte des ausgetretenen Pfades zu beleuchten. Wie konnte Hazelius diesen Mann und seine albernen Gesprächsrunden so ernst nehmen? Oder hielt Hazelius sich nur an Regeln, die ihm das Energieministerium vorgeschrieben hatte? Waren alle Psychologen wie Innes, der seine hübschen kleinen Theorien verbreitete, ohne einen Hauch empirischer Beweise zu haben? Innes war ein Mann, der alles sah und nichts verstand. Er erinnerte Dolby an den Lastwagenfahrer, mit dem seine Mutter nach dem Tod ihres Vaters etwas gehabt hatte; ständig hatte er pseudopsychologisches Zeug geschwafelt, ein anständiger Kerl, der einem aber bei jeder Gelegenheit Ratschläge aus dem neuesten Selbsthilfe-Bestseller um die Ohren schlug.
Dann war da noch Rae Chen. Sie war wahnsinnig klug, ging aber total entspannt damit um. Jemand hatte Dolby erzählt, dass sie als Kind Skateboard-Champion gewesen war. Sie wirkte auf ihn wie eine leicht schlampige Westküsten-Studentin, die gern Spaß hatte, immer locker und unkompliziert. Aber war sie wirklich so unkompliziert? Bei Asiaten war das schwer zu sagen. Jedenfalls hätte er nur zu gern was mit ihr angefangen. Er sah zu ihr hinüber; sie hatte sich aufmerksam über ihre Tastatur gebeugt, das schwarze Haar fiel ihr wie ein Wasserfall um die Schultern, und er stellte sie sich nackt vor …
Hazelius’ Stimme unterbrach seine Gedanken.
»Wir können jetzt auf neunzig hochfahren, Ken.«
»Geht klar.«
»Alan? Wenn wir bei neunzig stabil sind, sollten Sie bereit sein, die p-fünf-fünfneunfünfer alle auf einmal zuzuschalten, komplett verlinkt.«
Edelstein nickte.
Dolby schob die Regler hoch und beobachtete, wie Isabella prompt reagierte. Jetzt ging es um alles. Das war die entscheidende Nacht. Alles in seinem Leben hatte auf diesen Punkt hingeführt. Er spürte die tiefe Vibration, als sich die Leistung weiter steigerte. Es war, als stehe der gesamte Berg unter Strom. Und sie schnurrte wie ein Bentley. Gott, wie er diese Maschine liebte. Seine Maschine.
39
Aus dem Schlafzimmer seines Bungalows sah Ford die ersten Reiter des Protestzugs auf dem Kamm hinter dem Nakai Rock auftauchen, von der untergehenden Sonne von hinten beleuchtet. Er hob sein Fernglas und identifizierte Nelson Begay auf einem Paint Horse, dazu ein weiteres Dutzend Reiter.
Er wandte den Kopf und spürte die Schmerzen, die vom gestrigen Sturz stammten. Seitdem hatten er und Kate kaum ein Wort unter vier Augen wechseln können, denn sie war vollauf mit den Vorbereitungen für den neuen Durchlauf beschäftigt gewesen.
Das Lämpchen an seinem Satellitentelefon blinkte, pünktlich auf die Minute. Er nahm ab.
»Was gibt es Neues?«, fragte Lockwood.
»Nichts Besonderes. Alle sind im Bunker, Isabella läuft. Ich warte gerade darauf, die berittene Demonstration in Empfang zu nehmen.«
»Es wäre mir lieber gewesen, wenn Sie die verhindert hätten.«
»Glauben Sie mir, so ist es besser. Haben Sie was in Sachen Joe Blitz?«
»Es gibt Hunderte Joe Blitz’ da draußen – Leute, Firmen, Orte, alles Mögliche. Ich habe eine Liste mit den Referenzen aufgestellt, die mir am wahrscheinlichsten vorkamen. Ich würde Ihnen gern mal ein paar nennen.«
»Nur zu.«
»Zunächst einmal ist Joe Blitz der Name einer GI-Joe-Action-Figur.«
»Das könnte eine Anspielung auf Wardlaw sein – Wolkonski konnte ihn nicht ausstehen. Was noch?«
»Broadway-Produzent aus den Vierzigern, der Garbage Can Follies und Crater Lake Cut-up gemacht hat. Beides Musicals, bei einem ging es um Kater, bei dem anderen um eine Nudistenkolonie. Beides Flops.«
»Weiter.«
»Joe Blitz, bankrottes Ford-Autohaus in Ohio … Joe Blitz State Park, Medford, Oregon … Joe Blitz Memorial Rink, ein Eishockeystadion in Ontario, Kanada … Joe Blitz, Science-Fiction-Autor in den dreißiger und vierziger Jahren … Joe Blitz, der Bauunternehmer, der das Mausleer Building in Chicago gebaut hat … Joe Blitz, Cartoonist.«
»Erzählen Sie mir mehr über den Schriftsteller.«
»In den frühen vierziger Jahren wurden einige reißerische Science-Fiction-Geschichten von einem Joe Blitz in diversen Heftchen veröffentlicht.«
»Titel?«
»Das ist ein ganzer Haufen, Moment … Reißzähne in der Tiefe, Menschenfresser der Lüfte und Ähnliches.«
»Hat er auch Romane geschrieben?«
»Wir haben nur eine Menge Kurzgeschichten gefunden.«
»Was ist mit dem Cartoonisten?«
»Hat in den späten Fünfzigern eine Mainstream-Comic-Serie über einen fetten Kerl und einen Zwergpudel gemacht. Ein bisschen wie Garfield. Kein großer Erfolg. Schauen wir mal … Ich habe noch zweihundert weitere Treffer, alles Mögliche, von einem Beerdigungsinstitut bis hin zu einem Rezept für geräucherten Fisch.«
Ford seufzte. »Das ist ja, als suchten wir eine Nadel im Heuhaufen, ohne überhaupt zu wissen, wie eine Nadel aussieht. Was ist mit dieser Tante Natascha?«
»Wolkonski hatte keine Tante Natascha. Das könnte eine Art Scherz sein – Sie wissen schon, jeder Russe hat eine Tante Natascha und einen Onkel Boris.«
Ford beobachtete durch das Fenster, wie die Reiter das Tal erreichten. »Sieht so aus, als würde uns diese Botschaft nicht weiterbringen.«
»Ich fürchte.«
»Ich muss los – die Reiter sind schon im Tal.«
»Rufen Sie mich an, sobald dieser Durchlauf beendet ist«, sagte Lockwood.
Ford räumte das Satellitentelefon weg, verschloss den Aktenkoffer und ging hinaus. Er hörte fernes Motorengeräusch, und ein zerbeulter Pick-up erschien an der Stelle, wo die Straße das Tal erreichte. Er überwand den Hügel und kam herabgerollt, gefolgt von einem weißen Kleinbus mit der Aufschrift »KREZ« auf der Seite und einer Satellitenschüssel auf dem Dach.
Ford blieb unter den Bäumen am Rand des Spielfelds stehen und beobachtete, wie Begay und ein Dutzend weiterer Reiter auf schweißnassen Pferden näher kamen. Der KREZ-Übertragungswagen hielt an, zwei Fernsehleute stiegen aus und bauten ihre Kameras auf, um die Reiter aufzunehmen. Eine kräftig gebaute Frau entstieg dem Pick-up – Maria Atcitty.
Als die Reiter das offene Feld erreichten, ließ der Kameramann seine Kamera mitlaufen. Ein Reiter löste sich von der Gruppe, er galoppierte voraus, stieß ein Triumphgeheul aus und schwenkte sein Halstuch in der erhobenen Faust. Ford erkannte Willy Becenti, den Mann, der ihm Geld geborgt hatte. Einige andere Reiter trieben ihre Pferde voran, und Begay galoppierte ebenfalls an. Sie jagten über die Wiesen, sausten an der Kamera vorbei und kamen auf dem staubigen Parkplatz vor dem alten Handelsposten zum Stehen, nicht weit von Ford entfernt.
Als Begay abstieg, trat der Reporter von KREZ zu ihm, hob den Arm, klatschte in Begays erhobene Hand und begann, seine Ausrüstung für ein Interview aufzubauen.
Die anderen gesellten sich dazu und wurden ebenfalls begrüßt. Die Scheinwerfer gingen an, die Kamera lief, und der Reporter begann sein Interview mit Begay. Die anderen standen herum und sahen zu.
Ford schlenderte unter den Bäumen hervor und ging über das Gras auf die Gruppe zu.
Alle Köpfe wandten sich zu ihm um. Der Reporter kam auf ihn zu, das Mikro in der ausgestreckten Hand.
»Wie heißen Sie, Sir?«
Ford sah, dass die Kamera immer noch lief. »Wyman Ford.«
»Sind Sie Wissenschaftler?«
»Nein, ich bin der Verbindungsmann zwischen dem Isabella-Projekt und den Anwohnern.«
»Dann machen Sie Ihre Sache nicht besonders gut«, sagte der Reporter. »Immerhin haben Sie es jetzt mit einer Demonstration gegen das Projekt zu tun.«
»Das weiß ich.«
»Also, was ist Ihre Meinung?«
»Ich finde, dass Mr. Begay recht hat.«
Kurzes Schweigen. »Recht womit?«
»Mit einigen seiner Kritikpunkte – dass Isabella den Anwohnern Angst macht, dass das Projekt nicht den wirtschaftlichen Aufschwung gebracht hat, den man dieser Region versprochen hatte, dass die Wissenschaftler sich zu sehr abgeschottet haben.«
Ein weiteres kurzes, verblüfftes Schweigen. »Was werden Sie also dagegen unternehmen?«
»Zunächst einmal werde ich zuhören. Deshalb bin ich jetzt hier. Dann werde ich tun, was ich kann, um für Verbesserungen zu sorgen. Wir haben uns bei unseren Nachbarn nicht gut eingeführt, aber ich verspreche Ihnen, dass sich da einiges ändern wird.«
»Schwachsinn!«, rief jemand – Willy Becenti stapfte herüber, nachdem er sein Pferd auf dem Spielfeld angepflockt hatte.
»Schnitt!« Der Reporter drehte sich zu Becenti um. »He, Willy, ich versuche hier ein Interview zu führen, also bitte, ja?«
»Der Kerl erzählt dir nur Scheiße.«
»Ich kann dieses Material nicht senden, wenn du solche Wörter benutzt.«
Becenti blieb abrupt stehen und beäugte Ford. Dann breitete sich Wiedererkennen über sein Gesicht. »He – Sie sind das!«
»Hallo, Willy«, sagte Ford und streckte die Hand aus.
Willy ignorierte sie. »Sie sind einer von denen!«
»Ja.«
»Sie schulden mir zwanzig Dollar, Mann.«
Ford griff nach seiner Brieftasche.
Becenti errötete triumphierend. »Behalten Sie bloß Ihr Geld. Ich will es nicht.«
»Willy, ich hoffe, dass wir diese Probleme gemeinsam lösen können.
»Blödsinn. Sehen Sie das da oben?« Becenti reckte einen mageren Arm vage gen Ende des Tals, wobei eine Tätowierung sichtbar wurde. »In den Felsen da oben sind Ruinen. Gräber. Sie schänden die Gräber unserer Ahnen.«
Die Kamera lief nun wieder. »Was sagen Sie dazu, Mr. Ford?«, fragte der Reporter und hielt ihm das Mikrophon vors Gesicht.
Ford verkniff sich den Hinweis, dass das Anasazi-Ruinen waren. »Wenn uns jemand dabei helfen könnte, die genaue Lage der Gräber zu bestimmen, könnten wir Maßnahmen zum Schutz …«
»Sie sind überall! Auf der ganzen Mesa! Und die Geister der Toten sind unglücklich und wandern herum. Etwas Schreckliches wird passieren. Ich kann es fühlen. Fühlen Sie das nicht?« Becenti blickte sich um. »Fühlt ihr das denn nicht?«
Nicken, zustimmendes Gemurmel.
»Hier sind überall Chindii, Wiedergänger. Seit Peabody Coal die Seele der Red Mesa durchlöchert hat, war dies ein böser, böser Ort.«
»Ein böser Ort«, echoten die Leute.
»Dies ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass der weiße Mann einfach kommt und sich indianisches Land nimmt. Genau so ist es doch. Hab ich nicht recht?«
Lauteres Murmeln, zustimmendes Nicken in der Runde.
»Willy, ich kann Ihre Gefühle sehr gut verstehen«, sagte Ford. »Ich möchte nur eines zu unserer Verteidigung vorbringen: Die Stammesregierung der Navajo hat diesen Vertrag geschlossen, ohne sich vorher mit den Anwohnern abzustimmen, und das ist ein Teil des Problems.«
»Die Navajo-Stammesregierung ist ein Haufen Arschlöcher, angeheuert von den Bilagaana, um denen die Drecksarbeit abzunehmen. Bevor die Bilagaana kamen, gab’s hier keine Stammesregierung, sag ich.«
»Das können Sie nicht rückgängig machen, und ich auch nicht. Aber wir können jetzt zusammenarbeiten, damit sich etwas verbessert. Was meinen Sie?«
»Tja, meine Antwort darauf lautet, leck mich!« Becenti ging drohend auf ihn zu. Ford blieb eisern stehen, bis sie einander direkt gegenüberstanden. Becenti keuchte, sein magerer Brustkorb hob und senkte sich heftig, die Muskeln an den sehnigen Armen spannten sich.
Ford hielt sich bewusst locker und entspannt. »Willy, ich stehe doch auf Ihrer Seite.«
»Red nicht so von oben herab mit mir, Bilagaana!« Willy war etwa zwei Drittel so groß wie Ford und wog wohl nur halb so viel, doch er sah aus, als könnte er jeden Moment losschlagen. Ford warf Begay einen Blick zu und erkannte an der ungerührten Miene des Medizinmanns, dass er nicht vorhatte, in diese Situation einzugreifen.
Die Kamera nahm weiter alles auf.
Becenti wies mit einer ausgreifenden Geste über die Grasflächen hin. »Sehen Sie sich das nur an. Ihr Bilagaana nehmt uns unseren Berg weg und bohrt euch Hunderte von Metern durch den Fels, damit ihr eure verfluchten Spielfelder bewässern könnt, während meine Tante Emma fünfundvierzig Kilometer hin-und wieder zurückfahren muss, um Wasser für ihre Enkelkinder und ihre Schafe zu pumpen. Was glauben Sie, wie lange es noch dauert, bis die Brunnen in Blue Gap oder Blackhorse vertrocknen? Und was ist mit dem Hanta-Virus? Jeder weiß, dass es hier nie ein Hanta-Virus gegeben hat, ehe da drüben in Fort Wingate irgendwas Seltsames passiert ist.«
Mehrere Reiter stimmten lauthals dieser alten Verschwörungstheorie zu.
»Soweit wir wissen, könnte irgendetwas in Isabella uns bereits jetzt alle vergiften. Wer weiß, vielleicht sterben morgen schon unsere Kinder daran.« Er stieß Ford einen staubigen Zeigefinger gegen die Brust, direkt unterhalb des Brustbeins. »Wissen Sie, was Sie dann sind, Bilagaana? Ein Mörder.«
»Sprechen wir doch in Ruhe miteinander, Willy. Friedlich und respektvoll.«
»Friedlich? Respektvoll? Habt ihr Weißen deshalb unsere Hogans und Felder verbrannt? Unsere Frauen vergewaltigt? Habt ihr uns deshalb auf den Langen Marsch nach Fort Sumner geschickt – um friedlich und respektvoll mit uns umzugehen?«
Ford wusste aus Ramah, dass die Navajos heute noch vom Langen Marsch, der Zwangsumsiedelung in den 1860er Jahren, sprachen, obwohl dieser für den Rest des Landes eine uralte Geschichte war, längst vergessen. »Ich wünschte bei Gott, es gäbe eine Möglichkeit, die Geschichte ungeschehen zu machen«, sagte er mit mehr Gefühl in der Stimme, als er beabsichtigt hatte.
Willys Hand fuhr in seine Jeans und tauchte mit einem billigen 22er Revolver wieder auf. Fords ganzer Körper spannte sich an, bereit, schnell zu reagieren.
Begay schritt sofort ein. »Daswood, mach die Kamera aus«, befahl er scharf.
Der Reporter gehorchte.
»Willy, steck die Waffe weg.«
»Ich scheiß auf dich, Nelson. Ich bin hier, um zu kämpfen, nicht um zu reden.«
Begay sagte mit leiser Stimme: »Wir werden auf dem Spielfeld eine Schwitzhütte errichten. Wir werden die ganze Nacht lang hierbleiben und friedliche Zeremonien abhalten. Wir werden uns dieses Land auf spirituellem Wege zurückholen, durch unsere Gebete. Dies ist eine Zeit der Andacht und des Gebets, nicht der Konfrontation.«
»Ich dachte, das ist ein Protestritt und kein Tanzkreis für Squaws«, grollte Becenti, doch er schob die Waffe wieder in seine Hosentasche.
