Heinz Konsalik Das Bernsteinzimmer

Puschkin 1941

Sie war wirklich nicht das, was man ein hübsches Mädchen nennen konnte. Die schwarzen, strähnigen Haare hingen ihr in fettigen Zotteln wirr ins Gesicht, an ihren Kleidern klebte Schmutz aus getrockneter Erde, und Grashalme wie gelbrote verdorrte Buchenblätter hatten sich in den Stoffalten verfangen… kein Anblick, der einen Mann reizte, auch nur einmal hinzusehen. Aber wenn man die Strähnen aus dem Gesicht wischte, starrten einen schöne, fast schwarze Augen an. Hochangesetzte Backenknochen erinnerten an Bilder tatarischer Frauen, die Nase war klein und der Mund, jetzt verzerrt und mit zitternden Lippen vor Angst und Verzweiflung, verlief in einem sanften Schwung.

Unterleutnant Lew Semjonowitsch Wechajew stand der Sinn ganz woanders als bei der Entdeckung solcher Vorzüge. Er wischte auch nicht das Blut ab, das dem Mädchen aus dem Haar über der linken Schläfe sickerte, die Wange hinunterlief und einen roten Strich auf dem Hals bildete: er sah keinen Anlaß zu irgendeiner Hilfe, denn das Mädchen trug einen deutschen Militärmantel. Darunter, verdreckt wie alles an ihr, konnte er das Kleid einer Roten-Kreuz-Schwester erkennen, den Kragen geschlossen mit der runden Brosche, ebenfalls eine faschistische Uniform, wie Lew Semjonowitsch es voll erbarmungsloser Wut nannte.

«Was reden wir herum, Genossen?«sagte er. Abschätzend wog er mit der einen Hand die schwere Pistole aus dem Futteral an seinem Gürtel, als wolle er ihr Gewicht prüfen.»Eine Spionin ist sie! Trägt sie eine deutsche Uniform oder nicht, na?! Hat sie sich in einer Erdhöhle im Wald versteckt? Machen wir es kurz, und dann weiter mit uns! Kein Grund, lange zu diskutieren.«

Der Zufall hatte den kleinen Trupp sowjetischer Soldaten ausgerechnet in diesem Waldstück haltmachen lassen. Die Spezialeinheit von neunzehn Mann und zehn leeren Lastwagen war auf dem Weg zur dritten Kompanie des zweiten Garderegimentes, um aus den Schlössern vor Leningrad noch zu ret-ten, was in der Kürze der Zeit noch zu retten war. An einem friedlichen sonnigen Morgen, dem 22. Juni 1941, waren plötzlich auf breiter Front deutsche Armeen in Rußland eingefallen. Sturzkampfbomber, kurz Stukas genannt, heulten aus dem blauen Himmel auf Dörfer, Städte und Menschen herab, und es setzte sich ein Kriegsmaterial in Bewegung, wie es die Welt noch nie gesehen hatte. Den Schock und das lähmende Entsetzen ausnutzend, stießen die deutschen Truppen unaufhaltsam in die Weite des russischen Landes hinein, trieben die sowjetischen Divisionen vor sich her und glaubten, wie vorher in Polen, an einen neuen Blitzsieg. Ihre Panzer durchbrachen die Stellungen, in endlosen Kolonnen folgte ihnen die Infanterie, die Artillerie ebnete ihr den Weg durch brennende Ortschaften und aufgerissene, hoch in der Frucht stehende Felder.

Nun marschierten die Deutschen auf Leningrad zu, während ihre Bomber die Stadt und ihre Vororte zerhackten. Tausende Menschen, Greise, Frauen und sogar Kinder, hoben breite Gräben aus, bauten Panzersperren, tief gestaffelte Verteidigungslinien und Erdbunker. An allen Frontabschnitten zerbrach der heldenhafte Widerstand der sowjetischen Divisionen an dem Vorsturm der deutschen Truppen, und der Leningrader Stabschef Generalmajor Nikischew meldete dem General Stabschef der Roten Armee, General Boris M. Schaposchni-kow:»Ich habe keine Reserven mehr. Der kleinste feindliche Einbruch kann nur durch rasche Improvisationen einzelner Einheiten abgewehrt werden.«

Am 8. September erreichte Marschall Georgij Schukow die Aufforderung Stalins, nach Moskau in den Kreml zu kommen. Stalin empfing ihn sofort, reichte ihm beide Hände und sagte:»Georgij Konstantinowitsch, meinen Glückwunsch, meine Hochachtung. Sie haben die faschistischen Aggressoren im Mittelabschnitt aufgehalten. Welch ein Erfolg! Jetzt werden die Deutschen sehen, wie stark wir sein können. Was haben Sie nun vor?«

«Zurück zur Front. «Schukow warf einen verwunderten Blick auf Stalin. Hatte man ihn nach Moskau befohlen, um ihm zu gratulieren? Nur deshalb? Wer Stalin so gut kannte wie er, konnte das nicht glauben.

«Zur Front. «Stalin nickte ihm wohlwollend zu.»An welche Front?«

Einen Augenblick schwieg Schukow vor Verblüffung. Doch dann begriff er den Grund, warum er hier im Kreml, in der Schaltzentrale von Rußlands Verteidigung stand.»An die Front, an der Sie mich für nötig halten, Genosse Generalsekretär«, antwortete er.

«Dann fliegen Sie sofort nach Leningrad, Georgij Kon-stantinowitsch. «Stalins Gesicht wurde ernst, seine schwarzen Augen bekamen einen ungewohnt traurigen Blick.»Die Lage ist dort so gut wie hoffnungslos.«

Am 9. September landete Marschall Schukow auf dem Flughafen von Leningrad. Über dem Ladogasee war er noch kurz von zwei deutschen Messerschmitt-Jägern verfolgt worden, bis endlich die sowjetische Luftsicherung eingriff und die Jäger abdrehten. Der Befehlshaber der» Nord-West-Front«, wie die nördliche Heeresgruppe der Sowjetarmeen hieß, Marschall Woroschilow, empfing seinen Nachfolger Schukow und die drei mit ihm gekommenen Generäle mit einem resignierten Ausdruck im Gesicht, las Stalins Brief und nickte schwermütig.»Ich bin eben ein alter Mann«, sagte er müde.»Was sein muß, muß sein. Dies ist ein anderer Krieg als der Bürgerkrieg. Er muß anders geführt werden. Georgij Konstantinowitsch… wird Stalin mich liquidieren lassen?«

«Sie sind ein alter Freund von ihm…«

«Aber ich habe in seinen Augen versagt.«

«Nein… die Deutschen waren nur schneller. Das ist alles. Was wird aus Leningrad? Ich weiß es nicht. Vielleicht folge ich Ihnen bald, Kliment Jefremowitsch. Ich werde vieles anders machen als Sie, aber ob es richtig ist, wird sich noch zeigen müssen. Ist diese Stadt zu retten? Können wir eine Belagerung durchstehen?«

«Wir sollten mit dem Schlimmsten rechnen. «Woroschilow trat an das Fenster seines großen Arbeitszimmers und sah hinauf in den wolkenverhangenen Himmel. Es wird regnen, dachte er. Die Felder werden zu Sümpfen, die Straßen zu Schlammlöchern… Jetzt müßte ein langer Regen kommen und die deutschen Armeen ersaufen lassen. Noch kennen sie nicht Rußland, wenn die nasse Erde sie festhält und Pferd und Wagen, Menschen und Maschinen in ihr versinken.»Ich habe damit begonnen, die größten Kunstschätze aus den Schlössern zu retten. Skulpturen, Gemälde, Münzsammlungen, wertvolle Möbel, Gobelins, Kristall, Schmuck… Sehen Sie mich nicht so fassungslos an, Genosse Schukow. Ich habe aus Moskau genaue Instruktionen bekommen.«

«Gemälde! Gobelins! Möbel! Dabei brauchen wir jede Hand, die ein Gewehr halten kann, und Sie lassen alten Bojarenschmuck aus den Glasvitrinen holen.«

«Außerdem hatte ich nicht genug Transportmittel. «Wo-roschilow hob die Schultern, als friere er. Er ist wirklich ein alter müder Mann, dachte Schukow und empfand so etwas wie Mitleid mit dem Marschall.

«Auch heute arbeiten Tag und Nacht vor allem Frauen daran, aus dem Katharinen-Palast in Puschkin das Wertvollste zu verpacken und hierher in die Gewölbe der Isaak-Kathedrale zu schaffen. Fast 20 000 Gegenstände haben sie schon weggebracht. Aber wenn der deutsche Vormarsch anhält, sind die Faschisten eher in Puschkin, als wir alles ausbauen können. Vor allem wird es unmöglich sein, einen der größten Schätze zu retten. Das Bernsteinzimmer…«

«Bernsteinzimmer?«Schukow zog das Kinn an. Er hatte von diesem Saal mit seinen Mosaiken, Gemälden, Spiegeln und aus Bernstein geschnitzten Figuren an den Wänden schon gehört, aber ihn nie gesehen. Auch Fotos hatte er irgendwann in einer Zeitschrift betrachtet, ohne aber von der Ergriffenheit angesteckt zu werden, die man den Verfassern dieses Berichtes anmerken konnte. Nur Zorn, erinnerte er sich jetzt, war ihn damals überkommen bei dem Gedanken, wie verschwenderisch, ja verbrecherisch die Fürsten und Zaren gelebt hatten, auf dem Rücken des Volkes, der Bauern und Leibeigenen, der armen Kulaken, die man auspreßte bis aufs Blut.»Es ist nicht zu retten?«»Die Deutschen rücken genau auf Puschkin vor, und ich habe nicht genug Lastwagen. Außerdem ist es völlig unmöglich, daß die Frauen den ganzen Saal demontieren. Mehr zerstören als retten könnten sie. Meine Seele weint, Georgij Konstantino-witsch.«

«Ich werde General Popow beauftragen, eine Sonderabteilung nach Puschkin zu schicken und das Bernsteinzimmer auszubauen. «Schukows Mitleid wuchs, als er sah, wie es um Wo-roschilows Lippen zuckte.»Wir werden zwölf Divisionen aus dem Baltikum zusammenziehen und daraus die 42. und 48. Armee bilden. Da werden wir doch eine kleine Sondereinheit abzweigen können.«

«Wenn die Deutschen nicht vorher in Puschkin sind.«

«Das weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, daß wir uns an jedem Meter Erde festkrallen werden. Leningrad ist ein Fanal. Wir werden es den Deutschen nie, nie überlassen, auch wenn Stalin sagt, es sei eine fast hoffnungslose Lage. Fast hoffnungslos. An diesem fast halte ich fest.«

Aber auch Schukow sah in den nächsten Tagen ein, daß es unmöglich war, das Bernsteinzimmer noch rechtzeitig nach Leningrad zu bringen. Die in drei Schichten arbeitenden Frauen im Katharinen-Palast von Puschkin, dem ehemaligen Zarskoje Selo, seit Peter dem Großen Sommersitz der Zaren, bekamen daher die Order, das kostbare Zimmer vor Zerstörung zu schützen. Sie stellten große Holztafeln als Splitterschutz vor den Bernsteinwänden auf und beklebten die großen, in der Sonne in allen Gelbtönen funkelnden Flächen mit Papier. Damit wollte man verhindern, daß Erschütterungen die Mosaiken sprengten und die Bernsteinstücke von den Paneelen platzten. Schließlich trugen die Frauen alle beweglichen Kunstschätze wie Büsten aus Bernstein, einen großen Bernsteinsekretär, Tische aus Bernstein und zierliche Schränkchen zu den letzten Lastwagen, die von der Armee zum Transport von Lebensmitteln, Munition, Geschützen, Z5-ment, Eisengeflechte und neuen Regimentern dringender gebraucht wurden als zur Rettung von Kunstschätzen.

«Ich habe auch Hunderttausende von Männern, Frauen und

Kindern zu retten!«sagte Schukow einmal in jenen Tagen zu General Sinowjew, der bei einer Lagebesprechung die Aufgabe der Kunstwerke bedauerte.»Edelsteinbesetzte Tabakdosen können nicht schießen! Jammern Sie nicht länger über einen goldenen Stuhl, jammern Sie mehr über die Menschen.«»Die Faschisten werden alles wegschleppen. Stehlen werden sie unersetzbare Gemälde, Skulpturen, Bücher. Rußland wird, auch wenn wir den Krieg gewinnen, ein armes Land sein. «Sinowjew holte einen Zettel aus seiner Uniformtasche. Er war ein großer Kunstliebhaber, der stundenlang in einem Museum vor einem Rembrandt sitzen konnte oder in der Eremitage von Leningrad durch die zahllosen Räume wanderte. Einmal war er drei Tage lang hintereinander dort gewesen, um das Museum der wertvollsten Kunstschätze der Welt, nur vergleichbar mit dem Pariser Louvre, in seiner ganzen Pracht zu erleben, und war am Ende schier trunken von dem Gesehenen nach Hause gekommen.»Ich habe Informationen von unseren Spionen. Überall, wo die Deutschen Städte und Schlösser eroberten, ist gleich nach den kämpfenden Truppen ein sogenanntes Sonderkommando am Ort, um alle Kunstgegenstände abzutransportieren. Die Deutschen haben bisher geraubt in 427 Museen, 1670 russischorthodoxen und 237 römischkatholischen Kirchen, 69 Kapellen, 532 Synagogen, 258 anderen kirchlichen Gebäuden, 334 Hochschulen und 43 000 ö-fentlichen Bibliotheken. Was dort alles weggeschleppt wurde, werden wir nie wiedersehen.«

«Fleißige Spione, wirklich fleißig«, sagte Schukow mit einem spöttischen Unterton. Er nahm Sinowjew den Zettel aus der Hand, zerknüllte ihn in seiner Faust und warf das Knäuel dann unter den Kartentisch.»Und was melden Ihre fleißigen Spione über die Truppenstärke der Deutschen, ihre Bewaffnung, ihre Ziele, ihren Nachschub, ihre Stimmung, ihre wirklichen Verluste?«

General Sinowjew schwieg. Wie recht hat er, der Marschall, dachte er. Man sollte ihn nicht weiter reizen. Immer enger wird die Umklammerung Leningrads, unser Widerstand ist heldenhaft, ja, das ist das richtige Wort, heldenhaft, aber die Deutschen rücken weiter vor, sind nicht aufzuhalten. In zehn oder vierzehn Tagen werden sie durch die Straßen der Stadt marschieren, mit Fahnen und dröhnender Musik, wie vor einem Jahr durch Paris. Und sie werden überall plündern, die Kunst der ganzen Welt werden sie besitzen, den Louvre in Paris und die Eremitage, die Schatzkammer Rußlands. Ich bin noch einer, der an Gott glaubt. Also, Gott im Himmel, laß es nicht zu! Schütze unser Leningrad, auch wenn es nach dem Mann genannt wurde, der sagte:»Religion ist Opium fürs Volk. «Vergiß nicht, Herr, daß diese Stadt einmal Sankt Petersburg hieß. Eine heilige Stadt. Strecke deine Hand aus und halte die Deutschen auf. Schenk uns ein neues Wunder.

«Woran denken Sie, Witalij Bogdanowitsch?«riß ihn Schu-kows Stimme in die Wirklichkeit zurück.»Ihr Blick ist weit weg…«

«An ihre Worte denke ich, Genosse Marschall. «General S-nowjew beugte sich über die große Karte von Leningrad und Umgebung. Eine vorzügliche Karte. Jeder Bach war eingezeichnet, jeder Fabrikschornstein, jeder Tümpel, jeder schmale Waldweg. Und auch Zarskoje Selo, das heute Puschkin hieß, der Katharinen-Palast mit dem Bernsteinzimmer.»Nachschub ist wichtiger als ein Gemälde von Tintoretto.«

An diesem 12. September 1941 nun hielt die kleine Kolonne mit Unterleutnant Wechajew auf der glitschigen Waldstraße westlich von Puschkin, und Lew Semjonowitsch stieß so wilde, unanständige, ja schweinische Flüche aus, daß seine Rotarmisten ins Staunen kamen. Ein so junger Kerl und solche Ausdrücke! Wo hat man so etwas schon gehört? Nennt de gebrochene Hinterachse eine vertrocknete Hure, die der Satan fickt, und den unschuldigen Fahrer des Lastwagens, den Gefreiten Sliwka, beschimpft er als verblödeten Affen, der sich wohl während der Fahrt selbst befriedigt. Welch eine Rede, Genossen! Aber was half's? Die Achse war gebrochen, der Wagen lag fast auf der linken Seite, keinen Ersatz hatte man bei sich, wer denkt denn daran, daß so ein eisernes Mistding brechen kann, und mit Tauen zusammenbinden konnte man es auch nicht, zum Haareraufen war es, und außerdem wußte niemand, wie es nun weiterging. Ließ man den Wagen einfach liegen und fuhr weiter, oder holte man Hilfe von der nächsten Militärwerkstatt? Neun Werst war sie entfernt, das bedeutete, daß es Stunden dauern würde, ehe man eine neue Hinterachse bekam.

Wechajew entschied, sich erst einmal am Waldrand hinzusetzen, eine Scheibe nassen Brotes mit einem Aufstrich aus Zwiebeln und Lebermus zu essen, eine Papyrossa zu rauchen und dann erst zu entscheiden, was man tun sollte. Seine Soldaten, im geheimen froh über diese Unterbrechung, denn keine Freude ist's, in einem engen Fahrerhaus stundenlang zu hocken und über holprige Straßen zu hüpfen, bis einem jeder Stoß vom Hintern längs durch den Körper bis unter die Hirnschale fährt, schwärmten aus, knöpften ihre Hosenschlitze auf oder zogen die Hose ganz herunter und hockten sich an Bäumen oder Büschen hin, um sich zu erleichtern.

