Carolin steht auf einmal neben mir.»Alles okay bei dir, Herkules? Du warst so unruhig heute Nacht. Ich habe dich ab und zu heulen h?ren. Oder musst du nur ganz dringend raus? Vielleicht sollten wir f?r diese F?lle mal ein Katzenklo besorgen. Nina hat ja nun eines in ihrer Wohnung stehen, ich frage sie mal, wo sie das besorgt hat.«

Katzenklo? Kein Hund mit einem Funken Ehre im Leib w?rde sich auf so ein Teil hocken. Das w?re ja noch sch?ner ! Aber typisch Mensch: immer sch?n bequem. Was ich in solchen F?lle brauche, ist ein Baum, keine Plastikwanne. Jawollja! Ich lege den Kopf auf die Vorderl?ufe und knurre ein bisschen. Carolin lacht.

»Na gut, also kein Katzenklo. Kannst ja gleich auf dem Weg in die Werkstatt den n?chsten Baum aufsuchen. Wir gehen heute mal zu Fuss, ich glaube, das kriege ich wieder hin.«

Hm, das klingt nicht schlecht. Wobei ich mir doch gerade?berlegt hatte, einfach hierzubleiben. Ach, was soll’s – ausruhen kann ich mich auch noch in der Werkstatt. Ich komme mit!

Schnell h?pfe ich aus meinem K?rbchen und sch?ttele mich, dann laufe ich in die K?che. Marc und Luisa sitzen auch schon dort, Luisa kritzelt in einem Heft herum, Marc liest Zeitung und trinkt Kaffee. Es sieht ziemlich idyllisch aus – eben doch nach Happy End. Wahrscheinlich habe ich mir v?llig umsonst Sorgen gemacht. Liegt bestimmt an meiner ?berm?dung.

Carolin geht zum K?hlschrank, holt mein Fresschen und verfrachtet es in die Mikrowelle. Pling! Sie stellt mir ein Sch?lchen vor die F?sse. Ich schnuppere daran. Hm, Herz. Lecker! Okay, die Nacht war schlimm. Aber der Tag l?sst sich daf?r umso besser an.

Es klingelt. Erst kurz. Dann l?nger. Dann durchgehend. Marc und Carolin schauen sich fragend an.

»Erwartest du irgendjemanden?«, will Carolin wissen.

»Um halb acht? Nat?rlich nicht. Keine Ahnung, wer das ist.«

Aber ich weiss es: die Verr?ckte. Sie ist zur?ck, ich bin mir ganz sicher. Sie wird versuchen, Luisa zu holen. Genau wie in meinem Traum. Sofort lasse ich mein Fressen Fressen sein und rase zur T?r. Diese Frau wird keinen Fuss ?ber unsere Schwelle tun, ich werde pers?nlich daf?r sorgen.

»Hoppla, Herkules! Fast w?re ich ?ber dich gestolpert – was ist denn los mit dir?« Marc muss mich zur Seite schieben, um ?berhaupt die T?r ?ffnen zu k?nnen. Das wollte ich eigentlich verhindern, aber auf dem Parkettboden kann ich mich leider nicht festkrallen, und so schiebt mich Marc mitsamt der T?r zur Seite. Jetzt kann ich noch nicht einmal sehen, wer geklingelt hat, geschweige denn verhindern, dass dieser Jemand in die Wohnung kommt.

»Guten Morgen! Sie kenne ich doch, oder?«

»Ja, ich bin Claudia Serwe. Meine H?ndin hat neulich Ihren Dackel aus der Alster gefischt. Entschuldigen Sie diese fr?he St?rung, aber Cherie ist eben von einem Auto angefahren worden. Ich wusste nicht, wo ich mit ihr hinsoll, und dann fiel mir wieder ein, dass Ihre Praxis gleich um die Ecke ist. Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht schon da sind. Ja, und dann habe ich auf dem Klingelschild gesehen, dass Sie auch hier wohnen.«

Mir wird heiss und kalt. Cherie! Ihr ist etwas zugestossen! Die Frau klingt atemlos und verzweifelt. Ich dr?cke mich an Marcs Beinen vorbei, um sie mir genauer anzuschauen. Sie hat geweint, ihre Augen sind ganz rot. Marc legt ihr eine Hand auf die Schulter.

»Gut, dass Sie gleich gekommen sind. Wo ist das Tier denn?«

»Sie liegt bei mir auf dem R?cksitz, mein Auto steht direkt vor der T?r. Ich habe solche Angst um sie!«

»Frau Serwe, ich sehe sie mir sofort an.«

Und ich komme mit! Ich lasse dich nicht allein, Cherie! Auf keinen Fall.

ZEHN

Ich hatte schon fast vergessen, wie sie riecht. Oder vielleicht hatte ich es auch verdr?ngt, um nicht st?ndig an sie zu denken. Und jetzt liegt sie hier, direkt vor mir, und als Frau Serwe die Autot?r noch ein bisschen weiter ?ffnet, werde ich von dem Geruch regelrecht ?berrollt. Sofort ist er wieder da, der Tag an der Alster – Cherie und ich auf dem Steg, ihr sp?ttisches Lachen, ihre Ber?hrungen, ihr federnder Gang. Mein Herz f?ngt an zu rasen, und ich muss mich kurz sch?tteln, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen.

Von der R?ckbank h?re ich ein leises Wimmern, es klingt kl?glich und auch ?ngstlich. Ich dr?nge mich noch weiter nach vorne, versuche, mit meinen Vorderl?ufen ins Wageninnere zu kommen. Das gelingt mir auch, und so reiche ich mit meiner Schnauze fast bis zum Polster der Bank. Von hier aus kann ich Cheries Kopf sehen. In ihr wundersch?nes blondes Haar hat sich Blut gemischt, das sich wie ein d?nnes Rinnsal vom Ohr bis zu ihrer Nasenspitze zieht.

Marc beugt sich nach vorne in den Wagen.

»Wie ist das passiert?«

»Ich wollte heute vor dem B?ro noch eine kurze Runde mit ihr drehen. Wir kommen aus der Haust?r – und werden fast von einem Fahrradkurier ?ber den Haufen gefahren. Der war auf dem B?rgersteig unterwegs und so schnell, dass sich Cherie wahnsinnig erschreckt hat. Ich mich ehrlich gesagt auch. Aber Cherie ist auf die Strasse gesprungen. Genau vor ein Auto. Die Fahrerin konnte nicht mehr bremsen und hat sie noch seitlich erwischt. Cherie ist richtig durch die Luft geflogen.« Claudia Serwe f?ngt wieder an zu weinen. »Ich dachte schon, sie sei tot.«

Marc legt seinen Kopf auf Cheries Brustkorb.

»Also, ihr Atem ist sehr flach, aber einigermassen regelm?ssig. « Er greift mit einer Hand an die Innenseite ihres Hinterlaufs und wartet einen Moment. »Hm, der Puls ist sehr schnell, sch?tze mal ungef?hr hundert Schl?ge pro Minute. Das ist viel f?r einen so grossen Hund, aber noch nicht dramatisch. Ich habe in der Praxis eine Trage, damit k?nnen wir Cherie in den Untersuchungsraum transportieren, ohne sie unn?tig zu bewegen. Bin gleich wieder da.«

Er zieht seinen Kopf aus dem Wagen und verschwindet ins Innere des Hauses. Claudia Serwe geht um das Auto herum und holt irgendetwas von ihrem Sitz. Ich nutze die Gelegenheit und h?pfe jetzt ganz ins Wageninnere. Vorsichtig lege ich meine Schnauze neben Cheries Kopf.

»Alles wird wieder gut, bestimmt! Marc ist ein toller Arzt, mach dir keine Sorgen.«

Cherie versucht den Kopf in meine Richtung zu drehen.»Wer bist du?«

»Herkules. Der Dackel, den du aus der Alster gerettet hast.«

Sie f?ngt an zu schnaufen, dann st?hnt sie.

»Werden die Schmerzen schlimmer?«, will ich besorgt wissen.

»Nein. Ich h?tte nur fast gelacht, und das tut weh.«

Also, wenn sie ihren Sinn f?r Humor noch hat, besteht Hoffnung. Ein gutes Zeichen!

»Dieser bl?de Radfahrer. Ich habe ihn echt nicht gesehen. Er war so schnell. Dann wollte ich zur Seite springen – und ab da kann ich mich an nichts mehr erinnern.«

»Du bist unter ein Auto gekommen. Aber dein Frauchen hat dich gleich zu Marc gefahren. Und der wird dich bestimmt schnell wieder auf die Beine bringen.«

»Dein Optimismus ehrt dich, Kleiner. Momentan f?hlt es sich nur leider nicht so an. So mitschnell auf die Beine bringen, meine ich.«

Marc kommt mit der Trage an, das heisst, er rollt an. Seine Trage hat n?mlich ausklappbare Beine mit Rollen, was sie nun entfernt wie einen Einkaufswagen aussehen l?sst.

»Herkules, tr?stest du unsere Patientin ein bisschen? Bist ein guter Hund, aber jetzt musst du mal zur Seite gehen, sonst kriege ich Cherie nicht auf die Trage gehoben.«

Er taucht Richtung R?ckbank, nimmt Cherie behutsam auf den Arm und legt sie dann auf die blanke Metallfl?che der Trage. Claudia Serwe stellt sich daneben und streichelt Cherie vorsichtig.

»Schh, schh, wird alles wieder gut, meine S?sse.«

Marc rollt die Trage Richtung Praxiseingang. Hier, auf dem B?rgersteig, stehen auch Carolin und Luisa. Obwohl ich selbst sehr aufgeregt bin, sehe ich, dass Luisa zittert.

»Papa, was ist denn mit dem armen Hund?«

»Er ist von einem Auto angefahren worden. Ich muss ihn untersuchen, um festzustellen, wie schwer seine Verletzungen sind.«

»Und wird er wieder ganz gesund werden?«

»Ich tue mein Bestes, Schatz.«

»Soll ich irgendwie helfen? Der Hund tut mir so leid.«

»Das ist ganz lieb, Luisa, aber am meisten hilfst du mir, wenn du jetzt zur Schule gehst. Zu viele aufgeregte Menschen sind auch nicht gut f?r unsere tierische Patientin.«

Luisa nickt und setzt den Schulranzen auf, der schon neben ihr steht. Marc wendet sich an Carolin.

»Sag mal, ist Frau Warnke denn noch nicht da? Es ist doch bestimmt schon nach acht Uhr, oder?«

Carolin nickt.

»Ja, gleich Viertel nach.«

»Mist. Wo bleibt die denn? Sie m?sste l?ngst da sein. Sie soll mir jetzt assistieren, und gleich beginnt auch die normale Sprechstunde.«

»Kann ich dir vielleicht helfen?«

Marc?berlegt kurz. »Ja, wenn es dir nichts ausmacht, w?re das gut.«

Im Behandlungsraum rollt Marc ein kleines Schr?nkchen neben die Trage.

»So, Frau Serwe, ich mache jetzt einen Ultraschall von Cheries Brustraum und Unterbauch, um innere Verletzungen auszuschliessen. Dann versorge ich die Platzwunde am Kopf, die muss ich wahrscheinlich n?hen. Meine Frau wird mir dabei assistieren. W?ren Sie so freundlich und w?rden so lange im Wartezimmer Platz nehmen?«

Frau Serwe nickt.»Ja, sicher. Aber sagen Sie mir gleich Bescheid, wenn Sie etwas klarer sehen?«

»Nat?rlich.«

»Soll ich den Dackel mitnehmen?«

»Nein, der st?rt mich eigentlich nicht, und Ihren Hund scheint er eher zu beruhigen. Nach der Nummer an der Alster bilden die beiden ja offensichtlich so eine Art Schicksalsgemeinschaft.«

Er l?chelt schief, was Frau Serwe erwidert. Dann geht sie ins Wartezimmer. Marc zieht einen langen, dicken Stab aus dem Schr?nkchen.

»So, hier oben ist der Schallkopf«, erkl?rt er Carolin, »damit werde ich jetzt Brustkorb und Bauchraum schallen, damit wir uns die gute Cherie von innen mal genauer ansehen k?nnen.«

Unglaublich– mit diesem Stab kann sich Marc Cherie von innen anschauen? Hoffentlich muss er daf?r nicht ein Loch in sie bohren. Ich merke, dass mir unwohl wird. Nicht, dass Marc Cherie noch mehr weh tut – wo ich ihr doch versprochen habe, dass Marc ihr helfen wird. Als k?nne er meine Gedanken lesen, streichelt Marc Cherie einmal kurz ?ber den R?cken.

»Ganz ruhig, meine Liebe, das tut nicht weh. Carolin, bleib bitte oben beim Kopf stehen und halte sie am Halsband fest, falls sie aufspringen will. Ich kann ihr wegen der Kopfverletzung leider gerade keinen Maulkorb anlegen. Also sei ein bisschen vorsichtig.«

»Was h?ltst du denn davon, wenn wir Herkules neben sie setzen? Ich hatte auch den Eindruck, dass er sie beruhigt.«

Marc kratzt sich am Kopf.

»Hm, ja, warum nicht. Wir k?nnen es probieren, vielleicht funktioniert es.«

Er hebt mich nun ebenfalls auf die Trage, so dass ich direkt neben Cheries Kopf sitze, dann klappt er die T?ren des Schr?nkchens auf – zum Vorschein kommt ein Fernseher. Aha? Was passiert denn jetzt?

»Ich konzentriere mich vor allem auf Lunge, Milz und Leber. Bei Unf?llen mit Autos sind innere Verletzungen an diesen Organen leider h?ufig. Der Hund kann daran verbluten. Eigentlich m?sste ich Cherie f?r ein besseres Bild vorher rasieren, aber hier am Bauch ist ihr Fell etwas d?nner. Und wenn sich aus den ersten Bildern kein entsprechender Verdacht ergibt, w?rde ich ihr das gerne ersparen. So, ich trage erst ein wasserhaltiges Gel auf, damit die Schallwellen auch wirklich bis zu den Organen vordringen und nicht unterwegs verloren gehen. Vorsicht, Cherie, jetzt wird’s erst ein bisschen kalt am Bauch, und dann lege ich los.«

Er f?hrt mit dem kugeligen Ende des Stabs ?ber Cheries Bauch, die zuckt zusammen und wimmert ein bisschen.

»Ich bin bei dir«, fl?stere ich ihr zu, »nur Mut! Es dauert bestimmt nicht lang.« Ich habe zwar keine Ahnung, ob das tats?chlich stimmt, aber es kann bestimmt nicht schaden, ein wenig Zuversicht zu verbreiten.

»Danke, dass du da bist«, fl?stert Cherie zur?ck, dann schliesst sie die Augen.

»So, das hier sieht schon mal gut aus. Keine Einblutungen zu sehen. Jetzt gehe ich weiter Richtung Leber … Moment …«, Marc schaut sehr konzentriert auf den kleinen Fernseher, »sieht auch gut aus.«

Neugierig geworden, riskiere ich ebenfalls einen Blick Richtung Bildschirm. Wie mag Cherie wohl von innen aussehen? Zu meiner Entt?uschung kann man auf dem Fernseher eigentlich gar nichts erkennen. Wie kann sich Marc da so sicher sein, dass alles in Ordnung ist? Ich sehe nur helle und dunkle Flecken, die mal gr?sser, mal kleiner werden.

»Dass du da ?berhaupt etwas erkennen kannst«, merkt nun auch Carolin an. Ihr scheint es genauso zu gehen wie mir. Marc lacht.

»Na, ein bisschen ?bung braucht man schon. Im Prinzip ist es so: Blut und die meisten anderen Fl?ssigkeiten werfen den Schall nicht so stark zur?ck zum Schallkopf, deswegen erscheinen sie auf dem Bildschirm schwarz, Gewebe mit hoher Dichte, wie zum Beispiel Knochen, reflektieren dagegen ziemlich gut und tauchen deswegen auf dem Bild viel heller auf.«

Ich versteh kein Wort, und auch Carolin sieht so aus, als k?nne sie nicht ganz folgen.

»Okay, mal ein Beispiel: Hier siehst du Cheries Rippen.«

»Stimmt, das kann ich erkennen.«

»Die kann ich jetzt z?hlen und auch nachschauen, ob sie von der Struktur her in Ordnung sind. Sind sie ?brigens. Hier weiter unten sehen wir die Leber. Wenn sich jetzt irgendwo Blut angesammelt h?tte, wo es nicht hingeh?rt, w?rde ich das als schwarze Fl?che sehen. Aber es ist alles so, wie es sein soll. Bittest du kurz Frau Serwe herein?«

»Klar, mache ich.«

Kurz darauf steht auch Claudia Serwe im Untersuchungsraum.?ngstlich schaut sie Marc an.

»Wird Cherie wieder ganz gesund?«

»Ich denke schon. Innere Verletzungen hat sie jedenfalls nicht. Ich w?rde jetzt gerne eine R?ntgenaufnahme vom Kopf machen, um einen Sch?delbruch auszuschliessen, und dann muss ich noch ihre Platzwunde versorgen. Daf?r bekommt Cherie eine Narkose, damit sie keine Schmerzen hat.«

»Das klingt ja nach einer richtigen Operation!«

»Nein, es ist nur ein kleiner Eingriff. Allerdings braucht sie danach eine Infusion, damit sie das Narkosemittel schneller wieder loswird. Ausserdem hat sie dann schon einige Zeit nichts gefressen und getrunken. Wir m?ssen sie also ein bisschen st?rken. Und dann sollte sie ?ber Nacht hierbleiben, nur zur Vorsicht, falls es ihr schlechter gehen sollte.«

»Nat?rlich, das ist bestimmt besser so. Aber sagen Sie, Herr Doktor, Cherie wirkt noch sehr schwach. Ist das normal? «

»Mit der Infusion wird sie schnell wieder zu Kr?ften kommen, keine Sorge. Ausserdem hat sie wahrscheinlich eine Gehirnersch?tterung. War sie nach dem Unfall bewusstlos?«

»Ja, aber nicht lange – vielleicht ein oder zwei Minuten. Danach war sie noch sehr benommen, aber bei Bewusstsein.«

»Wie ich schon sagte – das deutet auf eine Gehirnersch?tterung hin.«

»Sagen Sie, Herr Dr. Wagner, k?nnen Sie schon sagen, wie teuer die gesamte Behandlung wird?«

»Nicht auf den Cent genau, aber ich sch?tze, es wird so an die 400 Euro kosten.«

Claudia Serwe seufzt.

»Kann ich das vielleicht im n?chsten Monat bezahlen? Ich bin momentan ein bisschen knapp bei Kasse.«

Marc l?chelt.

»Wissen Sie was – Cherie ist ja immerhin die Lebensretterin von unserem Herkules. Zahlen Sie einfach, was Sie k?nnen, das ist dann schon in Ordnung.«

»Danke, das ist nett. Aber es ist mir sehr unangenehm, dass ich Sie momentan nicht so bezahlen kann, wie es Ihnen eigentlich zusteht.«

»Machen Sie sich dar?ber keine Gedanken. Wie gesagt – es ist v?llig in Ordnung.«

»Trotzdem! Ich w?nschte, ich k?nnte diesen Kurierfahrer drankriegen, der hat den ganzen Unfall ja ?berhaupt verursacht. Aber der ist nat?rlich sofort abgehauen.«

»Vielleicht hat er gar nichts davon mitbekommen?«

»Nein, das kann nicht sein. Ich bin noch hinter ihm hergelaufen und habe gerufen. Der hat uns immerhin fast ?berfahren – und das auf dem B?rgersteig! Er hat einmal kurz ?ber seine Schulter geschaut und dann ordentlich in die Pedale getreten.«

»Das ist nat?rlich eine echte Schweinerei. Arme Cherie! Aber sie wird bestimmt wieder ganz die Alte.«

Als Cherie wieder aus der Narkose aufwacht, sitze ich neben ihr in der Pflegebox. Sie guckt mich aus matten Augen?ngstlich an.

»Wo sind wir?«

»Du bist immer noch in Marcs Praxis. Aber es ist alles gut gelaufen. Bald springst du wieder fr?hlich herum.«

»Ich bin so m?de und schlapp. Momentan m?chte ich eigentlich nur schlafen.«

»Dann lasse ich dich jetzt besser mal in Ruhe. Soll ich sp?ter nochmal wiederkommen?«

»Gerne.«

Ich wende mich zum Gehen, Marc hat extra die Zwingert?r offen gelassen.

»Herkules?«

»Ja?«

»Vielen Dank! Du hast mir sehr geholfen.«

Ich merke, dass mein Herz wieder zu rasen beginnt. Ich habe ihr sehr geholfen! Sie mag mich! Bestimmt! Wie auf Wolken schwebe ich aus dem Beobachtungsraum wieder zur?ck in den Empfangsbereich.

Marc und Carolin stehen am Tresen und sind?ber irgendwelche Papiere gebeugt. Frau Warnke ist noch immer nicht da, deswegen hat Carolin beschlossen, heute ein wenig auszuhelfen. Sehr nett, mein Frauchen! Eine ?ltere Dame mit ihrem Wellensittich und ein M?dchen mit einem Hamster warten noch, ansonsten ist es einigermassen ruhig – eben Mittagspause.

Ich setze mich neben den Tresen, als die T?r zur Praxis aufgeht und ein Geruch hereinweht, der mich sofort elektrisiert. O Schreck, die Verr?ckte! Diesmal ganz sicher! Keine drei Sekunden sp?ter steht Sabine neben Marc.

»Hallo, Marc. Du solltest mich eigentlich anrufen. Aber wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann eben der Berg zum Propheten.«

Berg? Prophet? Ich sag’s ja: Die Alte istv?llig verr?ckt. Nur gut, dass Luisa in sicherer Entfernung in der Schule ist. Marc schaut Sabine an, als ob er eine Erscheinung habe.

»Ich … ?h … hallo, Sabine, was machst du denn hier?«

»Hat man dir etwa nichts erz?hlt?«

»Nein, was denn?«

Sabine sch?ttelt den Kopf.

»Na, das best?tigt ja alle Bef?rchtungen, die ich im Hinblick auf deine neue Freundin habe.«

Carolin schnappt nach Luft, aber bevor sie etwas sagen kann, greift Marc Sabine am Handgelenk und zieht sie hinter sich in den Behandlungsraum. Ich husche m?glichst unauff?llig hinterher. Das verspricht sehr interessant zu werden …

»Sag mal, spinnst du, hier einfach so aufzukreuzen? Ich arbeite, schon vergessen?«

»Wie k?nnte ich? Vom aufstrebenden Veterin?rmediziner mit wissenschaftlicher Zukunft zum Inhaber einer Kleintierpraxis«, erwidert Sabine sp?ttisch.

»Ja, ja, w?hrend du auf dem besten Wege zur Miss Lufthansa bist, schon klar. Also, was willst du?«

Jetzt l?chelt Sabine.

»Tut mir leid. Auf alle F?lle nicht mit dir streiten. Ich dachte, wir vergessen das Telefonat von neulich und versuchen es nochmal wie erwachsene Menschen.«

»Von mir aus gerne.«

In diesem Moment?ffnet Carolin die T?r und kommt dazu. Was Sabine nicht weiter st?rt.

»Marc, vielleicht ist in der Vergangenheit nicht alles optimal gelaufen. Ach was, ganz sicher nicht. Und das war auch meine Schuld. Aber als mir Luisa jetzt erz?hlt hat, dass diese Carolin bei dir eingezogen ist, da hat es mir einen Stich ins Herz gegeben. Und ehrlich gesagt – diese Frau, das ist doch nicht dein Ernst! Kein Format. Aber ich will nicht selbstgef?llig sein. Vielleicht war das alles ein Fehler, die letzten Jahre. Auch meinerseits.«

Carolin bleibt der Mund offen stehen, und auch Marc sieht mehr als verbl?fft aus. Er r?uspert sich.

»?h, also, das kommt sehr ?berraschend. Ich … ?h …«

»Du musst jetzt nichts sagen. Einfach dar?ber nachdenken. « Sie haucht ihm einen Kuss auf die Wange und rauscht raus.

Zur?ckbleiben Carolin und Marc, die sich ansehen und erst einmal beide nichts sagen. Dann hat Carolin offensichtlich ihre Sprache wiedergefunden.

»WAS F?LLT DIESER FRAU EIN! Das ist ja unglaublich! Und du stehst daneben wie ein Idiot, h?rst, wie sie mich beleidigt, und sagst kein Wort.«

»Ja, aber das ging so schnell – ich konnte ?berhaupt nicht reagieren!«, verteidigt sich Marc.

»Quatsch – soll ich dir etwas sagen? Du WOLLTEST nicht reagieren! Sch?n den Schwanz eingezogen und dir ein K?sschen geben lassen. Ich fasse es nicht! Du … du … WICHT!«

Auch Carolin verl?sst ger?uschvoll das Zimmer. Wow – so habe ich sie noch nie erlebt. Zur?ckbleibt ein Marc, der ziemlich betr?bt aussieht. Dann sch?ttelt er den Kopf und guckt mich an.

»Da siehst du es, Herkules: Weiber! Das passiert, wenn du dich mit ihnen einl?sst. Also besser Finger weg! Auch von dieser Cherie! Das ist ein guter Rat unter M?nnern, mein Freund.«

ELF

Also ich erkl?r’s dir nochmal genau: Ich klingele und gehe schnell weg, du beh?ltst die Rose im Maul und bleibst sitzen, bis sie die T?r aufmacht. Und wenn sie dann hoffentlich begeistert ist, komme ich als ?berraschung wieder um die Ecke. Verstanden, Kumpel?«

Sagen wir mal so: Ich hab’s geh?rt. Verstanden habe ich es nicht. Wieso soll es Carolin bes?nftigen, wenn ich mit einer Rose im Maul vor der T?r sitze? Auf mich ist sie doch gar nicht sauer. Aber wenn die Nummer hier zur schnellen Vers?hnung der beiden beitr?gt, dann meinetwegen. An mir soll’s nicht scheitern.

Ich setze mich also hin, Marc h?lt mir die Rose vor die Nase, und ich schnappe zu. Wenigstens hat er vorher die Dornen abgemacht, sehr umsichtig. Dann dr?ckt er die Klingel zur Werkstatt und verschwindet ?ber die drei Stufen in Richtung Haust?r. Kurz darauf ?ffnet Carolin und starrt mich an. Ist das jetzt die Begeisterung, die sich Marc erhofft hat?

»Was machst du denn hier, Herkules? Und was soll die alberne Nummer mit der Rose?«

Na gut, vielleicht kann sie ihre Freude einfach nicht so zeigen. Sie nimmt mir die Blume ab, dann geht sie an mir vorbei in den Hausflur und beginnt laut zu rufen.

»Marc, was soll das? Wir sind hier doch nicht im Zirkus. Wenn du mir etwas sagen willst, dann versteck dich bitte nicht hinter meinem Dackel.«

Marc kommt die Stufen wieder herunter.

»Hallo, Schatz!«

O je, er klingt kl?glich. Jetzt tut er mir wirklich leid. Komm schon, Carolin! Ich habe zwar nicht verstanden, worum euer Streit eigentlich ging, aber kannst du Marc nicht einfach verzeihen? Vielleicht ist er auch gar nicht schuld an woranauch-immer. Mein Instinkt sagt mir n?mlich, dass das ganze Schlamassel auch irgendetwas mit Nina zu tun haben k?nnte. Und der Tatsache, dass sie sich Sabine gegen?ber als Caro ausgegeben hat. Aber das kann ich hier leider nicht zum Besten geben, sonst h?tte ich es l?ngst getan.

Wortlos stehen Carolin und Marc sich gegen?ber, dann nimmt Marc sie in seine Arme und gibt ihr einen sanften Kuss auf die Lippen.

»Es tut mir echt leid. Ich habe doof reagiert, aber das lag nur daran, dass ich so perplex war – das musst du mir einfach glauben. Bitte!« Marcs Stimme klingt flehentlich.

Carolin windet sich aus seiner Umarmung und macht einen Schritt zur?ck.

»Weisst du, Marc, das war heute eine sehr unangenehme Situation f?r mich. Ich m?chte wirklich, dass das mit uns funktioniert. Aber das habe ich nicht allein in der Hand, du musst dich genauso einbringen.«

»Aber das mache ich doch!«

»Nein, das finde ich nicht. Wenn ich dich in letzter Zeit gefragt habe, ob bei dir alles in Ordnung ist, weil ich eben das Gef?hl hatte, dass etwas nicht stimmt, hast du sofort dichtgemacht. Du bist nicht offen mit mir.«

»Ich weiss jetzt wirklich nicht, wovon du redest.«

»Nein? Dann denk mal dr?ber nach. So, Herkules, kommst du rein mit mir? Oder bleibst du lieber bei Marc?«

?h, ich, ?h … hallo? Nicht streiten! Was soll denn das?! Gut, die Sache mit der Rose war anscheinend nicht die Idee des Jahrhunderts, aber es war immerhin eine Idee. Eine ganz nette, wie ich mittlerweile finde. Carolin ist zu streng mit Marc. Wenn jemand einen Fehler einsieht, sollte man nichtnoch mit ihm schimpfen.