Begay deutete auf die Hochspannungsleitungen, die sich zum Rand der Mesa hinzogen, wo sie, keinen Kilometer entfernt, zusammenliefen. »Wir kämpfen nicht gegen diesen Mann, sondern gegen das da.«
Die Starkstromleitungen summten und knisterten, fern, aber deutlich hörbar.
»Klingt ganz so, als würde Ihre Maschine heute laufen«, bemerkte Begay und wandte sich mit nichtssagendem Blick Ford zu. »Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie jetzt gehen und uns in Ruhe lassen.«
Ford nickte, wandte sich ab und ging auf den Bunker zu.
»Ja, Mann, verpiss dich!«, brüllte Becenti ihm nach. »Bevor ich dir eine Kugel in deinen Bilagaana-Arsch jage!«
Als Ford sich dem Sicherheitstor zu Isabella näherte, wurde das Knistern und Summen der Leitungen immer lauter, und das unheimliche Geräusch, das beinahe von einem Lebewesen zu kommen schien, jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
40
Um fünf Minuten vor acht machte Booker Crawley es sich im Sessel in seinem gemütlichen, mit Kirschholz vertäfelten Fernsehzimmer seines Hauses in der Dumbarton Street, Georgetown, gemütlich. Er bebte vor gespannter Erwartung. Als Spates ihm versprochen hatte, er werde für sein Geld eine Menge bekommen, hatte der Mann nicht gelogen. Die Predigt am Sonntag war ein wahrer Kanonenschlag gewesen. Und jetzt würde die Talkshow, Roundtable America, das zweite schwere Geschütz abfeuern. Erstaunlich, dass es dazu nicht mehr gebraucht hatte als einen einzigen Anruf und ein paar Barzahlungen. Das Ganze war nicht einmal illegal, nur eine wohltätige Spende an eine anerkanntermaßen gemeinnützige, kirchliche Organisation – steuerlich absetzbar.
Der Lobbyist umfing mit einer Hand einen Cognacschwenker, wärmte das Glas und gönnte sich dann einen Schluck seines allabendlichen Calvados. Untermalt von pompöser, patriotischer Musik, wurde das Logo von Roundtable America in einem digitalen Wirbel amerikanischer Flaggen, Adler und anderer patriotischer Embleme eingeblendet. Dann kam ein runder Tisch aus Kirschholz ins Bild, mit einem Foto des Kapitols in Washington im Hintergrund. An dem Tisch saß Spates mit einem ernsthaften, besorgten Gesichtsausdruck. Sein Gast saß ihm gegenüber, ein weißhäuptiger Mann im Anzug mit eingefallenen Wangen und buschigen Augenbrauen, der die Lippen schürzte, als versuche er das Geheimnis des Lebens selbst zu ergründen.
Die Musik verebbte, und Spates blickte in die Kamera.
Crawley fand es erstaunlich, dass dieser Mann, der ein Volltrottel war, ein alter Sack von einem Hinterwäldler, wenn man ihm persönlich gegenübersaß, im Fernsehen eine solche Präsenz hatte. Sogar das orangerote Haar sah jetzt achtbar aus, irgendwie gedämpft. Wieder einmal gratulierte Crawley sich selbst. Welch ein Geniestreich von ihm, den Prediger ins Boot zu holen.
»Guten Abend, meine Damen und Herren, willkommen zu Roundtable America. Ich bin Reverend Don T. Spates, und es freut mich, Ihnen als meinen heutigen Gast Dr. Henderson Crocker vorstellen zu dürfen, den berühmten Professor für Physik von der Liberty University in Lynchburg, Virginia.«
Der Professor nickte weise in die Kamera, sein Gesicht eine Studie gelehrsamen Ernstes.
»Ich habe Dr. Crocker heute Abend hierhergebeten, damit er uns mehr über das Isabella-Projekt erzählt – das Thema unserer heutigen Sendung. Für diejenigen unter Ihnen, die noch nichts von Isabella wissen: Das ist ein wissenschaftlicher Apparat. Die Regierung hat ihn für vierzig Milliarden Dollar, Steuergelder, wohlgemerkt, in der Wüste von Arizona bauen lassen. Vielen Leuten bereitet dieses Projekt Sorgen. Deshalb haben wir Dr. Crocker eingeladen, damit er uns normalen Menschen erklären kann, worum genau es dabei eigentlich geht.« Er wandte sich seinem Gast zu. »Dr. Crocker, Sie sind Physiker und lehren an der Universität. Könnten Sie uns bitte erzählen, was Isabella ist?«
»Danke, Reverend Spates. Selbstverständlich kann ich das. Im Grunde ist Isabella ein Teilchenbeschleuniger – ein Atomzertrümmerer sozusagen. Man lässt Atome bei hoher Geschwindigkeit gegeneinanderprallen und zertrümmert sie, um zu sehen, woraus sie bestehen.«
»Klingt beängstigend.«
»Ganz und gar nicht. Es gibt mehrere solcher Anlagen auf der ganzen Welt. Sie haben beispielsweise dazu beigetragen, dass wir in Amerika Atomwaffen entwerfen und bauen konnten. Und sie haben das theoretische Fundament für die Nutzung der Atomenergie durch unsere moderne Industrie geschaffen.«
»Sehen Sie denn bei dieser bestimmten Anlage überhaupt ein Problem?«
Eine dramatische Pause. »Ja.«
»Und welches wäre das?«
»Isabella ist nicht wie andere Teilchenbeschleuniger. Sie wird nicht als wissenschaftliches Instrument benutzt. Sie wird missbraucht, um Propaganda zu betreiben und eine bestimmte Theorie der Schöpfung zu verbreiten, die von einem knallharten Kader atheistischer und säkular-humanistischer Wissenschaftler verkündet wird.«
Spates zog die Augenbrauen hoch. »Eine sehr deutliche Aussage.«
»Die ich nicht leichthin getroffen habe.«
»Erklären Sie das bitte näher.«
»Sehr gern. Diese Gruppe atheistischer Wissenschaftler verfolgt ihr eigenes Credo, die Theorie, dass das Universum sich selbst aus dem Nichts erschaffen hat, ohne jedes Eingreifen, ohne jede Triebkraft. Sie bezeichnen diese Theorie als den Urknall. Nun wissen die meisten intelligenten Menschen, darunter viele Wissenschaftler wie ich selbst, dass diese Theorie praktisch jedes wissenschaftlich haltbaren Beweises entbehrt. Die Theorie wurzelt nicht in der Naturwissenschaft, sondern in der zutiefst antichristlichen Einstellung, die unser Land heutzutage durchdringt.«
Crawley genehmigte sich einen weiteren, wärmenden Schluck Calvados. Spates lieferte auch diesmal, was er versprochen hatte. Das war verdammt gut – schiere Demagogie, verbrämt mit nüchterner, wissenschaftlich anmutender Sprache –, und zwar aus dem Mund eines anerkannten Physikers. Genau die Art von Geschwätz, die ein gewisser Teil der amerikanischen Bevölkerung liebend gerne schluckte.
»Im Laufe der letzten zehn Jahre haben Atheisten und säkulare Humanisten praktisch jede Ebene unserer Regierung sowie des universitären Systems übernommen. Sie kontrollieren jetzt die Fördergelder. Sie entscheiden, welche Forschungsarbeiten durchgeführt werden. Sie ersticken jede kritische Stimme im Keim. Dieser Wissenschaftsfaschismus durchdringt alle Fachbereiche, von Kernphysik und Kosmologie bis hin zur Biologie und, natürlich, zur Evolutionsforschung. Das sind die Wissenschaftler, die uns die atheistischen, materialistischen Theorien von Darwin und Lyell, Freud und Jung präsentieren. Das sind die Leute, die darauf beharren, dass das Leben nicht mit der Empfängnis beginnt. Das sind die Leute, die grässliche Experimente an Stammzellen durchführen wollen – an lebenden menschlichen Embryonen. Das sind die Befürworter der Abtreibung und der sogenannten Familienplanung.«
Der Mann dozierte weiter und klang dabei wie die Vernunft persönlich. Crawley ließ die Gedanken abschweifen und malte sich aus, wie er Yazzie für den doppelten Vorschuss einen neuen Vertrag unterschreiben lassen würde.
Die Sendung lief weiter, mit noch mehr Fragen und Antworten, Variationen des Themas, dann folgte der übliche Spendenaufruf, weiteres Gerede und noch mehr Aufrufe. Die Stimmen plapperten, hoben und senkten sich wie ein feierlicher Gesang. Wiederholung war das Herzstück des christlichen Fernsehens, dachte Crawley: Hämmere ihnen deine Botschaft in die dummen Schädel – und leiere ihnen ganz nebenbei noch ihr Geld aus der Tasche.
Die Kamera zoomte auf Spates, als er den Abschlusskommentar sprach. Crawley hörte nur mit halbem Ohr hin. Spates hatte bisher eine sehr gute Show geliefert, und die Vorstellung, dass die Navajo-Stammesregierung die Sendung auch verfolgte, amüsierte ihn gewaltig.
»… offensichtlich, dass Gott Seine schützende Hand nicht länger über Amerika hält …«
Crawley versank in wohliger, entspannter Wärme. Er konnte diesen Anruf am Montag um vier kaum erwarten. Er würde diesen Affen Millionen abknöpfen. Millionen.
»… auf die Heiden und Befürworter der Abtreibung, auf die Feministen und Homosexuellen, die sogenannte Bürgerrechtsbewegung und alle anderen, die Amerika zu säkularisieren versuchen – ich zeige mit dem Finger auf sie und sage: ›Wenn der nächste Terrorangriff kommt, tragt ihr die Schuld daran …‹«
Vielleicht sollte er sein Honorar sogar verdreifachen. Das wäre mal etwas, wovon er seinen Freunden im Potomac Club erzählen konnte.
»… Und jetzt haben sie einen Turm von Babel gebaut, diese Isabella, um Gott selbst auf Seinem Thron anzugreifen. Doch Gott ist kein Weichling: Er wird zurückschlagen …«
Crawley ließ sich tiefer in seinen köstlichen Tagtraum sinken, als ein Wort ihn plötzlich aus seinen Gedanken riss. Das Wort war »Mord«.
Er beugte sich vor. Wovon sprach Spates gerade?
»So ist es«, sagte Spates. »Aus zuverlässiger Quelle habe ich erfahren, dass einer der Top-Wissenschaftler des Isabella-Projekts, ein Russe namens Wolkonski, vor vier Nächten angeblich Selbstmord begangen haben soll. Im Vertrauen erfuhr ich jedoch, dass einige der ermittelnden Beamten nicht so sicher sind, dass es tatsächlich Selbstmord war. Es sieht immer mehr nach einem Mord aus – und der Täter kann nur aus dem engsten Umfeld des Opfers kommen. Ein Wissenschaftler, ermordet von seinen eigenen Kollegen. Warum? Um ihn zum Schweigen zu bringen?«
Crawley saß nun auf der Sesselkante, hellwach und begierig. Welch ein Geniestreich, sich diese Neuigkeit bis zum Schluss aufzuheben.
»Vielleicht kann ich Ihnen sagen, warum. Ich habe von dieser verlässlichen Quelle weitere, wahrhaft schockierende Informationen erhalten. Ich kann es selbst kaum glauben.«
Mit einer manikürten Hand und theatralisch langsamen Bewegungen nahm Spates ein einzelnes Blatt Papier vom Tisch und hielt es hoch. Crawley kannte diesen Trick – Joseph Mc-Carthy hatte ihn in den Fünfzigern praktisch erfunden –, durch den eine Information nur deshalb, weil sie schwarz auf weiß auf einem Blatt Papier stand, die Glaubwürdigkeit eines Beweises erlangte.
Spates ließ das Blatt ein wenig zittern. »Da steht es.«
Eine weitere dramatische Pause. Crawley rutschte auf seinem Sessel herum, der Drink war vergessen. Worauf wollte Spates jetzt hinaus?
»Isabella hätte schon vor Monaten in Betrieb gehen und Ergebnisse liefern sollen. Offensichtlich gibt es da ein Problem. Niemand weiß, warum sie anscheinend nicht richtig funktioniert – bis auf meine Quelle und mich. Und jetzt sollen Sie es erfahren.«
Ein weiteres Mal wackelte das Papier unheilverkündend.
»Das Gehirn dieser Maschine Isabella, wenn man so will, ist der schnellste Supercomputer, der je gebaut wurde. Und Isabella behauptet von sich selbst, sie sei …« Er machte eine effekthaschende Pause. »Gott.«
Er legte das Blatt weg und blickte direkt in die Kamera. Sogar sein Gast wirkte geschockt.
Die Stille dehnte sich aus, während Spates finster in die Kamera funkelte – der Mann wusste um die Macht der Stille, besonders im Fernsehen.
Crawley hockte auf der Sesselkante und versuchte, diese Bombe einzuordnen. Sein feines inneres Radar für politische Schwierigkeiten sah da etwas Großes, das sehr schnell aus dem Nichts angeflogen kam. Das war der reinste Irrsinn.
Vielleicht war es doch nicht so klug von ihm gewesen, Spates diesen Ball zuzuspielen und ihn einfach damit laufen zu lassen. Vielleicht hätte er Yazzie gleich heute Morgen einen neuen Vertrag zufaxen sollen, damit er ihn möglichst rasch unterschrieb.
Endlich sprach Spates weiter.
»Meine Freunde, ich würde so etwas nicht behaupten, wenn ich nicht absolut sicher wäre, die Tatsachen zu kennen. Meine Quelle, ein frommer Christ, Pastor einer Gemeinde, wie ich selbst, ist vor Ort – und er hat diese Informationen direkt von den Wissenschaftlern selbst erhalten. Sie haben richtig gehört: Diese gigantische Maschine namens Isabella behauptet, Gott zu sein. So ist es: Sie behauptet, Gott zu sein. Wenn meine Informationen falsch sein sollten, so fordere ich die Wissenschaftler hiermit öffentlich auf, meine Aussage zu widerlegen.«
Spates erhob sich von seinem Stuhl, eine Geste, die durch die großartige Kameraführung noch dramatischer wirkte. Er ragte nun über den Zuschauern auf, eine Säule beherrschten Zorns. »Ich bitte darum – ich verlange –, dass Gregory North Hazelius, der Anführer dieses Projekts, vor das amerikanische Volk tritt und diese Ungeheuerlichkeit erklärt. Ich verlange es. Wir, das amerikanische Volk, haben vierzig Milliarden Dollar für den Bau dieser Höllenmaschine in der Wüste ausgegeben, eine Maschine, die zu dem Zweck konstruiert wurde, Gott als Lügner hinzustellen. Und jetzt behauptet sie von sich, Gott zu sein! Oh, meine Freunde! Was ist das für eine Blasphemie? Was ist das für eine Blasphemie?«
41
Ford traf um acht Uhr in der Brücke ein. Als er den Raum betrat, warf er als Erstes einen Blick auf Kate, die an ihrem Arbeitsplatz saß. Ihre Blicke trafen sich. Sie wechselten kein Wort, doch der Blick war vielsagend.
Die übrigen Wissenschaftler waren über ihre diversen Tastaturen und Kontrollpulte gebeugt, während Hazelius das Geschehen von seinem Drehstuhl in der Mitte aus dirigierte. Die Maschine summte, aber noch war der Visualizer schwarz.
Die anderen nahmen Fords Ankunft mit einem beiläufigen Nicken oder einem knappen Gruß zur Kenntnis. Wardlaw starrte ihn lange an, ehe er sich wieder seinem Überwachungspult zuwandte.
Hazelius winkte ihn zu sich herüber. »Wie steht’s da oben?«, fragte er.
»Ich glaube nicht, dass es Probleme geben wird.«
»Gut. Sie kommen gerade rechtzeitig, wir werden gleich den Kontakt bei K-Null herstellen. Ken, wie sieht’s aus?«
»Alles stabil bei neunzig Prozent«, sagte Dolby.
»Der Magnet?«
»Immer noch kein Problem.«
»Dann wollen wir mal«, sagte Hazelius. »Rae? Sie nehmen Ihren Platz am Detektoren-Kontrollpult ein. Sobald die Logikbombe ausgelöst wird, hängen Sie sich dran. Julie, Sie unterstützen Rae dabei.«
Er wandte sich um. »Alan?«
Edelstein hob langsam den Blick von seiner Tastatur.
