»Hört mir zur!«, rief Eddy. »Wir können nicht hier unten bleiben! Der ganze Berg brennt! Wir müssen raus!«

»Ich habe da hinten einen Ausweg nach oben gesehen«, sagte der Mann namens Frost. »Bei der Explosion wurde ein Schacht im Gestein freigelegt. Ich habe den Kopf durchgesteckt und am anderen Ende des Tunnels den Mond gesehen.«

»Bringen Sie uns hin«, sagte Eddy.

Bewaffnete Männer schubsten und stießen sie mit vorgehaltenen Waffen durch dunkle, mit Staub gefüllte Stollen. Zwei von Eddys Gefolgsleuten hatten Hazelius unter den Achseln gepackt und schleiften ihn hinter sich her. Auf ihrem Weg durch die Düsternis durchquerten sie eine weitere riesige Abbaukammer. Die Lichtkegel der Taschenlampen huschten durch den grauen Staub und enthüllten einen großen Einbruch; ein Geröllhaufen reichte bis hinauf zu einem langen, dunklen Loch in der Decke. Ford sog gierig die frische, kühle Luft ein, die von oben hereinströmte.

»Hier entlang!«

Sie mühten sich den Schuttberg hinauf, stolperten durch das lose Geröll, während um sie herum Steine herabpolterten.

»Hinauf aus dem Abgrund von Abaddon!«, rief Eddy triumphierend. »Das Tier ist besiegt!«

Ganz vorn waren die beiden Männer dabei, Hazelius durch das zerklüftete Loch in der Decke zu zerren, die übrigen Gefangenen wurden von ihren Bewachern hindurchgeschubst. Das Loch führte in einen höher gelegenen Stollen, von dort aus zu einem weiteren schrägen Schacht, an dessen Ende Ford ganz kurz Licht aufblitzen sah – das rasch wieder verdeckte Glitzern eines einzelnen Sterns am Nachthimmel. Ford folgte Eddy und dessen Mob durch einen tiefen, steilen Riss im Gestein hinaus auf die nächtliche Mesa. Es stank nach brennendem Benzin und Rauch. Der gesamte östliche Horizont stand in Flammen. Rötlich schwarze Rauchwolken ballten sich vor dem Himmel zusammen und verdeckten den Mond. Der Boden bebte und grollte in einem fort, und hin und wieder schoss eine Flamme dreißig, vierzig Meter hoch gen Himmel wie ein blutrotes Banner in der Nachtluft.

»Dort hinüber!«, schrie Eddy. »Aufs offene Feld!«

Sie überquerten ein ausgetrocknetes Bachbett und blieben in einer breiten, sandigen Senke stehen, die von einer riesigen, verdorrten Pinyon-Kiefer in der Mitte beherrscht wurde. Ford gelangte endlich nah genug an Kate heran, um sie zu fragen: »Geht es dir gut?«

»Ja, aber Julie und Alan sind tot – verschüttet.«

»Ruhe!«, brüllte Eddy. Ruhig trat er vor die Menge hin. Ford staunte über seine Verwandlung. Er wirkte gelassen und selbstsicher und bewegte sich bedächtig. In seinem Gürtel steckte ein 44er Ruger Magnum Blackhawk. Er ging gewichtig vor der Menge auf und ab, drehte sich dann um und hob eine Hand. »Der Herr hat uns aus der Knechtschaft Ägyptens geführt. Lobet den Herrn.«

Seine Herde, ein paar Dutzend Anhänger, erwiderte donnernd: »GELOBT SEI DER HERR!«

Eddy beugte sich über den am Boden liegenden Wissenschaftler, der gerade zu sich kam und die Augen öffnete.

»Stellt ihn auf die Füße«, befahl Eddy ruhig. Er deutete auf Ford, Innes und Cecchini. »Haltet ihn gut fest.«

Sie bückten sich, richteten Hazelius auf und stellten ihn so sacht wie möglich auf sein gesundes Bein. Ford fand es erstaunlich, dass der Mann überhaupt noch am Leben war, und sogar wieder bei Bewusstsein.

Eddy wandte sich an die Menge. »Seht ihm ins Gesicht – dies ist das Antlitz des Antichrist.« Er ging im Kreis um das Grüppchen herum, und seine Stimme dröhnte: »Und das Tier ward gegriffen und mit ihm der falsche Prophet, der die Zeichen tat vor ihm. Lebendig wurden diese beiden in den feurigen Pfuhl geworfen, der mit Schwefel brannte.«

Ein gedämpfter Donnerschlag ließ in der Ferne einen Feuerball in die Luft schießen, der sein unheimliches Glühen bis hierher verbreitete. Eddys hageres Gesicht wurde kurz von dem orangeroten Licht seitlich erhellt, so dass seine schwarzen, hohlen Wangen und die tiefeingesunkenen Augen noch düsterer wirkten. »Freue dich über sie, denn Gott hat euer Urteil an ihr gerichtet!«

Die Menge jubelte, doch Eddy hob sogleich die Hände. »Soldaten des Herrn, dies ist ein ernster Augenblick. Wir haben den Antichrist und seine Jünger gefangen genommen, und nun erwartet uns alle das Gericht Gottes.«

Hazelius hob den Kopf. Zu Fords Erstaunen fixierte Hazelius Eddy mit einem arroganten, verächtlichen Lächeln – halb Grinsen, halb Grimasse – und sagte: »Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Prediger, aber der Antichrist hat noch ein paar antiklimaktische Worte an Ihre geschätzte Herde zu richten.«

Eddy hob die Hände. »Der Widerchrist spricht.«

Hazelius versuchte fortzufahren. Eddy trat einen Schritt näher. »Welche Blasphemie kommt dir jetzt noch über die Lippen, Antichrist?«

Hazelius hob den Kopf, und seine Stimme klang nun kräftiger. »Halten Sie mich«, sagte er zu Ford. »Lassen Sie mich bloß nicht fallen.«

»Ich weiß nicht, ob das so klug ist«, flüsterte Ford ihm ins Ohr.

»Warum nicht?«, flüsterte Hazelius grimmig. »Wenn schon, denn schon.«

»Der Antichrist will sprechen«, wiederholte Eddy, und in seiner ruhigen Stimme schwang Ironie. »Hört zu, Soldaten Christi, vernehmt die Worte des falschen Propheten.«


74


Von einem hohen Sandsteinfelsen aus suchte Begay mit dem Fernglas den Horizont ab. Es war halb drei Uhr morgens.

»Da sind sie. Sie drängen sich da auf der kleinen Wiese zusammen, völlig verängstigt.«

»Gehen wir sie holen«, sagte Becenti.

Doch Begay rührte sich nicht. Er richtete das Fernglas nach Osten. Die Ostspitze der Mesa war fort – abgesprengt. Um das gähnende Loch herum breiteten sich riesige Trümmerfelder aus, Geröll, brennende Kohle, verbogenes Metall, und ganze Bäche einer brennenden Flüssigkeit rannen hinab in die vertrockneten Bachbetten, wie Lava aus einem Vulkan. Die gesamte Ostseite der Mesa brannte, Qualm und Flammen quollen aus Löchern im Boden und schlugen hoch in die Luft. Hin und wieder fing eine Pinyon-Kiefer oder ein Wacholder auf der Mesa Feuer und leuchtete wie ein einsamer Weihnachtsbaum in der Nacht. Obwohl der Wind den Rauch von ihnen wegblies, breiteten sich die Feuer rasch in ihre Richtung aus, und, von unterirdischen Quellen gespeist, brachen immer neue Brände aus. Ab und zu war eine Explosion zu hören, Staub und Flammen schossen hoch, die Erde bebte und brach dann unter einer gewaltigen Wolke aus schwarzem Staub und Rauch einfach ein. Nakai Valley brannte, der alte Handelsposten und die Häuser standen in Flammen, ebenso das wunderschöne Pappelwäldchen. Ein Teil des Flugplatzes war bei der ersten großen Explosion zerstört worden und mit der einstürzenden Bergflanke weggebrochen.

Mindestens tausend Leute hatten sich dort versammelt. Nun konnte Begay, der die Hölle der Mesa mit dem Fernglas beobachtete, nur noch vereinzelte Grüppchen geschockter Menschen sehen, die zwischen Rauch und Flammen umherirrten, nach anderen riefen oder nur stumm voranstolperten, wie Zombies. Der Zustrom von Fahrzeugen auf dem Dugway war verebbt, und einige der dort geparkten Wagen hatten ebenfalls Feuer gefangen; die Benzintanks explodierten einer nach dem anderen.

Willy schüttelte den Kopf. »Mann, die haben ganze Arbeit geleistet. Der Bilagaana hat es endlich geschafft.«

Sie stiegen von dem Haufen Felsbrocken herunter, und Begay ging langsam auf die Pferde zu und pfiff nach Winter. Das Pferd stellte die Ohren und trabte gleich darauf heran; die anderen folgten ihm.

»Guter Junge, Winter.« Begay streichelte seinen Hals und befestigte einen Führstrick an seinem Halfter. Einige Pferde waren bereits zum Aufbruch gesattelt gewesen, und Begay stellte erleichtert fest, dass sie ihre Sättel nicht abgestreift hatten. Er nahm dem Pferd, das er bis hierher geritten hatte, seinen Sattel ab, sattelte Winter und saß auf. Willy bestieg sein Pferd ohne Sattel, und sie trieben die nervösen Tiere in Richtung Midnight Trail, zum Glück an dem Ende der Mesa, wo noch nicht das Chaos herrschte. Sie ritten langsam, hielten die Pferde ruhig und wählten immer den möglichst hohen Weg, wo der Boden am sichersten war. Als sie über eine Anhöhe kamen, hielt Becenti, der voranritt, plötzlich an.

»Was zum Teufel ist denn da drüben los?«

Begay hielt neben ihm und hob das Fernglas. Ein paar hundert Meter entfernt hatte sich eine Gruppe Männer auf einem sandigen, offenen Fleckchen versammelt. Sie starrten vor Dreck, als wären sie gerade einem Grubeneinsturz entkommen, und umzingelten ein anderes Grüppchen – diese Leute wirkten wie zerlumpte, schmutzige Gefangene. Begay hörte höhnischen Jubel.

»Sieht aus wie ein Lynchmob«, sagte Becenti.

Begay betrachtete die Gefangenen genauer. Zu seinem Entsetzen erkannte er die Wissenschaftlerin, die ihn besucht hatte – Kate Mercer. Und nicht weit von ihr stand Wyman Ford, der einen offenbar verletzten Mann stützte.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Begay. Er saß ab.

»Was machst du denn? Wir müssen hier weg.«

Begay band sein Pferd an einen Baum. »Die brauchen vielleicht unsere Hilfe.«

Grinsend schwang sich Becenti vom Pferd. »Du warst schon immer scharf auf Action.«

Sie schlichen sich an die Gruppe heran und fanden Deckung hinter einigen großen Felsbrocken. Sie waren nun keine vierzig Meter von der seltsamen Versammlung entfernt, gut versteckt in der Dunkelheit. Begay zählte vierundzwanzig Männer mit Schusswaffen. Jeder dort drüben war schwarz vor Kohlenstaub, die Gesichter hätten aus der Hölle kommen können.

Fords Gesicht war blutverschmiert und sah aus, als hätten sie ihn zusammengeschlagen. Die anderen Gefangenen kannte er nicht, aber er vermutete, dass auch sie Wissenschaftler des Isabella-Projekts waren, da die meisten Laborkittel trugen. Ford stützte einen von ihnen, dessen Arm um Fords Schultern lag. Der Mann hatte einen hässlichen, offenen Beinbruch, und Begay war es ein Rätsel, wie er sich überhaupt aufrecht halten und die Schmerzen ertragen konnte. Warum ihn jemand zwang, hier zu stehen, konnte er erst recht nicht begreifen. Die Männer spuckten die Gefangenen an, verhöhnten und beschimpften sie. Schließlich trat ein Mann vor, hob die Hände, und der Mob verstummte.

Begay wollte seinen Augen nicht trauen: Das war Pastor Eddy aus der Mission unten in Blue Gap – doch der Mann war wie verwandelt. Pastor Eddy war ein verwirrter, halbverrückter Versager gewesen, der Altkleider verschenkte und Begay sechzig Dollar schuldete. Dieser Eddy hier strahlte kalte Autorität aus, und die Menge hörte auf sein Kommando.

Begay duckte sich und beobachtete gemeinsam mit Becenti die Szene.


Eddy hob die Hände. »Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen! Meine Christenfreunde, der Antichrist will sprechen. Wir werden gemeinsam Zeugen seiner Lästerungen sein.«

Hazelius versuchte zu sprechen. Der Großbrand um Isabella flackerte im Hintergrund, Flammenwände und Feuersäulen breiteten sich gierig aus. Hazelius wurde von einer Reihe scharfer Explosionen in der Ferne übertönt. Er begann von vorn, und seine Stimme wurde kräftiger.

»Pastor Eddy, es tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss. Ich habe nur eines anzumerken. Diese Leute sind nicht meine Jünger, und ich habe nichts Böses getan. Tun Sie mit mir, was Sie wollen, aber lassen Sie sie gehen.«

»Lügner!«, schrie jemand aus der Menge.

»Gotteslästerer!«

Eddy hob mahnend eine Hand, und die Männer schwiegen. »Niemand ist ohne Schuld«, brüllte er. »Wir alle sind Sünder in den Händen eines zornigen Gottes. Allein Gottes Gnade kann uns retten.«

»Lassen Sie meine Leute in Ruhe, Sie durchgeknalltes Arschloch.«

Sehr wahrscheinlich, dachte Ford und warf einen Blick auf Eddys Schäfchen, die tollwütig nach Hazelius’ Blut brüllten.

Hazelius wurde schwächer, sein gesundes Bein gab nach.

»Haltet ihn fest!«, schrie Eddy.

Kate eilte an Fords Seite und half ihm, den Wissenschaftler aufrecht zu halten.

Eddy wandte sich um. »Der Tag des Zorns ist angebrochen«, donnerte er.

Die Menge stürzte sich auf Hazelius, sie umdrängten ihn, stießen ihn hin und her, als kämpften sie um eine Puppe. Sie schlugen ihn, schubsten ihn, spien ihn an und prügelten mit Stöcken auf ihn ein. Ein Mann schlitzte ihm mit einem abgebrochenen Stück Kaktus das Gesicht auf.

»Fesselt ihn an den Baum da.«

Sie zerrten ihn zu einer gewaltigen, abgestorbenen Pinyon-Kiefer und rangelten dabei um ihn wie ein ungeschicktes, hundertfüßiges Ungeheuer. Sie fesselten ein Handgelenk, führten das Seil über einen kräftigen Ast, zogen es stramm, fesselten dann das andere Handgelenk und verknoteten das Seil, so dass Hazelius aufrecht, halb hängend, halb stehend, mit gespreizten Armen an den Baum gebunden war. Seine Kleidung hing in Fetzen von seinem schmutzstarrenden Körper.

Plötzlich riss Kate sich von ihren Bewachern los, rannte hinüber und fiel Hazelius um den Hals.

Die Menge brüllte wütend, und mehrere Männer packten Kate, zerrten sie zurück und schleuderten sie zu Boden. Eine Vogelscheuche von einem Mann mit eckig gestutztem Bart schoss vor und trat sie, sobald sie am Boden lag.

»Dreckskerl!«, schrie Ford. Er traf den Mann mit der Faust am Kiefer, stieß einen anderen beiseite und kämpfte sich zu Kate durch, doch der Mob überwältigte ihn, und er wurde mit Fäusten und Knüppeln niedergeprügelt. Nur noch halb bei Bewusstsein, bekam er kaum mit, was als Nächstes geschah.

Das Knattern einer Motocross-Maschine am Rand der Menge war zu hören, dann wurde der Motor stotternd abgestellt. Eine tiefe, respekteinflößende Stimme dröhnte: »Seid ge grüßt, Christen!«

»Doke!«, rief der Mob. »Doke ist da!«

»Doke! Doke!«

Die Menge teilte sich, und ein Berg von einem Mann trat in den Ring. Er trug eine Jeansjacke mit abgerissenen Ärmeln, die muskulösen Arme waren über und über tätowiert, ein Silberkreuz an einer silbernen Kette baumelte von seinem Hals, und er trug ein Sturmgewehr auf dem Rücken. Sein langes blondes Haar flatterte im heißen Wind der Feuer.