Ich denke daran, wie ich einmal auf dem weissen, flauschigen Teppich im Salon von Schloss Eschersbach ein dringendes Gesch?ft verrichtet hatte. In dem Moment, in dem es passiert war, wusste ich schon, dass das ein Fehler war. Und als der alte von Eschersbach dann auf mich zuschoss, um mit mir zu schimpfen, habe ich mich gleich in einer Geste der Unterwerfung vor seine F?sse gerollt und meinen Hals angeboten. Trotzdem hat er mich geschnappt und meine empfindliche Nase mitten in die Bescherung gedr?ckt. Obwohl ich mich gewissermassen entschuldigt hatte. Das habe ich mir gemerkt. Wenn ich danach etwas ausgefressen hatte, habe ich michnie wieder freiwillig gemeldet, sondern immer zugesehen, dass ich ganz schnell Land gewinne.

Auch Marc guckt Carolin nun so finster an, als h?tte er gerade beschlossen, nie wieder irgendeinen Fehler zuzugeben. Das allerdings kann Carolin nicht sehen, weil sie sich schon umgedreht hat und wieder auf dem Weg in die Werkstatt befindet. Ich ?berlege kurz, mit Marc zu gehen. Immerhin erholt sich Cherie in der Praxis noch von ihrem Unfall. Andererseits soll sie ?ber Nacht bleiben, wird also sp?ter auch noch da sein, und vielleicht kann ich bei Carolin ein bisschen gut Wetter f?r Marc machen. Schweren Herzens trotte ich deshalb hinter ihr in die Werkstatt.

Drinnen angekommen, legt Carolin die Rose achtlos auf den kleinen Tisch im Flur, auf dem auch das Telefon steht. Dann schnappt sie sich selbiges und geht ins n?chste Zimmer, um zu telefonieren. Nicht einmal Wasser f?r die arme Blume holt sie. Pfui, wie gemein! Ich beschliesse, ein Zeichen zu setzen. Carolin soll wissen, dass ich ihr Verhalten nicht gutheisse. Einer muss ja hier zu Marc halten. Stichwort Solidarit?t unter M?nnern.

Das Telefontischchen ist so niedrig, dass ich mit den Vorderpfoten leicht daraufspringen kann. Kaum habe ich das getan, komme ich auch mit der Schnauze an den Rosenstiel. Ich fasse zu und habe die Rose im Maul. Dann ziehe ich sie vorsichtig vom Tisch herunter. Noch einmal fest nachfassen– passt! Ich trabe mit der Rose im Maul zu Carolin, setze mich vor sie und gucke sie m?glichst vorwurfsvoll an. Leider telefoniert Carolin und bemerkt mich nicht gleich.

»Ja, Herr Lemke, ich habe mir die Instrumente bereits angesehen. Sie sind wirklich sehr sch?n. Das ist nat?rlich ein sehr grosser Auftrag, der einige Zeit in Anspruch nehmen wird.«

Sie horcht auf die Stimme aus dem Telefon.»Hm, aber Herr Carini arbeitet nicht mehr in Hamburg. Ja. Sie haben Recht, wir waren ein tolles Team. Ihn gewissermasseneinkaufen f?r diesen Auftrag? Ich weiss nicht, aber ich kann ihn nat?rlich fragen.«

Der Mensch am anderen Ende der Leitung redet jetzt sehr eindringlich auf Carolin ein, ich kann seine Stimme ab und zu h?ren. Carolin h?rt ihm aufmerksam zu, dann nickt sie.

»Ja, ja. Das stimmt. Vielleicht hat er Zeit und Lust. Ja, versprochen, ich werde mit ihm sprechen. Danke, Herr Lemke, ich melde mich dann.«

Sie beendet das Gespr?ch und schaut den Telefonh?rer eine Zeitlang versonnen an.

»Daniel Carini, wird das wieder etwas mit uns?«

Sie l?chelt, macht einen Schritt nach vorne – und tritt mir auf den Schwanz. Aber richtig! JAUL, aua, geht’s noch? Ich bin doch wohl nicht unsichtbar!

»O Gott, Herkules, das tut mir leid! Ich habe dich gar nicht gesehen! Mein Armer – und hattest du etwa noch mal Marcs Rose angeschleppt? Und ich beachte dich gar nicht? O je, komm mal auf meinen Arm.«

Sie hebt mich hoch, geht mit mir zu dem Korbsessel, der neben ihrer Werkbank steht, und setzt sich mit mir. Dann beginnt sie, mich hinter den Ohren zu kraulen. Recht so! Ein bisschen Z?rtlichkeit ist jetzt wohl das mindeste, was ich als Wiedergutmachung erwarten kann. Vielleicht auch noch einen Zipfel Fleischwurst.

»Ein verr?ckter Tag heute, nicht wahr? Ich weiss langsam gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Erst der Unfall heute fr?h, mein erster Einsatz als OP-Schwester, der Auftritt von dieser bl?den Kuh, der Streit mit Marc – puh, mir reicht’s so langsam.« Z?rtlich streicht sie mir ?ber den Kopf. Mhm, wenn ich Herr Beck w?re, w?rde ich jetzt schnurren.

»Aber der letzte Anruf war nett. Herr Lemke, ein sehr guter Kunde. Er handelt mit Instrumenten und hat vielleicht einen Grossauftrag. Den schaffe ich allein gar nicht, und er hat sich deshalb gleich nach Daniel erkundigt. Du erinnerst dich doch noch an Daniel, oder?«

WUFF! Nat?rlich erinnere ich mich an Daniel! Was f?r eine Frage, Daniel ist schliesslich einer der nettesten Menschen ?berhaupt. Fr?her hat er zusammen mit Carolin in der Werkstatt gearbeitet, er baut n?mlich auch Geigen. Als wir endlich Carolins bl?den Freund Thomas los waren, hatte ich lange Zeit gehofft, dass Daniel mein neues Herrchen werden w?rde. Daraus wurde aber nichts, obwohl Daniel in Carolin verliebt war. Am Ende blieb mit Marc noch genau ein Kandidat ?brig, auf den Carolin und ich uns einigen konnten – und trotzdem musste ich gaaanz tief in die Trickkiste greifen, damit aus den beiden etwas wurde. Purer Stress war das damals! Aber wo war ich stehengeblieben ? Richtig. Daniel. Der setzte sich dann kurzerhand mit Aurora ab, einer sehr attraktiven Stargeigerin. Also, dass sie attraktiv war, hat Daniel behauptet. Ich pers?nlich fand ihre Eigenart, sich im Gesicht mit Farbe anzumalen, h?chst suspekt.

Die Aussicht, dass Daniel nun vielleicht zur?ck in die Werkstatt kommt, finde ich allerdings klasse. Tags?ber mal ein Gespr?ch unter M?nnern, noch dazu mit einem so netten Hundefreund wie Daniel, ist doch eine willkommene Abwechslung nach den ganzen menschlichen Problemgespr?chen, die ich mir hier in letzter Zeit anh?ren muss. Ich bin daf?r!

»Jedenfalls muss ich Daniel mal anrufen und ihn fragen, ob er Zeit und Lust h?tte, sich f?r ein paar Wochen von Aurora loszueisen und mir zu helfen.«

Als Zeichen meiner Zustimmung wedele ich begeistert mit dem Schwanz, was gar nicht so einfach ist, weil ich noch auf Carolins Schoss sitze.

»Hey!« Carolin kichert. »Das kitzelt, Herkules! Komm, ich setz dich wieder runter.«

Auf dem Boden lande ich direkt neben der Rose, die von dem ganzen Hin und Her schon ein bisschen mitgenommen aussieht. Carolin hebt sie auf und schaut sie nachdenklich an. Dann geht sie zum Waschbecken in ihrem Werkraum, nimmt ein Glas vom Regal dar?ber, f?llt es mit Wasser und stellt die arme Rose hinein. So versorgt, landet diese schliesslich auf Carolins Werkbank.

Die n?chste Stunde verbringt Carolin damit, Holzst?cke zu hobeln. Immer wieder setzt sie den Hobel ab und betrachtet das Holz, setzt wieder an, arbeitet ein wenig, setzt ab, guckt. Sie sieht sehr konzentriert dabei aus, fast habe ich das Gef?hl, dass sie gerade ganz froh ist, sich endlich wieder mitHolz besch?ftigen zu k?nnen.

Das Klingeln an der Werkstattt?r reisst sie schliesslich aus der Arbeit. Sie seufzt und geht nach vorne – es ist Nina, die einigermassen aufgeregt aussieht.

»Gr?ss dich, Carolin! Du, ich muss dir unbedingt etwas erz?hlen.«

Na, endlich r?ckt sie mit der Sprache raus! Es geht doch bestimmt um Sabine.

»Muss das jetzt sein? Ich habe so viel zu tun und habe schon den ganzen Vormittag in Marcs Praxis verplempert.«

»Echt? Seit wann bist du denn Sprechstundenhilfe?«

»Gar nicht. Aber Frau Warnke, seine Assistentin, ist einfach nicht gekommen, und gleich heute fr?h gab es einen Notfall. Da brauchte Marc dringend etwas Hilfe.«

»Wie nett von dir. Aber es ist trotzdem wichtig. Magst du nicht kurz hochkommen? Falls du noch nichts gegessen hast, gibt’s bei mir noch Mozzarella mit Tomate. Was meinst du?«

Carolin l?chelt.

»Das klingt nat?rlich gut. Okay, ich komme gleich rauf. Muss nur noch eine Sache zu Ende machen.«

»Diese Sabine war in Marcs Wohnung? Und ich habe nichts davon mitbekommen? Unglaublich.« Herr Beck ist fassungslos. Wir liegen unter dem Esstisch in Ninas K?che, und ich gebe Beck eine kurze Zusammenfassung der letzten 24 Stunden.

»Genau so war es. Und was noch unglaublicher ist: Sie dachte, Nina sei Carolin. Und Nina hat nichts dazu gesagt, sondern sie einfach in dem Glauben gelassen. Heute Morgen ist Sabine nochmal aufgekreuzt und dachte dann, die echte Carolin sei Frau Warnke. Deshalb hat sie Marc gek?sst, obwohl Carolin daneben stand.«

Beck sch?ttelt den Kopf.

»Kleiner, jetzt geht die Phantasie mit dir durch. Das bildest du dir eindeutig ein. Ich m?sste doch schon v?llig senil sein, wenn ich von dem wilden Durcheinander nichts mitbekommen h?tte. Das macht wahrscheinlich deine ganze Aufregung um diese Cherie. Da haben dir die Hormone schon v?llig denKopf vernebelt. Nee, nee, mein Lieber, diese w?ste Geschichte kauf ich dir nicht ab.«

Hormone? Was meint Herr Beck denn damit? Ob das so was wie dieser Alkohol ist, den sich die Menschen bei jeder Gelegenheit reinkippen und mit dem sie nicht klar denken k?nnen? Aber ich habe nichts dergleichen zu mir genommen, eingebildet habe ich mir das ganze Tohuwabohu mit Sicherheit nicht. Ausserdem kann ich ganz entspannt bleiben, denn ich gehe mal davon aus, dass die dringende Geschichte, die Nina gleich loswerden will, im Wesentlichen mit meiner ?bereinstimmt. Und dann wird Beck ganz sch?n dumm aus der W?sche gucken. Was schl?ft der auch an entscheidender Stelle ein? Selbst schuld! Ich krieche unter dem Tisch hervor. Wenn es gleich losgeht, will ich schliesslich alles mitbekommen. Beck hingegen bleibt liegen. Er scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein.

Nina stellt zwei Gl?ser auf den Tisch und giesst sie voll. Alkohol? Hormone? Egal. Hauptsache, sie f?ngt endlich mal an zu erz?hlen.

»Also, du wirst nicht glauben, was gestern passiert ist, als ich bei euch gebabysittet habe.«

»Nun mach’s mal nicht so spannend. Es ist bestimmt nicht so unglaublich wie die Geschichte, die ich dir dann noch erz?hlen werde.«

»Das werden wir sehen! Ich habe jedenfalls einen ziemlichen Knaller: Sabine Wagner war gestern Abend da!«

»Was?! Die war gestern schon da?«

Nina guckt irritiert.

»Wiesoschon da? Wusstest du, dass die in Hamburg ist? Ich dachte, die wohnt in M?nchen.«

»Erkl?r ich dir sp?ter. Erz?hl erst mal weiter – sie war also gestern Abend da. Und was wollte sie?«

»Mit Marc sprechen. Ehrlich gesagt, dachte sie, ich sei du. Tja, und dann habe ich sie reingelassen und mich mit ihr unterhalten. Wollte mal h?ren, was sie so zu sagen hat.«

»Du hast WAS?!«

»Ich habe mich mit ihr unterhalten.«

»Und dabei so getan, als seist du ich? Bist du eigentlich v?llig verr?ckt geworden?« Carolin ist aufgesprungen. Herr Beck auch. Na, wer sagt’s denn? Wenn ich in der Lage w?re, h?misch zu grinsen – jetzt w?rde ich es tun.

»Na ja, sie ist mehr oder weniger gleich zur Sache gekommen, ich konnte sie kaum bremsen und das Missverst?ndnis aufkl?ren.«

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht! Du wolltest sie aushorchen!«

»Also bitte, warum sollte ich denn so etwas tun, das ist doch v?lliger Quatsch.«

»Ich kann dir genau sagen, warum: Weil du Marc nicht ausstehen kannst und du gehofft hast, irgendetwas Negatives ?ber ihn zu erfahren.«

Jetzt springt auch Nina auf.

»Wie kannst du nur so etwas von mir denken?«

»Entschuldige, das liegt doch wohl nahe. Jeder normale Mensch h?tte Sabine gleich gesagt, dass sie ein anderes Mal wiederkommen soll. Ich bleibe dabei: Seitdem das mit dir und Marc nicht geklappt hat, ist er f?r dich ein rotes Tuch. Und wenn Sabine irgendwelche Schauerm?rchen ?ber ihn erz?hlt hat, war es dir bestimmt sehr recht. Du warst doch auch von Anfang an dagegen, dass ich mit Marc zusammenziehe. Allein dieser gruselige Beziehungsratgeber, den du mir geschenkt hast – negativer geht’s ja kaum.«

Jetzt sagt Nina gar nichts mehr, sondern setzt sich wieder auf ihren Stuhl. Carolin macht das Gleiche, die beiden Frauen starren sich an. Herr Beck und ich sitzen nebeneinander und warten gespannt, was nun passieren wird. Schliesslich r?uspert sich Nina.

»Es tut mir leid, Carolin. Du hast wahrscheinlich Recht. Unsinn – du hast Recht! Marc ist wirklich ein rotes Tuch f?r mich, und die Tatsache, dass ihr ein Paar seid und jetzt sogar zusammenwohnt, ist schwer zu verdauen. Aber du bist meine beste Freundin, und ich bem?he mich wirklich, dir dein Gl?ck zu g?nnen. Meist klappt das gut, manchmal leider nicht. Tja, und gestern Abend war wohl so ein Fall vonmanchmal. Nimmst du eine Entschuldigung an?«

Carolin nickt.

»Ich kann verstehen, dass die Situation f?r dich nicht einfach ist. Aber ich hoffe trotzdem, dass du und Marc euch zusammenraufen k?nnt. Ihr seid mir beide wichtig, es w?re schlimm, wenn ihr euch dauerhaft nicht versteht. Also, als Wiedergutmachung w?nsche ich mir, dass du es nochmal im Guten mit ihm versuchst.«

Nina hebt die rechte Hand.

»Versprochen! Aber was wolltest du mir denn erz?hlen?«

»Sabine war heute Vormittag in der Praxis. Sie hat sich sehr abf?llig ?ber mich ge?ussert, hat Marc angegraben und entschwand mit einem K?sschen f?r ihn, obwohl ich direkt daneben stand. Jetzt erscheint mir ihr Auftritt allerdings in einem anderen Licht. Genau genommen hat sie sich ja eher abf?llig ?ber dich ge?ussert.« Carolin muss grinsen, und nun f?ngt auch Nina an zu kichern. Gott sei Dank – alles wieder gut zwischen den Damen!

»Sie sagte, ich – also du – sei eine Frau ohne Format.« Beide prusten laut los.

»Hat sie gedacht, du seist die Sprechstundenhilfe?«

»Offensichtlich. So muss es wohl gewesen sein. Der arme Marc.«

»Wieso?«

»Ich habe ihn anschliessend ganz sch?n zusammengefaltet. Weil ich mich nat?rlich gefragt habe, was in aller Welt er Sabine ?ber mich erz?hlt hat. Und weil er auch nicht sofort zu meiner Verteidigung geschritten ist. Na ja, er war nat?rlich von ihrem Auftritt ebenso ?berrascht wie ich, aber in meiner Wut hat mich das ?berhaupt nicht interessiert. Vielleicht war ich doch ein bisschen ungerecht zu ihm.«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.«

Carolin rollt mit den Augen.

»Was soll das denn nun wieder heissen? Du hast doch gerade versprochen, nicht mehr zu sticheln. Und genau genommen geht ein Teil dieses Streits auch auf dein Konto. Wenn du dich nicht als meine Wenigkeit ausgegeben h?ttest, w?re es zu der Szene heute gar nicht erst gekommen.«

»Ja doch, du hast ja Recht. Allerdings darf ich wohl schon sagen, wenn ich finde, dass der gute Marc sich etwas ungeschickt verh?lt. Sabine war n?mlich deswegen so spontan bei euch, weil sie sich mit Marc gestritten hat und nun in Ruhe mit ihm reden wollte. Und sie haben sich gestritten, weil Marc ihr ?berhaupt nicht erz?hlt hat, dass du bei ihm eingezogen bist. Sie hat es erst von Luisa erfahren. Was sie als Mutter nat?rlich ziemlich genervt hat. Schliesslich will man doch wissen, mit wem das eigene Kind zusammenlebt. Das habe selbst ich als bekennende Nicht-Mutter verstanden.«

Gut, ich als bekennender Fast-Dackel verstehe es nach wie vor nicht so ganz, aber Carolin sieht so aus, als w?sste sie genau, wovon Nina spricht. Herr Beck hingegen scheint sich M?he zu geben, seine Ohren h?ngen zu lassen – was ihm als Kater nat?rlich nicht gelingen kann.

»Irgendwann werden mich die Menschen noch in den Wahnsinn treiben. Zu kompliziert, sie sind einfach zu kompliziert. Kein Wunder, dass ich gestern Abend eingeschlafen bin, bevor diese Sabine aufgekreuzt ist. Das war der reine Selbstschutz. Das h?lt doch kein Tier auf Dauer aus. Nur gut, dass Nina Single und kinderlos ist. Ich hoffe, das bleibt auf absehbare Zeit so. Ich meine, Luisa ist wirklich ganz zauberhaft – aber dieser ganze Stress? N?!« Er verdr?ckt sich wieder unter den Tisch.

»Jetzt verstehe ich auch, warum Marc in letzter Zeit so merkw?rdig reagiert hat, wenn ich ihn auf Luisa angesprochen habe. Wahrscheinlich hatte er da schon ?rger mit Sabine. «

»Sabine sagte jedenfalls, dass sie schon versucht h?tte, mit Marc dar?ber zu sprechen«, best?tigt Nina.

»M?nner!«, seufzt Carolin. »ImProbleme aussitzen sind sie ganz grosse Klasse. Sabine einfach nicht von dem Umzug zu erz?hlen – auf so eine Idee muss man doch erst mal kommen.«

Hm. Ich finde, die Idee liegt ziemlich nahe. Es h?tte ja auch gut gehen k?nnen, und dann w?ren es mit Sicherheit mindestens drei Problemgespr?che weniger gewesen. Aber ich bin ja auch ein Mann. Kein Wunder, dass ich so denke.

ZW?LF

Cherie sieht schon wieder deutlich munterer aus. Die Wunde?ber ihrem rechten Auge ist zwar noch ziemlich geschwollen, aber das macht nichts. Eine sch?ne Frau entstellt bekanntlich nichts.

Anscheinend hat sie sich mit Luisa angefreundet, w?hrend ich mit Carolin in der Werkstatt war. Jedenfalls sitzen die beiden ganz eintr?chtig nebeneinander in der K?che, als ich mit Carolin wieder nach Hause komme.

Marc steht am Herd und kocht irgendetwas, das definitiv nicht so riecht wie das leckere Geschnetzelte nach dem Rezept von Oma Burgel. Eher wie etwas, das g?nzlich ohne Fleisch zustande gekommen ist. Igitt!

Carolin stellt sich neben ihn und gibt ihm einen Kuss auf die Wange, er dreht sich zu ihr und erwidert den Kuss.

»Hallo, Schatz! Ich dachte, ich koche etwas Leckeres f?r uns. Spaghetti Puttanesca – wie in unserem Urlaub an der Amalfi-K?ste, weisst du noch?«

Ob Carolin das noch weiss, weiss wiederum ich nicht. Ich allerdings weiss es noch genau – denn ich durfte nicht mitkommen und habe vier lange Tage bei Nina gefristet, die bei Dauerregen einfach nicht mit mir spazieren gehen wollte. Immer nur kurz an den Baum vor ihrer damaligen Haust?r. Richtig ?tzend war das. Also h?rt mir auf mit der Amalfi-K?ste! Carolin l?chelt hingegen versonnen und k?sst Marc schon wieder.

»Ja, Amalfi. Wie k?nnte ich das vergessen?«

»Bist noch b?se auf mich?«

»Nein. B?se bin ich nicht mehr. Aber ein paar Fragen habe ich schon.«

»So?«

»Ja. Aber lass uns sp?ter dr?ber reden.«

Cherie kommt zu mir gelaufen.»Hoppla! ?rger im Paradies?«, will sie wissen.

»Da fragst du jetzt den Falschen. Ich habe echt keine Ahnung, wor?ber die beiden sich streiten. Hat aber irgendwas mit seiner Exfrau zu tun.«

Cherie sch?ttelt bedauernd den Kopf. »Ja, ja, Exfrau, Exmann – ein schwieriges Thema. Ist bei meinem Frauchen auch so. Er hat sie mit einem Haufen Schulden sitzen lassen, und sie ist jetzt die Dumme.«

»Was sind denn Schulden?«

»So genau weiss ich das auch nicht, aber es hat mit Geld zu tun, und es verursacht eine Menge Probleme. Mein Frauchen ist deswegen jedenfalls immer ziemlich traurig. Irgendwie bedeutet es, dass man weniger als gar kein Geld hat und nicht mehr so leben kann, wie man eigentlich m?chte.«

»Ach so, verstehe.« Das klingt kl?ger, als es eigentlich ist. Denn ehrlicherweise verstehe ich nicht so recht, was Cherie meint. Ich dachte immer, Menschen leben auf alle F?lle so, wie sie m?chten. Sie k?nnen es sich selbst aussuchen. ?ber sie bestimmt doch niemand. Bei uns Haustieren hat letztendlich immer der Mensch das letzte Wort. Wie kann es da sein, dass ein Mensch nicht so lebt, wie er m?chte? Wer hat denn dann das letzte Wort? R?tselhaft, das.

»Wie geht es denn unserer Patientin?«, will Carolin von Marc wissen.

»Ich glaube, sie hat alles gut ?berstanden. Wenn wir in einer Klinik w?ren, m?sste sie in der ?berwachungsbox bleiben, und irgendein armer Studierender der Veterin?rmedizin w?rde jede Stunde nach ihr gucken. Aber nachdem ich ja nur eine poplige Kleintierpraxis betreibe – wie meine Exfrau so zutreffend feststellte –, wird Cherie einfach die Nacht mit uns verbringen.«

»Herkules wird es dir danken. Ich habe den Eindruck, dass die beiden gewissermassen zarte Bande gekn?pft haben.«

Marc lacht.»Tja, ein echtes Traumpaar. Schade, dass sie ungef?hr doppelt so gross ist wie er.«

T?usche ich mich, oder klingt das abwertend? Warum wird hier eigentlich immer alles an der k?rperlichen Gr?sse festgemacht? Hat er etwa Cherie beruhigt, als es ihr so schlecht ging? Eben! Ich kann es nur wiederholen: Jemand, der so unsensibel ist, sollte nicht Tierarzt sein. Sondern lieber ein Arzt f?r Menschen. Die k?nnen bestimmt besser damit umgehen.

Anscheinend habe ich geknurrt, denn Cherie stupst mich an.»Hey, alles in Ordnung? Du wirkst auf einmal so ?bellaunig.«

»Ach nein, es ist nichts.« Hoffentlich hat Cherie Marcs Bemerkung nicht geh?rt. Das w?re mir irgendwie unangenehm.

»So, Essen ist fertig. Bitte Platz zu nehmen!«

Marc stellt eine grosse Sch?ssel mit dampfendem Inhalt auf den Esstisch. Carolin und Luisa setzen sich dazu. Marc f?llt den beiden ihre Teller auf.

»Iieh, Papa – was ist denn das f?r gr?nes Zeugs an den Nudeln?« Soweit ich das von hier unten beurteilen kann, stochert Luisa wohl wenig begeistert mit ihrem Besteck in den Nudeln herum.

»Das Gr?ne sind Kapern. Probier doch mal, sehr lecker!«

»Nein, das mag ich nicht. Gibt’s nicht was Vern?nftiges?«

»Hey, wie redest du denn ?ber das Essen, das dein Vater dir liebevoll zubereitet hat?« Marc klingt entt?uscht. Aber kann man es Luisa verdenken? Er ist doch selbst schuld, wenn er seiner Familie hier so ungeniessbare Dinge vorsetzt. Und apropos: seiner Familie. Was ist eigentlich mit Cherie undmir? Kriegen wir gar nichts? Oder sollen wir etwa auch dieseKapern fressen? Also,?ber die Versorgungslage im Hause Wagner m?ssen wir uns nochmal ernsthaft unterhalten. Wenn ich da an Herrn Beck denke, der nun jeden Tag von Nina bekocht wird, bekomme ich glatt noch schlechtere Laune.

»Hast du denn keine Hackfleischsauce, Papa? Mama macht zu Spaghettiimmer Hackfleischsauce. Die schmeckt viel, viel besser. Also das hier ess ich nicht. Das ist eklig.«

Luisa schiebt den Teller von sich weg. Marc springt von seinem Platz auf und schiebt den Teller wieder zu ihr hin.

»Verdammt noch mal, Luisa! Du probierst das wenigstens. Ich stell mich doch nicht eine Stunde in die K?che, damit du mir von der tollen Hackfleischsauce deiner Mutter erz?hlst.« Marc br?llt jetzt richtig, Luisa f?ngt an zu weinen.

»Marc, nun h?r doch auf, das Kind anzuschreien. Du kannst doch niemanden durch Rumgebr?ll dazu zwingen, etwas zu essen, was er nicht mag«, schaltet sich Carolin in den Streit ein.

»So, kann ich nicht? Wisst ihr was? Mir ist der Appetit jetzt auch vergangen.« Er dreht sich um und geht aus der K?che. Carolin und Luisa bleiben schweigend zur?ck.

Cherie schaut mich erstaunt an.

»Auweia! Geht es hier immer so zur Sache? Da lob ich mir doch das Alleinleben – bei uns zu Hause ist es sehr friedlich.«

»Tja, in dieser Konstellation probieren wir es auch noch nicht so lange. Und ich muss sagen: Ich hatte es mir einfacher vorgestellt.«

Carolin steht auf und geht zu Luisas Platz.

»Komm, sei nicht traurig. Dein Vater hatte heute einfach einen sehr anstrengenden Tag. Ich glaube, ihm sind deswegen ein wenig die Nerven durchgegangen. Wenn du m?chtest, schmiere ich dir ein Brot.«

Luisa sch?ttelt den Kopf.

»Nein, danke. Ich versuche jetzt mal die Spaghetti mit dieser komischen Sauce zu essen. Vielleicht geht es Papi dann wieder besser.«

Carolin streicht ihr?ber den Kopf.

»Na gut, dann lass uns mal aufessen, und dann spielen wir noch etwas zusammen, okay? Bestimmt macht Marc mit, wenn er sich wieder beruhigt hat.«

»Kannst du ihn das fragen?«, will Luisa wissen.

»Nat?rlich. Das mach ich.«

Tats?chlich hat sich etwas sp?ter die Lage wieder beruhigt: Marc, Luisa und Carolin hocken vor dem kleinen Sofatisch und spielen etwas, das sichMensch-?rgere-Dich-Nicht nennt. Es scheint einigermassen lustig zu sein, jedenfalls lachen die drei viel, was nach dem Streit beim Abendessen ziemlich wohltuend ist.

Entspannt bin ich trotzdem nicht: Cherie und ich liegen nebeneinander auf dem Teppich, was bei mir in regelm?ssigen Abst?nden f?r Herzrasen sorgt. Bei Cherie ist leider das Gegenteil der Fall, sie ist mittlerweile eingeschlafen. Ich tr?ste mich damit, dass sie nach diesem langen Tag wahrscheinlich zu ersch?pft ist, um in meiner N?he noch solche Symptome wie Herzrasen zu entwickeln.