»Überwachen Sie gleichzeitig die Back-up-Server und den Hauptcomputer. Beim ersten Anzeichen von Instabilität verlagern Sie die Kontrolle über Isabella an die drei p-fünf-fünfneunfünfer. Warten Sie nicht erst bis zum Absturz.«
Edelstein nickte und gab etwas über die Tastatur ein.
»Melissa, ich will, dass Sie dieses Loch in der Raumzeit beobachten. Falls Sie etwas sehen, irgendetwas, das auf ein Problem hinweisen könnte, eine unerwartete Resonanz, unbekannte superschwere oder stabile Teilchen – vor allem stabile Singularitäten –, geben Sie Alarm.«
Corcoran reckte den Daumen in die Luft.
»Harlan? Wir werden die hundert Prozent Leistung halten, solange es geht. Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Saft schön kräftig und sauber fließt – und das Netz im weiteren Umkreis daraufhin zu überwachen, ob Dritte etwa Schwierigkeiten bekommen.«
»Geht klar.«
»Tony, auch wenn wir die drei Server als Back-up rüberschalten, bleiben die Sicherheitssysteme online. Vergessen Sie nicht, dass wir ein paar Demonstranten da draußen haben, und die könnten etwas Dummes anstellen, zum Beispiel über den Zaun klettern.«
»Ja, Sir.«
Hazelius blickte sich um. »George?«
»Ja?«, fragte Innes.
»Normalerweise haben Sie während so eines Durchlaufs nicht viel zu tun. Aber dieser ist etwas Besonderes. Ich möchte, dass Sie sich in der Nähe des Visualizers aufhalten, damit Sie den Output dieser Logikbombe lesen und psychologisch analysieren können. Ein Mensch hat dieses Programm geschrieben, und vielleicht enthält es Hinweise auf seinen Schöpfer. Suchen Sie nach Erkenntnissen, Überzeugungen, psychologischen Besonderheiten – alles, das uns helfen könnte, den Eindringling zu identifizieren oder seine Logikbombe festzunageln.«
»Hervorragende Idee, Gregory. Natürlich mache ich das.«
»Kate? Ich möchte, dass du die Tastatur übernimmst und die Fragen eingibst.«
»Ich …« Kate zögerte.
Hazelius zog eine Augenbraue hoch. »Ja?«
»Das möchte ich lieber nicht machen, Gregory.«
Die durchdringenden blauen Augen musterten sie, dann richtete sich ihr Blick auf Ford. »Sie haben sonst nichts zu tun. Würden Sie die Fragen stellen?«
»Sehr gern.«
»Was Sie fragen, ist nicht so wichtig – halten Sie das Programm nur am Reden. Rae braucht beständigen Output, um das Ding aufzuspüren. Halten Sie sich nicht damit auf, lange oder komplizierte Fragen zu formulieren – fassen Sie sich kurz. Kate, falls Wyman durcheinanderkommt oder ihm keine Fragen mehr einfallen, springst du ein. Wir dürfen keine Sekunde vergeuden.«
Ford ging zu Kates Arbeitsplatz. Sie stand auf und bot ihm ihren Sessel an. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und beugte sich vor, als wolle er den Bildschirm näher betrachten. »Hallo«, flüsterte er, nahm unauffällig ihre Hand und drückte sie.
»Hallo.«
Kate zögerte und raunte ihm dann zu: »Wyman, versprich mir eines. Ganz egal, was hier passiert – egal, was –, wir werden es noch einmal miteinander versuchen. Du und ich. Versprich mir, dass … das, was auf dem Ritt zurück über die Mesa passiert ist, keine einmalige Sache war.« Sie war knallrot geworden und beugte sich hinab, um es zu verbergen, so dass ihr schwarzes Haar wie ein Vorhang vor ihr Gesicht fiel.
Er drückte erneut ihre Hand. »Ich verspreche es.«
Hazelius hatte noch diverse Einzelheiten mit einigen Teammitgliedern besprochen und kehrte nun zum Mittelpunkt der Brücke zurück. Er ließ den Blick seiner blitzenden blauen Augen über die Gruppe schweifen. »Ich habe es schon einmal gesagt, und ich sage es heute wieder. Wir segeln in unbekannte Gewässer. Ich will Ihnen nichts vormachen: Was wir gleich tun werden, ist gefährlich. Aber uns bleibt keine Alternative, wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Wir werden diese Logikbombe finden und sie zerstören. Heute Nacht.«
In der langen Stille, die seinen Worten folgte, stieg und fiel das Summen der Maschine.
»Wir werden ein paar Stunden lang keinerlei Kontakt zur Außenwelt haben«, sagte er. Sein glühender Blick schweifte durch den Raum. »Noch Fragen?«
»Äh, ja«, meldete sich Julie Thibodeaux. Ihr Gesicht war schweißnass, und die dunklen Ringe unter ihren Augen wirkten beinahe durchscheinend. Ihr langes Haar war strähnig und schwankte, als sie sich bewegte.
Hazelius sah sie an. »Ja?«
»Ich …« Ihre Stimme versagte.
Hazelius zog die Brauen in die Höhe und wartete. Sie schob plötzlich ihren Stuhl zurück und stand auf. Die Rollen des Drehstuhls verfingen sich im Teppich, und sie stolperte leicht. »Das ist Wahnsinn«, sagte sie laut. »Wir haben einen warmen Magneten, einen instabilen Computer, eingeschleuste Malware – und jetzt wollen wir ein paar hundert Megawatt in diese Maschine pumpen? Ihr werdet den ganzen Berg in die Luft jagen. Ich bin jedenfalls draußen.«
Hazelius’ Blick huschte zu Wardlaw hinüber, dann zurück zu Thibodeaux. »Ich fürchte, jetzt ist es zu spät, Julie.«
»Was soll das heißen, zu spät?«, schrie sie. »Ich gehe jetzt.«
»Die Bunkertür ist geschlossen, verriegelt und gesichert. Sie kennen doch unsere Routine.«
»Schwachsinn. Ford ist doch gerade reingekommen.«
»Das war vorher so ausgemacht. Jetzt kann niemand mehr raus bis zum Morgengrauen. Nicht einmal ich. Das ist ein Bestandteil der Sicherheitsmaßnahmen.«
»Das ist gequirlte Kacke. Was, wenn es einen Brand gäbe, einen Unfall?« Trotzig stand sie da und bebte am ganzen Leib.
»Der einzige Mensch, der Zugang zu den Sicherheitscodes hat, mit denen man vor dem Morgengrauen die Tür öffnen könnte, ist Tony. Als Sicherheitschef ist das seine Entscheidung. Tony?«
»Niemand kann gehen«, erklärte Wardlaw stur.
»Ich weigere mich, diese Antwort zu akzeptieren«, sagte sie, und ihre Stimme wurde schrill vor Panik.
»Ich fürchte, Ihnen wird nichts anderes übrigbleiben«, entgegnete Hazelius.
»Tony, ich will hier raus, und zwar sofort, verdammt!« Ihre Stimme glich nun beinahe einem Kreischen.
»Tut mir leid«, sagte Wardlaw.
Sie stürzte sich auf ihn, obwohl sie nur knapp einen Meter sechzig groß war. Er ließ sie kommen. Sie hob die Fäuste, und er fing sie mit Leichtigkeit ab, als sie ihm entgegenflogen.
»Lass mich los, du Dreckskerl!« Hilflos wand sie sich in seinem Griff.
»Ganz ruhig bleiben.«
»Ich will nicht für so eine blöde Maschine sterben!« Sie sackte an seiner Brust zusammen und begann zu schluchzen.
Ford hatte die Szene ungläubig beobachtet. »Wenn sie rauswill, dann lassen Sie sie doch.«
Wardlaw warf ihm einen feindseligen Blick zu. »Das verstößt gegen unser Sicherheitsprotokoll.«
»Sie ist doch kein Sicherheitsrisiko. Sehen Sie sich die Ärmste nur mal an – sie bricht bald zusammen.«
»Die Regeln wurden nicht ohne Grund aufgestellt«, sagte Wardlaw. »Während eines Durchlaufs verlässt niemand Isabella, es sei denn, es handelt sich um einen lebensbedrohlichen Notfall.«
Ford wandte sich Hazelius zu. »Das ist nicht in Ordnung.« Er blickte sich um. »Ihr anderen findet das doch sicher auch.« Doch anstelle von Zustimmung sah er nur Unsicherheit. Angst. »Ihr könnt sie nicht gegen ihren Willen hier festhalten.«
Bis jetzt war ihm nicht klar gewesen, wie vollständig die anderen in Hazelius’ Bann geraten waren. »Kate?« Er drehte sich zu ihr um. »Du weißt, dass das falsch ist.«
»Wyman, wir alle haben diese Regeln unterschrieben. Sie auch.«
Hazelius ging hinüber zu Thibodeaux und nickte Wardlaw zu. Der Sicherheitschef entließ sie in Hazelius’ Arme. Sie versuchte sich loszureißen, doch er hielt sie fest, energisch, aber vorsichtig. Ihr lautes Schluchzen verebbte allmählich zu einem leisen, erstickten Wimmern. Er schlang sanft, beinahe liebevoll, die Arme um sie. Sie ließ sich an seine Brust sinken und weinte leise, wie ein kleines Mädchen. Hazelius tätschelte ihren Rücken, strich ihr über den Kopf und wischte mit dem Daumen sacht ihre Tränen weg, während er ihr unablässig ins Ohr flüsterte. Ein paar Minuten vergingen, bis sie sich beruhigt hatte.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie.
Er tätschelte ihre Wange, strich ihr Haar glatt und ließ die Hände über ihren plumpen Rücken gleiten. »Wir brauchen Sie, Julie. Ich brauche Sie. Wir können das nicht ohne Sie durchziehen. Das wissen Sie doch.«
Sie nickte und schniefte. »Ich hab die Nerven verloren. Tut mir leid. Das wird nicht wieder vorkommen.«
Er hielt sie im Arm, bis sie völlig ruhig war. Als er sie losließ, trat sie zurück, den Blick zu Boden gerichtet.
»Julie, bleiben Sie hier bei mir. Ihnen wird nichts passieren – ich verspreche es.«
Sie nickte erneut.
Ford starrte sie erstaunt an, bis er bemerkte, dass Hazelius ihn mit trauriger, gütiger Miene ansah. »Sind wir uns wieder einig, Wyman?«
Ford sah in diese blauen Augen und brachte kein Wort heraus.
42
Hinter seinem Wohnwagen außerhalb von Blue Gap saß Pastor Russ Eddy vor dem Zwanzig-Zoll-Monitor seines iMac. Die Internet-Liveübertragung von Roundtable America war gerade zu Ende gegangen. Eddys Geist stand in Flammen, seine Seele brannte, und die Worte von Reverend Spates hallten in seinen Gedanken wider. Er, Russell Eddy, war der »fromme Christ vor Ort«, der das Isabella-Projekt entlarvt hatte. »Ein Pastor, wie ich selbst«, hatte Reverend Spates vor Millionen von Menschen gesagt. Es war Eddy gewesen, der ein großes Risiko eingegangen war, um die entscheidenden Informationen zu sammeln, geführt von der unsichtbaren Hand Gottes. Dies waren keine gewöhnlichen Zeiten. Der gerechte Zorn des Herrn würde mit all Seiner unglaublichen Kraft herabfahren. Nicht einmal der Fels des Berges würde diese heidnischen Wissenschaftler vor der Rache des Allmächtigen schützen können.
Eddy saß vor dem leeren blauen Monitor, und ob der Herrlichkeit Gottes drehte sich ihm der Kopf. Der große Plan zeigte allmählich seine Konturen. Gottes Plan für ihn, Eddy. Alles begann mit dem Tod des Indianers, von Gottes eigener Hand niedergestreckt, ein direktes Zeichen an Eddy, das von Seinem nahenden Wüten kündete. Das Ende nahte. Denn es ist gekommen der große Tag Seines Zorns, und wer kann bestehen?
Langsam wurde Eddy sich wieder seiner Umgebung bewusst. Es war so still in seinem schäbigen Schlafzimmer – als sei überhaupt nichts geschehen. Doch die Welt hatte sich verändert. Gottes Plan für ihn war endlich enthüllt. Aber was war der nächste Schritt? Was erwartete Gott nun von ihm?
Ein Zeichen … er brauchte ein Zeichen. Er griff nach seiner Bibel, so aufgewühlt, dass seine Hände zitterten. Gott würde ihm zeigen, was zu tun war.
Er stellte das Buch mit dem Buchrücken auf den Boden und ließ los, so dass es aufklappte, wo es wollte. Die abgegriffenen Seiten raschelten an ihm vorbei bis fast zum Ende, wo sie schließlich zur Ruhe kamen; vor ihm aufgeschlagen lag die Offenbarung des Johannes. Der erste Satz, auf den sein Blick fiel, lautete: Das Tier wurde ermächtigt, große Reden zu schwingen und dabei Gott zu lästern …
Ein solcher Schauer überlief ihn, dass sich sein Rücken unwillkürlich zusammenzog. Diese Passage war eine der klarsten und eindeutigsten Anspielungen auf den Widerchrist in der gesamten Bibel.
Die Bestätigung.
43
Trotz der Anspannung im Raum fand Ford den Aufbau des Experiments bis hin zur höchsten Leistung bei diesem zweiten Mal sogar noch langweiliger. Um zehn Uhr erreichte Isabella neunundneunzig Komma fünf Prozent Leistung. Alles lief genau wie letztes Mal: die Resonanz, das Loch in der Raumzeit, das seltsame Bild, das sich in der Mitte des Visualizers herauskristallisierte. Isabella summte, der Berg vibrierte.
So pünktlich, als gehöre das zum Ablauf dazu, wurde der Visualizer plötzlich leer, und dann erschienen die ersten Worte.
Wir können uns also wieder unterhalten.
»Los, Wyman«, sagte Hazelius.
Ford tippte: »Erzähl mir alles über dich.« Er spürte, wie Kate sich von hinten über ihn beugte und alles beobachtete.
Ich kann dir ebenso wenig erklären, wer ich bin, wie du einem Käfer erklären könntest, wer du bist.
»Rae?«, fragte Hazelius. »Bekommen Sie das?«
»Ich suche noch.«
»Versuch es trotzdem«, schrieb Ford.
Ich werde dir stattdessen erklären, warum du mich nicht begreifen kannst.
»George«, fragte Hazelius, »lesen Sie mit?«
»Ja«, sagte Innes, offenbar hocherfreut darüber, dass man ihn zu Rate zog. »Es ist ganz schön clever – indem es uns erzählt, dass wir es nicht begreifen können, lässt es sich nicht auf Details ein, die sich vielleicht widersprechen könnten.«
»Nur zu«, tippte Ford.
Ihr bewohnt eine Welt mit einer Skala etwa in der Mitte zwischen der Planck-Länge und dem Durchmesser des Universums.
»Scheint ein Bot-Programm zu sein«, sagte Edelstein, der den Output ebenfalls auf einem Monitor verfolgte. »Es kopiert sich selbst an einen anderen Ort, löscht das Original und verwischt seine Spuren.«
»Ja«, sagte Chen, »und ich jage ein ganzes Rudel hungriger Bot-Wölfe durch Isabella, die danach suchen.«
Euer Gehirn wurde hervorragend darauf eingestellt, eure Welt zu manipulieren – aber nicht, ihre fundamentale Realität zu begreifen. Ihr habt euch so entwickelt, dass ihr Steine werfen könnt, keine Quarks.
»Ich bin an ihm dran!«, rief Chen. Sie beugte sich über ihre Tastatur wie ein Spitzenkoch über den heißen Herd und arbeitete wie besessen. Auf vier Flachbildschirmen vor ihr raste Computercode durch.
»Der Hauptcomputer stürzt gleich ab«, verkündete Edelstein gelassen. »Ich schalte die Kontrolle über Isabella auf die Back-up-Server.«
Als Resultat eurer Evolution unterliegt eure Sichtweise der Welt einem fundamentalen Irrtum. Ihr glaubt beispielsweise, dass ihr einen dreidimensionalen Raum bewohnt, in dem einzelne Objekte glatte, vorhersagbare Bahnen beschreiben, geprägt von etwas, das ihr Zeit nennt. Das Ganze bezeichnet ihr als Realität.
»Umschaltung abgeschlossen.«
»Schalten Sie die Stromzufuhr des Hauptcomputers ab.«
»Moment mal«, sagte Dolby mit scharfer Stimme. »So war das nicht geplant.«
»Wir müssen sichergehen, dass die Malware nicht da drin ist. Ziehen Sie den Stecker raus, Alan.«
Edelstein lächelte kalt und wandte sich wieder dem Computer zu.
»Himmel, nein, warte …!« Dolby sprang auf, aber es war zu spät.
»Fertig«, sagte Edelstein mit einem letzten scharfen Tippen auf der Tastatur.