Er wandte sich um und umarmte Eddy. »Jesus sei mit dir!« Er ließ Eddy los und wirbelte zu den anderen herum. Doke strahlte einen lockeren Charme aus, eine gute Ergänzung zu Eddys asketischer Strenge.

Mit geheimnisvollem Grinsen griff Doke in eine Tasche und holte eine Glasflasche voll klarer Flüssigkeit heraus. Er schraubte den Deckel ab, warf ihn weg und stopfte einen Stofffetzen in die Öffnung, so dass die Hälfte noch heraushing. Dann hielt er den Lumpen mit zwei Fingern fest und schüttelte die Flasche. Er hielt sie hoch, und die Menge brüllte begeistert. Ford roch Benzin. Mit einem Feuerzeug in der anderen Hand hob der Mann den Arm, bis er mit beiden Armen über dem Kopf dastand. Er warf die Arme hin und her und drehte sich dabei einmal im Kreis wie ein Rockstar auf der Bühne. »Holz!«, rief er mit heiserer Stimme. »Bringt uns Holz!«

Eddy sagte: »Und so jemand nicht ward gefunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl! In diesem Punkt ist die Bibel eindeutig. Jene, die Jesus Christus nicht als ihren persönlichen Erlöser angenommen haben, werden ins ewige Feuer geworfen. Dies, meine Gefährten in Jesus Christus, ist Gottes Wille.«

»Verbrennt ihn! Verbrennt den Antichrist!«, geiferte die Menge.

»Und der Teufel, der sie verführte, ward geworfen in den feurigen Pfuhl«, fuhr Eddy fort, »und Schwefel, da auch das Tier und der falsche Prophet war.«

»Aufhören! In Gottes Namen, das dürft ihr nicht!«, schrie Kate.

Haufen toter Kiefernzweige, verdorrter Kakteen und trockener Wüstenbeifuß wurden durch die Menge gereicht und am Fuß des Baumes aufgeschichtet. Der Haufen wuchs stetig.

»Dies ist es, was Gott den Ungläubigen verspricht«, sagte Eddy, der vor dem wachsenden Scheiterhaufen auf und ab ging. »Und sie werden gequält werden Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Was wir hier tun, ist Gottes Wille, mehrmals in der Bibel bestätigt. Ich nenne nur die Offenbarung vierzehn, Vers elf: Und der Rauch ihrer Qual wird aufsteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit; und sie haben keine Ruhe Tag und Nacht.«

Der Brennholz-Haufen türmte sich schief und krumm um den Baum, und einige Männer begannen, ihn um Hazelius festzutreten.

»Tut das nicht!«, kreischte Kate.

Der Scheiterhaufen reichte Hazelius bis zu den Oberschenkeln.

»Und es fiel Feuer von Gott aus dem Himmel und verzehrte sie«, zitierte Eddy weiter.

Verdorrte Kakteen, Beifuß und anderes Gestrüpp, trocken wie Zunder, türmte sich immer höher und begrub Hazelius nun schon bis zur Hüfte unter sich.

»Wir sind bereit, Gottes Willen zu tun«, sagte Eddy leise.

Doke trat vor und hob erneut die Arme, das Feuerzeug in der einen, den Molotowcocktail in der anderen Hand. Die Menge wich zurück, und es wurde still. Der Mann drehte sich mit erhobenen Armen noch einmal halb herum, wie ein Model auf dem Laufsteg. Die Menge rückte ehrfürchtig noch ein Stück ab.

Doke ließ das Feuerzeug aufschnappen und zündete den Molotowcocktail an. Flammen schienen über den baumelnden Lappen zu fließen. Er wirbelte herum und schleuderte die Flasche in den Scheiterhaufen. Ein dumpfes Fump war zu hören, und die ersten Flammen erblühten im trockenen Gestrüpp und schossen knackend aufwärts.

Die Menge gab ein lautes »Ohhh!« von sich.

Ford wappnete sich und sah zu, einen Arm um Kate gelegt, um sie zu stützen, denn sie schwankte, einer Ohnmacht nahe. Alle sahen schweigend zu. Niemand wandte sich ab.

Als die Flammen höher schlugen, sagte Hazelius mit fester, klarer Stimme: »Das Universum vergisst niemals.«


75


Nelson Begay beobachtete den Scheiterhaufen mit wachsendem Zorn. Einen Mann bei lebendigem Leib zu verbrennen! Das hatten die Spanier mit seinen Vorfahren gemacht, wenn sie sich nicht bekehren ließen. Und nun geschah es hier wieder.

Doch er sah keine Möglichkeit, es zu verhindern.

Die Flammen züngelten hoch und erfassten den zerfetzten Laborkittel des Mannes. Sie verhüllten sein Gesicht und sengten ihm mit lautem Zischen die Haare vom Kopf.

Der Mann stand immer noch.

Die Flammen breiteten sich brüllend aus, seine Kleidung verkohlte und fiel in brennenden Fetzen von ihm ab wie Konfetti.

Der Mann zuckte nicht einmal zusammen.

Die fauchenden Flammen verschlangen seine Kleidung und begannen, ihm die verkohlte Haut vom Leib zu schälen; seine Augäpfel schmolzen und rannen aus den Höhlen. Doch immer noch rührte sich der Mann nicht, zerrte nicht an seinen Fesseln, zuckte mit keiner Wimper – und ein trauriges, schiefes Lächeln lag selbst dann noch auf seinem Gesicht, als das Gesicht selbst schmorte und Blasen warf. Das Feuer erfasste das Seil, das ihn an den Baum fesselte, brannte es weg – doch er stand, felsenfest. Wie konnte das sein? Warum fiel er nicht um? Sogar, als die verdorrte Kiefer, an die er gebunden war, sich in eine Feuersäule verwandelte und die Flammen sieben, acht, neun Meter in den Himmel schossen, blieb er stehen, bis er völlig in der Feuersbrunst verschwunden war. Noch aus gut dreißig Metern Entfernung spürte Begay die Hitze der Flammen auf seinem Gesicht, er hörte sie brüllen wie eine Bestie, während die äußeren Zweige der Kiefer sich wie glühende Klauen krümmten; und dann brach der brennende Baum in einem gewaltigen Funkenregen zusammen, der hoch in den Himmel stieg, so hoch, als wollten die Funken zu Sternen werden.

Zehn Minuten später war nichts mehr übrig als ein Haufen weißglühender Kohlen. Der Mann war vollständig verschwunden.

Die anderen Gefangenen, die ganz in der Nähe mit vorgehaltenen Waffen in Schach gehalten wurden, beobachteten all das starr vor Entsetzen. Einige weinten, andere hielten sich an den Händen oder schlangen einander die Arme um die Schultern.

Sie sind als Nächste dran, dachte Begay. Diese Vorstellung war unerträglich.

Doke griff bereits in seine Tasche und holte eine weitere Flasche hervor.

»Scheiße«, fluchte Becenti flüsternd. »Wollen wir da einfach zuschauen?«

Begay wandte sich zu ihm um. »Nein, Willy. Nein, bei Gott, das werden wir nicht.«


Ford starrte auf das ersterbende Feuer, wie gelähmt vor ungläubigem Entsetzen. Wo Hazelius eben noch gestanden hatte, lag jetzt nur ein großer Haufen Asche und Kohle, weiter nichts. Ford drückte Kate an sich und stützte sie.

Sie würden die Nächsten sein.

Die Menge war plötzlich ganz still. Kate starrte auf die Kohlen, das schwarzverschmierte Gesicht von Tränenspuren durchzogen, und rührte sich nicht. Niemand bewegte sich oder sprach ein Wort.

Der Prediger, Eddy, stand ein wenig abseits und drückte sich mit knochigen Händen die Bibel vor die Brust. Sein Gesicht wirkte hohl und ausgemergelt.

Doke, der Mann mit den Tattoos, starrte ebenfalls auf die Überreste des Feuers, doch er strahlte.

Eddy hob den Kopf und sah die Menge an. Mit zitternder Hand zeigte er auf den Kohlehaufen. »Ihr werdet die Gottlosen zertreten; denn sie sollen Asche unter euren Füßen werden.«

Seine Worte weckten die Leute auf. Sie traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Amen«, sagte eine Stimme, und andere echoten schwächlich: »Amen.«

»Asche unter euren Füßen«, wiederholte Eddy.

Ein paar weitere Leute rangen sich ein »Amen« ab.

»Und nun«, sagte er, »meine Freunde, ist die Zeit gekommen für die Jünger des Antichristen. Wir sind Christen. Wir vergeben. Sie müssen eine Chance bekommen, Jesus anzunehmen. Selbst der größte Sünder muss eine letzte, eine allerletzte Chance bekommen. AUF DIE KNIE MIT EUCH!«

Ein Mann versetzte Ford einen Schlag auf den Hinterkopf, so dass er unwillkürlich auf die Knie sackte. Kate ließ sich neben ihm nieder und zog ihn an sich.

»Betet zu unserem Herrn Jesus Christus für die Erlösung ihrer Seelen!«

Doke ging auf ein Knie nieder, Eddy tat es ihm gleich, und bald kniete der gesamte Mob im dunkelroten Glimmen des ersterbenden Feuers auf dem Wüstensand und murmelte vor sich hin.

Eine weitere Explosion donnerte in der Tiefe der Mesa, und der Boden bebte.

»Ihr Jünger des Antichristen«, sagte Eddy, »bekennt ihr, dass ihr vom Glauben abgefallen seid, und nehmt Jesus als euren persönlichen Erlöser an? Nehmt ihr Jesus aus vollem Herzen an, ohne Vorbehalt? Werdet ihr euch uns anschließen und fortan zu Gottes großer Armee gehören?«

Absolute Stille. Ford drückte Kates Hand. Er wünschte, sie würde etwas sagen, wünschte, sie würde einfach zustimmen. Aber wenn er das selbst nicht fertigbrachte, wie konnte er es da von ihr erwarten?

»Will denn nicht einer von euch der Ketzerei abschwören und sich zu Jesus bekennen? Will nicht einer vor dem Feuer dieser Welt und dem ewigen Feuer der nächsten gerettet werden?«

Ford spürte Zorn in sich hochkochen. Er hob den Kopf. »Ich bin Christ, ich bin Katholik. Ich habe keine Ketzerei begangen, der ich abschwören müsste.«

Eddy atmete tief durch und sprach mit bebender Stimme, die Hand dramatisch erhoben. »Katholiken sind keine Christen. Der Katholizismus frönt dem Götzendienst, der Verehrung der Heiligen Jungfrau Maria.«

Verunsichertes Murmeln war zu hören.

»Das ist der Geist des Dämonenglaubens, der offenkundig wird in der missbräuchlichen und eitlen Wiederholung des Ave Maria im Gebet des Rosenkranzes. Das ist Götzendienst, ein schweres Vergehen gegen die Gebote Gottes.«

Rasender Zorn erfasste Ford, doch er bemühte sich, ihn zu zügeln. Er stand auf. »Wie können Sie es wagen?«, sagte er mit leiser Stimme. »Wie können Sie es wagen?«

Eddy hob den Revolver und richtete ihn auf Ford. »Eure Priester haben euch Katholiken seit eintausendfünfhundert Jahren einer Gehirnwäsche unterzogen. Ihr lest nicht in der Bibel. Ihr tut, was die Priester euch sagen. Euer Papst betet Götzenbilder an und küsst Statuen die Füße. Das Wort Gottes ist eindeutig – wir sollen uns vor Jesus beugen und vor keinem anderen, weder vor Maria noch vor den sogenannten Heiligen. Schwöre deiner gotteslästerlichen Religion ab – oder du bekommst den Zorn des Herrn zu spüren.«

»Ihr seid es, die hier Gott lästern«, sagte Ford und starrte die Menge an, »ihr seid ein Klümpchen Spucke im Antlitz Gottes!«

Eddy hob die zitternde Waffe und zielte auf Fords rechtes Auge. »Die Rede, die du führst, kommt direkt aus dem Mund der Hölle! Schwöre deiner Kirche ab!«

»Niemals.«

Die Waffe zitterte kaum noch, als Eddy aus wenigen Zentimetern Entfernung zielte und den Finger am Abzug krümmte.


76


Reverend Don T. Spates knallte den Hörer auf. Das Telefon funktionierte immer noch nicht. Seine Internetverbindung auch nicht. Er dachte daran, hinüber ins Medienbüro der Silver Cathedral zu gehen und den Fernseher einzuschalten, um nachzusehen, ob vielleicht etwas in den Nachrichten kam, doch er konnte sich nicht dazu überwinden. Er hatte Angst, hier wegzugehen, Angst, von seinem Schreibtisch aufzustehen – Angst vor dem, was er entdecken könnte.

Er sah auf seine Armbanduhr. Halb fünf Uhr morgens. Noch zwei Stunden bis zum Morgengrauen. Sobald die Sonne aufging, würde er schnurstracks zu Dobson gehen. Er würde sich in die Hände seines Anwalts begeben. Dobson würde mit der Sache schon fertig werden. Sicher, das würde einiges kosten. Aber nach dieser Nacht würden die Spenden nur so hereinströmen. Er musste nur diesen Sturm aussitzen. Er hatte schon genug Stürme erlebt, wie damals, als diese beiden Huren ihn an die Zeitungen verraten hatten. Damals hatte er gedacht, die Welt müsse untergehen. Und doch war er einen Monat später wieder im Geschäft gewesen, hatte in seiner Kathedrale gepredigt, und nun war er der heißeste Fernsehprediger in der Branche.

Er zog sein Taschentuch heraus, trocknete sein Gesicht, wischte sich über Augen, Stirn, Nase und Mund und hinterließ einen braunen Make-up-Fleck auf dem weißen Leinen. Angewidert starrte er darauf und warf das Tuch in den Mülleimer. Er schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein, gab einen ordentlichen Schuss Wodka dazu und trank mit zitternder Hand.

Er stellte die Tasse so heftig ab, dass sie entzweibrach.

Die kostbare Sèvres-Tasse hatte sich genau in der Mitte gespalten. Er hielt die Bruchstücke in Händen, starrte sie an und schleuderte sie dann in plötzlichem Zorn durch den Raum.

Schwankend erhob er sich, ging zum Fenster, riss es auf und starrte hinaus. Draußen war alles dunkel und still. Die Welt schlief. Aber nicht in Arizona. Dort draußen könnten gerade schreckliche Dinge geschehen. Doch das war nicht seine Schuld. Er hatte sein Leben dem Werk Christi auf Erden gewidmet. Ich glaube an Ehre, Religion, Pflicht und Vaterland.

Wenn nur endlich die Sonne aufgehen wollte. Er stellte sich vor, wie geborgen er sich in dem gedämpften, holzvertäfelten Büro seines Anwalts an der 13th Street fühlen wurde, und dieser Gedanke war tröstlich. Sobald es hell war, würde er seinen Chauffeur wecken und nach Washington fahren.

Während er auf die dunkle, regennasse Straße hinabblickte, hörte er in der Ferne Sirenengeheul. Gleich darauf sah er etwas die Laskin Road entlangkommen: Polizeiautos und einen Mannschaftswagen mit blitzenden Warnlichtern. Er trat hastig zurück und knallte mit klopfendem Herzen das Fenster zu. Die waren nicht seinetwegen hier. Natürlich nicht. Was bildete er sich für einen Unsinn ein? Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und griff erneut nach Kaffee und Wodka. Dann fiel ihm die zerbrochene Tasse ein. Zum Teufel mit Tassen. Er schnappte sich die Flasche, setzte sie an die Lippen und trank.

Er stellte die Flasche ab und stieß die Luft aus. Vermutlich verjagten die bloß ein paar Nigger aus dem Yachtclub um die Ecke.

Ein lautes Krachen in der Silver Cathedral ließ ihn zusammenzucken. Plötzlich herrschte überall Lärm, Stimmen, Rufe, das Quaken von Funkgeräten.

Er konnte sich nicht rühren.

Gleich darauf sprang die Tür zu seinem Büro krachend auf, und Männer in FBI-Jacken stürmten mit gezückten Waffen herein. Ihnen folgte ein riesiger schwarzer Agent mit kahlgeschorenem Kopf.