Als Luisa im Bett ist, holt Marc eine Flasche und zwei Gl?ser aus der K?che ins Wohnzimmer. Er schenkt ein, dann reicht er Carolin ein Glas.

»So, bitte sch?n. Wollen wir mal dar?ber sprechen, was heute eigentlich passiert ist? Mir w?re allerdings sehr an einem friedlichen Ende des Abends gelegen. Kriegen wir das hin?«

Carolin nickt.»Ich glaube schon. Das muss doch m?glich sein – unter erwachsenen Menschen.« Beide lachen. Nach meiner Erfahrung schon mal ein gutes Zeichen.

»Es tut mir leid, dass ich eben so ausgerastet bin. Ich habe mich daf?r auch bei Luisa entschuldigt – die allerdings zugibt, dass meine Sauce doch nicht so schlecht war.« Er grinst. »Mann, als sie das mit Sabines Hackfleischsauce sagte, sind bei mir echt die Sicherungen durchgebrannt. War aber auch ein amtlicher Scheisstag heute. Erst taucht die Warnke nicht auf, daf?r aber Sabine, dann haust du ab, unser Streit vor der Werkstatt, sp?ter das verungl?ckte Abendessen … na ja.«

»Dass ich dich vor der Werkstatt so angemacht habe, tut mir auch leid. Immerhin steht deine Rose jetzt in einem Glas auf meiner Werkbank.«

Marc r?ckt n?her an Caro heran und k?sst sie auf die Wange. »Ich dachte, die h?ttest du gleich in die Biotonne geschmissen – so b?se, wie du mich angestarrt hast.«

»Nein, du hattest einen prominenten F?rsprecher: Herkules hat sie vom Boden aufgeklaubt und mir hinterhergetragen. «

»Danke, Kumpel!«, lobt mich Marc. »Aber ich glaube, Herkules hat momentan auch ein Herz f?r an der Liebe leidende M?nner. Guck mal, wie unser Kleiner an dieser Cherie dranh?ngt, obwohl er da gar keine Chance hat. Putzig.«

Ha, ha, sehr witzig! Sieh du lieber mal zu, dass du dein eigenes Privatleben auf die Reihe kriegst, mein Lieber. Damit hast du momentan wohl genug zu tun.

»Eine Sache ist mir aber extrem wichtig: Wenn es ?rger mit Sabine gibt, der auch mich betrifft, dann m?chte ich, dass du mir davon erz?hlst.«

Marc nickt.

»Klar, das verstehe ich. Aber ich wusste wirklich nicht, dass sie in Hamburg ist. Ich war von ihrem Auftritt genauso ?berrascht wie du. Grosses Ehrenwort!«

»Ich weiss. Ich hatte in der Zwischenzeit ein sehr aufschlussreiches Gespr?ch mit Nina. Stell dir vor – Sabine war gestern Abend schon da. W?hrend wir essen waren.«

»Bitte? Aber warum hat Nina denn nichts davon erz?hlt?«

»Tja, jetzt krieg bitte keinen Tobsuchtsanfall.«

»Nein, versprochen. Nun erz?hl schon.«

»Nina hat Sabine gestern in dem Glauben gelassen, dass sie Carolin sei, weil sie h?ren wollte, was Sabine so erz?hlt. Und das wollte sie dann erst mal mir erz?hlen.«

»Unglaublich – was f?llt dieser dummen Kuh ein? Die kauf ich mir, die werde ich gleich mal …«

Carolin legt beschwichtigend einen Arm um Marcs Schulter und zieht ihn n?her an sich heran. »Hallo, kein Tobsuchtsanfall. Schon vergessen?«

»Ja, hast ja Recht. Aber das ist doch wirklich unm?glich, oder etwa nicht?«

»Klar ist es das. Und ich habe Nina deswegen auch schon ordentlich den Kopf gewaschen. Sie war einsichtig und hat sich entschuldigt.«

»Das ist wohl das Mindeste.«

»Eine Sache hat mir allerdings schon zu denken gegeben.«

»N?mlich?«

»Nina sagt, Sabine habe sich bei ihr beklagt, dass du ihr nicht gesagt h?ttest, dass ich bei dir einziehe. Sie h?tte es von Luisa erfahren.«

Carolin schaut Marc fragend an, der schweigt.

»Wenn das wirklich so war, ist es nicht wirklich verwunderlich, dass Sabine w?tend auf dich und nicht besonders gut zu sprechen auf mich ist.«

Marc schweigt immer noch.

»Also hast du es ihr tats?chlich nicht erz?hlt.« Sie seufzt. »Kannst du nicht mal etwas dazu sagen?«

»Was soll ich noch dazu sagen? Das Tribunal hat mich doch bereits ?berf?hrt.«

»Hey!« Carolin runzelt die Stirn. »Nicht wieder streiten! Was heisst denn hierTribunal? Ich m?chte nur von dir wissen, was du Sabine gesagt hast – oder auch nicht.«

»Ich habe es ihr nicht gesagt, weil ich der Meinung bin, dass es sie nichts angeht. Punkt.«

»Ja, aber …«, will Carolin darauf erwidern, aber Marc f?llt ihr sofort ins Wort.

»Und im ?brigen bin ich der Meinung, dass ich dich nicht fragen muss, was ich meiner Exfrau wann sage.«

Eins merkt selbst ein kleiner Dackel: Dieses Thema ist f?r Marc ein rotes Tuch. Und daf?r, dass er sich so sehr ein friedliches Ende des Abends w?nscht, ist er wieder ganz sch?n unfriedlich. Hoffentlich beh?lt wenigstens Carolin die Nerven, sonst kracht es bestimmt gleich wieder.

»Schatz, ich weiss, dass Sabine dich sehr verletzt hat. Und ich kann verstehen, dass du immer noch w?tend auf sie bist. Aber es muss m?glich sein, dass wir dar?ber in Ruhe reden. Und dass ich auch eine eigene Meinung dazu vertreten darf. Sonst haben wir in absehbarer Zeit ein echtes Problem.«

Sehr gut, Carolin. Immer ruhig bleiben. Damit bist du ganz auf Opilis Linie:Bei sehr aufgeregten Hunden hilft nur ein ganz ruhiger J?ger, der den ?berblick beh?lt. Sonst verjagt sich das Rudel in k?rzester Zeit. Gut, vielleicht ist die Kommunikation zwischen J?ger und Hund nicht eins zu eins auf die zwischen Frau und Mann ?bertragbar, aber da es sich in beiden F?llen um Paare handelt, kann man vielleicht gewisse Parallelen ziehen.

»Entschuldige, Caro. Du hast Recht. Aber bei dieser Geschichte sitze ich sofort auf der Palme. Ich bem?he mich aber auch redlich, wieder hinunterzuklettern.« Er l?chelt. Etwas gequ?lt, aber er l?chelt. Faszinierend. Es funktioniert also tats?chlich. Nicht nur zwischen J?ger und Hund.

»Brav, mein Lieber!«, lobt ihn Carolin. Und auch das ist gewissermassen nach Lehrbuch.Den folgsamen Hund immer loben!, war einer der wichtigsten Grunds?tze des alten von Eschersbach. Er hatte zu diesem Thema sogar einmal etwas in derWild und Hund geschrieben, einer Zeitschrift, die in regelm?ssigen Abst?nden zu uns aufs Schloss flatterte. Alle waren deswegen ganz stolz, Emilia hat uns damals sogar vorgelesen, was der Alte da verzapft hatte, und anschliessend bekam das Heft in der Schlossbibliothek einen Ehrenplatz. Ja, von Eschersbach war zwar sonst ein harter Knochen, aber in der Hinsicht sehr verl?sslich. Wenn man genau machte, was er wollte, konnte man gut mit ihm auskommen. Vielleicht k?nnte Carolin ja auch mal in derWild und Hund… ?

»Weisst du, Sabine war damals Knall auf Fall verschwunden. Mit Luisa. Ich kam nach Hause, und die Wohnung war so gut wie leer. Es war der furchtbarste Tag in meinem Leben. Sie war einfach zu diesem Jesko gezogen, ohne vorher auch nur ein Wort dar?ber zu verlieren. Und dass diese Frau nun hier aufkreuzt und meint, mir sagen zu k?nnen, wie ich sie im Vorfeld h?tte informieren m?ssen – tut mir leid, da platzt mir der Kragen. Es hat mich sehr viel Kraft gekostet, wieder ein halbwegs normales Verh?ltnis zu ihr aufzubauen. Und ich habe das nur wegen Luisa ?berhaupt auf mich genommen. Aberzu mehr bin ich nicht bereit.«

Carolin holt Luft, so als ob sie dazu noch etwas sagen wollte, schweigt dann aber. Eine Weile sitzen sie so da, dann nimmt Marc Carolins H?nde.

»Vielleicht streichen wir den heutigen Tag einfach, ja? Er war wirklich eine Katastrophe.«

»Ja, tun wir das.« Sie k?ssen sich. »Ach so – von wegen Katastrophe: Hat sich eigentlich Frau Warnke mal gemeldet? Die kann doch nicht einfach nicht zur Arbeit kommen.«

»Stimmt. Das habe ich dir noch gar nicht erz?hlt. Dabei passt es zu meiner heutigen Gl?cksstr?hne: Ihr Freund hat heute Nachmittag angerufen. Es gibt zwei Neuigkeiten – gewissermassen eine gute und eine schlechte. Erstens ist Frau Warnke schwanger. Dazu habe ich nat?rlich gratuliert. Und zweitens geht es ihr so schlecht, dass sie heute Morgen ins Krankenhaus gekommen ist. Ich f?rchte, so schnell sehen wir sie nicht wieder.«

»O nein!«

»Genau. O nein. Das habe ich auch gesagt.«

»Aber was machst du denn jetzt ohne Helferin?«

»Dazu habe ich mir schon Gedanken gemacht und eine gute L?sung gefunden.«

»Und die w?re? Ich gebe meine Werkstatt auf und werde ab sofort deine Assistentin?« Carolin kichert.

»Auch ein verlockender Gedanke. Aber ich hatte noch eine andere Idee: Meine Mutter hilft mir. Sie hat es jahrelang bei meinem Vater gemacht, kennt also die Praxis. Und sie k?nnte sofort anfangen.«

»Deine Mutter?«

»Ja, gute Idee, oder?«

»Ja, toll.«

Ein Blick auf Carolins Gesicht, und ich weiss, dass sie das genaue Gegenteil denkt. Ein Wunder, dass Marc das nicht merkt. M?nner und Frauen. Richtig gut passen sie nicht zusammen.

DREIZEHN

Von aussen betrachtet wirkt der heutige Tag v?llig unspektakul?r. Draussen nieselt es, im Wartezimmer der Praxis sitzt nur ein einziger Herr mit seiner Katze, und Marcs Mutter sortiert am Tresen einen Papierstapel von links nach rechts. Sie kommt nun jeden Tag, um Marc zu helfen, und was auch immer Carolin bef?rchtet hatte – bisher ist noch nichts Schlimmes passiert. Im Gegenteil, meist kocht Oma Wagner nach Ende der Sprechstunde noch etwas Sch?nes f?r die ganze Familie und denkt dabei auch an mich. Wenn ich also mit Carolin aus der Werkstatt komme, freue ich mich schon richtig auf das Abendessen.

Heute allerdings bin ich gleich zu Hause geblieben, denn in Wirklichkeit ist dieser Tag doch spektakul?r: Ich werde mit Marc Schloss Eschersbach besuchen! Offenbar soll an einem der n?chsten Wochenenden die Pony?berraschungsparty f?r Luisa steigen. Jedenfalls wenn alles so klappt, wie Carolin sich das vorstellt. Es wird also h?chste Zeit, dass Marc sein Versprechen einl?st und den alten von Eschersbach endlich nach seinen Pferden fragt.

Jetzt nur noch der Typ mit der Katze– dann kann es losgehen. Marc schaut aus dem Behandlungszimmer.

»So, Herr Weiler, dann lassen Sie uns mal nachsehen, was Lucy haben k?nnte. Kommen Sie bitte?«

Und zwar ein bisschen dalli, m?chte ich hinzuf?gen, wenn ich mir ansehe, mit welchem Schneckentempo dieser Herr Weiler in Marcs Richtung schleicht. Wir haben schliesslich noch etwas Besseres vor!

Ich lege mich vor die T?r des Behandlungszimmers. Nicht, dass sich hier noch irgendein Notfall reinmogelt. Nach der Katze ist Schluss, basta!

»Na, Herkules, brauchst du auch einen Arzt?« Marcs Mutter hockt sich neben mich und krault mich unter dem Kinn. »Oder willst du noch ein kleines Fresschen, bevor ihr losfahrt?«

»Mutter, h?r bitte auf, den Hund zu m?sten. Der braucht weder drei Mahlzeiten am Tag noch zwei Kilo mehr auf den Rippen. Und dann bring mir doch bitte mal die Patientenakte von Lucy Weiler, hier liegt leider die falsche.« Marc steckt den Kopf durch die T?r des Behandlungszimmers.

»Ja, mache ich sofort. Aber drei Kilo w?rden Herkules auf keinen Fall schaden. Und dir ?brigens auch nicht, mein Schatz. Deine neue Freundin h?lt euch ja offensichtlich etwas kurz. Wenn ich die letzten Abende nicht gekocht h?tte …« Sie l?sst offen, was dann gewesen w?re.

Was sie damit sagen will, verstehe ich nicht. Es klingt aber nicht so, als ob es unbedingt nett gemeint war. Kurz gehalten? Bezieht sich das etwa auf meine Beine? Aber f?r die kann Carolin ja gar nichts. Und sie sind wegen meines Terrier-Vaters auch eher ein St?ck l?nger als bei Dackeln ?blich. Ausserdem ist Marc ziemlich gross. Das kann es also auch nicht sein. Aber was meint sie dann?

»Mutter, Carolin ist eine ausgezeichnete K?chin. Aber sie ist gleichzeitig eine berufst?tige Frau, sie hat also gar nicht die Zeit, mich st?ndig zu verpflegen. Das muss sie auch nicht. Ich bin schliesslich schon gross und kann mir im Zweifel selbst ein Brot schmieren.«

Frau Wagner schnappt h?rbar nach Luft. »Na ja, mein Junge. Man muss wissen, wie man seine Priorit?ten setzt. Nicht jede Frau stellt immer den Beruf an erste Stelle.«

Jetzt ist es an Marc, tief einzuatmen. Fast scheint es, als wolle er noch etwas sagen. Dann aber nimmt er nur die Akte, die ihm seine Mutter entgegenh?lt, und geht wieder ins Behandlungszimmer zur?ck.

Kurze Zeit sp?ter ist Lucys Problem anscheinend gel?st und Marc mit seiner Sprechstunde fertig.

»So, Herkules, dann wollen wir mal in deine alte Heimat starten. Hoffentlich klappt diese Ponygeschichte gleich. Ich k?nnte einen Erfolg bei Carolin momentan gut gebrauchen. Irgendwie l?uft es gerade nicht ganz rund bei uns, mein Freund.«

Es l?uft nicht rund? Bei Marc und Carolin? Was denn? Also, laufen tut doch sowieso nie jemand von den beiden. Marc springt in sein Auto, sobald er die Praxis verl?sst. Und Carolin f?hrt eigentlich immer Fahrrad. Wenigstens geht sie noch mit mir spazieren, in letzter Zeit absolviert sie dabei aber auch nur das absolute Pflichtprogramm. Also, dass es mit dem Laufen ein Problem gibt, ist eine Diagnose, die ich schon vor Monaten h?tte stellen k?nnen.

Wir verlassen das Haus, Marc verfrachtet mich– nat?rlich! – kurzerhand auf den Beifahrersitz seines Autos und f?hrt los. Es ist ziemlich viel Verkehr auf den Strassen. Als wir wieder einmal anhalten m?ssen, fasst Marc mit seiner rechten Hand kurz unter meinen Bauch.

»Also, mein Lieber, es tut mir leid, dir das so sagen zu m?ssen: Aber du hast eine ganz sch?ne Wampe bekommen. Meine Mutter kocht jetzt seit zwei Wochen f?r uns, und du hast schon mindestens ein Kilo zugenommen. Wenn das in dem Tempo weitergeht, k?nnen wir dich bald rollen. Ich glaube, ich muss mal dein Fressen rationieren. ?bergewicht ist gar nicht gesund, schon gar nicht f?r Hunde mit so einem langen R?cken.«

Ich starre Marc fassungslos an. Was f?llt dem ein? Ich bin doch nichtdick! Und falls ich tats?chlich ein klein wenig zugelegt haben sollte, dann eindeutig nur, weil ich in letzter Zeit zu wenig Auslauf habe. Marc nimmt die Hand zur?ck und legt sie wieder ans Steuer.

»Aber andererseits: Warum soll es dir besser gehen als mir? Mich m?stet sie ja auch. Ist eben meine Mutter. Ich hoffe nur, sie f?llt Caro noch nicht auf die Nerven. Vielleicht war meine Idee mit der Krankheitsvertretung doch nicht so gut.«

Dazu kann ich wenig sagen. Also, sagen kann ich nat?rlich sowieso nichts. Aber selbst wenn ich k?nnte – ich finde es sch?n, dass Frau Wagner nun da ist. Auch wenn ich ein klitzekleines bisschen zugenommen haben sollte. Und Luisa ist gl?cklich, ihre Oma so oft zu sehen. Denn die k?mmert sich nicht nur um die Praxis, sondern auch um Luisas Hausaufgaben. Vor dem Abendessen zeigt Luisa ihr jetzt immer ihre Schulhefte, und Oma Wagner sagt ihr, ob sie das richtig oder falsch gemacht hat. So lernen Menschenkinder lesen und schreiben. Ob ich das auch k?nnte? W?re bestimmt spannend. Ich w?rde mir ein Buch schnappen und diese Zeichen anstarren, und dann w?rden auch in meinem Kopf Bilder entstehen. Bei einem Buch ?ber die Jagd bestimmt welche von F?chsen und Kaninchen.

Das Auto wird langsamer, ich schaue aus dem Fenster. Wir haben die Stadt verlassen und fahren an einem W?ldchen vorbei. Marc biegt von der grossen Strasse ab, jetzt geht es direkt durch den Wald. Von hier oben aus dem Auto heraus ist es sehr schwer zu erkennen – aber ich glaube, dies ist bereits die Auffahrt zum Schloss! Aufgeregt h?pfe ich auf dem Sitz auf und ab.

»Da freust du dich, nicht? Aber bleib noch sitzen, wir halten ja gleich an.«

In diesem Moment taucht auch schon das Schloss auf. Es ist im Wesentlichen ein riesiges weisses Haus mit einem grossen Portal in der Mitte und zwei hohen T?rmen an der Stirnseite. Davor ein Schlossplatz mit einem Springbrunnen und dahinter ein riesiger Park. Marc parkt sein Auto auf dem Schlossplatz und l?sst mich heraus. Ich atme tief ein und geniesse den Geruch, der immer noch so viel von Heimat f?r mich hat. Klar, ich wohne jetzt schon mehr als mein halbes Leben bei Carolin, aber den Ort, an dem man seine Kindheit verbracht hat, vergisst man wohl nie.

Und er vergisst einen auch nicht: In diesem Moment kommt meine Schwester Charlotte auf mich zugeschossen. Sie wedelt wie wild mit dem Schwanz und kann nur m?hsam vor meinen Pfoten bremsen.

»Carl-Leopold! Das ist ja toll! Du bist es wirklich!« Sie schlabbert mir ?ber die Schnauze, dann setzt sie sich. »Immer, wenn der Tierarzt kommt, renne ich sofort zu seinem Auto in der Hoffnung, dich mal wiederzusehen. Schade, dass du so selten mitkommst.«

»Tja, ich bin ja meistens bei meinem Frauchen in der Werkstatt. Aber heute hat Marc selbst daran gedacht, dass er mich mitnehmen k?nnte. Er will irgendetwas ?ber eure Pferde und Ponys wissen.«

Charlotte schaut erstaunt.»Nanu? Ich glaube, die sind alle gesund. Ansonsten sind die ja sooo langweilig. Furchtbar dumme Tiere. G?nzlich uninteressant. Was will er denn mit denen?«

»Ich habe es auch nicht ganz verstanden. Aber Marc hat eine Tochter, Luisa, und die mag Ponys. Damit hat es irgendwas zu tun. Und mit ihren Freundinnen.«

»Aha. Menschenkinder und Ponys. Der Alte wird begeistert sein. Ich glaube, wenn es nach ihm ginge, w?ren die G?ule schon l?ngst abgeschafft. Aber die junge Gr?fin ist auch so ein Pferdenarr – und deswegen bleiben die Viecher. Sag mal, was ganz anderes«, Charlotte mustert mich, »hast du irgendwie zugenommen? Du siehst so … so … kr?ftig aus.«

Jetzt f?ngt die auch noch damit an!

»Vielleicht ein ganz kleines bisschen. Aber ich glaube eher nicht.« Ichhoffe eher nicht! Was wird sonst Cherie denken, wenn wir uns das n?chste Mal begegnen? Golden Retriever sind extrem sportliche Zeitgenossen, ich kann mir nicht vorstellen, dass ein kleiner, dicker Dackel bei ihr besonders gut ankommt. Ich versuche, mein B?uchlein einzuziehen und Charlotte besonders selbstbewusst anzustrahlen.

»Du hast nicht zugenommen? Okay, dann bilde ich es mir wohl ein. Ist ja auch kein Wunder – der Alte drillt hier alle Hunde auf schlanke Linie, ein St?ck Herz zu viel, und es gibt ?rger. Selbst hinter mir ist er her, obwohl ich doch Emilia geh?re und sowieso nicht zur Zucht tauge.«

Emilia ist die K?chin auf Schloss Eschersbach. Als der alte Schlossherr auf die glorreiche Idee verfiel, uns beide Mischlingskinder ins n?chste Tierheim zu verfrachten, beschloss Emilia, wenigstens eines von uns aufzunehmen. Warum ihre Wahl gerade auf Charlotte fiel, weiss ich nicht. Vielleicht Solidarit?t unter Frauen?

Mittlerweile steht auch der alte von Eschersbach neben uns und unterh?lt sich mit Marc. Ich kann mir nicht helfen, und auch, wenn ich l?ngst ein erwachsener Dackel bin: Vor dem Alten habe ich immer noch Angst. Neben Marc sieht er nicht einmal besonders imposant aus, f?r einen Menschen eher schmal und gebrechlich, aber sobald ich seine schnarrende Stimme h?re, werde ich ganz unruhig. Brrr, besser ich stromere ein wenig mit Charlotte herum.

»Weisst du«, schlage ich ihr deshalb vor, »ich w?rde furchtbar gerne Mama und Opili begr?ssen.«

»Tja, Opili, ?h – das weisst du ja noch gar nicht, aber …«

»Mama ist auch erst mal wichtiger!«, unterbreche ich sie.

»Klar, kein Problem. Komm mit. Mama d?rfte momentan zwar nicht die beste Laune haben, aber vielleicht heiterst du sie ja auf.« Charlotte trabt los, ich hinterher.

»Wieso ist Mama schlecht gelaunt? Was ist denn los?«

»Sie wird gerade getrimmt. Soll bestimmt wieder auf irgendeine Hundeschau. Sie hasst es, aber der Alte kann es einfach nicht lassen.«

»Hm.« Stimmt. Meine Mutter ist ein gefeierter Dackelchampion. Sie war sogar schon Bundessiegerin, ein riesiger Pokal in der Glasvitrine im Salon zeugt von diesem Triumph. F?r von Eschersbach ist dies neben dem Jagen sein liebstes Hobby. Macht auch Sinn, denn schliesslich z?chtet er Dackel, und da kommt ihm jeder Titel recht – Pr?miumnachwuchs ist teuer. Umso entsetzter muss er gewesen sein, als er feststellte, dass Mama ihr Herz ein einziges Mal nicht an einen Herrn mit den besten Dackelpapieren, sondern an den Terrier des benachbarten Jagdp?chters verschenkt hatte.

Wo die Liebe eben hinf?llt. Aber so ist Mama: eine Frau mit eigenem Kopf. Und sosehr sie es hasst, selbst f?r eine Hundeschau zurechtgemacht zu werden, so egal werden ihr auch die z?chterischen Ambitionen von von Eschersbach gewesen sein. Jedenfalls im Fall unseres Vaters. Sie hat es mir nie erz?hlt, aber ich glaube, der Terrier war ihre grosse Liebe. Wann immer sein Name fiel – und der fiel oft, wenn von Eschersbach wieder einmal dazu ansetzte, ?ber die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen und die Ungezogenheit von Dackeln im Besonderen zu wettern –, lag in ihren Augen etwas Sanftes.

Liebe– wie die sich wohl anf?hlt? Ist es dieses Herzrasen, das ich sp?re, wenn ich an Cherie denke? Das Ohrensausen, das ich bekomme, wenn ich sie rieche? Ist das Liebe? Das Gef?hl, dass ich am liebsten jeden Tag mit ihr verbringen w?rde? Ich kann es gar nicht genauer beschreiben, aber es steckt wirklich tief in mir, macht mich ganz fahrig – aber erf?llt mich gleichzeitig mit so viel Gl?ck und Energie, dass ich mich nie, nie wieder anders f?hlen m?chte.

»Hey, schl?fst du?« Charlotte ist stehen geblieben und knufft mich unsanft in die Seite.

»?h, nein, warum?«

»Na, ich habe dich nun schon zweimal nach deiner neuen Familie gefragt, aber du antwortest nicht.«

»Entschuldige, ich war in Gedanken. Was wolltest du wissen?«

»Wie isses denn jetzt so mit dem Tierarzt? Als du das letzte Mal da warst, kannte dein Frauchen ihn ja noch nicht so lange.«

»Oh, es ist sch?n. Wir sind jetzt eine richtige Familie. Vater, Mutter, Kind, Hund.«

»Kind? Wo kommt das denn so schnell her? Die Frau des jungen Stallmeisters hat vor einiger Zeit ein Baby bekommen, das hat aber ganz sch?n lange gedauert, bis es fertig war. Also, bestimmt den ganzen Winter lang und das Fr?hjahr noch dazu.«

»Das Tierarzt-Kind war schon fertig, bevor Marc mein Frauchen Carolin kennengelernt hat.«

»Ach?« Charlotte bleibt schon wieder stehen und mustert mich.

»Ja. Marc ist n?mlich ein gebrauchter Mann«, f?ge ich mit wichtiger Miene hinzu. »Das heisst, er hatte schon mal eine Frau, und von der stammt das Kind. Luisa, sehr nett.«

»Und was ist jetzt mit der alten Frau? Wohnt die auch bei euch, oder was habt ihr mit der gemacht?«

»Nein, die wohnt nat?rlich nicht bei uns. Menschenpaare bestehen doch immer nur aus zwei Leuten. Glaube ich jedenfalls. Dass ein Mann mit zwei Frauen zusammenlebt oder eine Frau mit zwei M?nnern, habe ich noch nicht geh?rt. Die alte Frau wohnt irgendwo anders. Aber neulich war sie da und hat ganz sch?n ?rger gemacht. Ich dachte schon, sie will Luisa klauen. Wollte sie dann aber doch nicht.«

»Vielleicht will sie eher den Tierarzt klauen?« Charlotte stellt da eine interessante neue Theorie auf. »Wenn er ihr mal geh?rt hat, will sie ihn doch wom?glich zur?ckhaben.«

K?nnte das sein? Es w?rde zumindest erkl?ren, warum Carolin so sauer ?ber den ganzen Vorfall war. Aber wie klaut man einen Mann? Marc ist mindestens einen Kopf gr?sser als diese Sabine – ich glaube nicht, dass sie kr?ftig genug w?re, Marc aus unserer Wohnung zu schleifen. Luisa h?tte sie raustragen k?nnen, aber Marc? Keine Chance.

Wir kommen am Schlossportal an, und Charlotte h?pft sehr beschwingt die Stufen zum Eingang hinauf. Die schweren T?ren zum Innenhof stehen auf, was tags?ber immer so ist. Ich merke, dass sich in meiner Nase ein leichtes Kribbeln ausbreitet, denn mit dem Geruch kommt auch die Erinnerung: an eine unbeschwerte Kindheit voller Abenteuerlust, an Abende, die Opili mit Geschichten ?ber Kaninchen und Wildschweine f?llte – und an meine Mutter. So schnell ich kann, laufe ich hinter Charlotte her, quer ?ber den Innenhof, durch die n?chste T?r, Stufen hinauf und hinunter.