Auch der Soldat Viktor Janissowitsch Solotwin, ein junges Bürschchen, das sogar noch rot werden konnte, wenn die anderen rauhen Kerle schmatzend berichteten, wie und was sie mit ihrer Olga oder Warwa gemacht hatten, in der Scheune, im Stroh, hinter einer Heupuppe oder sogar — welch ein Schwein, dieser Nikita — auf der großen Hobelbank in der Schreinerwerkstatt seines Vaters, verspürte ein Drängen in den Därmen und ging tiefer als die anderen in den Wald hinein, eben weil er so schüchtern war und nicht gern sein nacktes Hinterteil zeigte.

Langsam, die Finger schon am Gürtelschloß, suchte er einen guten Platz, möglichst hinter einem dichten Gebüsch, als er plötzlich etwas sah, das nicht in diesen Wald gehörte.

Erde. Blanke Erde, wie sie bei einer Grabung ausgehoben wird. In einem Umkreis von etwa drei Metern lag sie über den Waldboden verteilt, und sie war festgestampft und geebnet worden. So etwas konnte weder von einem Hasen noch von einem Fuchs stammen, auch Marder, Nerze oder Waschbären verteilten nicht so korrekt die für ihre Höhlen ausgeworfene Erde. Hier war von einem Menschen gegraben worden, für

Viktor Janissowitsch war das ganz klar, aber nicht klar war ihm, warum man in einem einsamen Wald, dazu noch im verfilzten Dickicht, den Boden aufriß.

Mit einemmal verspürte er keinen Drang mehr, sich die Hose abzustreifen. Ein Gefühl von Gefahr stieg in ihm auf. Er überlegte, ob er zurückrennen und Unterleutnant Wechajew alarmieren sollte, aber wenn es sich dann heraus stellte, daß nichts Ungewöhnliches zu entdecken war, würde man ihn nicht nur mit Spott übergießen, sondern Wechajew würde auch noch seine ganze Wut wegen der gebrochenen Achse an ihm auslassen. Also schweig, mein Lieber, dachte Solot-win, sieh erst einmal selbst nach, ein Feigling bist du nicht, Krieg ist ja, aber die Deutschen sind noch viele Werst von hier entfernt… was also kann es sein?

Nein, ein Feigling war Viktor Janissowitsch nicht, nur hatte er bisher noch keine Gelegenheit gehabt, seinen Mut zu zeigen. Nicht einen deutschen Soldaten hatte er bislang erschossen, selbst gesehen hatte er noch keinen. Immer waren es nur Holzattrappen gewesen, sogenannte» Pappkameraden«, die unter seinen gutgezielten Schüssen umfielen und ihm Belobigungen seiner Offiziere eingebracht hatten. Doch, seien wir ehrlich mit ihm, ein wenig Zittern in den Knochen und ein drehendes Gefühl im Magen hatte er schon, wenn er daran dachte, einen richtigen Menschen durch ein bloßes Fingerkrümmen aus dieser Welt schaffen zu müssen. Nur davor hatte er e-gentlich Angst, und deshalb wünschte er sich insgeheim — es auszusprechen war ja Feigheit und Verrat am Volk —, daß es bei seiner jetzigen Reinheit blieb. Sie kamen ja nur indirekt mit dem Feind in Berührung, denn ihre Aufgabe führte sie immer dorthin, wo noch Ruhe war, von den Luftangriffen der Faschisten einmal abgesehen. Er gehörte zu einer Sondereinheit, die überall dort auftauchte, wo man mit einer Eroberung durch die Deutschen rechnete, und die aus Klöstern, Schlössern und Museen so viele Kunstschätze bergen sollte, wie es in der kurzen Zeit möglich war. Drei Offiziere, Kunstexperten, fuhren immer einen Tag voraus, um die wertvollsten Stücke auszusuchen und zu kennzeichnen.

Nun war das Ziel das Städtchen Puschkin, das eigentlich nur aus dem Alexander-Palast und dem Katharinen-Palast, weiten Parkanlagen und Zierteichen mit Wasserspielen und Grotten bestand. Die Wohnhäuser um diese Paläste waren uninteressant, und man hätte sie von den Deutschen überrennen lassen können, wie diese Hunderte andere kleine Städte zuvor überrannt hatten.

Wenn da nicht der Katharinen-Palast gewesen wäre. Dieser herrliche Palast mit seinen Säulen und Marmorstatuen, den vergoldeten Zwiebelkuppeln seiner Schloßkirche, den vergoldeten Balkongittern aus Schmiedeeisen, den von Bildhauern reich verzierten Fenstersimsen und den kunstvollen französischen Gärten nach dem Vorbild des Parks von Versailles. Der Wert all dieser Kunstwerke, die sich hier angesammelt hatten, war mit Zahlen kaum noch zu benennen. Und ein Kunstwerk war darunter, das einzigartig auf der Welt war, das nie wieder hergestellt werden konnte: ein Saal in den Maßen von 11,50 Meter mal 10,55 Meter und einer Deckenhöhe von sechs Metern mit 22 wunderschönen Vertäfelungen, 150 Platten, Girlanden, Figuren und Wappen, und das alles aus einem» Stein «in den Farben vom hellsten Gold bis zum funkelnden Dunkelbraun: das Bernsteinzimmer. Über zweihundert Jahre wurde dieser Saal im Katharinen-Palast, geliebt von allen Zarinnen und Zaren, immer wieder ergänzt und ausgeschmückt mit neuen Bernsteinwerken, Gemälden und Deckenmalereien, Putten und auch vielfarbigen Jaspis-Mosaiken in Bernsteinrahmen, die ein Werk des Hofarchitekten Rastrelli, des Lieblingsbaumeisters der Zarin Elisabeth, waren.

Das Bernsteinzimmer.

Ein ganzer Saal aus dem» Sonnenstein«.

Wer ihn einmal gesehen hat, wird es nie mehr vergessen. Die Schönheit hatte sich in ihn eingebrannt, in Tausenden von Mosaiken und glitzernden Steinschnitzereien brach sich das Licht.

Die drei Kunstoffiziere der Roten Armee waren vor zwei Tagen in Puschkin eingetroffen. In ständigem Telefonkontakt mit General Sinowjew, berichteten sie ihm, daß deutsche Bomber die

Vorstädte von Leningrad und auch Puschkin bombardierten, aber das wußte Sinowjew längst.

«Ich will nicht wissen, was an der Front passiert«, bellte er ins Telefon und unterstrich seine Erregung mit Faustschlägen auf den Tisch, die man in Puschkin deutlich hörte.»Könnt ihr das Bernsteinzimmer retten? Das allein sollt ihr mir melden. Schaffen wir es?«

«Kaum«, sagte der älteste der Offiziere, ein Major, der als Kunsthistoriker am Russkij Muzei, dem Russischen Nationalmuseum, arbeitete und dem vor allem die Säle XXII., I., XXI. und III. unterstanden, wo die schönsten und wertvollsten Gemälde, Skulpturen und Möbel dieses Museums ausgestellt waren.»Wir können gerade noch die Wände verschalen und vor Beschädigungen schützen. Damit hatte man bereits begonnen, als wir eintrafen.«

«Was hindert Sie, das Zimmer auszubauen?«rief Sinowjew in höchster Erregung.

«Die Zeit, Genosse General.«

«Noch sind die Deutschen nicht in Puschkin!«

«Aber sie werden in spätestens drei bis vier Tagen hier sein. In drei Tagen ist der Ausbau nicht zu schaffen.«

«Wir haben Menschen genug!«schrie Sinowjew unbeherrscht. Das Bernsteinzimmer in deutscher Hand — dieser Gedanke preßte ihm das Herz zusammen.»Holen Sie an Arbeitern heran, was Sie kriegen können.«

«Alle noch arbeitsfähigen Männer und Frauen sind zu Schanzarbeiten befohlen. Drei Verteidigungsgürtel sollen entstehen.«

«Das weiß ich doch!«General Sinowjew fuhr sich mit der Hand über Stirn und Augen. Das letzte Gespräch mit General Schukow war noch frisch in seiner Erinnerung.»Holen Sie einfach Frauen von der Straße und lassen Sie sie zum Bernsteinzimmer bringen! Es muß gerettet werden! Verstehen Sie mich: Es muß — «

«Außerdem brauche ich achtzehn bis zwanzig Lastwagen…«Sinowjew holte tief Atem. Zwanzig Lastwagen.»Versagt Ihr Gehirn?«sagte er, etwas leiser geworden.»Sie wissen

doch…«

«Um das Zimmer abzutransportieren, brauche ich zwanzig Wagen, Genosse General. Die Wahrheit ist's nun mal. Sollten wir die Mosaike einzeln in Säckchen wegbringen, die Girlanden zersägen, die Köpfe herausschlagen, die Gemälde aus den Rahmen schneiden, die Deckenmalereien zerstückeln? Die Vertäfelungen müssen als Ganzes herausgenommen werden, die Türen, die Putten, die Girlanden, die Masken… sonst können wir das Bernsteinzimmer gleich in die Luft sprengen.«

«Ich werde sehen, was mir möglich ist«, sagte General Sinowjew noch leiser. Seine Stimme war schleppend geworden, schwer die Zunge vor Hilflosigkeit und Kummer. Er stützte den Kopf in die rechte Hand, während die linke den Telefonhörer hielt. Seine Gardedivision grub sich in die Erde, tränkte Meter um Meter der heiligen russischen Erde mit Blut, aber der Druck der deutschen Truppen war zu stark. Allein im Räume Puschkin und Peterhof stießen das XXVIII. Armeekorps, das XLI. Panzer-Korps, die 96. und 121. Infanterie-Division, das L. Armeekorps, Teile der 16. und 18. Armee der Heeresgruppe Nord unter dem Befehl von Generalfeldmarschall Ritter von Leeb, die 1. Panzerdivision und vor allem die SS-Polizei-Division, gefürchtet überall, wo sie eingesetzt wurde, unaufhaltsam vor. Fünfzehn Divisionen der Roten Armee standen neunundzwanzig Divisionen der Deutschen gegenüber. Zum ersten Mal erlebten sie die Übermacht der Faschisten. Leningrad — für Hitler ein Symbol des Sieges.

Und im Mittelabschnitt der Front rollte die deutsche Lawine bereits auf Moskau zu.

General Sinowjew schloß einen Moment die Augen.

Es darf nicht sein, schrie es in ihm. Nein, es darf einfach nicht sein! Über 500 000 Kinder leben noch in der Stadt, für 980 000 Menschen hatte man Luftschutzräume gebaut, 672 000 Menschen konnten sich in schnell ausgehobenen Splittergräben verkriechen, aber doppelt so viele Einwohner warteten in Leningrad auf ein Wunder… auf das Wunder, nicht in deutsche Hand zu fallen. Und auch an Generalmajor F. S. Iwanow erinnerte sich Sinowjew jetzt. Als Schukow ihn fragen ließ, wie die Frontlinie um Leningrad verlaufen würde, hatte Iwanow verzweifelt geantwortet:»Ich weiß nicht; wo die Front verläuft. Ich weiß überhaupt gar nichts!«Sofort wurde er von Schukow seines Kommandos enthoben. Der Marschall kannte kein Erbarmen mehr, er war ein Offizier der härtesten Art, ein Mensch, der Unmögliches möglich machen wollte: Leningrad, eine seit ihrer Gründung im Mai 1703 durch Peter den Großen unbesiegte Stadt, sollte unbesiegt bleiben.

Ein Vorbild für das riesige russische Reich.

Sinowjew atmete ein paar Mal tief ein und aus, seufzend und doch befreiend.

«Sie bekommen Lastwagen, Genosse Major, so viel ich entbehren kann«, sagte er und wischte sich wieder über de Augen. Wenn Schukow das erfährt, wird es mir ergehen wie Iwanow. In Schimpf und Schande werde ich weggejagt.»Sie sind morgen, spätestens übermorgen bei Ihnen in Puschkin.«»Wieviel Wagen, Genosse General?«

«Ich weiß es nicht. Es gibt da einen Spezialtrupp, den ich schon öfter eingesetzt habe. Ein paar Soldaten, die schon Millionenwerte gerettet haben. Verdammt, bauen Sie das Bernsteinzimmer aus!«

Er legte den Hörer auf und blieb an seinem Tisch sitzen, faltete die Hände und stützte das Kinn darauf. Wir kommen zu spät, dachte er voll würgender Traurigkeit. Die letzten Berichte von der Front lauteten: Der Ring der Deutschen wird immer enger. Die» Perlenkette«, die Vororte Leningrads mit ihren Schlössern in Petrodworez, Puschkin und Pawlowsk, mit einer der reichsten Bibliotheken Rußlands, würden von den deutschen Divisionen überrannt werden, und eine der schönsten Schatzkammern der Welt war für immer verloren.

Was kann ich tun? Himmel, hilf mir! Was kann ich tun?

Es waren dann zehn Lastwagen, die Sinowjew, ohne die Aktion an Schukow zu melden, auf den Weg nach Puschkin schickte.»Fahrt Tag und Nacht!«hatte er zu dem strammen Unterleutnant Wechajew gesagt.»Jede Stunde ist wichtig! Wenn ihr das Bernsteinzimmer rettet, wird Rußland euch einmal die Helden von Puschkin nennen. Fahrt… fahrt… fahrt!«Und nun hatte einer der Wagen einen Achsenbruch. In einem Wald lagen sie am Wegrand herum, neunzehn Rotarmisten und ein gotterbärmlich fluchender Lew Semjonowitsch; und der schüchterne Soldat Viktor Janissowitsch Solotwin, der eigentlich seinen Darm hinter einem Gebüsch entleeren wollte, entdeckte verstreuten, frisch ausgegrabenen Waldboden. Vorsichtig, nach allen Seiten sichernd wie ein Reh, mit angespanntem Gehör und klopfendem Herzen schlich Solotwin durch den Wald, von Baum zu Baum Deckung suchend, bereit, sofort zu schreien, wenn er angegriffen werden sollte.

Was blieb ihm schon anderes übrig, als zu schreien! Seine Maschinenpistole lag im fünften Lastwagen, eine Pistole trug nur Wechajew an den Gürtel geschnallt. Er, Solotwin, hatte jetzt nur ein Taschenmesser bei sich, ein kleines, aufklappbares Ding, mit dem man ein Stück Wurst oder Brot abschneiden konnte, aber auch dies nur in mühsamer Säbelei, denn stumpf war die kurze Klinge, schon mindestens zwanzig Jahre alt. Sein Vater Awtonon Sergejewitsch hatte es ihm geschenkt, als er die Uniform anziehen mußte, um die deutschen Banditen, wie der Vater die Aggressoren nannte, aufzuhalten.»Ein Messer ist immer gut«, hatte Awtonon zu ihm gesagt.»Schneiden kann man damit, Büchsen öffnen, mit der Spitze bohren und schrauben, ein wahres Teufelsding ist so ein Messerchen. Verlier es nicht, mein Sohn, dein Leben könnte es retten.«

Also holte Viktor Janissowitsch das väterliche Taschenmesser aus seiner verschmutzten Uniformhose, klappte die lächerlich kleine Klinge auf und verfolgte weiter die Spur der verstreuten Erde. Etwa vierzig Meter von der Straße entfernt kam er an einen breiten, vielleicht zwei Meter tiefen Graben. Er war mit Büschen bewachsen, und Wurzelfäden stießen durch den Hang, die aussahen wie ein struppiger Bart… ja, und da sah Viktor Janissowitsch einen Haufen Zweige, die vertrocknet waren, etwas Absonderliches für einen Graben, aus dem die feuchte Erde schimmelig und streng roch.

Solotwin krallte die Finger fester um den Holzgriff seines Taschenmessers, stieß es vor, als wolle er ein Bauernduell beginnen, und spreizte dabei die Beine. So viel Mut verstand er selbst nicht mehr. Ihm war klar, daß dieses trockene Reisig etwas verdeckte und daß die abgerissenen Zweige etwas schützen sollten, was immer sich dahinter verbergen mochte.»Komm heraus!«rief er, seine plötzlich so harte Stimme bewundernd.»Heb die Hände hoch und komm heraus! Keinen Sinn hat's, sich jetzt noch zu verkriechen.«

Er wartete, hinter einem Baum stehend, das Messer von sich gestreckt. Wenn's ein Spion ist, dachte er mit hämmerndem Herzen, wird er mich verstehen? Kann er russisch? Aber so dumm sind die Deutschen nicht, daß sie Spione losschicken, die kein Russisch verstehen. Oder ist's ein Sowjetbürger? So einer, von denen man jetzt immer öfter hört? Defätisten, Verräter, Mitglieder der berüchtigten Fünften Kolonne, Kollaborateure, Agenten, die mit den Deutschen zusammenarbeiteten, die nachts Leuchtzeichen abfeuerten und den deutschen Bombern den Weg zu besonders wichtigen Stellen angaben? Da hatte doch eine Frau — überall wurde das erzählt als warnendes Beispiel —, eine Frau in Leningrad in ein entdecktes Tagebuch geschrieben:»Werden wir wirklich bald befreit? Einerlei, wie die Deutschen sind, es kann kaum noch schlimmer kommen. Herr, vergib mir…«Eine Feindin des Kommunismus. Erschossen hatte man sie, die Verräterin.

Wer also verbarg sich dort im Abhang des Grabens?

Noch einmal rief er mit scharfer Stimme:»Komm heraus!«Insgeheim wünschte er sich, daß niemand aus dem Versteck kroch, daß es verlassen war und es keinen Kampf geben würde. Aber Solotwin hatte dieses Glück nicht.

Die verdorrten Äste bewegten sich, wurden zur Seite geschoben, gaben den kleinen, runden Eingang einer Erdhöhle frei, eine schmutzige Hand drückte das Reisig weg, und dann erschien in der Öffnung ein Kopf, und ein schmaler Körper kroch ins Freie.