Die Hälfte der Peripherie-Bildschirme wurde schwarz. Dolby stand schwankend und unsicher da. Ein Augenblick verstrich. Nichts geschah. Isabella summte weiter vor sich hin.
»Es hat funktioniert«, sagte Edelstein. »Ken, du kannst dich wieder entspannen.«
Dolby warf ihm einen verärgerten Blick zu und ließ sich wieder an seinem Arbeitsplatz nieder.
»Willst du damit sagen«, tippte Ford, »dass unsere Realität eine Illusion ist?«
Ja. Die natürliche Auslese hat in euch die Illusion entstehen lassen, dass ihr die fundamentale Realität begreift. Aber das stimmt nicht. Wie könntet ihr sie begreifen? Begreifen Käfer die fundamentale Realität? Oder Schimpansen? Ihr seid Tiere wie sie. Ihr habt euch wie sie entwickelt, vermehrt euch wie sie, besitzt im Prinzip dieselben neuronalen Strukturen. Ihr unterscheidet euch vom Schimpansen durch bloße zweihundert Gene. Wie könnte dieser winzige Unterschied euch dazu befähigen, das Universum zu begreifen, wenn der Schimpanse nicht einmal in der Lage ist, ein Sandkorn zu begreifen?
»Ich schwöre euch«, rief Chen, »diese Daten kommen schon wieder direkt von K-Null!«
»Unmöglich«, sagte Hazelius. »Die Malware versteckt sich in einem Detektor. Beenden erzwingen und neu starten, bei jedem einzelnen Detektor-Prozessor, einen nach dem anderen.«
»Ich versuch’s.«
Wenn unsere Unterhaltung fruchtbar sein soll, müsst ihr alle Hoffnung aufgeben, mich zu begreifen.
»Noch mehr clevere Vernebelungstaktik«, sagte Innes. »Im Grunde sagt das Ding uns gar nichts.«
Ford spürte eine sanfte Hand auf seiner Schulter. Kate fragte: »Darf ich mal einen Moment übernehmen?«
Er zog die Hände von der Tastatur und rückte beiseite. Kate setzte sich.
»Was sind unsere Illusionen?«, tippte sie.
Aufgrund eurer Evolution glaubt ihr, die Welt bestehe aus einzelnen Objekten. Das ist nicht richtig. Vom ersten Augenblick der Schöpfung an war alles mit allem verbunden. Was ihr Raum und Zeit nennt, sind nur Randerscheinungen einer tieferen, darunterliegenden Realität. In dieser Realität gibt es keine getrennte Existenz. Es gibt keinen Raum. Alles ist eins.
»Erkläre mir das«, tippte Kate.
Eure eigene Theorie der Quantenmechanik, so fehlerhaft sie auch ist, rührt bereits an die Wahrheit, dass im Universum alles eins ist.
»Schön und gut«, tippte Kate, »aber spielt das für unser heutiges Leben überhaupt eine Rolle?«
Es spielt sogar eine große Rolle. Ihr betrachtet euch selbst als »Individuen«, als Persönlichkeit mit einem einmaligen, in sich geschlossenen Geist. Ihr glaubt, dass ihr geboren werdet, und ihr glaubt, dass ihr sterbt. Euer ganzes Leben lang habt ihr das Gefühl, von allem getrennt und allein zu sein. Manchmal fühlt ihr euch sogar schrecklich allein. Ihr fürchtet den Tod, weil ihr den Verlust der Individualität fürchtet. All das ist Illusion. Du, er, sie, alle Dinge um euch herum, ob lebendig oder nicht, die Sterne und Galaxien, der leere Raum dazwischen – all das sind keine einzelnen, getrennten Objekte. Im Grunde ist alles miteinander verbunden. Geburt und Tod, Schmerz und Leid, Liebe und Hass, Gut und Böse sind sämtlich Illusionen. Sie sind Atavismen des Evolutionsprozesses. In Wirklichkeit existieren sie nicht.
»Es ist also so, wie die Buddhisten glauben – alles nur Illusion?« Ganz und gar nicht. Es gibt eine absolute Wahrheit, eine Realität. Doch selbst ein kurzer Blick auf diese Realität würde einen menschlichen Geist brechen.
Plötzlich erschien Edelstein, der seine Computerkonsole im Stich gelassen hatte, hinter Ford und Mercer.
»Alan, warum verlassen Sie Ihren Posten …?«, setzte Hazelius an.
»Wenn du Gott bist«, sagte Edelstein mit einem halben Lächeln auf dem Gesicht, während er die Hände hinter dem Rücken verschränkte und vor dem Visualizer auf und ab zu gehen begann, »dann sparen wir uns doch die Tipperei. Dann solltest du mich nämlich hören können.«
Laut und deutlich, kam die Antwort auf dem Visualizer.
»Wir haben irgendwo hier drin ein verstecktes Mikro«, sagte Hazelius. »Melissa, suchen Sie es. Sie müssen es aufspüren.«
»Sicher.«
Edelstein fuhr ungestört fort: »Du sagst ›Alles ist eins‹? Wir haben aber ein Zählsystem: Eins, zwei, drei – damit widerlege ich deine Aussage.«
Eins, zwei, drei … Eine weitere Illusion. Es gibt keine Abzählbarkeit.
»Das ist mathematische Sophisterei«, sagte Edelstein, der nun ärgerlich wurde. »Keine Abzählbarkeit – das habe ich gerade widerlegt, indem ich gezählt habe.« Er hob die Hand. »Ein weiterer Gegenbeweis: Hier zeige ich dir die Ganzzahl Fünf!«
Du zeigst mir eine Hand mit fünf Fingern, nicht die Ganzzahl Fünf. Euer Zahlensystem ist in der wirklichen Welt nicht unabhängig existent. Es ist nichts weiter als eine anspruchsvolle Metapher.
»Ich würde gern deinen Beweis für diese lächerliche Mutmaßung hören.«
Wähle eine zufällige Zahl aus der Reihe der realen Zahlen: Mit Wahrscheinlichkeit eins hast du eine Zahl ausgewählt, die keinen Namen hat, keine Definition, die weder berechnet noch aufgeschrieben werden kann, selbst dann nicht, wenn man das ganze Universum für diese Aufgabe einspannen würde. Dieses Problem erstreckt sich auch auf angeblich definierbare Zahlen wie Π oder die Quadratwurzel aus zwei. Selbst mit einer zeitlich unendlichen Berechnung auf einem Computer von der Größe des Universums könntest du keine dieser beiden Zahlen exakt berechnen. Sag mir, Edelstein: Wie kann man dann behaupten, dass solche Zahlen existieren? Wie kann man dann behaupten, dass der Kreis oder das Quadrat, von denen sich diese Zahlen herleiten, existieren? Wie kann dimensionaler Raum existieren, wenn er nicht gemessen werden kann? Du, Edelstein, bist wie ein Affe, der mittels heroischer geistiger Anstrengung dahintergekommen ist, wie man bis drei zählt. Dann findest du vier Kieselsteinchen und glaubst, die Unendlichkeit entdeckt zu haben.
Ford konnte der Argumentation nicht mehr folgen, bemerkte aber erstaunt, dass Edelstein bleich wurde und verstummte, offensichtlich schockiert, als hätte der Mathematiker etwas begriffen, das ihn erschütterte.
»Ach ja?«, rief Hazelius, kam von seinem Podest in der Mitte herunter und stieß Edelstein beiseite. Dann baute er sich unmittelbar vor dem Visualizer auf. »Du schwingst hier schöne Reden und gibst damit an, dass selbst das Wort Gott nicht angemessen sei, um deine Grandiosität zu beschreiben. Also schön – dann beweise es. Beweise, dass du Gott bist.«
»Nicht«, sagte Kate. »Verlang das nicht.«
»Warum denn nicht, zum Teufel?«
»Weil du vielleicht bekommst, worum du gebeten hast.«
»Von wegen.« Er wandte sich wieder der Maschine zu. »Hast du mich gehört? Beweise, dass du Gott bist.«
Ein Schweigen breitete sich aus, dann erschien die Antwort auf dem Bildschirm: Konstruiere du den Beweis, Hazelius. Aber ich warne dich, dies ist der letzte Test, mit dem ich mich einverstanden erkläre. Wir haben Wichtigeres zu tun und nur sehr wenig Zeit.
»Schön, du wolltest es so haben.«
»Warte«, sagte Kate.
Hazelius drehte sich zu ihr um.
»Gregory, wenn du das schon tun musst, dann mach es wenigstens richtig. Es muss eindeutig sein. Es darf keinerlei Raum für Zweifel oder Zweideutigkeit mehr geben. Frag die Maschine etwas, das nur du selbst weißt – nur du, und niemand sonst auf der ganzen Welt. Etwas Persönliches. Dein tiefstes, bestgehütetes Geheimnis. Etwas, das nur Gott – der wahre Gott – wissen kann.«
»Ja, Kate. Da hast du recht.« Er überlegte lange und sagte dann leise: »Also gut. Ich hab’s.«
Stille.
Alle hatten ihre Arbeit unterbrochen.
Hazelius wandte sich dem Visualizer zu. Er sprach ruhig und gelassen. »Meine Frau Astrid war schwanger, als sie starb. Wir hatten es gerade erst festgestellt. Niemand sonst wusste von ihrer Schwangerschaft. Niemand. Hier ist deine Testaufgabe: Nenn mir den Namen, den wir für unser Kind ausgesucht hatten.«
Wieder herrschte lange Stille, erfüllt nur vom ätherischen Gesang der Detektoren. Der Bildschirm blieb leer. Die Sekunden krochen dahin.
Hazelius schnaubte. »Tja, das hätten wir dann wohl geklärt. Falls jemand ernsthaft daran gezweifelt haben sollte, dass das ein Trick ist.«
Und dann, wie aus großer Ferne, zeichnete sich allmählich ein Name auf dem Bildschirm ab.
Albert Leibniz Gund Hazelius, falls es ein Junge werden sollte.
Hazelius blieb stocksteif stehen, sein Gesicht war ausdruckslos. Alle starrten ihn an und warteten auf den Widerspruch, der aber nicht kam.
»Und wenn es ein Mädchen geworden wäre?«, rief Edelstein und trat näher an den Bildschirm heran. »Was, wenn es ein Mädchen gewesen wäre? Wie hätte der Name dann gelautet?«
Rosalind Curie Gund Hazelius.
Ford sah vollkommen verblüfft zu, wie Hazelius zusammensackte und zu Boden fiel, so langsam und sacht, als wäre er im Stehen eingeschlafen.
44
Als Stanton Lockwood das Oval Office erreichte, wohin er zu einer Krisensitzung bestellt worden war, ging der Präsident in der Mitte des Raums auf und ab wie ein Löwe im Käfig. Roger Morton, sein Stabschef, und der allgegenwärtige Kampagnenleiter Gordon Galdone standen an beiden Enden dieser Bahn wie zwei Schiedsrichter. Die ewig stumme Sekretärin Jean klammerte sich steif an ihren Stenoblock. Lockwood war überrascht, das Gesicht des Nationalen Sicherheitsberaters per Videokonferenz zu sehen, auf einem Flachbildschirm, dessen zweites geöffnetes Videofenster Jack Strand, den Direktor des FBI, zeigte.
»Stanton.« Der Präsident kam auf ihn zu und drückte ihm die Hand. »Schön, dass Sie so kurzfristig herkommen konnten.«
»Das ist doch selbstverständlich, Mr. President.«
»Setzen Sie sich.«
Lockwood nahm Platz, während der Präsident stehen blieb. »Stan, ich habe alle zu dieser Sitzung versammelt, weil da unten in Arizona beim Isabella-Projekt irgendein gewaltiger Mist läuft, auf den Jack mich gerade aufmerksam gemacht hat. Gegen acht Uhr dortiger Zeit wurden sämtliche Kommunikationsleitungen von und zu Isabella gekappt. Die gesamte Red Mesa ist abgeschnitten. Der zuständige Projektmanager im Energieministerium hat versucht, sie auf sämtlichen sicheren Leitungen zu erreichen, per Mobilfunk, sogar über die gewöhnlichen Überlandleitungen. Nichts. Isabella läuft mit voller Leistung, das Team ist offenbar unten im Bunker und völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Die Situation wurde erst durch die Instanzen hochgereicht, bis sie bei Direktor Strand ankam – der mich sofort informiert hat.«
Lockwood nickte. Das war in der Tat sehr seltsam. Sämtliche Back-up-Systeme hatten wiederum Back-up-Systeme. Ein solcher Ausfall sollte nicht vorkommen. Konnte nicht vorkommen.
»Also, vermutlich ist das irgendeine kleine Panne«, sagte der Präsident, »oder vielleicht ein Stromausfall. Ich will keine große Sache daraus machen – der Zeitpunkt dafür ist denkbar ungeeignet.«
Denkbar ungeeignet, das wusste Lockwood, war eine Umschreibung des Präsidenten für die bevorstehenden Wahlen.
Der Präsident tigerte auf und ab. »Und das ist nicht das einzige Problem. Jean? Schalten Sie bitte ein.«
Eine Leinwand senkte sich aus der Decke. Statik zischelte, dann erfüllte das Bild von Reverend Don T. Spates an seinem runden Tisch aus Kirschholz die Leinwand; er sprach mit einer grauen Eminenz. Seine Stimme rollte wie Donner aus den Lautsprechern. Die Sendung war auf acht Minuten geschnitten worden, nur eine Zusammenfassung der Höhepunkte. Als die Zusammenfassung endete, blieb der Präsident stehen und sah Lockwood direkt an. »Das ist das zweite Problem.«
Lockwood holte tief Luft. »Mr. President, ich würde mir keine allzu großen Sorgen machen. Das ist doch verrücktes Zeug. Nur seine extremsten Anhänger werden ihm das abkaufen.«
Der Präsident wandte sich an seinen Stabschef. »Roger? Sagen Sie es ihm.«
Mortons spatelartig flache Finger rückten kühl seine Krawatte zurecht, die grauen Augen hefteten sich an Lockwoods Gesicht. »Noch ehe die Sendung vorbei war, gingen im Weißen Haus fast einhunderttausend E-Mails ein. Vor einer halben Stunde haben wir die Zweihunderttausend überschritten. Den augenblicklichen Stand kann ich Ihnen nicht nennen, weil unsere Server zusammengebrochen sind.«
Lockwood packte das kalte Grausen.
»In all meinen Jahren in der Politik«, sagte der Präsident, »habe ich so etwas noch nie erlebt. Und ausgerechnet in diesem Moment verlieren wir den Kontakt zu diesem gottverdammten Isabella-Projekt!«
Lockwood warf Galdone einen Blick zu, doch wie üblich behielt der undurchsichtige Kampagnenchef seine Meinung erst einmal für sich.
»Könnten Sie jemanden dort rausschicken«, schlug Lockwood vor, »um nach dem Rechten zu sehen?«
Der FBIDirektor meldete sich zu Wort. »Wir denken darüber nach. Vielleicht ein kleines Team … nur für den Fall, dass wir da draußen eine … eine Situation haben.«
»Eine Situation?«
»Es ist nicht völlig auszuschließen, dass wir es vielleicht mit Terroristen oder einem Akt interner Meuterei zu tun haben. Wohl bemerkt, die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering. Aber wir können es nicht ausschließen.«
Lockwoods Gefühl der Unwirklichkeit wurde immer stärker.
»Also, Stanton«, sagte der Präsident und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Sie sind für Isabella zuständig. Was zum Teufel ist da los?«
Lockwood räusperte sich. »Ich kann nur sagen, dass das extrem ungewöhnlich ist. So etwas ist überhaupt nicht vorgesehen und dürfte nicht vorkommen. Ich kann mir das nicht erklären, außer …«
»Außer was?«, fragte der Präsident.
»Außer die Wissenschaftler hätten das Kommunikationssystem absichtlich ausgeschaltet.«
»Wie finden wir das heraus?«
Lockwood überlegte einen Moment lang. »In Los Alamos gibt es einen Mann namens Bernard Wolf. Er war die rechte Hand des Chefingenieurs Ken Dolby, der Isabella konstruiert hat. Er kennt die gesamte Anlage, die Systeme, die Computer, sämtliche Zusammenhänge. Und er müsste eine vollständige Kopie der Konstruktionspläne haben.«
Der Präsident wandte sich an seinen Stabschef. »Verbindung herstellen, er soll sich bereithalten.«
»Ja, Mr. President.« Der Stabschef schickte seinen Assistenten mit dem Auftrag hinaus. Dann trat er ans Fenster und drehte sich um. Sein Gesicht war gerötet, und die Adern an seinem Hals pulsierten sichtbar. Er sah Lockwood direkt an. »Über Wochen hinweg habe ich Ihnen mehrmals gesagt, Stan, dass ich mir Sorgen über die mangelnden Fortschritte des Isabella-Projekts mache. Was zum Teufel haben Sie eigentlich getrieben?«
Lockwood war fassungslos über diesen Tonfall. Seit Jahren hatte niemand mehr so mit ihm gesprochen. Er gab sich große Mühe, seine Stimme beherrscht klingen zu lassen. »Ich habe Tag und Nacht daran gearbeitet. Ich habe sogar einen Mann dort eingeschleust.«
»Einen Mann eingeschleust? Himmelherrgott. Ohne das mit mir abzusprechen?«
»Ich habe das autorisiert«, erklärte der Präsident barsch. »Konzentrieren wir uns doch bitte auf das anstehende Problem, statt hier herumzumeckern.«
»Was genau soll dieser Mann dort tun?«, fragte Morton, der damit den Präsidenten schlicht ignorierte.