Kurz darauf landen wir im kleinen Salon, der eigentlich nichts weiter als ein schmuckloser Aufenthaltsraum neben der K?che ist. Hier steht das grosse Hundek?rbchen, in dem Charlotte und ich die ersten Wochen mit unserer Mutter verbracht haben. Eigentlich ist es eher eine grosse Kiste, die mit dicken Wolldecken ausgelegt ist. Ich erinnere mich noch sehr gut an den ersten Ausflug. Aufgeregt und auf ziemlich wackeligen Beinen, erkundeten Lotti und ich den gesamten Salon. Er kam mir damals riesig vor, und nach einiger Zeit war ich so ersch?pft, dass ich kaum noch laufen konnte. Schliesslich hob mich Mama sanft am Nacken auf und trug mich wieder in die Kiste. Wenn ich bedenke, wie klein mir der Salon heute vorkommt, kann ich kaum glauben, dass der R?ckweg von der T?r zur Kiste damals zu anstrengend f?r mich war.

Jetzt allerdings ist die Kiste leer, von meiner Mutter keine Spur. Ich drehe mich zu Charlotte.

»Wo ist sie denn?«

Charlottes Schwanzspitze zuckt.»Tja, dann ist sie wohl wirklich noch beim Trimmen. Wollen wir hier warten oder nach ihr sehen?«

»Wer weiss, wie lange Marc noch mit von Eschersbach spricht. Lass uns lieber zu ihr flitzen, sonst verpasse ich sie am Ende noch.«

In diesem Moment?ffnet sich die T?r zur K?che.

»Carl-Leopold! Nein, ist das sch?n, dass du uns mal wieder besuchst!« Emilia! Ihre Stimme w?rde ich jederzeit unter tausenden erkennen. Sie ist f?r eine Frau sehr dunkel und klingt fast so, als w?rde Emilia singen, auch wenn sie nur spricht. Sofort renne ich zu ihr und springe an ihr hoch.

»Ja, mein Braver, du freust dich auch, nicht? Warte mal, ich hole etwas Leckeres f?r dich.« Es ist eindeutig von Vorteil, mit der K?chin befreundet zu sein!

Als Emilia wieder auftaucht, hat sie ein kleines Sch?lchen in den H?nden, das sie mir direkt vor die Nase stellt. Lecker! Pansen und Herz! Sofort schlinge ich los. Ich liebe meine Schwester zwar sehr, aber dies ist eindeutigmein Willkommensgeschenk. Zwei Sekunden sp?ter steht Charlotte neben mir und schmollt.

»Hey, kein Wunder, dass du zugenommen hast! H?ttest mir ruhig etwas abgeben k?nnen.«

Ich ignoriere diesen Einwand und schlinge hastig das letzte St?ck Herz hinunter. Abnehmen kann ich immer noch, und vielleicht kommen auch irgendwann mal schlechte Zeiten. Dann bin ich gewappnet.

»Hast du denn deine Mutter schon gesehen, Carlchen?« Emilia hebt mich hoch und streicht mir ?ber den Kopf. »Ach nein, die ist ja noch mit dem Hundefris?r zugange. Am Wochenende ist die Hundeschau, da muss sie doch besonders sch?n sein. Aber warte mal, ich bringe dich hin. Die sind im Anbau hinter den Pferdest?llen.« Spricht’s und klemmt mich unter den Arm. Charlotte beeilt sich hinterherzukommen, und so stehen wir schon bald darauf vor der T?r zu dem gekachelten Raum am Stall, in dem auch immer die tier?rztlichen Untersuchungen auf dem Schloss stattfinden. Emilia setzt mich wiederauf den Boden und ?ffnet die T?r.

Brrr, auch wenn ich Marc nun sehr gut kenne und mag– der Gedanke an die Untersuchungen und Impfungen, die ich durch ihn in diesem Raum erdulden musste, l?sst mich sehr z?gern, hineinzugehen. Obwohl das nat?rlich Quatsch ist. Aber offensichtlich haben Dackel ein gutes Ged?chtnis.

»Komm schon, Carl-Leopold, auf was wartest du?«

Okay, soll schliesslich niemand sagen k?nnen, ich sei ein Feigling. Ich dr?cke mich also an der T?r vorbei – und stehe sofort vor dem Tisch, den Tierarzt und Hundefris?r anscheinend gleichermassen benutzen. Und auf dem Tisch: Mama! Ich belle aufgeregt, sie dreht den Kopf zur Seite.

»Mensch, Daphne, stillhalten! Sonst schneide ich dir noch ins Ohr!« Der Hundefris?r, der eine Hundefris?rin ist, schimpft. Aber meiner Mutter ist das v?llig egal. Sie h?pft einfach zu mir herunter.

»Junger Mann, wir kennen uns doch!«

Begeistert schlecke ich ihr die Schnauze ab. Meine Mutter ist einfach eine ganz tolle Frau!

»Hey, nicht so st?rmisch! Deine Mutter ist mittlerweile schon eine ?ltere Dame, Carl-Leopold. Und was machst du ?berhaupt hier?«

»Er ist wieder mit dem Tierarzt da, Mama.«

»Ach so? Ja, den Arzt habe ich eben schon gesehen. Hat auch mit dem Alten hier reingeschaut. Dann sind sie wohl zu den Pferden gegangen. Hach, es ist wirklich sch?n, dich zu sehen, mein Junge.« Mama erwidert mein Schlecken.

Die Hundefris?rin scheint nun genug von unserer spontanen Familienzusammenf?hrung zu haben. Sie beugt sich herunter, schnappt sich meine Mutter und setzt sie wieder auf den Tisch.

»So. Stillgehalten jetzt, Daphne. Sonst kann ich aus dir keinen Champion machen.«

Ergeben setzt sich Mutter auf ihr Hinterteil.

»Du siehst es, Carl-Leopold. Mir bleibt hier nichts erspart. Vielleicht sehen wir uns sp?ter nochmal.«

»Alles klar. Dann gehen wir erst einmal Opili suchen.«

Mama f?hrt so schnell herum, dass die Fris?rin den Trimmkamm fallen l?sst.

»Hat dir Charlotte etwa noch nichts erz?hlt?«

Ich sch?ttele den Kopf. »Nein, was denn?«

Mama senkt die Schnauze.»Opili ist im letzten Winter gestorben.«

VIERZEHN

Herkules, das ist der Lauf der Dinge. Hunde sterben, Menschen sterben. Ja, sogar Katzen treten irgendwann ab.«

Falls Herr Beck versucht, mich mit diesen halbgaren?berlegungen zur Verg?nglichkeit alles Irdischen zu tr?sten: So klappt das nicht! Wir liegen unter Ninas Tisch im Wohnzimmer, hier hat mich Caro geparkt, weil sie auf einen Termin musste. Auch so ein Ding. Mir geht es schlecht, und sie schiebt mich einfach ab. Heute ist ein furchtbarer Tag. Draussen regnet es schon wieder in Str?men, und hier drinnen ist mir zum Heulen zumute.

»Aber warum hat mir das niemand erz?hlt?«

Herr Beck starrt mich an.»Ja, um Gottes willen, wer h?tte dir das denn erz?hlen sollen?«

»Na, Marc zum Beispiel. Der wusste es bestimmt. Er ist schliesslich Tierarzt auf dem Schloss!«

»Herkules, ich sage es dir wirklich nur ungern, aber: Du bist nur ein Hund. Kein Mensch k?me jemals auf die Idee, dass diese Information f?r dich wichtig sein k?nnte.«

»Bitte? Es war immerhin mein Opili!«

»Richtig. Aber f?r Marc war Opili garantiert nur ein alter Dackel. Und damit hat er aus Menschensicht auch nicht ganz Unrecht.«

Ich lege meinen Kopf auf die Schnauze und schweige. Bin ich vielleicht beleidigt? Nein. Ich bin traurig. Und gekr?nkt. Ich lebe offensichtlich mit Leuten zusammen, die sich nicht im Geringsten um mein Gef?hlsleben scheren. Eine erschreckende Erkenntnis. Wieso bloss mache ich mir dann umgekehrt so viele Gedanken um sie? Um ihre Krisen, Sorgen und N?te? Das lasse ich demn?chst doch einfach. Jeder ist sich selbst der N?chste. Schon wahr. Und nicht nur der n?chste Mensch. In Zukunft gilt das auch f?r Dackel.

Herr Beck holt tief Luft.»Sieh es doch mal so: Dein Opili war wahrscheinlich schon ganz sch?n alt. M?glicherweise auch krank, das geht ja oft Hand in Hand. Und vielleicht hatte er am Ende auch gar keine Lust mehr auf sein Hundeleben. K?nnte doch sein.«

Ich sch?ttele entschieden den Kopf.

»Man merkt, dass du Opili nicht kennst. Er war total fit. Ein Klassehund. Immer gut drauf und voller Ideen.Lustlos? Das Wort gab es f?r ihn gar nicht.«

»Mein lieber Herkules, abgesehen davon, dassniemand immer gut drauf ist, und sei er noch so jung, muss ich dir leider sagen, dass das?lterwerden nicht immer das reine Vergn?gen ist. Ich merke es doch an mir selbst. Was war ich fr?her f?r ein tollk?hner Kater. Und heute? Liege ich gerne mal den ganzen Tag bei Nina auf dem Fensterbrett und lausche and?chtig, wenn sie wieder ein paar arme Verwirrte vor dem Wahnsinn rettet. Herkules, glaube mir, das ist nix, wenn man alt wird. Du wirst es schon noch sehen.«

Jetzt bin ich ernsthaft besorgt. Will mir Herr Beck damit etwa sagen, dass er keine Lust mehr hat, mit mir durch die Welt zu streifen? Opili ist die eine Sache– aber wenn Beck nun auch schw?cheln sollte … Der ist doch noch gar nicht so alt, oder? Was w?rde ich bloss ohne ihn machen?

»Geht es dir nicht gut?«, will ich von Herrn Beck wissen.

»Doch, es geht mir gut. Aber ich bin nicht mehr der J?ngste. Ich renne nicht mehr jeder dummen Maus hinterher. Das ist mir viel zu anstrengend geworden. Und ich brauche mehr Ruhe als fr?her, mehr Erholung. Gestern war es zum Beispiel so laut in der Wohnung ?ber uns, dass ich tags?ber nicht richtig schlafen konnte. Das merke ich heute. Ich bin ziemlich schlapp.«

»Also geht es dir schlecht?«

»Nein. Wie ich schon sagte: Ich bin nur schlapp.«

Da kommt mir eine Idee.»Aber du w?rdest mir Bescheid sagen, wenn es dir mal nicht so gut geht, oder?«

Beck guckt erstaunt.»Warum?«

»Na ja, ich dachte, wo ich doch gewissermassen an der Quelle sitze …«

»An welcher Quelle? Vertickst du illegale Dopingmittel f?r Katzen?«

»Was?« Wovon redet der Kater?

»Ach, nur ein Scherz. Nein, ich frage mich nur, wie du mir helfen k?nntest, falls es mir mal schlecht gehen sollte.«

»Du sagst mir Bescheid, und ich informiere Marc. Und der hilft dir dann. Also, bevor die unsensible Nina etwas merkt, nehmen wir die Sache doch lieber selbst in die Hand.«

»He! Nina ist nicht unsensibel! Sie ist eine tolle Frau.«

»Das sind ja ganz neue T?ne! Ich dachte immer, du …« Weiter komme ich nicht, denn in diesem Moment ?bert?nt ein ohrenbet?ubendes H?mmern alle weiteren Ger?usche. Beck rollt sich auf den R?cken und st?hnt.

»O nein! Jetzt geht das schon wieder los. Ich werde noch verr?ckt.«

»Was ist denn das? ?ber euch wohnt doch niemand mehr«, wundere ich mich.

»Die Wohnung bleibt aber nicht leer, Herkules. Da ziehen nat?rlich neue Menschen ein. Und die haben offenbar vor, dort keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Schrecklich!«

Das findet offenbar auch Nina, die in diesem Moment mit den WortenJetzt reicht es mir! an der offenen Wohnzimmert?r vorbeischiesst und zur Wohnungst?r rennt. Irgendetwas sagt mir, dass wir gleich Zeugen einer handfesten menschlichen Auseinandersetzung werden. Ich krieche unter dem Tisch hervor.

»Mann, wo willst du denn hin, Kumpel?« Herr Beck kann sich offenbar nicht aufraffen, seinem Frauchen zu folgen.

»Na, vielleicht braucht Nina Hilfe? Wenn du Recht hast und die Menschen ?ber euch wirklich keinen Stein auf dem anderen lassen, dann sind sie m?glicherweise gewaltbereit. Da ist es immer gut, einen Jagdhund an seiner Seite zu haben. Mit schlappen Katern ist das allerdings so eine Sache. Du bleibst mal besser unter dem Tisch liegen, um dich kann ich mich in so einer Krisensituation nicht auch noch k?mmern.«

Herr Beck macht ein Ger?usch, das wiePPFFF klingt, und taucht kurz darauf neben mir auf. Gemeinsam laufen wir in den Hausflur. Nina steht schon oben vor der T?r und klingelt Sturm. Als wir nach den letzten Treppenstufen um die Ecke biegen, kommen wir gerade im richtigen Moment: Die T?re ?ffnet sich, dahinter steht ein junger Mann mit wild in alle Richtungen abstehenden hellen Haaren. Ehe er es sich noch versieht, schreit ihn Nina auch schon an.

»Was f?llt Ihnen eigentlich ein, hier stundenlang das ganze Haus zu tyrannisieren? Ich habe Patienten – soll ich jetzt meine Praxis wegen Ihnen dichtmachen?«

Der junge Mann tritt einen Schritt zur?ck und mustert Nina interessiert von oben bis unten. Dann l?chelt er. »Nun mal halblang, Frau Nachbarin. Wir haben kurz nach 15 Uhr. Wenn ich die Hausordnung richtig interpretiere, ist das eine ausgezeichnete Zeit f?r Renovierungsarbeiten. Und die sind in der Wohnung leider dringend n?tig. Also – wenn nicht jetzt, wann dann?«

»Von mir aus gar nicht! Wieso k?nnen Sie nicht still und leise die W?nde streichen, so wie alle anderen Menschen auch? Warum haben Sie die Wohnung ?berhaupt angemietet, wenn Sie nun anscheinend jede einzelne Wand rausreissen oder versetzen?«

Nina funkelt den Mann b?se an, der grinst ziemlich breit.

»Wissen Sie, ich bin ?sthet. Da kann ich mich mit simplem W?ndestreichen leider nicht zufriedengeben. Das werden Sie sicher verstehen – Sie scheinen doch auch Wert auf ?usseres zu legen. H?bsches Kleid ?brigens.«

Der Typ grinst– sofern das ?berhaupt m?glich ist – noch breiter, Nina schnaubt f?rmlich.

»Sie … Sie … unversch?mter Kerl! Ich werde mich bei der Hausverwaltung ?ber Sie beschweren! Sie h?ren noch von mir!« Dann macht Nina auf dem Absatz kehrt und st?rmt nach unten. Beck und ich bleiben verdutzt sitzen. Der Mann schaut uns an.

»Oh, seid ihr Teil der Abordnung? Eins muss man ihr lassen, euer Frauchen hat Temperament.« Er nickt. Etwa anerkennend? Dann schliesst er die T?r. Beck und ich schauen uns einigermassen ratlos an.

»Also, mein Lieber – wo war denn jetzt dein Einsatz als sch?tzender Jagdhund? Davon habe ich nicht viel gesehen.«

»Daf?r ging das alles viel zu schnell. Wenn er sie angefasst h?tte, dann h?tte ich nat?rlich eingegriffen. Aber stattdessen hat er ihr doch ein nettes Kompliment gemacht. Ich verstehe gar nicht, warum Nina sich so dar?ber aufgeregt hat.«

»Welches nette Kompliment? Habe ich da etwas verpasst? Bin ich nicht nur alt, sondern auch taub?« Herr Beck legt den Kopf schief.

»Na, das mit dem Kleid. Er sagte doch, dass Ninas Kleid h?bsch sei.«

»Mann, Herkules – das war doch kein Kompliment! Damit wollte er sie ?rgern! Und das hat ja auch einwandfrei funktioniert.«

»Bitte? Wie kann ein Mann denn eine Frau damit ?rgern, dass er ihr sagt, dass ihr Kleid h?bsch ist? Dar?ber freuen sich Frauen doch. Das macht gar keinen Sinn.«

»Macht es doch. Denn damit sagt er ihr, dass er sie nicht ernst nimmt.«

»Quatsch. Damit sagt er ihr, dass sie ein h?bsches Kleid tr?gt.« Ob Herr Beck Recht hat mit dem ?lterwerden? Er ist ganz offensichtlich schon v?llig verwirrt.T?delig, wie der alte von Eschersbach sagen w?rde.

»Hach, Herkules, du bist echt kein Frauenkenner. Hoffentlich gehst du bei deiner Cherie etwas geschickter vor, sonst wird das nie was. Also:Normalerweise ist das mit dem Kleid ein Kompliment. Da hast du schon Recht. Aber in diesem Fall war die Lage eine andere: Sie hat sich?ber ihn ge?rgert und ihn scharf kritisiert. Das hast du noch mitbekommen, oder?«

Ich nicke. Es war schliesslich nicht zu ?berh?ren.

»So. Jetzt lenkt er nicht etwa ein, sondern sagt ihr, dass sie Unsinn redet. Und das ihr Kleid h?bsch ist.«

»H??«

»Na, das bedeutet, dass er sie nicht ernst nimmt. Er sagt damit eigentlich:Du hast keine Ahnung, Schnecke, beschr?nk dich mal aufs H?bschsein. F?r eine schlaue Frau wie Nina eine t?dliche Beleidigung.«

Mir schwirren die Dackelohren.»Das sagt er ihr damit?«

»Jepp. Das ist der sogenannte Subtext.«

»Aha.« Ich hoffe ganz stark, dass es so etwas wie Subtext in der Kommunikation zwischen H?ndin und R?de nicht gibt. Sonst bin ich geliefert. Aber so was von.

Schweigend trotten wir nebeneinander die Stufen zu Ninas Wohnung wieder hinunter. Sie hat die T?r einen Spalt offen stehen lassen, also k?nnen wir problemlos hineinhuschen. Immer noch schweigend legen wir uns wieder unter den Wohnzimmertisch. Hoffentlich kommt Carolin bald wieder, hier drinnen ist die schlechte Stimmung gerade mit Pfoten zu greifen. Immerhin ist es nun ruhiger, vielleicht hat sich der neue Nachbar Ninas Worte doch zu Herzen genommen, auch wenn er unversch?mterweise ihr Kleid sch?n fand.

Kurze Zeit sp?ter klingelt es an Ninas Wohnungst?r. Endlich, mein Flehen wurde erh?rt! Das ist bestimmt Carolin, die von ihrem Treffen kommt und mich abholt. Ich sause schnell zur T?r, nichts wie raus hier.

Aber als Nina, die hinter mir hergekommen ist, die T?r ?ffnet, steht dort: niemand. Stattdessen liegt ein kleines P?ckchen mit einem gelben Zettel darauf auf der Fussmatte. Nina b?ckt sich und hebt es hoch. Sie liest den Zettel, reisst dann das P?ckchen auf, um nachzuschauen, was es enth?lt. Ich bin nat?rlich auch neugierig, was ihr da wohl vor die T?r gelegt worden ist, kann es aber von hier unten nicht genau erkennen. Es scheinen kleine K?gelchen in einer durchsichtigen Box zu sein. Seltsam, so etwas habe ich noch nie gesehen. Nina dreht die Box hin und her, murmelteine Unversch?mtheit und schliesst die T?r wieder.

Ich trabe zur?ck zu Beck, der immer noch unter dem Wohnzimmertisch liegt.

»Was war denn los?«, erkundigt er sich.

»Irgendjemand hat etwas auf Ninas Fussmatte gelegt. Aber falls es ein Geschenk sein sollte, hat es ihr nicht gefallen.«

Es klingelt nochmal an der T?r, und ich sause zur?ck in den Flur.

»Also jetzt habe ich die Schnauze aber wirklich voll! Was f?llt dem Typen eigentlich ein?« Nina st?rzt aus ihrem B?ro in Richtung T?r und reisst sie auf. »Sie k?nnen sich Ihre Ohrst?psel gleich sonst wohin … oh, hallo, Carolin! Komm doch rein.«

Tats?chlich. Vor der T?r steht endlich Carolin und schaut sehr erstaunt.

»Gr?ss dich, Nina. Ist alles in Ordnung bei dir? Ich wollte nur Herkules abholen.«

»Klar, nat?rlich. Ich dachte nur, du seist mein neuer Obermieter. «

»Und den begr?sst du derart herzlich? Die Geschichte musst du mir mal genauer erz?hlen.«

»Sehr gerne. Und noch lieber bei einem Kaffee. Ich kann mich heute sowieso nicht mehr konzentrieren und muss mal raus. Also – wenn du nichts dagegen hast, w?rde ich mit dir mal eben das n?chste Caf? ansteuern.«

»Ja, warum nicht? Lass uns doch ins Violetta gehen, dann kann sich Herkules auf dem Hinweg im Park noch ein bisschen seine krummen Beinchen vertreten.«

Krumme Beinchen? Da frage ich mich: Wenn Komplimente im Subtext manchmal b?se gemeint sind, sind Boshaftigkeiten dann in Wirklichkeit ein Liebesbeweis?

Das Herumsitzen im Caf? geh?rt eindeutig zur Lieblingsbesch?ftigung von Frauen. Jedenfalls von den beiden Frauen, die ich kenne: Carolin und Nina. Interessanterweise bestellen sie sich aber meist nicht das gleichnamige Getr?nk. Sondern meist viel lieber einen sogenanntenProsecco. Der kommt zwar in einem etwas anderen Glas daher als derRotwein, den Marc so gerne mit Carolin trinkt, aber er riecht?hnlich und hat auch eine ?hnliche Wirkung auf Menschen. Erst reden sie ein bisschen schneller als sonst und lachen h?ufiger, dann reden sieviel langsamer und daf?r lauter. Offenbar schlagen diese beiden Getr?nke auf die Ohren. Leider nicht auf meine, die sind ganz ausgezeichnet, und f?r meinen Geschmack w?re es sowieso sch?n, wenn Menschen insgesamt ein bisschen leiser veranlagt w?ren.

Lautst?rke ist auch das Thema, das Nina nun gerade mit Carolin vertieft. Nat?rlich bei einem Glas Prosecco. Den brauche sie jetzt f?r ihre Nerven, hat Nina angemerkt und gleich mal zwei davon bei der Bedienung geordert. War also wieder nichts mit dem Kaffee. Ich habe es mir vor Carolins F?ssen bequemgemacht und h?re zu, wie Nina von der unerfreulichen Begegnung mit dem neuen Nachbarn berichtet.

»Ich meine – den ganzen Tag h?mmert der da in der Bude rum. Das ist doch nicht normal! Ich hatte heute Vormittag zwei Patienten, die h?tte ich fast wieder nach Hause geschickt, weil es wirklich ein ohrenbet?ubender L?rm war. Gestern auch schon! Und das ohne jede Vorank?ndigung durch die Hausverwaltung, so dass ich mich h?tte darauf einstellen k?nnen. Nichts von alledem. Eine Frechheit! Als es dann heute Nachmittag wieder losging, bin ich hoch und habe mal zart nachgefragt, wie lange das denn noch so gehen soll.«

Unterzart nachgefragt stelle ich mir aber etwas anderes vor. Nach meinem Eindruck war Nina schon ganz sch?n auf Zinne. Vielleicht w?re das Gespr?ch auch insgesamt besser verlaufen, wenn Nina den Mann nicht gleich so angefahren h?tte. Oder ist der Subtext – was f?r ein tolles neues Wort! – von Anschreienhe, ich finde dich nett?

»Und was hat er dazu gesagt?«

»Im Wesentlichen, dass ich mich mal nicht so anstellen soll und er sich schliesslich an die Ruhezeiten der Hausordnung h?lt. Und dass er ja irgendwann renovieren m?sse.«

»Hm, klingt aber ehrlich gesagt, als sei es nicht ganz von der Hand zu weisen«, gibt Carolin zu bedenken.

»Das war nun wieder klar, dass man dich mit dieser Hausordnungsnummer sofort kriegt. Du bist eben viel zu defensiv. Ich meine – hallo? Ich verdiene in der Wohnung mein Geld. Ichbrauche Ruhe. Der soll sich gef?lligst ein paar vern?nftige Handwerker nehmen – dann ist die Renovierung ruckzuck fertig, und ich gehe solange ins Hotel. Auf seine Rechnung.«

»?h, ja. Und was war das mit den Ohrst?pseln?«

»Ohrst?psel?« Nina guckt verst?ndnislos.

»Du sagtest, ich solle mir meine Ohrst?psel sonst wohin … Ich meine, als du mir die T?r ge?ffnet hast.«

»Stimmt. Ich war nach meiner Beschwerde gerade wieder in der Wohnung angekommen, als es an der T?r geklingelt hat. Na, dachte ich mir, da ist wohl jemand zur Vernunft gekommen und will sich entschuldigen. Stand aber niemand vor der T?r. Stattdessen lag ein P?ckchen mit einem Post-it davor. Hier.« Sie kramt in ihrer Handtasche und dr?ckt Caro die kleine Box mit dem gelben Zettel in die Hand. Die f?ngt an zu l?cheln und liest laut vor: »Mit den besten Gr?ssen an Ihre empfindlichen Ohren, Alexander Klein. Wie s?ss. Ohropax.«

»S?ss?! Also ich bitte dich! Das ist nicht s?ss, das ist unversch?mt. Der Typ will mich provozieren. Und dann so ein Bengel – bestimmt zehn Jahre j?nger als ich! S?ss? Von wegen!«

Caro sch?ttelt den Kopf.

»Echt, Nina, jetzt komm mal wieder runter. Oder trink schnell noch ein Glas Sekt. So schlimm ist das nun wirklich nicht. Die Renovierung wird ja nicht ewig dauern, und m?glicherweise gewinnst du einen netten neuen Nachbarn. Aber nicht, wenn du ihn gleich so verschreckst. Mit dem hast du doch auch ansonsten gar nichts zu tun. Ich meine – sieh mich mal an. Ich treffe nun jeden Abend auf meine Quasi-Schwiegermutter und mache dazu noch ein freundliches Gesicht.«

»Tja, fragt sich nur, wie lange noch. Ausserdem bist du auch kein Massstab. Du bist eh zu gut f?r diese Welt.«

»Ich will eben mit ihr auskommen. Selbst wenn sie mich ab und zu nervt. Ist schliesslich Marcs Mutter.«

»Sag ich doch: zu gut f?r diese Welt.«

»Wenn du meinst. Aber damit kannst du mich gar nicht aus der Ruhe bringen. Daf?r bin ich heute viel zu gut gelaunt.«

Carolins L?cheln wird tats?chlich noch strahlender und ?berzieht nun ihr gesamtes Gesicht. Mehr L?cheln geht nicht. Das sieht einfach toll aus, ich liebe es, wenn sie so strahlt. Das k?nnen einfach nur ganz wenige Menschen: so von den Augen bis zum Mund durchgehend l?cheln. Und meine Carolin geh?rt dazu.

»Dann lass mich mal an deiner Freude teilhaben«, fordert Nina sie auf, »vielleicht bessert sich meine Laune dann wieder. «

»Das kann sogar sein«, gibt Carolin ihr Recht. »Es hat n?mlich mit jemandem zu tun, den du auch kennst und magst.«

»Schiess los – ich bin gespannt.«

»Mein Treffen eben. Rate mal, mit wem das war.«

Nina sch?ttelt den Kopf. »O n?! Nicht solche Spielchen! Nun sag schon!«

»Hast Recht. Kommste sowieso nicht drauf. Ich habe mich eben mit Daniel getroffen.«

Jetzt reisst Nina wirklich die Augen auf. »Echt? Mit Daniel? Seit wann ist der denn wieder in Hamburg? Das ist ja toll!«

»Aurora gibt morgen ein Konzert in der Laeiszhalle, und Daniel begleitet sie.«

»Also ist er immer noch mit dieser Schnepfe zusammen.«

Caro zieht die Augenbrauen hoch.»Aurora ist ganz nett.«

»Unsinn. Ist sie nicht. Du – ich wiederhole mich – bist einfach zu gut f?r …«

»Also«, unterbricht Caro sie, »willst du nun weiter rumst?nkern oder lieber die Geschichte zu Ende h?ren?«

Nina rollt mit den Augen, sagt aber nichts mehr.

»Ich wusste von Auroras Konzert und habe Daniel angerufen und ihn gefragt, ob er mitkommt. Ich wollte n?mlich etwas mit ihm besprechen.«

»Aha. Du hast erkannt, dass du nicht mit Marc zusammenpasst, und willst es doch noch mal mit Daniel versuchen, der selbstverst?ndlich noch immer heimlich in dich verliebt ist? Sehr clever.« Nina kichert. Findet sie das wirklich lustig, oder ist das der Prosecco?