Solotwin duckte sich hinter seinem schützenden Baum und wartete ab. Was er zunächst klar erkannte, war ein deutscher Militärmantel, zottelige Haare, von getrockneter Erde verschmutzte Kleider und ein verdrecktes Gesicht mit hohen Backenknochen. Sieh an, sieh an, dachte Viktor Janissowitsch, und seine Angst verschwand so plötzlich, wie sie ihn angesprungen hatte. Ein deutscher Spion! Wahrhaftig, sogar in Uniform. So sicher sind sie sich, unser Land zu erobern, daß sie sich sogar in Uniform unter uns mischen. Aber noch sind wir hier, Freundchen, und wir bleiben hier. Weißt du nicht, was Stalin am 3. Juli, morgens um sechs Uhr dreißig im Moskauer Radio zu uns allen gesagt hat?

«Kein einziger Waggon, keine einzige Lokomotive, kein Kilo Getreide und kein Liter Brennstoff dürfen in die Hand des Feindes fallen. In den besetzten Gebieten müssen sich Partisanengruppen zu Fuß und zu Pferde organisieren, um einen Zermürbungskrieg zu führen, Brücken und Straßen zu sprengen, Lager, Häuser und Wälder in Brand zu setzen. Der Feind muß gehetzt werden bis zu seiner Vernichtung…«

Solotwin stieß den Atem schnaufend durch die Nase.»Die Hände hoch!«rief er.»Hoch und in den Nacken legen! Und herkommen, ganz langsam herkommen. Ich schieße sofort, jawohl, sofort…«

Der Deutsche schien ihn zu verstehen. Auch glaubte er Solotwin, daß er bewaffnet war. Von der Straße her erklang jetzt Hämmern und lautes Stimmengewirr. Wechajew ließ den Wagen mit der gebrochenen Achse mit Wagenhebern aufbocken. Langsam kam der Deutsche auf Viktor Janissowitsch zu, die Hände im Nacken gefaltet, kletterte den Hang des Grabens hoch und blieb an seinem Rand stehen. Solotwin winkte ihm energisch zu.

«Hierher! Zier dich nicht, Kerlchen. Zu Ende ist für dich der Krieg… wenn man dich leben läßt.«

Der Deutsche nickte, was bewies, daß er Russisch verstand, kam näher, und jetzt erst erkannte Solotwin mit ungläubigem Blick, daß der deutsche Soldat unter dem Mantel keine Hosen, sondern einen Rock trug, daß seine Haare bis auf die Schultern fielen und das Gesicht unter den Haarsträhnen vor den Augen mehr einer Frau glich als einem Mann.

Viktor Janissowitsch trat hinter seinem Baumstamm hervor, das Taschenmesser noch immer in der Hand, schüttelte den

Kopf und wartete, bis dieses deutsche Rätsel drei Schritte vor ihm stehenblieb. Wieder musterte er die Gestalt von oben bis unten, erkannte ein blauweiß gestreiftes Kleid mit einer weißen, jetzt aber völlig verdreckten Schürze und vorn am Hals eine runde Brosche mit einem deutlichen roten Kreuz darauf.»Na, sieh einer an!«sagte Solotwin und senkte sein Taschenmesser.»Ein schmutziges Schwänchen! Und russisch kann es! Und als Schwester verkleidet es sich! Ihr seid schon eine Bande, ihr deutschen Spione!«

«Ich bin kein Spion«, sagte das Mädchen in einem guten Russisch.

Solotwin grinste breit und nickte mehrmals.»Aber man spricht, als habe man russische Muttermilch getrunken. Was machst du da in der Erdhöhle? Warum hast du sie gegraben?«

«Ich warte auf die Deutschen, Rotarmist.«

«Aha! Aha!«Solotwin war zufrieden. Ein Geständnis war das. Eine Spionin hatte er entdeckt und gefangengenommen. So einfach im Vorübergehen, bei der Suche nach einem guten Platz zum Scheißen. Die Augen muß man offenhalten, wo immer man geht. Das ist es, Genossen. Jetzt wird es eine Belobigung geben, vielleicht sogar einen Orden oder eine Beförderung zum Gefreiten. Es kam darauf an, wie wichtig dese Spionin für die Sowjetunion war.

Unterleutnant Wechajew machte ebenfalls große runde Augen, als Viktor Janissowitsch mit einem deutschen Soldaten aus dem Wald kam, schrie sofort:»Feind bei uns!«und griff nach seiner Pistole. Aber schneller als Solotwin sah er Kleid und Schürze, erkannte daran eine Frau und zeigte mit geballter Faust auf sie.

«Was ist das?«brüllte er.

«Eine deutsche Spionin!«meldete Solotwin stramm.»In einer Erdhöhle hauste sie. Entdeckt habe ich sie in einem Graben…»Und sie lebt noch, ty maschonka?!«

Soll man das übersetzen? Besser nicht. Wer hätte von Wechajew je etwas anderes als ein übelstes Schimpfwort erwartet?

Solotwin errötete leicht, schämte sich vor dem Mädchen, auch wenn es eine Feindin war, und senkte den Kopf.

«Waffenlos bin ich, Genosse«, sagte er bedrückt.»Hab nur ein Taschenmesser bei mir.«

«Und das genügt nicht, ty wetry?« Viktor Janissowitsch errötete noch mehr, als er sich jetzt einen Furz genannt hörte.»Und mit zehn Fingern kann man würgen, Soldat Solotwin! Geht mit einer deutschen Spionin spazieren, was sagt man dazu? Will sie wohl haben und abreiben und dann ticken?«Er holte tief Atem, ignorierte, daß das Mädchen aus einem Riß über der linken Schläfe blutete, den sie sich beim Hinauskriechen aus der Höhle geholt hatte, und sagte dann grob, seine Pistole aus dem Futteral holend:»Kein Grund, lange zu diskutieren…«»Ich bin keine Spionin«, sagte das Mädchen noch einmal. Mit weiten Augen starrte sie in die Mündung von Wechajews Pistole, die genau auf ihre Stirn zielte. Nur ein leichtes Fingerkrümmen trennte sie jetzt noch von der ewigen Nacht.»Einen Offizier will ich sprechen.«

«Einen Offizier!«äffte Wechajew ihr nach.»So einfach einen Offizier sprechen, als kaufe man ein auf dem Markt. Was soll's denn sein, mein Täubchen, vielleicht einen Major oder einen Oberst oder gar einen General? Alles haben wir im Körbchen. Bedien dich.«

«Ein General wäre das richtige«, antwortete sie.»Bringt mich zu eurem General.«

«Welch ein Glück, daß wir einen General sogar in der Nähe haben. «Eisiger Spott beherrschte Wechajews Stimme.»Wünschen das Hürchen eine gutgefederte Limousine? — Umdrehen! Umdrehen, sag ich!«

Das Mädchen blieb so stehen, wie es war. Umdrehen… das bedeutete nichts anderes als einen Genickschuß. Die sicherste Methode der Hinrichtung.

Sie wischte sich mit der Hand über ihr Gesicht, schob die Zotteln zur Seite und sah Wechajew in die kalten, gnadenlosen Augen. Er würde sie auch in die Stirn schießen, das erkannte sie an seinem Blick.

«Ich bin keine Deutsche«, sagte sie laut, aber ihre Stimme war tonlos vor Angst.»Ich bin eine Russin. Eine Genossin…«»Das trifft sich gut!«Wechajew verzog den Mund wie vor Ekel.»Ich bin der jüngste Bruder von Stalin. Nur glaubt er es nicht, so wenig wie ich dir glaube. Wenn wir schon lügen, dann glaubhaft. Umdrehen!«

«Ich komme aus Puschkin, Genossen.«

«In einer deutschen Uniform?! Soll man dich anspucken, du Verräterin?! Wir fahren nach Puschkin, und sie kommt von dort und vergräbt sich im Wald. Spionin! Ekelhafte Spionin!«»Einen Auftrag habe ich! Bringt mich zu eurem General. Schnell! In zwei Tagen hat der Deutsche Puschkin besetzt. Ihre Artillerie schießt schon in die Stadt. Alles kann ich erklären. Daß der Rotarmist — «sie zeigte auf Solotwin —»mich entdeckt hat, war nur ein Zufall. Ich muß zu eurem General!«»Was du mußt, bestimme ich!«Wechajews Stimme bekam jetzt einen metallischen Klang.»Umdrehen! Kein Wort weiter! Für mich ist ein Spion kein Mensch mehr — «

General Witalij Bogdanowitsch Sinowjew hatte wieder mit Puschkin telefoniert. Der Major und Kunstexperte berichtete, daß die Deutschen bereits in die Stadt schossen, daß ihre Flugzeuge den Katharinen-Palast bombardiert und schwer beschädigt hätten und daß es völlig ausgeschlossen sei, jetzt noch das Bernsteinzimmer auszubauen und zu retten.

«Wir werden heute noch Puschkin verlassen müssen«, sagte der Major gepreßt. Im Telefon hörte Sinowjew die Detonationen der deutschen Granaten. Von der Front hatte er keine Meldung bekommen, kopflos schien man dort zu sein.»Die Faschisten rücken unaufhaltsam vor. Eine SS-Division soll direkt auf Puschkin vorstoßen.«

«Das weiß ich alles!«Sinowjew streifte mit einem Blick die Landkarte, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet war. Er hatte sich in einem kleinen Landschloß, das zur Zarenzeit einem reichen Bojaren gehört hatte, einem Fürsten Wladimir Nikolajewitsch Tschepikow, sein Hauptquartier eingerichtet und wußte, daß er das ganze Gebiet in spätestens drei Tagen räumen mußte. Der Stab packte bereits. General Popow, der mit schnell zusammengezogenen zwölf Divisionen die Stadt verteidigen sollte, erwartete ihn in Leningrad. Von Schukow kam die Nachricht, unverzüglich abzuziehen: Für die Verteidigung der Stadt brauchte man jetzt jeden Mann. Ein geordneter Rückzug — wie triumphal wäre er, wenn im Troß der Division auf zehn Lastwagen das Bernsteinzimmer nach Leningrad mitfuhr und so gerettet wurde.»Eine Kolonne ist unterwegs, Genosse Major.«

«Zu spät, Genosse General.«

«Es ist nie zu spät!«schrie Sinowjew. Fast wie ein Aufschrei klang es.»Und wenn wir Puschkin fünf Minuten vor dem Einmarsch der Deutschen verlassen!«

«Wir schaffen es nicht. Ein fachgerechter Ausbau dauert mindestens drei oder vier Tage. Diese Zeit haben wir nicht mehr. In drei Stunden verlassen wir den Katharinen-Palast. Das Herz blutet mir, Genosse General, aber damit kann ich die Deutschen nicht aufhalten.«

Sinowjew legte auf. Sein Adjutant Kowaljow kam ins Zimmer und meldete Besuch an.

«Ein Mädchen«, sagte er und schüttelte dabei den Kopf.»Trägt einen deutschen Militärmantel und die Tracht einer Rote-Kreuz-Schwester. Wurde im Wald in einer Erdhöhle gefunden, spricht russisch und verlangt, den Genossen General zu sprechen.«

«Eine Spionin, Igor Iwanowitsch?«General Sinowjew drückte das Kinn an seinen Uniformkragen.»Warum bringt man sie hierher? Wo ist sie?«

«Vor der Tür wartet sie.«

«Erschießen!«

«Sie will vorher Sie sprechen, Genosse General. Sie weiß, was sie erwartet. Aber — «

«Lassen Sie sie eintreten, Igor Iwanowitsch.«

Draußen im Wald, kurz bevor Unterleutnant Wechajew seine Pistole abdrücken wollte und der Schuß den Kopf des Mädchens zertrümmert hätte, war etwas Unerwartetes geschehen. Die Spionin sagte nämlich:»Ich komme vom Bernsteinzimmer«, und dieser kurze Satz veränderte die Situation vollkommen. Lew Semjonowitsch ließ die Pistole sinken, schluckte mehrmals, als habe sich seine Kehle verengt. Dann schielte er zu Solotwin und den anderen Rotarmisten, die einen Kreis um sie bildeten und auf die Hinrichtung warteten, und er beschloß, sich keine Blöße zu geben und vor allem kein Erbarmen zu zeigen.

«Was macht's!«sagte er rauh.»Ob jetzt oder in ein paar Stunden? Erschossen wirst du doch! Viktor Janissowitsch und Jewgenij Nikititsch, bringt sie zum Kommandeur. «Sogar einen Lastwagen stellte er dafür zur Verfügung, selbst auf die Gefahr hin, von General Sinowjew deswegen beschimpft zu werden. Bernsteinzimmer, das war ein Zauberwort. Wenn es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Bernsteinzimmer und der Spionin gab, mußte Sinowjew sich das anhören und dann selbst entscheiden, was mit ihr geschah.

«Wenn du versuchst, zu fliehen…«setzte er zu einer Warnung an, aber das Mädchen schüttelte nur den Kopf. Der Kopfriß hatte aufgehört zu bluten, eine rote Kruste zog sich über die Stirn.

«Warum soll ich flüchten, Genosse?«

«Nenn mich nicht Genosse, du Hure!«brüllte Wechajew auf.»Was ein Genosse ist, weißt du das überhaupt?! Eine Ehre ist es! Besudle nicht meine Ehre…«

Noch eine kräftige Ohrfeige gab er ihr, bei der ihr Kopf so zur Seite flog, daß Solotwin befürchtete, er könne vom Hals gerissen werden. Mit diesem Schlag hatte Wechajew jedoch sein Gesicht gewahrt. Er drehte sich um, stapfte zu dem schräg liegenden Wagen mit der gebrochenen Achse und entschloß sich, nach Puschkin weiterzufahren. Nun waren es nur noch acht Lastwagen, die man nicht mehr brauchte. Aber das wußte ja Unterleutnant Wechajew nicht.

Er ließ die Motoren anspringen, setzte sich in die Kabine des ersten Wagens und ließ durch einen langen Hupton die Kolonne anfahren.

Was er auch nicht wußte, war die peinliche Tatsache, daß er den vorrückenden deutschen Truppen direkt in die Arme fuhr. Die Tür von Sinowjews Arbeitszimmer öffnete sich also, der Adjutant Kowaljow winkte, und das Mädchen kam über die

Schwelle. Noch immer sah sie aus, wie Wechajew sie losgeschickt hatte. Sie hatte weder sich noch ihre Kleidung säubern können und starrte vor Dreck.

Sinowjew rümpfte die Nase und deutete mit einer Handbewegung an, sie solle an der Tür stehenbleiben. Er meinte, einen Gestank nach Schimmel und Verwesung zu riechen, aber sicherlich war das Einbildung, was ihn beim Anblick dieser Person nicht weiter wunderte. Er musterte den deutschen Militärmantel, das Schwesternkleid, die fettigen Zottelhaare, das Gesicht mit den hohen Backenknochen, die Beine in den dicken Strümpfen und die derben Schuhe.

Wie mag sie aussehen, wenn man sie gewaschen hat, dachte er. Befreit von dieser schrecklichen Kleidung, frisiert und vielleicht sogar etwas geschminkt? Vorstellen konnte man sich, daß unter dem Dreck eine schöne Frau hervorkam.

«Was ist nun?«fragte er ziemlich abweisend.»Will man ein Geständnis ablegen? Du verstehst russisch?«

«Meine Muttersprache ist es. «Das Mädchen sah sich nach Kowaljow um.»Kann ich den Mantel ausziehen? Warm ist es hier. Habe ihn nur getragen, weil es in der Höhle kalt war.«

«Du bist eine Kollaborateurin, stimmt's?!«fragte Sinowjew eisig.»Wolltest hinüber zu den Faschisten!«

«Überrollen lassen wollte ich mich. In zwei Tagen sind die Deutschen hier…«

«Oh, sie ist gut informiert. «Der General hatte sich an seinen Adjutanten gewandt.»Überrollt wollte sie werden. Auch eine Art des Überlaufens. «Seine Augen suchten wieder das Gesicht des Mädchens.»Warum bist du hier? Hoffst du, daß ich dich begnadige? Ein Irrtum ist das, Verräterin.«

«Ich heiße Jana Petrowna Rogowskaja — «

«Angenommen oder wirklich?«

«Wirklich. Mein Vater war Pjotr Borisowitsch Rogowskij.«

Durch General Sinowjew fuhr ein kurzes, kaum wahrnehmbares Zucken. Er beugte sich über den Tisch und musterte sie erneut von oben bis unten. Kaum glaublich, dachte er. Eine unverschämte Lüge muß das sein.

«Rogowskij? Der Experte für die Malerei des 19. Jahrhunderts in der Eremitage?«

«Ja, mein Vater ist es gewesen. «Sie zog den deutschen Militärmantel aus, ließ ihn zu Boden fallen und stand nun in der deutschen Schwesterntracht vor Sinowjew. Befreit von dem schmutzigen, unförmigen Mantel sah sie ganz anders aus, zwar voller Flecken von Erde, aber sie hatte eine gute Figur mit schlanken Hüften und einer deutlich erkennbaren Wölbung unter dem Kleid und Schürzenlatz.»Vor drei Monaten ist er gestorben, an einem Herzanfall. So aufgeregt hatte ihn der Überfall der Deutschen auf unser Land.«

General Sinowjew faltete die Hände über der Karte von Leningrad und Umgebung. Natürlich kannte er Rogowskij, immerhin hatte er den bekannten Experten dreimal gesehen und g5-sprochen. Einmal als er andächtig vor einem Bild von Tizian saß, das zweite Mal im Saal der Impressionisten und zum letzten Mal vor einem Leonardo da Vinci. Unterhalten hatte man sich, natürlich nur über Bilder und ihre genialen Maler. Wer verrät denn in solch einem Gespräch, daß er eine Tochter hat, die Jana heißt?