»Er forscht nach, was die Verzögerung verursacht, und versucht herauszufinden, was dahintersteckt.«
»Und?«
»Ich erwarte morgen seine Ergebnisse.«
»Wie halten Sie Kontakt zu ihm?«
»Über ein sicheres Satellitentelefon«, sagte Lockwood. »Aber wenn er mit den anderen im Bunker ist – unterirdisch funktioniert es leider nicht.«
»Versuchen Sie es trotzdem.«
Mit zitternder Hand notierte Lockwood die Nummer auf einem Blatt Papier und reichte es Jean.
»Schalten Sie auf Lautsprecher«, sagte Morton.
Das Telefon klingelte fünf Mal, zehn Mal, fünfzehn Mal.
»Das reicht«, sagte Morton und starrte Lockwood kalt an. Dann wandte er sich langsam zum Präsidenten um. »Mr. President, darf ich mit allem gebotenen Respekt vorschlagen, dass wir diese Sitzung ins Krisenzentrum verlegen? Ich habe das Gefühl, das wird eine lange Nacht.«
Lockwood starrte auf das Wappen der USA auf dem Teppich. Das alles kam ihm so unwirklich vor. War es möglich, dass Ford sich von denen hatte einwickeln lassen und nun selbst an der Verschwörung beteiligt war?
45
Hazelius lag hingestreckt auf dem Linoleum. Ford eilte hinzu, und auch die anderen Teammitglieder drängten sich um die liegende Gestalt. Ford kniete sich hin und tastete nach dem Pulsschlag am Hals. Er war kräftig und schnell. Kate nahm Hazelius’ Hand und tätschelte sie. »Gregory? Gregory?«
»Ich brauche eine Taschenlampe«, sagte Ford.
Wardlaw reichte ihm eine. Ford schob mit dem Daumen Hazelius’ Augenlid hoch und leuchtete das Auge mit der Taschenlampe an. Die Pupille zog sich sofort zusammen.
»Wasser.«
Ein Pappbecher wurde ihm in die Hand gedrückt. Ford holte sein Taschentuch hervor, tauchte es in das Wasser und betupfte damit Hazelius’ Gesicht. Die Schultern des Wissenschaftlers zuckten, flatternd öffneten sich seine Lider. Verwirrt und erschrocken blickte Hazelius um sich.
»Was …?«
»Ist schon gut«, sagte Ford. »Sie sind nur in Ohnmacht gefallen.«
Hazelius starrte ihn verständnislos an. Dann kroch die schlimme Erinnerung über sein Gesicht. Er wollte sich aufsetzen.
»Machen Sie hübsch langsam«, sagte Ford und hielt ihn fest. »Warten Sie, bis Sie wieder einen klaren Kopf haben.«
Hazelius legte sich wieder hin und starrte an die Decke. »O Gott«, stöhnte er. »Das kann nicht wahr sein. Das darf nicht sein.«
Der Geruch heißer elektronischer Apparate hing schwer in der stickigen Luft. Isabella stöhnte. Das Geräusch kam aus allen Richtungen zugleich, als stieße der Berg selbst diesen Klagelaut aus.
»Helft mir in meinen Sessel«, keuchte Hazelius.
Kate nahm einen Arm, Ford den anderen. Sie richteten ihn auf und stützten ihn auf dem Weg zum Mittelpunkt der Brücke, wo er sich auf seinen Captain-Kirk-Sessel sinken ließ.
Hazelius hielt sich an den Armlehnen fest und blickte sich um. Ford hatte noch nie so unheimliche blaue Augen gesehen.
Edelstein fragte barsch: »Ist das richtig? Die Namen? Ich muss es wissen.«
Hazelius nickte.
»Natürlich gibt es dafür eine Erklärung.«
Hazelius schüttelte den Kopf.
»Sie müssen es jemandem erzählt haben«, sagte Edelstein. »Jemand hat irgendwie davon erfahren.«
»Nein.«
»Der Arzt, der Ihrer Frau gesagt hat, dass sie schwanger ist. Er hat die Namen erfahren.«
»Sie hat den Schwangerschaftstest zu Hause gemacht«, erklärte Hazelius heiser. »Wir haben es erst eine Stunde … vor ihrem Tod erfahren.«
»Dann hat sie jemanden angerufen. Ihre Mutter vielleicht.«
Erneut heftiges Kopfschütteln. »Unmöglich. Ich war die ganze Zeit über bei ihr. Wir haben den Test aus der Apotheke gemacht und über die Namen gesprochen. Sonst nichts. Eine Stunde. Wir sind nirgendwohin gegangen, haben mit niemandem gesprochen. Sie war so glücklich. Das hat ja zur Ruptur des Aneurysmas geführt – die plötzliche Aufregung und die große Freude haben ihren Blutdruck in die Höhe getrieben. Gehirnblutung.«
»Da muss irgendein Trick dabei sein«, sagte Edelstein.
Chen schüttelte den Kopf, dass ihr das lange schwarze Haar um den Kopf flog. »Alan, die Daten kommen tatsächlich aus diesem Loch in der Raumzeit. Sie kommen von keinem anderen Punkt innerhalb des Systems. Ich habe den Output einmal dorthin zurückverfolgt, und jetzt zum zweiten Mal, ich habe die Prozessoren sämtlicher Detektoren neu gestartet und auch sonst jeden Test laufen lassen, der mir einfiel. Es ist echt.«
Hazelius schöpfte zittrig Atem. »Es konnte meine Gedanken lesen. Genau wie Kates. Wir kommen nicht darum herum, Alan. Wie hätte es das erraten sollen? Was auch immer es ist, es kennt unsere intimsten Gedanken.«
Niemand rührte sich. Ford versuchte, seinen Verstand mit dieser Tatsache zu arrangieren und eine rationale Erklärung dafür zu finden. Edelstein hatte recht: Dahinter musste irgendein Betrug stecken.
Als Hazelius wieder sprach, klang seine Stimme ruhig und sachlich. »Die Maschine läuft ohne jede Überwachung. Alle sofort zurück an die Arbeit.«
»Wollen wir nicht … abschalten?«, fragte Julie Thibodeaux mit bebender Stimme.
»Auf keinen Fall.«
Isabella summte weiter vor sich hin und verarbeitete Unmengen Energie. Auf den Bildschirmen rauschte der Grieß. Die Detektoren sangen ihr seltsames Lied. Die Elektronik knisterte – als hätte die Anspannung der Wissenschaftler den Computer angesteckt und die Maschine selbst nervös gemacht.
»Alan, zurück an die p-fünfer, alles ruhig halten. Kate, ich möchte, dass du ein paar Berechnungen zur Geometrie dieses Raum-Zeit-Lochs anstellst. Wie ist seine Ausdehnung? Wo führt es hin? Melissa, Sie tun sich mit Kate zusammen und nehmen sich diese Datenwolke vor. Analysieren Sie sie auf allen Frequenzen – finden Sie heraus, was zum Teufel das ist.«
»Was ist mit der Malware?«, fragte Dolby, als könne er nicht verstehen, was gerade passiert war.
»Ken, begreifen Sie denn nicht? Es gibt keine Malware.«
Dolby schien wie vor den Kopf geschlagen. »Sie glauben, das ist … Gott?«
Hazelius erwiderte seinen Blick mit undurchdringlicher Miene. »Ich glaube, dass Isabella sich in einer echten Kommunikation befindet. Ob das tatsächlich Gott ist – was auch immer dieses Wort bedeuten soll –, können wir nicht beurteilen, weil wir noch nicht genug Daten haben. Und deshalb müssen wir weitermachen.«
Ford blickte sich um. Der Schock aller Anwesenden war immer noch fast greifbar. Wardlaws Gesicht war schweißnass. Kate und St. Vincent waren bleich wie der Tod.
Er nahm Kates Hand. »Geht es dir gut?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht so recht.«
Hazelius setzte das Gespräch mit Dolby fort. »Wie lange können wir sie noch laufen lassen?«
»Es ist gefährlich, sie überhaupt mit voller Leistung laufen zu lassen.«
»Ich habe Sie nicht gefragt, ob es gefährlich ist. Ich will wissen, wie lange.«
»Zwei, drei Stunden.«
»Moment«, sagte Innes. »Wir wollen doch nichts überstürzen. Wir müssen uns die Zeit nehmen, kurz darüber nachzudenken, was hier passiert ist. Das ist … beispiellos.«
Hazelius wandte sich zu ihm um. »George, wenn Gott mit Ihnen sprechen wollte, würden Sie sich einfach abwenden und weitergehen?«
»Ach, nun hören Sie aber auf, Gregory! Sie können doch nicht ernsthaft glauben, dass wir hier mit Gott sprechen!«
»Ich habe ja auch nur gesagt, wenn.«
»Ich weigere mich, absurde hypothetische Fragen zu beantworten.«
»George, falls wir Kontakt zu irgendeiner universalen Intelligenz hergestellt haben sollten, können wir uns jetzt nicht einfach von ihr abwenden. Weil das eine einmalige Gelegenheit ist. Wir haben sie nur jetzt. Sie wird sich nicht ewig bieten.«
»Das ist doch Irrsinn«, sagte Innes mit schwacher Stimme.
»Nein, George, das ist kein Irrsinn. Das Ding hat uns den Beweis geliefert, den wir gefordert hatten. Zwei Mal sogar. Vielleicht ist es Gott, vielleicht auch etwas anderes. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines: Ich steige nicht vor der Endstation aus diesem Zug aus.« Er ließ den glühenden Blick durch den Raum schweifen. »Also, wie steht es? Seid ihr alle dabei?«
Isabellas Gesang erfüllte den Raum. Die Bildschirme flackerten. Niemand sprach ein Wort. Aber Ford konnte das Ja auf sämtlichen Gesichtern deutlich erkennen.
46
In der nach hinten gelegenen Schlafnische seines Trailers schloss Pastor Russ Eddy seine Bibel und legte sie auf einen von mehreren wackeligen Stapeln Bücher auf seinem Schreibtisch. Er rückte die Stapel von seinem Mac ab, um ein wenig Platz zum Arbeiten zu haben. Dann weckte er den Computer, und der Monitor tauchte den Raum in kühles Blau. Es war neun Uhr abends.
Sein Kopf war so klar wie noch nie zuvor. Gott hatte seine Gebete erhört. Gott hatte ihm genau gesagt, was er tun musste.
Ein paar Minuten lang starrte er auf den leeren Bildschirm und sammelte seine Gedanken. Äußerlich war sein Körper ganz still. Innerlich pochte sein Herz vor Inbrunst, beseelt vom Heiligen Geist. Es gab einen Grund dafür, weshalb er in einer schäbigen Missionskirche am Rande der Welt gelandet war. Es gab einen Grund für Lorenzos Tod. Russell Eddy war von Gott hier plaziert worden, um Ihm als Wachposten zu dienen. Gott hatte ihn dazu auserwählt, eine entscheidende Rolle in der bevorstehenden Endzeit zu spielen.
Eine halbe Stunde lang saß er still da und dachte intensiv über den Brief nach, den er schreiben musste. Sein Verstand blieb übernatürlich klar und scharf, während er den Brief, Wort für Wort, in Gedanken verfasste.
Er war bereit. Er senkte den Kopf, sprach ein kurzes Gebet und hob die Hände zur Tastatur.
Meine lieben Freunde in Jesus Christus, viele von euch haben heute Abend die Sendung Roundtable America von Reverend Don T. Spates gesehen. Ihr habt gehört, was er über das Isabella-Projekt gesagt hat. Ihr habt gehört, dass er von einer geheimen Quelle gesprochen hat, einem »frommen Christen vor Ort«, von dem er seine Informationen erhält.
Ich bin diese geheime Quelle. Gott hat mich gebeten, euch zu enthüllen, was ich weiß. Was ihr damit anfangt, ist eine Angelegenheit zwischen euch und Gott, dem Herrn.
Mein Name ist Russell Eddy, ich bin Pastor der Mission »Gathered in Thy Name« im Indianerreservat. Unsere einfache, abgelegene Missionsstation liegt in der Wüste von Arizona am Fuß der Red Mesa, keine fünfzehn Kilometer vom Isabella-Projekt entfernt.
Meine Freunde, ich bringe euch Neuigkeiten – unglaubliche, erschreckende und doch höchst erfreuliche Neuigkeiten. Das, worauf Christen seit zweitausend Jahren warten, geschieht jetzt, in diesem Augenblick, während ich diese E-Mail schreibe.
Die Endzeit ist angebrochen. Die Apokalypse und die Entrückung stehen unmittelbar bevor, jetzt, heute Nacht. Ihr habt in der Buchreihe Finale viel darüber gelesen. Nun, jetzt ist es nicht länger eine Fiktion. Es geschieht. Es wird Wirklichkeit.
Ich weiß, dass viele von euch solche Behauptungen schon öfter gehört haben. Viele falsche Propheten haben genau dies in der Vergangenheit schon verkündet. Ihr seid also skeptisch, und das zu Recht. Ich bitte euch nur um eines: Hört mich erst an. »Wer Ohren hat zu hören, der höre!«
Macht nicht den Fehler, diese E-Mail einfach zu löschen. Damit könntet ihr euren Platz zur Rechten Jesu Christi am Tag des Jüngsten Gerichts verspielen. Lest erst, was ich zu sagen habe. Betet. Und dann entscheidet selbst.
Zunächst muss ich zwei wichtige Tatsachen verkünden. Die erste ist diese: Der Widerchrist ist hier unter uns. Ich bin ihm begegnet. Ich habe mit ihm gesprochen. Er ist wirklich. Seine von langer Hand geplanten Intrigen und Vorhaben tragen nun Früchte. Gott sei mein Zeuge, ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er seine Maske abnahm und sich zu erkennen gab.
Meine zweite Verkündigung ist sogar noch wichtiger: Die Apokalypse findet jetzt statt. Der Weltuntergang beginnt noch heute Nacht.
Es ist nur natürlich, dass ihr skeptisch seid. Ihr sagt: Jetzt gleich? Die Apokalypse? Während meine Kinder oben schlafen? Während meine Frau schon im Bett liegt? Unmöglich! Doch bedenkt, was der Apostel Matthäus sagte: »Denn des Menschen Sohn wird kommen zu einer Stunde, da ihr’s nicht meinet.« Diese Stunde ist jetzt. Hier. Heute.
Und nun will ich euch meine Behauptungen beweisen. Der Schlüssel dazu ist in Offenbarung 13,1 und nahen Passagen zu finden.
»Und ich trat an den Sand des Meeres und sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern Namen der Lästerung.«
Der »Sand des Meeres« ist die Wüste von Arizona. In der alten Maßeinheit aus der Zeit, als die King-James-Bibel entstand, beträgt Isabellas Durchmesser genau sieben Leagues. Isabella hat zehn Detektoren, von denen jeder zehn verschiedene Teilchen misst. Einige der Detektoren bezeichnet man sogar als »Horn«. Falls ihr glaubt, ich hätte mir das alles nur ausgedacht, seht selbst auf der Website von Isabella nach, unter www.theisabellaproject.org. Dort könnt ihr all das nachprüfen.
»Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Stuhl und große Macht.«
Und wer ist der Antichrist, der hinter alldem steckt? Ein Mann namens Gregory North Hazelius. Er ist derjenige, der das Isabella-Projekt vorgeschlagen und das Geld dafür beschafft hat und jetzt das Team leitet. Die New York Times bezeichnet Hazelius als den »klügsten Mann der Welt«. Hazelius selbst hat oft damit geprahlt. Einmal hat er öffentlich erklärt: »Alle Welt ist mir intellektuell unterlegen«, und die Menschheit einen »Haufen Hornochsen« genannt. Auch das könnt ihr nachprüfen, meine Freunde. Doch jetzt wird seine wahre Natur offenbar: Gregory North Hazelius ist der Widerchrist. Ihr zweifelt an meinen Worten? Ich bin ihm begegnet. Ich habe mit ihm gesprochen, von Angesicht zu Angesicht. Ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie er Gott lästert, wie er Gift und Galle auf unseren Erlöser speit. Ich habe selbst mit angehört, wie er Christen als »Insekten« und »Bakterien« beschimpft hat. Aber glaubt nicht mir: Glaubt der Bibel. In der Offenbarung 13 finden wir noch mehr.