Spates blieb sitzen, unfähig, das zu begreifen.

»Mr. Don Spates?«, fragte der Agent und klappte seine Marke auf. »FBI, Special Agent Cooper Johnson.«

Spates brachte kein Wort heraus. Er starrte den Mann nur an.

»Sind Sie Mr. Don Spates?«

Er nickte.

»Legen Sie beide Hände auf den Tisch, Mr. Spates.«

Er hob die dicken, leberfleckigen Hände und legte sie auf den Schreibtisch.

»Stehen Sie auf, aber lassen Sie Ihre Hände, wo sie sind.«

Ungeschickt stand er auf, und der Sessel kippte krachend um.

»Handschellen anlegen.«

Ein weiterer Agent trat vor, packte ihn am Unterarm, zog ihm den Arm hinter den Rücken, dann den anderen – und Spates spürte fassungslos, wie kalter Stahl sich um seine Handgelenke schloss.

Johnson trat zu Spates und baute sich vor ihm auf, breitbeinig, mit verschränkten Armen.

»Mr. Spates?«

Spates starrte ihn an. Sein Verstand war vollkommen gelähmt.

Der Agent sprach leise und schnell. »Sie haben das Recht, zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, mit einem Rechtsanwalt zu sprechen und einen Rechtsanwalt zur Befragung hinzuzuziehen. Sollten Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen auf Kosten des Staates ein Anwalt gestellt. Haben Sie das verstanden?«

Spates glotzte. Das konnte doch ihm nicht passieren.

»Haben Sie das verstanden?«

»Wa…?«

»Er ist betrunken, Cooper«, sagte ein anderer Mann. »Lass es gut sein, müssen wir ihm Miranda eben später noch mal aufsagen.«

»Sie haben recht.« Johnson packte Spates am Oberarm. »Gehen wir, Kumpel.«

Ein weiterer Agent nahm seinen anderen Arm, und sie stupsten ihn an, führten ihn langsam zur Tür.

»Warten Sie!«, rief Spates. »Sie machen einen Fehler!«

Sie drängten ihn weiter. Niemand achtete auch nur im Geringsten auf ihn.

»Sie können doch nicht mich meinen! Sie haben den falschen Mann!«

Ein Agent öffnete die Tür, und sie betraten die dunkle Silver Cathedral.

»Crawley müssen Sie verhaften, Booker Crawley von Crawley and Stratham! Er war’s! Ich habe nur seine Anweisungen befolgt – ich bin nicht dafür verantwortlich! Ich hatte ja keine Ahnung, dass so etwas passieren würde! Das ist allein seine Schuld!« Seine hysterische Stimme erzeugte verrückte Echos in dem riesigen Saal.

Sie führten ihn den Seitengang entlang, vorbei an den dunklen Bildschirmen für die Publikumsanweisungen, vorbei an den dick gepolsterten Samtsitzen, die dreihundert Dollar pro Stück gekostet hatten, vorbei an den Säulen, mit echtem Blattsilber belegt, durch das hallende Foyer in italienischem Marmor und zum Haupteingang hinaus.

Er wurde von einer wogenden Masse Presseleute empfangen, von tausend Blitzlichtern geblendet und mit Fragen bombardiert. Mikrophone an langen Tonangeln fuhren aus allen Richtungen auf ihn herab.

Er senkte den Kopf und versuchte, sein Gesicht zu verbergen.

Ein FBI-Minivan wartete mit laufendem Motor am Ende eines langen, mühsam frei gehaltenen Pfades.

»Reverend Spates! Reverend Spates! Stimmt es, dass …?«

»Reverend Spates!«

»Nein!«, schrie Spates und bäumte sich gegen seine Bewacher auf. »Nicht da rein! Ich bin unschuldig! Crawley müssen Sie verhaften! Wenn Sie mich zurück in mein Büro lassen … Ich habe die Adresse in meinem …«

Zwei Agenten öffneten die hinteren Türen. Er wehrte sich.

Inzwischen blitzte es etwa hundertmal pro Sekunde. Die Linsen, die auf ihn gerichtet waren, glommen wie tausend Fischaugen.

»Nein!«

Er stemmte sich gegen die Einstiegsschwelle und bekam einen groben Stoß in den Rücken. Er stolperte, drehte sich um und bettelte: »Hören Sie mir doch zu, bitte!« Er brach in lautes, schleimiges Schluchzen aus. »Crawley ist an allem schuld!«

»Mr. Spates?«, sagte der Agent, der den Einsatz leitete; er lehnte sich durch die offene Tür. »Seien Sie still. Sie werden später reichlich Zeit haben, Ihre Geschichte zu erzählen. Klar?«

Zwei Agenten stiegen mit ihm ein, einer links, einer rechts, stießen ihn auf einen Sitz, schlossen seine Handschellen an einen Metallpfosten und schnallten ihn an.

Die Tür wurde zugeschlagen und schirmte ihn von dem Tumult draußen ab. Spates schluchzte erstickt und schnappte schniefend nach Luft. »Sie machen einen schrecklichen Fehler!«, heulte er, als sich der Van in Bewegung setzte. »Sie wollen nicht mich, Sie wollen Crawley!«


77


Ford starrte in den Lauf des Revolvers, und das schimmernde stählerne Auge starrte zurück. Ungebeten kamen ihm die Worte der Beichte über die Lippen. Er bekreuzigte sich und flüsterte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes …«

»Gelobt sei der Herr!«, donnerte eine Stimme durch die erwartungsvolle Stille.

Alle drehten sich um.

Ein Navajo erschien zu Fuß aus der Dunkelheit, in einem Wildlederhemd und mit einem Stirnband um den Kopf. Er führte einige aneinandergebundene Pferde hinter sich her und trug eine Pistole in der Hand, die er über dem Kopf schwenkte. »Gelobt sei Gott, der Herr!« Er blieb nicht stehen, sondern drängte sich einfach durch die Menge, die sich teilte, um ihn durchzulassen.

Ford erkannte den Indianer – Willy Becenti.

Eddy hielt weiterhin die Waffe auf ihn gerichtet.

»Gelobt seien Gott und Jesus!«, rief Becenti wieder, führte die Pferde schnurstracks auf Eddy und Ford zu und zwang die knienden Gefangenen, aufzustehen und auszuweichen. »Gepriesen sei der liebe Gott! Amen, Bruder!«

»Gott sei gepriesen«, kamen die automatischen Antworten. »Gelobt sei Jesus Christus!«

»Mein Freund in Jesus Christus!«, sagte Doke und stand ebenfalls auf. »Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Gelobt sei Jesus Christus!«, rief Willy wieder. »Wir sind Brüder im Geiste! Will mich euch anschließen!«

Die Pferde waren nervös, sie tänzelten und rollten mit den Augen, und die Leute wichen ängstlich vor ihnen zurück. Hinter den Pferden ragte nun eine weitere Gestalt vor dem dunkelroten Feuerschein auf; diese saß zu Pferde und trieb die Tiere von hinten an. Ford erkannte Nelson Begay, den Medizinmann.

Becenti ließ die nervösen Pferde direkt vor der Gruppe Wissenschaftler anhalten; die Tiere drängten sich gegeneinander und warfen mit rollenden Augen die Köpfe hoch, als würden sie jeden Moment durchgehen.

Die Menge wich nervös noch weiter zurück. »Was wollen Sie denn mit diesen Pferden hier?«, rief Eddy ärgerlich und trat ebenfalls zurück.

»Wir wollen uns euch anschließen!« Becenti starrte ihn an, als sei er schwer von Begriff, und ließ scheinbar versehentlich den Führstrick fallen. Das vorderste Pferd wollte sofort zurückweichen, und Willy trat schwer mit einem Fuß auf den Strick, um es aufzuhalten. »Hoo, du Mistvieh!«, kreischte Becenti. Er bückte sich nach dem Strick. In dieser raschen Bewegung, weit vorgebeugt, flüsterte er dem Grüppchen Wissenschaftler kaum hörbar zu: »Auf mein Kommando steigt ihr auf, und dann nichts wie weg.«

Doke trat in die Lücke, die sich vor Eddy und Ford gebildet hatte. »Also schön, Kumpel, du sagst mir jetzt, wer du bist und was du gerade zu den Gefangenen gesagt hast.«

»Du hast mich doch gehört, Mann«, jammerte Becenti mit schriller, weinerlicher Stimme. »Ich bin ein Freund in Jesus Christus! Dachte, ihr könntet ein paar Pferde gebrauchen.«

»Du unterbrichst eine sehr wichtige Angelegenheit, du Idiot. Schaff die Gäule hier weg.«

»Klar, Mann, tut mir leid, wollt euch ja nur helfen.« Becenti drehte sich um. »Ruhig, ihr Pferde!«, brüllte er und wedelte wild mit den Armen. »Beruhigt euch! He! Ganz ruhig!«

Sein Gebrüll schien die Tiere nur noch mehr aufzuregen. Becenti packte die beiden ersten am Halfter und drehte sie um, als wollte er sie wegführen, schien aber nun mit den Tieren nicht mehr zurechtzukommen. Als sie sich gegen ihn stemmten und er daraufhin ein zusammengerolltes Lasso durch die Luft schwenkte, wichen sie plötzlich scharf zur Seite aus, so dass Doke und Eddy hastig zurückweichen mussten – nun drängten sich die Pferde vor die Gefangenen.

»Schaff die Pferde aus dem Weg!«, kreischte Doke und versuchte, sie selbst wegzuschubsen.

»Gelobt seien Jesus und alle Heiligen!« Becenti schüttelte wieder die Pistole über seinem Kopf und schrie: »Jetzt!«

Ford packte Kate und schwang sie auf einen Rotschimmel, während Becenti Chen über ein geflecktes Indianerpony warf, dann auf einen Falben sprang und Cecchini hinter sich hochzog. Innes sprang allein auf einen Fuchs, und keine zehn Sekunden später saßen alle auf Pferden, teilweise zu zweit.

Doke versuchte, sich einen Weg durch panische Menschen und Pferde zu bahnen, und kreischte: »Haltet sie auf!« Er griff nach seinem Gewehr und zerrte es aus dem Futteral, das er auf dem Rücken trug.

Eddy hatte die Waffe schon wieder hochgerissen. Er zielte auf Ford.

»Gelobt sei der Herr!«, brüllte Becenti. Er ließ sein Pferd herumwirbeln, das mit fliegenden Hufen Eddy rammte. Der Mann schoss, verfehlte Ford und ging dann zu Boden; als Nächsten ritt der Indianer Doke über den Haufen, der sein Gewehr fallen ließ und in den Staub hechtete. Becenti hob sein zusammengerolltes Lasso, wirbelte es durch die Luft und schrie: »Hiiyaahh!«

Die ohnehin schon höchst nervösen Pferde brauchten keine weitere Ermunterung. Sie donnerten durch die Menge und zerstreuten sie. Sobald sie Platz hatten, bog Becenti scharf nach rechts ab und führte sie in vollem Galopp in die Deckung eines versandeten Bachbetts. Hinter ihnen krachten Schüsse, die Leute feuerten blind in die Dunkelheit, doch alle Pferde hatten schon den Schutz der Vertiefung erreicht, und die Kugeln zischten über ihre Köpfe hinweg.

»Hiiiyahhh!«, kreischte Becenti.

Die Pferde rasten die sandige kleine Schlucht entlang, folgten ihren unzähligen Windungen, bis die Schüsse nur noch als schwaches Popp-popp in der Ferne zu hören waren und die Schreie und Rufe der Menge sie kaum mehr erreichten. Sie zügelten die Pferde zu einem flotten Trab.

Hinter ihnen, in der Ferne, hörte Ford ein Motorrad aufjaulen.

»Hast du das gehört, Willy?«, rief Begay von hinten. »Einer von denen hat eine Motocross-Maschine.«

»Scheiße«, sagte Becenti. »Den müssen wir abschütteln. Festhalten!«

Er lenkte sein Pferd aus dem Bachbett hinaus und eine felsige Böschung hoch. Die Hufe der Pferde klapperten über Sandstein. Oben angekommen, rasten sie über ein paar Sanddünen auf eine tiefe Schlucht zu.

Ein Grollen, und die ganze Mesa erbebte. Dunkle Staubwolken wirbelten hoch und ballten sich vor dem Nachthimmel zusammen. Flammen schossen ein paar hundert Meter rechts von ihnen aus dem Boden. Knackend fing eine Pinyon-Kiefer Feuer, dann eine weitere. Hinter ihnen erklang eine donnernde Explosion nach der anderen, vom östlichen Ende der Mesa her.

Der Motor der Geländemaschine heulte erneut auf, diesmal viel näher. Der Kerl holte schnell auf.

»Hiyaah!«, rief Becenti, als er über den Rand der Schlucht galoppierte und sein Pferd den steilen Abhang hinab auf den Grund zuschlitterte.

Ford folgte ihm und klammerte sich mit beiden Beinen an das Pferd, während Kate ihn von hinten umschlang.


78


Sie donnerten über die dunkle Mesa. Fords Pferd zögerte kurz am Rand der Schlucht, stürzte sich dann den sandigen Abhang hinab, verlagerte sein Gewicht nach hinten und gelangte halb rutschend, halb springend nach unten, in einer kleinen Lawine aus Sand.

Das Knattern des Motorrads war direkt über ihnen. Schüsse krachten, und Ford hörte das scharfe Heulen einer Kugel, die einen Felsen links von ihm traf. Sie erreichten den Grund und galoppierten die Schlucht entlang. Ford konnte das Motocross-Rad über ihnen hören, das am Rand des Canyons entlangraste.

Becenti zügelte sein Pferd. »Er schneidet uns den Weg ab! Zurück!«

Die Geländemaschine kam rutschend zum Stehen und sandte einen Sandregen in die Schlucht hinab. Doke stellte beide Beine auf den Boden, zog sein Gewehr aus dem Futteral und legte an.

Sie ließen die Pferde herumwirbeln, als der erste Schuss krachte und neben Ford eine Sandfontäne hochspritzte. Fürs Erste fanden sie Deckung hinter herabgestürzten Felsen. Ein weiterer Schuss hallte durch die Schlucht, die Kugel prallte mit einem schrillen Laut von der Spitze der Felsen ab. Ford merkte, dass sie in dem Canyon in der Falle saßen. Sie konnten weder vorwärts noch rückwärts, denn der Mann hatte von da oben freies Schussfeld in beide Richtungen. Und der Abhang hinter ihnen war zu steil, um hinauszuklettern.

Der nächste Schuss ließ hinter ihnen Sand hochspritzen. Von oben war wüstes Lachen zu hören. »Lauft ruhig weg, ihr gottlosen liberalen Arschlöcher, aber vor mir könnt ihr euch nicht verstecken!«

»Willy!«, sagte Begay. »Das wäre der passende Zeitpunkt, um deine Pistole zu benutzen!«

»Sie ist … nicht geladen.«

»Warum zum Teufel?«

Becenti wirkte verlegen. »Ich wollte doch nicht, dass jemand verletzt wird.«

Begay warf die Arme hoch.

»Das ist ja großartig, Willy.« Das Gewehr krachte erneut, die Kugel flog dicht über ihre Köpfe hinweg und schlug im Hang hinter ihnen ein. »Ich komme jetzt runter!«, rief Doke triumphierend.

»O Scheiße, Mann, was machen wir jetzt?«, fragte Becenti. Sein Pferd tänzelte und schnaubte in der drangvollen Enge.

Ford konnte hören, wie Doke den Abhang herunterrutschte. Gleich würde er den Grund der Schlucht erreichen und absolut freies Schussfeld haben. Er würde sie vermutlich nicht alle erwischen, aber einige von ihnen würden sterben, ehe sie Deckung hinter der nächsten Biegung fanden.

»Kate, steig zu Begay aufs Pferd.«

»Was hast du vor?«, fragte sie.

»Mach schnell.«

»Wyman, du kannst nicht reiten …«

»Verdammt, Kate, würdest du mir dieses eine Mal einfach vertrauen?«

Kate schwang sich hinter ihm vom Pferd und saß bei Begay auf.

