Durch das Fenster sah er die fernen Gipfel der San Juan Mountains in Colorado. Der Hubschrauber überflog das Vorgebirge, und Wolf erhaschte einen Blick auf ein Band, das die Sterne reflektierte: der San Juan River.

Sie folgten ungefähr dem Flusslauf, vorbei an Ansammlungen von Lichtern, den Orten Bloomfield und Farmington, dann voran in die leere Dunkelheit. Als der Hubschrauber weiter gen Süden einschwenkte, sah Wolf den dunklen Umriss des Navajo Mountain in der Ferne, und nun konnte er das Ziel dieses Fluges erraten: das Isabella-Projekt.

Er malmte nachdenklich auf seinem Kaugummi herum. Er hatte Gerüchte gehört – wie alle in der kleinen Gemeinschaft der Hochenergiephysik –, dass es bei Isabella Probleme geben sollte. Er war ebenso schockiert gewesen wie die anderen, als er vom Tod seines ehemaligen Kollegen Peter Wolkonski erfahren hatte. Nicht, dass er den Russen sonderlich gemocht hätte, aber dessen Fähigkeiten als Programmierer hatte er stets respektiert. Er fragte sich, was das für ein Problem sein könnte, das den Einsatz eines uniformierten Sondereinsatzkommandos erforderlich machte.

Fünfzehn Minuten später ragte die schwarze Silhouette der Red Mesa vor ihnen auf. Ein Lichtfleck am Rand zeigte die Lage des Zugangs zu Isabella an. Der Helikopter sank herab, raste über die Mesa hinweg, hielt dann langsamer auf einen Flugplatz zu, der von zwei langen Reihen blauer Strahler erhellt wurde, und setzte schließlich auf einem Helipad auf.

Die Rotoren liefen aus, einer der Kämpfer stand von seinem Sitz auf und öffnete die Frachtluke. Wolfs Bewacher legte ihm eine Hand auf die Schulter und bedeutete ihm, zu warten. Die Tür glitt auf, die Männer des FBI-Kommandos sprangen einer nach dem anderen hinaus und rannten sofort geduckt unter den Rotorblättern los, als müssten sie die Landezone sichern.

Fünf Minuten vergingen. Dann winkte sein Bewacher ihn hinaus. Wolf hängte sich seinen Rucksack über eine Schulter und ließ sich hübsch Zeit beim Aussteigen – er hatte nicht vor, sich hier ein Bein zu brechen. Übertrieben vorsichtig kletterte er hinaus und ging geduckt durch die aufgepeitschte Luft unter den Rotorblättern. Sein Begleiter berührte ihn leicht am Ellbogen und deutete auf eine Blechhütte. Sie gingen dorthin, und der Bewacher öffnete ihm die Tür. In der Hütte roch es nach frischem Holz und Leim, doch sie war leer bis auf einen Tisch und eine Reihe billiger Stühle.

»Setzen Sie sich, Dr. Wolf.«

Wolf ließ seinen Rucksack auf einen Stuhl am Tisch fallen und setzte sich auf den daneben. Er konnte sich kaum einen unbequemeren Platz vorstellen, vor allem um diese Uhrzeit – so weit weg von dem Kopfkissen in seinem Bett, in das er eigentlich gehörte. Er versuchte immer noch vergeblich, es sich bequem zu machen, als einer der Männer dieses seltsamen Kommandos hereinkam. Der Mann streckte ihm die Hand entgegen. »Special Agent Doerfler, ich leite diesen Einsatz.«

Wolf schüttelte halbherzig die dargebotene Hand, ohne aufzustehen.

Doerfler setzte sich auf die Tischkante und versuchte offensichtlich, freundlich und entspannt zu wirken. Das gelang ihm nicht: Der Mann war so aufgedreht wie das trommelnde Häschen in der Batteriewerbung. »Sie fragen sich sicher, warum Sie hier sind, Dr. Wolf.«

»Wie haben Sie das erraten?« Leuten wie Doerfler mit ihren superkurzen Bürstenschnitten, Südstaatenakzent und dieser aalglatten Art misstraute er grundsätzlich. Während der Vorarbeiten zu Isabella hatte er mit zu vielen von dieser Sorte zu tun gehabt.

Doerfler warf einen Blick auf die Uhr. »Wir haben nicht viel Zeit, daher fasse ich mich kurz. Man hat mir gesagt, Sie kennen sich bestens mit Isabella aus, Dr. Wolf.«

»Das möchte ich doch hoffen«, erwiderte er gereizt. »Ich war stellvertretender Leiter des Planungsteams.«

»Waren Sie schon einmal hier?«

»Nein. Meine Arbeit fand ausschließlich auf Papier statt.«

Doerfler stützte sich auf den Ellbogen und beugte sich mit ernster Miene vor. »Hier draußen ist irgendetwas passiert. Wir wissen nicht genau, was. Das Team aus Wissenschaftlern hat sich im Berg eingeschlossen und sämtliche Kommunikationswege nach außen abgeschnitten. Sie haben den Hauptcomputer ausgeschaltet und lassen Isabella bei voller Kraft laufen, mit Hilfe der Back-up-Systeme.«

Wolf fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das war so abgefahren, dass er es nicht glauben konnte.

»Wir haben keine Ahnung, was hier los ist. Wir könnten es mit einer Geiselnahme zu tun haben, einer Meuterei, einem Unfall oder irgendeiner Art unerwarteter Störung an den Geräten oder der Stromzufuhr.«

»Und was soll ich hier?«

»Dazu komme ich gleich. Die Männer, mit denen Sie hierhergeflogen sind, gehören zu einem Geiselrettungsteam des FBI. Sie sind eine Eliteeinheit, eine Art Sondereinsatzkommando. Das bedeutet nicht, dass wir von einer Geiselnahme ausgehen, aber wir müssen auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.«

»Reden Sie etwa von Terroristen?«

»Möglich. Das Geiselrettungsteam wird sich Zugang zu der Anlage verschaffen, eventuelle Geiseln befreien, unerwünschte Personen neutralisieren, die Wissenschaftler isolieren und in Sicherheit bringen.«

»Unerwünschte Personen neutralisieren – Sie meinen, Sie wollen Leute erschießen?«

»Falls notwendig.«

»Sie wollen mich wohl verarschen.«

Doerfler runzelte die Stirn. »Nein, Sir, ganz und gar nicht.«

»Sie haben mich aus dem Bett geholt, damit ich mich Ihrem kleinen Überfallkommando anschließe? Tut mir leid, Mr. Doerfler, aber da haben Sie den falschen Bern Wolf.«

»Sie brauchen sich nicht die geringsten Sorgen zu machen, Dr. Wolf. Ich habe Ihnen einen Begleiter zugewiesen, Agent Miller. Absolut zuverlässig. Er wird nicht von Ihrer Seite weichen, Ihnen jeden Schritt des Wegs zeigen. Erst wenn der Komplex gesichert ist, wird er Sie hineinbringen, damit Sie Ihren Auftrag ausführen können.«

»Und der wäre?«

»Isabella abschalten.«


Von seinem Aussichtspunkt auf einem Felsvorsprung oberhalb des Nakai Valley beobachtete Nelson Begay den Isabella-Komplex mit einem alten Armeefernglas. Vorhin war ein Hubschrauber tief über das Tipi hinweggeflogen, hatte ihre Zeremonie übertönt und das Zelt erschüttert wie ein Sandsturm. Begay und Becenti waren auf die Anhöhe geklettert, um einen besseren Überblick zu haben, und konnten nun sehen, dass der Hubschrauber auf dem Flugfeld gelandet war, anderthalb Kilometer entfernt.

»Haben die’s auf uns abgesehen?«, fragte Becenti.

»Keine Ahnung«, erwiderte Begay, der das Flugfeld beobachtete. Männer mit Gewehren sprangen aus dem Hubschrauber. Sie brachen einen Hangar auf, fuhren zwei Humvees heraus und begannen damit, sie zu beladen.

Begay schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das irgendwas mit uns zu tun hat.«

»Bist du sicher?« Becenti klang enttäuscht.

»Nein, bin ich nicht. Wir gehen besser mal rüber und sehen uns das aus der Nähe an.« Er warf Becenti einen Blick zu und bemerkte dessen aufgeregten Gesichtsausdruck. Begay legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Aber bleib schön ruhig, ja?«


53


Stanton Lockwood lupfte seine Manschette, um auf seine Rolex zu schauen. Viertel vor zwei Uhr in der Nacht. Der Präsident hatte das FBI-Geiselrettungsteam, kurz HRT, um Mitternacht angefordert, und die Operation lief bereits. Vor ein paar Minuten war das HRT auf dem Flugplatz gelandet. Sie luden nun ihre Ausrüstung auf Humvees um, für die kurze Fahrt zur Sicherheitszone am Rand der Klippen, direkt oberhalb der Öffnung zum Bunker.

Die Atmosphäre im Raum war nervös. Jean, die Sekretärin des Präsidenten, die auf dessen Anweisung hin immer wieder Notizen stenographiert hatte, schüttelte ihre verkrampfte rechte Hand aus.

»Sie haben den ersten Humvee beladen«, meldete der FBIDirektor, der das Geschehen für den Präsidenten laufend kommentierte. »Immer noch niemand zu sehen. Sie müssen alle unten im Bunker sein, genau, wie wir vermutet haben.«

»Immer noch kein Kontakt zu ihnen?«

»Nein. Alle Kommunikationswege vom Flugfeld zum Bunker sind abgeschnitten.«

Lockwood rutschte auf seinem Stuhl herum. Er zermarterte sich das Hirn nach einer logischen Erklärung. Aber es gab keine.

Die Tür zum Krisenraum öffnete sich, und Roger Morton kam mit ein paar Blatt Papier herein. Lockwoods Blick folgte ihm. Er hatte den Mann nie gemocht, doch jetzt verabscheute er ihn geradezu, mit seiner Hornbrille, seinem makellosen Anzug und der Krawatte, die saß, als sei sie an seinem Hemd festgeklebt. Morton war der Inbegriff des Washingtoner Strippenziehers.

Mit diesen säuerlichen Gedanken beobachtete er, wie Morton mit dem Präsidenten konferierte; sie steckten die Köpfe zusammen und studierten eines der Blätter. Sie winkten Galdone zu sich herüber, und alle drei betrachteten ausgiebig die Papiere.

Der Präsident blickte zu Lockwood auf. »Stan, sehen Sie sich das mal an.«

Lockwood erhob sich und gesellte sich zu den dreien. Der Präsident reichte ihm den Ausdruck einer E-Mail. Lockwood begann zu lesen: Meine lieben Freunde in Jesus Christus

»Dieser Brief ist im gesamten Internet verbreitet«, sagte Morton, ehe Lockwood zu Ende gelesen hatte. »Und ich meine wirklich überall

Lockwood schüttelte den Kopf und legte den Brief auf den Tisch. »Ich finde es deprimierend, dass es im Amerika des einundzwanzigsten Jahrhunderts noch Leute gibt, die so mittelalterlich denken.«

Der Präsident starrte ihn an. »Dieser Brief ist mehr als ›deprimierend‹, Stan. Er ruft zu einem bewaffneten Angriff auf eine Einrichtung der amerikanischen Regierung auf.«

»Mr. President, ich persönlich würde das nicht ernst nehmen. Der Brief enthält keine konkreten Anweisungen, keinen Plan, keinen Treffpunkt. Das ist nur heiße Luft. Solches Zeug kursiert doch jeden Tag im Web. Wissen Sie, wie viele Leute diese Bücherserie Finale gelesen haben? Die sind auch nicht gleich auf die Straße gegangen.«

Morton starrte ihn feindselig an. »Lockwood, dieser Brief ist bereits auf Tausende Websites gestellt worden. Er zirkuliert wie verrückt. Wir müssen das ernst nehmen.«

Der Präsident seufzte schwer. »Stan, ich wünschte, ich könnte das so optimistisch sehen wie Sie. Aber diese Predigt, und nun noch dieser Brief obendrauf …« Er schüttelte den Kopf. »Wir müssen auf das Schlimmste vorbereitet sein.«

Galdone räusperte sich grollend. »Leute, die glauben, der Weltuntergang stünde unmittelbar bevor, könnten zu unbedachten Handlungen neigen. Sogar gewalttätig werden.«

»Das Christentum ist doch angeblich eine gewaltfreie Religion«, sagte Lockwood.

»Wir diskutieren hier nicht über irgendjemandes religiöse Überzeugungen, Stan«, sagte der Präsident scharf. »Uns allen hier muss klar sein, dass das ein sehr sensibler Bereich ist, in dem sich die Leute leicht auf die Zehen getreten fühlen.« Er warf den Brief auf den Tisch und wandte sich dem Chef der Homeland Security zu. »Wo ist die nächste Einheit der Nationalgarde stationiert?«

»Stützpunkt Camp Navajo in Bellemont, unmittelbar nördlich von Flagstaff.«

»Wie weit entfernt ist das von der Red Mesa?«

»Knapp zweihundert Kilometer.«

»Mobilisieren Sie die Einheit, und lassen Sie sie per Hubschrauber zur Red Mesa fliegen. Nur zur Sicherheit.«

»Ja, Sir. Bedauerlicherweise ist die halbe Einheit gerade in Übersee, und die Ausrüstung und Hubschrauberflotte sind nicht gerade das, was man sich für einen solchen Einsatz wünschen würde.«

»Wie schnell können Sie die Einheit aufstocken?«

»Wir könnten Ausrüstung und Personal aus Phoenix und Nellis dazunehmen. Das würde drei bis fünf Stunden dauern, wenn wir schnell sind.«

»Fünf Stunden sind zu lang. Tun Sie in drei Stunden, was Sie können. Ich will, dass Ihre Leute um vier Uhr fünfundvierzig heute Morgen da oben sind.«

»Vier Uhr fünfundvierzig«, wiederholte der Sicherheitschef. »Jawohl, Mr. President.«

»Informieren Sie die Arizona State Police, aber machen Sie keinen großen Wind darum: Die sollen ihre Streifenfahrten verdoppeln und jeglichen ungewöhnlichen Verkehr auf den Interstates und Landstraßen rund um das Navajo-Reservat melden. Und bereit sein, sehr schnell Straßensperren zu errichten.«

»Jawohl, Mr. President.«

Lockwood ergriff das Wort. »Es gibt einen kleinen Posten der Navajo-Stammespolizei in Piñon, nur dreißig Kilometer von der Red Mesa entfernt.«

»Hervorragend. Die sollen sofort eine Streife zur Zufahrtsstraße schicken.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Ich will, dass das alles still und unauffällig abläuft. Wenn wir überreagieren, wird uns die christliche Rechte wie einen Fußball durch die Gegend treten. Sie werden uns vorwerfen, wir seien antichristliche, gottlose Liberale, die Panik schüren – diese Leute würden sonst was behaupten.« Der Präsident blickte sich um. »Weitere Empfehlungen?«

Niemand meldete sich zu Wort.

Er wandte sich Lockwood zu. »Ich hoffe, dass Sie recht haben. Bei Gott, in diesem Augenblick könnten schon zehntausend Irre auf dem Weg zur Red Mesa sein.«


54


Ford spürte, wie ihm der Schweiß über die Kopfhaut rann. Es wurde immer heißer in der Brücke, obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief. Isabella summte und sang, die Wände vibrierten. Er warf einen Blick zu Kate hinüber, doch deren Aufmerksamkeit galt allein dem Visualizer.

Wenn das Universum einen Zustand maximaler Entropie erreicht, was dem Hitzetod des Universums entspricht, wird die universale Rechenoperation abbrechen. Ich werde sterben.

»Ist das unvermeidlich, oder gibt es eine Möglichkeit, dies zu verhindern?«, fragte Hazelius.

Genau das ist die Frage, die ihr beantworten müsst.

»Das also ist der ultimative Sinn der menschlichen Existenz?«, fragte Ford. »Diesen mysteriösen Hitzetod zu verhindern? Hört sich an wie aus einem Science-Fiction-Roman.«

Den Hitzetod zu umgehen ist lediglich der erste Schritt auf dem Weg.

»Auf dem Weg zu was?«, fragte Hazelius.

Auf diese Weise bekommt das Universum die Fülle an Zeit, die es braucht, um sich selbst in den letzten Zustand voranzudenken.

»Und was ist dieser letzte Zustand?«

Ich weiß es nicht. Er wird nichts gleichen, was ihr oder selbst ich uns jemals vorstellen könnten.

»Du erwähnst die ›Fülle an Zeit‹«, sagte Edelstein. »Wie lang genau soll das sein?«

Die Anzahl von Jahren wird sein zehn Fakultät hoch zehn Fakultät, diese Zahl wiederum hoch zehn Fakultät, und das Ergebnis mal zehn hoch dreiundachtzig, die daraus resultierende Zahl hoch ihrer selbst in ihrer eigenen Fakultät mal zehn hoch siebenundvierzig. In eurer mathematischen Notation sähe diese Zahl – die erste Gotteszahl – so aus:


(10!↑↑1083)[10!↑↑1083)!↑↑1047]


Dies ist die Länge der Zeit in Jahren, die das Universum brauchen wird, um sich in den finalen Zustand zu denken und die ultimative Antwort zu finden.

»Das ist eine absurd große Zahl!«

Das ist nur ein Tropfen im Ozean der Unendlichkeit.

»Wo ist die Rolle von Moral und Ethik in deinem schönen neuen Universum?«, fragte Ford. »Von Erlösung und der Vergebung von Sünden?«

Ich wiederhole es noch einmal: Getrenntheit ist nichts als eine Illusion. Menschliche Wesen sind wie Zellen in einem Körper. Zellen sterben, doch der Körper lebt weiter. Hass, Grausamkeit, Krieg und Völkermord sind eher wie Autoimmunkrankheiten denn das Produkt von etwas, das ihr »das Böse« nennt. Diese Vision der Allverbundenheit, die ich euch darlege, bietet ein weites Feld für moralisches Handeln, in dem Selbstlosigkeit, Mitgefühl und gegenseitige Verantwortung eine zentrale Rolle spielen. Euer Schicksal ist ein einziges Schicksal. Die Menschheit wird geeint überleben oder geeint sterben. Niemand wird errettet, weil niemand verloren ist. Niemandem wird vergeben, weil niemand beschuldigt wird.

»Was ist mit Gottes Versprechen einer besseren Welt?«

Eure diversen Konzepte des Himmelreichs sind bemerkenswert armselig.

»Entschuldige bitte, aber Erlösung ist alles andere als armselig!«

Die Vision spiritueller Vollkommenheit, die ich euch darbiete, ist unermesslich herrlicher als jedes Himmelreich, das auf der Erde je erträumt wurde.

»Was ist mit der Seele? Leugnest du die Existenz der unsterblichen Seele?«

»Wyman, bitte!«, rief Hazelius dazwischen. »Sie verschwenden kostbare Zeit mit diesen lächerlichen theologischen Fragen!«

»Entschuldigung, aber ich halte diese Fragen für sehr wichtig«, sagte Kate. »Das sind die Fragen, die die Leute uns stellen werden – und dann sollten wir lieber eine Antwort darauf haben.« Wir? Ford fragte sich, wen Kate damit meinte.

Information geht nie verloren. Mit dem Tod des Körpers verändert die Information, die durch dieses Leben erschaffen wurde, ihre Form und Struktur, doch sie geht nie verloren. Der Tod ist ein Informationsübergang. Fürchtet ihn nicht.

»Verlieren wir durch den Tod unsere Individualität?«, fragte Ford.

Ihr braucht diesen Verlust nicht zu betrauern. Von diesem starken Gefühl der Individualität, das für die Evolution so notwendig ist, rühren viele Dinge her, denen die menschliche Existenz nicht entkommen kann, Gutes und Schlechtes: Angst, Schmerz, Leid und Einsamkeit ebenso wie Liebe, Glück und Mitgefühl. Deshalb müsst ihr eure biochemische Existenz überwinden. Wenn ihr euch von der Tyrannei des Fleisches befreit, werdet ihr das Gute – Liebe, Glück, Mitgefühl und Selbstlosigkeit – mit euch nehmen. Das Schlechte werdet ihr zurücklassen.

»Ich finde es nicht sonderlich erhebend, dass die kleinen Quantenfluktuationen, die meine Existenz hervorgebracht hat, uns irgendeine Form von Unsterblichkeit verleihen sollen«, bemerkte Ford sarkastisch.

Ihr solltet gerade in dieser Sicht der Dinge großen Trost finden. Information kann in diesem Universum nicht vergehen. Nicht ein einziger Schritt, nicht eine einzige Erinnerung, nicht ein einziger Kummer eures Lebens wird je vergessen. Ihr als Individuum geht im Sturm der Zeit verloren, eure Moleküle werden darin zerstreut. Doch wer ihr wart, was ihr getan habt, wie ihr gelebt habt, das wird für immer in die universelle Rechnung eingebettet bleiben.

»Nimm es mir nicht übel, aber das klingt immer noch so mechanistisch, so seelenlos, dieses Gerede über die Existenz als ›Rechnen‹.«

Dann nennt es Träumen, wenn euch das lieber ist, oder Begehren, Wollen, Denken. Alles, was ihr seht, ist Teil einer unvorstellbar großen und schönen Berechnung, von einem Baby, das sein erstes Wort ausspricht, bis hin zu einem Stern, der zu einem Schwarzen Loch kollabiert. Unser Universum ist eine prachtvolle Rechenoperation, die seit ihrem Anfang mit einem einzigen Axiom größter Einfachheit nun schon seit über dreizehn Milliarden Jahren läuft. Wir haben unser Abenteuer noch kaum begonnen! Wenn ihr eine Möglichkeit findet, eure eigenen, vom Fleisch beschränkten Denkprozesse auf andere natürliche Quantensysteme anzuheben, werdet ihr beginnen, die Berechnung selbst zu kontrollieren. Ihr werdet beginnen, ihre Schönheit und Vollkommenheit zu begreifen.

»Wenn alles eine Rechenoperation ist, was ist dann der Sinn der Intelligenz? Des Verstandes?«

Intelligenz existiert überall um euch herum, selbst in nichtlebenden Prozessen. Ein Gewitter ist eine wesentlich anspruchsvollere, komplexere Operation als ein menschlicher Verstand. Es ist auf seine eigene Art selbst intelligent.

»Ein Gewitter hat kein Bewusstsein. Ein menschlicher Geist ist sich seiner selbst gewahr. Er ist bewusst. Das ist ein Unterschied, und der ist keineswegs trivial.«

Habe ich euch nicht gesagt, dass gerade dieses Bewusstsein des Selbst eine Illusion ist, hervorgebracht von der Evolution? Der Unterschied ist nicht einmal groß genug, um als trivial bezeichnet zu werden.

»Eine Schlechtwetterfront ist nicht kreativ. Sie fällt keine Entscheidungen. Sie kann nicht denken. Sie ist nur ein mechanistisches Zusammenspiel verschiedener Kräfte.«

Woher wollt ihr wissen, dass ihr nicht auch ein mechanistisches Zusammenspiel von Kräften seid? Wie der Verstand, so hat auch eine Gewitterfront komplexe chemische, elektrische und mechanische Eigenschaften. Sie denkt. Sie ist kreativ. Ihre Gedanken unterscheiden sich von euren Gedanken. Ein menschliches Wesen erschafft Komplexität, indem es einen Roman auf die Oberfläche von papiernen Blättern schreibt; ein Gewittersturm erschafft Komplexität, indem er Wellen auf die Oberfläche eines Ozeans schreibt. Was ist der Unterschied zwischen der Information, die in den Worten eines Romans enthalten ist, und jener auf den Wogen des Meeres? Hört zu, und die Wellen werden sprechen, und eines Tages, das sage ich euch, werdet auch ihr eure Gedanken auf die Oberfläche des Meeres schreiben.

»Was berechnet das Universum denn?«, fragte Innes ungeduldig. »Was ist das für ein großes Problem, das es zu lösen versucht?«

Das ist das tiefste und wunderbarste aller Mysterien.

»Am Zaun wurde Alarm ausgelöst«, sagte Wardlaw. »Wir haben Besuch.«

Hazelius drehte sich um. »Sagen Sie bloß, dieser Priester ist wieder da.«

»Nein, nein … Du lieber Himmel. Dr. Hazelius, das sollten Sie sich lieber mal ansehen.«

Ford und die Übrigen folgten Hazelius zum Arbeitsbereich des Sicherheitschefs. Über Wardlaws Schultern hinweg spähten sie nach den Monitoren an der Wand.

»Was zum Teufel …?«, entfuhr es Hazelius.

Wardlaw drückte auf ein paar Knöpfe. »Ich hätte nicht so sehr darauf achten sollen, was dieses verrückte Ding auf dem Bildschirm sagt. Schauen Sie, ich spule die Aufzeichnung dieser Kamera hier zurück. Da fängt es an. Ein Hubschrauber … ein Militärhubschrauber, ein Black Hawk UH-sechzig A, der auf unserem Flugfeld landet.«

Alle standen da und sahen fassungslos zu. Ford konnte einen ganzen Trupp Männer in Kampfanzügen sehen, die schwerbewaffnet aus dem Hubschrauber hervorquollen.

»Sie brechen die Hangars auf«, kommentierte Wardlaw das Bild, »und nehmen sich unsere Humvees. Sie beladen sie … Jetzt durchbrechen sie die Tore zur Sicherheitszone … Das hat den Alarm ausgelöst. Okay, jetzt sind wir wieder live.«

Ford sah zu, wie die Soldaten, oder was immer das für Leute sein mochten, aus den Humvees sprangen und mit bereitgehaltenen Waffen ausschwärmten.

»Was ist da los? Was zum Teufel tun die hier?«, rief Hazelius erschrocken.

»Sie gehen für einen Angriff in Stellung«, sagte Wardlaw.

»Angriff? Worauf denn?«

»Auf uns.«


55


Russ Eddy hockte geduckt hinter einem Wacholderbusch und spähte hinüber in den eingezäunten Sicherheitsbereich. Die Männer in Schwarz hatten den Zaun durchbrochen und waren eifrig dabei, Scheinwerfer aufzubauen und Ausrüstung aus zwei Militärjeeps zu laden. Er zweifelte nicht daran, dass diese Männer hierhergeschickt worden waren, um das Isabella-Projekt zu schützen – das war eine Reaktion auf seinen Brief. Der enge zeitliche Zusammenhang konnte kein Zufall sein. Paramilitärische Kräfte der neuen Weltordnung, die in schwarzen Hubschraubern gekommen waren, genau wie Mark Koernke es prophezeit hatte.

Eddy wusste nun, dass sein Brief auch die Mächtigen erreicht hatte.

Er achtete genau darauf, wie viele es waren und was sie an Waffen und Ausrüstung bei sich trugen, und kritzelte alles in sein Notizbuch.

Die Soldaten hatten einen Halbkreis aus mobilen Scheinwerfern aufgebaut und verbunden, die nun den gesamten Bereich in gleißend weißes Licht tauchten. Eddy kroch tiefer in den Schatten und zog sich bis zur Straße zurück. Er hatte genug gesehen. Bald würden die ersten Streiter für die Armee Gottes eintreffen – er musste alles organisieren.