»Und sie beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich? … Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen … Und es tat seinen Mund auf zur Lästerung gegen Gott, zu lästern seinen Namen und seine Hütte und die im Himmel wohnen.«
Wie ihr in Roundtable America gehört habt, behauptet die Isabella-Maschine von sich, sie sei Gott. Doch sie sprechen nicht mit Gott, meine Freunde. Sie sprechen mit Satan.
»Weh denen, die auf Erden wohnen und auf dem Meer! Denn der Teufel kommt zu euch hinab und hat einen großen Zorn und weiß, dass er wenig Zeit hat.«
Satan ist in die Ecke gedrängt. Er kämpft sein letztes Gefecht – und er war noch nie so gefährlich.
Ihr mögt fragen: Wo ist der Beweis? Hört mir zu, und ihr sollt ihn bekommen.
Seht euch diese Aussage an, die ich direkt von der Website des Isabella-Projekts kopiert habe. »Bei voller Leistung bildet Isabella bei K-Null die Temperatur des Universums während der ersten Millionstelsekunde des Urknalls nach, eine Temperatur von über einer Billion Grad Fahrenheit.« Und dann schlagt die Offenbarung 13,13 auf.
»Und [das Tier] tut große Zeichen, dass es auch macht Feuer vom Himmel fallen vor den Menschen.«
Wieder einmal wird die Prophezeiung des Apostels Johannes erfüllt.
Hier ist ein weiteres Zitat von der Website des Isabella-Projekts: »Der Supercomputer, der Isabella kontrolliert, ist die leistungsstärkste Rechenmaschine auf dem gesamten Planeten. Er läuft mit der Höchstgeschwindigkeit von fünfzehn Petaflops (fünfzehn Billiarden Operationen pro Sekunde). Damit kommen wir endlich der vermuteten Geschwindigkeit des menschlichen Gehirns nahe.« Und nun vergleicht das mit der Offenbarung:
»Und es ward ihm gegeben, dass es dem Bilde des Tiers den Geist gab, dass des Tiers Bild redete und machte, dass alle, welche nicht des Tiers Bild anbeteten, getötet würden.«
Könnt ihr euch heute Abend schlafen legen in dem Wissen, dass der Antichrist euch töten wird?
Und schließlich, meine Freunde, gebe ich euch die bedeutendste Passage der Offenbarung, die Worte, die den innersten Kern der Vision des Apostels Johannes bilden:
»Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers: denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.«
Die Bibel sagt uns, woran wir den Widerchrist erkennen können – an der Zahl 666. Die Muttersprache des Apostels Johannes war Hebräisch. Er wusste, dass jeder hebräische Buchstabe einer Zahl zugeordnet war. Gematrie ist die Methode, mittels deren man in einem hebräischen Namen oder Text verborgene Zahlen ausfindig macht. Also wollen wir nachsehen, was geschieht, wenn wir Isabella und ihren Standort Arizona nach den Prinzipien der Gematrie untersuchen. Wenn wir die römischen Buchstaben durch die entsprechenden hebräischen Lettern ersetzen und jedem hebräischen Buchstaben seinen Zahlenwert zuordnen, erhalten wir Folgendes:
A
Aleph
1
R
Resch
200
I
Jod
14
Z
Schin
300
O
Ajin
100
N
Nun
50
A
Aleph
1
Gesamt
666
Ihr glaubt mir immer noch nicht? Dann seht euch das an:
I
Jod
14
S
Schin
300
A
Aleph
1
B
Beth
2
E
He
88
L
Lamed
130
L
Lamed
130
A
Aleph
1
Gesamt
666
Meine Freunde, ist dies nicht der Beweis, auf den wir gewartet haben?
Nun bedenkt diese Worte aus der Offenbarung:
»Und er hat sie versammelt an einen Ort, der da heißt auf hebräisch Harmagedon.«
Armageddon ist der Ort, an dem Satan sein letztes Gefecht gegen Gottes auserwählten König Jesus führt. Das Wort Armageddon leitet sich von den hebräischen Worten »Har Megiddo« her, das bedeutet »Berg von Megiddo«. Doch dieser »Berg« wurde im Heiligen Land nie gefunden, und das Wort »Megiddo« ist im Grunde nur eine alte Form der hebräischen Bezeichnung für rötliche Erde. Ihr seht also: Das Wort »Armageddon« in der Offenbarung bezeichnet eigentlich einen Ort mit Namen »Roter Berg«. Meine Freunde, das Isabella-Projekt liegt auf der sogenannten Red Mesa in Arizona. Die Navajo-Indianer nennen diesen Tafelberg Dzilth Chíí, was wörtlich übersetzt »Roter Berg« bedeutet – Armageddon.
Das sind die Beweise, meine Freunde. Und nun seid ihr am Zuge. Was werdet ihr mit dieser Information anfangen? Der ultimative Augenblick in eurem Leben als Christen ist eingetreten, GENAU JETZT, während ihr diese E-Mail lest.
WAS WERDET IHR TUN?
Werdet ihr zu Hause bleiben? Werdet ihr zögern und euch fragen, ob ich nur einer von vielen Verrückten auf der Welt bin? Werdet ihr vor eurem Computer sitzen bleiben, weil ihr nicht wisst, wo die Red Mesa ist oder wie ihr mitten in der Nacht dorthin kommen sollt? Werdet ihr es lieber bis morgen aufschieben? Werdet ihr auf weitere Beweise warten, auf ein Zeichen?
Oder werdet ihr diesen Ruf jetzt sofort befolgen und Soldat in der Armee Gottes werden? Werdet ihr jetzt sofort alles stehen-und liegenlassen, werdet ihr jetzt sofort von eurem Tisch aufstehen, euer Haus verlassen und zur Red Mesa kommen, um euch mir anzuschließen in den Streit auf jenen Tag Gottes, des Allmächtigen? Werdet ihr jetzt sofort an meiner Seite kämpfen, Schulter an Schulter, Brüder in Jesus Christus, in jener letzten Schlacht gegen Satan und seinen Antichrist?
DIE ENTSCHEIDUNG LIEGT ALLEIN BEI EUCH.
In Jesus Christus
Pastor Russ Eddy
Gathered in Thy Name Mission
Blue Gap, Arizona
Diese E-Mail wurde versandt am 14. September, 21.37 Uhr MDT.
LEITET DIESE E-MAIL AN ALLE EURE CHRISTLICHEN FREUNDE WEITER – UND DANN KOMMT ZUR RED MESA, WO ICH EUCH ERWARTE!
Als Eddy fertig war, ließ er sich verschwitzt und mit zitternden Händen zurücksinken. Er las seine Botschaft nicht noch einmal durch. Gott hatte seine Hand geführt, und das bedeutete, dass alles perfekt war.
Er klickte in die Betreffzeile und tippte:
Red Mesa = Armageddon
Er überprüfte die Liste von E-Mail-Adressen, die er mühsam angelegt hatte in der Hoffnung, Geld für die Mission sammeln zu können. Einige hatte er von Kirchenwebsites und christlichen Mailing-Listen; andere waren Kontakte aus christlichen Foren, Newsgroups, Chatrooms und Portalen im Internet.
Zweitausendeinhundertsechzehn Namen. Natürlich würden die meisten nicht reagieren. Schließlich sagte die Bibel genau das vorher: Denn viele sind berufen, doch wenige sind auserwählt. Aber zweitausend war immerhin ein Anfang. Von diesen zweitausend würden vielleicht ein paar Dutzend die E-Mail weiterleiten und sich auf den Weg zur Red Mesa machen. Auf diese nächste Runde reagierten vielleicht ein paar hundert, und ein paar tausend auf die dritte. Der Brief würde auf Hunderten christlichen Websites auftauchen. Christliche Blogger würden ihn aufgreifen, und so würde die Botschaft wachsen. Eddy hatte genug Zeit im Internet verbracht, um zu wissen, dass die Mathematik zu seinen Gunsten sprach.
Er kopierte sein gesamtes Adressbuch in die Empfängerzeile und bewegte den Cursor zu der kleinen Schaltfläche mit dem Papierflieger darauf. Er holte tief Luft und klickte auf den Papierflieger. Mit einem unhörbaren, eingebildeten Wwwusch! zischte die E-Mail mit Lichtgeschwindigkeit hinaus in den elektronischen Äther.
Es ist vollbracht.
Zitternd lehnte er sich zurück. Alles war still. Doch die Welt hatte sich verändert.
Er blieb noch fünf Minuten lang sitzen. Dann, sobald er wieder ruhig atmen konnte, stand er auf und sammelte sich. Nach einigem Zögern holte er seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche, schloss den Aktenschrank neben seinem Schreibtisch auf und holte den 44er Ruger Magnum Blackhawk heraus – sein Vater hatte ihm den Revolver zum achtzehnten Geburtstag geschenkt. Die Waffe war eine limitierte Auflage, eine Replik eines echten Wildwest-Revolvers, aber technisch auf dem neuesten Stand und sehr zuverlässig. Mit dieser Waffe hatte er vor vielen Jahren ein paar Tage auf dem Schießstand verbracht, und er hielt sie stets gut geölt und einsatzbereit.
Eddy gab sich keinen Illusionen hin. Ein Krieg stand bevor – ein echter Krieg.
Er lud den Revolver mit 240-Grain-Remington-Mantel-geschossen. Dann packte er die Waffe und zwei volle Schachteln Munition in einen Rucksack, dazu eine Flasche Wasser, eine Taschenlampe samt Ersatzbatterien, ein Fernglas, seine Bibel, Notizbuch und Stift. Er kramte den kleinen Benzinkanister hervor, den er stets mit Petroleum gefüllt bereithielt, falls der Strom ausfiel. Der Kanister kam auch noch in den Rucksack.
Er warf sich den Rucksack über die Schulter, trat hinaus in die Nachtluft und blickte zur Red Mesa auf, deren gewaltige Silhouette sich vor dem nächtlichen Himmel abhob. Ein einziges, kaum erkennbares Licht markierte den Zugang zum Isabella-Projekt, ganz am Rand der dunklen Insel aus Fels.
Er warf den Rucksack auf den Beifahrersitz seines Pick-up und stieg ein. Er hatte kaum noch genug Benzin, um es bis auf die Mesa zu schaffen. Doch was spielte das schon für eine Rolle? Gott, der ihn bis hierher geführt hatte, würde ihn auch wieder nach Hause bringen und mit seinen Kindern vereinen, und wenn nicht auf Erden, dann im nächsten Leben.
47
Alle zurück an ihre Plätze«, befahl Hazelius, dessen Stimme allmählich wieder kräftiger klang. Er wandte sich dem Visualizer zu und sprach den Bildschirm an. »Also schön, fangen wir noch mal von vorn an. Wer zum Teufel bist du – wirklich?«
Ford starrte wie gebannt auf den Monitor und wartete darauf, dass eine Antwort erschien. Er fühlte, wie sehr ihn diese Sache beinahe gegen seinen Willen fesselte.
Aus Gründen, die ich bereits erläutert habe, könnt ihr nicht wissen, was ich bin. Das Wort Gott kommt dem nahe, doch auch das bleibt eine äußerst ärmliche Beschreibung.
»Bist du ein Teil dieses Universums oder davon getrennt?«, fragte Hazelius.
Es gibt keine Getrenntheit. Wir alle sind eins.
»Warum existiert das Universum?«
Das Universum existiert, weil es einfacher ist als Nichts. Das ist auch der Grund für meine Existenz. Das Universum könnte nicht einfacher sein, als es ist. Dies ist das physikalische Gesetz, aus dem sich alle anderen ergeben.
»Was könnte einfacher sein als Nichts?«, fragte Ford.
»Nichts« kann nicht existieren. Das ist ein intuitives Paradoxon. Das Universum ist der Zustand, der Nichts am nächsten kommt.
»Wenn alles so einfach ist«, fragte Edelstein, »warum ist das Universum dann so komplex?«
Das komplizierte Universum, das ihr seht, ist eine emergente Eigenschaft seiner Einfachheit.
»Was ist denn dann diese grundlegende Einfachheit, die allem zugrunde liegen soll?«, fragte Edelstein.
Das ist die Realität, die euren Verstand sprengen würde.
»Allmählich reicht es mir!«, rief Edelstein. »Wenn du so klug bist, solltest du uns armen, geistig umnachteten Menschen so etwas erklären können! Willst du vielleicht behaupten, wir wüssten so wenig über die Realität, dass unsere physikalischen Gesetze reine Täuschung sind?«
Ihr habt eure physikalischen Gesetze auf die Annahme aufgebaut, dass Zeit und Raum existieren. All eure Gesetze basieren auf bestimmten Bezugssystemen. Das ist bereits formal falsch. Bald werden eure liebgewonnenen Annahmen über die wirkliche Welt einstürzen und in Flammen aufgehen. Aus der Asche werdet ihr eine neue Art von Wissenschaft aufbauen.
»Wenn unsere physikalischen Gesetze falsch sind, warum ist unsere Wissenschaft dann so spektakulär erfolgreich?«
Newtons Bewegungsgesetze waren zwar fehlerhaft, aber ausreichend, um Menschen zum Mond zu schicken. Dasselbe gilt für alle eure Gesetze: Sie sind Näherungen, mit denen man zwar arbeiten kann, die aber grundsätzlich fehlerhaft sind.
»Wie soll man denn physikalische Gesetze konstruieren ohne Zeit und Raum?«
Wir verschwenden unsere Zeit, indem wir uns gegenseitig mit metaphysischen Konzepten bewerfen.
»Worüber sollten wir denn besser sprechen?«, fragte Hazelius und schnitt Edelstein damit das Wort ab.
Über den Grund, weshalb ich euch aufgesucht habe.
»Und der wäre?«
Ich habe eine Aufgabe für euch.
Isabellas singendes Geräusch wurde plötzlich zu einem donnernden Heulen wie von einem vorbeifahrenden Zug. Irgendwo im Berg war ein Grollen zu hören, eine Vibration der Mesa selbst. Der Bildschirm flackerte, Grieß fegte darüber hinweg und löschte die Worte aus.
»Scheiße«, keuchte Dolby. »Scheiße.« Hastig machte er sich daran, die Software zu regeln, und seine Finger rasten über die Tastatur.
»Was zum Teufel ist denn jetzt los?«, rief Hazelius.
»Der Strahl ist dekollimiert«, sagte Dolby. »Harlan, verdammt, dein Alarm für den Energiefluss blinkt! Alan! Kümmere dich gefälligst um deine Server! Was stehst du da herum, Herrgott noch mal?«
»Zurück auf Ihre Posten!«, befahl Hazelius.
Ein weiteres Beben erschütterte den Bunker. Alle hasteten zurück an ihre Arbeitsplätze. Eine neue Nachricht hing ungelesen mitten auf dem Bildschirm.
»Stabilisiert sich«, sagte St. Vincent.
»Wieder kollimiert«, meldete Dolby. Auf dem Rücken seines T-Shirts breitete sich ein dunkler Schweißfleck aus.
»Alan, was machen die Server?«
»Unter Kontrolle.«
»Was ist mit dem Magneten?«, fragte Hazelius.
»Hält noch«, sagte Dolby, »aber wir haben nicht mehr viel Zeit. Das war verdammt knapp.«
»Also dann.« Hazelius wandte sich wieder dem Visualizer zu. »Sag uns doch bitte, was das für eine Aufgabe ist.«
48
Dem Pick-up ging kurz vor Ende des Dugway das Benzin aus. Eddy nutzte das letzte bisschen Schwung, um von der Straße ins Gebüsch zu fahren, wo der Wagen holpernd stehenblieb. Über den Skeletten der Pinyon-Kiefern zeigte ein schwaches Leuchten vor dem Nachthimmel den Standort des Isabella-Projekts an – viereinhalb Kilometer östlich von hier.
Er stieg aus dem Pick-up, holte seinen Rucksack heraus, hängte ihn sich über und machte sich auf den Weg. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Von seinem Trailer aus konnte er die Sterne zwar auch sehen, doch heute Nacht, hier oben auf der Mesa, erschienen sie ihm unnatürlich hell – kleine Teiche und Wirbel phosphoreszierenden Lichts, die die Himmelskuppel füllten. In der Ferne zeichneten sich schwach die Masten der Hochspannungsleitungen, die zu Isabella führten, vor dem Firmament ab.