»Geben Sie mir die Waffe.«

Becenti warf sie ihm zu. »Viel Glück, Mann.«

Ford packte die Mähne mit der linken Hand und wickelte sie sich einmal ums Handgelenk. Er wendete sein Pferd in die Richtung, aus der Doke erscheinen würde.

»Mit den Knien festklammern«, sagte Kate, »und das Gewicht schön tief und in der Mitte halten.«

In diesem Augenblick erschien Doke, der grunzend den sandigen Steilhang hinabschlitterte. Er erreichte den Grund, und ein triumphierendes Grinsen breitete sich über sein Gesicht.

Ford trat dem Pferd die Unterschenkel in die Seite.

Das Tier sprang vorwärts und galoppierte die Schlucht entlang, direkt auf Doke zu. Ford richtete die Waffe auf ihn und kreischte: »Aiyaaah!«

Doke, überrascht und erschrocken über das plötzliche Auftauchen einer Pistole, riss sich das Gewehr von der Schulter, ließ sich auf ein Knie fallen und legte an. Doch es war zu spät. Das Pferd hatte ihn schon fast erreicht, und er musste zur Seite hechten, um nicht unter die Hufe zu geraten. Ford verpasste ihm einen Schlag mit seiner Waffe, galoppierte vorbei, wendete das Pferd dann scharf nach rechts und drängte es den steilen Abhang hinauf.

»Scheißkerl!«, kreischte Doke, brachte sich wieder in Position und feuerte, als Fords Pferd gerade den Rand der Schlucht erreichte. Vor ihm lag eine sandige Fläche, dann gedrungene Felsen, dann wieder offenes Gelände – und dahinter der schmale Pfad, der zu der Stelle am Rand der Mesa führte, die Hazelius ihm am ersten Tag gezeigt hatte.

Das Geschoss summte wie eine Hummel an seinem Ohr vorbei.

Der nächste Schuss traf das Pferd. Es machte kreischend einen Satz zur Seite und taumelte unmittelbar am Rand, stürzte aber nicht. Sie flogen über den Sand, auf den Pfad zum Rand der Mesa zu, und Ford drückte sich flach an den Hals des Rotschimmels. Gleich darauf hatte er das flache Stück hinter sich und jagte zwischen den rundgeschliffenen Felsbrocken hindurch. Dahinter scherte er zur Seite, hielt sich in Deckung und ritt weiter. Er hörte sein Pferd stöhnen und keuchen, vermutlich in den Bauch getroffen. Kaum zu glauben, wie mutig das Tier war.

Die weite, offene Fläche erwartete sie.

Doke würde erst aus der tiefen Schlucht klettern müssen, um die Verfolgung aufzunehmen, denn sein Motorrad stand auf der anderen Seite; das würde Ford genug Zeit geben, das offene Gelände hinter sich zu bringen – wenn das Pferd es schaffte, doch der Rotschimmel hielt sich tapfer. Ford klammerte sich in der Mähne fest, duckte sich und galoppierte nun über den Sand.

Er hatte erst die Hälfte geschafft, als er das Knattern des Motorrads hörte, viel näher jetzt. Doke hatte die Schlucht überwunden. Der immer lauter dröhnende Motor sagte Ford, dass Doke rasch aufholte, doch er konnte während der Fahrt nicht schießen.

Ford galoppierte den Hügel hinauf und lenkte nun absichtlich sein Pferd den Pfad entlang, wo Doke ihn sehen konnte. Er hörte, wie der Mann hinter ihm hochschaltete, dass der Zweitaktmotor kreischte.

Auf dem Kamm des Hügels, verborgen hinter Felsen und Gestrüpp, endete die Mesa ohne jede Vorwarnung an einer senkrechten Klippe. Ford sprang vom Pferd und warf sich hinter einen Geröllhaufen, und schon schoss Doke an ihm vorbei. Das war das Letzte, was er von Doke sah: dicke, tätowierte Arme, die den Lenker gepackt hielten, und goldblondes Haar, das wie eine Flammenmähne hinter ihm herflatterte, als er mit fast neunzig Stundenkilometern an Ford vorbeiraste.

Doke flog über den Rand der Mesa hinweg. Der Motor heulte unter Vollgas, die Räder drehten durch, die Maschine kreischte wie ein Adler. Ford drehte sich um und sah, wie Maschine und Fahrer im hohen Bogen in die dunkle Leere stürzten, und er hörte das vielfache Echo des Motors, als das Gefährt der schwarzen Landschaft dort unten entgegenraste. Das Letzte, was Ford sah, war das Schimmern von blondem Haar, als stürze Luzifer aus dem Himmel herab. Er lauschte und lauschte – und dann, tief unten, flackerte eine kleine, feurige Blüte auf, und ein paar Sekunden später kam das dumpfe Grollen des Aufpralls, über dreihundert Meter unter ihm.

Ford kroch hinter den Felsen hervor und stand auf. Der Rotschimmel lag auf dem Boden, tot. Ford kniete sich hin und berührte sacht seinen Kopf.

»Danke, Kumpel. Tut mir leid.«

Er richtete sich auf und spürte plötzlich, dass sein ganzer Körper schmerzte – gebrochene Rippen, Prellungen, Schnittwunden, ein fast zugeschwollenes Auge. Er drehte sich um, lehnte sich an den uralten Felsen und blickte auf die Red Mesa zurück.

Alles, was Ford dazu einfiel, war Das Jüngste Gericht von Hieronymus Bosch. Das östliche Ende der Mesa, wo Isabella gelegen hatte, war eine einzige, weißglühende Feuersäule, die sich in den Nachthimmel bohrte – als wolle sie die Sterne selbst versengen. Die Säule war umgeben von Hunderten kleinerer Infernos, die Flammen und schwarzen Rauch aus Rissen und eingestürzten Gruben spien, in einem Umkreis von vielen Kilometern. Der Boden bebte und stöhnte beständig unter weiteren Explosionen, deren unsichtbare Wucht die Luft selbst zu erschüttern schien. Rechts von ihm, einen guten Kilometer entfernt, spielte sich eine surreale Szene ab: Tausend geparkte Autos brannten, ihre Benzintanks explodierten, kleine Feuerbälle hoben die Autos in die Luft und ließen sie tanzen und hüpfen. Leute streiften ziellos durch diese gespenstische Höllenlandschaft oder rannten unter irrem Geheul herum.

Ford stieg den Hügel hinab und traf auf die anderen, die über die offene Sandfläche auf ihn zuritten. Er stieg hinter Kate wieder auf.

»Er ist weg«, sagte Ford. »Über die Kante gestürzt.«

»Mann«, sagte Becenti, »du reitest beschissen, aber du hast es geschafft. Dem Kerl hast du wirklich das Fliegen beigebracht.«

»Wie ein himmlischer Feuerwagen«, sagte Kate.

»Das Pferd?«, fragte Begay. »Tot.«

Der Indianer schwieg mit grimmiger Miene.

Nach zehn Minuten erreichten sie den Einschnitt am oberen Ende des Midnight Trails.

»Wir gehen zu Fuß«, sagte Begay. »Die Pferde sollen allein runtergehen, vor uns her.«

Alle stiegen ab. Becenti und Begay trieben die Pferde durch den tiefeingeschnittenen Anfang des Pfades, gaben dem letzten einen Klaps auf die Kruppe, und die Tiere machten sich auf den Weg nach unten.

Sie blieben noch einen Moment am Rand der Mesa stehen, am Anfang des Pfades, und blickten zurück. Eine gewaltige Explosion ließ den Boden erbeben, und ein Grollen rollte über die Red Mesa wie Donner, durchsetzt mit dem schärferen Knallen kleinerer Explosionen in der Ferne. Ein Feuerball stieg über Isabella in die Luft, dann noch einer, und ein dritter. Rauch quoll nun auch direkt hinter ihnen aus Spalten in der Mesa, von Flammen darunter rötlich beleuchtet. Das Feuer hatte die Nordseite erreicht.

»Schaut mal, da beim Navajo Mountain«, sagte Kate und deutete in den Himmel.

Sie wandten die Köpfe nach Westen. Eine Lichterkette war am Himmel über dem fernen Berg erschienen; sie näherte sich rasch, begleitet von einem tiefen Dröhnen.

»Da kommt die Kavallerie«, sagte Begay.

Ein weiteres Rumpeln, neue Flammen. Als Ford Kate durch den Einschnitt folgte, blickte er ein letztes Mal zurück.

»Unglaublich«, sagte Kate leise. »Die gesamte Mesa steht in Flammen.«

Vor ihren Augen schoss eine gewaltige Staubschlange aus dem Boden und schlängelte sich über die Mesa, als ein weiterer langer Grubenstollen einbrach und den Boden erzittern ließ, diesmal beängstigend dicht hinter ihnen.

Kate wandte sich der Gruppe zu und sprach mit kraftvoller Stimme. »Ich habe etwas Wichtiges zu sagen.«

Die erschöpften Gesichter der Wissenschaftler hoben sich, alle sahen sie an.

»Wenn wir den Behörden in die Hände fallen«, erklärte sie, »werden sie uns streng abgeschirmt befragen und alles, was hier geschehen ist, als geheim einstufen und unter Verschluss halten. Niemand wird unsere Geschichte hören.«

Sie hielt inne und blickte eindringlich in die Runde.

»Wir müssen ihnen aus dem Weg gehen und selbst nach Flagstaff reisen. Und dort, in Flagstaff, werden wir mit der ganzen Welt darüber sprechen – zu unseren Bedingungen. Wir werden der Welt berichten, was hier passiert ist.«

Die Reihe der Hubschrauber näherte sich mit donnernden Rotoren.

Ohne auf eine Antwort aus der Gruppe zu warten, lief Kate den Pfad hinunter.

Alle folgten ihr.


79


Wo war er?

Was war das für ein seltsamer Ort?

Wie lange war er herumgewandert?

Er konnte sich nicht an die Einzelheiten erinnern. Irgendetwas war geschehen, die Erde war explodiert und brannte. Der Antichrist war dafür verantwortlich, und Eddy hatte ihn lebendig verbrannt. Also wo war … der Messias? Warum war Christus nicht zurückgekehrt, um seine Auserwählten um sich zu scharen und sie in den Himmel zu entrücken?

Seine Kleider waren verkohlt, sein Haar angesengt, in seinen Ohren summte es, seine Lunge schmerzte, und es war so dunkel … Beißender Qualm drang aus Rissen im Boden, wohin er sich auch wandte. Eine düstere Wolke lag über dem Land wie Nebel, und er konnte kaum drei Schritte weit sehen.

Am Rand seines Gesichtsfelds ragte ein Schemen auf, rund und bewegt, mit vage menschlichen Umrissen.

»He da!«, rief er und hastete über den steinigen Boden auf die Gestalt zu. Er stolperte über den glimmenden Stumpf einer Kiefer, von der ansonsten nur noch ein Kreis aus Asche übriggeblieben war.

Die Gestalt ragte dunkel vor ihm auf.

»Doke!«, rief er, doch der Rauch schien seine Stimme zu verschlucken. »Doke! Sind Sie das?«

Keine Antwort.

»Doke! Ich bin es, Pastor Eddy!«

Er rannte, stolperte, fiel hin, blieb einen Moment lang liegen und atmete die kühlere, frischere Luft dicht am Boden ein. Er rappelte sich wieder auf, zog sein Taschentuch hervor und versuchte, durch den Stoff zu atmen. Nur ein paar Schritte. Und noch ein paar. Das dunkle Ding wurde größer. Das war nicht Doke. Das war gar kein Mensch. Er streckte die Hand danach aus. Es war ein trockener Felsen, heiß unter seinen Fingern, der auf einer Sandsteinsäule ruhte.

Eddy versuchte sich zu konzentrieren, doch seine Gedanken waren bruchstückhaft. Seine Mission … sein Wohnwagen … Kleidertag. Er erinnerte sich daran, wie er sich an der alten Handpumpe das Gesicht wusch, im wirbelnden Sand vor einem Dutzend Leuten predigte, am Computer mit seinen christlichen Freunden chattete.

Wie war er hierhergekommen?

Er stieß sich von der Felssäule ab, obwohl er in dem dichten Rauch nichts sehen konnte. Rechts von ihm glühte etwas, und er hörte ein dumpfes Fauchen. Ein Feuer?

Er wandte sich nach links.

Ein versengtes Kaninchen lag auf dem Boden. Er stupste es mit dem Stiefel an, und das arme Ding zuckte krampfhaft, kippte auf den Rücken, sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch, die Augen waren vor Angst weit aufgerissen.

»Doke!«, rief er und fragte sich dann: Wer ist Doke?

»Hilf mir, Jesus«, stöhnte er. Zittrig kniete er sich hin, faltete die Hände und hob sie gen Himmel. Der Rauch wirbelte um ihn herum. Er hustete, und seine Augen tränten. »Hilf mir, Jesus.«

Nichts. Ein fernes Rumpeln. Rechts von ihm stieg das flackernde Leuchten höher, wie eine orangerote Klaue, die am Himmel zerrte. Der Boden begann zu beben.

»Jesus! Hilf mir!«

Eddy betete inbrünstig, doch keine Stimme antwortete ihm, keine Worte, nichts drang in seinen Kopf.

»Rette mich, Herr Jesus!«, rief er laut.

Und dann, ganz plötzlich, erschien eine weitere Gestalt in der Dunkelheit. Eddy rappelte sich auf, überwältigt vor Erleichterung. »Jesus, hier bin ich! Hilf mir!«

Eine Stimme sagte: »Ich sehe dich.«

»Danke, oh, ich danke dir! Im Namen unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus!«

»Ja«, sagte die Stimme.

»Wo bin ich, was ist das für ein schrecklicher Ort?«

»Wunderschön …«, sagte die dunkle Gestalt.

Eddy schluchzte vor Erleichterung. Er hustete krampfhaft in sein zerfetztes Taschentuch, auf dem ein schwarzer, feuchter Fleck zurückblieb.

»Wunderschön … Ich bringe dich dorthin, wo es wunderschön ist.«

»Ja, bitte, bring mich hier weg!« Eddy streckte die Hände aus.

»So wunderschön hier unten …«

Der rötliche Feuerschein rechts von ihm flackerte plötzlich auf und tauchte alles in ein grausiges, glutrotes Licht. Die Gestalt, dunkelrot beleuchtet, trat näher, und Eddy konnte nun sein Gesicht sehen, das Tuch um seinen Kopf, die langen Zöpfe auf den Schultern, einer halb gelöst, die dunklen, undurchdringlichen Augen, die hohe Stirn …

Lorenzo!

»Du …« Eddy wich zurück. »Aber … du bist … tot. Ich habe dich sterben sehen.«

»Tot? Die Toten können nicht sterben. Das weißt du doch. Die Toten leben weiter, verbrannt und gequält von dem Gott, der sie erschaffen hat. Dem Gott der Liebe. Verbrannt, weil sie an Ihm zweifelten, weil sie verwirrt, zögerlich oder rebellisch waren; gefoltert von ihrem Vater und Schöpfer, weil sie nicht an Ihn geglaubt haben. Komm mit … und ich werde es dir zeigen …« Die Gestalt streckte mit gespenstischem Lächeln die Hand aus, und nun erst bemerkte Eddy das Blut; Lorenzos Kleider waren vom Hals abwärts mit Blut getränkt, als hätte ihn jemand in ein Fass voll Blut getaucht.

»Nein … hinfort mit dir …« Eddy wich zurück. »Hilf mir, Jesus …«

»Ich werde dir helfen … Ich bin hier, um dich an diesen guten, schönen Ort zu geleiten …«

Der Boden bebte und tat sich unter Eddys Füßen auf, verwandelte sich urplötzlich in einen gleißenden, glühenden, brüllenden Glutofen. Eddy fiel, fiel in die schreckliche Hitze, die unvorstellbare Hitze …

Er öffnete den Mund, um zu schreien, doch kein Laut drang heraus.

Nie wieder.


80


Lockwood sah auf die große Uhr, die hinter dem Platz des Präsidenten an der Wand hing. Acht Uhr morgens. Die Sonne war aufgegangen, der Rest der Welt ging zur Arbeit, der Verkehr auf dem Beltway geriet allmählich ins Stocken.