Während er zurück zum Rand der Mesa lief, wo der Dugway oben herauskam, nahm in seinen Gedanken ein Plan Gestalt an. Zuerst brauchte er einen Platz, an dem sie parken und sich sammeln konnten und der so weit von Isabella entfernt lag, dass sie nicht gesehen wurden. Sie mussten sich in Gruppen einteilen, sich gut absprechen und dann angreifen. Und da, direkt am oberen Ende des Dugway, etwa viereinhalb Kilometer von Isabella entfernt, lag ein weites, offenes Feld aus kahlem Fels, der ideale Platz dafür.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: Viertel vor zwölf. Zwei Stunden waren vergangen, seit er die E-Mail rausgeschickt hatte. Jeden Moment würden die Ersten eintreffen. Er joggte mitten auf der Straße entlang, um die Fahrzeuge abzufangen.

Knapp einen Kilometer vom Anfang des Dugway entfernt hörte er das Grollen eines Motorrads. Ein einzelner Lichtpunkt erschien auf der Mesa und bewegte sich rasch auf ihn zu. Das Licht näherte sich langsamer, als der Strahl auf Eddy fiel, und ein Geländemotorrad hielt vor ihm an. Im Sattel saß ein muskulöser Mann mit langem, blondem Haar, zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden; er trug eine Jeansjacke mit abgerissenen Ärmeln und kein Hemd darunter. Sein Gesicht war markant wie das eines Filmstars, zerfurcht und dennoch von beinahe göttlicher Ausstrahlung. Ein schweres, metallenes Kreuz an einer Silberkette ruhte auf seiner haarigen Brust.

Als das Motorrad stehenblieb, streckte er die gestiefelten Beine aus, brachte die Maschine ins Gleichgewicht und grinste. »Pastor Eddy?«

Mit hämmerndem Herzen trat Eddy vor. »Ich grüße dich im Namen Jesu Christi.«

Der Mann klappte den Seitenständer herunter, stieg ab – er war riesengroß – und ging mit ausgebreiteten Armen auf Eddy zu. Dann drückte er Eddy in einer staubigen, nach Schweiß stinkenden Umarmung an sich, trat zurück und packte ihn freundschaftlich an beiden Schultern. »Randy Doke.« Erneut zog er Eddy an sich. »O Mann, bin ich wirklich der Erste?«

»Das sind Sie.«

»Nicht zu glauben, dass ich es geschafft habe. Als ich Ihren Brief gelesen hatte, bin ich sofort auf meine Kawasaki gesprungen und von Holbrook hierhergefahren. Querfeldein, durch die Wüste, ich habe Zäune eingerissen und bin gefahren wie der Teufel. Wäre ja schon eher hier gewesen, aber in der Nähe der Second Mesa hat’s mich hingelegt. Ich kann’s gar nicht glauben, dass ich da bin. O Mann, nicht zu fassen.«

Eddy spürte, wie Selbstvertrauen in ihm aufwallte und neue Energie.

Der Mann blickte sich um. »Also – was jetzt?«

»Wir wollen beten.« Er ergriff Dokes rauhe Hände, und sie neigten die Köpfe. »Allmächtiger Gott, mögen Deine Engel uns umgeben, Flügelspitze an Flügelspitze, mit blanken Schwertern, um uns zu schützen und uns, Deine Diener, zum Sieg zu führen gegen den Antichristen. Im Namen Jesu Christi unseres Herrn. Amen.«

»Amen, Bruder.«

Der Mann hatte eine tiefe, volltönende Stimme, die Eddy beruhigend und sehr anziehend fand. Das war ein Mann, der in jeder beliebigen Situation wusste, was zu tun war.

Doke kehrte zu seinem Motorrad zurück, holte ein Gewehr aus einem Lederfutteral, das am Sitz befestigt war, und schulterte die Waffe. Dann zog er einen vollen Patronengürtel aus der Satteltasche und hängte ihn über die andere Schulter, so dass er aussah wie ein altmodischer Guerillakrieger. Er warf Eddy ein breites Grinsen zu und salutierte. »Bruder Randy meldet sich zum Dienst in der Armee Gottes!«

Weitere Scheinwerfer näherten sich – langsam, unsicher. Ein staubiger Jeep mit offenem Verdeck hielt neben ihnen. Ein Mann und eine Frau Mitte dreißig stiegen aus. Eddy breitete die Arme aus und zog sie an sich, erst den Mann, dann die Frau. Die beiden begannen zu weinen, und ihre Tränen hinterließen sichtbare Spuren auf den staubigen Gesichtern.

»Seid gegrüßt im Namen Christi.«

Der Mann trug einen völlig mit Staub bedeckten Anzug und hielt eine Bibel in der Hand. In seinem Gürtel steckte ein Küchenmesser. Die Frau hatte kleine Papierstreifen an ihre Bluse geheftet, die bei jeder Bewegung flatterten. Eddy sah, dass es sich um Bibelverse und fromme Sprüche handelte. Folgen und trau’nGehet hin in alle Welt … Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende … »Die hängen sonst zu Hause am Kühlschrank«, sagte sie. Dann griff sie in den Jeep und holte einen Baseball-Schläger heraus.

»Wir haben gebetet und gebetet, aber wir konnten uns nicht entscheiden«, sagte der Mann. »Wollte Gott, dass wir Sein Wort im Kampf führen, oder wollte Er, dass wir richtige Waffen benutzen?«

Sie standen vor Eddy und erwarteten seine Befehle.

»Da gibt es keinen Zweifel«, sagte Eddy. »Das wird eine Schlacht. Eine echte Schlacht.«

»Dann bin ich ja froh, dass wir die hier mitgebracht haben.«

»Eine Menge Leute werden diese Straße entlangkommen«, fuhr Eddy fort. »Vermutlich Tausende. Wir brauchen einen Platz, wo wir alle versammeln und uns vorbereiten können. Einen Sammelplatz. Der ist da drüben, rechts von der Straße.« Er deutete auf die große Fläche aus Fels und Sand; bleich schimmerte sie im Licht des krummen Mondes, der eben über dem Rand der Mesa aufgegangen war. »Randy, Gott hat Sie nicht ohne Grund als Ersten zu mir geführt. Sie sind meine rechte Hand. Mein General. Sie und ich werden alle dort drüben versammeln und unsere … unsere Attacke planen.« Es fiel ihm schwer, das Wort auszusprechen, nun, da es tatsächlich so weit war.

Randy nickte scharf und sagte kein Wort. Eddy bemerkte, dass auch er feuchte Augen hatte. Er war zutiefst gerührt.

»Sie beide müssen mit Ihrem Jeep die Straße blockieren, damit niemand näher an Isabella heranfährt. Wir müssen sie überraschen. Schicken Sie alle von der Straße runter, sie sollen auf dem offenen Bereich da drüben parken. Randy und ich gehen auf diesen Hügel. Wir warten. Wir stoßen nicht zu Isabella vor, ehe wir genug Leute beisammenhaben.«

Weitere Scheinwerfer erschienen am Ende des Dugway.

»Isabella liegt knapp fünf Kilometer diese Straße runter. Wir müssen uns still verhalten, bis wir zum Angriff bereit sind. Sorgen Sie dafür, dass niemand vorprescht oder wilde Aktionen startet. Der Antichrist soll nicht ahnen, dass wir kommen, bis wir zahlenmäßig weit überlegen sind.«

»Amen«, sagten die beiden.

Eddy lächelte. Amen.


56


Um zwei Uhr morgens saß Reverend Don T. Spates am Schreibtisch in seinem Büro hinter der Silver Cathedral. Mehrere Stunden zuvor hatte er Charles und seine Sekretärin zu Hause angerufen und sie gebeten, ins Büro zu kommen, weil er der vielen Anrufe und E-Mails nicht mehr Herr wurde. Vor ihm lag der Stapel E-Mails, die Charles als wichtig ausgewählt hatte, bevor der Mail-Server zusammengebrochen war. Daneben ein Haufen Telefonnotizen. Im Vorzimmer konnte er das Telefon unablässig klingeln hören.

Spates versuchte, das gewaltige Ereignis zu begreifen, das sich gerade abspielte.

Ein sachtes Klopfen an der Tür, und seine Sekretärin trat mit frischem Kaffee ein. Sie stellte ihn auf den Tisch, daneben ein Porzellantellerchen mit einem Macadamiakeks.

»Ich will keinen Keks.«

»Ja, Reverend.«

»Und gehen Sie nicht mehr ans Telefon. Stöpseln Sie es einfach aus.«

»Ja, Reverend.« Teller und Keks verschwanden mit der Sekretärin. Gereizt beobachtete er, wie sie abzog; ihr Haar war nicht so aufgebauscht und glänzend wie sonst, ihr Kleid war zerknittert, und ohne Make-up sah man allzu deutlich, wie unscheinbar sie wirklich war. Sie war wohl schon im Bett gewesen, als er sie angerufen hatte, aber sie hätte sich wirklich mehr Mühe geben sollen.

Als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, fischte er eine Flasche Wodka aus einer stets verschlossenen Schublade und kippte etwas davon in den Kaffee. Dann wandte er sich wieder seinem Computer zu. Seine Website war unter der Last der Zugriffe ebenfalls zusammengebrochen, und nun schien das ganze World Wide Web immer träger zu werden. Mühevoll und quälend langsam klickte er sich durch die vertrauten christlichen Websites. Einige der großen, wie raptureready.com, waren ebenfalls zusammengebrochen. Andere bauten sich extrem langsam auf, zäh wie Sirup in Alaska. Der Aufruhr, den Eddys Brief verursacht hatte, war erstaunlich. Die wenigen christlichen Chatrooms, die noch funktionierten, quollen über vor hysterischen Usern. Viele verabschiedeten sich mit der Erklärung, sie wollten jetzt los und dem Aufruf folgen.

Spates schwitzte heftig, obwohl es im Büro recht kühl war, und sein Kragen juckte. Eddys Brief, den er inzwischen wohl zwanzig Mal gelesen hatte, ängstigte ihn. Der Brief war ein Aufruf zu einem gewalttätigen Angriff gegen eine Einrichtung der amerikanischen Regierung, und Eddy hatte Spates in seinem Brief namentlich genannt. Selbstverständlich würde man ihm die Schuld dafür geben. Andererseits, redete Spates sich ein, könnte sich diese unglaubliche Zurschaustellung christlicher Macht, christlicher Empörung, letztendlich als gut erweisen. Schon viel zu lange wurden Christen in ihrem eigenen Land diskriminiert, ignoriert, belächelt, verspottet. Ob er sich als richtig erwies oder nicht, dieser Aufruhr würde Amerika wachrütteln. Die Politiker und die Regierung würden endlich die Macht und den Einfluss der christlichen Mehrheit erkennen. Und er, Spates, hatte diese Revolution in Gang gesetzt. Robertson, Falwell, Swaggart – obwohl sie seit vielen Jahren predigten, obwohl sie so reich und mächtig waren, hatte keiner von ihnen so etwas zustande gebracht.

Spates surfte weiter durchs Internet und suchte nach mehr Information, doch er fand nichts als Aufstand, Empörung und Hysterie. Und Tausende Kopien des Briefs.

Während er zum x-ten Male den Brief überflog, kam ihm ein neuer, verstörender Gedanke.

Was, wenn Eddy recht hat?

Plötzlich lief ihm ein Schauer über den Rücken. Er war noch nicht bereit, sich aus diesem Leben zu verabschieden. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass es mit all seinem Geld, seinem Einfluss, seiner Kathedrale, seiner Tele-Gemeinde nun vorbei sein sollte – dass bald alles vorbei sein sollte, noch ehe es richtig begonnen hatte.

Und gleich darauf folgte ein noch beunruhigenderer Gedanke: Wie würde er selbst an jenem großen Tag der Herrlichkeit Gottes beurteilt werden? War er wahrhaftig mit Gott im Reinen? Spates’ sämtliche Sünden traten ihm vor Augen, um ihn zu quälen. Die Lügen, die Genusssucht, der Betrug, die Frauen und die protzigen Geschenke, die er ihnen vom gespendeten Geld der Gläubigen gekauft hatte. Doch das Schrecklichste war die Erinnerung daran, dass er sich mehr als einmal dabei ertappt hatte, wie er auf der Straße lüstern kleinen Jungen nachgestarrt hatte: All diese Sünden – die großen wie die kleinen – quollen aus den finsteren Ecken seines Geistes hervor und verlangten, betrachtet und neu bedacht zu werden.

Angst, Schuldgefühle und Verzweiflung überkamen ihn. Gott sah alles. Alles. Bitte, Herr, bitte vergib mir. Ich bin Dein unwürdiger Diener, betete er immer wieder, bis es ihm mit einer gewaltigen geistigen Anstrengung gelang, die Sünden wieder in irgendein dunkles Loch in seinem Verstand zu verbannen. Gott hatte ihm bereits vergeben – worum sich also Sorgen machen?

Und außerdem konnte dies gar nicht die Wiederkunft Christi sein. Was zum Teufel dachte er da überhaupt? Eddy war verrückt. Natürlich, völlig durchgedreht. Spates hatte das von dem Moment an gewusst, als er diese schrille, krächzende Stimme am Telefon zum ersten Mal gehört hatte. Jeder, der bereit war, mit einer Rotte Indianer mitten in der Wüste zu leben, Hunderte Kilometer von einem anständigen Restaurant entfernt, war per definitionem verrückt.

Er las den Brief dieses Irren noch einmal, suchte nach Anzeichen des Wahnsinns, und eine neue Woge des Grauens erfasste ihn. Der Brief klang völlig vernünftig. Er war machtvoll. Und das war nicht das Geschreibsel eines Irren. Und diese Sache, dass »ARIZONA« und »ISABELLA« jeweils 666 ergaben, beunruhigte ihn am meisten.

Gott, er schwitzte wie ein Schwein.

Er öffnete die Glastür der Büchervitrine aus edlem Kirschholz, holte ein dickes Buch heraus und blätterte sich durch die Gematrie-Tabellen. Er schlug die hebräischen Buchstaben nach und notierte sich die Zahlenwerte auf einem Blatt Papier. Dabei fiel ihm auf, dass Eddy ein paar Buchstaben falsch transkribiert und andere mit falschen Zahlenwerten belegt hatte.

Er ordnete die korrekten Zahlen zu und addierte sie mit zitternder Hand. Keines der beiden Worte ergab 666.

Er lehnte sich zurück, keuchend vor Erleichterung. Die ganze Sache war eine Farce, genau wie er vermutet hatte. Er fühlte sich, als sei ein Engel herabgestoßen, um ihn aus dem Feuersee zu retten. Mit fahrigen Bewegungen zerrte er ein Leinentaschentuch aus seiner Tasche und wischte sich den Schweiß von Stirn und Schläfen.

Doch die Furcht kehrte zurück. Gott mochte ihn verschont haben. Aber würden die Medien das auch tun? Die Regierung? Konnte man ihn womöglich vor Gericht stellen, weil er zu Gewalttaten aufgerufen hatte? Oder ihm gar noch Schlimmeres vorwerfen? Er sollte wohl besser seinen Anwalt aus dem Bett zerren, solange er noch nicht behelligt wurde. Er musste eine Möglichkeit finden, Crawley die Schuld in die Schuhe zu schieben. Schließlich war es Crawley gewesen, der den Anstoß zu alldem gegeben hatte.

Er zerrte an seinem Kragen, um ein wenig Luft an seinen erhitzten, klebrigen Hals zu lassen. Es war ein dummer Fehler gewesen, diesen Spinner Pastor Eddy mit ins Boot zu holen. Der Kerl war unberechenbar, unkontrollierbar. Dumm, dumm, dumm.

Er drückte auf den Knopf an der Sprechanlage. »Charles, ich brauche Sie.«

Der sonst so flinke junge Mann erschien nicht.

»Charles? Ich brauche Sie hier.«

Stattdessen öffnete seine Sekretärin die Tür. Sie wirkte so erschöpft, wie er sie noch nie gesehen hatte.

»Charles ist gegangen«, sagte sie tonlos.

»Das habe ich ihm aber nicht erlaubt.«

»Er will zu Isabella.«

Spates starrte von seinem Sessel aus zu ihr auf. Er konnte es nicht glauben. Charles?

»Er ist vor zehn Minuten weg. Er sagte, Gott habe ihn gerufen. Dann ist er gegangen.«

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« Spates schlug mit der Hand auf den Tisch. Dann bemerkte er, dass sie ihren Mantel trug und ihre Tasche in der Hand hielt. »Jetzt sagen Sie bloß, Sie wollen diesem Trottel nachrennen!«

»Nein«, sagte sie. »Ich gehe nach Hause.«

»Bedaure, aber das wird nicht möglich sein. Ich brauche Sie hier die ganze Nacht. Rufen Sie Ralph Dobson an, meinen Anwalt. Sagen Sie ihm, er soll sofort herkommen. Ich habe hier ein kleines Problem, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten.«

»Nein.«

»Nein? Nein was? Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass ich nicht mehr für Sie arbeiten möchte, Mr. Spates.«

»Was reden Sie denn da?«

Sie umklammerte mit beiden Händen ihre Handtasche und hielt sie vor ihren Bauch, als wolle sie sich damit schützen. »Weil Sie ein abscheulicher Mensch sind.« Steif machte sie kehrt und ging hinaus.

Spates hörte das leise Klicken einer Tür, die vorsichtig geschlossen wurde – dann Stille.

Er saß allein hinter seinem Schreibtisch, schweißnass – und völlig verängstigt.


57


Das Wort »Angriff« hing schwer in der Luft. Die anderen drängten heran und starrten ebenfalls auf den Hauptmonitor des Überwachungssystems. Sie sahen Live-Bilder von einer Kamera, die auf dem Dach des Fahrstuhls befestigt war und aus großer Höhe alles zeigte, was sich draußen abspielte. Am Rand der Klippen oberhalb von Isabella erkannte Ford eine Gruppe schwarz gekleideter Männer, die Seile bereitmachten und Ausrüstung und Waffen aufstapelten. Offensichtlich hatten sie vor, sich abzuseilen. Kate trat neben ihn und nahm wieder seine Hand. Ihre Handfläche war schweißfeucht und zitterte.

George Innes brach das entsetzte Schweigen. »Angriff? Warum denn, um Himmels willen?«

»Sie konnten keinen Kontakt zu uns herstellen«, erklärte Wardlaw. »Und das ist ihre Reaktion darauf.«

»Das ist eine absurde Überreaktion!«

Wardlaw wandte sich zu Dolby um. »Ken, wir müssen so-fort die Kommunikationskanäle wiederherstellen und diesen Irrsinn abblasen.«

»Das kann ich nicht, ohne Isabella abzuschalten. Wie ihr sehr wohl wisst, ist Isabella nach außen hin komplett abgeschottet. Die Programmierung lässt einfach nicht zu, dass wir die Kommunikationssysteme einschalten, solange Isabella läuft.«

»Starten Sie den Hauptcomputer neu, und verlagern Sie die Kontrolle auf die anderen Server.«

»Es würde mindestens eine Stunde dauern, den Mainframe hochzufahren und neu zu konfigurieren.«

Wardlaw fluchte. »Also schön, dann gehe ich nach oben und erkläre denen persönlich die Situation.« Er wandte sich zur Tür.

»Sie werden nichts dergleichen tun«, sagte Hazelius.

Wardlaw starrte ihn an. »Sir, ich verstehe nicht …«

Hazelius zeigte stumm von Wardlaws Arbeitsbereich hinüber zum größten Bildschirm im Raum. Eine neue Botschaft war dort erschienen.

Wir haben sehr wenig Zeit. Was ich euch zu sagen habe, ist von äußerster Wichtigkeit.

Wardlaw sah Hazelius beinahe panisch an. Sein Blick huschte zu den Sicherheitsmonitoren und zurück. »Wir können sie nicht einfach aussperren, Sir. Ich muss die Sicherheitstür öffnen.«

»Tony«, sagte Hazelius mit leiser, drängender Stimme. »Denken Sie mal einen Moment daran, was hier drinnen vor sich geht. Wenn Sie diese Tür öffnen, ist unser Gespräch mit … Gott, oder was immer das ist, unweigerlich zu Ende.«

Wardlaws Adamsapfel hüpfte, als er schluckte. »Gott?«

»So ist es, Tony. Gott. Es ist durchaus möglich, dass wir Kontakt zu Gott hergestellt haben. Nur ist das ein Gott, der sehr viel größer und unbegreiflicher ist als alles, was die Menschheit sich je ausgedacht hat.«

Niemand sprach ein Wort.

Hazelius fuhr fort, leise und eindringlich. »Tony, wir können uns ein wenig Zeit erkaufen, und sie wird uns nicht allzu viel kosten. Wir erzählen ihnen, die Tür sei kaputt, die Kommunikationssysteme vorübergehend zusammengebrochen, der Computer abgestürzt. Wir müssen es nur geschickt anstellen. Wir können die Türen geschlossen halten und dennoch ohne allzu schwerwiegende Anklage davonkommen.«

»Sie haben sicher Sprengstoff dabei. Sie werden die Tür sprengen«, sagte Wardlaw mit gepresster, hoher Stimme.

»Sollen sie doch«, erwiderte Hazelius. Sanft legte er eine Hand auf Wardlaws Schulter und schüttelte sie freundschaftlich, als wolle er den Mann aufwecken. »Tony, Tony. Wir sprechen vielleicht gerade mit Gott. Verstehen Sie denn nicht?«

Wardlaw sagte leise: »Ich verstehe.«

»Sie werden eine Weile brauchen, um durch die Titantür zu gelangen.« Hazelius blickte sich um. »Sind wir uns in dieser Sache einig?« Sein Blick schweifte durch den Raum und blieb an Ford hängen. Er musste die Skepsis in Fords Augen bemerkt haben. »Wyman?«

Ford sagte: »Ich bin nur erstaunt, dass Sie es für möglich halten – dass wir tatsächlich mit Gott sprechen könnten.«

»Wenn das nicht Gott ist, wer ist es dann?«, fragte Hazelius.

Ford warf den anderen einen Blick zu. Er fragte sich, wer außer ihm noch erkannte, dass Hazelius allmählich den Verstand verlor. »Genau das, was Sie die ganze Zeit über vermutet haben. Ein Betrug. Sabotage.«

Plötzlich meldete sich Melissa Corcoran zu Wort. »Wenn du das immer noch glaubst, Wyman, dann tust du mir leid.«

Ford wandte sich erstaunt zu ihr um. Ihr Gesicht trug einen Ausdruck, den er bei ihr noch nie gesehen hatte und der ihn sofort innehalten ließ. Verschwunden war die unsichere junge Frau, die ständig nach Zuwendung und Bestätigung suchte. Sie strahlte vor gelassener Schönheit, Selbstsicherheit blitzte aus ihren Augen.

»Du glaubst, das sei Gott?«, fragte Ford fassungslos.

»Ich verstehe nicht, warum dich das so überrascht«, sagte sie. »Glaubst du denn nicht an Gott?«

»Schon, aber nicht an diesen Gott!«

»Woher willst du wissen, dass er das nicht ist?«

Ford wusste nicht weiter. »Kommt schon, Leute! Gott würde nie auf diesem verrückten Weg Kontakt zu uns aufnehmen.«

»Du glaubst, es wäre weniger verrückt von ihm, eine Jungfrau zu schwängern, die dann einen Sohn gebärt, der die Botschaft auf die Erde bringen soll?«

Ford wollte seinen Ohren nicht trauen. »Ich sage euch, das ist nicht Gott.«

Corcoran schüttelte den Kopf. »Wyman, ist dir denn nicht klar, was hier passiert ist? Kapierst du das nicht? Wir haben die größte wissenschaftliche Entdeckung aller Zeiten gemacht: Wir haben Gott entdeckt.«

Ford sah die anderen der Reihe nach an. Sein Blick traf schließlich Kates; sie stand neben ihm. Sie sahen einander tief in die Augen. Er konnte kaum glauben, was er da sah: Ihre Augen waren feucht vor Rührung. Sie drückte seine Hand, ließ sie dann los und lächelte. »Es tut mir leid, Wyman. Du weißt, dass Melissa und ich nicht die besten Freundinnen sind. Aber jetzt … na ja.« Sie streckte den Arm aus und ergriff Corcorans Hand. »Ich stimme ihr zu.«

Ford starrte die beiden Gegnerinnen an, die plötzlich Verbündete waren. »Wie kann ein rationaler Mensch auch nur einen Moment lang glauben, dass dieses … Ding« – er deutete auf den Bildschirm – »Gott sei?«

»Was mich überrascht«, sagte Kate gefasst, »ist, dass du es nicht erkennst. Sieh dir die Beweise an. Das Raum-Zeit-Loch. Es ist wirklich. Ich habe alles durchgerechnet. Das ist ein Wurmloch oder eine Flux-Tube in ein Paralleluniversum – ein Universum, das direkt neben unserem existiert, unglaublich nahe, so dass sich die beiden beinahe, aber nicht ganz berühren. Diese beiden Universen sind wie zwei Blatt Papier, die zusammengeknüllt wurden. Wir haben nichts weiter getan, als ein Loch in unser Blatt Papier zu stechen, und dadurch ein winziges Stück des anderen Blattes freigelegt. Und in diesem Paralleluniversum … wohnt Gott.«

»Kate, das kann nicht dein Ernst sein.«

»Wyman, vergiss alles andere, und achte nur auf die Worte. Nur die Worte. Ich erlebe es heute zum ersten Mal, dass die einfache Wahrheit tatsächlich ausgesprochen wird. Es ist wie Glockenläuten nach jahrelanger Stille. Was dieses … was Gott da sagt, ist einfach so unglaublich wahr

Ford blickte sich in dem kreisrunden Raum um und blieb bei Edelstein hängen. Edelstein, der ultimative Skeptiker. Die dunklen Augen des Mannes erwiderten den Blick triumphierend.

»Alan, bitte hilf mir.«

»Ich habe wirklich nie nach Gott gesucht«, sagte Edelstein. »Ich war mein ganzes Leben lang überzeugter Atheist. Ich brauche Gott nicht – ich habe ihn noch nie gebraucht und werde ihn auch nie brauchen.«

»Wenigstens einer, der auf meiner Seite steht«, bemerkte Ford erleichtert.

Edelstein lächelte. »Was meiner Bekehrung umso mehr Gewicht verleiht.«

»Deiner Bekehrung?«

»Ganz recht.«

»Du … glaubst daran?«

»Natürlich. Ich bin Mathematiker. Ich lebe und sterbe für die Logik. Und die Logik sagt mir, dass dieses Ding, das mit uns spricht, irgendeine höhere Macht sein muss. Nenn es Gott, nenn es das Primum mobile oder den Großen Geist, das ist völlig egal.«

»Ich nenne das einen Betrug.«

»Wo sind deine Beweise für eine Täuschung? Kein Programmierer hat je einen Code geschrieben, der den Turing-Test bestehen könnte. Auch wurde nie ein Computer gebaut – Isabellas Super-Computergehirn eingeschlossen –, der zu wahrer künstlicher Intelligenz fähig wäre. Du kannst nicht erklären, woher es Kates Zahlen oder Gregorys Namen kannte. Vor allem aber erkenne ich, genau wie Kate, die tiefer gehende Wahrheit, die es verkündet. Wenn es nicht Gott ist, dann ist es ein höchst intelligentes Wesen aus diesem oder einem anderen Universum, und daher übernatürlich. Ich begreife es so, wie ich es sehe. Die einfachste Erklärung ist zu bevorzugen. Ockhams Rasiermesser.«

»Außerdem«, fügte Chen hinzu, »kam dieser Output direkt aus K-Null. Wie erklärst du das?«

Ford sah die anderen an, blickte von Dolbys feingemeißeltem schwarzem Gesicht, nass vor Tränen, zu dem zitternden Delirium, das sich Julie Thibodeaux’ zu bemächtigen schien … Unglaublich, dachte Ford. Sieh dir das an. Sie alle glauben es. Michael Cecchinis sonst so totes Gesicht wirkte plötzlich lebhaft, strahlend … Rae Chen … Harlan St. Vincent … George Innes … alle. Sogar Wardlaw, der inmitten dieser undenkbaren Sicherheitskrise seine Überwachungskameras ignorierte und stattdessen voll sklavischer Bewunderung Hazelius anstarrte.