»Ach, Mann, Nina. Bleib doch mal ernst. Ich habe einen Grosskunden, der mit einem noch viel gr?sseren Auftrag winkt. Den kann ich aber nicht allein schaffen. Der Kunde wiederum kennt Daniel noch aus alten Zeiten, und ich habe ihm versprochen, mit Daniel zu besprechen, ob er Lust zu einer zeitlichbegrenzten Kooperation mit mir hat. Hier in Hamburg. Also habe ich ihn gefragt, ob er sich vorstellen k?nnte, die n?chsten zwei, drei Monate nach Hamburg zu kommen.«

»Und, konnte er?«

Sagte ich eben, mehr L?cheln geht nicht? Es geht doch. Carolin beweist es gerade, und im Violetta wird es mit einem Schlag heller, so sehr strahlt sie nun.

»Ja. Er hat gesagt, dass er sich ?ber mein Angebot freut und es sehr gerne annimmt.«

»Na, da schau her.« Mehr sagt Nina nicht. Aber jetzt l?chelt sie auch.

F?NFZEHN

Hm. Sieht von aussen aus wie ein ganz normaler Schuhkarton. Was da wohl drin ist? Neugierig robbe ich mich m?glichst nah an Luisa heran, ich will schliesslich dabei sein, wenn das Geheimnis gel?ftet wird. Carolin und Marc haben Luisa den h?bsch verpackten Karton eben feierlich ?berreicht und von einer ?berraschung gesprochen. Daraufhin hat sich Luisa sofort damit auf den Teppich im Wohnzimmer gesetzt und das Geschenkpapier aufgerissen.

Jetzt nimmt sie den Deckel ab, und ich sehe– ja, was sehe ich da eigentlich? Ein H?uschen, gebastelt aus Papier, davor lauter kleine Pferdefiguren. Das H?uschen erinnert mich an irgendetwas. Um es mir mal genauer anzusehen, stecke ich meine Nase in den Karton.

»Herkules, vorsichtig!« Luisa zieht mich sanft am Nacken. »Sonst machst du noch mein Geschenk kaputt!«

Ich ziehe den Kopf wieder zur?ck, ich habe auch so schon genug gesehen. Das H?uschen sieht aus wie Schloss Eschersbach! Das ist ja ein Ding!

Marc kniet sich neben Luisa.»So, mein Schatz, hier siehst du die lang angek?ndigte gute Idee, die Carolin hatte.«

Luisa guckt etwas verst?ndnislos. Das ist kaum verwunderlich, denn auch ich habe noch nicht begriffen, was es mit diesem Mini-Schloss im Karton auf sich hat. Ganz zu schweigen von den davor platzierten kleinen Pferdchen.

»Spielzeugpferde?« Luisa klingt entt?uscht.

»Keine Sorge, die sind nicht das Geschenk. Der ganze Karton ist eigentlich nur ein Gutschein. F?r ein Pony-Schloss-Wochenende mit deinen Freundinnen. Freitags k?nnt ihr hinfahren, und dann lebt ihr drei Tage auf einem echten Schloss und k?nnt so viel reiten, wie ihr wollt«, erkl?rt Carolin. »Dein Papa wollte sich nur besondere M?he geben und hat deswegen Schloss Eschersbach und die dazugeh?rigen Pferde gebastelt.«

Jetzt begreift Luisa, springt auf und f?llt Carolin um den Hals. »Danke, Caro! Und danke, Papa! Das ist wirklich eine Superidee! Klasse!«

Auch Oma Wagner ist mittlerweile ins Wohnzimmer gekommen.»Tja, mein Schatz, sch?n, dass es dir gef?llt. Dein Vater war jetzt auch fast zwei Tage durchgehend mit der ganzen Geschichte besch?ftigt. Allein dieses Gebastel hat die halbe Sprechstunde gedauert. Dann noch die Visite zum Schloss, um den alten Grafen zu ?berreden. Na ja. Der Opa h?tte so was nie gemacht, dem habe ich immer alles abgenommen. « Sie schaut in Carolins Richtung und l?chelt. Ich bin mir nicht sicher, ob das nett gemeint ist.

Falls es das aber nicht war, ignoriert Carolin diese Spitze.»Ja, Marc, du hast wirklich handwerkliches Geschick. Du k?nntest glatt bei mir anfangen. Vielleicht ist an dir ein Geigenbauer verloren gegangen.«

Marc grinst, und Frau Wagner verabschiedet sich mit einem deutlichenDann werde ich mal die K?che aufr?umen, das macht sich ja auch nicht von alleine in Richtung derselben.

»Komm her, Spatzl«, Marc steht auf, geht zu Carolin und nimmt sie in den Arm, »wenn mir niemand mehr seinen Zwerghamster anvertrauen will, werde ich bei dir vorsprechen. « Er gibt ihr einen Kuss. »Insofern passt es mir eigentlich gar nicht, dass du jetzt wieder mit Daniel zusammenarbeiten willst. Vielleicht w?re ich ein besserer Partner f?r dich.«

»Na gut, ich werde Daniel klipp und klar sagen, dass es sich nur um ein paar Wochen handelt, weil sich dann eine aufstrebende Nachwuchskraft angek?ndigt hat.« Sie l?chelt.

»Gut. Mach das. Dann weiss er gleich, wo es langgeht. Habe mir sowieso schon ein wenig Sorgen gemacht, dass der hier pl?tzlich wieder auftaucht.«

Warum macht sich Marc Sorgen? Wenn ich das richtig verstanden habe, kommt Daniel doch, um zu helfen.

»Zu Recht, mein Lieber, man muss die Konkurrenz immer im Auge behalten.«

Ach, Marc will Geigenbauer werden und Daniel dann Tierarzt? Versteh ich nicht.

»Also komme ich heute Abend besser mit?«

»Das h?ttest du wohl gerne. Nee, nee, wir trinken auf alte Zeiten, du w?rdest dich nur langweilen. Und ich habe so lange nichts mehr mit Daniel unternommen, ich freue mich schon auf ein Glas Wein mit ihm. Will mal h?ren, wie es ihm privat geht. Heute Nachmittag haben wir nur ?bers Gesch?ft gesprochen, morgen geht er ins Konzert, und ?bermorgen ist er schon wieder weg, also das passt schon.«

Marc seufzt.»Okay, ich lasse dich ziehen. Aber keine Dummheiten machen!«

Carolin rollt mit den Augen.»Werde mich gehorsamst um 22 Uhr zur?ckmelden.«

»Sp?testens! Sonst schicke ich die Feldj?ger los!«

Feldj?ger klingt spannend. Ich habe eine stille Passion f?r die Jagd. Alle meine Vorfahren waren grosse J?ger, und aus mir w?re bestimmt auch einer geworden. Wenn man mich nur liesse. Aber leider werde ich mehr und mehr zum Schossh?ndchen und spiele mit kleinen M?dchen, anstatt endlich einen ordentlichen Fuchsbau zu sprengen. Mein einziger Ausflug in einen Kaninchenbau ist schon sehr, sehr lange her und endete in einem v?lligen Desaster: Ich blieb stecken und musste von Willi gerettet werden, der beim Ausgraben meiner Wenigkeit etwas erlitt, was Marc sp?ter Herzinfarkt nannte. Seitdem habe ich mich an Kaninchen nicht mehr rangetraut, obwohl es doch immer mein Traum war, einmal mit Opili auf die Jagd zu gehen. Ach, Opili, nun werden wir niemals gemeinsam durch Wiesen streifen und F?hrte aufnehmen. Bei diesem Gedanken kann ich nicht anders. Ich fange an zu heulen.

»Schatz«, Carolin dreht sich zu Marc, »ich glaube, Herkules will nochmal raus. Ich muss mich jetzt aber schnell f?r mein Date mit Daniel fertig machen.«

Marc verzieht das Gesicht und meckert:»Na klasse – ich kriege den Hund aufs Auge gedr?ckt, damit du dich f?r deinen Galan noch sch?n machen kannst.«

Das klingt zwar unfreundlich, aber da Marc jetzt schon wieder lacht, denke ich mal, dass es sich bei der Beschwerde um die gef?rchtete menschliche Ironie gehandelt hat: Eine Sache sagen, die andere Sache meinen. Verr?ckt, oder?

»Papa, ich komm mit!« Luisa stellt den Karton auf den Wohnzimmertisch und l?uft zu uns. Eigentlich ist das hier ein Missverst?ndnis, denn ich muss gar nicht, aber bei so netter Begleitung gehe ich nat?rlich gerne noch ein bisschen Gassi. Marc schnappt sich meine Leine von der Garderobe und ?ffnet die Wohnungst?r.

»Guten Abend, Frau Serwe! Alles in Ordnung bei Ihnen und Cherie?«

Ich traue meinen Augen kaum– wir kommen aus der Haust?r, und das Erste, was ich sehe, ist tats?chlich Cherie. Und sie ist ganz offensichtlich nicht meiner bl?henden Phantasie entsprungen, denn sonst w?rde Marc wohl kaum ihr Frauchen begr?ssen.

»Ja, alles bestens, danke! Wir drehen nur gerade unsere t?gliche Abendrunde, und da wollte ich Ihnen schnell etwas vorbeibringen.« Claudia Serwe h?lt Marc eine Art umgekehrte Sch?ssel unter die Nase. Ich kann zwar nicht sehen, was sich darin befindet – aber es riecht grossartig! Spontan fange ich an zu sabbern und kann nicht umhin, M?nnchen zu machen. Cherie setzt sich und mustert mich.

»Hallo, Herkules, wie ich sehe, liebst du Sahnekuchen. Bist also ein ganz S?sser, was?« Wenn sie k?nnte, w?rde sie kichern, da bin ich mir ganz sicher. Wieso nur muss ich gerade in Gegenwart dieser Traumfrau immer unangenehm auffallen?

»Gr?ss dich, Cherie – ?h, ja, es roch gerade so gut, da wollte ich mal nachschauen, was das wohl sein k?nnte.«

»Kein Problem. Und mein Frauchen ist wirklich eine phantastische B?ckerin. Leider kriege ich fast nie etwas davon ab – Zucker soll ja so ungesund f?r Hunde sein. Aber wenn ich mal etwas stibitzt habe, war es immer sensationell.«

»Geht’s dir denn wieder gut?«, versuche ich schnell das Thema zu wechseln. Nicht, dass Cherie auch noch merkt, dass ich zugelegt habe.

»Tja, manchmal habe ich noch etwas Kopfschmerzen, und die Naht an meiner Braue juckt auch ab und zu. Aber eigentlich bin ich wieder ganz fit. Allerdings tr?ume ich ?fter von dem Unfall. Es hat mich doch ganz sch?n mitgenommen.«

Ich nicke.»Ja, das glaube ich. Habt ihr denn den Typen geschnappt, der schuld an der ganzen Sache ist?«

Cherie sch?ttelt den Kopf. »Nein, leider nicht. Und das macht mich auch ziemlich traurig. Denn zum einen w?rde ich den Kerl richtig gerne mal in den Allerwertesten beissen f?r die Schmerzen, die er mir angetan hat. Und zum anderen weiss ich, dass mein Frauchen sich schlecht f?hlt, weil sie die Tierarztrechnung nicht richtig bezahlen konnte. Deswegen hat sie auch die tolle Torte f?r dein Herrchen gebacken. Schwarzw?lder Kirsch. So heisst die. Die macht Claudia nur zu ganz besonderen Anl?ssen oder f?r ganz besondere Menschen.«

»Auf alle F?lle riecht sie sehr, sehr lecker! Aber wahrscheinlich bekomme ich davon sowieso nichts ab. Mal eine ganz andere Frage – geht ihr ?fter hier spazieren?« Das w?re nat?rlich toll, dann k?nnte ich doch in Zukunft jedes Mal nach dem Abendessen ein bisschen Tamtam machen und wenigstens Luisa zu einer Runde ?berreden. Und vielleicht, wer weiss, wenn mich Cherie erst mal besser kennt, vergisst sie auch, dass ich nicht mal halb so gross bin wie sie.

»Ja, manchmal kommen wir tats?chlich hier lang. Nicht gerade jeden Abend, aber ab und zu. Tags?ber gehen wir fast immer auf die Hundewiese an der Alster, abends machen wir dann oft eine Runde durch das Viertel. Warum?«

»Och, nur so.«

Bevor mich Cherie noch eingehender zu meinen Motiven befragen kann, will ihr Frauchen weitergehen und Marc die Torte nach drinnen bringen. Cherie verabschiedet sich mit einem m?tterlichenMach’s gut, Kleiner!. Wahrscheinlich ist das nicht gerade ein Zeichen daf?r, dass sie mich f?r wild und gef?hrlich h?lt und gerne mal nachts mit mir allein durch den Park stromern w?rde. Egal, ich werde meine Chance schon bekommen.

»Das war ja eine kurze Runde!«, wundert sich Marcs Mutter, als wir wieder in der Wohnung sind.

»Wir waren auch gar nicht im Park, denn vor dem Hauseingang haben wir eine Patientin von mir getroffen. Ihr Frauchen hatte diese Torte f?r mich gebacken. Ich habe das Tier vor drei Wochen operiert, nachdem es vom Auto angefahren wurde.«

Frau Wagner wirft einen Blick auf die Torte.»Hm, Schwarzw?lder Kirschtorte. Die sieht aber gut aus! Siehst du, das ist das Sch?ne an einer Praxis – die Dankbarkeit von Mensch und Tier.«

»Ja, Mutter, das ist wirklich sch?n. M?chtest du vielleicht ein St?ck? Gewissermassen als Nachtisch?«

»Gerne. Komm, ich decke kurz f?r uns in der K?che.«

»Gut, ich bringe Luisa ins Bett. Dann komme ich.«

Falls dieser Kuchen tats?chlich so lecker ist, wie er riecht, lohnt es sich bestimmt, wenn ich mich in diesem Fall an die Fersen von Oma hefte. Sie denkt doch eigentlich immer daran, dass auch Dackel Genussfreunde sind.

Ich scharwenzel also um ihre Beine und bem?he mich um einen m?glichst unwiderstehlichen Dackelblick. Leider schaut sie nicht nach unten, kann also davon nicht beeindruckt sein. Vielleicht ein bisschen Jaulen? Kann bestimmt nicht schaden.

»Herkules, ich weiss genau, was du willst. Ein St?ck von der Torte. Die sieht auch wirklich grossartig aus, aber Marc hat neulich schon mit mir geschimpft. Ich muss also ein bisschen strenger mit dir sein. Es gibt nichts.«

Och n?. Wie doof ist das denn? Ausserdem ist Marc gar nicht f?r meine Erziehung zust?ndig. Der hat genug mit Luisa zu tun. Soll er bei der streng sein. Caro h?tte bestimmt nichts dagegen. Ich jaule noch ein bisschen lauter.

»Hach, na gut! Aber dann musst du dich beeilen, damit uns Marc nicht erwischt. Hier.«

Sie stellt mir ein kleines Tellerchen mit Torte direkt vor die Nase, ich schlabbere sofort los. HERRLICH! Und so was kann Cheries Frauchen backen? K?nnen die mich nicht adoptieren? Sofort?

Die K?chent?r geht auf.

»Mutter! Du hast doch nicht etwa Herkules ein St?ck abgegeben, oder?«

»Ach Junge, er hat so lieb geguckt. Es war auch nur ein ganz, ganz kleines.«

»Das glaube ich jetzt nicht! Da ist bestimmt Alkohol drin. Mutter, du hast jahrelang in einer Tierarztpraxis gearbeitet, du weisst doch, wie sch?dlich das f?r Hunde ist!« Marc klingt sehr,sehr vorwurfsvoll. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. War ja im Grunde genommen meine Idee. Also lasse ich von dem Sch?lchen ab, schleiche zu ihm hin?ber und lege mich ergeben vor seine F?sse. Grosse Demutsgeste.

»Okay, Herkules, du kannst die Show einstellen.« Er seufzt. »Ich gebe zu, es ist schwer, ihm zu widerstehen, Mutter. Aber bitte f?ttere ihn nicht mehr, wenn er bettelt. Wir haben hier sonst binnen k?rzester Zeit einen fetten, kurzatmigen Dackel.«

Das sind wirklich keine verlockenden Aussichten. So will mich Cherie bestimmt nicht. Ich lasse also den Rest Torte auf dem Teller liegen und trolle mich unter den Esstisch.

»Ich habe auch noch einen Kaffee gekocht. M?chtest du?« Oma Wagner holt Tassen aus dem Schrank und tr?gt sie zum Tisch.

»Gerne. Danke.«

»Weisst du, ich habe den Erfolg deines Vaters auch immer als meinen eigenen betrachtet. Das war mir Best?tigung genug. Es war ebenunsere Praxis. Ich habe mich schon ein wenig gewundert in den letzten Wochen. Deine neue Freundin scheint sich?berhaupt nicht f?r deinen Beruf zu interessieren.«

»Mutter, ich weiss wirklich nicht, wie du darauf kommst.«

Ich kann es nat?rlich von meiner Position unter dem Tisch aus nicht sehen, aber ich wette, Marc runzelt gerade die Stirn. Seine Stimme klingt jedenfalls genau so.

»Na, also ich bitte dich. Die normalste Sache der Welt w?re doch, wenn sie dir nun assistieren w?rde. Gut, sie ist nicht vom Fach, aber zumindest, bis Frau Warnke wieder da ist, k?nnte sie doch ein bisschen aushelfen. Ich meine, ich freue mich ja, dass du mich gefragt hast. Aber gewundert habe ich mich trotzdem.«

»Ich habe es bereits gesagt, und ich wiederhole es gerne nochmal: Carolin ist berufst?tig. Sie hat eine eigene Werkstatt, die sie seit mehreren Jahren sehr erfolgreich f?hrt. Da kann sie nicht einfach mal ein paar Wochen wegbleiben, weil bei mir die Sprechstundenhilfe ausgefallen ist.«

»Sabine hat schliesslich auch ihren Beruf f?r dich aufgegeben. «

»Halt mal – den hat sie nicht f?r mich aufgegeben, sondern f?r unser gemeinsames Kind. Und aufgegeben hat sie ihn auch nicht, sondern nur reduziert. Was als angestellte Stewardess deutlich einfacher ist als als selbst?ndige Handwerkerin.«

»Tja, und deswegen musst du jetzt stundenweise die Praxis schliessen, um eine Feier f?r dein Kind zu organisieren. Das h?tte ich damals nie von deinem Vater verlangt. Da war mir die Familie immer wichtiger.«

Marc seufzt so laut, dass es sogar unter der dicken Tischplatte zu h?ren ist. »Luisa ist aber nicht Carolins Tochter.«

»Ja, vielleicht ist das das Problem. Vielleicht h?ttet ihr euch damals nicht so schnell trennen sollen.«

Pl?tzlich gibt es einen lauten Knall, vor Schreck fange ich an zu bellen und schiesse unter dem Tisch hervor. Was ist passiert? Hat Marc irgendetwas auf den Tisch gehauen? Vielleicht mit der Hand? Die liegt jedenfalls noch zur Faust geballt auf der Tischplatte und zittert leicht.

»Verdammt noch mal, Mutter, h?r endlich auf damit! Du weisst genau, wie das damals war. Wir haben uns nicht getrennt – Sabine ist abgehauen. Und zwar bei Nacht und Nebel, wie man so sch?n sagt. Ich kam nach Hause, und sie war weg. Mitsamt Luisa. Und dass du findest, dass ich mit dieser Frau …«

Oma Wagner legt beschwichtigend die Hand auf Marcs Unterarm.»Schatz, ich weiss doch, wie weh dir das getan hat. Aber das ist nun drei Jahre her, und manchmal muss man auch verzeihen k?nnen. Denk an deine Tochter.«

»Ich denke an meine Tochter. Die braucht vor allem einen gl?cklichen Vater. Und ich bin gl?cklich, wenn ich mit Carolin zusammen bin. Denn ich liebe diese Frau. Im ?brigen verstehen sich Caro und Luisa blendend. Caro hat sofort gemerkt, dass sich Luisa an ihrer neuen Schule nicht so wohl f?hlt, und ist dann auf die Idee mit den Ponys gekommen. Dass ich mich um die Umsetzung k?mmere, weil ich derjenige von uns bin, der den alten Grafen kennt, finde ich selbstverst?ndlich. So, und damit ist das Thema f?r mich beendet. Ich m?chte nicht weiter mit dir dar?ber reden.«

Schweigend trinken die beiden ihren Kaffee und essen etwas von der Torte. In meinem Kopf rattern die Gedanken, und ich merke, dass ich Ohrensausen bekomme. Alte und neue Frauen, eigene und fremde Kinder, Omas und gebrauchte M?nner – das Leben der Menschen ist wirklich undurchsichtig. Ich beschliesse, mich einfach in mein K?rbchen zu legen und zu schlafen. Morgen sieht die Welt vielleicht wieder etwas ?bersichtlicher aus.

SECHZEHN

Leine, Fressnapf, Hundefutter, Kuscheldecke– meinst du, du brauchst auch seinen Impfpass?« Carolin w?hlt noch einmal in der grossen Tasche, die sie soeben bei Nina im Flur abgestellt hat. Die verdreht die Augen.

»Carolin, ihr seid drei Tage weg. Eigentlich nur zweieinhalb. Was soll ich da mit seinem Impfpass? Das Kerlchen bekommt regelm?ssig sein Happi, tags?ber kann er mit Herrn Beck in den Garten, und ansonsten schl?ft er hoffentlich viel. Nein, ich brauche keinen Impfpass. Falls etwas Schlimmes passiert, rufe ich euch in eurem romantischen Winkel an, und ihr kommt wieder nach Hamburg. So einfach ist das.«

»Na gut. Dann mache ich mich jetzt auf den Weg. Komm, Herkules, gib Caro ein K?sschen.«

Ich trabe r?ber zu Carolin, die nimmt mich auf den Arm und dr?ckt mich nochmal ganz fest. Sie riecht fast ein bisschen traurig. Ob sie wirklich bald zur?ck ist?

Herr Beck liegt in der Ecke schr?g gegen?ber der Wohnungst?r und am?siert sich augenscheinlich k?stlich. Er rollt sich von links nach rechts und verdreht sich dabei ziemlich den Hals, um die Abschiedsszenerie besser beobachten zu k?nnen. Als Caro weg ist, kommt er zu mir und gibt mir einen Stoss mit seiner Tatze.

»Na, da war Mutti aber traurig, oder? Mann, das muss dir als Fast-Jagdhund doch echt peinlich sein!«

»He! Was soll das heissen? Erstens: Fast-Jagdhund? Ich bin vielleicht nicht aktiv in Dienst gestellt, aber ich bin zweifelsohne ein Jagdhund. Terrier und Dackel. Mehr Jagdhund geht nicht. Und zweitens: Wieso soll mir das peinlich sein, wenn mein Frauchen beim Abschied traurig ist?«

Herr Beck streicht sich?ber den Schnurrbart. »Weil du ein Tier bist und sie ein Mensch ist. Zu viel Rumgekuschel finde ich da unangemessen. Ach, ihr Hunde lernt es eben nicht. Ich glaube, Carolin braucht einfach mal ein eigenes Kind. Dann w?re sie auch wieder klar im Kopf.«

Na super. Das kann ja ein tolles Wochenende werden. Drei Tage mit Kratzb?rste Nina und Oberlehrer Beck. Bravo. Nicht, dass ich Carolin ihrromantisches Wochenende– was auch immer damit gemeint sein mag – mit Marc nicht g?nne, aber h?tten sie mich nicht mitnehmen k?nnen? Ich h?tte doch gar nicht gest?rt. Aber nein – kaum war klar, dass Luisa das Wochenende bei ihrer Mutter verbringt, schon wurde auch nach einer Abschiebem?glichkeit f?r mich gesucht. Und bei Nina prompt gefunden.

»So, Herkules. Dann will ich dir mal den Abschiedsschmerz ertr?glicher machen und etwas Leckeres f?r dich kochen. Die ollen Hundekuchen brauchen wir doch gar nicht, ich habe mir etwas Besseres ?berlegt. Komm mal mit in die K?che.«

Na ja, manchmal ist so eine gewisse r?umliche Trennung vom Frauchen vielleicht auch gar nicht schlecht. Man weiss sich hinterher bestimmt wieder viel mehr zu sch?tzen. Und die ganze Zeit nur mit Marc und Caro, ohne andere Tiere – das w?re auch langweilig geworden. Hach, es riecht schon ganz k?stlich!

»Kumpel, da steigt die Laune, oder?«

Ich ignoriere Beck, denn ich habe beschlossen, ihm heute mal in keinem einzigen Punkt Recht zu geben. Er ist mir einfach zu oberschlau. Stattdessen sehe ich gebannt zu, wie Nina leckere Herzst?ckchen mit Sauce auf einer Portion Reis verteilt, die sie zuvor in meinen Napf gef?llt hat. Lecker!

»Sag mal, kann es ?brigens sein, dass du zugenommen hast?«, erkundigt sich Beck.

Ich sage nichts dazu. Ich lasse mich nicht provozieren. Ich nicht. Er l?uft einmal um mich herum und betrachtet mich genau.

»Doch. Mindestens ein Kilo, oder?«

Ich lasse mich nicht provozieren. Ich nicht.

»Tja, was rede ich da. Du weisst wahrscheinlich gar nicht, was ein Kilo ist. Also, es ist ungef?hr so viel wie ein halbes Kaninchen.«

Ich tauche meine Schnauze tief in den Napf und versuche, nicht hinzuh?ren.

»Diese Cherie ist ziemlich schlank, oder? Sind Retriever ja meistens.«

Okay. Gott weiss, ich habe es versucht. »Beck. Du nervst. Und zwar gewaltig. Ich bem?he mich wirklich, deine st?ndigen Belehrungen nicht pers?nlich zu nehmen. Aber das f?llt mir immer schwerer. Wenn ich deiner Meinung nach alles verkehrt mache, zu sehr an meinem Frauchen und an meinem Opili h?nge, mich in die falschen Frauen verliebe und sowieso ein bedauernswerter Schosshund bin, dann frage ich mich ernsthaft, warum du mein Freund bist. Oder ob du ?berhaupt mein Freund bist. Oder ob du nur jemanden brauchst, bei dem du schlaumeiern kannst, um dich selbst besser zu f?hlen.«

»Oh.« Mehr sagt Beck nicht, stattdessen schaut er mich v?llig erstaunt an.

»Ja: oh!«, entgegne ich einigermassen giftig. Wir schweigen uns eine Weile an.

»So siehst du mich?«

Ich nicke.

Beck schaut zu Boden. Dann sch?ttelt er sich kurz. »Es tut mir leid. Ich bin wohl mittlerweile etwas zynisch geworden.«

»Mag sein. Ich weiss nicht, was das heisst. Aber du kannst es mir nat?rlich gerne erkl?ren. Ist ja sowieso deine Lieblingsbesch?ftigung. «

»Herkules, ich habe gesagt, dass es mir leidtut. Und ich meine das ernst. Nat?rlich will ich dein Freund sein, und ich hoffe, ich bin es auch. Zynismus ist n?mlich gar nicht gut. Es bedeutet, dass man Sachen, die anderen wichtig sind, l?cherlich macht. Und zwar meistens, weil man diese Sachen fr?her selbst mal f?r wichtig gehalten hat, aber dann das Gef?hl hatte, dass es sie vielleicht gar nicht gibt. Nimm beispielsweise deinen unersch?tterlichen Glauben an die Freundschaft zwischen Mensch und Tier. Als ich noch ein junger Kater war, habe ich auch fest daran geglaubt. Aber vielleicht habe ich einfach ein paar Mal zu oft den Besitzer gewechselt und zu unerfreuliche Dinge mit Menschen erlebt, um davon noch ?berzeugt zu sein. Bei Frau Wiese war es zwar ganz okay, aber sie war nat?rlich nicht meine Freundin. Eher meine Zimmerwirtin. Offen gestanden, ist Nina der erste Mensch seit langer Zeit, der mir richtig viel bedeutet. Wahrscheinlich war ich immer ein bisschen neidisch auf dein gutes Verh?ltnis zu Carolin. Verzeih mir, mein Freund!«

Ach, ich habe einfach ein weiches Herz. Wenn mir Beck so eine traurige Geschichte erz?hlt und mich dabei auch noch so treu anschaut, ist es dahin mit meinem Vorsatz, endlich mal hart zu bleiben. Mist.

»Ausnahmsweise. Aber du musst dich bessern!«

»Grosses Ehrenwort! Ich werde mich anstrengen, versprochen!«

Um unsere nun per Schwur erneuerte Freundschaft ein bisschen zu feiern, beschliessen wir, uns im Garten zu sonnen. Die letzten Tage war das Wetter f?r solche Aktionen zu schlecht, aber heute regnet es endlich mal nicht, und der Himmel ist strahlend blau. Nina deutet unser Maunzen und Jaulen gleich richtig und l?sst uns raus.

Herrlich, sich so im Gras zu fl?zen. Ich f?hle mich trotz meines vollen B?uchleins ganz leicht und unbeschwert. Herr Beck, der nun offenbar bem?ht ist, den neuen Superfreund zu geben, legt sich neben mich und signalisiert Interesse an meinem Gef?hlsleben.

»Sag mal, Freund Herkules, wie steht es denn nun um dein kleines Dackelherz? Immer noch verliebt in diese Cherie?«

»Ja, leider.«

»Und? Schon irgendwelche Fortschritte gemacht?«

Ich sch?ttele den Kopf, was im Liegen gar nicht so einfach ist, ohne gleich herumzukugeln.