«Weiter«, sagte Sinowjew, etwas milder gestimmt.»Was will die Tochter von Rogowskij bei den Deutschen?«

«Verlobt bin ich mit Nikolaj Michajlowitsch Wachterowskij.«»Kein Begriff ist mir dieser Name.«

«Er ist der Sohn von Michail Igorowitsch Wachterowskij.«»Auch den kenne ich nicht.«

«Eigentlich heißt er Michael Wachter. Das Bernsteinzimmer in Puschkin betreut er.«

Sinowjews Kopf schnellte vor. Sein Oberkörper lag jetzt wie zum Sprung geduckt über der Karte, und um seine Augen begannen die Muskeln zu zucken.»Das Bernsteinzimmer betreut er? Wie soll man das verstehen?«sagte er. Der Klang seiner Stimme war höher als sonst, wie Kowaljow erstaunt feststellte.»Ich werde es Ihnen erzählen, Genosse General. «Jana sah sich um. Plötzlich zitterten ihre Knie, sie konnte kaum noch stehen. Er glaubt mir, dachte sie und mußte sich an Kowaljow festhalten. Nicht erschossen werde ich, das Leben darf ich behalten, meinen Auftrag kann ich ausführen. Vor ihren Augen begannen sich der General, der Schreibtisch, die Fenster, die Stuckarbeiten an Wänden und Decke zu drehen. Bevor Sinowjew reagieren konnte, stieß sie sich von Kowaljow ab, erreichte einen der mit rotem Brokat bezogenen, vergoldeten Stühle und ließ sich auf ihn fallen.»Eine… lange Geschichte ist es«, sagte sie und bemühte sich, trotz ihrer Schwäche deutlich zu sprechen.»Ein langes Erbe ist es, genau 225 Jahre alt.«»Erzählen Sie, Jana Petrowna. «Sinowjew winkte hinüber zu Kowaljow.»Hol Wodka, etwas zu essen, schnell.«

Kowaljow nickte, machte kehrt und verließ das Zimmer. Was geht hier vor, dachte er, während er eine Ordonnanz rief und die Wünsche des Generals weitergab. Wieso ist plötzlich alles anders? Einen deutschen Soldatenmantel hat sie getragen, in einer Erdhöhle hat sie sich verkrochen. Kann man das vergessen? Und wenn sie Stalins Tochter wäre, wer zum Feind überläuft, gehört erschossen.

«Es war unser Plan, daß ich mich von den Deutschen überrollen lasse«, sagte Jana Petrowna und lehnte den Kopf gegen die mit Damast bezogene Wand.»Nikolaj ist nach Leningrad gefahren, um seine Pflicht zu erfüllen und die Stadt zu verteidigen. Dreiundzwanzig Jahre ist er…«,»Und Sie, Jana?«»Neunzehn. Wir lernten uns kennen vor zwei Jahren, als Nikolaj und sein Vater die Bernsteinschränke in der Eremitage besuchten. Wir waren sofort verliebt ineinander, und auch Väterchen hatte nichts gegen uns, als er erfuhr, wer Michael Wachter, Nikolajs Vater, war. Seit einem Jahr leben wir zusammen in Puschkin, in einem Seitenflügel des KatharinenPalastes, dort, wo seit der Zeit der Zarin Elisabeth die Familie Wachterowskij, wie sie sich seit 225 Jahren nennt, wohnt. «Sie schloß die Augen. Daß man sie nicht mehr erschießen würde, erschütterte sie zutiefst. Sie hätte weinen mögen, aber nur ein Zittern durchlief ihren Körper.»Und dann stehen plötzlich die Deutschen vor Puschkin, Väterchen Michail hatte es immer geahnt, ganz sicher war er sich, als die Deutschen den Ilmen-see und Nowgorod eroberten, die Luga überquerten und am Wolchow entlang nach Leningrad schwenkten. >Sie werden auch Puschkin nicht verschonen<, hatte Väterchen gesagt.

>Sie werden das Bernsteinzimmer wegschleppen, und niemand wird wissen, wohin es gekommen ist. Verloren wird es für immer sein. Warum kommt denn niemand und holt es aus Puschkin weg?< Telefoniert hat er, dreimal nach Leningrad ist er gefahren, aber dort waren sie beschäftigt, die größten Schätze der Eremitage und der anderen Museen in den Gewölben und der Isaaks-Kathedrale zu verstecken. Zu spät war es dann, als sie dann doch noch nach Puschkin kamen. Die Deutschen waren schneller. Nur die Bilder, Skulpturen, Möbel, Bücher, Teppiche und Porzellane konnten sie wegbringen. Für das Bernsteinzimmer blieb keine Zeit mehr.«

«Ich weiß es. «Sinowjew blickte ungeduldig zur Tür. Wo blieb der Wodka, das Essen. Es konnte doch nicht so schwer sein, etwas Eßbares herzubringen!» Mit Marschall Schukow habe ich darüber gesprochen. Er sieht nur die Hände, die schießen, keine Hände, die Kunstschätze retten. Vielleicht hat er recht, sicherlich hat er recht. Den deutschen Angriff müssen wir zum Stehen bringen.«

«Genauso sprach Väterchen Michail. «Jana Petrowna hatte die Schwäche überwunden, sie atmete wieder gleichmäßiger und sah hinüber zu Sinowjew.»Und da hatten wir einen Plan. Wenn die Deutschen Väterchen umbrachten, würde niemand mehr da sein, der das Bernsteinzimmer bewachte. Der immer in seiner Nähe war, der es auf allen Wegen begleitete, der die deutschen Räuber nicht aus den Augen ließ. Nur ich könnte das… als deutsche Krankenschwester. Wer kontrolliert eine Krankenschwester? Überallhin könnte ich kommen, ohne aufzufallen. Das war der Plan: Überrollen lasse ich mch von den deutschen Truppen, gut versteckt in einer Erdhöhle, und wenn sie weitergezogen sind, melde ich mich als versprengte Schwester in Puschkin. Zurückgekehrt zu unserem Bernsteinzimmer bin ich, und nie mehr aus den Augen werde ich es lassen. Ist das nicht ein guter Plan, Genosse General?«

Sie holte wieder tief Atem und sah zu, wie die Ordonnanz ein Tablett mit Wodka, Tee und Plätzchen hereinbrachte und Kowaljow damit einen runden Tisch in der gegenüberliegenden Ecke deckte.

«Irgendwie bekam Väterchen die Rote-Kreuz-Uniform und einen deutschen Militärmantel — erobert bei einem Vorstoß bei Luga, erklärte er. Und dann fuhren wir in den Wald, gruben die Höhle aus, und ich blieb in der Höhle und wartete. >Nur noch vier Tage, Janaschka<, sagte Väterchen zu mir, >vielleicht noch kürzer. Gott segne dich, mein Töchterchen. Wenn wir uns nicht wiedersehen und Nikolaj den Krieg überlebt, sei ihm eine gute Frau. Und laß nie das Bernsteinzimmer aus den Augen, wohin man es auch bringt. Eine Krankenschwester kommt überall hin.< So war es, und dann entdeckt mich der Rotarmist Solotwin, bringt mich zu Unterleutnant Wechajew. Und er will mich erschießen als Spionin. «Jana Petrowna blickte hungrig auf den gedeckten Tisch. Der Tee duftete, das Gebäck roch nach Zimt und Honig. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen.»Glauben Sie mir, Genosse General?«

«Ich glaube Ihnen, Jana. «Sinowjews Stimme war gütig und beruhigend.»Essen und trinken Sie erst einmal, und dann erzählen Sie mir, wie das mit der Familie Wachter oder Wach-terowskij ist.«

Es wurde ein langer Tag und eine lange Nacht. Am nächsten Morgen setzte sich der Divisionsstab ab, das Schlößchen lag verlassen im Park, die Kolonnen rollten eilig nach Leningrad. Mit einem Fahrrad kehrte Jana Petrowna in den Wald zurück und verkroch sich wieder in ihrer Erdhöhle.

Die deutschen Truppen waren nur noch neun Kilometer von ihr entfernt.

Die Sondereinheit von Unterleutnant Lew Semjonowitsch Wechajew, die letzte Hoffnung von General Sinowjew, wenigstens die wichtigsten Teile wie die Wandtafeln des Bernsteinzimmers zu retten, kam, wie vorauszusehen war, zu spät nach Puschkin. Genauer gesagt: Der Unterleutnant erreichte Puschkin gar nicht. Die acht Lastwagen mit dem Sowjetstern fuhren fröhlich und unbekümmert in den Aufmarschraum der Deutschen hinein und direkt in die Arme der 1. Panzerdivision. Sie stand vor dem Stadtrand von Puschkin. Flugzeuge bombten ihr den Weg frei, trafen auch den Katharinen-Palast und trafen den Großen Saal. Von dem herrlichen, prunkvollen Saal, einem der wunderbarsten Werke des Hofarchitekten Rastrelli, war nichts mehr übrig. Auch eine Anzahl Nebenräume wurde schwer beschädigt… das Bernsteinzimmer, g5-schützt durch die von den Frauen vorgesetzten hölzernen Splitterwände, blieb erhalten.

Wechajew dachte weder an Gegenwehr noch an Flucht, als er die ersten deutschen Panzer sah, die ihm auf der Straße entgegenkamen. Nachdem er sich entschlossen hatte, den Wagen mit dem Achsenbruch liegen zu lassen und die Spionin mit dem Wagen von Solotwin zum General zu schicken, hatte er im tiefsten Inneren schon geahnt, daß dieser Einsatz der letzte für ihn in diesem Krieg sein konnte. Nur eines wünschte er sich heiß und innig: Nie in die Hände der SS fallen. Was man von ihr erzählte, ließ einem eisige Schauer über den Rücken laufen.

Nun war es geschehen: aber wenigstens deutsche Panzer, keine SS… Wechajew ließ seine Kolonne halten, stieg aus dem ersten Wagen, die anderen Rotarmisten machten es ihm nach, schließlich war er ja der Kommandant und damit das Vorbild/und als er die Arme hob, taten sie es auch und standen neben ihren Wagen. Ihre Gesichter zeigten ängstliche Erwartung, in ihren Herzen bohrte die Ungewisse Hoffnung, von den Deutschen wie Menschen behandelt zu werden und in eine erträgliche Gefangenschaft zu kommen. Sadisten und mitleidlose Grausame gab es bei allen Völkern — sie hofften, nicht alle Deutschen wären so.

«Meine Lieben — «rief Wechajew seinen Leuten zu, die Arme hoch in den Himmel gereckt;»Vorbei für uns ist der Krieg. Man kann's nicht ändern. Zu gern hätte ich mitgemacht, das Vaterland zu verteidigen. Aber das Schicksal, meine Lieben, wer kann gegen das Schicksal an? Seien wir mutig auch in der Gefangenschaft… schließlich sind wir von der Garde.«

Kurz vor ihnen hielt der erste deutsche Panzer an, nachdem Wechajew schon mit einem stechenden Gefühl in der Brust gedacht hatte: Jetzt überrollen sie uns. Niederwalzen werden sie uns! Sollen wir von der Straße flüchten, links und rechts in den Wald? Erschießen werden sie uns, aber das ist immer noch besser als unter Panzerketten zermalmt zu werden.

Doch er blieb stehen, biß nur die Zähne zusammen und schloß die Augen bis auf einen Schlitz. Als der rollende Tod nahe vor ihm knirschend und scheppernd bremste und stehenblieb und aus der Turmluke der Kopf des Kommandanten, ein junger Leutnant war's, auftauchte, atmete Wechajew tief durch und sandte wieder einen Gedanken an das Schicksal. Danke, sagte er lautlos. Danke, Schicksal. Jetzt weiß ich, was das heißt, dem Tod ins Auge zu schauen. Nie werde ich das vergessen, wenn ich diesen Krieg überlebe. Nie.

Eine Panzertruppe kann mit Gefangenen wenig anfangen. Wohin mit ihnen? Sie im Panzer mitzunehmen, ist unmöglich. Zur Bewachung einige Soldaten zurücklassen… ebenfalls unmöglich, denn bei der Besatzung eines Panzers ist kein Mann zuviel, jeder hat seinen Platz und seine Aufgabe. Wechajew überlegte noch, als der junge deutsche Leutnant schon aus seinem Turm kletterte und von hinten ein Mann gelaufen kam, nicht in Uniform, sondern in Zivil. Den Russen sah man ihm sofort an. Er trug eine Schirmmütze, einen labberigen Anzug, derbe Stiefel und über der Hose ein weites, blaues Hemd, so wie viele Bauern herumliefen, wenn sie sich sonntags besonders fein gemacht hatten.

Wechajew zog die Brauen zusammen, starrte den Landsmann böse an, behielt aber die Hände noch immer hochgestreckt über dem Kopf. Der Russe, etwa um die Sechzig herum, stellte sich neben den Offizier und wartete. Die Deutschen hatten ihn einfach als Dolmetscher mitgenommen, als sie erfuhren, daß Stepan Fjodorowitsch Piwojanow — so hieß er — ihre Sprache verstand. Er hatte von 1927 bis 1932 in Ostpreußen auf einem Gut gearbeitet und hatte dort nicht nur deutsch sprechen, sondern auch wild fluchen gelernt. Was ein ostpreußischer Bauer ist, hat viele derbe Worte.

Wechajew rümpfte die Nase und beherrschte sich, nicht vor Piwojanow auszuspucken. Mit dem Feind kollaboriert er, zieht mit den Eroberern mit, dolmetscht, was sie befehlen, verrät Vaterland und Brüder, Mütter, Väter und Schwestern, nur, um mit den Deutschen sorglos zu fressen und vielleicht auch noch einiges Beutegut zu kassieren. Welch ein triefäugiges Schweinchen! Verräter überall. Wechajew dachte an die dreckige Spionin aus der Erdhöhle und bekam einen schnelleren Atem.

«Nun sag nur, du Rattengeschwür, was der Faschist will!«knurrte Wechajew und sah dabei den Leutnant so harmlos an, als habe er eine freundliche Begrüßung gesprochen.

Der Leutnant verstand natürlich nichts, aber ein Wort verstand er dem Klang nach sehr gut: Faschist. Das ist international. Er spreizte die Beine und klemmte die Daumen zwischen Gürtel und Leib.

«Wenn er noch einmal Faschist sagt, knall ich ihm die Nase nach hinten«, sagte der junge Leutnant.»Los, übersetz es ihm!«

Stepan Fjodorowitsch tat seine Pflicht und wederholte es auf russisch. Wechajew war kaum beeindruckt, er schluckte nur seine Wut herunter.

«Übersetz — «sagte der Leutnant wieder.»Ihr seid jetzt Gefangene und marschiert die Straße weiter nach Süden. Deutsche Infanterie folgt uns in drei Kilometern. Bei ihr meldet ihr euch. Weglaufen hat keinen Sinn, wir finden euch doch. Und besorgt euch keine Zivilkleider! Ihr werdet nämlich dann wie Partisanen behandelt und sofort erschossen. Als Soldaten könnt ihr überleben.«

Piwojanow übersetzte es fleißig, Wechajew ließ die Arme sinken und leckte sich über die Lippen.

«Bleibst du hier und begleitest uns?«fragte er dann den Dolmetscher.

«Nein. Ich muß mit ihnen weiterfahren.«

«Ein Jammer! Wirklich ein Jammer! Wir hätten dich in der nächsten Stunde so gerne aufgehängt.«

«Was sagt er?«fragte der junge Leutnant mißtrauisch.

«Er wird dem Befehl gehorchen, Herr Offizier. «Piwojanow wünschte sich plötzlich, möglichst schnell wieder auf den sicheren Panzer zu kommen.»Er wird mit seiner Mannschaft zu Ihrer Infanterie marschieren.«»Sehr gut. «Der junge Offizier winkte. Drei seiner Panzerschützen kamen nach vorn, im Arm eine Anzahl Handgranaten. Mit steinernem Gesicht sah Wechajew, wie sie die Motorhauben der Lastwagen hochdrückten, dann den Deckel schnell zuwarfen und zur Seite sprangen. Mit einem dumpfen Gedröhn explodierten die Handgranaten. Es riß die Hauben wieder auf, Motorteile wirbelten durch die Luft, die Wagen vier, sechs und sieben fingen sofort Feuer und standen sekundenschnell in hellen Flammen. Wechajews Leute warfen sich sofort zu Boden und rollten sich von der Straße. Mit ohrenbetäubendem Krachen zerplatzte der Wagen sieben, eine unerträgliche Hitze wehte von den brennenden Wagen zu Wechajew hin.

Der Leutnant winkte von neuem.»Aufsitzen!«schrie er seinen Männern zu. Piwejanow senkte den Kopf und starrte Wechajew von unten an.

«Auch ich bin ein Kriegsgefangener«, sagte er, wie um Entschuldigung bittend.»Machen mit mir, was sie wollen. Soll ich mich erschießen lassen? Eine gute Frau habe ich, neun Kinderchen, drei Söhnchen sind in Leningrad, um es zu verteidigen. Was soll ich tun? Bin ein armer Mensch, Genosse. Du wirst's besser haben, bestimmt wirst du's besser haben. Kommst in ein Lager, hast zu essen, hast Ruhe. Direkt beneiden kann man dich.«

«Zur Hölle fahre!«sagte Wechajew dumpf und verzog verächtlich den Mund.»Bist nicht wert, daß jemand vor dir ausspuckt. Nicht mal anpissen möchte ich dich… ist gute, reine sowjetische Pisse, viel zu schade für dich.«

Er trat von der Straße weg zur Seite, sah finster zu, wie die deutschen Panzersoldaten wieder in ihre stählernen Ungeheuer kletterten, die Luken schlossen und Piwojanow nach hinten zum letzten Gefährt lief, wo er seinen Platz neben der Kanone hatte. Dann donnerten die schweren Motoren auf, die Panzer fuhren an, walzten auf die zerstörten Lastwagen zu, schoben sie von der Straße, stürzten sie um und zermalmten die Aufbauten. Als der letzte Panzer mit dem darauf hockenden Piwojanow an Wechajew vorbeiratterte, starrten sie sich noch einmal haßerfüllt an, und Piwojanow hätte weinen können über so viel Schande. Aber er durfte weiterleben mit der Hoffnung, einmal seine neun Kinder wiederzusehen, vor allem seine drei Söhnchen, die in den Gräben und Bunkern vor Leningrad auf die Deutschen warteten und die Stadt Leningrad nicht hergeben wollten.