Offensichtlich hatte er die ganze Zeit über eine finstere, gefährliche Dynamik innerhalb dieser Gruppe übersehen. Sogar bei Kate – vor allem bei Kate.

»Wyman, Wyman«, sagte Hazelius besänftigend. »Sie lassen sich von Ihren Gefühlen leiten. Wir hingegen denken. Das können wir nun mal am besten.«

Ford trat einen Schritt zurück. »Hier geht es nicht um Gott. Es geht um irgendeinen Hacker, der euch sagt, was ihr hören wollt. Und ihr lasst euch darauf ein.«

»Wir lassen uns darauf ein, weil es die Wahrheit ist«, sagte Hazelius. »Das sagt mir meine Intelligenz ebenso wie meine Knochen. Sehen Sie uns an: mich, Alan, Kate, Rae, Ken – uns alle. Können wir uns alle so täuschen? Wissenschaftliche Skepsis ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Wir haben sie uns zu eigen gemacht. Niemand kann uns Leichtgläubigkeit vorwerfen. Warum glauben Sie, Sie wüssten mehr als wir?«

Darauf hatte Ford keine Antwort.

Hazelius sagte: »Wir verlieren kostbare Zeit.« Ruhig wand-te er sich dem Bildschirm zu. »Bitte, fahre fort. Du hast unsere volle Aufmerksamkeit.«

Konnten sie recht haben? Konnte das wirklich Gott sein? Ford wandte sich voll düsterer Vorahnungen der nächsten Botschaft auf dem Visualizer zu.


58


Von seinem Hügel am Rand des Sammelplatzes aus, Doke an seiner Seite, beobachtete Eddy den Strom der ankommenden Fahrzeuge. In der vergangenen Stunde waren mehrere hundert über den Rand der Mesa gekrochen; sie quollen nur so aus dem Dugway hervor, zuerst Motocross-Maschinen und Geländefahrzeuge, Jeeps, dann Pick-ups, Motorräder, Minivans und Autos. Die Ankömmlinge brachten Berichte über Behinderungen und Widrigkeiten mit. Die Staatspolizei hatte Straßensperren errichtet, auf der I-40, der Route 89 durch Grey Mountain und auf der Route 160 bei Cow Springs, doch die Gläubigen hatten ihren Weg über die zahllosen unbefestigten Straßen gefunden, die kreuz und quer durch das Reservat verliefen.

Die Fahrzeuge waren wild durcheinander auf der Fläche am Ende des Dugway geparkt, doch, so überlegte Eddy, es war nicht wichtig, wie die Leute parkten. Niemand würde wieder nach Hause fahren. Sie würden auf anderem Wege heimkommen – auf dem Weg der Entrückung.

Manchmal wirkte die heranstürmende Horde anarchisch: laute Stimmen, heulende Kleinkinder, Betrunkene, sogar Leute, die auf Drogen waren. Doch jene, die früh angekommen waren, begrüßten die Neuen mit Gebeten, Bibelversen und dem Wort Gottes. Mindestens eintausend Gläubige drängten sich inzwischen auf dem offenen Feld vor seinem Hügel und warteten auf Anweisungen. Viele trugen Bibeln und Kreuze bei sich. Einige trugen Gewehre. Andere hatten an Waffen mitgebracht, was ihnen in die Hände gefallen war, von gusseisernen Bratpfannen und Küchenmessern bis hin zu Vorschlaghämmern, Äxten, Macheten und Sensen. Viele Jungen waren mit Steinschleudern, Luftgewehren und Baseballschlägern bewaffnet. Andere hatten Funkgeräte mitgebracht, die Eddy requirierte und an eine kleine Gruppe ausgab, die er als Kommandanten ausgewählt hatte; ein Walkie-Talkie behielt er selbst.

Eddy war überrascht, so viele Kinder zu sehen – sogar Mütter mit Säuglingen. Kinder in der Schlacht von Armageddon? Doch wenn man darüber nachdachte, erschien es selbstverständlich. Dies war die Endzeit. Alle würden sie gemeinsam in den Himmel entrückt werden.

»He«, sagte Doke und stupste Eddy an. »Streifenwagen.«

Eddy folgte seinem ausgestreckten Finger. Dort, in der Schlange der Fahrzeuge, die sich den Dugway heraufquälten, kroch ein Streifenwagen mit blitzendem Blaulicht zwischen den anderen entlang.

Er wandte sich wieder seinen neuen Schäfchen zu. Die versammelte Menge wogte, ihre murmelnden Stimmen klangen wie Regen. Taschenlampen blitzten hier und da auf, und er hörte das Klirren von Metall auf Metall – Waffen wurden bereitgemacht und durchgeladen. Ein Mann bastelte Fackeln aus toten Kiefernzweigen und verteilte sie. Die Disziplin der Leute war unglaublich.

»Ich versuche mir zu überlegen, was ich zu ihnen sagen soll«, erklärte Eddy.

»Man muss sehr vorsichtig sein, wenn man mit Cops redet«, stimmte Doke zu.

»Ich spreche von meiner Predigt. Für die Armee Gottes, bevor wir losziehen«, sagte Eddy.

»Ja, aber was wird mit dem Cop?«, fragte Doke. »Es ist nur ein Streifenwagen, aber der hat Funk. Könnte Ärger geben.«

Eddy beobachtete das Blaulicht und bemerkte überrascht, dass die Leute tatsächlich dort, wo Platz war, rechts ranfuhren, um den Streifenwagen vorbeizulassen. Alte Gewohnheiten wie der Gehorsam gegenüber der Regierung, der Autorität, würden schwer zu überwinden sein. Ja, genau darüber würde er sprechen. Dass ihr Gehorsam von jetzt an allein Gott gelten durfte.

»Er kommt aus dem Dugway«, sagte Doke.

Das Heulen der Sirene erreichte die Mesa, erst schwach, dann lauter. Die unruhige Menge unter Eddy vermehrte sich, breitete sich immer weiter aus und wartete auf Anweisungen. Viele beteten, und ihre Bittgebete stiegen in die Nachtluft auf. Andere Gruppen hielten sich mit gesenkten Köpfen an den Händen. Kirchenlieder drangen an seine Ohren. Das erinnerte Eddy an seine Vorstellung davon, wie das Volk sich zur Bergpredigt versammelt hatte. Genau, das war es. Da würde er mit seiner Predigt beginnen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen … Nein, das war kein guter Bibelvers für den Anfang. Er brauchte etwas Feuriges: Weh denen, die auf Erden wohnen und auf dem Meer! Denn der Teufel kommt zu euch hinab und hat einen großen Zorn und weiß, dass er wenig Zeit hat. Der Antichrist. Darauf musste er sich konzentrieren. Auf den Antichristen. Er würde nur ein paar Worte sagen und dann seine Armee ins Feld führen.

Der Polizeiwagen, der nun den Rand der Klippe überwunden hatte, steckte immer noch zwischen den vielen Autos fest. Er verließ die asphaltierte Straße und hielt ein paar hundert Meter daneben. Eddy konnte das Emblem der Navajo Tribal Police auf der Tür erkennen. Ein Suchscheinwerfer auf dem Dach wurde herumgeschwenkt, die Tür ging auf. Ein großer Indianer stieg aus, ein Navajo-Polizist. Sogar aus hundert Meter Entfernung erkannte Eddy Bia mühelos.

Sogleich war der Polizist von Menschen umringt. Nach allem, was Eddy hören konnte, schien sich dort ein Streit anzubahnen.

»Was tun wir jetzt, Pastor Russ?«, riefen die Menschen.

»Wir warten«, sagte er mit leiser, kraftvoller Stimme, die so anders klang als seine gewöhnliche Stimme, dass er sich fragte, ob er wirklich selbst gesprochen hatte. »Gott wird uns den Weg zeigen.«


59


Lieutenant Bia stand vor der Menschenmenge, und seine Sorge wuchs. Er hatte einen Anruf bekommen, auf der Mesa gebe es irgendwelchen Ärger, und er war davon ausgegangen, dass es um den Protestritt ging. Als er den dichten Verkehr auf der Red Mesa Road gesehen hatte, war er einfach mitgeschwommen. Doch nun sah er sich um und merkte, dass diese Leute, wer immer sie auch sein mochten, nichts mit dem Protestritt zu tun hatten. Diese Leute trugen Gewehre und Schwerter, Kreuze und Äxte, Bibeln und Küchenmesser bei sich. Einige hatten sich Kreuze auf die Stirn oder die Kleidung gemalt. Das war eine Art seltsamer religiöser Versammlung – vielleicht hatte sie etwas mit diesem Fernsehprediger zu tun, von dem schon einige Leute gesprochen hatten. Zu seiner Erleichterung waren alle möglichen Hautfarben hier vertreten – Schwarze, Asiaten, sogar ein paar, die wie Navajo oder Apachen aussahen. Immerhin waren es nicht der Ku-Klux-Klan oder die Nazis von der Aryan Nation.

Er zog seinen Gürtel hoch, stemmte die Hände in die Hüften und setzte ein lockeres Lächeln auf in der Hoffnung, niemanden zu verschrecken. »Habt ihr Leute einen Anführer? Jemanden, mit dem ich reden könnte?«

Ein Mann in ausgebleichten Jeans und einem groben blauen Hemd trat vor. Er hatte ein mächtiges Gesicht, gebräunt von lebenslanger Feldarbeit, einen dicken Bauch, kurze, stämmige Arme, die ein wenig vom Körper abstanden, und schwielige Hände. Ein alter Colt M1917-Revolver mit Elfenbein im Griff steckte unter seinem nietenbesetzten Gürtel, an dessen Schnalle ein poliertes Messing-Kruzifix prangte. »Ja. Wir haben einen Anführer. Er heißt Gott. Wer sind Sie?«

»Lieutenant Bia, Tribal Police.« Innerlich sträubte er sich gegen den unnötig aggressiven Tonfall des Mannes. Doch er würde ganz cool bleiben und nicht auf Konfrontation gehen. »Welcher Mensch ist denn hier zuständig?«

»Lieutenant Bia, ich habe nur eine Frage an Sie: Sind Sie ein Christ, der zur großen Schlacht hier ist?«

»Schlacht?«

»Armageddon.«

Zur Verdeutlichung legte der Mann die Hand an den mit Elfenbein eingelegten Griff seiner Waffe.

Bia schluckte. Die Menge schloss sich dichter um ihn. Er wünschte, er hätte erst Verstärkung gerufen. »Ich bin Christ, aber ich habe nichts von einem Armageddon gehört.«

Die Menge verstummte.

»Sind Sie im Wasser des Lebens wiedergeboren worden?«, fuhr der Mann fort.

Aus der Menge erhob sich scharfes Gemurmel. Bia atmete tief durch. Es hatte keinen Sinn, sich auf einen religiösen Streit mit diesen Leuten einzulassen. Er musste sie beruhigen. »Erzählen Sie mir doch mehr über dieses Armageddon.«

»Der Antichrist ist hier. Hier auf der Mesa. Die große Schlacht des Allmächtigen steht bevor. Und Sie sind entweder für uns oder gegen uns. Die Endzeit ist jetzt. Entscheiden Sie sich.«

Bia hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren sollte. »Ich nehme an, Ihnen ist bewusst, dass Sie sich hier in der Navajo Nation befinden und Landfriedensbruch auf Grund und Boden begehen, der an die amerikanische Regierung verpachtet ist.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

Die Menge zog den Kreis um Bia noch enger zusammen. Er konnte ihre Aufregung spüren, sie in ihrem Schweiß riechen.

»Sir«, sagte er mit leiser Stimme, »nehmen Sie die Hand von der Feuerwaffe.«

Die Hand des Mannes rührte sich nicht.

»Ich sagte, nehmen Sie die Hand weg von der Waffe

Die Finger des Mannes schlossen sich um den Griff. »Sie sind entweder für uns oder gegen uns. Also, wie steht es?«

Der Mann sprach zu der Menschenmenge, ließ Bia aber nicht aus den Augen. »Er ist keiner von uns. Er ist hier, um für die andere Seite zu kämpfen.«

»Was soll man auch erwarten?«, rief jemand, und die Menge echote: »Klar doch, was sonst?«

Bia begann sich langsam und ruhig zu seinem Fahrzeug zurückzuziehen.

Die Waffe wurde gehoben. Der Mann zielte auf Bia.

»Sir, ich bin nicht hier, um gegen irgendjemanden zu kämpfen«, sagte Bia. »Sie haben absolut keinen Grund, eine Waffe auf mich zu richten. Weg damit.«

Eine ältere Frau in Arbeitsstiefeln und einem Strohhut, das Gesicht gegerbt wie altes Leder, legte dem Mann eine Hand auf den Arm. »Jess, spar dir deine Kugeln auf. Dieser Mann ist nicht der Antichrist. Er ist nur ein Cop.«

Das Wort Antichrist lief wie eine Welle durch die Menge. Die Leute drängten sich noch näher an Bia heran.

»Sir, ich sagte, weg mit der Waffe

Unsicher ließ der Mann sie sinken.

»Okay, Wyatt Earp, gib mir den Revolver.« Die Frau streckte den Arm aus, nahm die Waffe aus der schlaffen Hand, leerte die Trommel und steckte Waffe und Munition in ihre Umhängetasche.

»Hier oben gibt es keinen Antichristen«, sagte Bia, der sich beherrschen musste, um sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Dies ist Land der Navajo Nation, und Sie alle begehen hier Landfriedensbruch. Also, falls Sie einen Anführer haben, möchte ich jetzt gern mit ihm sprechen.« Sobald er beim Streifenwagen war, würde er per Funk Unterstützung rufen. Am besten gleich die Nationalgarde.

Eine Stimme erscholl über die Köpfe der Menge hinweg. »Wir sind hier als die Armee Gottes – um für unseren Herrn zu kämpfen und zu sterben!«

Kämpfen. Kämpfen. Kämpfen. Die Menge wiederholte das Wort wie ein Gebet.

Ein Mann mit einem langen, zotteligen Bart drängte sich zu Bia durch, einen großen Stein in der Faust, und brüllte: »Bist du wiedergeboren im Wasser des Lebens?«

Verärgert über den inquisitorischen Tonfall des Mannes, antwortete Bia: »Meine Religion geht Sie nichts an. Legen Sie diesen Stein weg, sonst zeige ich Sie an wegen eines tätlichen Angriffs auf einen Polizisten.« Er legte eine Hand an seinen Gummiknüppel.

Der Mann wandte sich an die Menschenmenge um sie herum. »Wir können ihn nicht gehen lassen. Er ist ein Cop. Er hat ein Funkgerät. Er wird die anderen warnen.« Der Mann hob den Stein hoch über seinen Kopf. »Antworte endlich!«

Bia löste den Gummiknüppel vom Gürtel. Er wirbelte ihn hoch und schmetterte ihn so hart er konnte gegen den Arm des Mannes. Mit einem ekelerregenden Knacken brach der Unterarm, und der Stein fiel zu Boden.

»Er hat mir den Arm gebrochen!«, kreischte der Mann und fiel auf die Knie.

»Geht jetzt auseinander, und es wird niemand sonst verletzt!«, rief Bia laut. Er trat einen Schritt zurück, bis an die Stoßstange seines Wagens, und hielt den Knüppel halb erhoben. Wenn er es nur bis ins Auto schaffen könnte, hätte er ein wenig Schutz – und er könnte einen Funkspruch absetzen.

»Der Cop hat ihm den Arm gebrochen!«, brüllte ein Mann und kniete sich neben den Verletzten.

Die Menge stürmte unter Gebrüll voran. Ein Stein kam angeflogen, und Bia wich ihm aus. Mit einem dumpfen, knirschenden Krachen zerschlug der Stein die Windschutzscheibe.

Bia riss die Fahrertür auf, sprang hinein und versuchte, die Tür hinter sich zuzuziehen, doch ein ganzer Haufen Leute hinderte ihn daran. Er schnappte sich das Funkgerät und drückte auf den Sendeknopf.

»Er will funken!«, schrie jemand.

Ein Dutzend Hände packten ihn, zerrten an ihm, zerrissen sein Hemd.

»Der Scheißkerl will sein Funkgerät benutzen! Er ruft den Feind zu Hilfe!«

Das Funkgerät wurde ihm aus der Hand gerungen und das Kabel aus der Verankerung gerissen. Bia versuchte, sich am Lenkrad festzuklammern, doch der vielarmige Mob zerrte ihn mit erbarmungsloser Kraft aus dem Auto. Er fiel zu Boden, versuchte aufzustehen, bekam aber einen Tritt und landete auf den Knien.

Er griff nach seiner Waffe und riss sie aus dem Halfter. Er rollte sich zur Seite und richtete den Lauf in die Menge. »Zurück!«, brüllte er.

Ein Stein traf ihn an der Brust und brach ihm mehrere Rippen. Bia feuerte blindlings in die Menge.

Ein Chor entsetzter Schreie erhob sich. »Mein Mann«, kreischte eine dieser Stimmen. »O Gott!«

Ein Baseballschläger sauste durch die Luft und traf ihn am Bein. Er feuerte noch zwei Schüsse ab, ehe der Schläger ihm den Arm zerschmetterte und ihm die Waffe aus der Hand flog.

Der kreischende Mob stürzte sich auf ihn, schimpfte, trat, schlug auf ihn ein.

Bia fiel vornüber, tastete nach der Waffe, doch ein Stiefel trat auf seine Hand und zerquetschte sie fast. Er schrie auf, rollte sich herum und versuchte, unter den Streifenwagen zu kriechen.

»Steinigt ihn! Mörder! Steinigt ihn!«

Er spürte, wie Steine und Stöcke auf ihn herabprasselten, wie sie Muskeln und Knochen trafen und auf das Metall und Glas seines Streifenwagens herabregneten. Halb erstickt vor Schmerz schaffte er es dennoch, halb unter den Wagen zu krabbeln, doch sie packten ihn am Bein und zerrten ihn zurück in den erbarmungslosen Hagel von Tritten und Schlägen. Er kreischte vor Schmerz und Grauen, rollte sich zusammen und versuchte, sich vor dieser ungezügelten Gewalt zu schützen. Das Gebrüll der Menge trat allmählich in den Hintergrund, übertönt von einem dumpfen Brüllen in seinem eigenen Kopf. Die Schläge kamen weiterhin, doch trafen sie nun jemand anderen, jemand anderes begab sich auf diese Reise, rückte immer weiter ab, weiter ab. Das Gebrüll verebbte zu einem fernen Murmeln, und dann hieß ihn wunderbare Dunkelheit und Stille willkommen.


Eddy sah zu, während sich die Menge wie ein Rudel Hunde an der Stelle drängte, wo eben noch der Polizist gestanden hatte. Er sah, wie der Mann aufzustehen versuchte, und dann war er fort, in die Tiefe gerissen vom gefährlichen Strudel der tobenden, Steine werfenden Menge.

Der seltsame rhythmische Gesang erstarb, und die Menge schien zu erschlaffen; dann wichen die Leute langsam zurück. Das Einzige, was übrigblieb, war die Dienstmütze des Polizisten und unförmige Klumpen in einer zertrampelten Uniform.

Der Mob zerstreute sich allmählich, nur eine Frau blieb zurück. Sie kniete auf dem Boden, weinte laut und hielt einen blutenden Mann in den Armen. Eddy spürte Panik in sich hochkriechen. Warum war alles so anders, als er es sich vorgestellt hatte? Warum kam es ihm so schmutzig vor?

»Dies ist Armageddon«, hörte er die tiefe, beruhigende Stimme von Doke sagen. »Es musste ja irgendwann beginnen.«

Doke hatte recht. Sie hatten die Grenze überschritten, nun gab es kein Zurück mehr. Der Kampf hatte begonnen. Gott führte ihre Hand, und Seine Entscheidungen konnten nicht hinterfragt werden. Eddy gewann neues Selbstvertrauen.

»Pastor?«, raunte Doke. »Die Leute brauchen Sie jetzt.«

»Natürlich.« Eddy trat vor und hob die Hände. »Meine Freunde in Jesus Christus! Hört mich an! MEINE FREUNDE IN JESUS CHRISTUS!«

Ein unruhiges Schweigen senkte sich herab.

»Ich bin Pastor Russell Eddy!«, rief er. »Ich bin der Mann, der den Widerchrist entlarvt hat!«

Die Menge, wie elektrisiert von der Gewalttat, drängte sich in Wellen zu ihm vor wie ein Ozean, der nach der Küste greift.

Eddy nahm Dokes Hand und hielt sie empor. »Die Könige, die Politiker, die Liberalen und die säkularen Humanisten dieser korrupten Welt werden sich in den Klüften und Felsen der Berge verstecken. Sie werden die Berge und Felsen anflehen: Fallt über uns und verbergt uns vor dem Angesichte dessen, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn des Lammes! Denn es ist gekommen der große Tag Seines Zorns, und wer kann bestehen?«

Ein Brüllen erfüllte die Nacht, die erregte Menge tobte.

Eddy drehte sich um, streckte den Arm aus und donnerte: »Dort, vier Kilometer östlich von hier, steht ein Zaun. Hinter dem Zaun ist eine Klippe. In dieser Klippe liegt Isabella. Und in Isabella ist der Antichrist. Er trägt den Namen Gregory North Hazelius.«

Das Gebrüll hallte von den Felsen wider, Schüsse krachten gen Himmel.

»Geht!«, schrie Eddy und schüttelte den ausgestreckten Arm. »Geht als ein Volk, angeführt vom flammenden Schwert Zions! Geht hin und findet den Widerchrist! Zerstört ihn und sein Tier! Die Schlacht Gottes, des Allmächtigen, hat begonnen! Sonne und Mond werden den Schein verlieren, und Sterne werden vom Himmel fallen!«

Er trat zurück, und die schäumende Menge wandte sich um und strömte wie eine Flutwelle über die mondhelle Mesa gen Osten; Taschenlampen und Fackeln hüpften in der Dunkelheit wie tausend glühende Augen.

»Gut gemacht«, sagte Doke. »Sie haben ihnen richtig eingeheizt.«

Eddy, der sich immer noch an Dokes starkem Arm festhielt, machte sich auf, den anderen zu folgen. Er warf einen Blick zurück und entdeckte Bia, ein zertrampeltes Häuflein im Staub – und die weinende Frau, die ihren toten Mann in den Armen wiegte.

Die ersten Opfer Armageddons.


60


Ein junger Mann Anfang zwanzig mit frischem Gesicht, ein gewisser Agent Miller, kutschierte Bern Wolf in einem Humvee vom Flugplatz zu der eingezäunten Sicherheitszone. Sie passierten mehrere durchbrochene Tore und hielten mitten auf dem Parkplatz, auf dem nur ein paar Zivilfahrzeuge standen. Alles war vom Licht starker Scheinwerfer grell erleuchtet.

Wolf blickte sich um. Soldaten sammelten sich am Rand der Mesa und befestigten Taue, um sich an der Klippe hinab zu Isabella abzuseilen. Es sah aus wie in einem Actionfilm.

»Wir warten im Fahrzeug, bis wir gerufen werden, Sir«, erklärte Miller.

»Wunderbar.« Wolf schwitzte. Er war Wissenschaftler, Computerexperte, und für so einen Blödsinn nicht geschaffen. Der Knoten in seinem Magen fühlte sich fest und schwer an. Wolf nahm sich vor, ganz dicht bei Agent Miller zu bleiben, dessen Arme so aussahen, als könnte er mühelos einen Buick stemmen. Sein Rücken und seine Schultern waren so massig, dass das großkalibrige NATO-Sturmgewehr unter seiner Achsel wie ein Plastikspielzeug wirkte.

Er beobachtete die Männer am Rand der Mesa bei ihrer Arbeit. Einer nach dem anderen befestigte sein Seil und sprang rücklings in die Tiefe, beladen mit dicken Rucksäcken. Obwohl Wolf Isabella nie selbst besucht hatte, kannte er sie wie seine Westentasche. Er hatte einige Pläne selbst entworfen und lange über den Konstruktionszeichnungen gebrütet. Er kannte außerdem die Software genau, und das Energieministerium hatte ihm einen Umschlag mit sämtlichen Abschalt-und Sicherheitscodes übergeben. Isabella auszuschalten würde kein Problem sein.

Für ihn war das Problem, die hundert Meter hohe Klippe hinunterzugelangen.

»Ich muss mal pinkeln«, sagte er.

»Direkt neben dem Fahrzeug, und beeilen Sie sich, Sir.«

Wolf erleichterte sich und stieg wieder ein.

Miller beendete gerade einen Funkspruch. »Wir sind dran, Sir.«

»Sie sind schon drin?«

»Nein. Die wollen Sie da unten haben, bevor der erzwungene Zutritt erwirkt wird.«

Der erzwungene Zutritt erwirkt wird. Wussten die Kerle eigentlich, wie lächerlich sie sich anhörten?

Miller nickte. »Nach Ihnen.«

Wolf hatte das Gefühl, als wehre sich jeder Muskel seines Körpers, als er seinen Rucksack schulterte. Trotz der grellen Beleuchtung konnte er erstaunlich viele Sterne am Himmel über sich sehen. Die Luft war frisch und roch nach Holzrauch. Als er sich vom laufenden Motor des Humvee entfernte, fiel ihm auf, wie still die Nacht hier war. Das lauteste Geräusch kam von den knisternden Hochspannungsleitungen – offensichtlich lief Isabella auf Hochtouren. Er bezweifelte, dass da unten irgendetwas ernsthaft nicht in Ordnung war. Vermutlich war das Kommunikationssystem durch einen simplen Computerfehler ausgefallen. Irgendein idiotischer Bürokrat war durchgedreht und hatte dieses Sondereinsatzkommando losgeschickt. Vielleicht wussten die Wissenschaftler im Bunker nicht einmal, was sie für einen Aufruhr verursachten.

Dann, ganz schwach, hörte er zwei leise Geräusche aus der Ferne, die wie Schüsse klangen; dann noch zwei Mal.

»Haben Sie das gehört?«, fragte er Miller.

»Ja.« Der Mann war mit zur Seite geneigtem Kopf stehengeblieben. »Etwa viereinhalb Kilometer entfernt.«

Sie lauschten noch einen Moment lang, doch es kam nichts mehr.

»Vermutlich nur ein Indianer, der auf einen Kojoten ballert«, sagte Miller.