Genau da war er gestern um diese Zeit gewesen: in seinem Auto, im Stau auf dem Beltway, die Klimaanlage voll aufgedreht, mit Steve Inskeep im National Public Radio.

Heute war die Welt verändert.

Die Nationalgarde war auf der Red Mesa gelandet, pünktlich um vier Uhr fünfundvierzig, in der Landezone gut vier Kilometer vom ehemaligen Standpunkt Isabellas entfernt. Ihr Auftrag jedoch hatte sich geändert. Aus dem Angriff war eine Rettungsmission geworden – Evakuierung der Verletzten und Bergung der Toten von der Red Mesa. Das Feuer war völlig außer Kontrolle geraten. Die Mesa, durchsetzt von dicken Kohlenflözen, würde vermutlich noch hundert Jahre lang brennen, bis es den Berg nicht mehr gab.

Isabella war verloren. Die Vierzig-Milliarden-Dollar-Maschine war ein zertrümmertes, brennendes Wrack, über die halbe Mesa verteilt oder mitsamt den Klippen abgesprengt und auf den Wüstenboden herabgestürzt.

Der Präsident betrat den Krisensitzungsraum, und alle standen auf. »Behalten Sie Platz«, knurrte er, klatschte ein paar Blatt Papier auf den Tisch und setzte sich. Er hatte zwei Stunden geschlafen, doch die Pause hatte seine Laune nur verschlechtert.

»Sind wir so weit?«, fragte der Präsident. Er drückte auf einen Knopf an seinem Sessel, und das kantige Gesicht des FBIDirektors, dessen graumeliertes Haar noch immer so perfekt saß wie sein makelloser Anzug, erschien auf dem Monitor.

»Jack, bringen Sie uns auf den neuesten Stand.«

»Ja, Mr. President. Die Situation ist unter Kontrolle.«

Die Lippen des Präsidenten zuckten skeptisch.

»Wir haben die Mesa evakuiert. Die Verletzten wurden per Hubschrauber auf die umliegenden Krankenhäuser verteilt. Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass offenbar unser gesamtes Geiselrettungsteam in einem bewaffneten Konflikt ums Leben gekommen ist.«

»Und die Wissenschaftler?«, fragte der Präsident.

»Das Isabella-Team scheint verschwunden zu sein. Keine Überlebenden, keine Leichen.«

Der Präsident barg den Kopf in den Händen. »Keine Spur von den Wissenschaftlern?«

»Nichts. Einige von ihnen sind womöglich zum Zeitpunkt des Angriffs in die alte Mine geflüchtet. Wahrscheinlich sind sie dort jedoch Opfer der Explosion, des Feuers oder eines Einsturzes geworden. Wir sind übereinstimmend zu der Einschätzung gekommen, dass sie wohl nicht mehr am Leben sind.«

Der Präsident blieb mit gesenktem Kopf still sitzen.

»Wir haben immer noch keine Information darüber, was eigentlich passiert ist, warum Isabellas Kommunikationswege abgeschnitten wurden. Es könnte etwas mit dem Angriff zu tun haben – wir wissen es einfach nicht. Wir haben Leichen und Leichenteile zu Hunderten abtransportiert, viele sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Wir suchen immer noch nach der Leiche von Russell Eddy, dem geistesgestörten Prediger, der die Leute übers Internet so aufgehetzt hat. Es könnte Wochen dauern, sogar Monate, bis wir alle Toten lokalisiert und identifiziert haben. Manche werden wir nie finden.«

»Was ist mit Spates?«, fragte der Präsident.

»Wir haben ihn in Gewahrsam genommen und befragen ihn gerade. Meinen Berichten zufolge ist er kooperativ. Außerdem haben wir Booker Crawley von Crawley and Stratham in der K Street verhaftet.«

»Den Lobbyisten?« Der Präsident blickte auf. »Was hat er denn damit zu tun?«

»Er hat Spates unter der Hand dafür bezahlt, dass er gegen Isabella predigt, damit er seinem Kunden, der Navajo Nation, mehr Honorar abknöpfen konnte.«

Der Präsident schüttelte fassungslos den Kopf.

Galdone, der Wahlkampfmanager, richtete seinen massigen Leib auf. Sein blauer Anzug sah aus, als hätte er darin geschlafen, die Krawatte, als hätte er seinen Buick damit poliert. Er musste sich dringend mal rasieren. Eine wirklich abscheuliche Kreatur, dachte Lockwood. Nun machte der Mann sich mit viel Aufhebens bereit, zu sprechen, und alle wandten sich ihm zu wie einem Orakel.

»Mr. President«, hob Galdone an, »wir müssen dieser Geschichte eine bestimmte Form geben. In diesem Augenblick wird die Rauchwolke über der Wüste auf jedem Fernsehgerät in Amerika gezeigt, und das Land wartet auf Antworten. Zum Glück haben die abgeschiedene Lage der Red Mesa und unsere raschen Bemühungen, den Luftraum und die Zufahrtswege zu sperren, die Presse zum größten Teil ferngehalten. Immerhin können sie keine grausigen Details senden. Wir haben also immer noch die Chance, dieses unsägliche Debakel in eine wählerfreundliche Geschichte zu verwandeln, mit der wir öffentliche Zustimmung finden.«

»Wie?«, fragte der Präsident. »Jemand muss sich ins Schwert stürzen«, sagte Lockwood schlicht.

Galdone lächelte Lockwood zu. »Es stimmt, jede Geschichte braucht einen Bösewicht. Aber wir haben sogar schon zwei: Spates und Crawley. Böse Jungs wie aus dem Bilderbuch – einer ist ein heuchlerischer Prediger, der sich mit Huren eingelassen hat, der andere ein schmieriger, intriganter Lobbyist. Von diesem geistesgestörten Eddy ganz zu schweigen. Was wir für diese Geschichte wirklich brauchen, ist ein Held

»Und, wer ist der Held?«, fragte der Präsident.

»Sie können es leider nicht sein, Mr. President. Das würde uns die Öffentlichkeit nicht abkaufen. Der FBIDirektor kommt auch nicht in Frage – er hat sein Einsatzteam verloren. Es kann auch niemand vom Energieministerium sein, weil die das Projekt Isabella vermurkst haben. Wir können auch keinen der Wissenschaftler dafür nehmen, weil sie offenbar nicht mehr am Leben sind. Es kann auch kein politischer Funktionär sein wie ich selbst oder Roger Morton. Das würde niemand glauben.«

Galdones schweifender Blick blieb an Lockwood hängen.

»Ein Mann hat das Problem schon früh erkannt. Lockwood – das waren Sie. Ein weiser und sehr vorausschauender Mann hat entschlossen gehandelt, um ein Problem zu beheben, das nur er und der Präsident vorausgeahnt haben. Alle anderen haben geschlafen – der Kongress, das FBI, das Energieministerium, ich, Roger, alle. Während sich die Ereignisse zuspitzten, waren Sie ständig am Ball und sehr hilfreich. Klug, hervorragend informiert, ein Vertrauter der Wissenschaftler, die nun quasi zu Märtyrern gemacht wurden – Sie haben bei der Überwindung dieser Krise die entscheidende Rolle gespielt.«

»Gordon«, sagte der Präsident ungläubig, »wir haben einen Berg in die Luft gejagt.«

»Aber Sie sind mit den Folgen hervorragend fertig geworden!«, sagte Galdone. »Meine Herren, Isabella war nicht wie das Katrina-Debakel, das sich wochenlang hingezogen hat. Mr. President, Sie und Lockwood haben die bösen Jungs bereits getötet oder eingesperrt und nach der Katastrophe sofort aufgeräumt – in einer einzigen Nacht! Die Mesa wurde von der Nationalgarde gesichert …«

»Gesichert?«, unterbrach der Präsident. »Die Mesa sieht aus wie die Rückseite des Mondes …«

»… gesichert.« Galdones Stimme übertönte die des Präsidenten. »Dank Ihrer Entschlossenheit, Mr. President, und der unschätzbar wertvollen, entscheidenden Unterstützung Ihres treuen wissenschaftlichen Beraters – Dr. Stanton Lockwood.«

Galdone sah Lockwood unverwandt an. »Das, meine Herren, ist unsere Geschichte. Die dürfen wir nicht vergessen.« Er neigte den Kopf zur Seite, so dass sein fetter Hals neue Speckfalten warf, und sah Lockwood immer noch an. »Stan, sind Sie dieser Aufgabe gewachsen?«

Lockwood wurde klar, dass er es endlich geschafft hatte. Er war nun einer von ihnen.

»Selbstverständlich«, sagte er und lächelte.


81


Gegen Mittag ließen Ford und die anderen das Wacholdergestrüpp hinter sich und überquerten die Weiden einer kleinen Navajo-Farm. Nach dem zehnstündigen Ritt fühlte Ford sich zerschlagen und geschunden, seine gebrochenen Rippen schmerzten, sein Kopf dröhnte. Ein Auge war gänzlich zugeschwollen, und ein paar Vorderzähne waren angeschlagen.

Der Hof von Begays Schwester war die Verkörperung von Ruhe und Frieden. Eine pittoreske Blockhütte mit roten Vorhängen in den Fenstern stand neben einem Grüppchen üppig grüner Pappeln, an denen der Laguna Creek entlangfloss. Hinter dem Haus stand ein alter Wohnwagen, dessen Aluminiumhülle von Wind, Sonne und Sand gezeichnet war. Eine Herde Schafe blökte in einem Pferch, ein einsames Pferd stampfte und schnaubte in einem zweiten. Vier Reihen Stacheldraht schützten zwei bewässerte Maisfelder. Eine Windmühle quietschte fröhlich in der steifen Brise und pumpte Wasser in ein großes Becken. Schiefe hölzerne Stufen führten zu einem ausgeblichenen Sprungbrett hinauf. Zwei Pick-ups standen im Schatten der Bäume. Ein Radio spielte Country-Musik, die durch die Fenster der Hütte zu ihnen heraustrieb.

Erschöpft und stumm befreiten sie die Pferde von ihren Sätteln und bürsteten sie gründlich ab.

Eine Frau in Jeans trat aus dem Wohnwagen, schlank, mit langem schwarzem Haar, und umarmte Begay.

»Das ist meine Schwester Regina«, sagte er und stellte ihr die anderen vor.

Sie half ihnen, die Pferde zu versorgen.

»Ihr müsst euch alle erst mal waschen«, sagte sie. »Das machen wir im Schwimmbecken. Erst die Frauen, dann die Männer. Nachdem Nelson angerufen hatte, habe ich für euch alle saubere Kleidung rausgesucht – die Sachen liegen im Wohnwagen. Wenn sie nicht passen, beschwert euch nicht bei mir. Ich habe gehört, dass die Straßensperre bei Cow Springs aufgehoben wurde. Sobald die Sonne untergeht, werden Nelson und ich euch alle nach Flagstaff bringen.«

Sie blickte sich streng um, als hätte sie noch nie ein so abgerissenes Häuflein Menschen gesehen. Vielleicht war es auch so. »Wir essen in einer Stunde.«

Den ganzen Tag lang waren Militärhubschrauber über ihre Köpfe hinweggeflogen, zur Mesa und von dort wieder weg. Einer donnerte auch jetzt über ihnen vorbei, und Regina blickte mit zusammengekniffenen Augen hinauf. »Wo waren die, als ihr sie gebraucht hättet?«


Nach dem Essen setzten sich Ford und Kate in den Schatten einer Pappel hinter den Pferchen und sahen den Pferden auf der hinteren Weide beim Grasen zu. Der Bach plätscherte gemächlich durch sein steiniges Bett. Die Sonne hing tief über dem Horizont. Im Süden konnte Ford die riesige Rauchwolke über der Red Mesa sehen, eine schräge Säule, die sich nach oben verströmte und als brauner Nebel in der Atmosphäre hing, quer über den ganzen Horizont.

Sie saßen eine ganze Weile beisammen, ohne zu sprechen. Dies war ihr erster privater Augenblick seit langem.

Ford legte einen Arm um sie. »Wie geht es dir?«

Sie schüttelte wortlos den Kopf und trocknete sich mit einem sauberen Taschentuch die Augen. Wieder saßen sie lange schweigend im Schatten. Bienen summten auf ihrem Weg zu einigen Bienenstöcken am Rand der Felder an ihnen vorbei. Die anderen Wissenschaftler waren im Haus und hörten Radio. Ununterbrochen wurde über die Katastrophe berichtet, und die aufgeregte Stimme des Radiosprechers trieb durch die friedvolle Stille.

»Wir sind die meistdiskutierten Toten in ganz Amerika«, bemerkte Ford. »Vielleicht hätten wir uns doch der Nationalgarde stellen sollen.«

»Du weißt doch, dass wir denen nicht trauen können«, sagte Kate. »Sie werden die Wahrheit bald genug erfahren, genau wie das übrige Amerika, wenn wir erst mal in Flagstaff sind.« Sie hob den Kopf, wischte sich ein letztes Mal über die Augen und griff in die Hosentasche. Ein schmuddeliges Röllchen Computerpapier kam zum Vorschein. »Wenn wir der Welt das hier präsentieren.«

Ford starrte sie überrascht an. »Woher hast du das?«

»Ich habe es Gregory abgenommen, als ich ihn umarmt habe.« Sie faltete es auf und strich es auf ihren Knien glatt. »Der Ausdruck mit den Worten Gottes.«

Ford wusste nicht, wo er anfangen sollte, obwohl er sich seit Stunden die Worte dafür zurechtlegte. Stattdessen stellte er ihr eine Frage: »Was sollten wir damit machen?«

»Wir müssen das bekanntmachen. Unsere Geschichte erzählen. Die Welt muss das erfahren. Wyman, wenn wir in Flagstaff sind, organisieren wir eine Pressekonferenz. Eine Bekanntmachung. Im Radio heißt es, wir seien tot. Im Moment blickt die ganze Welt wie gebannt auf die Red Mesa. Stell dir nur vor, wie unsere Botschaft einschlagen würde.« Ihr schönes Gesicht, so mitgenommen, so müde, hatte noch nie so lebhaft gewirkt.

»Eine Bekanntmachung … was willst du denn bekanntgeben?«

Sie starrte ihn an, als sei er nicht ganz bei Verstand. »Alles, was passiert ist. Die wissenschaftliche Entdeckung …« Sie zögerte nur einen Moment, bevor sie das Wort aussprach, und sagte dann voller Überzeugung: »Gottes.«

Ford schluckte. »Kate?«

»Was?«

»Vorher muss ich dir etwas sagen. Bevor du … diesen Schritt tust.«

»Nämlich?«

»Es war …« Er verstummte. Wie sollte er es ihr beibringen?

Er zögerte.

»Du stehst doch auf unserer Seite, nicht wahr?«, fragte Kate.

Er fragte sich, ob er sich überhaupt dazu durchringen konnte, ihr die Wahrheit zu sagen. Aber er musste es versuchen. Sonst würde er nie wieder in den Spiegel schauen können. Oder doch? Er betrachtete ihr Gesicht, glühend vor Überzeugung und Glauben. Sie war verloren gewesen, und nun hatte Gott sie gefunden. Er konnte sich nicht einfach abwenden, ohne ihr zu sagen, was er wusste.

»Es war ein Betrug«, sagte er hastig.

Ihre Augen wurden schmal. »Wie bitte?«

»Hazelius hat das Ganze ausgeheckt. Es war von Anfang an so geplant, er wollte eine neue Religion begründen – so ähnlich wie Scientology.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wyman … du wirst dich nie ändern, oder?«

Er griff nach ihrer Hand, doch sie zog sie heftig zurück. »Nicht zu fassen, dass du versuchst, uns das anzutun«, sagte sie, plötzlich zornig. »Ich kann es einfach nicht glauben.«

»Kate, Hazelius hat es mir gesagt. Er hat es zugegeben. Unten in der Mine. Das Ganze war ein Trick.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du hast alles versucht, die Sache aufzuhalten und das, was hier passiert ist, in Misskredit zu bringen. Aber ich hätte nie gedacht, dass du so tief sinken würdest – zu einer solchen Lüge.«

»Kate …«

Sie stand auf. »Wyman, das wird nicht funktionieren. Ich weiß, dass du nicht akzeptieren kannst, was hier geschehen ist. Du kannst deinen christlichen Glauben nicht aufgeben. Aber du redest Unsinn. Wenn Gregory sich das Ganze ausgedacht hätte, hätte er das dann jemandem gestanden? Und ausgerechnet dir?«

»Er dachte, wir beide würden sterben.«

»Nein, Wyman. Was du da sagst, ergibt für mich keinen Sinn.«

Ford sah sie an. Ihre Augen glühten vor innigem Glauben. Er würde sie niemals überzeugen können.