Er konnte jeden pochenden Herzschlag spüren. Er hörte das Blut in seinen Ohren summen. Er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Er marschierte in strammem Tempo und erreichte nach zwanzig Minuten die Abzweigung zum alten Nakai-Rock-Handelsposten. Hier hielt er inne und beschloss dann, zunächst das Tal auszukundschaften. Wenige Minuten später kam er am Rand der Felsklippen an, wo die Straße steil ins Tal hinabführte. Er richtete das Fernglas auf die kleine Siedlung.
Mitten auf dem Spielfeld stand ein großes Tipi, von einem flackernden Feuer im Innern erleuchtet. In der Nähe ragte ein etwas absonderliches, provisorisches Bauwerk auf, eine Kuppel aus aneinandergelehnten Zweigen und Zeltbahnen, die am Boden mit Steinen beschwert waren. Dahinter brannte gerade ein großes Feuer herab, und in der Glut war ein Haufen kirschrot glühender Steine auszumachen.
Er hatte so etwas schon einmal gesehen: eine Navajo-Schwitzhütte.
Leiser Gesang und schneller Trommelschlag trieben durch die trockene, stille Luft zu ihm herauf. Wie seltsam. Die Navajos hielten hier eine Zeremonie ab. Hatten auch sie es gespürt – dieses gewaltige, machtvolle Ereignis, das kurz bevorstand? Hatten sie den drohenden Zorn Gottes gespürt? Aber diese Leute waren Götzenanbeter, die falsche Götter verehrten. Er schüttelte traurig den Kopf: Und die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt; und wenige sind ihrer, die ihn finden.
Die Schwitzhütte und das Tipi waren ein weiteres Anzeichen dafür, dass die Endzeit tatsächlich angebrochen war und der Teufel unter ihnen wandelte.
Abgesehen von den Navajos, schien das Tal verlassen zu sein, die verstreuten Häuschen waren dunkel. Eddy schlug einen Bogen, umging die Siedlung und erreichte nach weiteren zehn Minuten das Flugfeld. Auch die Hangars, die sich vom Nachthimmel abhoben, waren verlassen. Der Widerchrist und sein Gefolge hatten sich bei Isabella versammelt, tief unten im Berg – dessen war er sicher.
Er näherte sich dem Maschendrahtzaun der Sicherheits zone, wobei er darauf achtete, nicht so nahe heranzukommen, dass er irgendeinen Alarm auslöste, den sie hier sicher installiert hatten. Der Zaun schimmerte im kalten Licht der Natriumdampflampen, die das Gebiet dahinter beleuchteten. Der Aufzug, der hinab zu Isabella führte, stand ein paar hundert Meter entfernt, ein großes, hässliches, fensterloses Gebäude, auf dessen Dach sich Antennen und Satellitenschüsseln drängten. Er spürte, wie der Boden von tief unten her vibrierte; er konnte Isabella summen hören. Und hatten über sich einen König, den Engel des Abgrunds, des Name heißt auf Hebräisch Abaddon.
Sein Verstand und seine Seele glühten wie im Fieber. Er spähte hinüber zu den lauernden Stahltürmen, durch die diese Maschine mit Elektrizität versorgt wurde, und bekam eine Gänsehaut. Diese unheimlichen Umrisse sahen beinahe aus wie die Heere des Teufels, die durch die Nacht marschierten. Die Hochspannungsleitungen knisterten und summten wie statisch aufgeladenes Haar. Er griff in seinen Rucksack und berührte das warme Leder seiner Bibel, um sich zu beruhigen. Er wappnete sich mit einem kurzen Gebet und ging dann zum nächsten Turm, ein paar hundert Meter entfernt.
Am Fuß des Gebäudes blieb er stehen. Die gewaltigen Streben verschwanden im Angesicht der Nacht und waren nur an den schwarzen Schemen zu erkennen, die sich vor die Sterne schoben. Die Stromleitungen zischten und fauchten wie Schlangen, und das Geräusch mischte sich mit dem Stöhnen des Windes in den Streben zu einer Sinfonie der Verdammnis. Eddy erschauerte bis in die Tiefen seiner Seele.
Wieder musste er an die Worte aus der Offenbarung denken: … sie zu versammeln in den Streit auf jenen Tag Gottes, des Allmächtigen. Sie würden kommen – da war er ganz sicher. Sie würden seinem Aufruf folgen. Er musste bereit sein. Er brauchte einen Plan.
Er begann, sich die Gegend genau anzusehen und sich das Terrain einzuprägen, die Straßen, Zugangspunkte, Zäune, Türme und alle anderen Gebäude.
Über ihm zischten und fauchten die Hochspannungsleitungen. Die Sterne zwinkerten vom Himmel. Die Erde drehte sich weiter. Russell Eddy streifte durch die Dunkelheit und war sich zum ersten Mal in seinem Leben seiner selbst vollkommen sicher.
49
Lockwood war überrascht, wie schäbig, nackt und funktional der White House Situation Room, der Sitzungsraum des Krisenstabs, war. Er roch wie ein unterirdischer Studenten-Aufenthaltsraum, der dringend mal gelüftet werden müsste. Die Wände waren ockerfarben gestrichen. Die Mitte des Raums nahm ein Mahagonitisch ein, aus dessen Mitte Mikrophone herausragten. Flachbildschirme waren an den Wänden aufgereiht. An beiden Längswänden standen Stühle, dicht an dicht.
Die hässliche Uhr, typisch staatliche Einrichtung, am Ende des Tisches zeigte genau Mitternacht.
Der Präsident trat ein. Er wirkte frisch in seinem grauen Anzug mit malvenfarbener Krawatte, das weiße Haar zurückgekämmt. Er wandte sich an den Marineoffizier, der anscheinend für die Elektronik zuständig war. »Schalten Sie bitte den Vorsitzenden des Generalstabs zu, außerdem meinen Nationalen Sicherheitsberater und die Direktoren der Homeland Security, des FBI und der National Intelligence.«
»Ja, Mr. President.«
»Oh, und vergessen Sie bloß nicht, auch den Leiter des Intelligence Committee des Senats zuzuschalten, sonst meckert er später herum, er sei nicht informiert worden.«
Er nahm am Kopf des Mahagonitisches Platz. Roger Morton, sein Stabschef, würdevoll und vorsichtig, setzte sich zu seiner Rechten. Gordon Galdone, der Kampagnenchef, groß und zerknautscht wie ein ungemachtes Bett, in einem braunen Wal-Mart-Anzug, setzte sich auf die andere Seite des Präsidenten. Jean ließ sich auf einem Stuhl an der Wand nieder, direkt hinter dem Präsidenten, die Knie brav zusammengepresst, den Stenoblock einsatzbereit.
»Fangen wir einfach schon mal an – die anderen sind eben dabei, wenn sie dabei sind.«
»Ja, Sir.«
Einige der Flachbildschirme erwachten bereits zum Leben und zeigten ein Gesicht. Jack Strand, der FBIDirektor, war als Erster zugeschaltet. Er saß in seinem Büro in Quantico, ein riesiges FBI-Siegel hinter sich an der Wand, und das kantige Polizistengesicht mit den alten Aknenarben blickte erbarmungslos vom Bildschirm herab – ein Mann, der Vertrauen einflößte, oder es zumindest versuchte.
Der Energieminister, ein Mann namens Hall, vor der Kamera in seinem Büro an der Independence Avenue, erschien als Nächster – der Mann, der offiziell und vorgeblich für Isabella verantwortlich war. Doch er hatte die Sache nie in die Hand genommen – er war sehr geschickt im Delegieren –, und jetzt war er völlig aufgelöst, das plumpe Gesicht glänzte vor Schweiß, und die hellblaue Krawatte war so eng gebunden, dass es aussah, als habe er gerade noch versucht, sich daran zu erhängen.
»Also schön«, sagte der Präsident und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Minister Hall, Sie sind zuständig, also sagen Sie mir, was zum Teufel da draußen vor sich geht.«
»Ich bedaure«, stammelte Hall, »Mr. President, aber ich habe keine Ahnung. Das ist ein beispielloser Vorgang. Ich weiß nicht, was ich sagen soll …«
Der Präsident fiel ihm ins Wort und wandte sich an Lockwood. »Wer hatte als Letzter Kontakt zum Isabella-Team? Stan, wissen Sie das?«
»Ich vermutlich. Ich habe um sieben Uhr MDT mit meinem Maulwurf telefoniert, und er sagte, es sei alles in Ordnung. Er sagte, sie würden einen Durchlauf planen, und er wollte um acht Uhr zu ihnen nach unten gehen. Er hat mir keinerlei Hinweis auf irgendwelche ungewöhnlichen Vorgänge gegeben.«
»Haben Sie denn eine Theorie, was da los sein könnte?«
Lockwood hatte bereits im Stillen sämtliche Möglichkeiten durchgerattert, doch keine davon erschien ihm plausibel. Er rang die Panik nieder, die in ihm aufstieg, und hielt seine Stimme bewusst ruhig und fest. »Ich habe leider keine eindeutigen Anhaltspunkte.«
»Könnten wir es denn mit irgendeiner internen Auflehnung zu tun haben? Meuterei? Oder Sabotage?«
»Das wäre möglich.«
Der Präsident wandte sich an den Vorsitzenden des Generalstabs, der in einem zerknautschten Kampfanzug an seinem Schreibtisch im Pentagon saß. »General, Sie sind für die Sondereinsatzkommandos zuständig, wo ist die nächste Einheit stationiert?«
»Luftwaffenstützpunkt Nellis, in Nevada.«
»Und die nächste Einheit der Nationalgarde?«
»Flagstaff.«
»FBI? Wo ist Ihre nächstgelegene Außenstelle?«
Jack Strand, der FBIDirektor, antwortete aus seinem Bildschirm: »Auch in Flagstaff.«
Der Präsident überlegte, runzelte die Stirn und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. »General, lassen Sie den Hubschrauber, der am nächsten dran ist, sofort aufsteigen. Die sollen sich das mal ansehen.«
Bei diesen Worten rutschte Gordon Galdone, der Wahlkampfleiter, auf seinem Sessel herum, seufzte und drückte den Zeigefinger an die weichen Lippen.
Das Orakel spricht zu uns, dachte Lockwood säuerlich.
»Mr. President?« Der Mann hatte eine pompös klingende Stimme, nicht unähnlich der von Orson Welles in seinen fetten Jahren.
»Ja, Gordon?«
»Darf ich darauf hinweisen, dass das nicht nur ein wissenschaftliches oder sogar militärisches Problem ist? Es ist ein politisches Problem. Seit Wochen löchert uns die Presse, warum Isabella noch nicht in Betrieb ist. Die Times hat sich letzte Woche sogar im Leitartikel darauf gestürzt. Vor vier Tagen hat einer der Wissenschaftler Selbstmord begangen. Wir haben einen Aufruhr bei den christlichen Fundamentalisten. Und jetzt gehen die Wissenschaftler nicht mal mehr ans Telefon. Obendrein haben wir einen wissenschaftlichen Berater, der sich nebenbei als Spion versucht.«
»Gordon, ich habe das abgesegnet«, erwiderte der Präsident.
Galdone fuhr unbeeindruckt fort: »Mr. President, wir rennen blindlings in eine PR-Katastrophe. Sie haben das Isabella-Projekt gefördert. Man identifiziert Sie damit. Sie werden einen Tiefschlag einstecken – außer wir lösen dieses Problem auf der Stelle. Einen Hubschrauber hinzuschicken, damit der mal nachsieht, ist zu wenig, und es kommt zu spät. Das wird die ganze Nacht lang dauern, und morgen früh wird immer noch ein einziges Durcheinander herrschen. Gott steh uns bei, wenn die Medien Wind davon bekommen.«
»Was schlagen Sie also vor, Gordon?«
»Das Problem bis morgen früh zu beseitigen.«
»Wie denn?«
»Schicken Sie ein Team, das die Kontrolle über Isabella übernimmt und die Maschine ausschaltet – und die Wissenschaftler vom Projektgelände schafft.«
»Augenblick mal«, sagte der Präsident. »Das Isabella-Projekt ist meine größte Leistung. Ich will verdammt sein, wenn ich es jetzt einfach ausschalte!«
»Entweder Sie schalten Isabella aus, oder das Projekt wird Sie ausschalten.«
Lockwood war schockiert darüber, dass ein Berater es fertigbrachte, in so unverschämtem Ton mit dem Präsidenten zu sprechen.
Morton meldete sich zu Wort. »Mr. President, ich stimme Gordon zu. In nicht einmal zwei Monaten steht die Wahl an. Wir können uns den Luxus nicht erlauben, noch mehr Zeit verstreichen zu lassen. Wir müssen das Isabella-Projekt noch heute Abend beenden. Die Einzelheiten aufklären, das können wir später auch noch tun.«
»Wir wissen noch nicht einmal, was zum Teufel da draußen los ist«, sagte der Präsident. »Woher wollen Sie wissen, dass wir es nicht mit einem terroristischen Anschlag oder einer Geiselnahme zu tun haben?«
»Vielleicht haben wir es genau damit zu tun«, sagte Morton.
Schweigen. Dann wandte der Präsident sich an seinen Nationalen Sicherheitsberater auf einem der Flachbildschirme. »Haben Sie bei der National Intelligence irgendeinen Hinweis darauf, dass irgendwo etwas geplant sein könnte?«
»Nicht, dass wir wüssten, Mr. President.«
»Also schön, wir schicken ein Team da rein. Bewaffnet und einsatzbereit für jede erdenkliche Situation. Aber ich will keine große Mobilmachung, nichts, was die Aufmerksamkeit der Presse erregen oder uns hinterher dumm dastehen lassen könnte. Eine kleine Eliteeinheit der Sondereinsatztruppen, bestens ausgebildet – sie gehen da rein, sichern den verdammten Berg, schalten die Maschine ab und bringen die Wissenschaftler raus. Die Operation muss bis morgen früh abgeschlossen sein.« Er lehnte sich zurück. »Okay: Wer ist dafür geeignet?«
Der FBIDirektor schlug vor: »Das Rocky Mountain Hostage Rescue Team ist in Denver stationiert, keine sechshundert Kilometer von Isabella entfernt. Elf bestens ausgebildete Männer, Spezialisten für Geiselnahmen, waren vorher alle bei der Delta Force, eigens für Einsätze auf amerikanischem Boden trainiert.«
»Ja, aber hier bei der CIA …«, wandte der CIA-Direktor ein.
»Wunderbar«, fiel ihm der Präsident ins Wort und wandte sich sogleich an Lockwood. »Stan? Was meinen Sie?«
Lockwood bemühte sich, seine Stimme ruhig zu halten. »Mr. President, meiner Ansicht nach ist es völlig verfrüht, jetzt schon an so ein Überfallkommando zu denken. Ich kann nur dem zustimmen, was Sie vorhin sagten – wir sollten zuerst herausfinden, was da vor sich geht. Ich bin sicher, es gibt eine vernünftige Erklärung. Schicken Sie einen Hubschrauber mit ein paar Leuten hin, die erst mal an die Tür klopfen, sozusagen.«
Morton sagte mit klirrender Stimme: »Morgen früh werden sich die Reporter sämtlicher Fernsehsender im gesamten Land da draußen drängeln. Dann müssten wir unter dem mikroskopischen Blick der Medien arbeiten. Unsere Handlungsfreiheit wäre zum Teufel. Falls die Wissenschaftler selbst sich aus irgendeinem Grund da drin verbarrikadiert haben, könnten wir uns ein zweites Waco einhandeln.«
»Waco?«, wiederholte Lockwood ungläubig. »Wir reden hier von zwölf angesehenen Wissenschaftlern, angeführt von einem Nobelpreisträger. Das ist doch keine durchgeknallte Sekte!«
Der Stabschef wandte sich an den Präsidenten. »Mr. President, ich kann nicht energisch genug betonen, dass diese Operation auf jeden Fall bis zum Morgengrauen abgeschlossen sein muss. Sobald die Medien eintreffen, verändert sich die Situa tion völlig. Wir haben keine Zeit, jemanden da hinzuschicken, der ›an die Tür klopft‹.« Seine Stimme troff vor Sarkasmus.
»Dem kann ich nur zustimmen«, sagte Galdone.
»Keine Alternative?«, fragte der Präsident leise.