Wolfs Beine fühlten sich wackelig an, als er Miller zum Rand der Klippe folgte. Er hatte erwartet, dass sie ihn in einem Käfig oder so hinunterlassen würden, doch es war nichts dergleichen zu sehen.

»Sir? Ich nehme Ihren Rucksack. Wir lassen ihn runter, so-bald Sie unten sind.«

Wolf setzte den Rucksack ab und übergab ihn Miller. »Vorsichtig, da ist ein Laptop drin.«

»Wir passen gut darauf auf, Sir. Wenn Sie jetzt bitte hier herüberkommen?«

»Moment mal«, sagte Wolf. »Sie erwarten doch nicht ernsthaft, dass ich … mich an so einem Seil herunterlasse?«

»Doch, Sir.«

»Wie denn?«

»Das zeigen wir Ihnen gleich. Bitte bleiben Sie hier stehen.«

Wolf wartete. Die meisten anderen Soldaten hatten sich bereits abgeseilt, so dass die beiden fast allein am Rand der Klippe standen. Die Stromleitungen summten und knisterten.

Das Funkgerät des Soldaten zischte, und er sprach hinein. Wolf hörte nur mit halbem Ohr zu. Ein Streifenwagen der Staatspolizei berichtete von irgendeinem Problem auf der Zufahrtsstraße zur Mesa. Wolf hörte weg. Er konnte an nichts denken als an diese Klippe.

Das Gespräch über Funk dauerte noch eine Weile, dann sagte Miller: »Hier entlang, Sir. Wir setzen Sie in dieses Geschirr. Haben Sie sich schon mal abgeseilt?«

»Nein.«

»Mit diesem Gurtsystem ist es völlig sicher. Lehnen Sie sich einfach ein bisschen zurück, stemmen Sie die Füße gegen die Felswand, und stoßen Sie sich vorsichtig ab, machen Sie kleine Hüpfer. Sie können nicht abstürzen, auch dann nicht, wenn Sie das Seil loslassen.«

»Sie machen wohl Witze.«

»Ihnen kann überhaupt nichts passieren, Sir.«

Miller und die verbliebenen Männer legten ihm die Gurte an, die um seine Beine, seinen Hintern und seinen Rücken geführt wurden, und befestigten ihn mit einer Reihe von Karabinern am Seil. Dann stellten sie ihn mit dem Rücken zum Abgrund ganz an den Rand. Er spürte den Wind, der von unten heraufwehte.

»Lehnen Sie sich zurück, und treten Sie rückwärts über den Rand.«

Waren die denn wahnsinnig?

»Lehnen Sie sich zurück, Sir. Machen Sie einen kleinen Schritt rückwärts. Achten Sie darauf, dass das Seil gespannt bleibt. Wir lassen Sie von hier aus vorsichtig runter, Sir.«

Wolf starrte Miller ungläubig an. Der Agent sah aus wie ein mit Wachstumshormonen gedopter Gorilla, und seine Stimme war so unendlich höflich, dass sie schon beinahe verächtlich klang.

»Ich kann das nicht«, sagte Wolf.

Das Seil wurde schlaff, und Panik stieg in ihm auf.

»Zurücklehnen«, sagte Miller bestimmt.

»Holen Sie mir einen Käfig oder so was, und lassen Sie mich darin herunter.«

Miller packte ihn und kippte ihn hintenüber, hielt ihn beinahe zärtlich im Arm. »So ist es richtig. Genau. Sehr gut, Dr. Wolf.«

Wolfs Herz hämmerte. Wieder spürte er, wie ihm die kühle Luft aus der Tiefe über den Rücken strich. Der Soldat ließ ihn los, und an einem zweiten Seil wurde er über den Rand hinabgelassen. Seine Füße rutschten ab, und er knallte seitlich gegen die Felswand.

»Lehnen Sie sich nach hinten, und stemmen Sie die Füße gegen den Fels.«

Mit wild hämmerndem Herzen versuchte er, mit den Füßen Halt an der Felswand zu finden. Er schaffte es und zwang sich, sich zurückzulehnen. Es schien zu funktionieren. Während sie ihn langsam herunterließen, machte er leichte, kleine Schritte und hielt sich weit zurückgelehnt. Sobald er die Oberfläche der Mesa nicht mehr sehen konnte, wurde es dunkel um ihn herum, doch er konnte den Rand noch erkennen, von hinten beleuchtet. Je weiter es abwärtsging, desto ferner schimmerte der Rand. Er wagte es nicht, nach unten zu schauen.

Unglaublich, dass er das tat, schwankend diese Steilwand hinunterhüpfte, während er mit Haut und Haaren von der Dunkelheit verschluckt wurde. Endlich packten Soldaten von unten seine Beine und ließen sie auf steinernen Boden hinab. Als er sich aufrappelte, zitterten seine Knie. Die Soldaten halfen ihm aus den Gurten. Sein Rucksack kam gleich darauf an einem Seil herabgebaumelt, und die Soldaten fingen ihn ein. Miller kam als Nächster.

»Gut gemacht, Sir.«

»Danke.«

Aus der Bergflanke war eine große, halboffene Höhle geschlagen worden. Am anderen Ende war eine massive Tür aus Titan in der Felswand verankert. Die Fläche davor wurde bereits von grellen Scheinwerfern beleuchtet und sah nun aus wie der Zugang zur Insel von Dr. No. Wolf spürte Isabellas summende Vibration in dem Berg. Es war wirklich sehr seltsam, dass sie alle Kommunikationswege nach drinnen verloren hatten. Dazu gab es zu viele Back-up-Systeme. Und der Sicherheitschef müsste sie inzwischen längst auf den Überwachungsmonitoren gesehen haben – außer, diese wären auch ausgefallen.

Sehr merkwürdig.

Die Soldaten bauten drei konische Metallschüsseln auf dreibeinigen Ständern auf und richteten sie auf die Tür aus – sie wirkten wie zu kurz geratene Granatwerfer. Ein Mann begann, die Kegel mit etwas zu laden, das nach C4 aussah.

Doerfler stand daneben und gab Anweisungen.

»Was sind das für Dinger?«, fragte Wolf.

»Vorrichtungen zur besonders schnellen Sprengung von Wänden, geladen mit C4«, sagte Miller. »Genau abgestimmte Ladungen, da, treffen an einem einzelnen Punkt zusammen und sprengen ein Loch, das groß genug ist, um durchzukriechen.«

»Und dann?«

»Dann schicken wir ein Team durch das Loch, das den Bunker sichert, und ein zweites, das die innere Tür zur Brücke öffnet. Wir sichern die Brücke, holen eventuell vorhandene böse Jungs raus und nehmen die Wissenschaftler in Gewahrsam. Es könnte einen Schusswechsel geben. Wir wissen ja nichts. Sobald die Brücke vollständig gesichert ist, bringe ich Sie rein. Persönlich. Sie schalten dann Isabella ab.«

»Es dauert drei Stunden, das System herunterzufahren«, bemerkte Wolf.

»Dafür sind Sie zuständig.«

»Was geschieht mit Dr. Hazelius und den anderen Wissenschaftlern?«

»Unsere Männer werden sie an einen sicheren Ort bringen, wo man sie befragen wird.«

Wolf verschränkte die Arme. In der Theorie klang das ganz gut, kein Zweifel. Wie der Krieg im Irak.


61


Stanton Lockwood rutschte wieder auf dem billigen Holzstuhl herum und versuchte, eine bequeme Haltung zu finden, obwohl das unmöglich war. Die Stimmung am Mahagonitisch im Krisensitzungsraum war zunehmend von Fassungslosigkeit geprägt. Gegen drei Uhr – ein Uhr nachts auf der Red Mesa – klangen die Neuigkeiten wirklich übel.

Lockwood war in der Bay Area aufgewachsen, hatte Schulen an der West-und Ostküste besucht und wohnte seit zwölf Jahren in Washington. Er hatte nur im Fernsehen Blicke auf das andere Amerika da draußen erhascht, das Amerika der Kreationisten und Christlichen Nationalisten, der Fernsehprediger und glitzernden Mega-Kirchen. Dieses Amerika war ihm immer so fern erschienen, begrenzt auf abgelegene Gebiete in Kansas oder Oklahoma.

Es war nicht mehr so fern.

Der FBIDirektor fragte: »Mr. President?«

»Ja, Jack?«

»Die Arizona Highway Patrol meldet Vorfälle an den Straßensperren auf der Route 89 bei Grey Mountain, Route 160 bei Tuba City und auch bei Tes Nez Iah.«

»Was für Vorfälle?«

»Mehrere Beamte der Staatspolizei sind bei Übergriffen verletzt worden. Das Verkehrsaufkommen ist enorm, und eine Menge Leute haben die Straßensperren querfeldein umfahren. Das Problem ist, dass sich Hunderte improvisierter, unbefestigter Straßen durch das Navajo-Reservat ziehen, die meisten davon sind nicht mal auf den Karten verzeichnet. Unsere Straßensperren sind löchrig wie ein Sieb.«

Der Präsident wandte sich dem Monitor mit dem Vorsitzenden des Generalstabs zu, der in seinem holzvertäfelten Büro im Pentagon saß; hinter ihm an der Wand hing die amerikanische Flagge.

»General Crisp, wo bleibt die Nationalgarde?«

»In zwei Stunden einsatzbereit.«

»Wir haben keine zwei Stunden mehr.«

»Die erforderlichen Hubschrauber, Piloten und entsprechend ausgebildeten Truppen zusammenzusuchen war eine ziemliche Herausforderung, Mr. President.«

»Ich habe Polizisten da draußen, die zusammengeschlagen werden. Und zwar nicht irgendwo im afghanischen Hinter-land, sondern hier, mitten in den Vereinigten Staaten von Amerika. Und Sie erzählen mir etwas von zwei Stunden?«

»Die meisten unserer Helikopter sind derzeit im Nahen Osten.«

Der FBIDirektor meldete sich zu Wort. »Mr. President?«

Der Präsident drehte sich um. »Was?«

»Ich bekomme gerade einen Bericht rein …« Er nahm von jemandem außerhalb des Bildes ein Blatt Papier entgegen. »Ein Funkspruch von einem Beamten der Navajo Tribal Police, der auf die Red Mesa gefahren ist, um nach dem Rechten zu sehen …«

»Ganz allein?«

»Zu diesem Zeitpunkt war er genauso wenig über die tatsächliche Lage informiert wie wir. Er hat einen Hilferuf abgesetzt, der plötzlich abgeschnitten wurde. Ich habe ihn hier.« Er las vom Blatt vor: » ›Brauche sofort Unterstützung … gewalt tätiger Mob … die werden mich umbringen …‹ Das ist alles, was wir haben. In der Aufzeichnung des Funkspruchs ist der Lärm dieses Mobs im Hintergrund deutlich zu hören.«

»Du lieber Himmel.«

»Der GPS-Sender in seinem Streifenwagen ist kurz darauf ausgefallen. Was eigentlich nur passieren kann, wenn der Wagen in Brand gesteckt wurde.«

»Was hören Sie von dem Geiselrettungsteam da oben? Sind Ihre Leute gefährdet?«

»Mein letzter Bericht vor zehn Minuten lautete, dass die Operation läuft wie am Schnürchen. Wir hatten eine unbestätigte Meldung über Schüsse aus der Richtung des Dugway, knapp vier Kilometer vom Flugfeld entfernt. Wir sind gerade dabei, das Team zu kontaktieren. Aber ich versichere Ihnen, Mr. President, dass ein wild gewordener Mob keine ernsthafte Gefahr für ein spitzenmäßig ausgebildetes FBI-Sonderkommando darstellt.«

»Ach ja?«, erwiderte der Präsident skeptisch. »Sind sie auch dafür ausgebildet, auf Zivilisten zu schießen?«

Der FBIDirektor zappelte ein wenig unbehaglich auf seinem Stuhl.

»Sie sind so ausgebildet, dass sie mit jeder nur denkbaren Situation fertig werden.«

Der Präsident wandte sich erneut dem Vorsitzenden des Generalstabs zu. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, früher als in zwei Stunden Truppen da rauszuschaffen?«

»Entschuldigen Sie bitte, Sir«, unterbrach ihn der FBIDirektor mit bleichem Gesicht. »Ich bekomme gerade eine Meldung über eine Explosion und einen Brand … einen, äh, Großbrand … auf dem Red-Mesa-Flugfeld.«

Der Präsident starrte ihn stumm an.

»Was wollen diese Leute?«, platzte Lockwood heraus. »Was, in Gottes Namen, wollen die da oben?«

Galdone sprach, zum ersten Mal, seit sie den Krisenraum betreten hatten. »Sie wissen doch, was die wollen.«

Lockwood starrte den verhassten Kollegen an. Wabbelig und fett, mit verschränkten Armen, die Augen halbgeschlossen, beinahe schläfrig, hockte er auf seinem Stuhl und blickte seelenruhig in die Runde.

»Sie wollen Isabella zerstören«, sagte er, »und den Antichristen ermorden.«


62


Ford klammerte sich an die Tischkante und las die neue Botschaft auf dem Visualizer. Isabella lief mit voller Kraft, und er spürte die gesamte Brücke beben und wackeln wie das Cockpit eines Jets, der rasend schnell dem Boden entgegentrudelte.

Die Religionen sind aus dem Bemühen entstanden, das Unerklärliche zu erklären, das Unkontrollierbare zu kontrollieren und das Unerträgliche zu ertragen. Der Glaube an eine höhere Macht wurde zur mächtigsten Innovation in der Evolution des Homo sapiens. Stämme mit einer Religion hatten einen Vorteil über jene ohne Religion. Sie hatten eine gemeinsame Richtung, ein Ziel, Motivation, eine Mission. Der Überlebenswert der Religion war so spektakulär, dass der Durst nach einem Glauben sich dem menschlichen Genom einprägte.

Ford war ein wenig von den anderen abgerückt. Kate hatte ihm einen verwunderten und, so meinte er, ein wenig bedauernden Blick zugeworfen und half dann Dolby an dessen Arbeitsplatz. Diejenigen, die Isabella am Laufen hielten – Dolby, Chen, Edelstein, Corcoran und St. Vincent –, waren vollkommen auf ihre Arbeit konzentriert. Die Übrigen starrten auf den Visualizer, gebannt von den Worten, die dort erschienen.

Was die Religion versucht hat, konnte die Wissenschaft nun endlich erreichen. Jetzt habt ihr eine Möglichkeit, das Unerklärliche zu erklären und das Unkontrollierbare zu kontrollieren. Ihr braucht keine »Offenbarungsreligionen« mehr. Die Menschheit ist endlich erwachsen geworden.

Wardlaw meldete sich leise aus seiner Sicherheitskabine. »Sie haben ein Team mit Sprengstoff runtergeschickt. Sie wollen die Tür sprengen.«

»Wie viele?«, fragte Hazelius mit scharfer Stimme.

»Acht.«

»Bewaffnet?«

»Schwerbewaffnet.«

Ein panisches Raunen lief durch die Gruppe. »Was sollen wir jetzt tun?«, rief Innes.

»Wir hören weiter zu«, sagte Hazelius, dessen feste Stimme Isabellas Summen übertönte. Er deutete auf den Bildschirm.

Die Religion ist für das menschliche Überleben so essenziell wie Nahrung und Wasser. Wenn ihr versucht, Religion durch Wissenschaft zu ersetzen, wird euch das nie gelingen. Ihr werdet den Menschen stattdessen Wissenschaft als Religion anbieten. Denn ich sage euch, Wissenschaft ist Religion. Die eine, wahre Religion.

Julie Thibodeaux, die neben Hazelius stand, schluchzte plötzlich. »Das ist wundervoll«, sagte sie und wiegte sich vor und zurück, die Arme um den Oberkörper geschlungen. »Das ist so wundervoll … und ich habe solche Angst.«

Hazelius legte beruhigend einen Arm um sie.

Es war unglaublich, dachte Ford: Er hatte ihre Konvertierung mit eigenen Augen beobachtet. Sie glaubten.

Statt ein Buch der Wahrheit bietet die Wissenschaft eine Methode der Wahrheitsfindung. Wissenschaft ist eine Suche nach der Wahrheit, nicht die Offenbarung einer Wahrheit. Sie ist eine Methode, eine Möglichkeit, kein Dogma. Sie ist ein Weg, kein Ziel.

Ford konnte sich nicht mehr beherrschen. »Ja, aber was ist mit dem Leid der Menschen? Wie kann die Wissenschaft ›das Unerträgliche erträglich machen‹, wie du es ausgedrückt hast?«

»Die Magnetspule macht gleich schlapp«, sagte Dolby ruhig.

»Geben Sie ihr mehr Saft«, murmelte Hazelius.

Im vergangenen Jahrhundert haben Medizin und Technologie mehr menschliches Leid gelindert als sämtliche Priester im vergangenen Jahrtausend.

»Du sprichst von körperlichem Leid«, sagte Ford. »Aber was ist mit dem Leid der Seele? Was ist mit spirituellem Leid?«

Habe ich nicht schon gesagt, dass alles eins ist? Ist es nicht tröstlich zu wissen, dass euer Leid den Kosmos selbst erschüttert? Niemand leidet allein, und alles Leid hat einen Sinn – sogar der Sturz eines Spatzes aus dem Nest ist wesentlich für das Ganze. Das Universum vergisst nichts.

»Ich kann sie nicht halten, ich brauche mehr Strom«, rief Dolby. »Harlan, du musst mir fünf Prozent mehr geben.«

»Ich bin am Anschlag«, erwiderte St. Vincent. »Wenn ich weitergehe, bricht das Netz zusammen.«

Die Maschine kreischte nun so laut, dass man sein eigenes Wort kaum mehr verstand. Ford las die Worte auf dem Visualizer, während seine Gedanken durcheinanderwirbelten. Zwölf der intelligentesten Menschen im ganzen Land hielten das da für Gott. Das musste doch etwas bedeuten.

Sinkt nicht so tief herab, euch in falsche Bescheidenheit zu hüllen! Ihr seid meine Jünger. Ihr habt die Macht, die Welt auf den Kopf zu stellen. An einem einzigen Tag sammelt die Wissenschaft mehr Beweise ihrer Wahrheiten an als die Religion während ihrer gesamten Existenz. Die Menschen klammern sich an den Glauben, weil sie ihn brauchen. Sie hungern danach. Ihr werdet den Leuten nicht ihren Glauben wegnehmen; ihr werdet ihnen einen neuen Glauben bringen. Ich bin nicht gekommen, um den jüdisch-christlichen Gott zu verdrängen, sondern um ihn zu vervollständigen.

»Moment mal!«, bellte Wardlaw dazwischen. »Da oben passiert noch mehr!«

»Was denn?«, fragte Hazelius.

Wardlaw spähte bestürzt auf seine Videowand. »Hier wird auf einmal – an allen möglichen Stellen der Alarm ausgelöst. Ein Haufen Leute, die einfach aus dem Nichts kommen … sieht aus wie ein wild gewordener Mob … Was zum Teufel …?«

»Ein Mob?« Hazelius wandte sich halb zu ihm um, ohne den Visualizer aus den Augen zu lassen. »Wovon sprechen Sie eigentlich?«

»Ohne Scheiß, das ist eine ganze Horde … Herrgott, das ist ja nicht zu glauben … Sie attackieren den Sicherheitszaun … reißen ihn nieder … Da draußen ist irgendein Aufstand im Gange. Unglaublich – ein randalierender Mob – aus dem Nichts.«

Ford wandte sich dem zentralen Bildschirm der Überwachungsstation zu. Die Hauptkamera hoch oben auf dem Fahrstuhl lieferte mit ihrem weiten Winkel einen guten Überblick. Ein Mob mit Fackeln und Taschenlampen, primitive Waffen schwingend, stürmte die Straße aus Richtung des Dugway entlang, staute sich am Sicherheitszaun und kippte ihn schließlich durch seine schiere Masse. Aus der Richtung des Flugplatzes war eine dumpfe Explosion zu hören, und plötzlich schossen Flammen über den Baumwipfeln auf.

»Sie haben die Hangars auf dem Flugfeld in Brand gesteckt«, brüllte Wardlaw. »Wer sind diese Leute – und wo zum Teufel kommen sie plötzlich her?«


63


Wolf sah zu, wie die Männer die Sprengladungen an der Titantür anbrachten und Kabel von dort zurück zum Zünder legten. Sie wirkten auf ihn verstörend ruhig, beinahe zuversichtlich, als gehörte es zu ihrem Alltag, Löcher in Berge zu sprengen.

Wolf spazierte auf den Rand der Klippe zu. Eine metallene Reling, im Fels verankert, sicherte den Rand. Er hielt sich an dem kalten Stahl fest und blickte hinaus in die unendlichen Wüsten, umzingelt von Bergen, Tausende von Quadratkilometern, in denen kaum ein Licht die tiefe, unterschiedslose Dunkelheit durchbrach. Ein kühler Wind strich von unten herauf und brachte den Geruch von Staub und den schwachen Duft irgendeiner nachtblühenden Pflanze mit sich. Wolf war geradezu lächerlich stolz darauf, dass er sich hierhin abgeseilt hatte. Das war mal eine Geschichte, die er den Leuten zu Hause in Los Alamos erzählen konnte.

Hinter sich hörte er plötzlich Funkgeräte zischeln, dann einen unverständlichen Wortschwall. Er drehte sich um, um zu sehen, was da passierte. Die Männer, die die Sprengung vorbereiteten, hatten innegehalten. Sie drängten sich um Doerfler und sprachen hektisch in ihre Funkgeräte. Wolf lauschte, konnte aber nichts verstehen. Offenbar war etwas Ungewöhnliches vorgefallen.

Wolf schlenderte hinüber. »He, was ist denn los?«

»Oben hat es einen Angriff gegeben. Niemand weiß, wer das ist.«

Na, toll, dachte Wolf.

Lautes Knallen von oben vermengte sich mit Echos von der Felswand, und der Himmel über dem Rand der Mesa färbte sich plötzlich leuchtend rot. »Was passiert denn da?«

Miller warf Wolf einen Blick zu. »Sie haben die Hangars auf dem Flugfeld in Brand gesteckt … Sie haben den Hubschrauber umzingelt.«

»Sie? Wer zum Teufel sind sie?«

Miller schüttelte den Kopf. Die anderen Teammitglieder unterhielten sich per Funk gehetzt mit ihren Kollegen oben. Die knallenden Geräusche wurden lauter – und Wolf erkannte, dass das Schüsse waren. Er hörte einen schwachen Schrei. Alle starrten nach oben. Gleich darauf stürzte jemand über den Rand der Klippe an ihnen vorbei, begleitet von einem langgezogenen, erstickten Schrei. Der Körper flog hier und da durch die Kegel der Scheinwerfer – ein Mann in Uniform. Der Schrei endete abrupt, tief unter ihnen, mit einem leisen Klatschen und dem Poltern von Geröll.

»Was zum Teufel war das?«, schrie einer der Soldaten. »Sie haben Frankie von der Klippe geworfen!«

»Achtung! Sie kommen die Seile runter!«, brüllte ein anderer Soldat.

Alle starrten in fassungslosem Entsetzen nach oben, wo Dutzende dunkler Gestalten an den Tauen herabglitten.


Pastor Russell Eddy beobachtete, wie seine Schäfchen den letzten Soldaten über den Rand der Klippe warfen. Diese Gewalttat bedauerte er zwar aufrichtig, aber der Soldat hatte sich dem Willen Gottes widersetzt. Es musste also sein. Vielleicht würden diese Männer Trost und Erlösung finden, wenn Jesus Christus sie von den Toten auferweckte und Seine Herde um sich sammelte. Vielleicht.

Er stieg auf die Motorhaube eines Humvee und verschaffte sich einen Überblick. Die Soldaten hatten auf seine Gemeinde geschossen, die sich jedoch mit der Gewalt eines Tsunamis bis zum Rand der Klippe vorgedrängt hatte, bis die meisten Soldaten über den Rand in die schwarze Leere verschwunden waren.

Sein Wille geschehe.

Pastor Eddy bestaunte das Wunder. Auf der Straße drängten sich Menschen, die vom Dugway herbeiströmten, ein Meer von Fackeln und Taschenlampen. Sie ergossen sich über den Zaun in die Sicherheitszone, breiteten sich dort aus und warteten auf weitere Anweisungen. Knapp einen Kilometer entfernt züngelten die Flammen der brennenden Hangars bis über die Baumwipfel und tauchten die Mesa in ein grausiges Licht. Der beißende Gestank von Treibstoff und verbranntem Plastik trieb durch die Luft.

Vor ihm sammelten sich die Leute am Rand der Klippe. Die Soldaten hatten eine Menge Ausrüstung dort zurückgelassen, und Doke wusste offensichtlich etwas damit anzufangen. Er hatte zehn Jahre bei den Special Forces gedient, hatte er Eddy erzählt. Er half den Leuten beim Abseilen, steckte sie in Gurte und Schlingen mit diversen Karabinern und Haken und zeigte ihnen, wie sie sich an der Felswand hinunterlassen mussten. Er versicherte ihnen, dass sie es schaffen konnten.

Und sie schafften es. Mit so guter Ausrüstung war es nicht schwer. Man brauchte gar keine besonderen sportlichen Fähigkeiten. Dokes Leute verschwanden dutzendweise über den Rand, die Taue hinab, wie ein menschlicher Wasserfall, der sich in die Dunkelheit ergoss. Sie schickten die Gurte und Karabiner wieder hinauf, die dann erneut zum Einsatz kamen, und wieder und wieder.

Eddy sah zu, wie Doke brüllte und Befehle erteilte. Eddy hob sein Funkgerät und rief die Gruppe auf dem Flugfeld. »Wie ich sehe, habt ihr die Hangars angezündet. Gut gemacht.«

»Was sollen wir mit dem Hubschrauber machen?«

»Ist er bewacht?«

»Ein Soldat und der Pilot. Er ist bewaffnet – und ziemlich in Panik.«

»Tötet sie.« Die Worte platzten einfach so aus ihm heraus. »Sie dürfen nicht abheben.«

»Ja, Pastor.«

»Sonst noch schweres Gerät da?«

»Hier ist ein Bagger.«

»Zieht Gräben durch die Landebahn und die Helipads.«

Eddy beobachtete die Menschenmenge. Noch immer drängten Leute heran, trotz der Straßensperren und zahlreicher Festnahmen. Es war ein unglaublicher Anblick. Nun war es an der Zeit, die nächste Phase des Angriffs einzuläuten.

Eddy hob die Arme und rief laut: »Christen! Hört mich an!«

Die wachsende Menge verharrte, wurde still.

Eddy deutete mit zitterndem Finger auf die Masten. »Seht ihr diese Hochspannungsleitungen?«

»Reißt sie nieder!«, brüllte die Menge.

»Ja! Wir werden Isabella den Strom abstellen!«, schrie er. »Ich brauche Freiwillige, die auf diese Masten klettern und die Leitungen abreißen!«

»Reißt sie ab!«, echote die Menge. »Reißt sie nieder!«

»Wir schneiden ihnen den Strom ab!«

»Den Strom abschneiden!«

Ein Teil der Menge setzte sich in Bewegung. Der kleine Schwarm hielt auf den nächsten Mast zu, der etwa hundert Meter entfernt stand.

Eddy hob beide Arme, und erneut wurde es still.