Wechajew versammelte seinen Truppe wieder um sich. Die deutschen Panzer waren im Wald verschwunden, nur noch das Rasseln der stählernen Raupenketten lag in der Luft. Die Lastwagen lagen brennend links und rechts der Straße, ein Bild, das Wechajews Herz bluten ließ.

«Genossen — «, sagte er mit ernster, aber dumpfer Stimme.»Gehört habt ihr's. Deutsche Infanterie folgt den Panzern, in einer Stunde können sie hier sein. Zeit genug, um uns zu entscheiden. Wer will, kann weglaufen und sich verstecken. Unser Auftrag ist vorbei. Jeder kann tun, was er will.«

«Ein guter Gedanke ist's, wegzulaufen. «Der Sergeant Jemel-jan Mironowitsch Sotow rieb sich mit beiden Händen unschlüssig die Stirn.»Aber bekommen sie uns dann, wird man uns erschießen. Als Partisanen. Ganz sicher ist das. Lew Semjonowitsch, was wirst du tun?«

Wechajew hatte sich bereits entschieden.»Ich bleibe auf der Straße und gehe den Faschisten entgegen«, antwortete er.»Ein lebender Russe, wenn auch in Gefangenschaft, ist wichtiger als ein toter Held. Einmal wird die Zeit kommen, Rache zu nehmen. Darauf warte ich.«

«Also denn, liebe Freunde, denken wir auch so. «Sergeant Sotow schlug die Fäuste gegeneinander.»So ist es: Leben ist wichtiger als ein verfaulender, durchlöcherter Körper zu sein. Irgendwann vielleicht sehen wir Piwojanow wieder und holen nach, was er verdient hat. Wohnt ja hier in dieser Gegend. Ist leicht zu finden, das verräterische Väterchen mit seinen neun Kinderchen. Wird die Rechnung bezahlen müssen. Gehen wir also.«

Mit Wechajew an der Spitze marschierten sie los, mitten auf der Straße, nachdem sie ihre Waffen weggeworfen hatten und somit kein kämpfender Feind mehr waren. Knapp Dreiviertelstunden zogen sie durch den Wald, traten hinaus auf ein weites Feld von Spätkartoffeln, über dem schreiend und krächzend ein Schwärm Krähen flatterte. Eine fahle Sonne schien und saugte die Feuchtigkeit vom letzten Regen aus den Furchen.

Als der erste kleine, offene, braungrün gespritzte deutsche Wagen ihnen entgegenkam — es war ein sogenannter Kübelwagen, wie sie im Volkswagenwerk gebaut wurden —, hob Wechajew die Hand, und sie blieben stehen.

Der Wagen hielt, zwei Offiziere sprangen auf die Straße, Pistolen in den Händen, während der Fahrer mit einem Maschinengewehr auf sie zielte.»Hoch!«befahl Wechajew, und wie für ein Ballett einstudiert, schnellten alle Arme in die Luft. Der erste deutsche Offizier, ein Major, lachte laut und ließ seine Pistole sinken.

«Die Helden werden rar«, sagte er zu dem zweiten Offizier, einem Hauptmann.»Sehen Sie sich bloß diese Visagen an! Wenn das so weitergeht, werden wir in ein paar Tagen in der Newa baden können.«

Wie zuvor der junge Panzerleutnant verstand Wechajew nun auch nichts weiter als ein Wort. Aber es genügte ihm.

Die Newa, dachte er. Ihre Seitenarme und Kanäle, die Leningrad durchzogen. Das Venedig des Ostens. Er sah die Brücken und Brückchen in ihrer einmaligen Schönheit vor sich, die Palais der ehemaligen Fürsten und Zarengünstlinge, das Winterpalais, die Admiralität, die Kirchen und Kathedralen, den Newskij-Prospekt, die breite prächtige Straße, die Eremitage, die Kais aus Granit mit ihren breiten Treppen zum Flußufer, verziert mit steinernen Löwen, Sphyngen, riesigen Vasen und Säulen mit Kugeln. Er sah den Marmorpalast, den De-kabristenplatz, die prächtige Rossistraße, in deren säulengeschmückter Häuserzeile im Jahre 1738 die erste Ballettschule Rußlands gegründet worden war, das Kirow-Theater, in dem der schon legendäre Bassist Fjodor Schaljapin gesungen hatte und Tschaikowskij sein Ballett Schwanensee uraufführte: Leningrad und die Newa, die steingewordene Schönheit, der Stolz der Jahrhunderte. Und jetzt spricht da ein deutscher Offizier von der Newa — das kann nur bedeuten, daß er die Stadt an der Newa erobern will. Mütterchen Rußland, wehre dich!» Ihr werdet die Stadt nie betreten!«sagte Wechajew.»Nie, solange noch ein Herz in ihr schlägt.«

«Was sagt der Clown?«Der Hauptmann warf einen verächtlichen Blick auf Wechajew.

«Keine Ahnung. «Der Major winkte nach hinten. Ein zweiter Kübelwagen fuhr heran.»Wegbringen, die Kerle. Zu den anderen. Feststellen, von welcher Einheit.«

Ein Feldwebel, der dem zweiten Kübelwagen entstiegen war, winkte Wechajew energisch zu.»Los!«brüllte er.»Nicht den Schlappschwanz spielen! Hopp, hopp nach hinten!«Und dann schrie er das Wort, das jedem Russen in die Knochen fuhr: »Dawaij! Dawaij! Bjeschat'!« (Renn!)

Und Wechajew setzte sich in Bewegung, rannte die Straße hinunter zu der anrückenden Marschkolonne der Infanterie, rannte an ihr vorbei, und seine Soldaten folgten ihm mit hochgestreckten Armen und keuchenden Lungen, den Blick starr geradeaus, bis jemand rief: »Stoj!« und sie stehenblieben.

Nun waren sie Gefangene, zu Ende war für sie der Krieg. Sie konnten ihn vielleicht überleben, aber trotzdem liefen ihnen die Tränen über die verschmutzten Gesichter, und ihre Kehlen waren wie zugeschnürt.

Aus den deutschen Wehrmachtsberichten:

Sonntag, den 14. September 1941.

Im Osten bahnen sich durch den günstigen Verlauf der Operationen neue Schlachtenerfolge an.

Nachdem starke deutsche Kräfte in die Befestigungsfront von LENINGRAD eingebrochen sind, wird die enge Einschließung der Stadt trotz erbitterter Gegenwehr unaufhaltsam fortgesetzt…

Montag, den 15. September 1941.

Im Osten sind große Angriffsoperationen im erfolgreichen

Fortschreiten.

Die Einschließung von LENINGRAD wurde in zähem Kampf um die neuzeitlich ausgebauten Befestigungsanlagen weiter verengt. Wiederholte, von schweren Panzern unterstützte Gegenangriffe des Feindes brachen zusammen…

Michael Wachter kroch aus dem sicheren, zwei Etagen unter der Erde liegenden Keller und bahnte sich einen Weg durch die Trümmer und Steinhaufen. Überall lagen zerbrochene Möbel, Decken hingen herunter, und in den Fußböden klafften große Risse. Mit klopfendem Herzen erreichte er den Saal, den man das Bernsteinzimmer nannte.

Es hatte den Bombenangriff ohne Schaden zu nehmen überlebt. Kaum hatten die deutsche Flugzeuge über Puschkin wieder abgedreht, waren auch die aus der Stadt

zusammengeholten Frauen aus dem Keller gekommen, um die unersetzlichen Kunstwerke im Schloß zu sichern. Fieberhaft arbeiteten sie, in Kittelkleidern, ihr Haar mit einem Kopftuch zurückgehalten und immer wieder in die Ferne

lauschend, ob nicht wieder eine Welle des Todes aus der Luft über Puschkin erschien.

An einen Abtransport der noch im Katharinen-Palast vorhandenen Schätze war nicht mehr zu denken. Die 1. Panzerdivision stand wenige Kilometer von Zarskoje Selo entfernt und bereitete sich auf den entscheidenden Angriff vor. Die SS-Polizei-Division marschierte vor dem Nordteil von Puschkin auf, Panzerspitzen schossen bereits in die Stadt. Zu retten war nichts mehr. Jetzt konnten die Schätze nur noch vor der Zerstörung geschützt werden.

Die Frauen deckten die wertvollen Intarsienböden mit einer dicken Sandschicht ab, füllten die großen China-Vasen mit Wasser, verklebten die mit Seide und Brokat bespannten Wände mit Pappe, zogen Stoffbezüge über die historischen Möbel und verhängten die Regale und Schränke der einmaligen Zarenbibliotheken. Sowjetische Offiziere, die sich auf dem Rückzug kurz in einigen Sälen aufhielten und von hier aus mit den kämpfenden Truppen in Telefonverbindung standen, hetzten durch Zimmer und Gänge, bereit, sofort in die vor dem Palast wartenden Wagen zu springen und sich nach Leningrad zurückzuziehen.

Aufatmend lehnte sich Michael Wachter an eine der holzverschalten Wandtafeln des Bernsteinzimmers und sah den Frauen zu, wie sie den Sand auf den herrlichen Böden verteilten. Morgen, dachte er. Oder übermorgen… länger wird's nicht dauern. Dann stehen hier deutsche Soldaten, werden die Deckengemälde begaffen und die Holztafeln herunterreißen, um zu sehen, was sich dahinter verbirgt. Und sie werden sprachlos vor dieser Pracht aus Bernstein stehen, vielleicht einen Augenblick von Ergriffenheit gefangen sein, aber dann wird das große Plündern beginnen, die Vernichtung des schönsten Saales, den die Welt bisher kannte.

Wachter war ein mittelgroßer, etwas dicklicher Mann von beinahe 55 Jahren, das Haar war dunkelblond ohne einen Schimmer Grau. Den muskulösen Oberkörper umspannte ein blauweiß gestreiftes Hemd, dessen Ärmel er bis über die Ellbogen hochgekrempelt hatte, und wenn er deutsch sprach, klang es sehr hart wie bei vielen Menschen, die im Osten aufgewachsen waren und deren zweite Muttersprache das Russische war.

Noch in der Betrachtung der Deckengemälde versunken, schrak er zusammen, als ihn auf russisch eine Stimme ansprach.

«Sie wollen tatsächlich hier bleiben, Michail Igorowitsch?«Wachter nickte stumm. Vor ihm stand Oberst Nikolaj Michaj-lowitsch Limonow, der Kommandeur der Brigade, die den Auftrag hatte, den Rückzug der sowjetischen Truppen aus dem Raum Puschkin nach Leningrad zu decken. Seine Rotarmisten waren eine verlorene Truppe, ausgelaugt von den schweren Abwehrkämpfen, Mensch gegen deutsche Panzer, Panzerabwehrkanonen und Minen gegen stählerne Ungeheuer. Aber sie wußten, daß nur ihr Opfer die Stadt retten konnte. Jeder Tag, jede Stunde waren wertvoll. Hunderttausende bauten um Leningrad die neuen Gräben und Bunker, Panzerfallen und

Artilleriestellungen, drei Verteidigungsringe hintereinander, in denen sich die Deutschen festbeißen würden. Es war September, der 15. im Jahre 1941, und die Menschen starrten in den Himmel und beteten stumm: Herr, laß es regnen. Früher als sonst. Warte nicht mehr bis Oktober, bis der große Regen alle Wege und Straßen unpassierbar macht, die Fuhrwerke im tiefen Morast steckenbleiben und selbst die Panzer mit ihren breiten Ketten sich nur in den Schlamm wühlen und in ihm versinken. Dann gibt es kein Vorwärts mehr, dann werden die Aggressoren Leningrad nicht mehr erreichen, und nach dem Regen wird der Winter kommen, die Schneestürme werden über das Land heulen, vereist werden sie, die deutschen Armeen, kämpfend gegen einen unbesiegbaren Gegner: die Natur. Leningrad wird gerettet sein… laß es regnen, Herr, öffne die Wolken, laß die Deutschen ertrinken! Jetzt bitte, jetzt und nicht erst im Oktober. Hilf uns, Gott!

«Meine Pflicht ist es, Genosse Oberst«, antwortete Wachter und stieß sich von der Bretterwand ab.»Bei meinem Bernsteinzimmer muß ich bleiben.«

«Man wird Sie ohne zögern erschießen.«

«Warum? Ich kann nachweisen, daß ich ein Deutscher bin.«»In russischen Diensten?«

«Viele Deutsche haben in den vergangenen Jahrhunderten den Zaren gedient. Generäle, Admiräle, Forscher, Philosophen, Ärzte und politische Berater waren Deutsche… so wie meine Vorfahren. Mit dem Bernsteinzimmer zog 1716 einer meiner Ahnen, Friedrich Theodor Wachter, nach Sankt Petersburg. Seitdem ist immer ein Wachter bei dem Bernsteinzimmer geblieben, hat es gepflegt und beschützt und neben dieser Aufgabe nur eine zweite gehabt: einen Sohn zu zeugen. So wurde das Erbe weitergereicht von Generation zu Generation.«

«Und nun glauben Sie, Michail Igorowitsch, daß das Bernsteinzimmer und Sie überleben. Eine Illusion ist das! Sie sind der letzte Wachterowskij.«

«Nein, Nikolaj Michajlowitsch. Einen Sohn habe ich. «Wachter sagte es mit Stolz. Die Tradition war nie unterbrochen worden, einen Sohn zu haben, war eine Verpflichtung.»In Leningrad ist er jetzt, wird mithelfen, die Stadt zu verteidigen, bewacht die Kunstschätze, die wir noch abtransportieren konnten. Ich bin stolz auf ihn. Auch wenn sie mich erschießen, es ist immer wieder ein Wachter da, der mit dem Bernsteinzimmer leben wird.«

Oberst Limonow hob den Kopf. Aus der Ferne hörten sie den Kanonendonner. Ihm war, als spürte er die Einschläge unter seinen Sohlen, als laufe ein leichtes Zittern durch den Boden.»Morgen sind die Deutschen hier im Schloß. «Limonow schluckte den Ärger über sich selbst hinunter. Natürlich zitterte der Boden des Schlosses nicht, auch wenn er es spürte. Die Nerven! Auch ein Brigadekommandeur hat Nerven, nur hysterisch darf er nicht werden.»Was werden Sie tun, Michail Igo-rowitsch?«

«Ich werde mich beim Kommandeur der deutschen Truppen melden. Sicher bin ich mir, daß er hier im Schloß wohnen wird. Es gibt keinen schöneren Platz in Puschkin. Und bitten, ja anflehen werde ich ihn, das Bernsteinzimmer vor Vandalismus zu beschützen.«

«Vandalismus? Das wollen Sie tatsächlich sagen? Wachterowskij, zusammenschlagen wird man Sie, bis Sie nur noch stammeln können: >Ein deutscher Soldat ist kein Vandale.< Sie waren nie in der Armee?«

«Nein, nie. Immer hatten wir Wachters eine Sonderstellung. Wer sollte sich denn um das Bernsteinzimmer kümmern? Wir hatten ein verbrieftes Recht, es nie zu verlassen, handgeschrieben und gesiegelt von Zar Peter I. Es hängt unter Glas in meinem Wohnzimmer, und jeder Herrscher über Rußland hat es anerkannt… sogar Lenin und Stalin. Nein, ich war nie Soldat, keiner von uns Wachter. Wir lebten nur für das Bernsteinzimmer.«

«Eine interessante Geschichte der Familie Wachterowskij. Erzählen Sie weiter, Michail Igorowitsch.«

«Dazu ist jetzt zu wenig Zeit. Ich muß das Bernsteinzimmer retten. Später, Genosse Oberst.«

«Sie glauben an ein Später?«»Könnten wir ohne diesen Glauben leben?«Michael Wachter zuckte zusammen. Irgendwo, bedrohlich nah, krachten Explosionen und ließen die Scheiben des Saales klirren.»Sie werden sich nach Leningrad zurückziehen, Genosse Oberst?«

«Ja. «Limonow starrte mit versteinertem Gesicht vor sich hin. Noch in der Nacht würde der Stab seiner Brigade sich absetzen und den Katharinen-Palast verlassen müssen.

«In die Stadt?«fragte Wachter.

«Ich werde sicherlich zu Besprechungen mit General Sinowjew und Marschall Schukow in die Stadt kommen.«

«Wenn Sie Zeit finden, könnten Sie meinen Sohn Nikolaj besuchen? In der Eremitage wird er sein. Bei den geretteten Kunstschätzen des Schlosses. Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm bitte, daß ich stolz auf ihn bin. Sehr stolz. Nachricht werde ich ihm geben, wo ich auch bin, und wo ich bin, ist auch das Bernsteinzimmer. Wie der Krieg auch ausgeht, wir werden uns wiedersehen. Bitte, sagen Sie es ihm.«

«Ich werde daran denken, Michail Igorowitsch. Leben Sie wohl. «Limonow drückte Wachter die Hand, hielt sie lange fest und sagte dann fast feierlich:»Was werden Sie hin, wenn die Deutschen das Bernsteinzimmer zerstören?«

«Nicht überleben werde ich es. Seit 225 Jahren gehören das Bernsteinzimmer und die Wachters zusammen. Man kann sie nicht mehr trennen — «

Während der Nacht verließen die letzten sowjetischen Truppen den Katharinen-Palast. Wachter stand unter dem Säulenvorbau mit den überlebensgroßen Marmorstatuen an der breiten Treppe zu den Gärten und blickte den wegfahrenden Wagen nach. Eine helle Nacht war's, feucht und klar, voll reiner Luft, durchsetzt vom Duft der Tausenden von Blumen aus den Gärten und dem würzigen Geruch der Bäume. Und still war es, nachdem der Motorenlärm verklungen war, ganz still, als hole die Natur noch einmal tief Atem, bevor am Morgen die Granaten heranheulten, die Erde aufrissen und die Panzerketten alles im Wege Liegende zermalmten.