»Nein. Leider nicht. Also: Sie kennt mich, und seit sie in Marcs Praxis war, findet sie mich wohl auch nett. Aber ich werde das Gef?hl nicht los, dass ich f?r sie nur ein guter Kumpel bin.«

»Immerhin. Das ist doch schon mal etwas.«

»Ja. Aber es ist irgendwie nicht das, was ich gerne f?r sie w?re. EinKumpel. Nat?rlich bin ich gerne ihr Freund. Aber ich w?rde einiges daf?r geben, wenn sie mich nur einmal so anschauen w?rde, wie sie damals an der Alster diesen Alonzo angeschaut hat. So … so … bewundernd! Ja, das ist es – sie hat ihn bewundert, sie fand ihn toll. Als R?de, nicht als Kumpel.«

»Hm. Da hast du in der Tat ein Problem. Und wie willst du das l?sen?«

Ich schaue auf meine Pfoten, als g?be es dort etwas Interessantes zu entdecken. Vielleicht gar die L?sung meines Problems. Aber nat?rlich sehe ich da nur Gras und zwei bis drei wagemutige Ameisen, die sich an meinen Krallen zu schaffen machen.

»Keine Ahnung, was ich da machen k?nnte. Hast du vielleicht eine Idee?«

»Einen alten Kater nach den Chancen bei einer jungen H?ndin zu fragen ist mit Sicherheit nicht besonders erfolgversprechend. Aber ich werde mir M?he geben, mir anhand meiner generellen Erkenntnisse ?ber die Liebe etwas Sinnvolles einfallen zu lassen.«

»Ach, Herr Beck, das klingt gut. Denn ich habe nicht einmal generelle Erkenntnisse ?ber die Liebe. Mich trifft es zum ersten Mal. Und manchmal f?hlt sich das ganz toll an und manchmal leider ganz furchtbar.«

»Na gut, eine Sache steht damit schon mal fest: Du bist wirklich verliebt.«

Das Wummern aus der Decke?ber uns ist mittlerweile so laut, dass es sogar den Fernseher ?berdr?hnt. Es ist mal schneller, mal langsamer, aber leider nie leise. Zwischendurch klingt es auch so, als w?rden Menschen rauf-und runterspringen, wobei ich mir das kaum vorstellen kann, denn eigentlich machen Menschen so was nicht. Wenn ich mal vor Begeisterung rauf-und runterspringe, ernte ich jedenfalls meist tadelnde Blicke von ihnen.

Nina scheint aber wild entschlossen, den L?rm zu ignorieren. Sie geht zum Fernseher und stellt ihn noch ein bisschen lauter. F?r Herrn Beck und mich ist das allerdings keine Alternative, denn nun sind wir wie eingeklemmt zwischen dem L?rm des Fernsehers und dem von oben. Ein kurzer Blickkontakt, und wir sind uns einig: Das geht so nicht!

Wir verziehen uns also in den Flur. Hier ist es aber leider auch nicht wesentlich ruhiger, denn offenbar bekommt der Herr Obermieter heute sehr viel Besuch. Auf der Treppe herrscht jedenfalls reger Verkehr, Menschen traben zu seiner Wohnung, und viele von ihnen m?ssen sehr seltsames Schuhwerk anhaben, denn die Schritte klingen gar nicht wie Schritte, sondern wie ein schnelles Klackern.

Da! Schon wieder! Klack klack, klack klack! Die Klingel schrillt, dann lautes Hallo an der T?r, Musik schwappt in den Hausflur. Nervig. Ob es in Ninas Schlafzimmer ruhiger ist? Und ob Beck und ich da ausnahmsweise reind?rfen? Beck schaut mich leidend an.

»Warum sind Menschen bloss so furchtbar laut? Jedes vern?nftige Tier kann auch im Stillen seinen Spass haben. Aber nein, wenn die Zweibeiner eine Party feiern, dann geht das nicht ohne H?llenl?rm.«

Aha. Eine Party. Interessant. Ich habe zwar schon davon geh?rt. Luisa wollte doch eine Pyjamaparty machen, und Marc und Carolin reden in letzter Zeit h?ufiger davon, dass nun mal eine Einweihungsparty anst?nde. Was genau das ist, weiss ich allerdings nicht.

»Was machen Menschen denn bei einer Party?«, will ich von Beck wissen.

»Du h?rst es doch selbst. Sie machen Krach.«

»Aber sie werden sicherlich noch irgendetwas anderes machen, oder? Die treffen sich doch nicht nur, um gemeinsam laut zu sein.«

»Na ja, sie h?ren laute Musik, sie tanzen, sie reden, nat?rlich trinken sie Alkohol. Manchmal k?ssen sie sich, auch wenn sie sich vor der Party noch gar nicht kannten. Also, mit Zunge meine ich. Nicht nur das Begr?ssungsk?sschen. So Zeug eben.«

Hm.So Zeug eben. Mit Zunge k?ssen, obwohl man sich nicht kennt. Als mir Beck vor langer Zeit erkl?rte, dass die Menschen ihre Zunge ab und zu auch f?r etwas anderes brauchen, als Worte zu formen, war ich sehr ?berrascht. Ich meine, mir als Hund muss man nicht sagen, wie sch?n es ist, jemanden abzuschlecken. Das weiss ich. Aber dass Menschen im Grunde ihres Herzens genauso denken, h?tte ich nicht gedacht. Bis eben Beck mir das erl?uterte.

Allerdings war ich bisher davon ausgegangen, dass Menschen nur solche anderen Menschen abschlecken, die sie wirklich gut kennen. Stattdessen auch Fremde? Das ist nach meiner Kenntnis vom menschlichen Paarungsverhalten nun in der Tat ungew?hnlich. Aus diesem ganzen Kennenlernzeug vor der Paarung wird doch sonst eine Riesensache gemacht. Wie lange das allein gedauert hat, bis Marc endlich Carolin das erste Mal gek?sst hat – also, mit einer einzigenParty war es da nicht getan. Nein, der Arme musste sich wochenlang M?he geben. Alles in allem klingt das so, als sollte man sich die Party oben mal ansehen.

Meine Chance dazu ergibt sich schneller als erwartet. Denn noch bevor ich meinen letzten Gedanken zum Thema L?rm, K?ssen und Party richtig zu Ende gedacht habe, kommt Nina aus dem Wohnzimmer. Sehr entschlossen stapft sie zur Wohnungst?r – mir ist sofort klar, wo sie hin will: nach oben, sich beschweren. Ich hefte mich also an ihre Fersen, Beck tut es mir gleich. Und Nina ist offenbar so w?tend, dasssie gar nicht bemerkt, dass ihr eine kleine Eskorte die Treppe hoch folgt.

Oben angekommen, klingelt sie kurz. Als nicht sofort ge?ffnet wird, klopft sie sehr entschlossen mit der Faust gegen die T?r. Das gleiche Spiel wie neulich: Die T?r ?ffnet sich, dahinter der junge Mann mit den hellen Haaren. Die sind heute allerdings nicht so verwuschelt wie beim letzten Mal, sondern ordentlich gek?mmt, und auch sonst sieht der Nachbar heute irgendwie gepflegter aus. Sauberes Hemd, keine farbverschmierte Hose. Nicht schlecht!

»Frau Nachbarin! Welche Freude! Sie folgen meiner Einladung und bringen noch zwei weitere kleine G?ste mit?«

Nina, die offensichtlich gerade zum Angriff?bergehen wollte, schaut verwirrt. »Kleine G?ste?«

»Na, der Hund und die Katze. Oder geh?ren die nicht zu Ihnen? Dann hat sich wohl schon auf der Strasse rumgesprochen, dass hier gerade das Fest des Jahres steigt.« Er l?chelt. Nein. Er grinst.

»Herr … Herr …«

»Alexander«, erg?nzt der Hellhaarige.

»Ja. Alexander. Ihre Einladung habe ich tats?chlich aus dem Briefkasten gefischt, aber ich bin keinesfalls hier, um ihr zu folgen. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich eine anstrengende Arbeitswoche hinter mir und muss mich dringend erholen.«

Alexander grinst noch breiter.»Ja, Sie haben Recht. Ich als Student habe nat?rlich die ganze Woche im Bett gelegen – wenn ich Sie nicht gerade mit meiner Renovierung terrorisiert habe – und Kr?fte f?r meine Party gesammelt. Aber da sehen Sie mal, was f?r ein ekstatisches Fest Sie verpassen w?rden, wenn Sie jetzt nichtreinkommen. Bitte!«

Falls das eine erneute Einladung war, geht Nina nicht darauf ein.

»Ich bin wirklich kein Kind von Traurigkeit, aber Ihre Musik ist so laut, dass ich unten nicht einmal meinen eigenen Fernseher verstehe. Bitte drehen Sie den Ton runter.«

»Damit eine sch?ne Frau wie Sie den Samstagabend vor dem Fernseher verbringt? Nein, das werde ich auf keinen Fall tun. Eher drehe ich den Ton noch lauter.«

»Wenn Sie das machen, rufe ich die Polizei. Mir reicht’s!«

Nina will sich umdrehen, da packt Alexander sie mit beiden H?nden an den Schultern und zieht sie zu sich ?ber die Schwelle in die Wohnung. Beck und ich h?pfen schleunigst hinterher, dann dr?ckt Alexander die T?r wieder zu. Nina ist so ?berrumpelt, dass sie sich nicht wehrt.

»Hey, Simon, bring mir bitte mal zwei Gl?ser Sekt! Und zwar flott!«

Ich kann nicht sehen, wem Alexander das zugerufen hat, aber das Kommando funktioniert. Zwei Sekunden sp?ter dr?ckt Alexander Nina ein Glas in die Hand.

»Auf gute Nachbarschaft. Sch?n, dass du da bist.«

Ogottogott! So behandelt niemand unsere Nina ungestraft. Der soll sich mal besser warm anziehen. In Erwartung des sicheren Donnerwetters dr?cke ich mich an die Wand des Flurs und mache mich ganz klein.

Doch es geschieht das Unglaubliche: Kratzb?rste Nina kippt diesem Alexander das Glas nicht etwa ?ber den Kopf, sondern leert es in einem Zug. Dann macht sie einen Schritt nach vorne – und k?sst ihn!

Ich bin fassungslos. Wir sind noch keine zwei Minuten auf der Party, und schon k?sst Nina einen Mann, den sie kaum kennt. Mittlerweile k?sst der auch Nina. Also, will sagen, sie k?ssen sich. Und zwar sehr innig. Meine G?te, die Menschenkenntnis von Herrn Beck ist einfach vollkommen. Teufelskerl!

Jetzt l?sst Nina Alexander wieder los und mustert ihn gr?ndlich. »Ich heisse ?brigens Nina.«

Der Typ grinst. Nein, diesmal l?chelt er. »Ich weiss.«

SIEBZEHN

Du hast was? Du hast deinen Nachbarn aufgerissen? Den Lauten von neulich? Auf seiner Einweihungsparty?« Carolin guckt genau so, wie ich gestern auf der Party geguckt h?tte, wenn ich ein Mensch w?re. Nina kichert. »Warst du betrunken, oder was?«

»Nein, sogar ziemlich n?chtern. Apropos – wollen wir nicht von Kaffee auf Prosecco umsteigen? Mir ist gerade so danach.«

Caro nickt ergeben, und Nina winkt der Kellnerin. Die beiden sitzen wieder an ihrem Lieblingstisch im Violetta. Eigentlich wollte Caro mich nur ganz schnell einsammeln, aber nachdem Nina sie mit einem verschw?rerischenich muss dir unbedingt noch etwas erz?hlen gek?dert hatte, war ihr Widerstand sofort gebrochen.

»Also, du bist hoch, um dich zu beschweren, und dann?«

»Dann fiel mir auf, dass der Bursche ziemlich gut aussieht und ungef?hr f?nftausend Jahre vergangen sind, seit ich das letzte Mal Sex hatte.«

F?nftausend Jahre? Ist das lang? Klingt irgendwie so und w?re ja auch kein Wunder. Denn wie ich schon feststellte, hat das normale Paarungsverhalten von Menschen f?r meinen Geschmack einen geradezu unglaublich langen Vorlauf, siehe Marc und Carolin. Da kann man wahrscheinlich schon mal f?nftausend Jahre warten, bis sich was tut. Insofern hat sich Nina hier eindeutig als Frau der Tat gezeigt und sich offenbar das n?chste verf?gbare M?nnchen geschnappt. Gef?llt mir! Carolin dagegen scheint weniger angetan.

»Und dann bist du gleich mit ihm in die Kiste?«

»Na, was heisst hiergleich? Wir haben uns auf der Party nat?rlich erst miteinander unterhalten.«

Das allerdings ist die etwas gesch?nte Variante. Tats?chlich haben Nina und Alexander nach meiner Wahrnehmung die restliche Party knutschend verbracht – und zwar von dem Augenblick, in dem Nina in die Wohnung kam, bis zu dem Moment, in dem die letzten G?ste die Party verliessen.

»Ach?«

»Na ja, und als die Party vorbei war, haben wir eben noch ein bisschen weitergefeiert. Im ganz kleinen Kreis.« Sie kichert wieder.

»Also wirklich, Nina!«

»Sag mal, seit wann bist du denn so pr?de?«

»Bin ich gar nicht. Aber das ist immerhin dein Nachbar, dem wirst du doch jetzt st?ndig begegnen.«

»Na und?«

»Ja, ist es was Ernstes?«

»Quatsch. Der Typ ist mindestens sechs, sieben Jahre j?nger als ich.«

»Und das ist ein Ausschlusskriterium?«

»Genau. Ich steh nicht auf j?ngere M?nner. Die sind mir zu unreif.«

»Aber f?r Sex geht es gerade noch, oder wie?«

»Da muss Jugend ja kein Nachteil sein.«

Nina grinst, Caro starrt sie an.

»Nina, du bist unm?glich. Was ist denn, wenn er sich jetzt in dich verliebt hat?«

»Mann, Caro, komm mal wieder zu dir. Dein Familienidyll hat dir ja schon komplett das Hirn vernebelt. Hallo! Erde an Neumann! Im wirklichen Leben verlieben sich M?nner nicht gleich, weil Frau einmal mit ihnen im Bett war.«

»Weisst du was, Nina? Du wirst langsam zynisch.«

Zynisch! Da ist das Wort wieder. Jetzt habe ich’s kapiert. Nina macht etwas l?cherlich, was sie sich in Wahrheit w?nscht, weil sie Angst hat, dass es das nicht gibt. Also ist die Sache klar: Nina w?nscht sich Liebe. Das muss ich unbedingt Herrn Beck erz?hlen – falls er es nicht schon weiss.

»Sag mal, Mutter, kannst du hier eine Stunde ohne mich die Stellung halten?«

Marc lehnt am Tresen, w?hrend Oma Wagner dahinter am Computer sitzt und sehr gesch?ftig auf der Tastatur herumtippt. Ich habe mich neben ihre F?sse gerollt und will hier ein Nickerchen halten. Nach dem Wochenende bei Nina bin ich ein wenig schlapp. Zum einen bin ich schon lange nicht mehr so ausdauernd mit Beck durch den Garten getobt, zum anderen hat die Party mit allem, was noch dazu kam, ganz sch?n lange gedauert. Mir fehlt also eindeutig eine M?tze Schlaf. Und weil Caro heute nur Termine ausserhalb der Werkstatt hat, gibt es doch nichts Besseres, als neben Oma zu entspannen und darauf zu bauen, dass sie mich alle halbe Stunde mit einem St?ck Fleischwurst, einem Schokokeks oder etwas ?hnlich Leckerem versorgt. Die Sache mit Nina und der Liebe kann ich Herrn Beck auch noch morgen erz?hlen. Die ist zwar wichtig, aber nicht eilig. So schnell l?sst sich wahrscheinlich ohnehin keine Liebe f?r Nina finden.

»Muss das sein? Es ist immerhin Montag, und nach der Mittagspause wird das Wartezimmer sich sehr schnell f?llen.«

»Ja, ich weiss – es ist aber wichtig.«

Oma Wagner seufzt.»Und was ist, wenn ein Notfall reinkommt?«

»Ich nehme mein Handy mit. Bitte, Mutter, du w?rdest mir wirklich sehr helfen.«

»Aber was hast du denn so Wichtiges vor?«

Marc z?gert einen Moment, dann r?ckt er raus mit der Sprache. »Ich habe mich zum Mittagessen mit Sabine verabredet. Wir m?ssen ein paar Dinge besprechen.«

Jetzt geht ein Strahlen?ber Frau Wagners Gesicht. »Ach, Sabine ist in Hamburg?«

»Ja, sie ist gestern zusammen mit Luisa nach Hamburg geflogen.«

»Na, wenn das so ist, dann fahr mal los. Ich komm hier schon klar. Die Leute k?nnen ja auch ruhig mal einen Moment warten, so tragisch ist das auch wieder nicht.«

»Danke. Das ist lieb von dir.«

Er wendet sich zum Gehen, dreht sich dann nochmal zu seiner Mutter um.

»Ach, eine Bitte habe ich noch.«

»Ja?«

»Carolin regt sich bei dem Thema Sabine immer so schnell auf. Es w?re mir lieb, wenn das unter uns bliebe.«

Seine Mutter l?chelt und nickt. »Nat?rlich, Marc. Du kannst dich auf mich verlassen. Von mir erf?hrt sie nichts.«

Hm. Irgendwie klingt das komisch. So, als w?re es gar nicht gut f?r Carolin. Und was nicht gut f?r Carolin ist, kann mir eigentlich auch nicht gefallen. Was genau will Marc denn mit Sabine besprechen? Eines ist klar: Ich muss da irgendwie mit.

Bevor Marc aus der T?r verschwindet, laufe ich hinter ihm her und winsele vernehmlich. Ob er mich jetzt mitnimmt? Seinem Blick nach zu urteilen wohl eher nicht. Da kommt mir Oma Wagner zu Hilfe.

»Also, die Praxis h?ten oder mit Herkules Gassi gehen – ich kann nur eins von beiden. Nicht, dass hier noch ein Malheur passiert. Das habe ich nicht so gerne in den Praxisr?umen. Schlimm genug, wenn sich die Patienten nicht benehmen k?nnen.«

Marc geht wieder zur?ck und nimmt meine Leine von der Garderobe.

»Ja, ist schon gut. Ich nehme ihn mit. Das Kerlchen st?rt ja nicht weiter.«

Draussen angekommen, schl?gt Marc gleich den Weg zum Park ein. Will er sich dort mit Sabine treffen? Das w?re einigermassen beruhigend. Zumindest scheint er dann nichts mit ihr machen zu wollen, was seiner Liebe zu Carolin in die Quere k?me. Wenn es unter freiem Himmel stattfindet, kann es ganz so bedrohlich nicht sein. F?r echte Zweisamkeit zieht es Menschen doch meistens in Geb?ude. Jedenfalls soweit ich das bisher beobachtet habe.

Wir landen dann aber doch nicht im Park, sondern: schon wieder im Violetta! Langsam werde ich hier Stammgast. Ob man irgendwann f?r eine Hundetr?nke mit meinem Namen sorgt? Als wir das Caf? betreten, sitzt Sabine schon an einem Tisch in der Ecke. Sie sieht uns, springt auf, l?uft zu Marc und f?llt ihm um den Hals. Ich knurre ein bisschen. So wollen wir hier doch gar nicht erst anfangen!

»Huch, was hat denn der Kleine?«, erkundigt sie sich nach dieser herzlichen Begr?ssung bei Marc. Der schiebt sie ein St?ck zur Seite.

»Hallo, Sabine. Tja, Herkules geh?rt Caro. Vielleicht wundert er sich genauso ?ber deine st?rmische Begr?ssung wie ich.«

Sabine zieht die Augenbrauen hoch.»Ich wollte nur nett sein. Aber bitte – wir k?nnen uns in Zukunft auch einfach die Hand geben. Wenn du es lieber f?rmlich magst …«

Dazu sagt Marc nichts, stattdessen geht er zu Sabines Tisch und setzt sich. Auch Sabine setzt sich wieder hin.

»Nett hier«, stellt sie fest.

»Ja, ich bin ?fter mal hier, ist ziemlich genau die Mitte zwischen der Praxis und Caros Werkstatt.«

Sabine verzieht den Mund. Diese Info scheint ihr nicht zu gefallen, sie sagt jedoch nichts dazu.

»So. Du wolltest dich mit mir treffen. Also, was gibt’s?« Marc klingt nicht besonders freundlich, das beruhigt mich enorm. Die Wahrscheinlichkeit, dass er seine alte Frau irgendwie wieder zu seiner neuen machen will, kommt mir sehr gering vor.

»Na ja, unsere letzte Begegnung in deiner Praxis verlief doch ein bisschen ungl?cklich. Da dachte ich, ich nutze meinen n?chsten Hamburg-Aufenthalt mal f?r ein Gespr?ch mit dir. Es ist mir n?mlich durchaus an einem guten Verh?ltnis zu dir gelegen. Auch, wenn du mir das immer nicht glaubst.«

»Die Begegnung verlief deswegen ungl?cklich, weil du meine Freundin beleidigt hast – passenderweise, als sie direkt daneben stand.«

»Daf?r konnte ich nun wirklich nichts. Ich dachte doch, dass diese andere Frau, die abends bei euch auf dem Sofa sass, Caroline sei.«

»Carolin. Meine Freundin heisst Carolin.«

»Ja. Wie auch immer. Jedenfalls war das keine b?se Absicht von mir. Und umgekehrt hast du mittlerweile vielleicht auch ein bisschen mehr Verst?ndnis daf?r, dass ich gerne vorher gewusst h?tte, wenn deine neue Flamme bei dir einzieht.«

Marc schiebt das Kinn nach vorne.»Carolin ist nicht meineneue Flamme. Wir sind seit?ber einem Jahr zusammen, sie war schon mit Luisa und mir im Urlaub, und das weisst du ganz genau. Es ist nun wirklich nicht so, als h?tte ich dem Kind in einer Nacht-und-Nebel-Aktion meine neue Lebensgef?hrtin aufgedr?ngt.«

»Mein Gott, das habe ich doch gar nicht gesagt. Trotzdem: Es ist unser gemeinsames Kind. Da m?chte ich ?ber so einschneidende Dinge vorher informiert werden.«

Dazu sagt Marc erst einmal nichts, dann nickt er langsam.»Ja, du hast Recht. Das war ein Fehler von mir, und es tut mir leid.«

Sabine greift?ber den Tisch und nimmt seine Hand. »Danke. Es tut gut, dass du das sagst. Weisst du, ich m?chte mich nicht die n?chsten zehn Jahre mit dir streiten. Und ich weiss auch, dass ich dich damals tief verletzt habe. Ich w?nschte, ich k?nnte es ungeschehen machen.«

Ihre Stimme bekommt einen ganz warmen, samtigen Klang– und bei mir gehen s?mtliche Alarmglocken an.Das istdefinitiv nicht der Ton, den ich von der alten Frau im normalen Gespr?ch mit ihrem gebrauchten Mann erwarten w?rde. Marc geht es anscheinend ?hnlich. Jedenfalls will er seine Hand zur?ckziehen, aber Sabine h?lt sie fest.

»Marc, auch ich m?chte mich entschuldigen. Es tut mir leid. Es war ein grosser Fehler von mir. Weisst du, ich habe neulich ein Buch gelesen.Die zweite Chance oder so?hnlich hiess das. Handelte davon, wie man als getrenntes Paar wieder aufeinander zugeht. Da musste ich die ganze Zeit an uns denken. Die ganze Zeit.«

Marc mustert sie eindringlich.

»Sag mal, Sabine, ist alles in Ordnung bei dir?«

Er hat die letzten Worte gerade ausgesprochen, da bricht Sabine in Tr?nen aus. Undausbrechen ist hier definitiv das richtige Wort, denn es rollt nicht ein vereinzeltes Tr?nchen ?ber ihre Wange, sondern ein regelrechter Sturzbach. Es sch?ttelt Sabine geradezu, und zwar so stark, als w?rde ein unsichtbarer Mensch hinter ihr stehen und sie hin und her werfen. Marc springt von seinem Stuhl auf, stellt sich neben Sabine und legt seinen Arm um ihre Schulter.

»Mensch, Sabine, was ist denn los mit dir?«

Anstatt zu antworten, steht Sabine auf, schlingt ihre Arme um Marc und legt ihren Kopf auf seine Brust. Unter Tr?nen stammelt sie etwas, was sehr schwer zu verstehen ist, aber einzelne Wortfetzen klingen wieJesko… schon lange nicht mehr gl?cklich … grosser Fehler. Sie weint immer weiter, bis sich auf Marcs Hemd schon ein nasser Fleck bildet. Er streicht ihr?ber den Kopf und murmeltna, na.

Auweia– sollte ich hier eingreifen? Immerhin h?lt Marc eine fremde Frau im Arm. Also, nicht richtig fremd, aber eben nicht Carolin. Und die ganze Szenerie sieht sehr vertraut aus. Ich bin unschl?ssig. Was mache ich bloss? Andererseits will Marc Sabine wohl nur tr?sten. Eigentlich sehr nett von ihm und entspricht bestimmt auch seiner Veranlagung. Schliesslich ist er Arzt, und ?rzte sollen sich k?mmern. Das ist wahrscheinlich bei Menschen wie bei Hunden, so jedenfalls hat es mir Opili mal erkl?rt. H?tehunde zum Beispiel haben die Veranlagung zu h?ten, und wenn keine Schafe zu sehen sind, k?mmern sie sich stattdessen um ihre Menschen und passen auf, dass da keiner unerlaubt das Rudel verl?sst. Opili erz?hlte, dass der Border Collie unseres alten Nachbarn beim Spazierengehen immer die Kinder in die Fersen gezwickt hat, wenn die woanders hinliefen. Das war nicht b?se gemeint, nur Veranlagung.Und wir, Carl-Leopold, wir sind Jagdhunde. Wir wollen eben jagen. Ach, Opili! Was mache ich jetzt nur? Mein Jagdtrieb bringt mich hier jedenfalls nicht weiter.

Daf?r aber mein gesunder Dackelverstand. Denn wahrscheinlich kennt auch Sabine Marcs Veranlagung und nutzt diese schamlos aus. Wenn ich mit dem Verdacht richtigliege, dann ist sie nicht so ungl?cklich, wie sie tut, und es ist v?llig in Ordnung, wenn ich mit einem St?rman?ver dieses Schauspiel beende. Wie war das mit dem Border Collie? In die Fersen zwicken? Richtig, damit h?lt man die Schafe zusammen und den b?sen Wolf fern. Um Letzteren k?mmere ich mich nun.

Ich laufe um Marc und Sabine, die immer noch neben dem Tisch stehen, herum und werfe einen Blick auf Sabines Beine. Na gut, sie hat keine Hosen an, sondern einen kurzen Rock. Muss ich eben ein bisschen vorsichtig sein. Und– Attacke!

»Autsch!« Sabine f?hrt sofort herum. »Sag mal, bist du verr?ckt geworden, du bl?der K?ter?! Das sind sauteure Str?mpfe von Wolford! Die haben ein Verm?gen gekostet! Wenn da jetzt eine Laufmasche drin ist…«

Na, wer sagt’s denn? Das klingt doch schon nicht mehr ganz so verzweifelt. Marc ist ?berrascht.

»Was ist denn passiert?«

»Deine doofe T?le hat mich gebissen!«

»Das tut mir leid! Herkules, also wirklich! Komm sofort zu mir, du ungezogener Hund!«

»Was bringst du den auch mit? Wir wollten doch in Ruhe reden. Bl?des Biest, dir geh?rt ein Maulkorb verpasst!« Sabine funkelt mich b?se an, ich gucke m?glichst unschuldig zur?ck.

»Vielleicht wollte er mich besch?tzen, oder er ist ein bisschen eifers?chtig«, unternimmt Marc den Versuch einer Erkl?rung. Ich gucke noch unschuldiger.

»Hunde, die einen einfach anfallen, geh?ren doch weggesperrt! «

»Also, so schlimm ist das nun auch wieder nicht – wenn er richtig zugebissen h?tte, dann w?rdest du hier nicht mehr so ruhig stehen. Wahrscheinlich hat er dich nur gezwickt. Das geh?rt sich nat?rlich auch nicht – aber, wie gesagt, vielleicht wollte er mich sch?tzen. Er kennt dich nicht, und die Situation ist f?r ihn schwer zu durchschauen. F?r mich ?brigens auch.«

Sie setzen sich wieder, Sabine wirft einen Blick auf ihre Waden und versucht dann zu l?cheln.

»Na ja, ist ja nochmal gut gegangen. Keine Laufmasche.«

Schade. Ich muss noch an meiner Technik feilen. Ansonsten bin ich mit dem Ergebnis meiner Aktion sehr zufrieden: Die Stimmung ist vondramatisch aufsachlich gefallen.