Nun zeigte er auf die Antennen, Schüsseln, Mikrowellenempfänger und Mobilfunksender auf dem Aufzug, der am Rand der Klippe aufragte.

»Blendet Satan, macht ihn taub und stumm!«

»Blendet Satan!«

Weitere Leute lösten sich und umschwärmten den Aufzug. Die Menge hatte nun ein Ziel. Sie hatten etwas zu tun. Mit grimmiger Befriedigung beobachtete er, wie der Mob sich an dem Zaun drängte, der einen der gewaltigen Strommasten schützte. Die Menge drückte und drängte dagegen, und kreischend fiel der Zaun um. Sie strömten durch die Lücke. Ein Mann packte die unterste Strebe, schwang sich hinauf und begann zu klettern, gefolgt von einem weiteren, und noch einem, bis man nach ein paar Minuten meinen konnte, ein ganzes Volk von Ameisen krabbele an einem Baum empor.

Eddy sprang von dem Humvee und ging zu Doke, der am Rand der Klippe stand. »Meine Arbeit hier oben ist getan. Ich gehe jetzt hinunter. Gott hat mich dazu auserwählt, den Antichristen zu stellen. Übernehmen Sie hier oben das Kommando.«

Doke umarmte ihn. »Gott segne Sie, Pastor.«

»Und jetzt zeigen Sie mir, wie ich diese Klippe hinunterkomme.«

Doke zog ein paar Nylongurte aus dem Haufen zu seinen Füßen und legte sie um Eddys Beine und Becken. Er fixierte sie mit einem Schraubkarabiner. »Das ist ein Klettergeschirr«, sagte er. »Das Seil wird hier doppelt durch die Seilbremse geführt – wenn Sie loslassen, werden Sie automatisch abgebremst. Eine Hand hierhin, eine hierhin, dann leicht nach hinten lehnen und mit den Füßen kleine Hopser machen, während Sie das Seil durch den Karabiner gleiten lassen.« Er grinste und klopfte Eddy auf die Schulter. »Ganz einfach!« Er drehte sich um. »Macht Platz!«, rief er. »Macht Platz für Pastor Eddy! Er klettert jetzt hinunter!«

Die Menge teilte sich, und Doke führte Eddy bis ganz an den Rand. Eddy drehte sich um, packte das Seil, wie Doke es ihm gezeigt hatte, ließ sich langsam über den Rand rutschen und stieß sich mit den Beinen vorsichtig von der Felswand ab, genau wie Doke gesagt hatte – dabei schlug ihm das Herz bis zum Hals, und er betete inbrünstig.


64


Das da draußen ist ein randalierender Mob«, sagte Wardlaw und deutete auf den Hauptmonitor.

Hazelius riss sich endlich vom Visualizer los. Das Live-Bild zeigte die gesamte Sicherheitszone, die gerade von Verrückten mit Messern, Äxten, Gewehren und hüpfenden, tanzenden Fackeln überrannt wurde.

»Sie steigen auf den Fahrstuhl!«

»Lieber Gott.« Hazelius fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Ken«, rief er, »wie viel Zeit bleibt Isabella noch?«

»Die beschädigte Spule könnte sich jederzeit verabschieden«, schrie Dolby, »und dann sind wir tot. Wenn wir die Supraleitung verlieren, könnten die Strahlen von der Bahn abweichen, die Vakuumröhre zerstören und eine Explosion auslösen.«

»Wie groß?«

»Vermutlich ziemlich groß – so etwas ist noch nie passiert.« Er warf einen Blick auf seinen Bildschirm. »Harlan! Mehr Saft ins System. Du musst den Magnetfluss aufrechterhalten.«

»Ich bin jetzt schon bei hundertzehn Prozent der erlaubten Zufuhr«, erwiderte St. Vincent.

»Tu es trotzdem«, sagte Dolby.

»Wenn das Netz zusammenbricht, haben wir gar keinen Strom mehr und sind auch tot.«

»Rauf damit.«

Harlan St. Vincent gab den Befehl über die Tastatur ein.

»Was ist mit dem Aufstand da draußen?«, brüllte Wardlaw. »Die haben die Hangars am Flugfeld angezündet!«

»Hier kommen sie nicht rein«, sagte Hazelius gelassen.

»Es kommen immer noch mehr an den Seilen runter.«

»Hier drin sind wir sicher.«

Ford beobachtete auf dem Monitor, wie der Mob das Aufzugsgebäude stürmte und die ersten das Dach erreichten. Die Kamera wackelte, das Bild stand auf einmal halb kopf, und urplötzlich war der Bildschirm schwarz.

»Gregory, wir müssen Isabella abschalten«, sagte Dolby.

»Ken, geben Sie mir nur noch fünf Minuten.«

Dolby starrte ihn an, und sein Unterkiefer zitterte vor schierer Emotion.

»Fünf Minuten. Ich flehe Sie an. Wir sprechen vielleicht gerade mit Gott, Ken. Mit Gott

Schweiß rann über Dolbys Gesicht. Sein Kiefer zuckte. Er nickte abgehackt und wandte sich wieder seiner Maschine zu.

»Diese neue Religion, die wir predigen sollen«, begann Hazelius. »Was sollen wir den Menschen anbieten, das sie verehren könnten? Wo ist die Schönheit, die Ehrfurcht bei alledem?«

Ford bemühte sich, die Antwort zu lesen, die halb hinter einem wahren Schneesturm aus Grieß auf dem Visualizer verborgen war.

Ich bitte euch, über das Universum nachzusinnen, von dessen Existenz ihr jetzt wisst. Ist es nicht schon an sich ehrfurchtgebietender als jedes Konzept eines Gottes, das die historischen Religionen je hervorgebracht haben? Hundert Milliarden Galaxien, einsame Inseln aus Feuer, wie leuchtende Münzen in einen so gewaltigen leeren Raum geschleudert, dass er die biologische Fähigkeit des Menschen, ihn zu begreifen, weit überschreitet? Und ich sage euch, das Universum, das ihr entdeckt habt, ist nur ein winziger Bruchteil, eine Ahnung vom Ausmaß und der Pracht der gesamten Schöpfung. Ihr bewohnt ein blaues Pünktchen an den unendlichen Gewölben des Himmels, und doch ist mir dieses blaue Fleckchen kostbar, als wesentlicher Teil des Ganzen. Deshalb bin ich zu euch gekommen. Verehrt mich und meine großen Werke, nicht irgendeinen Stammesgott, den ein paar kriegerische Hirten sich vor Tausenden von Jahren ausgedacht haben.

Dolby starrte nun auch auf den Visualizer, mit schweißnassem Gesicht und zusammengebissenen Zähnen. Hazelius wandte sich nach einem raschen Blick zu ihm wieder dem Monitor zu, einen begierigen Ausdruck auf dem schmalen Gesicht. »Mehr, sag uns mehr.«

»Ich habe Alarmmeldungen von überall aus dem Netz«, sagte St. Vincent, dessen ruhige Stimme nun zum ersten Mal zu brechen drohte. »Transformatoren an Hauptleitung eins sind überhitzt, von hier bis fast zur Grenze nach Colorado.«

Ertastet mein Antlitz mit euren wissenschaftlichen Experimenten. Sucht mich im Kosmos und im Elektron. Denn ich bin der Gott ewiger Zeit und allumfassenden Raums, der Gott der Supercluster und der Leere, der Gott des Urknalls und der inflationären Expansion, der Gott der Dunklen Materie und der Dunklen Energie.

Die Brücke begann zu beben, und der Gestank schmorender Elektronik lag auf einmal in der Luft.

Die Sicherheitskameras am Flugplatz zeigten, dass beide Hangars lichterloh brannten. Der Mob hatte einen Hubschrauber auf dem Helipad umzingelt. Ein Soldat mit einer M16 stand in der Tür des Hubschraubers und feuerte über die Köpfe der Menge hinweg, um sie zurückzuhalten. Die Rotorblätter begannen sich zu drehen.

»Wo kommen all diese Leute her?« Innes starrte auf den Monitor, und seine Stimme erhob sich schrill über Isabellas Kreischen.

Wissenschaft und Glaube können nicht koexistieren. Eines wird das andere zerstören. Ihr müsst dafür sorgen, dass es die Wissenschaft ist, die überlebt, denn sonst ist euer kleines blaues Pünktchen verloren …

Edelstein meldete: »Meine p-fünfer überhitzen.«

»Gebt mir noch eine Minute«, donnerte Hazelius. Er wandte sich dem Visualizer zu und brüllte über den Lärm hinweg: »Was sollen wir tun?«

Mit meinen Worten werdet ihr obsiegen. Berichtet der Welt, was hier geschehen ist. Sagt der Welt, dass Gott zur Menschheit gesprochen hat – zum ersten Mal. Ja, zum ersten Mal!

»Aber wie sollen wir dich ihnen erklären, wenn du uns nicht sagen kannst, was du bist?«

Wiederholt nicht den Fehler der historischen Religionen und verstrickt euch in Disputationen darüber, wer ich bin oder was ich denke. Ich bin zu groß, als dass ihr mich begreifen könntet. Ich bin der Gott eines Universums, das so gewaltig ist, dass nur die Gotteszahlen es beschreiben können. Die erste dieser Zahlen habe ich euch genannt.

»O Scheiße«, sagte Wardlaw, den Blick starr auf die Überwachungsmonitore gerichtet.

Ford wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Sicherheitskameras zu. Der Mob auf dem Bildschirm attackierte nun den Hubschrauber mit Steinwürfen und Gewehrschüssen, während der Soldat, der ihn bewachte, immer noch über die Köpfe der Menge hinwegschoss. Jemand schleuderte einen Molotowcocktail auf den Hubschrauber. Das zu kurz gezielte Geschoss landete vor der Maschine, Flammen züngelten gierig über den Asphalt. Der Soldat senkte nun die Waffe und feuerte in die Menge. Der Hubschrauber hob sich langsam vom Boden.

»O Gott«, sagte Wardlaw, der nun aussah, als sei ihm schlecht.

Trotz des Maschinengewehrfeuers schloss sich die rasende Menge immer enger um den Hubschrauber, blitzend prallten ihre Kugeln von der Panzerung ab.

… Ihr seid die Propheten, die eure Welt in die Zukunft führen. Für welche Zukunft werdet ihr euch entscheiden? Ihr haltet den Schlüssel in Händen …

Vor Fords Augen flog ein halbes Dutzend Molotowcocktails aus der Menge und barst an der Seite des Hubschraubers. Die Flammen loderten auf und verschlangen die Rotoren. Eine Treibstoffleitung fing Feuer, und mit einem gewaltigen, dumpfen Knall explodierte der Helikopter – ein glühender Feuerball, der in der Nachtluft zu schweben schien. Dann regneten Trümmer auf den Asphalt hinab wie ein feuriger Wasserfall. Der glühende Teich, in den er sich ergoss, wuchs rasch, denn der brennende Treibstoff floss in alle Richtungen. Einen Augenblick später sprang der Soldat aus den lodernden Flammen, er schlug um sich, ganz in Feuer eingehüllt, und stürzte brennend auf den Asphalt.

»Herr im Himmel«, sagte Wardlaw. »Sie haben den Helikopter in die Luft gesprengt.«

Hazelius hatte nur Augen für den Visualizer und achtete gar nicht auf den Sicherheitschef.

»Und jetzt seht euch das an!«, schrie Wardlaw und zeigte mit dem Finger auf den Monitor. »Der Mob steht schon vor der Bunkertür! Sie haben es auf Isabella abgesehen. Sie bringen die Soldaten da draußen um!«

Dolby rief: »Ich schalte Isabella jetzt ab!«

»Nein!« Hazelius stürzte sich auf Dolby, es gab ein kurzes Handgemenge, doch diesmal war Dolby vorbereitet gewesen und schleuderte den zierlichen Mann ohne Zögern zu Boden. Dann drehte er sich zu seiner Tastatur um.

»Gesperrt! Isabella hängt!«, kreischte er. »Sie nimmt … die Abschalt-Codes nicht an!«

»O lieber Gott, wir sind tot«, sagte Innes. »Wir sind tot


65


Bern Wolf drückte sich hinter den Soldaten in die Schatten unter der Titantür. Die Leute vor ihnen, immer mehr, waren wie besessen die Seile heruntergerutscht und drängten sie nun gegen die Felswand. Welcher Soldat hatte je solchen Gegnern gegenübergestanden, einem randalierenden Haufen amerikanischer Staatsbürger, einem Mob aus Zivilisten, darunter auch Frauen? Es war verrückt. Wer waren diese Leute? Davidianer? Oder vom Ku-Klux-Klan? Aber ihre Kleidung war bunt zusammengewürfelt, und sie waren mit allem Möglichen bewaffnet, von Gewehren bis hin zu Wurfsternen. Viele von ihnen schwenkten provisorisch zusammengebastelte Kreuze, und sie drängten sich immer näher an die Soldaten heran, die nicht mehr weiter zurückweichen konnten.

Doerfler hob schließlich die Stimme. »Diese Einrichtung ist Eigentum der amerikanischen Regierung!«, rief er. »Legen Sie die Waffen nieder. Sofort.«

Eine ausgemergelte Gestalt trat aus der Menge vor, einen großen Revolver in der Hand.

»Ich bin Pastor Russell Eddy. Wir sind die Armee Gottes, gekommen, um diese Höllenmaschine und den Antichrist dort drin zu zerstören. Treten Sie beiseite, und lassen Sie uns durch.«

Die Leute waren verschwitzt, ihre Augen leuchteten unheimlich hell im Licht der starken Scheinwerfer, und ihre Kö rper schwankten vor Erregung. Manche weinten, die Tränen liefen ihnen unverhohlen übers Gesicht. Und immer mehr kamen an den Seilen herab. Es schien, als wolle der Ansturm kein Ende nehmen und als gebe es keine Möglichkeit, sie aufzuhalten.

Wolf starrte sie an, fasziniert und angewidert. Sie sahen aus wie besessen.

»Es ist mir scheißegal, wer Sie sind«, bellte Doerfler, »oder was Sie hier wollen. Ich warne Sie ein letztes Mal: Legen Sie die Waffen nieder.«

»Sonst?«, fragte Eddy, dessen Stimme nun zuversichtlicher klang.

»Sonst werden meine Männer sich und diese Regierungseinrichtung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen. Die Waffen auf den Boden, sofort.«

»Nein«, erwiderte der dürre Pastor. »Wir werden unsere Waffen nicht niederlegen. Ihr seid Diener der Neuen Weltordnung, Söldner des Antichristen!«

Doerfler ging langsam mit ausgestreckter Hand auf Eddy zu und sagte laut: »Geben Sie mir die Waffe, Mann.«

Eddy richtete den Revolver auf ihn.

»Sehen Sie sich doch mal an«, schnaubte Doerfler verächtlich. »Wenn Sie das Ding abfeuern, werden Sie niemanden verletzten außer sich selbst. Geben Sie mir die Waffe. Sofort.«

Ein Schuss krachte, und Doerfler wurde hintenübergeschleudert. Er stürzte, rollte sich ab und zog im Aufstehen seine eigene Pistole. Offensichtlich trug er unter dem Kampfanzug eine schusssichere Weste.

Ein zweiter Schuss aus dem Revolver sprengte die obere Hälfte seines Kopfes weg.

Wolf warf sich auf den Boden, krabbelte auf Händen und Knien von der Tür weg und kauerte sich an den schützenden Fels. Um ihn herum brach ein tosender Lärm aus, als ginge die Welt unter: Maschinengewehrfeuer, Explosionen, Schreie. Er krümmte sich wie ein Fötus zusammen, barg den Kopf in den Händen und versuchte, in den Fels zu kriechen, während überall Waffen ratterten und knallten und Kugeln zischend und krachend gegen den Stein um ihn herum prallten. Splitter regneten auf ihn herab. Der Höllenlärm schien ewig zu dauern, durchsetzt von grauenhaften Todesschreien und den eklig nassen, reißenden Geräuschen von Geschossen, die Menschen in Stücke fetzten. Er presste die Hände auf die Ohren und versuchte, all das auszusperren.

Die Raserei ebbte ab, und einen Moment lang war alles still, bis auf das Klingeln in seinen Ohren.

Er blieb zusammengekauert liegen, betäubt und wie besinnungslos.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er zuckte zurück.

»Immer mit der Ruhe. Jetzt ist alles gut. Steh auf.«

Er hielt die Augen fest zusammengekniffen. Eine Hand packte sein Hemd, zerrte ihn grob auf die Beine und riss dabei die Hälfte seiner Knöpfe ab.

»Sieh mich an.«

Wolf hob den Kopf und öffnete die Augen. Es war dunkel – die Scheinwerfer waren zerschossen. Überall lagen Leichen, es war eine Szenerie wie in der Hölle, nein, schlimmer als die Hölle; ein paar Leute waren halbiert worden, einzelne Körperteile lagen überall verstreut. Andere waren entsetzlich schwer verwundet, manche gaben seltsame Laute von sich, gurgelten, husteten, ein paar kreischten vor Schmerz. Der Mob war schon dabei, die Leichen zum Rand der Klippe zu schleifen und von der Kante zu rollen.

Er erkannte den Mann, der ihn gepackt hielt: dieser Pastor Eddy, der Doerfler niedergeschossen und damit das Feuergefecht angefangen hatte. Er war mit dem Blut anderer Menschen bespritzt.

»Wer bist du?«

»Ich bin … ich bin nur der Computertechniker.«

Eddy sah ihn an, gar nicht unfreundlich. »Stehst du auf unserer Seite?«, fragte Eddy leise. »Nimmst du Jesus Christus als deinen persönlichen Erlöser an?«

Wolf öffnete den Mund, bekam aber nur ein Krächzen heraus.

»Pastor«, sagte eine Stimme, »wir haben nicht viel Zeit.«

»Es ist immer genug Zeit, um eine Seele zu retten.« Eddy starrte ihn mit dunklen Augen an. »Ich wiederhole: Nimmst du Jesus Christus als deinen persönlichen Erlöser an? Die Zeit ist gekommen, sich für eine Seite zu entscheiden. Der Tag des Jüngsten Gerichts ist angebrochen.«

Wolf brachte endlich ein Nicken zustande.

»Auf die Knie, Bruder. Wir wollen beten.«

Wolf war sich kaum bewusst, was er tat. Das Ganze kam ihm vor wie aus dem Mittelalter, eine Art Zwangsbekehrung. Mit zitternden Beinen versuchte er sich hinzuknien, schaffte es aber nicht schnell genug, und jemand stieß ihn grob in den Rücken. Er verlor das Gleichgewicht, fiel auf die Seite, und sein Hemd riss endgültig auf.

»Lasset uns beten«, sagte Eddy, sank neben Wolf auf die Knie, umfasste Wolfs Hände mit seinen und neigte den Kopf, bis seine Stirn Wolfs Finger berührte. »Himmlischer Vater, nimmst Du Dich dieses Sünders an in der Stunde seiner Not? Und du, Sünder, nimmst das Wort der Wahrheit an, auf dass du wiedergeboren werdest?«

»Ob ich … was?« Wolf konnte sich nicht konzentrieren.

»Ich wiederhole: Nimmst du Jesus Christus als deinen persönlichen Erlöser an?«

Wolf war übel. »Ja«, sagte er hastig. »Ja, ich … das tue ich.«

»Gepriesen sei Gott! Lasset uns beten.«

Wolf senkte den Kopf und kniff die Augen zu. Was zum Teufel tue ich hier?

Eddys Stimme unterbrach seine Gedanken. »Wir wollen laut beten«, sagte er. »Empfange Jesus in deinem Herzen. Wenn du es aus freiem Willen und aufrichtig tust, wirst du das himmlische Königreich erlangen. So einfach ist das.« Er faltete die Hände und begann laut zu beten.

Wolf nuschelte einen Moment lang mit, doch dann schnürte es ihm die Kehle zu.

»Du musst mit mir beten«, sagte Eddy.

»Ich … nein«, sagte Wolf.

»Aber um Jesus in dein Herz aufzunehmen, musst du beten. Du musst darum bitten …«

»Nein. Das tue ich nicht.«

»Mein Freund – mein lieber Freund –, dies ist deine letzte Chance. Das Jüngste Gericht steht bevor. Die Entrückung wird bald stattfinden. Ich spreche nicht als Feind zu dir, sondern als einer, der dich liebt.«

»Wir lieben dich«, echoten Stimmen aus der Menge. »Wir lieben dich.«

»Ich nehme an, ihr habt auch die Soldaten geliebt, die ihr ermordet habt«, sagte Wolf. Er war entsetzt über sich selbst. Woher kam dieser plötzliche, lebensgefährliche Mut?

Er spürte, wie der Lauf einer Pistole sacht seine Schläfe berührte. »Deine letzte Chance«, hörte er Eddys sanfte Stimme. Er konnte spüren, wie ruhig die Hand war, die diese Waffe hielt.

Wolf schloss die Augen und sagte nichts. Er spürte ein leichtes Zittern, als die Hand sich fester um den Griff der Waffe schloss und der Finger den Abzug betätigte. Ein ohrenbetäubendes Wumm – und dann nichts mehr.


66


Jeder Monitor im Krisensitzungsraum war nun mit Teilnehmern der Videokonferenz belegt, ein paar mussten sich schon einen Bildschirm teilen. Die Stabschefs, die Leiter des Heimatschutzministeriums, des FBI, der NASA, der National Intelligence und des Energieministeriums waren zugeschaltet. Der Vizepräsident war seit drei Uhr ebenfalls im Situation Room anwesend, und jetzt war es zwanzig nach drei. In den vergangenen zwanzig Minuten, seit sie die erste Meldung über den Brand auf dem Red-Mesa-Flugplatz erhalten hatten, hatten sich die Ereignisse überschlagen.

Stanton Lockwood kam sich vor wie in einer schlechten Fernsehserie. Es war kaum zu glauben, dass so etwas in Amerika geschehen konnte. Es war beinahe, als wäre er eingeschlafen und in einem fremden Land wieder aufgewacht.

»Seit der Helikopter gesprengt wurde, haben wir nichts mehr von unserem Geiselrettungsteam gehört«, sagte der FBIDirektor gerade.

Sein Gesicht war kalkweiß, und das Taschentuch, mit dem er sich immer wieder den Schweiß vom Gesicht wischte, lag für den Moment zerknüllt und vergessen in seiner Hand. »Diese Leute haben in überwältigender Überzahl angegriffen. Das ist nicht irgendein Mob – sie sind organisiert. Die wissen, was sie tun.«

»Haben sie das Team als Geiseln genommen?«, fragte der Präsident.

»Ich fürchte, die meisten unserer Leute sind außer Gefecht gesetzt – oder tot.«

Jemand, der auf dem Bildschirm nicht zu sehen war, reichte ihm ein Blatt Papier. Er überflog es. »Ich habe gerade einen Bericht erhalten …« Seine Hand zitterte leicht. »Sie haben es geschafft, eine der drei Hauptstromleitungen zu Isabella zu unterbrechen. Das hat einen Ausfall des gesamten Stromnetzes zur Folge. Wir haben Stromausfall im ganzen Norden Arizonas und in Teilen von Colorado und New Mexico.«

»Meine Nationalgarde«, sagte der Präsident, an die Stabschefs gewandt. »Wo zum Teufel bleiben meine Männer?«

»Sie werden gerade gebrieft, Mr. President. Wir sind immer noch im Zeitplan, die Operation beginnt planmäßig um vier Uhr fünfundvierzig.«

»Sie sind noch am Boden?«

»Ja, Sir.«

»Schaffen Sie sie in die Luft! Briefen Sie sie unterwegs!«

»Aber unsere Ausrüstung ist stark reduziert, und jetzt auch noch der Stromausfall …«

»Fliegen Sie alles rüber, was Sie haben.«

»Mr. President, unseren neuesten Erkenntnissen zufolge befinden sich zwischen ein-und zweitausend bewaffnete Personen auf der Red Mesa. Sie glauben, dies sei Armageddon. Die Wiederkunft Christi. Deshalb bedeutet ihnen ein Menschenleben nichts, weder das eigene noch das Leben anderer. Wir können die Männer nicht schlechtausgerüstet und unvorbereitet in eine solche Situation werfen. Es gibt Berichte über Brände und große Explosionen auf der Red Mesa. Und immer noch weichen Hunderte von Leuten unseren Straßensperren aus und strömen querfeldein dorthin, viele haben Geländefahrzeuge. Der Flugplatz kann mit Starrflügel-Maschinen nicht mehr angeflogen werden. Eine Predator-Drohne müsste dort ankommen und uns zumindest Bilder liefern, in … weniger als zwanzig Minuten. Wir müssen einen strategischen, gutorganisierten Angriff auf die Mesa sorgfältig vorbereiten – sonst vergeuden wir nur noch mehr Menschenleben.«

»Das ist mir klar. Aber wir haben da oben auch noch eine Vierzig-Milliarden-Dollar-Maschine, elf FBI-Agenten und ein Dutzend Wissenschaftler, deren Leben ebenfalls auf dem Spiel steht …«

»Entschuldigen Sie, Mr. President«, unterbrach ihn der Energieminister. »Isabella läuft immer noch mit voller Kraft, doch anscheinend destabilisiert sie gerade. Unsere Fernüberwachung zeigt an, dass die Protonen-Antiprotonen-Strahlen dekollimiert sind und …«

»Drücken Sie sich verständlich aus.«

»Wenn Isabella nicht abgeschaltet wird, könnte die Röhre, in der sich die Strahlen bewegen, ein Leck bekommen, und das hätte eine Explosion zur Folge.

»Wie groß?«

Kurzes Zögern. »Ich bin kein Physiker, aber man hat mir erklärt, wenn die Strahlen sich vorher kreuzen, könnte diese Konvergenz eine Singularität erzeugen, die mit der Sprengkraft einer kleinen Atombombe von etwa einer halben Kilotonne detonieren würde.«

»Wann?«

»Könnte jeden Moment so weit sein.«

Der Vorsitzende des Generalstabs meldete sich zu Wort.