Auch die Frauen hatten das Schloß verlassen und waren zurück in ihre Häuser gelaufen, erwarteten dort die Deutschen und zitterten ihrer ersten Begegnung mit den Eroberern entgegen. Wie waren diese Deutschen? Stimmte es, was man von ihnen erzählte, was man in den Zeitungen las und was man ihnen berichtete? Vergewaltigten sie die Frauen, warfen sie die kleinen Kinder mit den Köpfen an die Wände, erschossen sie alle Männer, zündeten sie die Häuser an? Viele Bewohner von Puschkin glaubten es und schlossen sich daher noch schnell den zurückflutenden Soldaten an. Auf Handwagen, vor die sich die Frauen an Stricken schirrten, schleppten sie das Allernötigste mit sich fort: ein paar Töpfe, Bettzeug, Decken, Kleidung, Truhen mit Wäsche und heimlich auch das Kruzifix aus der» schönen Ecke «der Wohnung, ein Marienbild oder den segnenden Christus. Wer ein Pferd hatte, war ein Glücklicher. Er konnte es vor seinen Wagen spannen, konnte sogar Möbel mitnehmen und vieles, was im Laufe eines Lebens zusammengekommen war. Er konnte Kartoffeln und gesäuerten Kohl mitnehmen, eingelegte Gurken und dicke, schöne Zwiebeln, einen bisher versteckten Schinken oder strammgestopfte Würste, ja, einige schlachteten sogar noch ein Schwein und deckten es mit Möbeln und Betten zu. Hunger würde es in Leningrad geben, das ahnte man. Von allen Seiten rückten die Deutschen vor, und der Ring um die Stadt wurde immer enger. Woher sollte man für Hunderttausende das Essen bekommen? Da war alles, was man kauen konnte, wichtiger als alles sonst. Wer wußte denn, wie lange die Blockade dauerte, ehe sich die Stadt ergab oder die Deutschen zurückgetrieben wurden oder im Regen ersoffen oder im Eissturm erfroren… Warten wir es ab, warten wir geduldig. Beides haben wir ja in Jahrhunderten gelernt, das Warten und die Geduld.

Michael Wachter saß die ganze Nacht über auf einem Schemel im Bernsteinzimmer, in völliger Dunkelheit, allein mit allen Schätzen, die nur noch diese Nacht lang Rußland gehörten. Zeit hatte er jetzt, sich zu erinnern an den letzten Zaren Nikolaus II., der 1916 mit der Zarin, dem Zarewitsch und seinen vier schönen Töchtern hier im Zimmer saß und um Rasputin, den dämonischen Mönch, weinte, den Fürst Jussopow und seine Freunde ermordet hatten. Damals war er, Wachter, 30 Jahre alt gewesen, und sein Vater Igor hatte der Zarin und den Töchtern parfümierte Taschentücher gebracht, damit sie ihre Tränen trocknen konnten. Und Silvester 1916/17, zweihundert Jahre nachdem das Bernsteinzimmer von Berlin nach St. Petersburg gebracht worden war, hatte der Zar sein letztes Fest gegeben. Und er hatte Igor Germanowitsch Wachterowskij einen Orden verliehen und zu einem Bruderkuß an sich gezogen, als habe er geahnt, daß ihn die Februar-Revolution 1917 vom Thron fegen würde, den letzten Zaren der Dynastie Romanow.

Ja, und dann — Vater Igor war an einem Lungenleiden gestorben und er, Michael Wachter, hatte mit 34 Jahren das Erbe angetreten — besuchte Lenin das Schloß, ging durch alle Säle, blieb im Bernsteinzimmer stehen, ließ den Blick fast andächtig über die schimmernde Pracht des» Sonnensteines «gleiten und hatte dann zu ihm gesagt:»Ich hasse die Zaren und ihre Ausbeutung des Volkes, aber daß sie dies geschaffen haben, macht sie leider unsterblich. «Und er, Wachter, hatte geantwortet:»Das Geschenk eines deutschen Königs ist es, Genosse Lenin. Wir haben es nur gut gepflegt.«

«Und du wirst es weiter so gut pflegen. «Lenin hatte ihm die Hand gegeben, zum Erstaunen der ihn umringenden Kommissare, denn eine große Ehre war's, die Hand des großen Wladimir Iljitsch Uljanow zu drücken, dem Vater eines neuen Rußland, des bolschewistischen Arbeiter- und Bauernstaates. Vor 21 Jahren war das. Welch eine kurze Zeit, und doch wie weit schon weg in der Erinnerung. Damals, im Jahre 1918 wurde sein Sohn Nikolaj geboren, am 17. Juli, genau an jenem Tag, an dem um ein Uhr fünfzehn in der Nacht, in der Villa Ipatiew bei Jekaterinburg, die Zarenfamilie von den Bolschewisten erschossen und in den Wäldern von Koptjakij auf einer Lichtung, die man» Zu den vier Brüdern «nannte, zerstückelt und verbrannt wurde. Dem Zaren zu Ehren hatte er seinen Sohn Nikolaus getauft, keiner wußte das, noch nicht einmal Nikolaj selbst hatte er es gestanden. Ein alter Familienname ist's, hatte er erklärt, Tradition, mein Junge, so wie alles bei uns Wachters.

Wie weit, weit weg das alles.

Und wie war das im Jahre 1929? Stalin stand hier im Bernsteinzimmer, in hohen Stiefeln und Pumphose, mit einem Bauernhemd und einem breiten Gürtel um den Leib, und der mächtige Josif Wissarionowitsch Dschugaschwili hatte ihm auf die Schulter geklopft und gesagt:»Eure Geschichte hat man mir erzählt, Michail Igorowitsch. Zar Peter hat den ersten Wachterowskij mit dem Bernsteinzimmer geschenkt bekommen. So soll's bleiben. Hast du schon einen Sohn?«

«Elf Jahre ist er alt.«

«Wo ist er?«

«Versteckt hat er sich. Irgendwo im Palast. Angst hat er, der Junge.«

«Angst? Vor mir?«Stalin hatte gelacht, sein buschiger Schnurrbart hatte gebebt, und die dunklen, georgischen Augen blitzten.»Laß ihn suchen. Ich will ihn sehen. Angst! Vor mir braucht niemand Angst zu haben.«

Man suchte Nikolaj, aber man fand ihn nicht. Im riesigen Katharinen-Palast gab es hundert Ecken, Winkel und Keller, wo sich ein Kind verstecken konnte. Erst später, 1937, stand N-kolaj Wachterowskij vor Stalin, nun neunzehn Jahre alt, schmal, hochaufgeschossen, mit strohblonden Haaren wie seine Mutter Lydia Alexandrowna und deren azurblauen Augen. Und Stalin hatte gesagt, hier im Bernsteinzimmer stehend, vor einer Vase mit goldgelbem Bernsteinmosaik:»Du bist also der vorerst letzte Wachterowskij. Diesmal versteckst du dich nicht, was?«Er hatte es nicht vergessen, und es durchfuhr Nikolaj eiskalt und schmerzvoll.»Siehst du nun, junger Genosse: Vor mir braucht keiner Angst zu haben.«

Ein paar Tage danach ließ Stalin den Marschall Michail Nikola-jewitsch Tuchatschewskij erschießen und mit ihm eine Reihe anderer hoher Offiziere, weil sie Spione seien. Aber nur unbequem waren sie ihm, und einfach war es, das Unbequeme aus dem Weg zu räumen.

Stalin, der Mann, der jetzt gegen die Deutschen kämpfte, ihre Armeen aufhalten wollte, Rußland zu retten versuchte und Leningrad zu einer riesigen Festung werden ließ.

Vier Jahre erst war das her, man soll's nicht glauben. Es war das letztemal, daß Stalin das Bernsteinzimmer besucht und bewundert hatte.

Im Morgengrauen begann die deutsche Artillerie wieder zu schießen. Die Granaten verschonten das Schloß, schlugen in der Stadt Puschkin ein, durchlöcherten die Straßen und Wege nach Leningrad, verfolgten die zurückgehenden sowjetischen Truppen. Die Panzer der 1. Panzerdivision rollten auf Puschkin und den Katharinen-Palast zu, erreichten ohne Widerstand den Stadtrand von Puschkin und fuhren die breite, schöne Allee zum Palais hinauf.

Michael Wachter verließ sein Bernsteinzimmer, stellte sich wieder unter den Säuleneingang, so wie er in der Nacht Oberst Limonow nachgeschaut hatte. Sein Herz tat ihm weh, als er die graugrünen Stahlkolosse auf sich zurasseln sah, die Geschütztürme mit dem schwarzweißen Balkenkreuz. Die Kommandanten der Panzer standen in den hochgeklappten Luken und starrten auf den herrlichen Palast, als erlebten sie ein Märchen. Vor der großen Treppe hielten sie, kletterten aus den Türmen, sprangen auf den Boden und kamen, Pistolen in der Hand, auf Wachter zu. Ein Offizier, der an der Spitze lief, blieb vor Wachter stehen und stieß ihm den Lauf seiner Waffe gegen die Brust. Die anderen Soldaten stürmten an ihnen vorbei ins Schloß.

«Was stehst du hier rum?«fuhr ihn der Offizier an.»Wo sind die anderen? Wo Russki?«

«Ich bin kein Russe, Herr Hauptmann«, sagte Wachter ruhig und furchtlos.»Ich bin ein Deutscher wie Sie. Willkommen in Zarskoje Selo — «

Am Nachmittag waren die Säle und Prunkzimmer, die Wirtschaftsräume und Gesindezimmer, die Schlafgemächer der Zaren und die Bibliotheken voller Menschen in deutschen Uniformen. Von allen Seiten waren sie gekommen, um Quartier in diesem Palast zu nehmen, der zum Schönsten gehörte, was in Rußland je gebaut worden war. Vor allem die Stäbe mit ihren hohen Offizieren zogen in das Schloß ein und belegten die prunkvollsten Räume. An die herrlichen geschnitzten und mit Gold verzierten Türen hämmerten Soldaten die handgeschriebenen Pappschilder ihrer Einheiten, mit Richtungspfeilen von links oder nach rechts, mit Namen der Kommandeure oder auch nur Schreibstube oder WuG, was soviel hieß wie Waffen und Geräte.

Fünf Stäbe richteten sich häuslich im Katharinen-Palais ein: Der Stab des XXVIII. Armeekorps, der Stab der 16. Armee, der Stab des XLI. Panzer-Korps und die Stäbe der 96. und 121. Infanterie-Division. Die SS-Polizei-Division und die I. Panzer-Division, die Puschkin als erste erreicht hatten, waren weitergezogen und verfolgten die sowjetischen Truppen. Das Gedröhne der Geschütze lag wie ein ferner Donner über dem Land, unter dem Himmel brummten die deutschen Bombergeschwader nach Leningrad.

Michael Wachter hatte aufgeatmet, als die SS-Division an dem Schloß vorbei zum Nordteil der Stadt Puschkin zog, wo sich die letzten Rotarmisten wehrten, ein armseliger Riegel, der nur den Zweck verfolgte, Zeit zu gewinnen, die Stunden hinzudehnen, denn jede Stunde bedeutete ein Stück Graben, eine Bunkerwand, eine Geschützstellung mehr im Verteidigungsring um Leningrad.

Am 16. September 1941 war das Bernsteinzimmer in deutscher Hand, aber es stand noch unversehrt hinter den schützenden Holztafeln und Pappstreifen. Der Krieg war darüber hinweggerollt… und es lebte noch.

Ein glücklicher Mensch war Michael Wachter in diesen Stunden.

Am 17. September war auch der Nordteil von Puschkin von den sowjetischen Truppen geräumt worden. Die SS-Polizei-Division marschierte in die Stadt, der nachrückende Stab erschien vor dem Katharinen-Palast, um hier ebenfalls sein Hauptquartier einzurichten. Mit Schrecken starrte Wachter auf die Uniformen mit dem Totenkopf. Zum ersten Mal sah er SS-Offiziere und SS-Soldaten jener deutschen Division, die zur Elite gerechnet wurde und von der vor dem Krieg und erst recht jetzt im Krieg so viel geschrieben worden war. Gefürchtet waren die Männer mit dem Totenkopf, sie waren von allen deutschen Truppen am besten ausgerüstet, eine geballte Faust, deren Schlag Vernichtung hieß.

Ein SS-Gruppenführer — dem Rang eines Generals entsprechend — stieg die Stufen der großen Treppe hinauf, während der Stab vor dem Portal vorfuhr und wie zu einer Parade eine peinlich ausgerichtete Reihe von Fahrzeugen bildete. Noch hatte der SS-General nicht einmal die Hälfte der Treppe erstiegen, da erschien im Eingang des Palais der Kommandeur des XXVIII. Armeekorps und hob, kurz grüßend, die Hand an sein Mützenschild. Der SS-Gruppenführer erwiderte mit ausgestrecktem Arm, mit dem Hitlergruß.

«Ich nehme an, Herr Kamerad«, sagte der Kommandeur e> was steif —,»Sie haben die Absicht, hier Ihren Stab einzuquartieren.«

Der SS-Gruppenführer blieb auf der Treppe stehen, warf einen schnellen Blick auf die imposante Fassade des Schlosses und nickte.

«Braunfeld«, stellte er sich vor.»Heinrich Braunfeld.«

Der Panzergeneral lächelte mokant. Ausgerechnet Braunfeld, dachte er, und dann Befehlshaber einer SS-Division. Und Heinrich heißt er auch noch, wie sein Chef Heinrich Himmler. Kompletter geht's nicht mehr.

«Von Kortte«, sagte er noch steifer.»Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, daß wir für einen neuen Stab keinen Platz mehr haben.«

SS-Gruppenführer Braunfeld blickte wieder die Schloßfassade entlang und schüttelte den Kopf. Was will er, dachte er. Dieser Affe mit den roten Streifen an der Hose!» Das Schloß ist groß genug. Sie wollen doch nicht sagen, daß Ihr Stab über hundert Zimmer braucht.«

«Es befinden sich zur Zeit fünf Stäbe im Katharinen-Palast. Dazu die gesamten Trosse, morgen kommen die Werkstätten von zwei Panzerkorps hinzu. Ich empfehle Ihnen, sich im benachbarten Alexander-Palais einzurichten. Es ist noch verhältnismäßig schwach belegt. «General von Kortte hob wie bedauernd die Schultern.»Gruppenführer, es tut mir leid. Der jetzige Hausherr des Schlosses, Generaloberst Busch, Befehlshaber der 16. Armee, hat diese Anordnung getroffen.«

«Ich möchte Busch sprechen!«Braunfeld fühlte sich wie gegen den Bauch getreten. Und er sagte einfach» Busch«, respektlos, flegelhaft, rüde, wie von Kortte es nannte.

«Der Generaloberst ist beschäftigt«, antwortete er kühl.»Bitte fahren Sie weiter zum Alexander-Palais.«

«Sie werfen einen SS-Stab hinaus?!«Braunfeld holte tief Atem.»Herr von Kortte, das wird Folgen für Sie haben. Es wird dem Reichsführer-SS gemeldet werden! Ihre Behandlung e-ner kämpfenden Truppe ist unerhört! Sie hören noch von vorgesetzter Stelle.«

SS-Gruppenführer Braunfeld drehte sich um und stieg grußlos die Treppe hinunter. Was er an seinem Wagen zu seinem Stabschef sagte, konnte von Kortte nicht verstehen. Er sah nur, wie der SS-Offizier, ein Standartenführer, den Kopf in den Nacken warf, einen musternden Blick hinauf zu von Kortte warf und dann wieder in den Wagen stieg. Braunfeld folgte ihm. Zehn Minuten später war der Platz vor dem Säuleneingang wieder leer. Zurück blieb nur ein großer Ölfleck… einer der Wagen mußte ein Leck in der Ölleitung haben.

Michael Wachter stand noch immer neben der Eingangstür, als von Kortte den Palast wieder betreten wollte.

«Ich danke Ihnen, Herr General«, sagte er in seinem harten Deutsch, stockend und sichtlich bewegt. General von Kortte blieb erstaunt stehen.

«Wofür?«fragte er abgehackt und sah Wachter an.

«Sie haben die SS vom Schloß ferngehalten.«

«Das geht Sie nichts an!«Von Korttes Stimme wurde scharf. Er kniff die Augen zusammen, es sah aus, als ziele er auf Wachter.

«Es wären noch genug Räume frei, Herr General.«

«Das geht Sie überhaupt nichts an!«

«Bestimmt nicht.«

«Also, was wollen Sie?«

«Ihnen nochmals danken, daß Sie das Bernsteinzimmer gerettet haben.«

General von Kortte, der sich schon abgewandt hatte, um das Schloß zu betreten, drehte sich wieder um.»Das Bernsteinzimmer! Ist das der mit Holz verschalte Saal, in dem Sie immer herumsitzen?«

«Ja, Herr General.«

«Und die ganzen Wände sind aus Bernstein?«

«Alles, Herr General. Die Wände, die Figuren, die Girlanden, die Türumrahmungen, die Gemälderahmen, die Blumen und Zweige… alles aus Bernstein.«

«Donnerwetter!«Von Kortte war beeindruckt.»Das müssen Sie mir mal zeigen. Wie heißen Sie?«

«Michael Wachter.«

«Das ist ja ein deutscher Name.«

«Ich bin Deutscher, Herr General.«

«Und arbeiten bei den Bolschewiken?«

«Seit 225 Jahren, Herr General.«

«Donnerwetter!«Von Korttes Stimme gluckste vor Vergnügen.»Sieht man Ihnen gar nicht an, dieses Alter. «Er lachte über seinen eigenen Witz, nur drei Sekunden lang, dann wurde er wieder ernst.»In Kunstdingen bin ich ein Banause«, sagte er offen.»Bernsteinzimmer… habe ich noch nie gehört. Ist es in Kunstkreisen bekannt?«

«Es gehört zu den größten und wertvollsten Kunstwerken überhaupt. Es ist unersetzlich. So etwas wird es nie wieder geben.«

«Und da glauben Sie, daß man an maßgeblicher Stelle das nicht weiß? Daß Ihre Bretter noch einen Sinn haben… jetzt, wo Puschkin in unserer Hand ist und es auch für immer bleiben wird? Es wird nicht lange dauern, und eine Kommission von Kunstsachverständigen wird kommen, die Bretter wegreißen und Aha! und Oho! rufen. Man wird herumtelefonieren zum Führer, zu Reichsleiter Bormann, zu Außenminister von Rib-bentrop, zu Reichsmarschall Göring, zu Reichsleiter Rosenberg — kennen Sie überhaupt die Namen?«

«Nur Hitler und Göring, Herr General. Hier auf Puschkin lebten wir sehr für uns allein. Uns interessierte Deutschland kaum.