»Also, wo waren wir stehen geblieben? Genau, ich wollte wissen, ob bei dir alles in Ordnung ist«, versucht Marc an das Gespr?ch vor dem Heulkrampf anzukn?pfen.

»Nat?rlich ist alles in Ordnung. Ich muss nur in letzter Zeit h?ufig an uns denken, und das macht mich dann traurig. Es waren ja auch sch?ne Zeiten.«

Marc sagt dazu nichts.

»Und wenn wir uns dann streiten, dann f?hle ich mich hinterher sehr schlecht. Deswegen wollte ich das endlich mal zwischen uns ausr?umen. Ich wollte mich entschuldigen f?r den Schmerz, den ich dir bereitet habe, und wollte nochmal ?ber die Sache mit dem Einzug deinerLebensgef?hrtin mit dir sprechen.« Das Wort Lebensgef?hrtin betont Sabine ganz seltsam, so, als wolle sie damit etwas Bestimmtes sagen.

Jetzt r?uspert sich Marc. »Gut. Wie ich schon sagte: Ich gebe dir Recht, dass es ein Fehler war, dir nicht vorher davon zu erz?hlen. Das tut mir leid, und daf?r habe ich mich entschuldigt. «

Sabine beugt sich ein St?ck nach vorne und schaut Marc ganz eindringlich an. »Und? Nimmst du meine Entschuldigung auch an?«

Marc lehnt sich zur?ck und bringt damit wieder mehr Raum zwischen Sabine und sich. »Ich weiss es noch nicht. Ich werde dar?ber nachdenken.«

ACHTZEHN

Es ist sch?n, wieder hier zu sein.« Daniel stellt seinen Rucksack und die grosse Tasche in den Flur und geht bed?chtig durch die einzelnen R?ume der Werkstatt. In dem Zimmer mit den beiden grossen Werkb?nken bleibt er stehen. Carolin folgt ihm und schiebt auf ihrer Werkbank einen Stapel Papier zusammen,der so hoch und schief ist, dass er schon fast vom Tisch zu fallen droht.

»Viel habe ich nicht ver?ndert, seitdem du nicht mehr da bist. Okay, es ist nicht mehr ganz so ordentlich, da hattest du doch eine sehr disziplinierende Wirkung auf mich.«

»Ich hoffe doch sehr, du vermisst nicht nur meinen unschlagbaren Sinn f?r Ordnung.« Beide fangen an zu lachen – dann nimmt Daniel Caro in den Arm und dr?ckt sie ganz fest. »Wirklich, Caro, ich habe mich sehr gefreut, als du mich wegen des Jobs angerufen hast.« Er l?sst sie wieder los.

»Ja, als die Anfrage von Herrn Lemke kam, dachte ich mir sofort, dass die Restaurierung einer historischen Instrumentensammlung bestimmt spannend genug w?re, um dich nach Hamburg zu locken.«

Daniel guckt sie versonnen an.»Ich w?re auch f?r die Begutachtung einer chinesischen Kiefernholzfiedel nach Hamburg gekommen, wenn du mich darum gebeten h?ttest.«

Dazu sagt Carolin nun nichts, sondern schaut zu Boden. Offenbar macht Daniel sie verlegen. Wie spannend! Ich freue mich allerdings auch sehr, dass Daniel wieder da ist. Auch wenn er bisher nur Augen f?r Carolin hatte. Ich beschliesse, mal ein bisschen auf mich aufmerksam zu machen, indem ich mit einem Satz auf Daniels F?sse h?pfe.

»Hoppla! Mann, Herkules, stimmt – dich habe ich noch gar nicht richtig begr?sst!«

Was heisst hiernicht richtig? Gar nicht, mein lieber Daniel, gar nicht! Aber das macht ja nichts, du kannst es jetzt nachholen, ich bin da nicht nachtragend. Und das macht Daniel, der alte Hundeversteher, jetzt auch. Er beugt sich zu mir herunter und hebt mich hoch.

»Nun lass dich mal richtig knuddeln, du S?sser!« Er krault mich hinter den Ohren, ich drehe den Kopf und schlecke ihm blitzschnell ?bers Gesicht. Daniel lacht.

»Mann, das ist ja eine Freude unter den Dackeln. Herkules, ich habe dich vermisst. Vielleicht sollte ich mir auch so ein kleines Kerlchen wie dich anschaffen, aber ich bef?rchte, dann bekomme ich Probleme mit Aurora. Sie ist n?mlich nicht das, was man gemeinhin als Hundefreundin bezeichnen k?nnte.«

Nein, so habe ich sie auch nicht in Erinnerung. Und leider beantwortet das auch gleich meine dringendste Frage, n?mlich, ob Daniel tats?chlich noch mit dieser Schreckschraube zusammen ist. Ist er offensichtlich. Auweia. Dabei h?tte ich ihm doch sehr eine nettere Frau geg?nnt. Gut, die netteste ist nun vergeben, aber ein paar andere laufen bestimmt noch frei herum.

Daniel setzt mich wieder ab, dann geht er nochmal zu seiner Tasche im Flur und kramt einen Zettel heraus.

»So, Herr Lemke hat mich in einem Apartmenthaus ganz in der N?he untergebracht. Lauter kleine Wohnungen, im Internet sah es sehr nett aus. Da werde ich die n?chsten sechs Wochen wohnen. Mal sehen, wo genau das ist.« Er studiert den Zettel. »Ach, eigentlich genau neben dem Park, wie praktisch!«

»Soll ich dir ein Taxi rufen?«

»Gerne. Ich will nur schnell auspacken und mich vielleicht ein St?ndchen aufs Ohr legen. Ich bin ein bisschen m?de.«

Tats?chlich sieht Daniel geschafft aus: Seine blonden Locken stehen kreuz und quer vom Kopf ab, und seine grossen, dunklen Augen haben noch dunklere Ringe darunter.

»Klar, mach das. Ich gebe dir einen Werkstattschl?ssel, dann kannst du einfach wiederkommen, wenn du so weit bist.«

»Danke, Carolin. Es ist ein sch?nes Gef?hl, wieder einen Schl?ssel zu haben.«

Als Daniel gegangen ist, macht sich Carolin an ihrer eigenen Werkbank zu schaffen. Sie nimmt eine der fast fertigen Geigen und h?lt sie ins Licht, dreht sie hin und her und schnappt sich ein St?ck Schleifpapier. In diesem Moment klingelt es an der T?r. Caro legt die Geige wieder zur Seite.

»Was denkst du, wer das ist, Herkules? Nina vielleicht? K?nnte sein, oder? Erwarten tue ich jedenfalls niemanden.«

Richtig geraten: Es ist wirklich Nina, die vor der T?r steht. Ohne gross Hallo zu sagen, st?rmt sie gleich in die Werkstatt.

»Na, wo ist Daniel? Ich wollte ihn doch gleich mal begr?ssen. «

»Den hast du knapp verpasst. Er ist eben in sein Hotel gefahren. War ein bisschen geschafft.«

»Ach schade.« Nina klingt entt?uscht.

»Aber ich denke mal, dass er sp?ter wiederkommt. Soll ich ihm einen Zettel hinlegen, dass er sich bei dir melden soll? Deine Sehnsucht scheint ja gross zu sein.«

»Was heisst hierSehnsucht? Ich habe ihn einfach ganz lange nicht mehr gesehen und mich deshalb schon auf ihn gefreut. Ich dachte, wir k?nnten vielleicht einen Kaffee zusammen trinken.«

»Tja, ich f?nde einen Kaffee auch nicht schlecht. Oder bekomme ich den bei dir nur, wenn ich Daniel mitbringe?«

Nina sch?ttelt den Kopf und macht dabei ein Ger?usch, das wieTSSS klingt.»Ich habe mir ?brigens eine neue Kaffeemaschine gekauft und kann dir gleich einen sehr leckeren Latte Macchiato anbieten.«

»Klingt super! Dann mal los!«

Bevor wir Ninas Wohnung entern k?nnen, gilt es allerdings noch ein Hindernis zu ?berwinden: Auf ihrer Fussmatte liegt ein ziemlich grosser Blumenstrauss, der herrlich frisch duftet. Mir ist nat?rlich sofort klar, wer den da hingelegt hat: der Nachbar? Das ist doch der gleiche Trick wie mit dem anderen P?ckchen, der Box mit diesenOhropax. Lustige Gewohnheiten hat der Herr. Fast wie eine Katze. Bei Herrn Beck habe ich das zwar noch nie beobachtet, aber die Katzen im Schloss legten tats?chlich auch gerne Sachen auf die Fussmatte vom Seiteneingang zur K?che. Meist waren das tote M?use, manchmal auch ein kleines V?gelchen, das sie erjagt hatten. Emilia war dar?ber nicht besonders begeistert, hat aber nie geschimpft, weil esdie Katzen nur gut gemeint h?tten.

Nina guckt zwar nicht so angewidert, wie es Emilia bei den M?usen tat, besonders begeistert scheint sie aber auch nicht zu sein. Sie seufzt und hebt die Blumen auf.

Caro guckt neugierig.»Aha. Ein heimlicher Verehrer?«

Nina sch?ttelt den Kopf. »Heimlich trifft es nicht ganz.«

»Dein Nachbar, oder?«

»Ja«, antwortet Nina knapp.

Carolin lacht.»Siehste, ich hab’s dir ja gleich gesagt.«

»Warte mal kurz, bin gleich wieder da.« Nina dreht sich um und geht die Treppe nach oben. Caro und ich bleiben derweil unten stehen. Wir k?nnen h?ren, dass Nina bei Alexander klingelt, er ?ffnet die T?r.

»Hallo, Alex. H?r mal, das ist ja nett gemeint mit den Blumen – aber wie ich dir schon sagte: Ich will mich nicht weiter mit dir treffen. Also bem?h dich bitte nicht mehr. Und die …« Es raschelt laut, vermutlich das Papier, in das die Blumenstiele eingeschlagen sind, »… die m?chte ich auch nicht behalten. Vielleicht kannst du sie deiner Mutter schenken.«

Alex scheint gar nichts zu sagen, Ninas Schuhe klappern auf dem Weg nach unten, oben wird die T?r wieder geschlossen.

»Wow, Nina, das war schon sehr direkt!«

Nina erwidert nichts, stattdessen schliesst sie Caro und mir die T?r auf und schiebt uns in ihre Wohnung. Als sie die T?r hinter uns zugemacht hat, atmet sie tief durch.

»Mann, Alexander ist echt niedlich, aber er kommt mir vor wie ein Kind. Die letzten zwei Tage hat er mich jedes Mal, wenn er mich gesehen hat, um ein Date gebeten. Den Zahn musste ich ihm gerade mal endg?ltig ziehen.«

»Ja, das d?rfte dir gelungen sein. Schade um die Blumen. Die waren wirklich sch?n. Der Mann hat offensichtlich Geschmack.«

Mittlerweile hat sich auch Herr Beck aus seinem K?rbchen erhoben und steht neben uns. Er sieht noch ein wenig verschlafen aus. »Sag mal, Freund, wovon reden die beiden Damen?«

»Die Kurzversion? Der Typ von der Party hatte Blumen f?r Nina vor eure T?r gelegt. Die hat sie ihm aber gerade wieder in die Hand gedr?ckt.«

»Aha.« Herr Beck scheint unger?hrt. So, als h?tte er in diesem Fall auch nichts anderes erwartet.

»Findest du das gar nicht komisch? Ich meine, auf der Party sah es doch so aus, als h?tte sie ihn sehr, sehr gerne.«

»Findest du? Ich hatte eher den Eindruck, Nina war nur auf der Suche nach Spass.«

H?? Wie meint der Kater denn das jetzt? Wieso Spass? Ich dachte, beim K?ssen geht’s den Menschen um Liebe. Und beim Sex sowieso. Genauso hat mir Beck das mal erkl?rt – dass Sex und Liebe bei den Menschen irgendwie zusammengeh?ren. Ich fand das Konzept zwar nicht sofort einleuchtend, aber nicht alles beim Menschen l?sst sich logisch erkl?ren. Muss es ja auch nicht. Jedenfalls hatte Carolin ja auch deswegen mit ihrem gruseligen Freund Thomas Schluss gemacht: weil Beck und ich ihr beweisen konnten, dass er Sex mit einer anderen Frau hatte. Das nennt man Betrug, und es vertr?gt sich nursehr schlecht mit der menschlichen Liebe.

»Aber du selbst hast mir doch erkl?rt, dass diese ganze Sache mit K?ssen und so weiter bei den Menschen mit Liebe zu tun hat. Und dann m?sste sich Nina doch ?ber Blumen von Alexander freuen. Was meinst du denn jetzt mitnur Spass?«

Herr Beck sieht mich an, als sei ich heute besonders schwer von Begriff, und atmet schwer. Das ist eigentlich eine Frechheit, denn immerhin war er es, der mich erst auf die Idee gebracht hat, dass es den Menschen bei der Paarung um die Liebe geht.

»Also, es ist wie folgt«, beginnt Beck zu erkl?ren und spricht dabei so langsam, als habe er es mit einem Schwachsinnigen zu tun, »oft ist das K?ssen wirklich ein Zeichen von Liebe. ABER – es muss nicht immer so sein. Menschen k?ssen sich auch, weil es Spass macht. Und insbesondere, wenn sie sich eigentlich nicht kennen, geht es oft nur um den Spass. Man kann ja eigentlich niemanden lieben, den man nicht kennt. Mit Sex ist es dann genauso.«

Nun gut. Klingt logisch. Allerdings habe ich Herrn Beck ja auch noch nicht von meiner sensationellen Erkenntnis berichtet, die das alles in einem v?llig anderen Licht erscheinen l?sst.

»Aber Nina w?nscht sich Liebe.«

Herr Beck z?gert einen Moment, dann prustet er los. »Wie kommst du denn auf diese Idee?«

»Weil sie zynisch ist.«

»Bitte? Was soll das denn f?r ein Grund sein?«

»Also, es war ungef?hr so: Nina hat Carolin gesagt, dass sie sich Alexander geschnappt hat, weil sie seit f?nftausend Jahren keinen Sex mehr hatte. Carolin wollte dann wissen, ob es was Ernstes ist, und Nina hat ihr erkl?rt, dass Alexander f?r Sex genau richtig, aber f?r Liebe zu jung ist. Oder so ?hnlich. Und dann sagte Carolin:Nina, du bist zynisch.«

»Sch?n und gut, aber wieso denkst du deswegen, dass Nina sich Liebe w?nscht?«

»Na, du hast es doch selbst gesagt: Zynismus ist, wenn man etwas l?cherlich macht, weil man es gerne h?tte, aber gleichzeitig Angst hat, dass es das nicht gibt.«

»Tut mir leid, Kumpel. Ich kann dir gerade ?berhaupt nicht folgen.«

Mann, das ist heute aber auch schwierig mit Beck. Also, wenn hier jemand schwer von Begriff ist, dann dieser Kater.

»Es ist doch sonnenklar: Nina macht die Sache mit Alexander l?cherlich, weil sie sich genau das w?nscht. Liebe eben. Sie hat nur Angst, dass es eh nichts wird.«

Herr Beck sch?ttelt den Kopf. »Eine sehr steile These, Herr Kollege. Und im ?brigen hat Nina Liebe.«

»Echt? Hat sie einen Freund, von dem ich noch gar nichts weiss?«

»Nein. Sie hat mich. Und ich weiss, ich habe immer das Gegenteil ?ber das Verh?ltnis von Mensch und Tier behauptet – aber ich muss mich revidieren. Diesmal ist es wirklich Liebe.«

Dazu sage ich nichts mehr. Es ist sowieso zwecklos. Aber ich bleibe dabei: Nina w?nscht sich Liebe. Und zwar nicht die eines alternden Katers. Da bin ich mir ganz sicher. Vielleicht kann ich mich momentan auch deswegen so gut in Nina hineinversetzen, weil es mir ganz ?hnlich geht. Auch ich w?nsche mir Liebe. Leider hatte ich immer noch keine Idee, wie ich Cherie beeindruckenund ihr Herz damit f?r mich gewinnen k?nnte. Beck vielleicht? Immerhin wollte er dar?ber nachdenken.

»Sag mal, Beck, hast du dir vielleicht noch mal Gedanken ?ber mein Problem gemacht?«

»Welches Problem?«

»Na – mit Cherie!«

»Cherie?«

Grossartig. Herr Beck kann sich anscheinend nicht mal mehr daran erinnern, dass ich ihm vor kurzem mein Herz ausgesch?ttet habe.

»Du weisst schon – die Retrieverh?ndin.«

»Ach ja, die. Nee, dar?ber habe ich noch gar nicht weiter nachgedacht.«

Ich seufze innerlich und lege den Kopf auf meine Vorderl?ufe. Beck scheint momentan v?llig von seiner neuentdeckten Liebe zum Menschen in Beschlag genommen zu sein. Auf sein strategisches Geschick kann ich also nicht unbedingt bauen. Dann muss ich es selbst hinbekommen. Fragt sich nur, wie ich das anstellen soll. Ich habe offen gestanden nicht den blassesten Schimmer.

Caro und Nina haben sich mittlerweile in die K?che verzogen und testen den neuen Kaffeeautomaten. Der macht einen gewaltigen L?rm, dampft und zischt. Da soll Kaffee rauskommen? Die Maschine in der K?che von Marc und Caro versieht diese Aufgabe eigentlich immer still und leise, von einem gelegentlichen Blubbern vielleicht mal abgesehen.

Aber tats?chlich f?llen sich die beiden Gl?ser, die Nina in den Automaten gestellt hat, mit Fl?ssigkeit. Riecht von hier unten allerdings eher wie Milch. In diesem Moment schiesst noch mehr Fl?ssigkeit in die Gl?ser, diesmal eindeutig Kaffee. Nina wartet ab, bis die Maschine zu Ende gespuckt hat, dannreicht sie Caro ein Glas.

»E prego, un latte macchiato.«

»Grazie tante.«

Beide beginnen zu schl?rfen, schnell hat Caro einen Schnurrbart aus Milch. Sieht sehr lustig aus.

»Hm, der ist aber lecker. So eine Espressomaschine ist schon toll. Da hast du ja ordentlich in deine K?che investiert. «

»Na ja, eigentlich ist sie f?r mein B?ro an der Uni. Das Semester f?ngt n?chste Woche wieder an, und so wie ich das sehe, werde ich eine ziemlich aufw?ndige Arbeitsgruppe leiten und viel Zeit dort verbringen. Da musste ich mir mal ein Highlight g?nnen.«

»Klingt interessant. Worum geht’s da?«

»Im wesentlichen um interdisziplin?re Suchtforschung. Machen wir mit den Medizinern zusammen.«

»Aha. Na, dann noch mal auf die Forschung!«

»Ja. Prost.«

Die beiden stossen mit ihren Gl?sern an.

Caro trinkt noch einen Schluck, guckt dann auf ihre Uhr.»Oh, schon gleich halb drei. Ich mache f?r heute Schluss. Ich habe Luisa versprochen, sie fr?her aus dem Hort abzuholen, damit wir noch die Einladungen f?r ihre Ponyparty auf Schloss Eschersbach basteln k?nnen.«

Nina zieht die Augenbrauen hoch.»Ponyparty auf Schloss Eschersbach? Klingt reichlich ?berkandidelt f?r ein neunj?hriges M?dchen.«

»Unter normalen Umst?nden w?rde ich dir Recht geben, aber hier ist es ein Notfall. Ich habe dir doch erz?hlt, dass Luisa Schwierigkeiten hat, in ihrer neuen Klasse Freundinnen zu finden. Sie wollte vor ein paar Wochen eine Pyjamaparty feiern, aber keine von diesen kleinen Ziegen hat zugesagt. Luisa war ganz deprimiert. Da dachte ich, wir k?dern die Damen mal mit einem richtigen Highlight. Hat Marc dann eingef?delt, er betreut ja die Dackelzucht vom Schlossherrn.«

»Aha. Und du meinst, die kleinen Biester sind k?uflich?«

»Garantiert. Wer sich selbst den NamenTussi-Club gibt, kann zu so einer glamour?sen Veranstaltung mit Sicherheit nicht Nein sagen.«

NEUNZEHN

Papa, ich bin so aufgeregt! TOTAL aufgeregt, echt!«

Luisa ist heute Morgen schon mit dem ersten Vogelzwitschern aufgestanden, vielleicht sogar ein bisschen fr?her. Seitdem flitzt sie durch die Wohnung, sucht Sachen aus den verschiedensten Schr?nken, packt sie in den kleinen Koffer mit dem B?rchenbild, nur um sie ein paar Minuten sp?ter wieder herauszur?umen und gegen andere Dinge auszutauschen. Dabei h?pft sie auf und ab wie ein kleines K?tzchen auf der Jagd nach einem Wollkn?uel.

Marc hingegen sieht um diese fr?he Stunde irgendwie … zerknittert aus. Momentan lehnt er am T?rrahmen von Luisas Kinderzimmer und g?hnt verstohlen.

»Ich finde, du solltest noch ein bisschen schlafen, damit du sp?ter auch richtig fit bist.«

Wieder ein G?hnen. Aber Luisa sch?ttelt energisch den Kopf. »Aber Papa! Ich kann doch jetzt nicht wieder ins Bett gehen! Ich muss meine Sachen packen.«

»Luisa, es ist erst halb sechs Uhr. Wir haben noch jede Menge Zeit. Leg dich bitte nochmal hin, wir packen deinen Koffer nach der Schule. Ich helfe dir auch, versprochen.«

»Nein, ich kann nicht mehr schlafen. Ich freue mich so, dass tats?chlich alle M?dchen zugesagt haben. Alle vier – der gesamte Tussi-Club! Papa, das ist suuuuper!«

Marc nickt.

»Ja, mein Schatz, das freut mich auch riesig. Aber ich gehe jetzt wieder ins Bett. Und vor sieben kriegt mich da auch niemand wieder raus. Also meinetwegen pack weiter, aber sei bitte einigermassen leise dabei.« Er schlurft in Richtung Schlafzimmer.

Luisa schaut ihm kurz hinterher, dann dreht sie sich zu mir.»Mann, Herkules, warum wollen Erwachsene bloss immer so lang schlafen? Im Bett zu liegen ist doch voll langweilig! «

Ich wedele mit dem Schwanz. Genau meine Meinung! Mir ist auch nicht klar, was daran so toll sein soll. Die Menschen sollten lieber tags?ber ein bisschen schlafen, dann w?rden sie morgens auch zu einer vern?nftigen Zeit aus den Federn kommen.

Luisa betrachtet den momentanen Inhalt ihres B?rchenkoffers kritisch. »Weisst du, ich muss mir jetzt echt ?berlegen, was ich mitnehme. Viele Sachen von mir sind n?mlich leider voll Baby. Das merken die anderen doch gleich, wenn ich nicht aufpasse, weisst du?«

Ich lege mich neben den Koffer und versuche zu verstehen, was genau Luisa meint.Voll Baby. Hm. Was k?nnte das wohl bedeuten? Luisa ist doch l?ngst kein Baby mehr. Und die Sachen, die sie so kritisch be?ugt, w?ren f?r ein Menschenbaby auch viel zu gross.

»Das hier zum Beispiel«, sie h?lt mir ein T-Shirt unter die Nase, »Rosa! Und das auch … und hier: schon wieder Rosa. Dabei ist Rosa gar nicht in. Das ist eine Farbe f?r kleine M?dchen.«

Aha. Nun bin ich sowieso kein Farbspezialist, weil ich die Unterschiede, die Menschen da angeblich sehen, kaum ausmachen kann. Insofern war ich schon erstaunt, als ich lernte, dass Menschen bestimmte Farben f?r M?nner, andere wiederum f?r Frauen vorgesehen haben. Dass es aber auch Farben f?r bestimmte K?rpergr?ssen gibt, ?berrascht mich noch mehr. Welchen Sinn hat das? Luisa legt mehrere Kleidungst?cke nebeneinander und guckt nachdenklich.

»Mama kauft sowieso immer Babyklamotten f?r mich. Und die l?ssigen Sachen, die Carolin f?r mich gekauft hat, kann ich bei ihr gar nicht anziehen. Dann ist sie gleich traurig. Also lasse ich das lieber. Aber deshalb denkt sie nat?rlich, ich finde die Babysachen noch toll, und dann bekomme ich noch mehr davon. Die anderen M?dels haben viel coolere Klamotten.«

Ich merke schon– gelegentlich ist es sehr praktisch, ein Fell zu haben. Ob das nuncool ist oder nicht: Es ist meins, und daran l?sst sich auch nichts ?ndern. ?berhaupt scheint eines der grossen menschlichen Probleme zu sein, dass es f?r Menschen so viele M?glichkeiten gibt. Rock oder Hose? Suppe oder Braten? Marc oder Daniel? Kein Wunder, dass sie da manchmal ein bisschen durcheinanderkommen.

Aber wenigstens Luisa scheint sich nun entschlossen zu haben, was sie auf das Schloss mitnehmen will. Jedenfalls packt sie sehr entschieden mehrere Hosen und Hemden in ihren kleinen Koffer und schliesst ihn.

»So, fertig! Glaube ich jedenfalls.« Luisa greift nach mir und setzt mich auf ihren Schoss, dann beginnt sie, mich unter dem Maul zu streicheln. Sehr angenehm! »Es ist schon komisch: Ich freue mich riesig – aber ich habe auch ein bisschen Angst. Was, wenn die wieder total bl?d zu mir sind? Manchmal habe ich Angst, dass ich in Hamburg nie Freunde finden werde. Ich bin auf alle F?lle sehr froh, dass du mitkommen darfst. Das war eine gute Idee von Carolin. Mit dir zusammen bin ich immer viel mutiger, weisst du?«

Bei so einem Lob f?ngt mein Schwanz doch fast von alleine an zu wedeln! Luisa kichert.

»Hihi, deine Haare kitzeln an meinen Beinen!«

Richtig. Luisa tr?gt ja nur ihr Nachthemd. Und jetzt g?hnt sie herzhaft.

»Vielleicht hat Papa Recht, und es ist wirklich ziemlich fr?h. Ich lege mich noch ein bisschen hin. Willst du mit in mein Bett kommen?«

Na, das muss man mich nun garantiert nicht zweimal fragen. Begeistert folge ich Luisa in ihr Kinderzimmer und h?pfe zu ihr ins Bett. Dort lege ich mich zu ihren F?ssen und schlafe sofort ein.

»So, dann zeige ich euch jetzt mal, wo ihr schlafen werdet.« Corinna von Eschersbach, die Frau des jungen Grafen, f?hrt uns durch einen Teil des Schlosses, den selbst ich noch nie gesehen habe. Er liegt im Westfl?gel, also dem Teil, in dem der junge Graf mit seiner Familie wohnt. Von innen sieht es hier eigentlich aus wie in einem normalen Haus, nur gr?sser. Die Decken sind sehr hoch, und wenn ich das nicht schon aus dem anderen Teil des Schlosses gew?hnt w?re, w?rde es mir vielleicht ein bisschen Angst machen. Den f?nf M?dchen scheint es jedenfalls gerade so zu gehen – sie laufenmit weit aufgerissenen Augen und M?ndern hinter der Gr?fin her und haben sogar aufgeh?rt, miteinander zu tuscheln. Carolin, die auch dabei ist, dreht sich zu den Kindern um.

»Also, das ist schon etwas Tolles, so ein echtes Schloss, oder? Ich muss sagen, dass ich euch ein bisschen beneide. Das n?chste Mal komme ich mit, Frau von Eschersbach!«

Die beiden Frauen lachen. Dann?ffnet Corinna von Eschersbach eine T?r zu einem grossen Raum, der offensichtlich als Schlafsaal dienen soll. Jedenfalls stehen hier mehrere Betten nebeneinander, jeweils getrennt durch ein kleines Schr?nkchen. Zwei der Betten sehen sogar aus wie ein kleiner Turm – mit einem Bett oben und einem unten. Sehr interessantes Konstrukt.

»Jede von euch kann sich nun ein Bett aussuchen und im Schrank daneben ihre Sachen verstauen. Die Stockbetten teilen sich den etwas gr?sseren Schrank daneben. Ihr werdet euch einig, oder?«

Die M?dchen nicken und beginnen sofort, ihre Sachen auf den Betten zu verteilen. Corinna nickt Carolin zu.

»H?tten Sie noch Lust auf einen Kaffee?«

»Gerne.«

Kurz darauf sitzen wir in einer K?che – allerdings nicht in Emilias Reich, der grossen Schlossk?che im Erdgeschoss, sondern in einer viel kleineren, die mich stark an die K?che in Marcs Wohnung erinnert. Corinna von Eschersbach giesst Carolin einen grossen Becher mit Kaffee und Milch ein.