»Ich möchte Ihnen nicht noch zusätzlichen Druck machen, aber die Aufmerksamkeit der Medien entwickelt sich gerade zum Tsunami. Wir müssen das in den Griff bekommen – sofort.«

»Sperren Sie den Luftraum im Radius von hundertfünfzig Kilometern um die Mesa«, bellte der Präsident. »Verhängen Sie den Ausnahmezustand über das gesamte Reservat. Und rufen Sie das Kriegsrecht aus. Verbannen Sie sämtliche Presse. Sämtliche Presse.«

»Wird gemacht.«

»Zusätzlich zu den Truppen der Nationalgarde will ich überwältigende Militärpräsenz da oben. Ich will, dass das USMilitär die Kontrolle über die Red Mesa und das umliegende Gebiet übernimmt, und zwar bis zum Morgengrauen. Ich will keine Ausreden mehr hören, es gebe zu wenig Leute oder Transportmittel. Ich will, dass Sie auch zu Lande Soldaten da hinschaffen. Sie sollen eben querfeldein fahren. Das ist offenes Wüstenland. Setzen Sie alles ein, was Sie haben, eine überwältigende Streitmacht, ist das klar?«

»Mr. President, ich habe bereits sämtliches Militärpersonal im gesamten Südwesten mobilisieren lassen.«

»Und vier Uhr fünfundvierzig ist das Beste, was Sie mir bieten können?«

»Ja, Mr. President.«

»Bewaffnete Terroristen besetzen Eigentum der amerikanischen Regierung und ermorden amerikanische Staatsbeamte. Ihre Verbrechen gegen diesen Staat haben nichts mit Religion zu tun. Diese Leute sind Terroristen – Punkt, aus, Ende. Haben Sie das verstanden?«

»Selbstverständlich, Sir.«

»Als Erstes will ich, dass dieser Fernsehprediger, Spates, sofort verhaftet und wegen Terrorverdacht in Gewahrsam genommen wird – Handschellen, Fußfesseln, das volle Programm. Und so öffentlichkeitswirksam wie möglich – ich will ein Exempel statuieren. Falls es da draußen noch irgendwelche Priester, Fernsehprediger und Fundamentalisten gibt, die diese Menschen aufstacheln, dann lassen Sie sie ebenfalls verhaften. Diese Leute sind auch nicht anders als Al-Qaida oder die Taliban.«


67


Nelson Begay lag auf dem Bauch auf einer Anhöhe oberhalb des Nakai Valley, neben ihm Willy Becenti. Dies war der höchste Punkt der Mesa, von dem aus man das gesamte Wüstenplateau überblicken konnte.

Die Mutter aller Verkehrsstaus blockierte inzwischen den Dugway an der Stelle, wo er das Plateau erreichte. Hunderte, vielleicht Tausende von Fahrzeugen waren kreuz und quer geparkt, auf der riesigen offenen Fläche am Ende des Dugway. Viele waren einfach stehengelassen worden, mit eingeschaltetem Licht und offenen Türen. Zahllose Menschen stiegen zu Fuß den Dugway hinauf, weil sie ihre Fahrzeuge irgendwo weiter unten hatten zurücklassen müssen. Sie strömten die Straße zum Isabella-Projekt entlang, schnurstracks zum Zentrum des Geschehens am Rand der Mesa, ohne den Umweg durch das Nakai Valley einzuschlagen.

Er folgte der Straße mit dem Fernglas. Die Hangars brannten lichterloh. Die Trümmer des Hubschraubers, in dem die Soldaten gekommen waren, brannten ebenfalls, und die Flammen schlugen gut dreißig Meter hoch in den Himmel. Leichen lagen überall darum herum verstreut, Opfer der blutigen Schießerei, die er vor ein paar Minuten von hier aus beobachtet hatte. Die meisten Angreifer hatten den Flugplatz verlassen, nachdem sie den Hubschrauber in die Luft gejagt hatten, doch ein paar waren zurückgeblieben, um mit Hilfe eines großen Baggers Gräben quer über die Landebahn zu ziehen.

Er folgte der strömenden Menschenmasse weiter, bis er im Fernglas den abgezäunten Bereich am Rand der Mesa sah. In der Sicherheitszone wimmelte es von Menschen; Begay schätzte, dass es mindestens tausend waren. Eine brodelnde Masse schob sich an einem der riesigen Strommasten empor, die Obersten hatten schon drei Viertel der Höhe geschafft. Andere hatten auf einem hohen Gebäude ganz am Rand der Mesa ein grob gezimmertes Kreuz errichtet und beschäftigten sich nun damit, alle möglichen Sendemasten einzureißen, die vom Dach aufragten.

Langsam ließ Begay sein Fernglas sinken.

»Hast du eine Ahnung, was zum Teufel da los ist?«, fragte Becenti.

Begay schüttelte den Kopf.

»Eine Art Ku-Klux-Klan-Treffen? Oder die Aryan Nation?«

»Da sind Schwarze und Spanischstämmige dabei. Sogar ein paar Indianer.«

»Das will ich sehen.«

Während Becenti zum östlichen Ende der Mesa starrte, verdaute Begay, was er eben gesehen hatte. Zunächst hatte er geglaubt, das sei eine Versammlung von irgendwelchen Esoterik-Spinnern – so etwas kam im Reservat häufiger vor. Doch als sie den Hubschrauber in Brand gesteckt hatten, war ihm klargeworden, dass es hier um etwas ganz anderes gehen musste. Vielleicht hatte es etwas mit diesem Fernsehprediger zu tun, von dem einige Leute ihm erzählt hatten – er hatte eine Predigt gegen das Isabella-Projekt gehalten.

Becenti brummte und starrte immer noch durch das Fernglas. »Sieh dir nur an, wie viele Leute sie auf dem Flugplatz getötet haben.«

»Ja«, sagte Begay. »Und du kannst darauf wetten, dass es irgendeine Reaktion geben wird. Die vom FBI, oder wem der Hubschrauber sonst gehört hat, werden nicht einfach rumhocken und sich diese Scheiße in Ruhe angucken. Wir sollten lieber nicht mehr hier sein, wenn das Feuerwerk losgeht.«

»Wir könnten doch noch ein bisschen bleiben und zuschauen. Schließlich sitzt man nicht jeden Tag in der ersten Reihe, wenn die Bilagaana sich gegenseitig in die Luft jagen. Wir haben doch immer gewusst, dass die Weißen das eines Tages fertigbringen würden, nicht wahr? Erinnerst du dich an diese Prophezeiung?«

»Willy, hör auf. Wir müssen alle zusammenrufen und zusehen, dass wir von diesem verdammten Berg runterkommen.«

Sie standen auf und gingen zurück ins Tal.


Randy Doke stand auf der Motorhaube des Humvee über der tobenden Menge, die stämmigen Arme vor der Brust verschränkt. Sein Aussichtspunkt bot ihm einen guten Blick auf die Leute, die den Hochspannungsmast erklommen. Die Ersten kamen gerade oben an. Die Stromleitungen summten und knisterten. Er fühlte sich so energiegeladen wie noch nie in seinem Leben. Früher hatte Doke sich in Heroin, Kokain und Alkohol verloren. Auf dem absoluten Tiefpunkt – betrunken und mit vollgeschissener Hose in einem Bewässerungsgraben irgendwo außerhalb von Belén, New Mexico – drängte sich eine tiefverschüttete Erinnerung, ein Gebet aus Kindertagen, in seine Gedanken. Seine Mutter hatte ihn dieses Gebet gelehrt, ehe der versoffene alte Drecksack, mit dem sie zusammenlebte, erst sie und dann sich selbst erschossen hatte. Der Singsang der Verse hallte in seinem Kopf wider: Jesus liebt mich ganz gewiss, denn die Bibel sagt mir dies … Und genau in diesem Augenblick, in dem stinkenden Graben in Belén, hatte Jesus die Hand ausgestreckt und Dokes wertlosen Arsch gerettet. Jetzt schuldete er dem Kerl etwas – er schuldete ihm was. Für Jesus würde er alles tun.

Er hob sein Fernglas. Ein Mann hatte eine Stelle direkt unterhalb der Isolatoren erreicht. Doke beobachtete, wie der Mann sich abstützte und die Beine um die oberste Strebe schlang. Sobald er sicher darauf saß, nahm er eine Pumpgun von seiner Schulter, lud sie und legte an.

Das sieht gut aus.

Er sah zu, wie der Mann da oben durchlud und sorgfältig zielte. Die Leute, die von unten nachkletterten, hielten inne und sahen zu. Ein Lichtblitz zerriss die Nacht, und gleich darauf drang der krachende Schuss an Dokes Ohren. Ein Funkenregen prasselte von der Starkstromleitung herab, die Leitung schwankte hin und her. Jubelrufe waren zu hören.

Der Mann setzte sich wieder sicher zurecht und lud durch. Ein zweiter Lichtblitz, gefolgt von einem Krachen. Die Leitung versprühte Tausende Funken und zog sich von dem Mast zurück wie eine drohende Klapperschlange vor einer Schrotladung. Die Menge brüllte vor Begeisterung.

Ein dritter Schuss. Diesmal explodierte ein Feuerregen in der Dunkelheit. Die nächste Leitung wurde durchtrennt, mit einem tiefen, bebenden Schwirren, das in der Luft zu vibrieren schien; das abgetrennte Ende, aus dem Feuer tropfte, stürzte wie ein Peitschenhieb in Zeitlupe in die Menge unterhalb des Mastes. Beim Aufprall krachte es, Flammen und Rauch zischten, Leute wurden kreuz und quer durch die Gegend geschleudert, Panik brach aus.

Hammermäßig.

Doke richtete das Fernglas wieder nach oben. Der Mann lud erneut durch und zielte. Doch nun brüllten die Leute auf dem Turm – was? Schrien sie ihm zu, er solle aufhören? Nein, dachte Doke. Mach weiter, Mann.

Wieder krachte ein Gewehrschuss. Ein Stück eines Isolators stürzte in einem wahren Feuerwerk herab, eine weitere Leitung riss und schlug gegen den Mast zurück. Es war, als rüttele ein unsichtbarer Riese an dem Turm aus Metall; die Leute fielen einfach von den Leitern, Körper stürzten herab, prallten gegen die unteren Streben, wurden herumgeschleudert und trafen mit einer Reihe dumpfer Schläge auf dem Boden auf.

Die Leitung peitschte durch die Luft auf ihn zu, sie klang wie das Feedback einer gigantischen E-Gitarre. Doke sprang von dem Humvee, als das zischende Kabel darüberpeitschte und einen Funkenregen aufsteigen ließ. Er fiel in die panische Menge und krabbelte über gestürzte Menschen hinweg, um dem Ding zu entkommen. Der Humvee stand plötzlich in Flammen, und gleich darauf spürte er die Hitze des explodierenden Benzintanks, die Schockwelle, das plötzliche Glühen in der Luft.

Er rappelte sich auf und versuchte, den Schaden zu überblicken.

Die Leitung war quer über die halbe Sicherheitszone gepeitscht und hatte eine Spur aus Flammen hinterlassen. Das Aufzugsgebäude brannte ebenso wie ein halbes Dutzend Kiefern. Tote und grässlich verbrannte Menschen lagen um das brennende Fahrzeug verstreut.

Noch mehr Seelen für den Himmel, dachte Doke. Mehr Seelen, die zur Rechten Gottes sitzen.


68


Auf seinem Flachbildschirm sah Ken Dolby, wie die Anzeige für die Stromzufuhr plötzlich hochschnellte, dann abstürzte und wild flackerte.

»Isabella!« Verzweifelt gab er den Abschalt-Code erneut ein. Der Bildschirm spie ihm entgegen: CODE BYPASS ERROR.

»Scheiße!«

Eine Sirene schrillte los, das gespenstische Geheul hallte durch die Brücke, und an der Decke blitzte eine rote Warnlampe.

»Gefährliche Überlastung!«, brüllte St. Vincent.

Ein dumpfer Knall erschütterte den Raum, und der Visualizer explodierte in einem Regen von Glassplittern, die wie Hagel auf den Boden trommelten.

»Isabella!«, schrie Dolby und klammerte sich mit beiden Händen an seinen Arbeitstisch.

Mach jetzt nicht schlapp, Isabella.

St. Vincent kämpfte an seiner Konsole und legte einen Unterbrecherschalter nach dem anderen um. »Die Stromzufuhr auf der Eins ist unterbrochen! Wie konnte das passieren? Das ist unmöglich!«

»Der Strahl!«, schrie Kate auf und stürzte an ihre Tastatur. »Er dekollimiert! Ich habe … eine Abweichung!«

Hazelius stieß einen heiseren Schrei aus. »Chen! Diese letzte Botschaft! Ich konnte nicht alles lesen! Haben Sie sie?«

»Ich kann sie nicht finden!«, sagte Chen. »Vielleicht habe ich sie verloren – alles verloren.«

»Den Output sofort ausdrucken!«, donnerte Hazelius.

Dolby zwang sich, das Chaos seiner Umgebung aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Isabella reagierte auf keine seiner Eingaben an der Tastatur. Irgendetwas war passiert – die Server mussten abgestürzt sein. Er wandte sich an Edelstein. »Boote den Hauptcomputer. Ignoriere sämtliche Einschaltroutinen und Prüfsequenzen. Schalte den Mistkerl einfach an.«

Ein elektrischer Bogen flammte über die zerschmetterten Überreste des Visualizers. Eine dumpfe Explosion aus der Tiefe des Höhlensystems war zu hören und zu spüren, dann eine zweite. Isabellas Summen wurde zu einem wilden Kreiseln, Dröhnen, Brummen, Heulen. Der Raum füllte sich mit Qualm.

»Wir erschaffen gerade ein Schwarzes Mini-Loch«, sagte Kate leise.

»Das ist doch nicht zu glauben!«, kreischte Wardlaw. »Wissen Sie, warum Sie auf der Eins keinen Strom mehr bekommen? Diese Drecksäcke da draußen haben gerade die Leitung zerschossen … Vor der Tür zu Isabella drängt sich ein ganzer Mob … O Gott, ich verliere die Überwachungskameras – die laufen über den Fahrstuhl …«

Statisches Zischen, und eine ganze Reihe von Monitoren wurde schwarz. Die gesamte Überwachungsstation war tot, die Warnlampen erloschen. Isabella stöhnte und jammerte.

»Drucken Sie das?«, brüllte Hazelius Chen an.

»Ich hab es, aber ich muss erst einen Drucker finden, der noch funktioniert!« Sie hämmerte auf ihrer Tastatur herum, und der Schweiß rann ihr in Strömen übers Gesicht.

»O Gott, bitte … Verlieren Sie das ja nicht, Rae.«

»Ich hab’s!«, schrie Chen. »Drucke!« Sie sprang auf und rannte quer durch den Raum zu den Druckern. Sie fing das Endlospapier auf, das der Drucker ausspuckte, und riss es ab, sobald er fertig war. Hazelius nahm es ihr sofort ab, faltete es zusammen und stopfte es in seine hintere Hosentasche. »Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen.«

Der Raum wurde von einem weiteren gedämpften Rumms erschüttert, der Dolby zu Boden schleuderte. Die Lampen flackerten, elektrische Bögen zischelten an den Konsolen entlang. Isabella stöhnte tief, als litte sie Qualen. Dolby rappelte sich auf und kehrte zu seiner Konsole zurück.

Ford packte ihn am Arm. »Ken! Wir müssen hier raus!«

Dolby schüttelte ihn ab und versuchte es noch einmal mit dem Code.

CODE BYPASS ERROR.

Der Hauptcomputer bootete. Dolby brüllte: »Alan! Ich habe doch gesagt, du sollst die p-fünfer abschalten!«

»Ken, vergiss es! Wir müssen weg!« Das war wieder Ford.

Bleib bei mir, Isabella.

Er arbeitete weiter. Er musste zu Isabella durchdringen. So oder so. Er musste sie sicher abschalten. Der schadhafte Magnet zersetzte sich. Die beiden Teilchenstrahlen waren von ihrer Bahn in der Mitte abgewichen, außer Kontrolle. Wenn sie den Rand berührten, oder einander streiften …

»Dolby!« Hazelius packte ihn an der Schulter. »Sie können sie nicht retten! Wir müssen gehen!«

»Lassen Sie mich!« Dolby schlug nach Hazelius, verfehlte ihn aber. Er wandte sich sofort wieder dem Bildschirm zu und wurde fuchsteufelswild über das, was er da sah. »Alan! Verdammt noch mal, die p-fünfer laufen ja immer noch! Ich habe dir doch gesagt, du sollst sie abschalten!«

Er bekam keine Antwort. Er blickte sich um und versuchte, Edelstein zu finden, doch der Raum war nun voller Qualm. Er wischte sich die tränenden Augen und hustete. Der Rauch war überall. Die Brücke war leer.

Er konnte Isabella retten. Er wusste es. Und wenn er es nicht schaffte – welchen Sinn sollte das Leben dann noch haben?

Ich bin hier, Isabella. Bleib bei mir, nur noch ein bisschen.


Russell Eddy hatte es getan. Er hatte getötet. Gott hatte ihm die Kraft dazu verliehen. Die Schlacht hatte begonnen.

Dass er den Sünder getötet hatte, wirkte auf die Menge, als hätte er einen Stecker in die Steckdose gesteckt. Sie summten vor Erregung. Neubelebt trat Eddy vor die große Titantür. Er baute sich davor auf, drehte sich um und hielt seine Waffe hoch. »Und es ward dem Widerchrist gegeben, dass er dem Bilde des Tiers den Geist gab! Wer will an meiner Seite sein, wenn ich dem Widerchrist gegenübertrete?«

Die Menge brüllte begeistert.

»Wer will an meiner Seite dem Antichristen gegenübertreten!«

Ein weiteres, fiebrig klingendes Brüllen. Eddy spürte, wie ihn ein wahrer Kraftstoß durchfuhr.

»Er ist der Gesetzlose!«

Brüllen.

»Der Boshafte!«

Das Tosen der Menge war unkontrollierbar.

»Im Namen Gottes und seines einzigen Sohnes Jesus Christus werden wir ihn zerstören!«

Die Menge stürmte gegen die Tür, doch das Titan gab nicht nach.

»Tretet zurück!«, schrie Eddy. »Wir werden durch diese Tür gehen!« Er zielte mit seinem Revolver auf die Tür – doch eine Hand packte seine Faust.

»Pastor, dieser Revolver wird Ihnen nicht viel nützen.« Ein Mann im Kampfanzug mit einem AR-15-Sturmgewehr auf dem Rücken trat vor. »Sehen Sie diese Vorrichtung da drüben?« Er deutete auf drei konische Apparate auf dreibeinigen Gestellen, die auf die Tür ausgerichtet waren. »Das ist eine Sprengvorrichtung speziell für Mauerdurchbrüche, fertig vorbereitet, bereit zur Zündung. Die Soldaten hier hatten vor, ein Loch in diese Tür zu sprengen. Sie wollten auch an Isabella heran.«

»Woher wissen Sie das?«

»Mike Frost, ehemals bei der Fifth Special Forces Group.« Er zerquetschte Eddy fast die Hand.

»Bringen Sie uns da rein, Mike.«

Frost umkreiste die Sprengvorrichtung und musterte die Metallkegel. »Das Schätzchen ist schon mit C4 bepackt. Wir hatten verdammtes Glück, dass bei dem Kampf vorhin keine verirrte Kugel das Zeug getroffen hat. Diese Kabel da verbinden alle drei miteinander, und hier sind die Detonatoren.« Er hob einen kleinen Zylinder auf, von dem ein Kabel hing. Er fand auch die beiden anderen, drückte je einen tief in das C4 und knetete die Masse darum fest.

»Sagen Sie allen, sie sollen zurücktreten. Weit zurück. Am besten da rüber, und das Gesicht zur Wand drehen.«

Eddy scheuchte die unruhige Menge rasch von der Tür weg. Frost spulte die Kabel ab, soweit sie eben reichten, klappte die Sicherung des Auslösers zurück und legte den Finger an den Schalter.

»Haltet euch die Ohren zu, Leute.«


69


Ford und die anderen folgten Wardlaw in den Computerraum hinter der Brücke. In dem langen, kahlen Raum mit grauen Wänden standen drei Reihen stummer grauer Plastikgehäuse. Dies war der schnellste, leistungsfähigste Supercomputer der Welt. Seine Prozessoren summten, auf den diskreten Pulten drängten sich Lämpchen, von denen die meisten rot oder gelb leuchteten. Am anderen Ende befand sich eine Stahltür.

Hazelius kam nach. »Dolby will nicht mit.«

»Wir haben drei Probleme«, erklärte Wardlaw. »Erstens: Isabella wird explodieren. Zweitens: Da draußen erwartet uns ein randalierender Mob. Und drittens: Wir können keine Hilfe herbeirufen.«

»Was tun wir denn jetzt?«, heulte Thibodeaux.

»Die Stahltür da hinten führt in die alten Kohlenschächte. Wir müssen hier raus. Wir müssen ein möglichst großes Stück von diesem Berg zwischen uns und Isabella bringen, ehe sie explodiert.«

»Wie kommen wir aus den Kohlenschächten wieder raus?«, fragte Ford.

»Am anderen Ende«, sagte Wardlaw, »gibt es einen alten vertikalen Schacht, über den früher Methan aus der Mine abgesaugt wurde. Dort drin gibt es außerdem einen alten Flaschenzug. Der funktioniert vermutlich nicht mehr. Wir werden improvisieren müssen.«

»Etwas Besseres fällt Ihnen nicht ein?«

»Entweder das, oder wir gehen zur Vordertür raus – wo uns der Mob erwartet.«

Schweigen.

Die Explosion, die gleich darauf den Computerraum erschütterte, schleuderte Ford und die anderen durch den Raum wie Würfel im Becher. Das gewaltige Krachen hallte in alle Richtungen wider, und die Explosion rollte wie Donner durch den Berg. Die Lampen im Raum flackerten, und elektrische Bögen flammten über die Konsolen. Ford rappelte sich mühsam auf und half Kate auf die Beine.

»War das Isabella?«, schrie Hazelius.

»Wenn das Isabella gewesen wäre, wären wir jetzt tot«, erwiderte Wardlaw. »Der Mob hat soeben die Titantür gesprengt.«

»Unmöglich!«

»Nicht, wenn sie diese militärischen Sprengvorrichtungen benutzt haben.«

Die Tür der Brücke erbebte plötzlich unter hämmernden Faustschlägen. Ford lauschte. Er konnte Dolby wie wild arbeiten sehen, ein Gespenst im Rauch, das sich noch immer über seine Konsole beugte.

»Hazelius!«, erklang eine gedämpfte, hohe Stimme hinter der Tür. »Hörst du mich, Antichrist? Wir kommen jetzt und holen dich!«


Pastor Russell Eddy kreischte die Stahltür an: »Hazelius, du hast Gott gelästert, du hast Seinen Namen geschmäht und alle, die im Himmel wohnen!«

Die Tür war aus dickem Stahl, und sie hatten keinen Sprengstoff mehr. In diesem recht beengten Raum mit seinem Revolver auf das Schloss zu schießen wäre nutzlos und wahnwitzig gewesen.

Immer noch warfen sich die Leute gegen die Tür, hämmerten dagegen und brüllten.

»Christen!« Eddys Stimme hallte durch die Höhle. »Hört mich an, ihr Christen!« Die Menge verfiel in nervöses Schweigen, sofort erfüllt vom infernalischen Geheul der Maschine im Tunnel. »Tretet von der Tür zurück! Wir müssen unseren Angriff gut organisieren!« Er deutete mit dem Finger durch die Höhle. »Dort auf der anderen Seite liegt ein Stapel Stahlträger. Die stärksten Männer – und nur Männer! – sollen einen dieser I-Träger holen und die Tür damit einschlagen. Für euch andere habe ich eine ebenso wichtige Aufgabe. Teilt euch in zwei Gruppen auf. Die erste Gruppe soll in den langen, gebogenen Tunnel gehen, dort hinten.« Er zeigte auf die ovale Öffnung, aus der Kondensationsnebel waberte. »Schlagt die Rohre kaputt, und zerstört die Kabel und Leitungen, die den Supercomputer füttern, denn er ist das Tier!« Er hielt eine Seite hoch, die er aus dem Internet ausgedruckt hatte. »Hier ist eine Karte des Tiers.« Er deutete auf einen Mann, der ruhiger wirkte als die Übrigen, der seine Waffe locker und sicher trug und die Ausstrahlung eines Anführers zu haben schien. »Sie gehört dir. Du führst sie an.«

»Ja, Pastor.«

»Sobald wir die Tür aufgebrochen haben, folgt mir die andere Gruppe in den Kontrollraum. Wir packen den Antichristen und zerstören alle Geräte dort drin!«

Zustimmendes Gebrüll. Zwanzig Männer waren bereits dabei, einen I-Träger von dem Stapel zu wuchten. Die Menge teilte sich, als sie mit ihrer schweren Last herüberwankten und den Stahlträger auf die Tür ausrichteten.

»Los!«, schrie Eddy und trat beiseite. »Schlagt die Tür ein!«

»Schlagt sie ein! Zerstört sie!«

Die Menge wich zurück, die Männer setzten sich in Bewegung und kamen der Tür immer näher. Der Stahlträger traf mit einem gewaltigen Krach auf die Tür und drückte sie ein Stück ein. Der Stahlträger prallte zurück, und die Männer taumelten bei dem Versuch, die Wucht abzufangen.

»Noch einmal!«, rief Eddy.


70


Ein dumpfes »Klong« erschütterte den Raum, und die Metalltür schepperte und bebte unter einem wuchtigen Schlag. Ford kämpfte sich durch den Qualm, fand Dolby und packte ihn an der Schulter. »Ken, bitte«, sagte er, »um Himmels willen, komm mit uns.«

»Nein. Tut mir leid, Wyman«, erwiderte Dolby. »Ich bleibe hier. Ich kann … ich kann Isabella retten.« Ford hörte Gebrüll und die Schreie des Mobs vor der Tür. Sie rammten sie mit irgendetwas Schwerem. Sie beulte sich nach innen, und eine der Angeln wurde herausgesprengt.

»Du wirst es nicht schaffen. Dir bleibt nicht mehr genug Zeit.«

Durch die Tür war das Gebrüll der Menge draußen zu hören: »Hazeliuuus! Antichriiist!«

Dolby machte sich verzweifelt wieder an die Arbeit.

Kate trat hinter Ford. »Wir müssen hier weg.«

Ford drehte sich um und folgte Kate zurück in den Computerraum. Die anderen drängten sich schon vor dem Notausgang, wo Wardlaw sich bemühte, die Schließanlage zu aktiveren.

Nun gab Wardlaw den Sicherheitscode ein und legte die Hand auf die Sensorfläche neben der Tastatur. Doch der Sensor war tot.

Wumm! Die Tür zur Brücke gab nach und knallte auf den Boden. Das Gebrüll des Mobs schwoll an, als die Menge sich in die verräucherte Brücke ergoss.

Eine Salve krachte, und Dolbys Schrei brach abrupt ab, als er an seinem Arbeitsplatz niedergeschossen wurde.

»Wo ist der Antichrist?«, kreischte ein Mann. Ford rannte zur Tür des Computerraums, knallte sie zu und schloss ab.

Wardlaw holte seinen Hauptschlüssel hervor und riss eine Platte neben der Tür aus der Wand, hinter der eine weitere Tastatur zum Vorschein kam. Er gab den Code ein. Nichts.

»Sie sind da hinten!«

»Brecht die Tür auf!«

Bei Wardlaws zweitem Versuch öffnete sich der Ausgang mit einem satten Klicken. Sie drängten sich hindurch in die feuchte, muffige Dunkelheit des Bergwerksstollens. Ford ging als Letzter und schob Kate vor sich her. Ein langer, breiter Tunnel lag vor ihnen, gespickt mit rostigen Metallträgern, die eine durchhängende, rissige Decke stützten. Es roch klamm und faulig, nach dem versteinerten Sumpf, der hier abgebaut worden war. Wasser tropfte von der Decke.

Wardlaw knallte den Notausgang zu und versuchte, die Tür zu versperren. Doch die Verriegelung war elektronisch und funktionierte nicht ohne Strom.

Ein donnerndes Krachen war aus dem Computerraum zu hören, und der Lärm des Mobs schwoll an. Der Rammbock hatte auch die Tür zu den Computern besiegt.

Wardlaw mühte sich ab, die Tür zu verriegeln, erst mit seiner Magnetkarte, dann mit einem Code auf dem Tastenfeld außen an der Tür.