Wir hatten unsere Arbeiten im Schloß, die Pflege der vielen Räume, Möbel, Böden und Teppiche, die Ausbesserungen außen und innen, die Gärten… was ging uns an, was außerhalb des Katharinen-Palastes geschah?«

«Das ist ein weitverbreiteter Fehler, mit Scheuklappen herumzulaufen und nur in eine Richtung zu sehen. «General von Kortte ging zurück in die prunkvolle Eingangshalle mit ihren marmornen Figuren, der wunderschönen Treppe, den bemalten Stuckdecken und dem einzigartigen eingelegten Boden. Wachter folgte ihm dichtauf. Von Korttes Reden hatten ihn nicht beruhigt, im Gegenteil, seine Sorge hatte neue Nahrung bekommen und wuchs um sein Herz herum.

«Sie meinen, Herr General«, sagte er stockend,»daß Hitler oder Göring oder die anderen…«

«Ich meine gar nichts. «Von Kortte blieb wieder stehen und ließ Wachter um sich herumkommen.»Außerdem ist meine Meinung völlig gleichgültig. Es gilt allein die Meinung des Führers.«

«Was will Hitler mit dem Bernsteinzimmer?«

«Wenn es so einzigartig ist, wie Sie sagen, Wachter, stellt es eine wertvolle Kriegsbeute dar. Wir haben im Reich Museen genug, um es dort aufzubauen. Mann, Sie haben mein Interesse geweckt. Wann kann ich das Zimmer ohne die Verschalung sehen?«

«Ich werde morgen eine Vertäfelung freilegen lassen.«

«Sehr gut. «General von Kortte nickte, als zwei junge Offiziere durch die Halle rannten und dabei stramm grüßten.»Was ich noch fragen wollte: Wo ist das Personal des Schlosses geblieben? Sie waren doch nicht allein hier.«

«Geflohen, Herr General.«

«Vor uns geflohen?«Von Kortte zog die Stirn kraus.»Vor uns braucht doch keiner zu fliehen!«

«Die Frauen hatten Angst, daß sie vergewaltigt werden.«

«Von uns? Von unseren Soldaten?!«Die Stimme des Generals wurde laut und wirkte wieder wie zerhackt.»Ein deutscher Soldat ist ein ehrenhafter Mann! Wir sind doch keine Mongolen Dschingis-Khans! Ich wünsche, daß die Frauen zurückkommen und das Schloß weiter in Ordnung halten.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich von Kortte wieder um und stieg die Marmortreppe hinauf zu den Sälen„in denen sein Stab arbeitete. Für sich selbst hatte er den Chinesischen Saal ausgewählt, ein Prunkstück mit bemalten Wänden und Türen und geschnitzten asiatischen Möbeln. Der Fernmeldetrupp schien dafür keine Augen gehabt zu haben. In die Wände hatte man Klammern für die Telefonleitungen geschlagen und Löcher zu den Nebenräumen gebohrt. Hier waren die Dienststellen des Oberquartiermeisters, des Ia und des Ib und die Schlafzimmer der Stabsoffiziere.

Michael Wachter sah von Kortte nach und wischte sich mit der rechten Hand über sein Gesicht. Er wurde nicht klug aus dem General. Man konnte mit ihm reden, und plötzlich war er wieder zugeknöpft und eisig wie eine Marmorstatue. Wie's auch sei… er hatte nicht zugelassen, daß die SS das Schloß besetzte. Allein schon das war eine mutige und gute Tat, für die man ihm dankbar sein sollte.

Am nächsten Morgen war alles anders.

In der Nacht waren zwei Kompanien Infanterie von der Front zurückgekommen. Sie waren verdreckt, übermüdet, vom schnellen Vormarsch zermürbt. Neue, frische Kompanien hatten sie abgelöst. Nun nahmen sie im Schloß Quartier und belegten die noch freien Räume.

Wachter hatte sie nicht kommen hören, er schlief in seiner Wohnung im Nebentrakt, an deren Tür man ein Pappschild mit der Aufschrift Verwaltung genagelt hatte. Dadurch blieb er ungestört, konnte seine Wohnung behalten und wurde nicht belästigt. Erstaunt stellte er fest, welch ein kleines Wunder solch ein Schild hervorbringen konnte. Niemand kümmerte sich darum, was hinter der Tür geschah… das Schild allein genügte. Es war etwas Amtliches. Ein guter Deutscher hatte davor Respekt und keine Fragen mehr.

Als Michael Wachter zu seinem Bernsteinzimmer kam, blieb er zunächst betroffen stehen und starrte auf die herrliche Tür. Auch hier hatte man ein Pappschild aufgenagelt, bemalt mit einer groben Schrift. Belegt von 2. Kp. stand darauf, und man hatte einen derben zweizeiligen Nagel benutzt, um den Fetzen anzuheften. Der große Nagel saß mitten in den Schnitzereien und vergoldeten Girlanden.

Wachter atmete tief durch, riß die Tür auf und stürmte in das Zimmer. Zwei Landser waren gerade dabei, ein Stück der Holzverschalung loszureißen, um zu sehen, was sich dahinter versteckte. Die Mehrzahl aber ag herum, schlief auf den im Zimmer abgestellten oder herangeschleppten kostbaren Sesseln, Liegen und Kanapees. Sie wetzten mit ihren schmutzigen, erdverkru steten Stiefeln über die Brokat- und Seidenbezüge, rauchten und warfen die Kippen in den Sand, der den unersetzbaren Parkettboden bedeckte. Zwei andere Landser, die gerade eine Pappverkleidung heruntergerissen hatten, standen einen Augenblick wie erstarrt vor dem Glanz, den sie freigelegt hatten.

In einem Rahmen aus leuchtendem Bernstein, Intarsien von Sonnengelb bis zum warmen Braun, Mosaike, aus denen man Blütenranken und Medaillons geschnitzt hatte, hing das Gemälde einer idealisierten Landschaft, mit römischen Säulen und bogenförmigen Ruinen, eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft, wie sie in der Toskana zu finden war. Eine gemalte Ode des Vergil.

«Det is'n Ding!«sagte einer der Landser begeistert.»Da bring ick meener Erna 'ne Handvoll mit. Allet Bernstein, meine Fresse!«

Er zückte sein Seitengewehr, stieß die Spitze in das Mosaik, bohrte und brach ein großes Stück aus der Wand.

Mit drei langen Sätzen stürzte sich Wachter auf den Soldaten, gerade, als dieser grinsend sagte:»Erna war schon imma scharf auf Bernstein. Kameraden, det is hier ja wie'n Goldbergwerk.«

«Zurück!«brüllte Wachter. Er entriß dem Landser das Seitengewehr, schleuderte es weg, packte ihn an den Schultern und stieß ihn von der Bernsteintafel weg.

«Na, na, wat is denn?«sagte der Landser verblüfft. Dann erst begriff er, daß man ihn angegriffen hatte, daß sein Seitengewehr mitten im Saal im Sand lag und daß es auch noch ein

Zivilist war, der ihm einen Stoß versetzt hatte, ein älterer Mann in einem abgeschabten Anzug.»Hast wohl 'ne Meise, Opa?!«schrie er und ballte die Fäuste wie ein Boxer.»Nu halt man dein Kinn fest…«

Aber er kam nicht dazu, seinen Schlag anzubringen. Der zweite Landser, der hinter Wachter stand, hieb mit dem Knauf seines Seitengewehres, weit ausholend, dem anscheinend Verrückten auf den Kopf, zweimal hintereinander, während die anderen Soldaten aus ihren Sesseln und Kanapees hochzuckten.

Michael Wachter spürte den zweiten Schlag schon nicht mehr. Ein scharfer Schmerz durchfuhr ihn bis hinunter zu den Zehen. Jetzt bin ich tot, konnte er noch denken, dann fiel er in eine bodenlose Schwärze, in der es kein Denken mehr gab.

In ihrer Erdhöhle wartete Jana Petrowna auf das Erscheinen der deutschen Truppen. In einem dichten Gebüsch hatte sie das Fahrrad versteckt, das ihr der Adjutant von General S-nowjew gegeben hatte, ein ziemlich verwirrter Major, der nicht verstehen konnte, warum man eine Spionin nicht sofort e-schoß, sondern ihr sogar ein Fahrrad gab, damit sie fliehen konnte. Aber frage einer mal einen General nach dem Sinn seiner Befehle… Genossen, wer wagt das schon?

Außerdem waren alle viel zu sehr damit beschäftigt, das Hauptquartier der Division in dem kleinen, verträumten Jagdschlößchen zu räumen. Die deutsche Artillerie schoß in die zurückgehenden Rotarmisten hinein, Panzervorstöße schlugen große Lücken in die Verteidigungsstellungen, selbst Gegenangriffe der gefürchteten sowjetischen Panzer T 34 brachen im Feuer der neuen deutschen Panzerabwehrgeschütze, kurz PAK genannt, zusammen. Die Stukas und schweren Heinkel-Bomber luden ihre tödliche Fracht über den Dörfern und kleinen Städten ab, überall loderten Brände, und der Himmel war dunkel vom Rauch der Zerstörung. General Sinowjew hatte von seinem Kunstrettungstrupp nichts mehr gehört. Die Verbindung zu Unterleutnant Wechajew war abgerissen. Er wartete auch gar nicht mehr auf eine Nachricht, die Meldungen von der Front sagten ihm, daß die kleine Kolonne direkt in die Arme der vorpreschenden deutschen Panzer gefahren sein mußte. Die auf der Karte abgesteckten feindlichen Positionen zeigten ihm, daß Wechajew keine Chance mehr gehabt hatte, den Deutschen auszuweichen oder zu fliehen. Aus Leningrad war außerdem der Befehl gekommen, sich auf den äußeren Verteidigungsgürtel zurückzuziehen. Dort gruben noch immer Tausende von Frauen, Pionieren und alten Männern die Schützengräben, gossen mit Beton neue Panzersperren, verstärkten die Bunker, stützten die Unterstände ab, und sogar halbwüchsige Kinder schleppten Säcke und Steine, Balken und Bretter, um einen Wall gegen die Aggressoren zu bauen.

Stalins» Kronprinz «Andrej A. Schdanow, Mitglied des Politbüros, war nach Leningrad gekommen und hatte als neuer Leiter der Leningrader Parteiorganisation das Oberkommando der Verteidigung übernommen. In einem Aufruf verkündete er:»Entweder wird die Arbeiterklasse Leningrads versklavt und ihre schönste Blüte vernichtet werden, oder wir graben dem Faschismus vor Leningrad das Grab.«

Die gesamte Bevölkerung sollte deshalb bewaffnet werden. Sie sollten im Handgranatenwerfen und Straßenkampf ausgebildet werden, Straße um Straße, Haus um Haus sollten sich in eine Festung verwandeln, an der sich der Feind verbluten würde. Wenn die Deutschen Leningrad schon eroberten, dann nur unter Strömen von Blut. Auch Marschall Schukow erließ am 17. September an alle Kommandeure der zur Verteidigung von Leningrad eingesetzten sowjetischen Armeen den Befehl, keinen Meter mehr den Faschisten zu überlassen.»Jegliche Absetzbewegung betrachte ich ab sofort als Verbrechen gegen das sowjetische Vaterland«, ließ er verkünden.»Diese Ehrlosen werden zum Tode verurteilt.«

Überall, vor allem im Süden der Stadt, wo von den Deutschen die größte Gefahr drohte, nachdem sie Puschkin erobert hatten, entstanden Stacheldrahthindernisse und kleine Betonbunker, die man» Woroschilow-Hotels «nannte. Deutsche Flugzeuge warfen über der Stadt gefälschte Lebensmittelkar-ten und Rubelscheine ab und Flugblätter, auf denen stand, daß man alle schonen würde, die ihre Kommandanten töteten und sich ergaben. Polizeistreifen durchkämmten die Straßen, wer mit solch einem Flugblatt gefaßt wurde, konnte auf der Stelle erschossen werden.

1,5 Millionen Menschen waren bereit, Rußlands schönste Stadt mit ihren Leibern vor den Deutschen zuzumauern.

Jana Petrowna hörte am frühen Morgen des 17. September das Rasseln der Panzerketten. Die Angriffsspitzen der PanzerGruppe 4 unter Generaloberst Hoepner hatten sie erreicht. Der Ring um Leningrad war geschlossen.

Noch zwei Tage blieb Jana Petrowna in ihrem Erdhöhlenversteck. Dann wagte sie sich ins Freie, wusch sich gründlich in einem kleinen Bach und bürstete den Dreck, so gut es ging, aus ihrer Schwesterntracht. Sie ließ den Militärmantel zusammengeknüllt in der Höhle zurück, zog das Fahrrad aus dem Gebüsch und schob es auf die Straße. Das war der gefährlichste Teil ihres Planes, aber sie hatte Glück. Auf der Straße war kein einziges deutsches Fahrzeug, kein einziger deutscher Soldat zu sehen. So friedlich, wie ein schöner Herbsttag sein kann, stand der Wald unter einer noch wärmenden Sonne.

Sie schwang sich auf den Sattel, setzte ihre Schwesternhaube auf, hängte eine große Tasche aus braunem Wachstuch an die Lenkstange und fuhr den gleichen Weg, den auch Wechajew gefahren war.

Zurück nach Puschkin. Zurück zum Katharinen-Palast. Und während sie kräftig in die Pedale trat, schwirrten viele Gedanken durch ihr Gehirn.

Lebte Väterchen Michail noch? War das Schloß zerstört worden? Hatte man die Schätze geplündert? Wer wohnte jetzt in den Prunkräumen? Würde man ihr die Geschichte, die sie erzählte, glauben und sie im nächsten Lazarett arbeiten lassen? Was war aus Nikolaj, ihrem Liebsten, geworden? Mit dem letzten Lastwagen voller wertvoller Vasen, Schmuckstücke, Möbel und Teppiche, mit Gemälden aus zwei Jahrhunderten und persönlichen Andenken der Zarinnen und Zaren hatte er Zarskoje Selo verlassen und sollte sie in Leningrad in S-cherheit bringen. Hatte er es geschafft? Hatte er Leningrad erreicht, oder war er von deutschen Bomben und Granaten zerfetzt worden? Ob es Väterchen Michail wußte… wenn er noch lebte? Gab es noch das Bernsteinzimmer…?

Nach zwei Stunden einsamer Strampelei kamen ihr die ersten deutschen Truppen entgegen. Ein Infanterie-Bataillon, wie auf dem Marsch zu einem Manöver. Die Kompaniechefs ritten zu Pferde voraus. Der Kommandeur, ein Major, saß zusammen mit seinem Adjutanten und einem Stabsarzt in einem Kübelwagen, erst dann folgten die Autokolonnen mit dem Troß, der Schreibstube, der Feldküche und dem Material. Kein Spähtrupp war ihnen vorausgefahren, so sicher fühlten sie sich.

Ein merkwürdiges, das Herz zusammenschnürendes Gefühl war's, zum ersten Mal deutsche Soldaten zu sehen. Nur für einen Moment zuckte Angst durch Jana Petrownas Körper beim Anblick der langen, grauen Kolonne, doch dann beugte sie sich über das Lenkrad und strampelte unbeirrt weiter. In ihren Adern klopfte das Blut. Würde man sie anhalten? Würde man fragen, woher sie kam?

Ganz rechts fuhr sie auf der Straße, der Kübelwagen des Majors verlangsamte sein Tempo, der Fahrer grinste breit und warf ihr mit gespitzten Lippen ein Küßchen zu. Verwundert lehnte sich der Stabsarzt aus dem offenen Wagen. Der Major tippte ihm auf den Ärmel.

«Doktor, nicht wild werden!«Er lachte kurz und musterte die auf sie zuradelnde Jana.»Lassen Sie das Karbolmäuschen in Ruhe. Wir haben keine Zeit.«

Der Stabsarzt lehnte sich wieder in den Sitz zurück und schüttelte den Kopf.

«Wo kommt sie her, Herr Major?«fragte er verblüfft.»Ja, verdammt, von wo kommt sie? Vor uns ist kein Lazarett, nur ein vorgeschobener Truppenverbandsplatz!«

«Das wird es sein.«

«Auf gar keinen Fall! Unmittelbar hinter der kämpfenden Truppe arbeiten nur Sanitäter und Ärzte. Rote-Kreuz-Schwestern tauchen erst in der Krankensammelstelle auf, und die ist hinter uns. Und sie sitzt auf einem Fahrrad, als fahre sie fröhlich zum nächsten Krankenhaus.«

«Doktor, Sie suchen nur nach einem Grund, mit ihr anzubandeln. Nein, ich lasse nicht halten. «Der Major lachte wieder und winkte Jana zu, als sie an ihr vorbeifuhren.»Verdammt! Wirklich ein hübsches Mäuschen…«

Jana Petrowna winkte zurück, lachte zu ihnen hinüber und trat, so kräftig sie konnte, in die Pedale. Als sie an den Soldaten vorbeikam, empfingen sie schrilles Pfeifen und laute Zurufe.»Schwester, ich habe einen Tripper — «hörte sie aus dem Gejohle heraus.»Schwesterchen, wo hast du die Sanierungsspritze? Mich juckt's, mich juckt's… komm her und sieh mal nach…«Und als sie an der Feldküche vorbeikam, wedelte der Koch, der auf der Protzenbank hockte, mit einem langen hölzernen Kochlöffel und brüllte:»Tausche 'nen Schlag Suppe gegen einmal Hopp-hopp…«

«Haben Sie das gesehen, Herr Major — «sagte der Stabsarzt erregt.»Ihr Kleid ist voller Flecken! So läuft doch eine deutsche Schwester nicht herum! Da stimmt doch was nicht! Wir sollten sie uns näher ansehen…«

«Das könnte Ihnen so passen, Doktor. Leibesvisitation und so. Was ist denn da unterm Röckchen…«Der Major lachte wieder.»Nichts zu machen, mein Lieber — wir alle befinden uns im sexuellen Notstand. Ihr Ärzte habt ja immer mehr Möglichkeiten als wir armen Schweine an der Front.«

Endlich hatte Jana Petrowna das deutsche Bataillon passiert und war wieder allein auf der Straße nach Puschkin. Aus der Ferne hörte sie Gesang, die Landser sangen, um die Müdigkeit zu überwinden. Die Stahlhelme an das Koppel geschnallt, die Uniformkragen aufgeknöpft, verschwitzt und mit Staub überzogen, marschierten sie als Ersatz zum nun geschlossenen Belagerungsring von Leningrad.