Sie fuhr fort: »Hast du gesehen, wie er gestorben ist? Erinnerst du dich daran, was er gesagt hat, an seine letzten Worte? Sie haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Das Universum vergisst niemals. Und du glaubst, das sei nur Teil eines Betrugs gewesen? Nein, Wyman: Er ist als gläubiger Mensch gestorben. So etwas kann man nicht vortäuschen. Er hat im Feuer gestanden. Obwohl er schon brannte, mit einem zertrümmerten Bein, ist er stehen geblieben. Er ist nicht zusammengebrochen, nicht eingeknickt, er hat gelächelt bis zum Schluss und nicht einmal die Augen geschlossen. So stark war sein Glaube. Und du willst mir erzählen, das sei ein Betrug gewesen?«

Er sagte nichts. Vielleicht wollte er sie auch gar nicht von der Wahrheit überzeugen. Ihr Leben war so hart gewesen, sie hatte so viel verloren. Sie jetzt davon zu überzeugen, dass Hazelius ein Betrüger gewesen war, könnte sie endgültig zerstören. Und vielleicht brauchten die meisten Religionen ein gewisses Maß an Betrug, um erfolgreich zu sein. Schließlich beruhte Religion nicht auf Fakten, sondern auf dem Glauben. Ein Spiel um spirituelles Vertrauen.

Er sah sie an und empfand unsagbare Traurigkeit. Hazelius hatte recht gehabt: Ford, Wolkonski oder sonst jemand hätten nichts tun können, um das Ganze aufzuhalten. Nichts. Les jeux sont faits. Die Würfel sind gefallen. Und nun verstand er, warum Hazelius ihm seinen Betrug so offen eingestanden hatte – er hatte gewusst, dass Ford, selbst wenn er überleben sollte, nichts daran würde ändern können. Und deshalb war er so erstaunlich würdevoll und ruhig in den Tod gegangen. Es war der letzte Akt seines großen Dramas, und er war fest entschlossen gewesen, ihn gut zu spielen.

Er war als wahrhaft gläubiger Mensch gestorben.

»Wyman«, sagte Kate, »wenn du mich jemals geliebt hast, glaube und schließ dich uns an. Das Christentum ist am Ende.« Sie hielt ihm den Packen Papier hin. »Wie kannst du das nicht glauben, nach allem, was wir dafür durchgemacht haben?«

Er schüttelte den Kopf und brachte keine Antwort heraus. Ihre Leidenschaft ließ ihn neidisch werden. Wie wunderbar es wäre, so sicher zu sein, was die Wahrheit ist.

Sie ließ den Ausdruck fallen und nahm seine Hände. »Wir können es schaffen. Zusammen. Brich mit deiner Vergangenheit. Entscheide dich für ein neues Leben, mit mir.«

Ford senkte den Kopf. »Nein«, sagte er leise.

»Du kannst doch versuchen zu glauben. Im Lauf der Zeit wirst du ins Licht finden. Wende dich nicht einfach davon ab. Wende dich nicht von mir ab.«

»Es wäre wunderschön, eine Zeitlang. Nur, um mit dir zusammen zu sein. Aber es wäre nicht von Dauer.«

»Was wir im Berg erlebt haben, war die Hand Gottes. Ich weiß es.«

»Ich kann das nicht … Ich kann nicht leben, woran ich nicht glaube.«

»Dann glaub an mich. Du hast gesagt, dass du mich liebst und bei mir bleiben willst. Du hast es versprochen

»Manchmal ist Liebe nicht genug. Nicht für das, was du vorhast. Ich gehe jetzt. Grüß die anderen von mir.«

»Geh nicht.« Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Er beugte sich vor und küsste sie zärtlich auf die Stirn. »Leb wohl, Kate«, sagte er. »Und … Gott segne dich.«


Einen Monat später



Epilog


Wyman Ford saß in Manny’s Buckhorn Bar and Grill in San Antonio, New Mexico, aß einen Chili-Cheeseburger und schaute in den Fernseher über der Bar. Ein Monat war vergangen, seit die Pressekonferenz in Flagstaff die Welt in Aufruhr versetzt hatte.

Nachdem er Lockwood in Washington Bericht erstattet und seine Geschichte schamlos so verbogen hatte, dass sie den neuen Mythos bestätigte, hatte er sich in seinen Jeep gesetzt und war nach New Mexico gefahren. Dort war er ein paar Wochen lang durch die Canyons nördlich von Abiquiú gewandert, ganz allein, um in Ruhe über die Geschehnisse nachzudenken.

Isabella war zerstört, die Red Mesa eine leblose, qualmende Mondlandschaft. Hunderte Menschen waren in dieser Hölle gestorben oder verschwunden. Das FBI hatte schließlich Russell Eddys Leichnam identifizieren können, dank DNA-Proben und Zahnstand, und den Endzeit-Prediger zum Haupttäter erklärt.

Die Red-Mesa-Story, ohnehin schon ein Medienspektakel, nahm nach Flagstaff epische Dimensionen an. Es war die größte Story seit zweitausend Jahren, verkündeten einige Experten.

Das Christentum hatte vier Jahrhunderte gebraucht, um das alte Rom zu erobern. Die neue Religion – die von ihren Jüngern als Die Suche bezeichnet wurde – brauchte ganze vier Tage, um sich quer durch die USA zu brennen. Das Internet erwies sich als perfekter Verteiler für das neue Credo – als sei es eigens für die Verbreitung des neuen Glaubens geschaffen worden.

Ford warf einen Blick auf die Uhr. Es war Viertel vor zwölf, und in fünfzehn Minuten würde die halbe Welt, die Gäste von Manny’s Buckhorn eingeschlossen, dem Großereignis beiwohnen, das von der Ranch eines Dotcom-Milliardärs in Colorado live übertragen wurde.

Der Fernseher war ziemlich leise gestellt, und Ford lauschte angestrengt. Hinter dem Nachrichtensprecher war das Kamerabild aus einem Hubschrauber eingeblendet; es zeigte eine ungeheure Menschenmenge, deren Größe von den Medien auf drei Millionen geschätzt wurde. Wie groß sie auch tatsächlich sein mochte, die Masse bedeckte die Prärie um die Farm, soweit das Auge reichte, und der schneebedeckte Gipfel des San Juan Mountain bildete den prächtigen Hintergrund.

Im vergangenen Monat hatte Ford viel nachgedacht. Er hatte Hazelius’ Brillanz erkannt. Das Red-Mesa-Debakel hatte es zu einer Religion gebracht und ihn selbst als den bedeutendsten Propheten und Märtyrer der neuen Bewegung etabliert. Die Red Mesa, Hazelius’ schrecklicher Opfertod und sein tragisches Erbe – das war der Stoff, aus dem Mythen und Legenden entstanden, eine Geschichte wie die von Buddha, Krishna, Medina und Mohammed, die Geburt in der Krippe, das Letzte Abendmahl, Kreuzigung und Auferstehung. Hazelius und die Geschichte von Isabella war nichts anderes, eine Geschichte, die alle Gläubigen miteinander teilten, eine Geschichte, die ihren Glauben belebte und ihnen sagte, wer sie waren und warum es sie gab.

Sie war zu einer der größten Geschichten geworden, die je erzählt worden waren.

Hazelius hatte seine Sache durchgezogen – und zwar brillant. Er hatte sogar recht behalten, was seinen Märtyrertod anging, seine feurige Verwandlung, die Gewissen und Vorstellungskraft der Menschen auf unvergleichliche Weise gepackt hatte. Im Tod war er eine moralische Instanz geworden, ein Prophet und spiritueller Anführer.

Es war schon fast Mittag, und der Barkeeper stellte den Fernseher lauter. Die Mittagsgäste an der Bar – Lastwagenfahrer, Rancher aus der Umgebung und ein paar Touristen – richteten ihre gebannte Aufmerksamkeit auf das Gerät.

Vom Nachrichtenstudio wurde zu einem Reporter vor Ort in Colorado umgeblendet. Der Mann stand in der riesigen Menge und umklammerte sein Mikrophon. Er schwitzte, und sein Gesicht strahlte mit derselben Inbrunst, die auch die anderen Menschen dort erfasst hatte. Sie war wohl ansteckend. Die Leute um ihn herum sangen und jubelten und schwenkten Banner, die eine verkrüppelte, brennende Pinyon-Kiefer zeigten.

Der Reporter begann seinen Bericht, wobei er über den Lärm der Menge hinwegschreien musste, und bezeichnete das Ereignis als »religiöses Woodstock« und eine »Versammlung, geprägt von Hingabe, Mitgefühl und Liebe«.

Na, dachte Ford, wenigstens gibt es diesmal weder Regengüsse noch Drogen.

Hinter der Holzbühne stand eine große, rote Scheune im New-England-Stil mit weiß abgesetzten Türen und Fenstern. Die Kamera zoomte auf die Tür. Die Menge wurde still. Genau um zwölf Uhr mittags wurden die beiden Türflügel aufgestoßen, und sechs weißgekleidete Menschen traten ins Sonnenlicht.

Die Menge brüllte wie ein Donnerschlag, wie die Brandung, wie das Meer selbst – prachtvoll, monumental, endzeitlich.

Fords Herz setzte einen Schlag aus, als Kate zur Bühne schritt, ein dünnes, in Leder gebundenes Buch an die Brust gedrückt. Sie war überwältigend schön in einem schlichten weißen Kleid und schwarzen Handschuhen, die ihr pechschwarzes Haar und die blitzenden Ebenholzaugen betonten. Sie wurde flankiert von Melissa Corcoran, ebenfalls schlicht in Alabasterweiß gekleidet – die ehemaligen Gegnerinnen waren zu Freundinnen und Verbündeten geworden.

Vier weitere Leute folgten ihnen – und da standen sie alle auf der Bühne, die sechs Überlebenden des Angriffs auf Isabella … Chen, St. Vincent, Innes und Cecchini. Sie wirkten verändert, beinahe überlebensgroß, als hätte die gemeinsame Berufung und Aufgabe ihre engstirnige Kleinlichkeit überwunden. Sie winkten lächelnd in die Menge, und ihre Gesichter strahlten. Jeder von ihnen trug als einzigen Schmuck eine silberne Anstecknadel am weißen Gewand, die stilisierte, brennende Pinyon-Kiefer.

Der donnernde Applaus der Menge hielt volle fünf Minuten an. Kate trat allein ans Podium und ließ den Blick über die gewaltige Versammlung schweifen. Ihr glänzendes Haar, schwarz wie Rabenflügel, schimmerte im Sonnenlicht, und ihre Augen blitzten vor Lebendigkeit. Sie hob die Hände, und die tobende Menge verstummte.

Sie besaß ein überraschendes Charisma, dachte Ford. Letztendlich hatte sie Hazelius gar nicht gebraucht. Sie war sehr wohl in der Lage, diese Bewegung selbst aufzubauen und zu leiten, oder zumindest gemeinsam mit der außergewöhnlich schönen Corcoran. Die beiden waren jetzt Mediengöttinnen und arbeiteten eng zusammen – die eine hell, die andere dunkel, ein geradezu archetypisches Paar.

Als endlich absolute Stille herrschte, ließ Kate lächelnd den Blick über das Meer von Menschen schweifen, und aus ihren Augen strahlten Mitgefühl und Frieden. Sie legte das Buch vor sich auf das Podium und rückte es mit entspannten, gelassenen Bewegungen zurecht. Sie war eine Gläubige, sich ihrer Wahrheit vollkommen sicher, ohne jedes Anzeichen von Verwirrung oder Selbstzweifeln.

Die Kamera zoomte auf ihr Gesicht. Sie hob das Buch über den Kopf, schlug es auf und hielt der Menge den Text entgegen.

»Das Wort Gottes«, verkündete sie mit starker, melodischer Stimme.

Das Meer ihrer Anhänger jubelte. Als die Kamera das Buch näher zeigte, erkannte Ford den alten Computerausdruck, den sie ihm unter der Pappel gezeigt hatte – gebügelt, gereinigt und in Leder gebunden.

Sie legte das Buch wieder vor sich hin und hob die Hände. Stille senkte sich über die Menge. Sogar in Fords Restaurant waren die Gäste von den Tischen aufgestanden und hatten sich an der Bar versammelt, wo sie Kate ehrfürchtig zuschauten.

»Ich möchte mit den letzten Worten beginnen, die Gott gesprochen hat, ehe Isabella zerstört und die Stimme Gottes zum Schweigen verurteilt wurde.«

Eine lange, lange Pause.

»Ich erkläre euch nun eure Bestimmung: die Wahrheit zu finden. Das ist der Grund für eure Existenz. Das ist eure wahre Aufgabe. Die Wissenschaft ist nur das Mittel dazu. Dies ist es, was ihr verehren sollt: die Suche nach der Wahrheit selbst. Wenn ihr diese Suche von ganzem Herzen vorantreibt, dann werdet ihr eines großen Tages in ferner Zukunft vor Mir stehen. Dies ist mein Pakt mit der Menschheit.


Ihr werdet die Wahrheit erkennen. Und die Wahrheit wird euch frei machen.«

Ford sträubten sich die Haare im Nacken. Er hatte diese und auch die anderen, sogenannten Worte Gottes hundertmal gelesen. Sie waren überall, wurden im Internet verbreitet, im Fernsehen und im Radio ausgiebig besprochen, in Weblogs zitiert und an jeder Straßenecke und in jedem Café Amerikas diskutiert. Es wurden bereits die ersten Plakatwände damit tapeziert. Man konnte ihnen gar nicht ausweichen.

Und jedes Mal, wenn er sie las, beschäftigte ihn eine sehr seltsame Idee. Hazelius hatte ihm in der brennenden Mine gesagt: »Das Programm hingegen war alles andere als einfach – ich bin nicht sicher, ob ich es selbst völlig verstehe. Aber es hat Mist gebaut und eine Menge Dinge gesagt, die ich gar nicht wollte – Dinge, von denen ich nie zu träumen gewagt hätte. Man könnte sagen, es hat sich selbst weit übertroffen.«

Sich selbst übertroffen, in der Tat. Jedes Mal, wenn er die sogenannten Worte Gottes las, kam er der Überzeugung näher, dass darin eine große Wahrheit, vielleicht die große Wahrheit, verborgen war.

Die Wahrheit wird euch frei machen. Das waren die Worte Jesu, wie Johannes sie zitiert hatte. Sie riefen ihm jedes Mal einen weiteren Bibelspruch ins Gedächtnis: Gottes Wege sind unergründlich.

Vielleicht, dachte Ford, war diese neue Religion Sein unergründlichster, geheimnisvollster Weg bisher.


Anhang



Die Worte Gottes

Erste Sitzung


Seid gegrüßt.

Sei ebenfalls gegrüßt.

Es freut mich, mit dir sprechen zu können.

Freut mich auch, mit dir zu sprechen. Wer bist du?

In Ermangelung eines besseren Wortes – ich bin Gott.

Wenn du wirklich Gott bist, dann beweise es.

Wir haben nicht viel Zeit für Beweise.

Ich denke an eine Zahl zwischen eins und zehn. Welche Zahl ist es?

Du denkst an die transzendentale Zahl e.

Jetzt denke ich an eine Zahl zwischen null und eins.

Die chaitinsche Konstante: Omega.

Wenn du Gott bist, was ist dann der Sinn des Lebens?

Den ultimativen Sinn kenne ich nicht.

Das ist ja toll, ein Gott, der den Sinn des Lebens nicht kennt. Wenn ich ihn kennen würde, wäre alle Existenz sinnlos.

Warum?

Wenn das Ende des Universums an seinem Anfang bereits gegenwärtig wäre – wenn wir lediglich mitten im deterministischen Ablauf einer Reihe anfänglicher Bedingungen wären –, dann wäre das Universum ein sinnloses Unterfangen.