»Ford, hierher!«

Wardlaw zog eine zweite Pistole aus seinem Gürtel und reichte sie Ford. Es war eine SIG-Sauer P229. »Ich werde versuchen, sie hier aufzuhalten. Die Minen da hinten sind eine Kammerbau-Konstruktion. Alles ist miteinander verbunden. Laufen Sie weiter, halten Sie sich möglichst links, vermeiden Sie Sackgassen, bis Sie die große Kammer erreichen, wo das Kohlenflöz zuletzt abgebaut wurde. Das sind von hier etwa viereinhalb Kilometer. Der Gasschacht ist in der hinteren linken Ecke. Über den können Sie entkommen. Warten Sie nicht auf mich – schaffen Sie bloß alle hier raus. Und nehmen Sie das auch mit.«

Er drückte ihm eine starke Taschenlampe in die Hand.

»Sie können sie allein nicht aufhalten«, sagte Ford. »Das wäre Selbstmord.«

»Ich kann Ihnen etwas Zeit verschaffen. Das ist Ihre einzige Chance.«

»Tony …«, begann Hazelius.

»Rettet euch!«

»Tötet den Antichrist!«, heulte es gedämpft hinter der Tür. »Tötet ihn!«

»LAUFT!«, brüllte Wardlaw.

Sie rannten den dunklen Tunnel entlang. Ford bildete die Nachhut. Sie platschten durch Wasserpfützen auf dem Boden und erleuchteten ihren Weg mit Taschenlampen. Er hörte ein Hämmern an der Tür, das Kreischen des Mobs, und das Wort Antichriiist echote durch die Stollen. Gleich darauf krachten mehrere Schüsse. Schreie waren zu hören, weitere Schüsse, Laute, die von Chaos und Panik kündeten.

Der Stollen war lang und gerade, und etwa alle zehn Meter gingen im rechten Winkel Gänge ab, die zu weiteren, parallel verlaufenden Stollen führten. Die bituminöse Schicht in der linken Wand zog sich leicht abwärtsgeneigt neben ihnen her und war aufgegeben worden, bevor man sie völlig abgebaut hatte; deshalb waren dort zahlreiche Sackgassen, offene Abbaukammern und ein Netz dunkler Sedimentschichten übriggeblieben.

Weitere Schüsse krachten hinter ihnen, und in den engen Räumen entwickelten sie ein verrücktes Echo. Die Luft war tot und schwer, die Wände schimmerten vor Feuchtigkeit und trugen einen Pelz aus weißem Salpeter. Der Stollen beschrieb eine breite Biegung. Ford holte zu Julie Thibodeaux auf, die den anderen hinterherlief, schlang einen Arm um sie und versuchte, ihr zu helfen.

Weitere Schüsse in der Ferne. Wardlaw in seiner letzten Schlacht, wie Leonidas bei den Thermopylen, dachte Ford traurig und war zugleich überrascht über den Mut und den entschlossenen Einsatz dieses Mannes. Er hatte ihn völlig falsch eingeschätzt.

Der Stollen öffnete sich schließlich zu einem weiten Raum mit niedriger Decke, gebildet vom Hauptflöz selbst; es wurde von gewaltigen Kohlesäulen gestützt, die man stehengelassen hatte, damit die Decke hielt. Die Seiten dieser Kohlepfeiler waren jede sieben Meter breit, schwarzglänzende Flächen aus Kohle, die im Licht der Taschenlampen schimmerten. Die Mine selbst war ein Labyrinth aus Pfeilern und offenen Bereichen, die völlig planlos angeordnet waren. Ford blieb stehen, um das Magazin zu überprüfen, und stellte fest, dass es voll geladen war, dreizehn 9-mm-Geschosse. Er ließ es wieder einrasten.

»Wir bleiben dicht zusammen«, sagte Hazelius und wartete auf die anderen. »George und Alan, Sie helfen Julie – sie tut sich schwer. Wyman, Sie bleiben hinten und geben uns Rückendeckung.«

Hazelius legte Kate beide Hände auf die Schultern und sah ihr direkt ins Gesicht. »Falls mir etwas zustoßen sollte, übernimmst du die Führung. Klar?«

Kate nickte.


Die Männer, die Eddy begleitet hatten, kamen nicht voran, denn sie wurden im Stollen hinter dem Notausgang von jemandem beschossen, der sich hinter dem ersten Kohlepfeiler versteckte.

»In Deckung!«, kreischte Eddy und zielte mit seinem Blackhawk auf die Stelle, wo er das letzte Mündungsfeuer gesehen hatte; er gab einen Schuss ab, um das Gegenfeuer zu verzögern. Weitere Schüsse krachten hinter ihm, als die anderen den Stollen stürmten und ihren Beschuss auf dieselbe Stelle konzentrierten. Die Lichtkegel eines guten Dutzends Taschenlampen flackerten den Schacht entlang.

»Er steht hinter dieser Kohlewand!«, rief Eddy. »Gebt mir Deckung!«

Die Wand wurde von einzelnen Kugeln getroffen, Kohlesplitter spritzten durch die Luft.

»Feuer einstellen!«

Eddy stand auf und rannte zu dem breiten Pfeiler, dessen ihm zugewandte Seite mindestens sieben Meter breit sein musste. Er drückte sich flach dagegen und schob sich langsam vorwärts, wobei er seinen Leuten ein Signal gab. Mehrere Kämpfer begannen, den Pfeiler in die andere Richtung zu umrunden. Langsam rückte er vor, dicht an die rauhe Oberfläche des Pfeilers gedrückt, die Waffe schussbereit.

Der Schütze hatte ihren Schachzug vorausgesehen und flüchtete hinter den nächsten Pfeiler.

Eddy hob die Waffe, schoss und verfehlte ihn. Ein weiterer Schuss krachte, bevor der Mann seine Deckung erreicht hatte. Er stürzte und kroch weiter. Frost kam auf der anderen Seite hinter dem Pfeiler hervor, hielt die Waffe mit beiden Händen und gab einen zweiten und dritten Schuss auf den kriechenden Mann ab, der sich zusammenkrümmte. Dann ging Frost hinüber und schoss ihm aus nächster Nähe eine Kugel in den Kopf.

»Alles klar«, sagte er und leuchtete mit der Taschenlampe in die nächsten Stollen. »Nur einer. Die übrigen sind geflohen.«

Russell Eddy ließ die Waffe sinken und trat in die Mitte des breiten Tunnels. Leute drängten durch die offene Tür herein, füllten den Stollen, und ihre Stimmen klangen in dem beengten Raum sehr laut. Er hob die Hand. Es wurde still.

»Es ist gekommen der große Tag Seines Zorns, und wer kann bestehen?«, rief Eddy.

Er spürte den Drang der Menge hinter sich, ihre Energie, wie ein Dynamo, der seine Entschlossenheit antrieb. Doch es waren zu viele. Er musste mit einer kleineren, mobileren, lenkbaren Gruppe dort hinein. Er drehte sich um und schrie über das knirschende Summen der Maschinen hinweg: »Ich kann nur eine kleine Gruppe mit in die Mine nehmen – nur Männer mit Schusswaffen. Habt ihr verstanden? Keine Frauen, keine Kinder. Alle Männer mit Erfahrung und einer Feuerwaffe, vortreten! Ihr Übrigen geht zurück!«

Etwa dreißig Männer drängten sich nach vorne durch.

»Stellt euch in einer Reihe auf, und zeigt mir eure Waffen! Haltet sie hoch!«

Mit einem Jubelschrei hoben die Männer ihre Waffen – Gewehre, Pistolen, Revolver. Eddy ging die Reihe entlang und musterte jeden einzelnen Mann. Er sortierte ein paar aus, die mit Repliken antiker Vorderlader bewaffnet waren, einige Teenager mit 22er-Sportgewehren und zwei Männer, die völlig durchgeknallt wirkten. Zwei Dutzend Mann blieben übrig.

»Ihr Männer kommt mit mir auf die Jagd nach dem Antichrist und seinen Jüngern. Stellt euch da hinüber.« Er wandte sich den anderen zu. »Für euch habe ich eine andere Aufgabe: Euer Platz ist dort draußen, in den Räumen, die wir eben erobert haben. Gott will, dass ihr ISABELLA ZERSTÖRT! Geht und zerstört das Tier des Abgrunds, des Name heißt Abaddon! Geht, Soldaten der Christenheit!«

Brüllend setzte sich die Menge in Bewegung, begierig darauf, auch etwas zu tun; sie strömten zurück durch die offene Tür und schwangen Vorschlaghämmer, Äxte und Baseballschläger. Aus dem Raum hinter der Tür war bereits Krachen und Scheppern zu hören.

Die Maschine schien vor Qual aufzuschreien.

Eddy schnappte sich Frost. »Mike, Sie bleiben an meiner Seite. Ich brauche Ihre Erfahrung.«

»Ja, Pastor.«

»Also dann, Männer – gehen wir!«


71


Hazelius führte die Gruppe durch die breiten Stollen, die durch das massive Kohlenflöz getrieben worden waren. Ford bildete die Nachhut. Er ließ sich zurückfallen, spähte in die Dunkelheit und lauschte. Das Feuergefecht zwischen Wardlaw und dem Mob war beendet, doch Ford konnte die Menge, die sie offenbar durch die Tunnel verfolgte, immer noch brüllen hören.

Sie hielten sich links, wie Wardlaw gesagt hatte, gerieten aber manchmal in Sackgassen und mussten umkehren. Die Mine war riesig, das mächtige Flöz erstreckte sich endlos in drei Himmelsrichtungen. Ein Irrgarten verzweigter, sich überschneidender Stollen war in die schwarze Schicht getrieben worden, wobei man nach dem Kammerbau-System dicke Kohleblöcke hatte stehenlassen, so dass ein Labyrinth aufeinanderfolgender Kammern entstanden war; diese Räume waren auf fast zufällige, unvorhersehbare Weise miteinander verbunden. Schienen verliefen kreuz und quer über den Boden. Sie stammten noch aus den fünfziger Jahren. Rostige Karren, verrottende Seile, kaputte Maschinen und Haufen nicht verladener Kohle lagen überall herum. An tiefer gelegenen Stellen mussten sie durch kleine Teiche schleimigen Wassers waten.

Isabellas kehliges Heulen folgte ihnen durch die Tunnel wie das qualvolle Stöhnen und Bellen eines tödlich verwundeten Ungeheuers. Wenn Ford stehenblieb, um zu lauschen, konnte er auch stets den Lärm ihrer Verfolger hören.

Nachdem sie eine Viertelstunde lang gerannt waren, befahl Hazelius eine kurze Rast. Sie brachen auf dem feuchten Boden zusammen, ohne sich um den pechschwarzen Dreck zu scheren. Kate hockte sich neben Ford, und er legte ihr einen Arm um die Schultern.

»Isabella wird jeden Augenblick explodieren«, sagte Hazelius. »Die Wirkung könnte die einer großen konventionellen Bombe sein, aber auch die einer kleinen Atombombe.«

»Himmel«, sagte Innes.

»Das größere Problem«, sagte Hazelius, »ist, dass einige der Detektoren mit hochexplosivem flüssigem Wasserstoff gefüllt sind. Ein Neutrino-Detektor enthält fast zweihunderttausend Liter Tetrachlorethen, ein Chlorkohlenwasserstoff, und der andere dreihundertachtzigtausend Liter Alkane – beides ist brennbar. Und seht euch nur um – in diesem Flöz ist eine Unmenge brennbare Kohle übrig. Wenn Isabella explodiert, dauert es nicht lange, und der ganze Berg steht in Flammen. Nichts wird dieses Feuer aufhalten können.«

Schweigen.

»Die Explosion könnte auch Einstürze zur Folge haben.«

Die Kakophonie der Horde, die sie verfolgte, echote durch die Stollen, ab und zu von einem Schuss unterstrichen, und übertönte sogar das jaulende, knirschende, vibrierende Summen Isabellas.

Der Mob, erkannte Ford, holte allmählich auf. »Ich gehe ein Stück zurück und feuere ein paar Schüsse auf sie ab«, sagte er. »Um sie ein bisschen aufzuhalten.«

»Hervorragende Idee«, sagt Hazelius. »Aber bitte treffen Sie niemanden.«

Sie gingen weiter. Ford blieb zurück, glitt in einen Seitengang, schaltete seine Taschenlampe aus und lauschte gespannt. Der Lärm der Verfolger rollte durch die Kammern, fern und verzerrt.

Ford tastete sich den Querstollen entlang, eine Hand an der Wand, und prägte sich den Weg ein. Allmählich wurden die Geräusche lauter, und dann konnte er das schwache Licht eines halben Dutzends Taschenlampen in der Dunkelheit hüpfen sehen. Er zog die Pistole, duckte sich hinter einen Kohlepfeiler und richtete die Waffe an die Decke.

Die Verfolger kamen näher. Ford feuerte rasch hintereinander drei 9-mm-Parabellum-Patronen ab, und die Schüsse hallten in dem beengten Raum wie Donner. Eddys Mob wich zurück und schoss blindlings in die Dunkelheit.

Ford huschte in einen weiteren dunklen Seitengang, legte eine Hand an die Wand, um sich zu orientieren, und lief rasch an zwei weiteren Queröffnungen vorbei. Eine zweite Gruppe Verfolger näherte sich – offenbar hatten sie sich in kleinere Teams aufgeteilt –, doch diese Gruppe bewegte sich wegen der Schüsse sehr vorsichtig.

Er zog sich zurück – eine Hand immer noch an der Wand – und zählte drei weitere Pfeiler ab, ehe er sich sicher genug fühlte, seine Taschenlampe wieder einzuschalten. Er hielt sich leicht geduckt und rannte den Stollen entlang in der Hoffnung, seine Gruppe wieder einzuholen. Doch im vollen Lauf hörte er plötzlich ein seltsames, hustendes Geräusch hinter sich. Er blieb stehen. Isabellas knurrendes Summen hob sich zu einem schrillen Heulen, immer höher, bis es einem ohrenbetäubenden Kreischen glich, dann gab sie ein ungeheuerliches Brüllen von sich, das lauter und lauter wurde und den Berg erbeben ließ. Ford spürte, was nun kommen würde, und warf sich auf den Boden.

Das Brüllen wurde zu einem Erdbeben, der Boden selbst zuckte und bäumte sich auf. Ein gewaltiges Wumm folgte, eine Druckwelle lief durch die Mine, erfasste ihn wie ein Blatt im Wind und schleuderte ihn gegen einen Kohlepfeiler. Als der Donnerschlag durch die Kammern weiterlief, fegte ein heftiger Wind durch die Tunnel, der alles mit sich riss und kreischte wie eine Banshee. Ford kauerte im Windschatten des Kohlepfeilers und zog den Kopf ein, während Kohlebrocken und Steine an ihm vorbeischossen.

Schließlich rollte Ford sich zur Seite und blickte auf. Die Decke riss und splitterte, es regnete Kohle und Steinsplitter. Er sprang auf und versuchte, dem Einsturz der Stollen davonzulaufen, der sich brüllend von hinten näherte.


Eddy wurde von der Wucht der Explosion zu Boden geschleudert. Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer schlammigen Pfütze, Steinchen und Schmutz regneten auf ihn herab, und in den Tunneln hallte und krachte es, nah und fern. Staub hing in der Luft, und er konnte kaum mehr atmen. Alles schien um ihn herum einzustürzen.

Minuten vergingen, und die donnernden Einstürze ebbten zu einem gelegentlichen Rumpeln ab. Als auch das Rumpeln verklang, folgte eine ängstliche Stille, und von Isabella war nichts mehr zu hören. Die Maschine war tot.

Sie hatten sie getötet.

Eddy setzte sich hustend auf. Einen Moment lang tastete er in der erstickenden Staubwolke herum, bis er seine Taschenlampe fand, die immer noch leuchtete. Um ihn herum standen die anderen auf, und ihre Lampen schwebten wie Glühwürmchen im Dunst. Der Tunnel war keine zwanzig Meter hinter ihnen eingestürzt, doch sie hatten überlebt.

»Gelobt sei der Herr!«, sagte Eddy und hustete erneut.

»Gelobt sei der Herr!«, jubelten seine Gefolgsleute. Eddy zog Bilanz. Einige seiner Soldaten waren durch herabstürzendes Gestein verletzt worden. Blut lief ihnen über die Stirn, und sie hatten Schnittwunden an den Schultern. Andere schienen unverletzt zu sein. Zum Glück war niemand ums Leben gekommen.

Eddy stützte sich an die Felswand und versuchte, zu Atem zu kommen. Er schaffte es, sich aufzurichten. Isabella, das Tier, war erledigt, doch der Widerchrist war immer noch auf der Flucht. Eddy sprach: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging.« Dann hob er beide Hände, den Revolver in der einen, die Taschenlampe in der anderen. »Ihr Krieger Gottes! Das Tier ist tot. Doch wir haben eine noch wichtigere Aufgabe zu er füllen.« Er deutete in den träge wirbelnden Staub. »Dort draußen im Dunkeln lauert der Antichrist. Und seine Jünger. Unser Kampf ist noch nicht zu Ende.« Er blickte sich um. »Steht auf! Das Tier ist tot! Gott sei gepriesen!«

Seine Worte erweckten die zu Tode erschrockene Gruppe zum Leben.

»Nehmt eure Waffen und Taschenlampen wieder auf. Kommt zu mir.«

Diejenigen, die ihre Waffen fallen gelassen hatten, suchten danach, und bald darauf standen alle vor ihm, wieder bewaffnet, und keiner von ihnen war schwer verletzt. Es war ein Wunder. Der Stollen war hinter ihnen eingestürzt, genau da, wo sie noch Augenblicke zuvor gestanden hatten. Doch der Herr hatte sie verschont.

Er fühlte sich unbesiegbar. Wenn er Gott, den Herrn, auf seiner Seite hatte, wer könnte ihn dann besiegen? »Sie waren dort vor uns«, sagte er, »in diesem Tunnel. Er ist nur teilweise eingestürzt. Wir können über das Geröll hinwegklettern. Gehen wir.«

»Im Namen Jesu Christi, wir gehen mit dir!«

»Gelobt sei Jesus Christus!«

Eddy führte sie weiter und spürte, wie seine Kraft und Zuversicht zurückkehrten. Das Klingeln in seinen Ohren ließ nach. Sie bahnten sich ihren Weg über einen Haufen Geröll, das von der Decke herabgestürzt war. Immer noch fielen klappernd kleinere Steine aus dem Loch in der durchhängenden, zerrissenen Decke, doch sie hielt. Der Staub legte sich, und sie konnten besser sehen.

Sie erreichten einen großen Hohlraum, der dadurch entstanden war, dass eine Seite der Minendecke eingestürzt war. Frische, saubere Luft strömte durch die Öffnung herein und vertrieb den letzten Staub. Am anderen Ende der Kammer gähnte eine große Tunnelöffnung.

Eddy zögerte und fragte sich, welche Richtung der Antichrist eingeschlagen haben mochte. Er bedeutete seinen Männern, leise zu sein und die Taschenlampen auszuschalten. In der stillen Dunkelheit sah und hörte er aber nichts. Er neigte den Kopf. »Herr, zeig uns den Weg.« Er schaltete aufs Geratewohl seine Taschenlampe ein und öffnete die Augen, um nachzusehen, auf welchen Stollen sie zeigte.

»Wir gehen hier entlang«, sagte er in tiefem Vertrauen auf den Herrn und betrat den angezeigten Gang. Die anderen folgten ihm, und ihre Taschenlampen schwebten wie ein Dutzend glühender Augen durch die staubige Dunkelheit.


72


Begay lag in der hohen Luzerne, wie betäubt von der Explosion, während weitere Druckwellen über das Tal und die Klippen fuhren. Sie drückten den Beifuß platt, entwurzelten Pinyon-Kiefern und fegten Sand und Kies vor sich her, die wie Schrotkügelchen wirkten. Er bedeckte das Gesicht, bis die ersten prasselnden, brennenden Schockwellen vorbeigezogen waren. Dann richtete er sich auf, sah einen riesigen Feuerball über dem Rand der Klippe hängen, eine Flammenkugel, die eine Fahne aus Rauch und Staub hinter sich herzog. Er wandte das Gesicht von der sengenden Hitze ab und krallte sich am Boden fest, der unter ihm bebte und wackelte.

Er hörte Willy Becentis unterdrückte Flüche irgendwo im Alfalfa, und dann erschien sein Kopf, mit wirr abstehendem Haar. »Ver damm mich!«

Um sie herum standen die Leute langsam auf. Die Pferde, die sie gerade zusammengetrieben hatten, um sie zu satteln, waren in Panik geraten, hatten sich aufgebäumt, mit den Hufen gegen ihre Pflöcke und Stricke getreten und vor Angst geschrien. Einige hatten sich losgerissen und waren über das Luzernefeld davongerast, während die nachfolgenden Explosionen ihre Verfolger zu Boden gerissen hatten.

Begay stand auf. Das Tipi war von der Druckwelle niedergerissen worden, die Stangen lagen geborsten am Boden, die Zeltbahnen zu Konfetti zerfetzt. Die Explosion hatte den alten Handelsposten von Nakai Rock von seinen Fundamenten gerissen. Er spähte in die Dunkelheit und fragte sich, wohin sein Pferd Winter gerannt sein mochte.

»Was zum Teufel war das?«, fragte Becenti.

Der gigantische Feuerball schien hoch über den Bäumen zu schweben, er stieg noch ein wenig auf, Flammen waberten und rollten, bis die Kugel schließlich zu einer rotbraunen Wolke abflachte.

Auf der Oberfläche der Mesa, über Isabella, hatte Begay Hunderte, vielleicht Tausende von Leuten gesehen. Was hatte die Explosion bei ihnen angerichtet? Begay erschauerte bei diesem Gedanken. Ein Rumpeln drang aus dem Inneren des Berges, und Begay hörte ferne Schüsse.

Er blickte sich um und zählte rasch durch. Alle waren da. »Wir müssen die Leute hier wegbringen«, rief er Maria Atcitty zu. »Es ist egal, ob wir zu wenig Pferde haben. Sie sollen zu zweit aufsitzen, wir reiten in Richtung Midnight Trail.«

Südlich von ihnen, ganz in der Nähe, grollte und bebte der Boden.

»Was zum Henker …?«, brüllte Becenti.

Am anderen Ende des Tals bäumte sich das Luzernefeld auf und sackte dann ab, ein Netz breiter Risse zog sich durch die Erde. Staub wurde in die Luft gewirbelt, als sich ein klaffendes Loch auftat – so groß wie ein Fußballfeld. Die Ränder brachen weg, in die Dunkelheit darunter.

»Die alte Mine stürzt ein«, sagte Willy.

Der Boden bebte erneut und immer wieder. Staubwolken stiegen auf, überall, nah und fern. Die rötlich braune, noch immer brennende Feuerkugel trieb auseinander, verblasste und löste sich ganz gemächlich auf.

Begay packte Maria Atcitty an der Schulter. »Du übernimmst die Führung. Schnapp dir so viele Leute und Pferde, wie du finden kannst, und schaff sie über den Midnight Trail hier runter.«

»Und du?«

»Ich suche die durchgegangenen Pferde.«

»Bist du verrückt?«

Begay schüttelte den Kopf. »Winter ist eines von ihnen. Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich ihn hier zurücklasse.«

Maria Atcitty sah ihn lange an und schüttelte dann den Kopf. Sie drehte sich um und brüllte ihren Leuten zu, alles Gepäck liegenzulassen und jeweils zu zweit aufzusitzen.

»Das schaffst du nicht allein«, sagte Willy.

»Geh lieber mit den anderen.«

»Kommt nicht in Frage.«

Begay legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Danke.«

Erneut ließ ein unterirdisches Grollen den Boden beben – diesmal kam es vom südlichen und östlichen Ende der Mesa, aus der Richtung, in die ihre Pferde geflohen waren. Er ließ den Blick über die mondbeschienene Landschaft schweifen und beobachtete ein Dutzend Staubwolken, die himmelwärts schossen.

Einstürze. Die alten Minen stürzten tatsächlich in sich zusammen. Drüben, in Richtung Isabella, breitete sich eine Feuersbrunst aus, Rauchwolken brodelten in dichten Schwaden empor, orangerot beleuchtet von den Feuern darunter. Die erste Explosion war nur der Anfang gewesen; nun ging anscheinend die ganze Mesa in Flammen auf. Die alten Tunnel, voll Kohle und Methan, machten ihrem Zorn Luft.

Maria Atcitty kehrte mit ihrem Pferd zurück. »Sieht aus, als ginge da draußen die Welt unter.«

Begay schüttelte den Kopf. »Vielleicht tut sie das ja.«

Er senkte die Stimme und summte die ersten Takte des heiligen Falling-Star-Gesangs: »Aniné bichaha’oh koshdéé …«


73


Ford kam im Dunkeln zu sich; die Luft war voller Staub und stank nach frisch entwichenem Grubengas. Er lag auf dem Rücken, bedeckt mit Steinsplittern, und spähte in die Finsternis. In seinen Ohren summte es, und ihm drehte sich der Kopf.

»Kate!«, rief er.

Stille.

»Kate!«

Panik erfasste ihn. Er stieß Steinbrocken von sich und befreite sich vom losen Schutt. Auf Händen und Knien krabbelte er langsam voran, tastete mit den Händen über das Geröll, sah einen Schimmer und grub seine Taschenlampe aus, die immer noch funktionierte. Er leuchtete damit um sich, und der Strahl enthüllte ihm einen reglosen Körper, der etwa sieben Meter von ihm entfernt lag, teilweise unter Schutt begraben. Er krabbelte hastig hinüber.

Es war Hazelius. Ein Rinnsal Blut lief aus seiner Nase. Ford tastete nach dem Puls – der war kräftig.

»Gregory«, flüsterte er dem Reglosen ins Ohr. »Können Sie mich hören?«

Der Kopf wandte sich ihm zu, und die Augen öffneten sich – diese erstaunlichen, azurblauen Augen. Hazelius kniff sie sogleich gegen das Licht der Taschenlampe zusammen. »Was … ist passiert?«, krächzte er.

»Eine Explosion und zahlreiche Einstürze.«

Hazelius schien zu begreifen. »Die anderen?«

»Ich weiß nicht. Ich habe gerade zu Ihnen aufgeholt, als Isabella explodiert ist.«

»Sie sind in alle Richtungen geflüchtet, als die Decke herunterkam.« Er blickte an sich hinab. »Mein Bein …«

Ford räumte den Schutt von Hazelius’ unterer Körperhälfte. Auf dem linken Bein lag ein großer Felsbrocken. Ford packte ihn und hob ihn sacht herunter. Das Bein, das zum Vorschein kam, war gekrümmt.

»Helfen Sie mir hoch, Wyman.«

»Ich fürchte, Ihr Bein ist gebrochen«, sagte Ford.

»Hilft nichts. Wir müssen weiter.«

»Aber wenn es gebrochen ist …«

»Helfen Sie mir auf, verdammt noch mal!«

Ford legte sich Hazelius’ Arme um den Hals und half ihm auf die Beine. Hazelius taumelte und klammerte sich an ihm fest.