»Keine.«
Lockwood schluckte. Ihm war übel. Er hatte den Kürzeren gezogen, und nun würde er gezwungen sein, an der Abschaltung von Isabella mitzuwirken. »Die Operation, die Sie vorschlagen, ist auch nicht ganz problemlos.«
»Was gibt es da für Probleme?«
»Sie können Isabella nicht einfach den Strom abstellen. Das könnte eine Explosion auslösen. Die Energiezufuhr ist eine heikle Sache, und sie kann nur von innen kontrolliert werden, über den Computer. Für den Fall, dass die Wissenschaftler da drin aus irgendeinem Grund nicht … kooperieren sollten, müssen Sie jemanden dabeihaben, der Isabella sicher abschalten kann.«
»Wen empfehlen Sie dafür?«
»Denselben Mann, den ich schon vorhin erwähnt habe – Bernard Wolf aus Los Alamos.«
»Wir lassen ihn von einem Hubschrauber abholen. Wie kommen wir dann rein?«
»Der Hauptzugang zum Bunker ist gegen äußere Angriffe gesichert. Alle Belüftungssysteme entsprechen ebenfalls der höchsten Sicherheitsstufe. Wenn das Team nicht bereit oder in der Lage ist, die Tür zu öffnen, könnte es schwierig werden, überhaupt hineinzukommen.«
»Es gibt keine Möglichkeit, die Sicherheitssysteme in einem Notfall auszuschalten?«
»Die Homeland Security war der Meinung, so etwas könnte Terroristen einen Angriffspunkt bieten.«
»Wie kommen wir dann rein?«
Herrgott, wie er das verabscheute. »Am besten durch den Haupteingang, mit Sprengstoff. Der Zugang liegt auf halber Höhe einer steilen Klippe. Davor befindet sich ein offener Arbeitsbereich, der aber größtenteils aus der Klippe gehauen ist. Da könnte man ganz sicher nicht mit einem Militärhubschrauber landen. Das Einsatzkommando müsste oben abgesetzt werden, sich abseilen und die Tür sprengen. Aber Sie gehen damit wirklich vom allerschlimmsten Fall aus. Wahrscheinlich würden die Wissenschaftler Ihrem Kommando auch einfach die Tür aufmachen.«
»Wie haben sie beim Bau schwere Ausrüstung da reingebracht, wenn es keine Straße gibt?«
»Sie haben die alte Zufahrtsstraße der Kohlenmine benutzt, die außen am Berg entlanglief, und sie dann abgesprengt, als Isabella fertiggebaut war. Ebenfalls aus Sicherheitsgründen.«
»Ich verstehe. Erzählen Sie mir mehr über diese gesicherte Tür.«
»Eine Titan-Wabenkonstruktion. Extrem schwer zu durchbrechen. Sprengstoff wäre die einzige Möglichkeit.«
»Ich will genaue Daten. Und dann?«
»Dahinter ist eine große Höhle. Direkt geradeaus ist der Zugang zu Isabellas Tunnel. Links liegt der Kontrollraum, den wir die Brücke nennen. Diese Tür ist aus zwei Komma fünf Zentimeter dickem Edelstahl, die letzte Bastion gegen Eindringlinge. Ich besorge Ihnen die genauen Pläne.«
»Das ist alles, was die Sicherheitsvorkehrungen angeht?«
»Das ist alles.«
»Sind sie bewaffnet?«
»Der Sicherheitschef, Wardlaw, trägt eine Waffe. Weitere Feuerwaffen sind nicht gestattet.«
Morton wandte sich dem Präsidenten zu. »Mr. President, wir brauchen Ihren ausdrücklichen Befehl, um diese Operation anlaufen zu lassen.«
Lockwood beobachtete, wie der Präsident zögerte, ihm einen Blick zuwarf, dann dem FBI-Chef. »Schicken Sie das Geiselrettungsteam des FBI. Holen Sie die Wissenschaftler aus dem Berg, und schalten Sie Isabella ab.«
»Ja, Mr. President.«
Der Stabschef schloss seine Aktenmappe mit einem Klatschen, das sich anhörte wie ein Schlag in Lockwoods Gesicht.
50
Ein jammernder Gesang heulte durch den Bunker. Der Bildschirm flackerte. Ford stand wie angewurzelt vor dem Visualizer, Kate neben ihm. Irgendwie, er wusste gar nicht mehr, wann, hatte sie ihre Hand in seine geschmiegt.
Als Antwort auf Hazelius’ Frage erschienen weitere Worte auf dem Bildschirm.
Die großen monotheistischen Religionen waren ein notwendiges Stadium in der Entwicklung der menschlichen Kultur. Eure Aufgabe ist es, die Menschheit zum nächsten Glaubenssystem hinzuführen.
»Und welches ist das?«
Die Wissenschaft.
»Das ist lächerlich – die Wissenschaft kann keine Religion sein!«, sagte Hazelius.
Ihr habt bereits eine neue Religion begründet – ihr weigert euch lediglich, das zu sehen. Religionen waren einst eine Möglichkeit, die Welt zu verstehen, einen Sinn in ihr zu sehen. Diese Rolle hat nun die Wissenschaft übernommen.
»Religion und Wissenschaft sind zwei völlig verschiedene Dinge«, mischte Ford sich ein. »Sie stellen unterschiedliche Fragen und erfordern unterschiedliche Arten von Beweisen.«
Wissenschaft und Religion suchen dasselbe: die Wahrheit. Beide sind miteinander unvereinbar. Die Konfrontation dieser Weltanschauungen hat längst begonnen und wird immer schlimmer. Die Wissenschaft hat bereits die meisten grundlegenden Glaubenssätze der historischen Weltreligionen widerlegt und diese Religionsgemeinschaften damit in Aufruhr versetzt. Eure Aufgabe ist es nun, der Menschheit zu helfen, einen Weg durch diese Krise zu finden.
»Oh, bitte!«, rief Edelstein. »Du glaubst, die Fanatiker im Nahen Osten – oder die Bibeltreuen hierzulande, wenn wir schon dabei sind – werden sich einfach damit abfinden und die Wissenschaft als neue Religion akzeptieren? Das ist verrückt.«
Ihr werdet der Welt meine Worte bringen und die Geschichte dessen erzählen, was hier geschehen ist. Unterschätzt niemals meine Macht – die Macht der Wahrheit.
»Wo sollen wir denn hin mit dieser neuen Religion? Wozu soll sie gut sein? Wer braucht sie?«, fragte Hazelius.
Das nächste Ziel der Menschheit ist die Befreiung von den Begrenzungen der Biochemie. Ihr müsst lernen, euren Geist vom Fleisch eurer Körper zu trennen.
»Das Fleisch? Das verstehe ich nicht«, sagte Hazelius.
Fleisch. Nerven. Zellen. Biochemie. Das Medium, mittels dessen ihr denkt. Ihr müsst euren Geist vom Fleisch befreien.
»Wie?«
Ihr habt bereits damit begonnen, Informationen jenseits eurer Existenz als Fleisch zu verarbeiten, nämlich durch Computer. Bald werdet ihr eine Möglichkeit zur Verarbeitung finden, die auf Rechenmaschinen im Quantenstadium beruht. Dies wird euch dahin führen, dass ihr die natürlichen Quantenprozesse in der Welt um euch herum als Mittel der Berechnung verwenden könnt. Ihr werdet nicht länger Maschinen bauen müssen, um Informationen zu verarbeiten. Ihr werdet euch ins Universum ausbreiten, buchstäblich und im übertragenen Sinne, wie andere intelligente Wesen das vor euch getan haben. Ihr werdet dem Gefängnis der biologischen Intelligenz entkommen.
»Und was dann?«
Im Lauf der Zeit werdet ihr Kontakt zu anderen expandierten Intelligenzen aufnehmen. All diese miteinander verbundenen Intelligenzen werden eine Möglichkeit finden, sich zu einem dritten Geisteszustand zu verschmelzen, der dann die einfache Realität im Kern aller Existenz begreifen wird.
»Und das ist alles? Deshalb so ein Aufwand?«, fragte Kate.
Nein. Das ist nur eine Vorbereitung für eine größere Aufgabe.
Der Visualizer flackerte, Bahnen von Grieß huschten darüber hinweg. Dolby ackerte an seiner Kontrollstation, vornüber gebeugt und stumm. Die Worte verzerrten sich wellenförmig, wie auf dunklem Wasser reflektiert.
»Und die wäre?«, fragte Hazelius schließlich.
Den Hitzetod des Universums aufzuhalten.
Ford spürte, wie Kates Hand die seine unwillkürlich fester umklammerte.
51
Booker Crawley nahm sich eine Tasse Kaffee mit ins Arbeitszimmer und ließ sich im Sessel vor dem Fernseher nieder. Wieder einmal griff er nach der Fernbedienung und zappte sich durch die Nachrichtensender. Nichts. Die wüsten Anschuldigungen, die Spates in seiner Sendung vorgebracht hatte, schienen keine schwerwiegenden Folgen zu haben. Dennoch konnte Crawley das Gefühl nicht abschütteln, dass bald etwas passieren würde. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war halb zwei Eastern Daylight Time – halb zwölf in Arizona. Oder halb elf?
Er atmete seufzend aus und trank einen bitteren Schluck Kaffee. Er machte aus einer Mücke einen Elefanten. Bisher war alles nach Plan verlaufen, und Spates’ Sendung war zwar durchgeknallter Schwachsinn, würde dem Navajo-Stammesrat aber sicher den Angstschweiß auf die Stirn treiben.
Bei diesem Gedanken fühlte er sich gleich besser.
Trotzdem … Es konnte nicht schaden, sich mit Spates in Verbindung zu setzen und herauszufinden, woher zum Teufel er dieses verrückte Zeug hatte, dass Isabella von sich behaupte, Gott zu sein.
Zuerst rief er in Spates’ Büro an, in der Hoffnung, der Mann könnte noch dort sein. Überraschenderweise war besetzt. Kein Anrufbeantworter, es war besetzt. Er wartete ein paar Minuten, versuchte es dann erneut, und noch einmal, kam aber nicht durch.
Vermutlich war das Telefon kaputt.
Als Nächstes wählte er Spates’ Handynummer und wurde augenblicklich auf die Mailbox umgeleitet. »Dies ist die Mobilbox von Reverend Don T. Spates«, sagte eine angenehme Frauenstimme. »Die Mailbox ist derzeit leider überlastet. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.«
Crawley wählte die Privatnummer des Reverend. Auch da war besetzt.
Herrgott, war das Arbeitszimmer heute stickig. Er trat ans Fenster und öffnete es. Ein Schwall frischer, herrlicher Nachtluft drang herein und blähte die feinen Gardinen. Er atmete ein paarmal tief durch. Wieder sagte er sich, dass er keinen Grund hatte, sich so aufzuregen. Er nippte seinen Kaffee, starrte auf die dunkle Straße hinaus und fragte sich, was ihn eigentlich so aus der Fassung gebracht hatte. Eine besetzte Telefonleitung?
Der Reverend hatte sicher eine Website. Vielleicht würde er dort nähere Informationen finden.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch, fuhr seinen Laptop hoch und gab bei Google ein: Spates God’s Prime Time.
Der erste Treffer war tatsächlich die offizielle Website des Fernsehpredigers, www.godsprimetime.com. Er klickte den Link an und wartete.
Nach einer frustrierenden Minute erschien eine Fehlermeldung.
Bandbreite überlastet
Eingeschränkte Verfügbarkeit – die gewünschte Seite kann derzeit nicht angezeigt werden, da der Server überlastet ist. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.
Apache/1.3.37 Server at www.godsprimetime.com Port 80
Seine Besorgnis wuchs. Besetzte Telefone, der Server überlastet … War es möglich, dass die Website unter einem Hackerangriff zusammengebrochen war? Vielleicht war auf anderen christlichen Websites etwas zu finden.
Er gab bei Google ein: Isabella Gott Spates.
Ein Haufen christlicher Websites, die er nicht kannte, erschien auf dem Bildschirm. Er klickte einen beliebigen Link an, unter dem sich sofort ein Dokument öffnete.
Meine lieben Freunde in Jesus Christus,
viele von euch haben heute Abend die Sendung Roundtable America
von Reverend Don T. Spates gesehen …
Crawley las den Brief einmal durch. Und ein zweites Mal. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Das also war Spates’ Quelle, ein wahnsinniger Prediger da draußen im Navajo-Land. Die Zeile am Ende zeigte an, dass der verrückte Pastor den Brief erst vor einer Stunde verschickt hatte. Der Trefferliste nach zu schließen, war er offenbar auf nicht wenigen Websites veröffentlicht worden.
Aber auf wie vielen? Es gab eine Möglichkeit, das herauszufinden. Er gab den ersten Satz des Briefes Wort für Wort und in Anführungszeichen bei Google ein, um nur Websites angezeigt zu bekommen, die den vollen Text ins Netz gestellt hatten. Gleich darauf erschien die Trefferliste. Die Standardnotiz am oberen Bildrand zeigte die Trefferzahl an:
Ergebnisse 1–10 von ungefähr 56 500 für »viele von euch haben heute Abend die Sendung Roundtable America von Reverend Don T. Spates gesehen«.
Crawley blieb lange in seinem stillen Arbeitszimmer in Georgetown sitzen. Konnte es wirklich wahr sein, dass der Brief bereits auf über fünfzigtausend Websites eingestellt worden war? Undenkbar. Er atmete bewusst langsam ein und aus, um sich wieder zu fassen. Falls jemals bekannt wurde, dass er hinter Spates’ Attacke gegen das Isabella-Projekt steckte, würde er noch tiefer stürzen als sein alter Kumpel Jack Abramoff. Das Problem war: Wenn er ehrlich war, wusste er kaum etwas über Spates und dessen evangelikale Kreise. Crawley kam sich vor wie ein Mann, der gedankenlos einen Stein an eine dunkle Stelle geworfen hatte und nun Dutzende Klapperschlangen rasseln hörte. Er stand auf und trat ans Fenster. Georgetown dort draußen schlief. Die Straße war leer. Die Welt war friedlich.
Während er dort stand, hörte er ein Piepsen von seinem Computer, das ihn auf eine neue E-Mail hinwies. Er ging zum Schreibtisch, um nachzusehen. Ein kleines Fenster öffnete sich und zeigte ihm den Betreff: FW:FW: Red Mesa = Armageddon.
Er öffnete die Mail, begann zu lesen und stellte entsetzt fest, dass es genau der Brief war, den er eben im Netz gelesen hatte. Wusste jemand, dass er Kontakt zu Spates hatte? War das eine Art verhüllter Drohung? Hatte Spates ihm das geschickt? Doch als er sich den Header ansah, der Dutzende von E-Mail-Adressen auflistete, wurde ihm klar, dass es nichts Persönliches sein konnte. Die Absenderadresse kannte er auch nicht. Das war eine Massen-Mail, die willkürlich verbreitet wurde – virales Marketing, sozusagen. Virales Marketing für Armageddon. Und sie war zufällig in seinem Posteingang gelandet.
Während er den Brief, immer noch ungläubig, ein weiteres Mal las und einzuschätzen versuchte, wie wahrscheinlich es war, dass er gerade diese E-Mail gerade jetzt rein zufällig erhielt, piepste sein Mail-Programm erneut, und eine weitere E-Mail erschien. Sie hatte denselben Betreff – nun ja, beinahe.
FW:FW:FW:FW: Red Mesa = Armageddon.
Booker Crawley klammerte sich an die Armlehnen seines Sessels und stand mit zittrigen Knien auf. Während er sein Arbeitszimmer durchquerte, piepste der Computer wieder und immer wieder, weitere E-Mails trafen ein. Er taumelte durch die Tür in das kleine Bad neben seinem Arbeitszimmer. Mit einer Hand packte er den Rand des Waschbeckens, hielt mit der anderen seine Krawatte fest und übergab sich.
52
Bern Wolf kauerte im Passagierraum des Hubschraubers, kaute nervös auf einem Kaugummi herum und sah zu, wie elf schwerbewaffnete Männer ganz in Schwarz einstiegen und stumm ihre Plätze einnahmen. Das einzige Abzeichen an ihren Uniformen war ein kleines FBI-Siegel auf der Brust. Wolf fühlte sich in seinem Tarnanzug samt schusssicherer Weste und Helm sehr unbehaglich. Vergeblich versuchte er, seine schlaksigen Glieder halbwegs bequem zu arrangieren, er rutschte gereizt herum und verschränkte die Arme. Sein Pferdeschwanz lugte unter dem Helm hervor, und er brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, wie lächerlich das aussah. Er schwitzte am Kopf, und in seinen Ohren rauschte es noch vom ersten Abschnitt des Fluges bis hierher.
Sobald die Männer angeschnallt waren, hob der Helikopter ab. Er stieg in den Nachthimmel auf, flog eine Kurve und beschleunigte. Der zu drei Viertel volle Mond war aufgegangen und warf einen silbrigen Glanz auf die Wüstenlandschaft unter ihm.
Wolf kaute und kaute. Was zur Hölle war hier los? Sie hatten ihn ohne jede Erklärung aus dem Haus gezerrt, zum Flugplatz in Los Alamos gebracht und in einen Hubschrauber verfrachtet. Niemand wollte ihm irgendetwas sagen. Er kam sich vor wie in einem schlechten Film.