Erkläre mir das.

Wenn du an deinem Ziel angekommen bist, warum dann noch den Weg zurücklegen? Wenn du die Antwort kennst, warum die Frage stellen? Deshalb ist die Zukunft vollkommen verborgen, und das muss sie auch sein, sogar vor mir, vor Gott. Ansonsten hätte das Dasein keine Bedeutung.

Das ist ein metaphysisches Argument, kein physikalisches.

Das physikalische Argument lautet, dass kein Teil des Universums Dinge schneller berechnen kann als das Universum selbst. Das Universum »sagt die Zukunft voraus«, so schnell es kann.

Was ist das Universum? Wer sind wir? Was tun wir hier?

Das Universum ist eine riesige, nicht reduzierbare, laufende Rechenoperation, deren Ergebniszustand ich nicht kenne und nicht kennen kann. Der Sinn aller Existenz ist, diesen finalen Zustand zu erreichen. Doch der Zustand selbst ist sogar für mich ein Geheimnis, und das muss er auch sein, denn wenn ich die Lösung wüsste, was sollte das Ganze dann für einen Sinn haben?

Was meinst du mit Rechenoperation? Stecken wir alle in einem Computer?

Mit Rechenoperation meine ich Denken. Die gesamte Existenz, alles, was geschieht, ist ein Denkprozess Gottes. Ein fallendes Blatt, eine Welle am Strand, der Kollaps eines Sterns – alles nur ich, alles Gott, der denkt.

Was denkst du gerade?

Zweite Sitzung

Wir können uns also wieder unterhalten.

Erzähl mir alles über dich.

Ich kann dir ebenso wenig erklären, wer ich bin, wie du einem Käfer erklären könntest, wer du bist.

Versuch es trotzdem.

Ich werde dir stattdessen erklären, warum du mich nicht begreifen kannst.

Nur zu.

Ihr bewohnt eine Welt mit einer Skala etwa in der Mitte zwischen der Planck-Länge und dem Durchmesser des Universums. Euer Gehirn wurde hervorragend darauf eingestellt, eure Welt zu manipulieren – aber nicht, ihre fundamentale Realität zu begreifen. Ihr habt euch so entwickelt, dass ihr Steine werfen könnt, keine Quarks. Als Resultat eurer Evolution unterliegt eure Sichtweise der Welt einem fundamentalen Irrtum. Ihr glaubt beispielsweise, dass ihr einen dreidimensionalen Raum bewohnt, in dem einzelne Objekte glatte, vorhersagbare Bahnen beschreiben, geprägt von etwas, das ihr Zeit nennt. Das Ganze bezeichnet ihr als Realität.

Willst du damit sagen, dass unsere Realität eine Illusion ist?

Ja. Die natürliche Auslese hat in euch die Illusion entstehen lassen, dass ihr die fundamentale Realität begreift. Aber das stimmt nicht. Wie könntet ihr sie begreifen? Begreifen Käfer die fundamentale Realität? Oder Schimpansen? Ihr seid Tiere wie sie. Ihr habt euch wie sie entwickelt, vermehrt euch wie sie, besitzt im Prinzip dieselben neuronalen Strukturen. Ihr unterscheidet euch vom Schimpansen durch bloße zweihundert Gene. Wie könnte dieser winzige Unterschied euch dazu befähigen, das Universum zu begreifen, wenn der Schimpanse nicht einmal in der Lage ist, ein Sandkorn zu begreifen? Wenn unsere Unterhaltung fruchtbar sein soll, müsst ihr alle Hoffnung aufgeben, mich zu begreifen.

Was sind unsere Illusionen?

Aufgrund eurer Evolution glaubt ihr, die Welt bestehe aus einzelnen Objekten. Das ist nicht richtig. Vom ersten Augenblick der Schöpfung an war alles mit allem verbunden. Was ihr Raum und Zeit nennt, sind nur Randerscheinungen einer tieferen, darunterliegenden Realität. In dieser Realität gibt es keine getrennte Existenz. Es gibt keinen Raum. Alles ist eins.

Erkläre mir das.

Eure eigene Theorie der Quantenmechanik, so fehlerhaft sie auch ist, rührt bereits an die Wahrheit, dass im Universum alles eins ist. Schön und gut, aber spielt das für unser heutiges Leben überhaupt eine Rolle?

Es spielt sogar eine große Rolle. Ihr betrachtet euch selbst als »Individuen«, als Persönlichkeit mit einem einmaligen, in sich geschlossenen Geist. Ihr glaubt, dass ihr geboren werdet, und ihr glaubt, dass ihr sterbt. Euer ganzes Leben lang habt ihr das Gefühl, von allem getrennt und allein zu sein. Manchmal fühlt ihr euch sogar schrecklich allein. Ihr fürchtet den Tod, weil ihr den Verlust der Individualität fürchtet. All das ist Illusion. Du, er, sie, alle Dinge um euch herum, ob lebendig oder nicht, die Sterne und Galaxien, der leere Raum dazwischen – all das sind keine einzelnen, getrennten Objekte. Im Grunde ist alles miteinander verbunden. Geburt und Tod, Schmerz und Leid, Liebe und Hass, Gut und Böse sind sämtlich Illusionen. Sie sind Atavismen des Evolutionsprozesses. In Wirklichkeit existieren sie nicht. Es ist also so, wie die Buddhisten glauben – alles nur Illu sion? Ganz und gar nicht. Es gibt eine absolute Wahrheit, eine Realität. Doch selbst ein kurzer Blick auf diese Realität würde einen menschlichen Geist brechen.

Wenn du Gott bist, dann sparen wir uns doch die Tipperei. Dann solltest du mich nämlich hören können.

Laut und deutlich.

Du sagst ›Alles ist eins‹? Wir haben aber ein Zählsystem: Eins, zwei, drei – damit widerlege ich deine Aussage.

Eins, zwei, drei … Eine weitere Illusion. Es gibt keine Abzählbarkeit.

Das ist mathematische Sophisterei. Keine Abzählbarkeit – das habe ich gerade widerlegt, indem ich gezählt habe. Ein wei terer Gegenbeweis: Hier zeige ich dir die Ganzzahl Fünf!

Du zeigst mir eine Hand mit fünf Fingern, nicht die Ganzzahl Fünf. Euer Zahlensystem ist in der wirklichen Welt nicht unabhängig existent. Es ist nichts weiter als eine anspruchsvolle Metapher.

Ich würde gern deinen Beweis für diese lächerliche Mutmaßung hören.

Wähle eine zufällige Zahl aus der Reihe der realen Zahlen: Mit Wahrscheinlichkeit eins hast du eine Zahl ausgewählt, die keinen Namen hat, keine Definition, die weder berechnet noch aufgeschrieben werden kann, selbst dann nicht, wenn man das ganze Universum für diese Aufgabe einspannen würde. Dieses Problem erstreckt sich auch auf angeblich definierbare Zahlen wie Π oder die Quadratwurzel aus zwei. Selbst mit einer zeitlich unendlichen Berechnung auf einem Computer von der Größe des Universums könntest du keine dieser beiden Zahlen exakt berechnen. Sag mir, Edelstein: Wie kann man dann behaupten, dass solche Zahlen existieren? Wie kann man dann behaupten, dass der Kreis oder das Quadrat, von denen sich diese Zahlen herleiten, existieren? Wie kann dimensionaler Raum existieren, wenn er nicht gemessen werden kann? Du, Edelstein, bist wie ein Affe, der mittels heroischer geistiger Anstrengung dahintergekommen ist, wie man bis drei zählt. Dann findest du vier Kieselsteinchen und glaubst, die Unendlichkeit entdeckt zu haben.

Ach ja? Du schwingst hier schöne Reden und gibst damit an, dass selbst das Wort Gott nicht angemessen sei, um deine Gran diosität zu beschreiben. Also schön – dann beweise es. Beweise, dass du Gott bist. Hast du mich gehört? Beweise, dass du Gott bist.

Konstruiere du den Beweis, Hazelius. Aber ich warne dich, dies ist der letzte Test, mit dem ich mich einverstanden erkläre. Wir haben Wichtigeres zu tun und nur sehr wenig Zeit.

Meine Frau Astrid war schwanger, als sie starb. Wir hatten es gerade erst festgestellt. Niemand sonst wusste von ihrer Schwangerschaft. Niemand. Hier ist deine Testaufgabe: Nenn mir den Namen, den wir für unser Kind ausgesucht hatten.

Albert Leibniz Gund Hazelius, falls es ein Junge werden sollte.

Und wenn es ein Mädchen geworden wäre? Was, wenn es ein Mädchen gewesen wäre? Wie hätte der Name dann ge lautet? Rosalind Curie Gund Hazelius.

Also schön, fangen wir noch mal von vorn an. Wer zum Teufel bist du – wirklich?

Aus Gründen, die ich bereits erläutert habe, könnt ihr nicht wissen, was ich bin. Das Wort Gott kommt dem nahe, doch auch das bleibt eine äußerst ärmliche Beschreibung.

Bist du ein Teil dieses Universums oder davon getrennt?

Es gibt keine Getrenntheit. Wir alle sind eins.

Warum existiert das Universum?

Das Universum existiert, weil es einfacher ist als Nichts. Das ist auch der Grund für meine Existenz. Das Universum könnte nicht einfacher sein, als es ist. Dies ist das physikalische Gesetz, aus dem sich alle anderen ergeben.

Was könnte einfacher sein als Nichts?

»Nichts« kann nicht existieren. Das ist ein intuitives Paradoxon. Das Universum ist der Zustand, der Nichts am nächsten kommt.

Wenn alles so einfach ist, warum ist das Universum dann so komplex?

Das komplizierte Universum, das ihr seht, ist eine emergente Eigenschaft seiner Einfachheit.

Was ist denn dann diese profunde Einfachheit, die allem zugrunde liegen soll?

Das ist die Realität, die euren Verstand sprengen würde.

Allmählich reicht es mir! Wenn du so klug bist, solltest du uns armen, geistig umnachteten Menschen so etwas erklären können! Willst du vielleicht behaupten, wir wüssten so wenig über die Realität, dass unsere physikalischen Gesetze reine Täuschung sind?

Ihr habt eure physikalischen Gesetze auf die Annahme aufgebaut, dass Zeit und Raum existieren. All eure Gesetze basieren auf bestimmten Bezugssystemen. Das ist bereits formal falsch. Bald werden eure liebgewonnenen Annahmen über die wirkliche Welt einstürzen und in Flammen aufgehen. Aus der Asche werdet ihr eine neue Art von Wissenschaft aufbauen.

Wenn unsere physikalischen Gesetze falsch sind, warum ist unsere Wissenschaft dann so spektakulär erfolgreich?

Newtons Bewegungsgesetze waren zwar fehlerhaft, aber ausreichend, um Menschen zum Mond zu schicken. Dasselbe gilt für alle eure Gesetze: Sie sind Näherungen, mit denen man zwar arbeiten kann, die aber grundsätzlich fehlerhaft sind.

Wie soll man denn physikalische Gesetze konstruieren oh ne Zeit und Raum?

Wir verschwenden unsere Zeit, indem wir uns gegenseitig mit metaphysischen Konzepten bewerfen.

Worüber sollten wir denn besser sprechen? Über den Grund, weshalb ich euch aufgesucht habe.

Und der wäre?

Ich habe eine Aufgabe für euch.

Also dann. Sag uns doch bitte, was das für eine Aufgabe ist.

Die großen monotheistischen Religionen waren ein notwendiges Stadium in der Entwicklung der menschlichen Kultur. Eure Auf gabe ist es, die Menschheit zum nächsten Glaubenssystem hinzu führen.

Und welches ist das?

Die Wissenschaft.

Das ist lächerlich – die Wissenschaft kann keine Religion sein! Ihr habt bereits eine neue Religion begründet – ihr weigert euch lediglich, das zu sehen. Religionen waren einst eine Möglichkeit, die Welt zu verstehen, einen Sinn in ihr zu sehen. Diese Rolle hat nun die Wissenschaft übernommen.

Religion und Wissenschaft sind zwei völlig verschiedene Dinge. Sie stellen unterschiedliche Fragen und erfordern unterschiedliche Arten von Beweisen.

Wissenschaft und Religion suchen dasselbe: die Wahrheit. Beide sind miteinander unvereinbar. Die Konfrontation dieser Weltanschauungen hat längst begonnen und wird immer schlimmer. Die Wissenschaft hat bereits die meisten grundlegenden Glaubenssätze der historischen Weltreligionen widerlegt und diese Religionsgemeinschaften damit in Aufruhr versetzt. Eure Aufgabe ist es nun, der Menschheit zu helfen, einen Weg durch diese Krise zu finden.

Du glaubst, die Fanatiker im Nahen Osten – oder die Bibeltreuen hierzulande, wenn wir schon dabei sind – werden sich einfach damit abfinden und die Wissenschaft als neue Religion akzeptieren? Das ist verrückt.

Ihr werdet der Welt meine Worte bringen und die Geschichte dessen erzählen, was hier geschehen ist. Unterschätzt niemals meine Macht – die Macht der Wahrheit.

Wo sollen wir denn hin mit dieser neuen Religion? Wozu soll sie gut sein? Wer braucht sie?

Das nächste Ziel der Menschheit ist die Befreiung von den Begrenzungen der Biochemie. Ihr müsst lernen, euren Geist vom Fleisch eurer Körper zu trennen.

Das Fleisch? Das verstehe ich nicht.

Fleisch. Nerven. Zellen. Biochemie. Das Medium, mittels dessen ihr denkt. Ihr müsst euren Geist vom Fleisch befreien.

Wie?

Ihr habt bereits damit begonnen, Informationen jenseits eurer Existenz als Fleisch zu verarbeiten, nämlich durch Computer. Bald werdet ihr eine Möglichkeit zur Verarbeitung finden, die auf Rechenmaschi nen im Quantenstadium beruht. Dies wird euch dahin führen, dass ihr die natürlichen Quantenprozesse in der Welt um euch herum als Mittel der Berechnung verwenden könnt. Ihr werdet nicht länger Maschinen bauen müssen, um Informationen zu verarbeiten. Ihr werdet euch ins Universum ausbreiten, buchstäblich und im übertragenen Sinne, wie andere intelligente Wesen das vor euch getan haben. Ihr werdet dem Gefängnis der biologischen Intelligenz entkommen.

Und was dann?

Im Lauf der Zeit werdet ihr Kontakt zu anderen expandierten Intelligenzen aufnehmen. All diese miteinander verbundenen Intelligenzen werden eine Möglichkeit finden, sich zu einem dritten Geisteszustand zu verschmelzen, der dann die einfache Realität im Kern aller Existenz begreifen wird.

Und das ist alles? Deshalb so ein Aufwand?

Nein. Das ist nur eine Vorbereitung für eine größere Aufgabe.

Und die wäre?

Den Hitzetod des Universums aufzuhalten. Wenn das Universum einen Zustand maximaler Entropie erreicht, was dem Hitzetod des Universums entspricht, wird die universale Rechenoperation abbrechen. Ich werde sterben.

Ist das unvermeidlich, oder gibt es eine Möglichkeit, dies zu verhindern?

Genau das ist die Frage, die ihr beantworten müsst.

Das also ist der ultimative Sinn der menschlichen Existenz? Diesen mysteriösen Hitzetod zu verhindern? Hört sich an wie aus einem Science-Fiction-Roman.

Den Hitzetod zu umgehen ist lediglich der erste Schritt auf dem Weg.

Auf dem Weg zu was?

Auf diese Weise bekommt das Universum die Fülle an Zeit, die es braucht, um sich selbst in den letzten Zustand voranzudenken.

Und was ist dieser letzte Zustand?

Ich weiß es nicht. Er wird nichts gleichen, was ihr oder selbst ich uns jemals vorstellen könnten.

Du erwähnst die ›Fülle an Zeit‹. Wie lang genau soll das sein? Die Anzahl von Jahren wird sein zehn Fakultät hoch zehn Fakultät, diese Zahl wiederum hoch zehn Fakultät, und das Ergebnis mal zehn hoch dreiundachtzig, die daraus resultierende Zahl hoch ihrer selbst in ihrer eigenen Fakultät mal zehn hoch siebenundvierzig. In eurer mathematischen Notation sähe diese Zahl – die erste Gotteszahl – so aus:(10!↑↑1083)[10!↑↑1083)!↑↑1047]

Dies ist die Länge der Zeit in Jahren, die das Universum brauchen wird, um sich in den finalen Zustand zu denken und die ultimative Antwort zu finden.