»Wenn Sie mir helfen, kann ich sicher gehen.«

Ford lauschte. In der Stille, in der immer wieder kleine Steinchen herunterpolterten, konnte er nun ferne Stimmen und Rufe hören. Unglaublich, aber wahr – ihre Verfolger waren immer noch hinter ihnen her. Vielleicht wollten aber auch sie nur noch einen Ausweg aus diesem Labyrinth finden.

Ford stützte Hazelius, und langsam, Schritt für Schritt, arbeiteten sie sich durch die Trümmer voran. Er schleifte Hazelius über Geröllhaufen, unter klaffenden Löchern in der Decke hindurch, Gänge zwischen Stollen entlang, die erst die Explosion geschaffen hatte, vorbei an Kammern, die völlig eingestürzt waren. Nirgends war etwas von den anderen zu sehen.

»Kate?«, rief Ford in die Dunkelheit hinein.

Keine Antwort.

Hazelius stöhnte.

Bei jedem Schritt betete Ford inbrünstig, dass Kate es geschafft hatte und sie alle dem Mob entkommen würden – doch die Stimmen der Verfolger klangen immer näher. Er tastete nach seiner Pistole. Acht Kugeln verschossen, also noch fünf übrig.

»Mir wird etwas schwindlig«, sagte Hazelius.

Langsam kamen sie aus einem schmalen Tunnel und stießen auf einen senkrechten Schacht. Ford konnte auch hier niemanden sehen. Die Stimmen waren lauter und hallten unheimlich durch die Gänge, als kämen sie von überall her.

»Ich hätte nur nie mit so etwas … gerechnet …« Hazelius’ Stimme erstarb.

Ford wollte wieder nach Kate rufen, wagte es aber nicht. Überall Staub, so viele Stollen, und wenn sie antwortete, könnte der Mob sie finden.

Hazelius strauchelte und schrie vor Schmerz auf, und Ford konnte ihn kaum noch halten. Er war schlaff und schwer wie ein Sack Zement. Als Ford ihn nicht weiter mitschleifen konnte, ging er in die Knie und versuchte, sich Hazelius über die Schultern zu legen. Aber der Tunnel war zu eng. Bei dem Versuch stürzten beide zu Boden.

Ford legte Hazelius bequemer zurecht und tastete nach seinem Puls – flach und schnell, und die Stirn war glitschig vor kaltem Schweiß. Er fiel in einen Schockzustand.

»Gregory, hören Sie mich?«

Der Wissenschaftler stöhnte und wandte den Kopf. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »Ich schaffe es einfach nicht.«

»Ich sehe mir jetzt mal Ihr Bein an.«

Ford schlitzte das Hosenbein mit seinem Taschenmesser auf. Der komplizierte Bruch hatte den zersplitterten Oberschenkelknochen durch die Haut getrieben. Wenn er Hazelius noch weiterschleppte, könnte der gesplitterte Knochen die Oberschenkelschlagader verletzen.

Ford riskierte es, die Taschenlampe einzuschalten und den tiefgehaltenen Strahl herumzuschwenken. Kein Hinweis auf die anderen, doch da war eine flache Abbaukammer, tiefer gelegen als der Tunnelboden, teilweise von einem Einsturz verborgen und nur ein gutes Dutzend Schritte entfernt in der gegenüberliegenden Wand – dort wären sie erst einmal sicher.

»Wir verstecken uns dort drin.«

Er packte Hazelius unter den Achseln und schleifte ihn zu der tiefen Nische. Dann sammelte er Geröll und baute einen kleinen Wall, hinter dem sie sich verbergen konnten. Die Stimmen kamen immer näher.

Lieber Gott, lass Kate es schaffen.

Ford verbaute sämtliche losen Steine, die er erreichen konnte. Die kleine Mauer war gut einen halben Meter hoch, das reichte gerade, um sie zu verstecken, wenn sie sich dahinterlegten. Ford kletterte in die Nische. Er zog seine Jacke aus, knüllte sie zusammen, bettete Hazelius’ Kopf darauf und knipste die Taschenlampe aus. Im Stollen wurde es pechschwarz.

»So ist es besser«, sagte Hazelius. »Danke, Wyman.«

Sie schwiegen einen Moment lang, und dann stellte Hazelius nüchtern fest: »Die werden mich umbringen, das ist Ihnen doch klar.«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann.« Ford tastete nach seiner Waffe. Gleich darauf berührte Hazelius’ Hand die seine. »Nein. Niemand soll mehr sterben. Abgesehen davon, dass wir zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen sind, wäre es einfach falsch.«

»Es ist nicht falsch, wenn diese Leute die Absicht haben, Sie umzubringen.«

»Wir sind alle eins«, sagte Hazelius. »Sie zu töten wäre, als töteten Sie sich selbst.«

»Bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit diesem religiösen Scheiß.«

Hazelius seufzte. »Wyman, ich bin enttäuscht von Ihnen. Von meinem gesamten Team sind Sie der Einzige, der das Erstaunliche, was uns widerfahren ist, nicht akzeptieren will.«

Ford legte ihm eine Hand auf die Brust. »Hören Sie auf zu reden, und legen Sie sich hin.«

Ford duckte sich hinter den grob aufgeschichteten Wall, Hazelius dicht neben sich. Es roch nach Staub und Moder. Die Stimmen näherten sich, Schritte und andere leise Geräusche des Mobs hallten nun durch die steinernen Gänge. Gleich darauf drang der trübe Schein ihrer Fackeln und Taschenlampen in die staubige Höhle vor. Ford konnte vor Anspannung kaum mehr atmen.

Der Lärm wurde lauter, die Verfolger kamen näher. Plötzlich waren sie da. Eine scheinbare Ewigkeit lang schleppte Eddys Horde sich an ihnen vorbei, offenbar eher darauf konzentriert, einen Ausgang aus den Tunneln zu finden. Sie trotteten vorüber, ohne etwas zu bemerken, zu müde und verängstigt, um Ausschau nach ihnen und ihrem Versteck zu halten. Die Taschenlampen und Fackeln warfen höllische, orangerote Umrisse an die Decke, die Schatten der Männer schlichen verzerrt die Wände entlang. Der Lärm des Mobs wurde schwächer, verschwand in der Ferne, die flackernden Lichter erstarben. Die Dunkelheit kehrte zurück. Ford hörte ein langgezogenes, schmerzerfülltes Seufzen von Hazelius. »Mein Gott …«

Ford fragte sich einen verrückten Augenblick lang, ob Hazelius etwa betete.

»Sie halten mich … für den Antichrist …« Er gab ein leises, seltsames Lachen von sich.

Ford richtete sich auf und spähte in die Finsternis. Von Eddys Leuten war nichts mehr zu hören, es war vollkommen still, bis auf das gelegentliche Klappern fallender Steinchen.

»Vielleicht bin ich ja der Antichrist …«, keuchte Hazelius. Ford war nicht sicher, ob das Keuchen ein Schmerzenslaut oder ein Lachen war. Er fällt ins Delirium, dachte er. Er schob seine Furcht beiseite und überlegte, was sie nun tun sollten. Luft bewegte sich im Tunnel und brachte den Gestank brennender Kohle mit sich, außerdem ein unheimliches, tiefes, vibrierendes Knacken – Feuer.

»Wir müssen hier raus.«

Keine Antwort von Hazelius.

Er packte Hazelius unter den Achseln. »Kommen Sie. Helfen Sie mir ein bisschen. Wir können nicht hierbleiben. Wir müssen die anderen finden und diesen Flaschenzug erreichen.«

Eine dumpfe Explosion hallte durch die Stollen. Der Geruch nach brennender Kohle wurde stärker.

»Und jetzt werden sie mich umbringen …« Wieder dieses unheimliche, wahnhafte Lachen.

Ford warf sich Hazelius über die Schulter, packte ihn an beiden Armen und schleifte ihn weiter durch die Stollen.

»Welche Ironie«, nuschelte Hazelius. »Zum Märtyrer gemacht zu werden … welche Ironie. Menschen sind ja so dumm … so leichtgläubig … Aber ich habe es nicht bis zur letzten Konsequenz durchdacht … genauso dumm wie sie …«

Ford leuchtete mit der Taschenlampe voran. Der Stollen mündete in eine große Höhle.

»Jetzt werde ich dafür bezahlen … Antichrist haben sie mich genannt … Antichrist, allerdings!« Weiteres krampfhaftes Lachen. Ford mühte sich voran und erreichte die große Abbaukammer. Rechts von ihm herrschte ein Durcheinander aus eingestürzten Kohlebrocken, Gestein und zerbröckelndem Pyrit, das im Lichtkegel der Taschenlampe wie Gold glitzerte.

Er wankte mit dem nun bewusstlosen Mann auf seinem Rücken bis zum anderen Ende der Kammer. Der Entlüftungsschacht schälte sich aus der Dunkelheit, ein kreisrundes Loch von etwa einem Meter fünfzig Durchmesser in der hintersten Ecke. Ein Seil baumelte in dem Schacht.

Er legte Hazelius auf den Felsboden und bettete seinen Kopf auf die Jacke. Eine Explosion erschütterte die Kammer, und er hörte Schutt überall um sie herum von der Decke prasseln. Der Rauch brannte in seinen Augen. Jeden Moment konnte ihnen das heranrückende Feuer den Sauerstoff rauben – und das wäre das Ende.

Er packte das Seil. Es löste sich in seinem Griff auf, der untere Teil fiel herab, dröselte sich auf und verschwand in der Tiefe des Schachts. Gleich darauf hörte er etwas in Wasser platschen.

Er leuchtete mit der Taschenlampe nach oben und sah die glatten Wände so hoch hinaufreichen, wie er mit der Lampe kam. Das Ende des verrotteten Seils baumelte nutzlos hin und her. Von einem Flaschenzug war nichts zu sehen.

Er kehrte zu Hazelius zurück, der inzwischen wieder zu sich gekommen war und leise lachte. Ford hockte sich neben ihn und dachte scharf nach. Hazelius’ Gemurmel lenkte ihn ab, und dann hörte er einen Namen heraus: Joe Blitz.

Plötzlich war er hellwach. »Haben Sie gerade Joe Blitz gesagt?«

»Joe Blitz …«, nuschelte Hazelius. »Lieutenant Scott Morgan … Bernard Hubell … Kurt von Rachen … Captain Charles Gordon …«

»Wer ist Joe Blitz?«

»Joe Blitz … Captain B. A. Northrup … Rene Lafayette …«

»Wer sind all diese Leute?«, fragte Ford.

»Niemand. Sie … existieren nicht … Noms de plume …«

»Was, das sind Pseudonyme von Schriftstellern?« Ford beugte sich über Hazelius. Im schwachen Lichtschein sah er, dessen schweißnasses Gesicht. Seine Augen waren glasig. Doch der Mann besaß immer noch eine seltsame, beinahe übernatürliche Vitalität. »Wessen Pseudonyme?«

»Wessen schon? Die des großen L. Ron Hubbard … Kluger Mann … Nur haben sie ihn nicht als den Antichrist bezeichnet … Er hatte mehr Glück als ich, der Arsch.«

Ford war wie vom Donner gerührt. Joe Blitz? Ein Pseudonym von L. Ron Hubbard? Hubbard war ein Science-Fiction-Autor, der seine eigene Religion aufgemacht hatte. Hubbard hatte geglaubt, die größte Leistung, die ein Mensch vollbringen könne, bestehe darin, eine Weltklasse-Religion zu gründen, und das war ihm gelungen. L. Ron Hubbard hatte sich selbst zum Messias der Scientology gemacht.

War es möglich? War das die Frage, auf die Hazelius anspielte? War das der Grund für dieses handverlesene Team, das aus lauter Menschen mit tragischen Lebensgeschichten bestand? Der Grund für Isabella, das größte wissenschaftliche Experiment in der Geschichte der Menschheit? Für die Isolation? Die Mesa? Die Botschaften? Die Heimlichtuerei? Die Stimme Gottes?

Ford holte tief Luft und beugte sich vor. Er flüsterte: »Wolkonski hat eine Nachricht geschrieben, kurz vor … seinem Tod. Ich habe sie gefunden. Darin stand unter anderem: Ich habe den Wahnsinn durchschaut. Um es zu beweisen, gebe ich dir nur einen Namen: Joe Blitz.«

»Ja … Ja …«, entgegnete Hazelius. »Peter war klug … Klüger, als gut für ihn war … Da habe ich einen Fehler gemacht, ich hätte jemand anders aussuchen sollen …« Schweigen, dann ein langgezogenes Seufzen. »Meine Gedanken schweifen ständig ab.« Seine Stimme zitterte am Rand des Wahnsinns. »Wo war ich gleich wieder?«

Hazelius trieb zurück in Richtung Realität – aber nur ein Stückchen.

»Joe Blitz war L. Ron Hubbard. Der Mann, der seine eigene Religion erfunden hat. Steckt das hinter alledem?«

»Ich muss wohl irre geredet haben.«

»Aber das war Ihr Plan«, sagte Ford. »Nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« Hazelius’ Stimme klang schärfer.

»Aber natürlich. Sie haben das alles inszeniert – den Bau von Isabella, die Probleme mit der Maschine, die Stimme Gottes. Das waren Sie, die ganze Zeit. Sie sind der Hacker.«

»Sie reden Unsinn, Wyman.« Nun klang Hazelius, als sei er wieder vollständig in der Wirklichkeit gelandet – und zwar unsanft.

Ford schüttelte den Kopf. Die Antwort lag seit einer Woche direkt vor seiner Nase – in seinen eigenen Unterlagen.

»Fast schon Ihr ganzes Leben lang«, sagte Ford, »haben Sie sich mit utopischen politischen Ideen beschäftigt, nicht wahr?«

»Tun wir das nicht alle gern?«

»Nicht bis zur Besessenheit. Aber Sie waren davon besessen, und, schlimmer noch, niemand hat Ihnen zugehört – nicht einmal, nachdem Sie den Nobelpreis gewonnen hatten. Das muss Sie schier verrückt gemacht haben: Der klügste Mann der Welt, und niemand hört auf ihn. Dann ist Ihre Frau gestorben, und Sie haben sich völlig zurückgezogen. Zwei Jahre später sind Sie mit der Idee für Isabella wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Sie hatten etwas zu sagen. Sie wollten, dass die Leute Ihnen zuhören. Sie wollten die Welt verändern, wie es noch niemandem je gelungen war. Und wie wäre das leichter zu erreichen denn als Prophet? Als Prophet Ihrer eigenen neuen Religion.«

Ford konnte Hazelius in der Dunkelheit schwer atmen hören.

»Ihre Theorie ist … vollkommen krank«, stöhnte Hazelius.

»Sie haben sich das Isabella-Projekt ausgedacht – Sie hatten die Idee, eine Maschine zu bauen, um den Urknall, den Augenblick der Schöpfung zu erforschen. Sie haben es geschafft, sie bauen zu lassen. Sie haben sich Ihr Team ausgesucht – und dafür gesorgt, dass alle psychologisch leicht beeinflussbar waren. Sie haben diese ganze Sache inszeniert. Sie hatten vor, die größte wissenschaftliche Entdeckung aller Zeiten zu machen. Und was könnte das sein? Ja, was, außer die Entdeckung Gottes! Diese Entdeckung würde Sie zu seinem Propheten machen. Das ist es, oder? Sie wollten es machen wie L. Ron Hubbard, aber diesmal gleich mit der ganzen Welt.«

»Sie haben wohl den Verstand verloren.«

»Ihre Frau war nicht schwanger, als sie starb. Das haben Sie sich ausgedacht. Ganz gleich, welche Namen die Maschine nennen würde, Sie brauchten sie ja nur zu bestätigen. Sie haben erraten, an welche Zahlen Kate denken würde – weil Sie Kate so gut kennen. An der ganzen Sache war überhaupt nichts Übernatürliches.«

Hazelius’ gleichmäßiger Atem war die einzige Antwort.

»Sie haben zwölf Wissenschaftler um sich geschart – handverlesen von Ihnen selbst. Als ich ihre Dossiers gelesen habe, ist mir aufgefallen, dass das Leben jedem von ihnen übel mitgespielt hatte, dass jeder Einzelne von ihnen nach einem Sinn suchte. Ich habe mich darüber gewundert. Und jetzt weiß ich, warum. Sie haben genau diese Menschen ausgesucht, weil Sie wussten, dass sie anfällig waren – reif für eine Bekehrung.«

»Aber Sie konnte ich nicht bekehren, was?«

»Sie hätten es beinahe geschafft.«

Sie schwiegen. Ferne Stimmen echoten durch die Stollen. Der Mob kehrte zurück.

Hazelius seufzte tief. »Wir werden beide sterben – das ist Ihnen doch hoffentlich klar, Wyman. Wir sind beide im Begriff, zu … Märtyrern gemacht zu werden.«

»Abwarten.«

»Es hat keinen Sinn mehr, Sie anzulügen. Ja, es war meine Absicht, eine neue Religion zu schaffen. Aber ich weiß nicht, was zum Teufel dort drin mit mir passiert ist. Es ist mir entglitten. Ich hatte einen Plan … aber es hat sich mir entzogen.« Er seufzte wieder und stöhnte dann. »Eddy. Das war der Joker, der mich mein Spiel gekostet hat. Ich habe ihn als Bakterium bezeichnet – wie sehr ich mich in ihm getäuscht habe. Der Mann ist an seiner Aufgabe gewachsen … Ein dummer Fehler meinerseits: Aber der Märtyrertod ist schließlich das Schicksal aller Propheten.«

»Wie haben Sie das gemacht? Ich meine, den Computer manipuliert?«

Hazelius zog die alte Hasenpfote aus seiner Hosentasche. »Ich habe sie ausgehöhlt und einen Vierundsechzig-Gigabyte-Flashdrive installiert, samt Prozessor, Mikrophon und Drahtlossender – Spracherkennung und Daten. Ich konnte ihn mit jedem beliebigen von eintausend kabellosen High-Speed-Prozessoren verbinden, die überall in Isabella verteilt waren, alle auch mit dem Supercomputer verbunden. Dazu ein wunderbares kleines Künstliche-Intelligenz-Programm, das ich selbst in LISP geschrieben habe – na ja, zumindest habe ich beim Schreiben geholfen, denn es generiert sich zum Großteil selbst. Es ist das schönste Computerprogramm, das je geschrieben wurde. Es war einfach zu bedienen, von meiner Hosentasche aus. Das Programm hingegen war alles andere als einfach – ich bin nicht sicher, ob ich es selbst völlig verstehe. Aber es hat Mist gebaut und eine Menge Dinge gesagt, die ich gar nicht wollte – Dinge, von denen ich nie zu träumen gewagt hätte. Man könnte sagen, es hat sich selbst weit übertroffen.«

»Sie rücksichtsloser Bastard.«

Hazelius steckte die Hasenpfote wieder in seine Tasche. »Da irren Sie sich, Wyman. Ich bin gar kein schlechter Mensch. Das, was ich getan habe, habe ich aus den besten, höchsten Motiven, aus reinem Altruismus getan.«

»Aber sicher. Schauen Sie sich nur die Gewaltakte hier an, die vielen Toten. Sie sind dafür verantwortlich.«

»Eddy und seine Horde haben sich für die Gewalt entschieden, nicht ich.«

»Das ist Blödsinn. Und Wolkonski haben Sie entweder selbst ermordet, oder Sie haben es Wardlaw befohlen.«

»Nein. Wolkonski war ein kluger Mann. Er hat erraten, was ich vorhatte. Sobald er es gründlich durchdacht hatte, erkannte er, dass er mich nicht aufhalten konnte. Er konnte es nicht ertragen, sich zum Narren machen zu lassen und mit anzusehen, wie sein Lebenswerk benutzt und entwertet wurde. Deshalb hat er sich umgebracht und dafür gesorgt, dass es tatsächlich wie ein Selbstmord aussah, aber ein paar Anomalien eingebaut, damit man zu dem Schluss kommen würde, es sei Mord gewesen. Zweimal um die Ecke gedacht, typisch Wolkonski. Er hatte einen einmalig verschlagenen Verstand.«

»Warum wollte er es wie einen Mord aussehen lassen?«

»Er hoffte, dass die Ermittlungen schließlich auch das Isabella-Projekt erfassen und uns ausschalten würden, bevor ich meinen Coup durchziehen konnte. Aber das hat nicht funktioniert. Die Ereignisse haben sich überschlagen, alles ging zu schnell. Ich übernehme eine gewisse Verantwortung für seinen Tod. Aber ich habe ihn nicht umgebracht.«

»Was für eine sinnlose, gottverdammte Verschwendung.«

»Sie denken die Sache nicht zu Ende, Wyman …« Er atmete schwer und fuhr dann fort: »Diese Geschichte steht erst am Anfang. Sie können sie nicht mehr aufhalten. Les jeux sont faits, wie Sartre einmal sagte. Die größte Ironie daran ist, dass sie dafür sorgen werden.«

»Sie?«

»Dieser fundamentalistische Mob. Sie werden dieser Geschichte ein viel eindrucksvolleres Ende verschaffen, als ich mir ausgedacht hatte.«

»Ihre Geschichte wird in Sinnlosigkeit enden«, sagte Ford.

»Wyman, wie ich sehe, begreifen Sie immer noch nicht, was hier passiert. Eddys ungewaschene Horden …« Er hielt inne, und Ford hörte zu seiner Bestürzung, dass der Mob schon wieder näher kam. »… sie werden mich umbringen und zu einem Märtyrer machen. Und dadurch werden sie meinen Namen als göttlich weihen … auf ewig.«

»Ich werde Sie auf ewig zum Wahnsinnigen stempeln.«

»Ich gebe zu, dass die meisten normalen Menschen mich so sehen würden – während Sie bedauerlicherweise als ein Niemand sterben werden. Danke, aber dann ist mir Wahnsinn lieber als Mittelmäßigkeit.«

Die Stimmen wurden deutlicher.

»Wir müssen uns verstecken«, sagte Ford.

»Wo? Hier gibt es kein Versteck, und ich kann nicht laufen.« Hazelius schüttelte den Kopf und zitierte mit leiser, heiserer Stimme die Bibel: »Sie sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallt über uns und verbergt uns … Genau, wie es in der Offenbarung steht, wir sitzen in der Falle.«

Die Stimmen kamen näher. Ford zog seine Pistole, doch Hazelius legte eine klamme, zitternde Hand auf seinen Arm. »Nehmen Sie es in Würde hin.«

Auf und ab schwankende Lichter erschienen aus dem Dunkel. Die Stimmen waren deutlich zu hören, und ein Dutzend schmutzstarrender, schwerbewaffneter Männer drängte um eine Biegung im Tunnel.

»Da sind sie! Wir haben zwei!«

Die Menge kam aus der staubigen Finsternis, schwarz und gespenstisch wie Grubenarbeiter, mit gezückten Waffen, und der Schweiß zog weiße Spuren über ihre verzerrten Gesichter.

»Hazelius! Der Antichrist!«

»Der Antichrist!«

»Wir haben ihn!«

Eine ferne Explosion erschütterte die Kammer. Das durchhängende Gestein der Decke löste sich und ließ Unmengen kleiner Steinchen herabregnen, die klappernd und rasselnd auf den Boden prasselten wie Hagel aus der Hölle. Kohlenrauch trieb in sichtbaren Schwaden durch die tote Luft. Der Berg bebte erneut, und ein weiterer Einsturz irgendwo in den Stollen grollte und donnerte und hustete noch mehr Rauch durch die Tunnel.

Die Menge teilte sich, und Pastor Eddy trat zu Hazelius. Er baute sich vor dem darnieder liegenden Wissenschaftler auf, ein triumphierendes Grinsen auf dem hohlwangigen, knochigen Gesicht. »So sehen wir uns wieder.«

Hazelius zuckte mit den Schultern und wandte den Blick ab.

»Aber diesmal, Widerchrist«, sagte Eddy, »habe ich das Sagen. Gott steht zu meiner Rechten, Jesus zu meiner Linken, und der Heilige Geist schützt meinen Rücken. Und du – wo ist dein Beschützer? Er ist geflohen – Satan, der Feigling –, geflohen in die Felsen! Verbergt uns vor dem Angesichte dessen, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn des Lammes!«

Eddy beugte sich über Hazelius, bis sich ihre Nasen beinahe berührten. Und er lachte.

»Fahr zur Hölle, Bakterium«, sagte Hazelius leise.

Eddy explodierte vor Wut. »Durchsucht sie nach Waffen!«

Als eine Gruppe Männer auf Ford zukam, schlug er den ersten nieder, versetzte dem zweiten einen Tritt in den Bauch und schleuderte den dritten gegen die Felswand. Eine kleine Armee von Fäusten und Füßen drängte ihn schließlich gegen die Wand und dann zu Boden, sie schlugen ihn beinahe bewusstlos. Eddy zog die SIG-Sauer aus Fords Gürtel.

Während des Handgemenges trat ein übereifriger Gotteskrieger Hazelius gegen das gebrochene Bein. Mit einem erstickten Schluchzen verlor der Wissenschaftler das Bewusstsein.

»Gute Arbeit, Eddy«, sagte Ford, der am Boden festgehalten wurde. »Ihr Erlöser wäre ja so stolz auf Sie.«

Eddy funkelte Ford mit hochrotem Gesicht an, als wolle er ihn schlagen, doch dann schien er es sich anders zu überlegen. »Das reicht!«, schrie Eddy die Menge an. »Genug! Macht uns hier Platz! Wir werden auf unsere Art mit ihnen verfahren, die richtige Art. Zieht sie hoch!«

Ford wurde auf die Beine gestellt und vorwärtsgestoßen. Zwei stämmige Männer rissen den bewusstlosen Hazelius an den Armen hoch; aus seiner Nase rann Blut, ein Auge war zugeschwollen, das krumme Bein mit dem gebrochenen Knochen schleifte über den Boden.

Sie erreichten eine weitere große, höhlenartige Abbaukammer. Aus einem Seitengang erschienen Lichter, die in der Dunkelheit tanzten. Aufgeregtes Gemurmel erhob sich.

»Frost? Sind Sie das?«, rief Eddy.

Ein massiger Mann im Kampfanzug mit kurzem blondem Bürstenschnitt, Stiernacken und schmalen, engstehenden Augen schob sich nach vorn durch. »Pastor Eddy? Wir haben ein paar von ihnen gefunden, die sich da hinten in einem Schacht verstecken wollten.«

Ford sah zu, wie ein Dutzend Männer Kate und die anderen mit vorgehaltenen Waffen aus dem Stollen drängten. »Kate … Kate!« Er riss sich los und taumelte auf sie zu.

»Haltet ihn auf!«

Ford spürte einen gewaltigen Schlag im Rücken und fiel auf die Knie. Ein zweiter Schlag traf ihn in die Seite, und nach ein paar weiteren Tritten lag er am Boden. Er wurde so grob wieder auf die Beine gezerrt, dass sie ihm beinahe die Schulter ausrenkten. Ein verschwitzter Kerl, das Gesicht mit schwarzem Kohlenstaub verschmiert, mit rollenden Augen wie ein Pferd, schlug ihm ins Gesicht. »Gib Ruhe!«

Fernes Grollen war zu hören, und der Boden bäumte sich auf. Staub wirbelte hoch und trieb durch die Stollen. Dichte Rauchschwaden hingen unter der Decke.

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