»Ich hoffe, dass die M?dchen am Sonntag auch wirklich zufrieden sind. Es ist schliesslich das erste Mal, dass ich so etwas mache – obwohl ich schon l?nger Lust dazu hatte. Mein Schwiegervater hat sich bisher immer gegen die Idee gewehrt, aber mit F?rsprache von Herrn Dr. Wagner hat es diesmalgeklappt. Also, dr?cken Sie uns die Daumen, dass es sch?n f?r die Kinder wird.«

»Ach, bestimmt wird es das, da habe ich gar keine Zweifel! Ponys, ein echtes Schloss – was soll da schiefgehen?«

»Sie haben Recht. Ich habe mir auch schon ein paar sch?ne Dinge ?berlegt, die wir an diesem Wochenende unternehmen werden. Um den Reitunterricht mache ich mir sowieso keine Sorgen, schliesslich bin ich ausgebildete Reitlehrerin.«

»Na also – das wird bestimmt toll. Aber noch eine ganz andere Frage: Ist es in Ordnung, wenn Herkules bei Luisa schl?ft? Ich fand es sehr nett, dass sie ihn ?berhaupt mitnehmen darf. Aber wenn das mit dem Schlafen ein Problem ist, habe ich daf?r Verst?ndnis. Wissen Sie, Luisa hatte es in den letzten Monaten nicht leicht. Sie ist gerade erst von M?nchen nach Hamburg gezogen, und ich habe das Gef?hl, dass sie sich mit Herkules zusammen etwas sicherer f?hlt.«

»Nat?rlich, das verstehe ich. Und solange Herkules stubenrein ist und hier nicht die Vorh?nge anknabbert, darf er gerne bei den M?dchen bleiben.« Sie nimmt einen Schluck aus ihrem Becher und mustert Carolin neugierig. »Luisa ist nicht Ihre gemeinsame Tochter, oder?«

Caro sch?ttelt den Kopf. »Nein. Luisa ist Marcs Kind aus erster Ehe. Aber wir wohnen seit ein paar Wochen zusammen, und ich mag das M?dchen sehr gerne.«

»Das merkt man. Und es scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen.«

»Ja. Jedenfalls hoffe ich das. Trotzdem ist es f?r Luisa nat?rlich nicht einfach. Im Grunde ihres Herzens w?nscht sie sich bestimmt, dass ihre Eltern wieder ein Paar w?ren.«

Corinna von Eschersbach nickt.»Tja, Patchwork ist oftmals schwierig. Ich weiss, wovon ich rede. Meine Mutter hat nach der Trennung von meinem Vater auch noch einmal geheiratet. Die erste Zeit war es nicht leicht. Aber ich kann Sie beruhigen – heute verstehen wir uns alle gut, und ich habe auch sehr sch?ne Erinnerungen an meine Kindheit. Und ?brigens«, sie beugt sich zu mir herunter und streicht mir ?ber den Kopf, »ist daf?r unter anderem ein Artgenosse von Herkules verantwortlich. Apropos Herkules – heisst der nicht Carl-Leopold? Oder haben Sie ihn umgetauft?«

»Oh, das ist eine l?ngere Geschichte. Aber ich erz?hle sie immer wieder gern!«

»Bist du schon einmal geritten?« Lena, die anscheinend die Anf?hrerin des Tussi-Clubs ist, hat bereits Reithose und Reitstiefel an und steht vor Luisa, die sich noch umziehen muss.

»Ja. Bei meiner Mama in M?nchen gab es einen Reitstall, der hatte ganz tolle Pferde. Ich hatte sogar ein Pflegepony, das ich jeden Tag reiten durfte. Es hiess Sally.«

Lena zieht eine Augenbraue hoch. Nach allem, was ich?ber menschliche Mimik weiss, nicht unbedingt ein Ausdruck von Freundschaft und Wertsch?tzung.

»So.Sally. Dann bin ich mal gespannt, wie gut du reiten kannst.Ich reite schon seit drei Jahren. Und Carla, Emmi und Greta schon fast genauso lange. Deswegen konnte ich dich nat?rlich auch nicht zu meinem Pony-Geburtstag einladen. Ich wusste ja nicht, dass du reiten kannst.«

H?ttest sie ja fragen k?nnen, du kleine Wichtigtuerin. Ob sich Luisa freut, wenn ich Lena mal ein bisschen zwicke? Vielleicht in den Po? Dann kann sie n?mlich garantiert nicht mehr reiten. Wie gerne w?rde ich genau das jetzt tun. Aber ein Blick auf Luisa h?lt mich davon ab. Denn sie sieht nichtso aus, als sei sie sauer auf Lena. Eher so, als wolle sie ihr irgendwie gefallen. Traurig, aber wahr: Die Hierarchie in diesem M?dchenrudel scheint klar zu sein, und wenn Luisa da mitmachen will, muss sie erst einmal kleine Br?tchen backen.

»Seid ihr fertig umgezogen und startklar f?r eure erste Reitstunde?« Corinna kommt herein, auch sie hat schon Reitsachen an und riecht nach Pferd. Puh, wenn Luisa nun wirklich zur Vollblutreiterin wird, muss sich meine Nase wohl auf einiges einstellen. Andererseits – w?re ich zum Jagdhund ausgebildet worden, dann w?rde ich bei diesem Geruch bestimmt an eine Fuchsjagd denken und in wilde Begeisterung ausbrechen.

Kurz darauf finde ich mich im Pferdestall wieder, wo die M?dchen ihre Ponys putzen und satteln. Als Welpe war ich hier nie, also ist es auch f?r mich ganz interessant. Luisa hat ein kleines weisses Pony von Corinna bekommen, es heisst Lucky, und soweit ich das beurteilen kann, sieht es sehr sanftm?tig aus.

»Hey, Kollege«, versuche ich, Lucky in ein Gespr?ch zu verwickeln, »ich hoffe, du passt gut auf Luisa auf. Sie ist wirklich ein sehr nettes M?dchen.«

Aber Lucky starrt mich bloss mit seinen grossen Ponyaugen an und kaut weiter auf dem Heuhalm, der noch aus seinem Maul h?ngt. Na gut, dann eben kein Smalltalk. Wie meine Schwester schon so treffend anmerkte: F?r die Jagd sind Pferde toll, ansonsten langweilig.

»Mal kurz herh?ren!« Corinna von Eschersbach steht in der Stallgasse und klatscht in die H?nde. »Ich m?chte euch zwei Jungs vorstellen, die euch in den n?chsten beiden Tagen ein bisschen helfen werden. Das hier sind Lasse und Max.«

Neben ihr tauchen zwei Jungs auf, die etwas gr?sser als Luisa und ihre Freundinnen sind. Der eine ist kr?ftig, hat ganz helle Haare und lauter Punkte auf der Nase, der andere hat dunkle Locken und ist sehr d?nn. Beide grinsen zu den M?dchen her?ber, die wiederum die Jungs neugierig ?ber die R?cken der Ponys mustern.

»Lasse und Max kennen den Stall und die Pferde ganz genau und sind selbst tolle Reiter«, f?hrt Corinna fort, »also, wann immer ihr eine Frage zu den Ponys habt oder einen Tipp braucht, seid ihr bei den beiden bestens aufgehoben.«

Lasse kommt einen Schritt nach vorne.»Ja, M?dels, wir helfen euch gerne. Sagt einfach Bescheid.«

»Ich w?sste nicht, was ich von euch ?ber Pferde lernen k?nnte«, kommt es in diesem Moment in einem sehr hochn?sigen Ton aus der Box, in dem ein etwas gr?sseres schwarzes Pony steht. Lena, nat?rlich! »Ich reite schon seit drei Jahren, mein Papa sagt, dass ich eineexzellente Reiterin bin. Vor den Sommerferien gab es in meinem Reitstall ein Turnier, und in meiner Altersgruppe habe selbstverst?ndlich ich gewonnen.«

Lasse und seinem Kumpel bleibt der Mund offen stehen, und auch Corinna von Eschersbach guckt sehr erstaunt. Lena ist das egal, unbeeindruckt erz?hlt sie weiter von ihren Erfolgen in der Welt der Pferde und Ponys.

»Das Adventsreiten habe ich ?brigens auch gewonnen, und demn?chst bekomme ich sowieso ein eigenes Pony, damit ich regelm?ssig auf Turnieren reiten kann. Also, vielleicht fragtihr ehermich, wenn ihr etwas wissen wollt.«

Max fl?stert Lasse etwas ins Ohr, was wiebl?de Pute klingt, und ich muss ihm Recht geben. Aber so ist es vielleicht immer mit Rudelf?hrern – Hauptsache, eine grosse Klappe und gleich mal klarmachen, wer Chef ist. Sollte ich mir da etwas abgucken? Andererseits – welches Rudel k?nnte ich f?hren? Dass sich Marc und Caro demn?chst von mir, dem kleinen Dackelmix, erz?hlen lassen, wo die Reise hingeht, ist doch mehr als unwahrscheinlich. Ich kann also ruhig ein netter Kerl bleiben.

Nach Reitstunde und Abendessen verziehen sich die f?nf M?dchen auf ihr Zimmer. Corinna hat erlaubt, dass ich auch dort schlafen darf, also klebe ich f?rmlich an Luisa. Schliesslich hat sie gesagt, dass ich sie mutiger mache – und Mut kann sie meiner Meinung nach in dieser Gruppe wirklich gut gebrauchen. Schon wieder f?hrt Lena das grosse Wort, die anderen lauschen and?chtig, hin und wieder gibt ein M?dchen ein Stichwort, auf das Lena dann eine neue Geschichte erz?hlen kann. Nur Luisa bleibt die ganze Zeit ?ber stumm, und ich kann mir kaum vorstellen, dass es f?r sie tats?chlich sch?n ist, das Wochenende mit dem Tussi-Club zu verbringen.

Als es draussen schon fast dunkel ist, kommt Corinna noch einmal ins Zimmer. »Es ist jetzt kurz nach neun, und morgen wartet wieder ein aufregender Tag auf euch. Ich habe mir heute genau angesehen, wie ihr reitet, und muss sagen, ihr macht eure Sache alle sehr gut. Wenn das Wetter also morgen so gut ist wie heute, will ich mit euch ausreiten. Deswegen macht bitte gleich das Licht aus und schlaft. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«, schallt es im Chor zur?ck, dann macht Luisa die grosse Deckenlampe aus, so dass es mit einem Mal ziemlich schummrig im Zimmer wird. Luisa legt sich in ihr Bett, ich h?pfe hinterher und lege mich wieder ans Fussende. Herrlich – von mir aus br?uchte ich zu Hause gar kein K?rbchen, sondern w?rde dauerhaft ins Kinderzimmer ziehen.

Luisa schl?ft ziemlich schnell ein, die anderen M?dchen fl?stern noch ein bisschen miteinander, dann wird es auch bei ihnen still. Ich denke noch einen Moment ?ber den Nachmittag im Stall nach. Ob Luisa mich irgendwann mal auf eine Fuchsjagd mitnehmen k?nnte? Ausritt klingt doch schon mal vielversprechend, also ein bisschen wie Jagd ohne Jagd. Da m?chte ich auf alle F?lle mitkommen. Vielleicht freunde ich mich dann auch noch mit dem Kollegen Lucky an. Mit dem Gedanken an wundervolle Gespr?che zwischen Hund und Pferd schlafe ich ein.

Ein knirschendes Ger?usch weckt mich wieder. Schlaftrunken rappele ich mich hoch und versuche zu orten, aus welcher Ecke des Zimmers das Knirschen kommen k?nnte. Das ist in einem dunklen, unbekannten Raum gar nicht so einfach, aber schliesslich bin ich mir sicher: Das Ger?usch kommt von der Seite, an der die Fenster sind. Es wird lauter, jetzt ist es ein richtiges H?mmern, gefolgt von einem Heulen. Greta wird wach und setzt sich in ihrem Bett auf, dann auch Lena und Luisa.

»Was ist das?«, fl?stert Greta in die Dunkelheit.

»Weiss nicht«, fl?stert Luisa zur?ck.

»Ich glaube, es kommt vom Fenster«, stellt Lena fest. »Greta, geh doch mal gucken.«

»Nee, ich trau mich nicht. Das klingt so gruselig!«

In diesem Moment wird das Heulen lauter, und dann taucht hinter der Fensterscheibe etwas auf, was auch einen tapferen Dackel wie mich verschreckt: ein Totenkopf! Genauer gesagt, ein Totenkopf mit einer dunklen Kapuze um den Sch?del und einer riesigen, dreizackigen Gabel in der Hand. Der Totenkopf heult jetzt ganz laut, zudem schl?gt er die Gabel gegen das Fenster. Von dem L?rm sind nun auch die anderen M?dchen wach geworden und sitzen ver?ngstigt in ihren Betten.

Keine Frage– ein Monster will die Scheiben einschlagen! Es ist gekommen, um uns zu holen! Wie aus einem Mund kreischen alle f?nf M?dchen vor Angst los, und ich kl?ffe, was das Zeug h?lt.

ZWANZIG

Also, es hat versucht, mit einem Dreizack das Fenster einzuschlagen? Und es hat getobt und geheult?« Am n?chsten Morgen sitzt Corinna von Eschersbach mit den M?dchen am Fr?hst?ckstisch und l?sst sich noch einmal genau schildern, was in der Nacht zuvor passiert ist. Wobei nach dem Geschrei der Kinder eigentlich gar nichts mehr passiert ist, denn als Corinna und ihr Mann Gero daraufhin ins Zimmer geschossen kamen, gab es von dem Monster weit und breit keine Spur mehr.

Ich pers?nlich bin nach dieser Nacht v?llig ger?dert. Die M?dchen sind geschlossen in das Wohnzimmer von Corinna und Gero umgezogen und haben dort ein Matratzenlager aufgebaut. Von mir gewissenhaft bewacht, sind die Kinder auch irgendwann eingeschlafen, aber ich habe nat?rlich kein Auge zugetan. Immerwieder bin ich zur T?r geschlichen und habe geschn?ffelt, ob sich dort etwas Verd?chtiges tun k?nnte. Und als ich dann doch einmal kurz eingenickt bin, habe ich von glut?ugigen Monstern und anderen Schlossgespenstern getr?umt und bin sofort wieder aufgewacht.

»Vielleicht wohnt das Schlossgespenst ja schon ganz lange hier, und wir haben es irgendwie aufgeschreckt«, mutmasst Luisa jetzt. Die anderen M?dchen nicken heftig.

»Also, ich lebe bereits seit zehn Jahren auf dem Schloss, und von einem Gespenst habe ich noch nie etwas geh?rt«, versucht Corinna zu beruhigen. Damit hat sie Recht. Mir geht es genauso, und ich bin mir sicher, Opili h?tte ein Monster erw?hnt, wenn es eines gegeben h?tte. An den blassen Nasenspitzen von Luisa, Lena, Greta und den anderen kann ich allerdings ablesen, dass sie immer noch grosse Angst haben. Mist! Dabei sollte das hier doch ein ganz tolles Wochenende f?r die M?dchen werden, damit Luisa endlich ihre Freundin wird.

»Lasst es uns doch so machen: Nach dem Fr?hst?ck gehen wir gleich zu euren Ponys r?ber. Das Wetter ist wundersch?n, wir k?nnen ausreiten. Und nach ein, zwei Stunden in der Sonne sieht die Welt bestimmt wieder viel freundlicher aus. Gero wird in der Zwischenzeit das ganze Schloss und den Hof nach dem Gespenst absuchen. Und wenn er es findet, macht er es dingfest. Was meint ihr? Gute Idee?«

Die M?dchen nicken. Erst etwas z?gerlich, dann ?berzeugter. Emmi, eine kleine Blonde, die bisher fast noch gar nichts gesagt hat, macht einen weiteren Vorschlag. »Luisa, vielleicht kann dein Hund ja mit suchen helfen. Dackel sind doch Jagdhunde – wenn Herkules eine F?hrte aufnimmt, kann er sie bestimmt gut verfolgen.«

Och, n?! Das ist eine bl?de Idee. Ich will mit auf den Ausritt!

»Das ist eine gute Idee!«, mischt sich nun ausgerechnet Lena ein. »Muss doch auch einen Sinn haben, dass du den Kleinen hier mitgeschleppt hast.«

»Das macht Herkules bestimmt gerne. Nicht wahr, Herkules? Du f?ngst das Gespenst!«

Ich hab’s geahnt: Wenn die Rudelchefin es w?nscht, z?gert Luisa keine Sekunde. Sonst tue ich ihr gerne jeden Gefallen, aber muss es ausgerechnet dieser sein? Ich will auch raus und durch den Wald und die Felder laufen, Kaninchen und F?chsen nachsp?ren, kurz: mich mal wieder richtig wie ein Hund f?hlen. Aber dann sehe ich das Strahlen auf Luisas Gesicht. Zum ersten Mal an diesem Wochenende sieht sie gl?cklich aus. Es bedeutet ihr offenbar sehr viel, vor Lena gut dazustehen. Also gut: Adieu ihr Kaninchen und ihr F?chse, f?r heute habt ihr Gl?ck gehabt.

Als die M?dchen in den Stall verschwunden sind, ?berlegen Corinna und Gero gemeinsam, wie sie dem Gespenst auf die Schliche kommen k?nnen.

»Was meinst du – haben die M?dchen tats?chlich etwas am Fenster gesehen? Oder hat eine schlecht getr?umt, und der Rest war allgemeine Hysterie?« Corinna schaut ihren Mann nachdenklich an, der zuckt mit den Schultern.

»Nachdem wir uns wohl einig sind, dass es hier nicht spukt, wird es eher ein Alptraum gewesen sein. Aber sicherheitshalber sehe ich mir die Sache gleich mal von aussen an. Vielleicht hat sich auch jemand einen schlechten Scherz erlaubt.«

»Danke, Gero. Das ist nett. Dann reite ich mit den Damen aus und versuche, sie auf andere Gedanken zu bringen. Nimm doch wirklich Herkules mit. Falls uns jemand einen Streich spielt, findet er vielleicht eine Spur.«

Was heisst denn hiervielleicht? Und wieso Alptraum? Ich weiss doch, was ich gesehen habe! Kinder m?gen sich alles M?gliche einbilden – Dackel neigen nicht dazu. Es ist also bestimmt eine gute Idee, nach ein paar Spuren zu suchen. Am besten, wir fangen gleich damit an!

»Hoppla, Carl-Leopold! Du hast es ja auf einmal so eilig! Lass mich wenigstens noch die T?r aufmachen.« Gero von Eschersbach lacht und l?uft hinter mir her. So, mal sehen – wie kommen wir denn jetzt auf die andere Seite des Fensters vom M?dchenschlafzimmer? Also an die Stelle, wo das Monstergestanden haben muss?

Gero?ffnet erst die T?r zum Flur, dann die Ausgangst?r des Westfl?gels. Dieser Teil des Schlosses hat l?ngst nicht so ein eindrucksvolles Portal wie der Haupteingang in der Mitte des Geb?udes, aber ein paar Stufen m?ssen wir doch hinunter, um nach draussen zu gelangen. Dort angekommen, geht Gero ein paar Meter an der Hauswand entlang, dann bleibt er stehen. Gut, das ist offenbar die Stelle auf H?he des Schlafzimmers.

Ich trabe auch dorthin und beginne, an dem Fleckchen Erde vor der Hauswand zu schn?ffeln. Tats?chlich nehme ich noch den Hauch einer Geruchsspur wahr. Und ich bin mir sicher: Er geh?rt zu einem Menschen, nicht zu einem Monster! Eindeutig. So riecht nur ein Mensch. Die Erkenntnis beruhigt mich. Ich meine, nicht, dass ich vor einem Monster Angst h?tte, o nein! Aber trotzdem ist mir der Gedanke an ein menschliches Wesen irgendwie sympathischer.

»Hm, was auch immer durch dieses Fenster geguckt haben mag, muss sehr, sehr gross gewesen sein«, ?berlegt Gero laut. »Denn das Zimmer liegt im Hochparterre, selbst ich kann kaum durch das Fenster schauen, und ich bin immerhin 1,90.«

Gero hat Recht. Ein echter Geist h?tte wom?glich bis zum Fenster fliegen k?nnen, aber der Mensch muss irgendwie anders dort hochgekommen sein. Ich schn?ffle noch einmal an der Stelle. Gibt es irgendeine Spur, die uns noch weiterhelfen k?nnte?

Aha. Hier ist sie wieder, meine F?hrte! Ich folge ihr von der Hauswand weg ein paar Meter weiter. Sie verl?uft in Richtung der St?lle und endet schliesslich vor einem alten Schuppen. Ich setze mich vor dessen T?r und beginne zu bellen. Gero kommt zu mir.

»Na, hast du was gefunden? In diesem Schuppen? Mal sehen.« Er ?ffnet die T?r. Direkt dahinter steht eine Leiter aus Holz. Jetzt ist mir alles klar: Der Mensch, der uns das Monster vorgegaukelt hat, ist offensichtlich auf die Leiter gestiegen, um ans Fenster zu gelangen. Die Leiter ist jedenfalls von dem gleichen Menschen angefasst worden, der auch die Spur vom Schloss hierher hinterlassen hat. Und nicht nur das: An der Bretterwand des Schuppens lehnt der Dreizack! Aufgeregt laufe ich hin?ber, belle und stupse den Stiel mit meiner Nase an.

»Hey, an dir ist ja ein echter Polizeihund verloren gegangen! Das ist doch mit Sicherheit der Dreizack, den die M?dchen gesehen haben. Eine Mistgabel! Und eine Leiter, um an das Fenster zu reichen. Also war die Monster-Attacke doch kein Alptraum. Aber wer versetzt denn hier harmlose kleine M?dchen in Angst und Schrecken?«

Tja, keine Ahnung. Ich habe mich zwar daran gew?hnt, dass Menschen unsinnige Sachen machen, aber das hier ist schon sehr seltsam. Warum sollte das jemand tun? Ich schnuppere noch ein bisschen an Leiter und Mistgabel, aber hier verliert sich die Spur. Ein Grund mehr, den d?steren Schuppen wieder zu verlassen und ein wenig an der frischen Luft herumzustromern. Auch Geros Interesse an der Monsterjagd scheint etwas abgeflaut zu sein. Jedenfalls ?ffnet er die Schuppent?r und geht wieder mit mir nach draussen.

»Was mache ich denn jetzt mit dir, Carl-Leopold? Den Ausritt hast du verpasst, und ich muss kurz in die Stadt. Wer auch immer der ungebetene Besucher war, ich kann mich momentan nicht damit besch?ftigen, um den m?ssen wir uns also sp?ter k?mmern. Denkst du, du kommst alleine klar? Du kennst dich doch hier aus.«

Ich wedele mit dem Schwanz. Klar komme ich klar. Ich brauche doch kein Kinderm?dchen. Und wenn ich schon keine Kaninchen jagen kann, will ich wenigstens meine Zeit auf dem Schloss geniessen. Vielleicht hat Charlotte Lust, etwas zu unternehmen. Gero b?ckt sich kurz und klopft mir auf den R?cken.

»Braver Hund. Bis sp?ter.«

Als Gero weg ist, laufe ich zur anderen Seite des Schlosses. Ich habe Gl?ck: Die K?chent?r steht offen, und ich kann sogar Emilias Stimme h?ren. Schnell h?pfe ich die Stufen zum Eingang hoch, ihrer Stimme und einem sehr verf?hrerischen Geruch folgend.

»Hoppla, Carl-Leopold – was machst du denn hier?« Emilia ist ?berrascht, mich zu sehen, ihrem L?cheln nach zu urteilen, freut sie sich aber. Ich springe an ihr hoch und mache M?nnchen. »Ja, bist ein ganz Lieber. Warte mal, ich habe gerade ein leckeres H?hnerfrikassee f?r den alten Herrn zubereitet. Es ist noch nicht so stark gew?rzt, du kannst es gerne mal probieren.«

Sie dreht sich um, nimmt eine Sch?ssel und sch?pft etwas von dem Inhalt des grossen Topfes, der auf dem Herd steht, hinein. Es riecht so lecker, dass mir sofort das Wasser in der Schnauze zusammenl?uft.

»Hier, guten Appetit! Es m?sste kalt genug sein, sonst musst du eben noch ein bisschen warten.«

Vorsichtig nehme ich den ersten Brocken ins Maul– herrlich! Und auch nicht zu heiss. Schnell schlinge ich den Rest hinterher, fahre mir mit der Zunge ?ber die Schnauze und blicke Emilia noch einmal erwartungsvoll an.

»Was denn? Schon fertig? Na gut, einen kleinen Nachschlag bekommst du noch, aber dann ist Schluss. Sonst schimpft der Alte, wenn er das merkt!«

Sie gibt mir noch eine Portion. Ich bin im Hundehimmel, eindeutig! Seltsam, dass Charlotte immer noch so schlank ist. Muss am Trainingsprogramm vom Alten liegen.

»Jetzt f?llt es mir auch wieder ein: die L?tte vom Tierarzt verbringt das Wochenende mit den Ponys der jungen Gr?fin, richtig? Oh, da war der alte von Eschersbach ?berhaupt nicht begeistert von. Aber Corinna plant schon so lange einen Ferienhof f?r Kinder, da ist das doch eine gute Gelegenheit, mal zu ?ben. Ist sch?n, dass du mitgekommen bist.« Sie kniet sich neben mich und streichelt mich. Gerne w?rde ich schnurren. Ob mir Herr Beck irgendwann beibringen kann, wie er das immer hinkriegt?

»Hallo, Carli – oder soll ichHerkules sagen?«

Charlotte ist in die K?che gekommen und setzt sich neben mich.

»Hallo, Charlotte. GerneHerkules. Ich habe mich schon so daran gew?hnt, dass mir Carl-Leopold mittlerweile selbst komisch vorkommt.«

»Ich h?re, du musst dich mit den langweiligen Ponys besch?ftigen? Du Armer.«

»Ach, ich freue mich eher, dass ich schon wieder hier bin. Ausserdem ist es ?berhaupt nicht langweilig – im Gegenteil: Gestern Nacht sind wir ?berfallen worden. Von einem Monster! «

Charlotte reisst die Augen auf.

»Von einem Monster?«

»Genau! Es tauchte nachts vor dem Fenster auf und bedrohte die M?dchen. Ich habe es verbellt!«

Das stimmt zwar nicht so ganz, aber es ist auch nicht wirklich gelogen.

»Nein! Das gibt’s doch nicht! Von einem Monster habe ich hier noch nie geh?rt. Konntest du es stellen?«

Ich sch?ttle den Kopf.

»Nein, leider nicht. Aber ich habe heute zusammen mit Gero nach ihm gesucht. Und habe dabei eine sensationelle Entdeckung gemacht.«

»N?mlich?«

»Das Monster ist ein Mensch. Ich habe es gerochen.«

»Ach. Und was willst du nun unternehmen?«

»So genau weiss ich das auch nicht. Was w?rdest du denn tun?«

»Also, ich w?rde schon versuchen, den Menschen irgendwie zu schnappen. Sonst ?berf?llt der die M?dchen vielleicht ein zweites Mal. Immerhin l?uft er ja noch frei herum.«

Wahrscheinlich hat Charlotte Recht. Aber wie k?nnte man das anstellen? Falls das vermeintliche Gespenst heute Nacht wieder auftaucht, m?sste ich schnell nach draussen rennen und es schnappen. Doch wenn die M?dchen wieder schreien und es dann so schnell weg ist wie gestern, kann ich das kaum schaffen. Andererseits kann ich auch nicht von vornherein draussen warten, ob es kommt. Denn dann kann ich nicht drinnen bei Luisa bleiben. Die aber wird heute auf keinen Fall ohne mich schlafen wollen. Und falls es doch kein Mensch, sondern ein Monster ist, muss ich die M?dchen besch?tzen k?nnen. Wie ich es auch drehe und wende: Ich m?sste schon an zwei Orten gleichzeitig sein. Und das ist unm?glich. Es sei denn …

»Alles klar, sie schlafen fest. Kannst reinkommen.«

Ich h?pfe aus Luisas Bett und mache den Platz f?r Charlotte frei, die gerade ins Zimmer geschlichen gekommen ist. Sie springt hoch und kuschelt sich ans Kopfende, genau so, wie ich dort gerade noch gelegen habe. Das war zwar ziemlich warm, hat Luisa aber wirklich beruhigt. Sollte sie nun wach werden, wird sie den Unterschied nicht merken und wieder einschlafen. Charlotte sieht mir ziemlich ?hnlich, und im Dunkeln sind wir bestimmt nicht voneinander zu unterscheiden.

»Wie komme ich denn jetzt nach draussen? Die Eingangst?r hier ist doch bestimmt verschlossen.«

»Du musst dich durch die Katzenklappe zw?ngen. Die ist ein bisschen eng, aber das schaffst du. Sie ist direkt neben dem Eingang am Hauptportal. Findest du das?«

»Ja, ich glaube schon.«

Ich flitze los. Im Dunkeln ist es zwar nicht so einfach, sich zurechtzufinden, aber nachdem sich meine Augen daran gew?hnt haben, bin ich schnell am Ziel. Da ist die Klappe: Ich halte die Luft an und ziehe den Bauch ein – uff, vielleicht habe ich wirklich zugenommen – aber dann habe ich mich ins Freie gedr?ckt. Jetzt noch zweimal um die Ecke – geschafft! Ich stehe unter dem Fenster zum Schlafzimmer.

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