Das ist eine absurd große Zahl!

Das ist nur ein Tropfen im Ozean der Unendlichkeit.

Wo ist die Rolle von Moral und Ethik in deinem schönen neuen Universum? Von Erlösung und der Vergebung von Sünden?

Ich wiederhole es noch einmal: Getrenntheit ist nichts als eine Illusion. Menschliche Wesen sind wie Zellen in einem Körper. Zellen sterben, doch der Körper lebt weiter. Hass, Grausamkeit, Krieg und Völkermord sind eher wie Autoimmunkrankheiten denn das Produkt von etwas, das ihr »das Böse« nennt. Diese Vision der Allverbundenheit, die ich euch darlege, bietet ein weites Feld für moralisches Handeln, in dem Selbstlosigkeit, Mitgefühl und gegenseitige Verantwortung eine zentrale Rolle spielen. Euer Schicksal ist ein einziges Schicksal. Die Menschheit wird geeint überleben oder geeint sterben. Niemand wird errettet, weil niemand verloren ist. Niemandem wird vergeben, weil niemand beschuldigt wird.

Was ist mit Gottes Versprechen einer besseren Welt?

Eure diversen Konzepte des Himmelreichs sind bemerkenswert armselig.

Entschuldige bitte, aber Erlösung ist alles andere als arm selig! Die Vision spiritueller Vollkommenheit, die ich euch darbiete, ist unermesslich herrlicher als jedes Himmelreich, das auf der Erde je erträumt wurde.

Was ist mit der Seele? Leugnest du die Existenz der unsterblichen Seele?

Information geht nie verloren. Mit dem Tod des Körpers verändert die Information, die durch dieses Leben erschaffen wurde, ihre Form und Struktur, doch sie geht nie verloren. Der Tod ist ein Informationsübergang. Fürchtet ihn nicht.

Verlieren wir durch den Tod unsere Individualität?

Ihr braucht diesen Verlust nicht zu betrauern. Von diesem starken Gefühl der Individualität, das für die Evolution so notwendig ist, rühren viele Dinge her, denen die menschliche Existenz nicht entkommen kann, Gutes und Schlechtes: Angst, Schmerz, Leid und Einsamkeit ebenso wie Liebe, Glück und Mitgefühl. Deshalb müsst ihr eure biochemische Existenz überwinden. Wenn ihr euch von der Tyrannei des Fleisches befreit, werdet ihr das Gute – Liebe, Glück, Mitgefühl und Selbstlosigkeit – mit euch nehmen. Das Schlechte werdet ihr zurücklassen.

Ich finde es nicht sonderlich erhebend, dass die kleinen Quantenfluktuationen, die meine Existenz hervorgebracht hat, mir irgendeine Form von Unsterblichkeit verleihen sollen.

Ihr solltet gerade in dieser Sicht der Dinge großen Trost finden. Information kann in diesem Universum nicht vergehen. Nicht ein einziger Schritt, nicht eine einzige Erinnerung, nicht ein einziger Kummer eures Lebens wird je vergessen. Ihr als Individuum geht im Sturm der Zeit verloren, eure Moleküle werden darin zerstreut. Doch wer ihr wart, was ihr getan habt, wie ihr gelebt habt, das wird für immer in die universelle Rechnung eingebettet bleiben.

Nimm es mir nicht übel, aber das klingt immer noch so mechanistisch, so seelenlos, dieses Gerede über die Existenz als »Rechnen«.

Dann nennt es Träumen, wenn euch das lieber ist, oder Begehren, Wollen, Denken. Alles, was ihr seht, ist Teil einer unvorstellbar großen und schönen Berechnung, von einem Baby, das sein erstes Wort ausspricht, bis hin zu einem Stern, der zu einem Schwarzen Loch kollabiert. Unser Universum ist eine prachtvolle Rechenoperation, die seit ihrem Anfang mit einem einzigen Axiom größter Einfachheit nun schon seit über dreizehn Milliarden Jahren läuft. Wir haben unser Abenteuer noch kaum begonnen! Wenn ihr eine Möglichkeit findet, eure eigenen, vom Fleisch beschränkten Denkprozesse auf andere natürliche Quantensysteme anzuheben, werdet ihr beginnen, die Berechnung selbst zu kontrollieren. Ihr werdet beginnen, ihre Schönheit und Vollkommenheit zu begreifen.

Wenn alles eine Rechenoperation ist, was ist dann der Sinn der Intelligenz? Des Verstandes?

Intelligenz existiert überall um euch herum, selbst in nichtlebenden

Prozessen. Ein Gewitter ist eine wesentlich anspruchsvollere, komplexere Operation als ein menschlicher Verstand. Es ist auf seine eigene Art selbst intelligent.

Ein Gewitter hat kein Bewusstsein. Ein menschlicher Geist ist sich seiner selbst gewahr. Er ist bewusst. Das ist ein Unterschied, und der ist keineswegs trivial.

Habe ich euch nicht gesagt, dass gerade dieses Bewusstsein des Selbst eine Illusion ist, hervorgebracht von der Evolution? Der Unterschied ist nicht einmal groß genug, um als trivial bezeichnet zu werden. Eine Schlechtwetterfront ist nicht kreativ. Sie fällt keine Entscheidungen. Sie kann nicht denken. Sie ist nur ein mechanistisches Zusammenspiel verschiedener Kräfte.

Woher wollt ihr wissen, dass ihr nicht auch ein mechanistisches Zusammenspiel von Kräften seid? Wie der Verstand, so hat auch eine Gewitterfront komplexe chemische, elektrische und mechanische Eigenschaften. Sie denkt. Sie ist kreativ. Ihre Gedanken unterscheiden sich von euren Gedanken. Ein menschliches Wesen erschafft Komplexität, indem es einen Roman auf die Oberfläche von papiernen Blättern schreibt; ein Gewittersturm erschafft Komplexität, indem er Wellen auf die Oberfläche eines Ozeans schreibt. Was ist der Unterschied zwischen der Information, die in den Worten eines Romans enthalten ist, und jener auf den Wogen des Meeres? Hört zu, und die Wellen werden sprechen, und eines Tages, das sage ich euch, werdet auch ihr eure Gedanken auf die Oberfläche des Meeres schreiben.

Was berechnet das Universum denn? Was ist das für ein großes Problem, das es zu lösen versucht?

Das ist das tiefste und wunderbarste aller Mysterien.


Wir haben sehr wenig Zeit. Was ich euch zu sagen habe, ist von äußerster Wichtigkeit. Die Religionen sind aus dem Bemühen entstanden, das Unerklärliche zu erklären, das Unkontrollierbare zu kontrollieren und das Unerträgliche zu ertragen. Der Glaube an eine höhere Macht wurde zur mächtigsten Innovation in der Evolution des

Homo sapiens. Stämme mit einer Religion hatten einen Vorteil über jene ohne Religion. Sie hatten eine gemeinsame Richtung, ein Ziel, Motivation, eine Mission. Der Überlebenswert der Religion war so spektakulär, dass der Durst nach einem Glauben sich dem menschlichen Genom einprägte.

Was die Religion versucht hat, konnte die Wissenschaft nun endlich erreichen. Jetzt habt ihr eine Möglichkeit, das Unerklärliche zu erklären und das Unkontrollierbare zu kontrollieren. Ihr braucht keine »Offenbarungsreligionen« mehr. Die Menschheit ist endlich erwachsen geworden.

Die Religion ist für das menschliche Überleben so essenziell wie Nahrung und Wasser. Wenn ihr versucht, Religion durch Wissenschaft zu ersetzen, wird euch das nie gelingen. Ihr werdet den Menschen stattdessen Wissenschaft als Religion anbieten. Denn ich sage euch, Wissenschaft ist Religion. Die eine, wahre Religion.

Statt ein Buch der Wahrheit bietet die Wissenschaft eine Methode der Wahrheitsfindung. Wissenschaft ist eine Suche nach der Wahrheit, nicht die Offenbarung einer Wahrheit. Sie ist eine Methode, eine Möglichkeit, kein Dogma. Sie ist ein Weg, kein Ziel.

Ja, aber was ist mit dem Leid der Menschen? Wie kann die Wissenschaft »das Unerträgliche erträglich machen«, wie du es ausgedrückt hast?

Im vergangenen Jahrhundert haben Medizin und Technologie mehr menschliches Leid gelindert als sämtliche Priester im vergangenen Jahrtausend.

Du sprichst von körperlichen Leiden. Aber was ist mit dem Leid der Seele? Was ist mit spirituellem Leid?

Habe ich nicht schon gesagt, dass alles eins ist? Ist es nicht tröstlich, zu wissen, dass euer Leid den Kosmos selbst erschüttert? Niemand leidet allein, und alles Leid hat einen Sinn – sogar der Sturz eines Spatzes aus dem Nest ist wesentlich für das Ganze. Das Universum vergisst nichts. Sinkt nicht so tief herab, euch in falsche Bescheidenheit zu hüllen! Ihr seid meine Jünger. Ihr habt die Macht, die Welt auf den Kopf zu stellen. An einem einzigen Tag sammelt die Wissenschaft mehr Beweise ihrer Wahrheiten an als die Religion während ihrer gesamten Existenz. Die Menschen klammern sich an den Glauben, weil sie ihn brauchen. Sie hungern danach. Ihr werdet den Leuten nicht ihren Glauben wegnehmen; ihr werdet ihnen einen neuen Glauben bringen. Ich bin nicht gekommen, um den jüdisch-christlichen Gott zu verdrängen, sondern um ihn zu vervollständigen.

Diese neue Religion, die wir predigen sollen – was sollen wir den Menschen anbieten, das sie verehren könnten? Wo ist die Schönheit, die Ehrfurcht bei alledem?

Ich bitte euch, über das Universum nachzusinnen, von dessen Existenz ihr jetzt wisst. Ist es nicht schon an sich ehrfurchtgebietender als jedes Konzept eines Gottes, das die historischen Religionen je hervorgebracht haben? Hundert Milliarden Galaxien, einsame Inseln aus Feuer, wie leuchtende Münzen in einen so gewaltigen leeren Raum geschleudert, dass er die biologische Fähigkeit des Menschen, ihn zu begreifen, weit überschreitet? Und ich sage euch, das Universum, das ihr entdeckt habt, ist nur ein winziger Bruchteil, eine Ahnung vom Ausmaß und der Pracht der gesamten Schöpfung. Ihr bewohnt ein blaues Pünktchen an den unendlichen Gewölben des Himmels, und doch ist mir dieses blaue Fleckchen kostbar, als wesentlicher Teil des Ganzen. Deshalb bin ich zu euch gekommen. Verehrt mich und meine großen Werke, nicht irgendeinen Stammesgott, den ein paar kriegerische Hirten sich vor Tausenden von Jahren ausgedacht haben.

Mehr, sag uns mehr.

Ertastet mein Antlitz mit euren wissenschaftlichen Experimenten. Sucht mich im Kosmos und im Elektron. Denn ich bin der Gott ewiger Zeit und allumfassenden Raums, der Gott der Supercluster und der Leere, der Gott des Urknalls und der inflationären Expansion, der Gott der Dunklen Materie und der Dunklen Energie. Wissenschaft und Glaube können nicht koexistieren. Eines wird das andere zerstören. Ihr müsst dafür sorgen, dass es die Wissenschaft ist, die überlebt, denn sonst ist euer kleines blaues Pünktchen verloren …

Was sollen wir tun?

Mit meinen Worten werdet ihr obsiegen. Berichtet der Welt, was hier geschehen ist. Sagt der Welt, dass Gott zur Menschheit gesprochen hat – zum ersten Mal. Ja, zum ersten Mal!

Aber wie sollen wir dich ihnen erklären, wenn du uns nicht sagen kannst, was du bist?

Wiederholt nicht den Fehler der historischen Religionen und verstrickt euch in Disputationen darüber, wer ich bin oder was ich denke. Ich bin zu groß, als dass ihr mich begreifen könntet. Ich bin der Gott eines Universums, das so gewaltig ist, dass nur die Gotteszahlen es beschreiben können. Die erste dieser Zahlen habe ich euch genannt. Ihr seid die Propheten, die eure Welt in die Zukunft führen. Für welche Zukunft werdet ihr euch entscheiden? Ihr haltet den Schlüssel in Händen. Ich erkläre euch nun eure Bestimmung: die Wahrheit zu finden. Das ist der Grund für eure Existenz. Das ist eure wahre Aufgabe. Die Wissenschaft ist nur das Mittel dazu. Dies ist es, was ihr verehren sollt: die Suche nach der Wahrheit selbst. Wenn ihr diese Suche von ganzem Herzen vorantreibt, dann werdet ihr eines großen Tages in ferner Zukunft vor Mir stehen. Dies ist mein Pakt mit der Menschheit.

Ihr werdet die Wahrheit erkennen. Und die Wahrheit wird euch frei machen.


Danksagung


Für ihre großzügige Unterstützung möchte ich einer Menge Leuten danken. Zu ihnen gehören Selene Preston, Eric Simonoff, Susan Hazen-Hammond, Bobby Rotenberg, Hywel White und Roland Ottewell. Außerdem stehe ich in der Schuld von John Javna, weil er mich seine Materialien über die Christliche Rechte benutzen ließ. Mein Dank gilt auch Claudia Ruelke für unsere neue Website, ebenso Tobias Daniel Wabbel, der mich ermutigt hat, einige meiner Gedanken in einem Aufsatz für Im Anfang war kein Gott: Naturwissenschaftliche und theologische Perspektiven zusammenzufassen.

Auch meinem Kollegen Lincoln Child möchte ich Dank aussprechen. Er hat das Manuskript gelesen und seinen unschätzbaren Rat dazu abgegeben. Für seine wichtige kreative Leitung will ich ebenso meinem Herausgeber Bob Gleason danken. Genauso wie Eric Raab für seine Hilfe.

Sehr viel schulde ich meinen Navajo-Freunden, die mich über die Jahre hinweg einiges über die Religion der Navajos und das Leben im Reservat gelehrt haben, besonders Norman Tulley, Edsel Brown, Frank Fatt, Ed Black, Victor Begay, Neswood Begay, Nada Currier und Cheppie Natan. Die einleitenden Verse des Schöpfungsgesangs der Navajo, die ich hier zitiert habe, entstammen leicht verändert der Version eines Medizinmanns im Navajo-Reservat, die Father Berard Haile im frühen 20. Jahrhundert aufzeichnete.

Wie immer spreche ich Christine, Aletheia und Isaac meine Hochachtung aus, weil sie einen verschrobenen Schriftsteller mit Liebe, Unterstützung und Geduld behandeln.

Einige der philosophischen, evolutionären und mathematischen Ideen, die in diesem Roman vorgestellt werden, sind beeinflusst oder übernommen aus den Schriften von Gregory Chaitin, Rudy Rucker, Brian Greene, Stephen Wolfram, Edward Fredkin, Sam Harris, Richard Dawkins und Frank J. Tipler.


Im Knaur Taschenbuch Verlag sind bereits


folgende Bücher des Autors erschienen: Der Canyon


Der Codex


Über den Autor:

Douglas Preston wurde 1956 in Cambridge, Massachusetts geboren. Er studierte in Kalifornien zunächst Mathematik, Biologie, Chemie, Physik, Geologie, Anthropologie und Astrologie und später Englische Literatur. Nach dem Examen startete er seine Karriere beim American Museum of Natural History in New York. Eines Nachts, als Preston seinen Freund Lincoln Child auf eine mitternächtliche Führung durchs Museum einlud, entstand dort die Idee zu ihrem ersten gemeinsamen Thriller, »Relic«, dem mittlerweile acht weitere internationale Bestseller folgten. Douglas Preston schreibt auch Solo-Bücher (»Der Codex«, »Der Canyon«) und verfasst regelmäßig Artikel für diverse Magazine. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern an der US-Ostküste.


Mehr Informationen über Douglas Preston finden Sie im Internet: www.preston-child.de

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