Mit noch einem leichten Zittern in den Gliedern stieg Jana ab und dehnte sich, drückte den Rücken durch und holte tief Atem. Beschwerlich war es, auf der unbefestigten Straße zu fahren. Die Straßendecke war von tiefen Furchen durchzogen, die fünf Tage Regen hinterlassen hatten.

In der Nacht schlief sie in einem zur Hälfte ausgebrannten Bauernhaus. Zwischen den verkohlten Balken, eng an die Mauer des ehemaligen Wohnzimmers gedrückt, im Schütze des zersprungenen Ofens aus Lehm und Feldsteinen, lag sie auf zusammengerafftem Stroh, atmete den scharfen Brandgeruch ein und einen süßlichen Geruch, den sie nicht kannte. Erst am Morgen entdeckte sie, daß neben ihr, nur durch die zerborstene Mauer getrennt, drei Tote lagen, zwei Frauen und ein alter Mann, schwarz im Gesicht von dem Feuer, dem sie nicht entkommen waren. Der Verwesungsgeruch drehte ihr den Magen um, sie stützte sich an die rußige Mauer und erbrach sich, hetzte dann zu ihrem Rad und fuhr zurück auf die aufgerissene Straße.

Erst später war sie fähig, etwas zu essen und zu trinken. Sie saß neben der Straße unter einem Baum, die braune Wachstuchtasche im Schoß, und knabberte Sonnenblumenkerne, zerteilte eine dicke Zwiebel und kaute zwei Scheiben ausgetrocknetes Brot und ein Stückchen Dauerwurst. Es schmeckte schon etwas ranzig, aber sie aß die Wurst mit großem Hunger und trank aus einer Bierflasche das Wasser, das sie nach dem Waschen aus dem Bach im Wald geschöpft hatte. Sie schüttete den Rest in die Hand, wusch sich damit das Gesicht, nahm einen Kamm aus der Tasche, ordnete ihr Haar und betrachtete sich in einem kleinen, von braunem Kunstleder umrahmten Spiegel.

Zufrieden war sie mit sich. Das Gesicht mit der Schwesternhaube, die hohen Backenknochen, die klaren Augen, die vollen Lippen… schön war sie, das konnte sie selbst von sich sagen.

Am Abend des zweiten Tages ihrer Radreise erreichte sie endlich Puschkin, die Schlösser von Zarskoje Selo.

Die Deutschen, denen sie jetzt überall in Massen begegnete, beachteten sie kaum bis auf die typischen Bemerkungen, Zurufe oder Zeichen, wenn Männer ein so hübsches Mädchen in der Tracht einer Rote-Kreuz-Schwester sahen. Ihre Gegenwart nahm niemand mit Erstaunen oder Mißtrauen wahr. Gerade vor einem Tag war ein Feldlazarett nach Puschkin verlegt worden und hatte sich hier in einer der Schulen eingerichtet. Neun Ärzte und vierzehn Sanitäter versorgten die Verwundeten und Kranken, die mit Sanitätskraftwagen, kurz Sanka genannt, von der Front herangeschafft wurden. In den Hauptverbandsplätzen nur notdürftig versorgt, lagen sie jetzt hier mit durchgebluteten Verbänden, um den Hals den» Sanitätslaufzettel «gehängt, auf dem gedruckt war:

Begleitzettel für Verwundete und andere chirurgisch zu Behandelnde.

Nichttransportfähig: zwei rote Streifen.

Transportfähig: ein roter Streifen.

Marschfähig: kein roter Streifen.

Darunter standen Name, Dienstgrad, Truppenteil und Art der Verletzung.

Für viele war das ein Dokument des Sterbens, ein Transportschein in die Ewigkeit.

Und auf allen Zetteln stand groß, unübersehbar, mit einem Stempel aufgedruckt: Entlaust.

Mit dem Feldlazarett waren auch drei Schwestern nach Puschkin gekommen. Warum sollte eine von ihnen nicht mit einem Fahrrad zum Katharinen-Palast fahren? Bei den vielen Kommandanturen und Stäben, die das Schloß besetzt hatten, war immer etwas zu tun. Das war mehr Glück, als sich Jana Petrowna erhofft hatte. Unbehindert fuhr sie über die altvertrauten Wege, durchquerte den Park und die zauberhaften Gärten und stellte dann das Rad an die Hausmauer. Aus einem offenstehenden Fenster hörte sie das Klappern von Schreibmaschinen, ein Gewirr von Stimmen und roch den Qualm vieler Zigaretten.

Ohne Hast, völlig unauffällig, ging sie zu Fuß weiter, betrat durch den Nebeneingang des Schlosses den Flügel, in dem früher die Angestellten wohnten und auch Michael Wachter seine Zimmer hatte. Offiziere, die ihr begegneten, grinsten sie an, einige musterten sie mit unverschämten Blicken, ein Hauptmann hielt sie auf und faßte sie am Arm.

«Wohin, meine Süße?«fragte er.»Sicherlich suchen Sie mich.«

«Bestimmt nicht. Ich suche den General.«

Sie sagte einfach General, das genügte. Ein General war sicherlich im Palast, sein Name war unwichtig. Niemand würde es wagen, sie dann noch festzuhalten. Auch der forsche Hauptmann ließ sofort Janas Arm los und hob die Schultern.»Zum General… dagegen komme ich natürlich nicht an«, sagte er anzüglich.»Zimmer 17, aber nicht hier. Dort, im Hauptgebäude. Wünsche ein gutes Hüpferchen.«

Vor der Tür zu Wachters Wohnung, an der jetzt das Pappschild Verwaltung genagelt war, blieb sie stehen und klopfte. Väterchen Michail antwortete nicht, noch dreimal klopfte sie, dann drückte sie die Klinke. Die Tür war nicht Verschlossen, mit einem leisen Quietschen schwang sie auf. Nach links und rechts sah sich Jana Petrowna um, allein war sie auf dem Flur, und sie schlüpfte schnell in die Wohnung.

Das erste, was sie wahrnahm, war der strenge Geruch von Karbol. Sie blieb in der kleinen Diele stehen, preßte die flache Hand gegen ihre Brüst, ein unbeschreibliches Gefühl der Angst durchflutete und lahmte sie, und dann schrie sie mit hellerer Stimme als sonst:

«Väterchen, wo bist du? Väterchen… bist du hier? Väterchen…«

Sie merkte nicht, daß sie es auf russisch schrie, und es war wiederum ihr Glück, daß niemand in der Wohnung war und sie hörte.

Verwirrt, mit einem dumpfen Schmerz unter der Hirnschale, stellte Michael Wachter fest, daß er noch lebte. Er roch den beizenden Karbolgestank, spürte den Druck in seinem Kopf, hörte vor seinem Fenster Stimmen und Motorenlärm und behielt die Augen geschlossen, voll Verwunderung, daß er in einem Bett lag, und es mußte das Bett in seinem Schlafzimmer sein, denn alle Geräusche kamen von links. Links, wo das Fenster hinaus auf einen breiten Gartenweg ging.

Träge — ihm kam es vor, als könne er sich nicht bewegen — kehrte die Erinnerung zurück: das Bernsteinzimmer, der Soldat, der mit seinem Seitengewehr die Verkleidung abhebelte und es dann in das Mosaik stieß, wie ein Mörder, dessen Messer in eine Brust dringt. Auf ihn hatte er sich gestürzt, hatte ihm das Messer aus der Hand geschlagen… ja, so war's gewesen. Das Gesicht des Soldaten sah er noch, fassungslos, von einem hilflosen Grinsen verzogen, dann hatte ein Dröhnen in seinem Kopf begonnen, das alles in ihm auslöschte.

Das Bernsteinzimmer!

Er riß die Augen auf und zuckte zusammen, als ein heller Aufschrei in seine Ohren drang.»Väterchen!«rief eine Frauenstimme.»Väterchen! Du bist wieder da… du lebst… du wirst nicht sterben!«Und dann weinte jemand, und alle weiteren Worte gingen im Schluchzen unter. Ein Kopf erschien vor seinen Augen, ein tränenüberströmtes Gesicht, von schwarzen Haaren umrahmt, und dieser Kopf trug ein Häubchen, wie es Krankenschwestern tragen, beugte sich nun über ihn und küßte seine Stirn, die Augen und die Lippen.»Väterchen, lieg ganz still, bewege dich nicht, hast du Schmerzen, willst du etwas trinken…«

«Sprich deutsch«, sagte er mit noch schwerer Zunge.»Ja-naschka, du bist eine deutsche Krankenschwester. Vergiß das nie! Nie! In Ostpreußen bist du geboren… in Ostpreußen… bei den Masurischen Seen.«

«Ja, Väterchen«, antwortete sie und weinte weiter.

«Jana!«

«Ich weiß. «Jetzt sprach sie deutsch mit einem harten Akzent.»Sie müssen ganz ruhig liegen bleiben, Herr Wachter.«

«Ich muß zum Bernsteinzimmer, Schwester. «Er versuchte, sich aufzurichten, aber ihm war, als glühte sein Kopf, als loderten Flammen aus ihm. Er fiel auf das Kissen zurück und schloß wieder die Augen.»Mein Bernsteinzimmer…«

Sie zog die Decke wieder hoch bis unter sein Kinn und hielt ihn fest, damit er still lag.

«Sie leben… das ist jetzt das Wichtigste.«

Obwohl sie allein in der Wohnung waren, niemand sie sah und hörte, spielten sie weiter, was sie verabredet hatten: Sie war eine unbekannte deutsche Krankenschwester und er ein ihr fremder Angestellter der Schloßverwaltung von Zarskoje Selo. Sie hatten sich vorher nie gesehen… nur ein einziges Du, ein einziges russisches Wort konnte ihr Verderben sein und ihren Plan zunichte machen.

Die Unruhe in Wachter wuchs. Er hielt Janas Hand fest, als sie sein Kopfkissen zurechtrücken wollte, und sie wunderte sich über die Kraft, die in diesem Griff lag.»Ich muß es sehen«, sagte er.»Verstehst du das nicht? Ich muß wissen, was sie mit dem Zimmer gemacht haben, nachdem sie mich niedergeschlagen haben. 225 Jahre lang hat keiner die Wände berührt, weil die Wachters aufpaßten, weil immer jemand von uns da war… und jetzt brechen sie die Mosaiken heraus… für Erna zur >Erinnerung< an Puschkin. Jana, laß mich aufstehen. Bitte…«

«Du bleibst liegen, Väterchen.«

«Jana.«

«Sie bleiben liegen, Herr Wachter«, verbesserte sie sich sofort. »Ich werde hinübergehen und nach dem Bernsteinzimmer sehen. Ich komme als Schwester überall hin. «Sie beugte sich über ihn und streichelte sein bartstoppeliges Gesicht.»Eine gute Idee war das, Väterchen«, flüsterte sie an seinem Ohr.»Jana!«

«Niemand hört uns.«

«Das ist es nicht. Daran gewöhnen sollst du dich, daß du mich nicht kennst. Zum ersten Mal hast du mich heute gesehen.«

An der Tür klopfte es. Sofort danach kam ein hochgewachsener Offizier in die Wohnung, stutzte, als er die Rote-Kreuz-Schwester an Wachters Bett sitzen sah, und trat dann näher.

«Wendler-«stellte er sich höflich vor.»Ich bin Arzt. Wie geht es Ihnen, Herr Wachter? Was macht der Kopf? Wie ich sehe, sind Sie in bester Betreuung. «Ein strahlender Blick traf Jana. Sie senkte die Augen und drehte dem Arzt den Rücken zu. Es war ein Oberstabsarzt, aus dem Stab des XXVIII. Armeekorps.»Haben Sie mich verbunden, Herr Doktor?«fragte Wachter.»Wie sieht mein Kopf aus?«»Eine mittelgroße Platzwunde… die Hirnschale ist nicht verletzt. Gott sei Dank. Verbunden hat Sie dann ein Sanitäter. «Dr. Wendler räusperte sich, beugte sich über Wachters Kopf und kontrollierte den Verband. Er war tadellos angelegt worden.»Sie sehen jetzt aus wie ein Muselmann«, versuchte er einen Scherz.»So ein Turban steht Ihnen gut. Nicht wahr, Schwester?«

«Ja — «antwortete Jana kurz.

«Ich habe mich noch einer Bitte zu entledigen. «Dr. Wendler schien ein Mensch zu sein, der gerne etwas gespreizt sprach.»General von Kortte läßt um Entschuldigung bitten, daß einige seiner Soldaten sich so ungebührlich Ihnen gegenüber benommen haben. Die Schuldigen werden zur Rechenschaft gezogen. Urlaubssperre ist das mindeste, was sie erwartet. Das soll ich Ihnen ausrichten.. das aufrichtige Bedauern des Herrn Generals.«

«Danke, Herr Doktor.«

«Der Herr General wird Sie heute noch besuchen.«

«Was macht mein Bernsteinzimmer?«

«Keine Ahnung. «Dr. Wendler hob die Schultern. Das Bernsteinzimmer war für ihn von geringerem Interesse als die hübsche Schwester an Wachters Bett. Er blinzelte ihr zu; aber Jana übersah es und nahm eine Haltung ein, die Abwehr signalisierte.»Was soll mit dem Zimmer los sein?«

«Hat man es zerstört… geplündert…«

«Moment mal. «Dr. Wendler zog die Augenbrauen zusammen.»Was sagen Sie da, Wachter? Ein deutscher Soldat zerstört nichts und plündert schon gar nicht. Ihre Meinung über unsere Landser…«

«Verzeihung, Herr Doktor. «Wachter unterbrach den Oberstabsarzt sofort. Er stellte mit Erschrecken fest, daß man so etwas nicht sagen durfte. Ein guter Deutscher kritisierte niemals die Wehrmacht des Führers. Zersetzung nannte man das. Wehrkraftzersetzung.»Aber man hat mich niedergeschlagen, weil ich einen Soldaten hindern wollte, aus der Bernsteinwand etwas herauszubrechen.«

«Mein Gott, ein kleines Andenken… fällt ja gar nicht auf bei so viel Bernstein. Es stimmt also: Sie haben den Landser zuerst angegriffen?«

«Ja. Er bohrte mit dem Seitengewehr…«

«Gut, gut, gut!«Dr. Wendler winkte ungeduldig ab.»Das wird alles untersucht werden. Wozu haben wir ein Feldgericht?«»Feldgericht?«fragte Wachter gedehnt. Der Druck in seinem Kopf verstärkte sich. Feldgericht — das bedeutete eine Verhandlung, und der Soldat würde freigesprochen werden, das war ganz sicher. Freispruch wegen Notwehr. Das Herausbrechen des Bernsteins war kaum erwähnenswert.»Muß das sein, Herr Doktor?«

«Die Entscheidung liegt bei dem General. «Dr. Wendler betrachtete wieder Jana Petrowna und lehnte sich am Kopfende des Bettes gegen die Wand.»Wie kommen Sie eigentlich hierher, Schwester?«

«Aus dem Lazarett. Irgend jemand aus dem Stab rief uns an und fragte nach einer Hilfe. «Ihr Reaktionsvermögen war hervorragend. Sie hob den Kopf, sah Dr. Wendler in die Augen, aber es war ein kühler, abweisender Blick.»Mit dem Fahrrad bin ich dann zum Schloß gefahren. Sie können es sich ansehen, es steht draußen an der Hauswand.«

«Verrückt! Als ob wir hier nicht genug Sanitäter bei der Truppe haben! Da kommen von der Front die Schwerverwundeten, die die beste Pflege brauchen, und man zieht eine Schwester ab, um einen Zivilisten zu betreuen! Idiotie!«

«Wenden Sie sich bitte an den Herrn General«, sagte Jana kühl. Wie wild ihr Herz klopfte, konnte man ja nicht sehen.»Vom Stab rief man an — «

«Das weiß ich nun. «Dr. Wendler stieß sich von der Wand ab.»Wie lange bleiben Sie im Schloß, Schwester?«

«Solange man mich hier braucht.«

«Wie heißen Sie eigentlich?«

«Jana Rogowskij.«

«Klingt verdammt russisch — «

«Ich bin in Masuren geboren. In Lyck in Ostpreußen.«»Natürlich weiß ich, wo Masuren liegt!«Dr. Wendler reagierte ausgesprochen beleidigt.»Schlacht an den Masurischen

Seen. Hindenburg vernichtet die russische Armee… 1914… im Ersten Weltkrieg. Jana Rogowskij, also doch ein paar Tropfen russisches Blut.«

«Nicht einen. «Und dann sagte Jana etwas, das Wachter nie für möglich gehalten hätte.»Ich habe einen Ahnenpaß. Bis 1680. Meine Vorfahren waren brandenburgische Siedler. Wollen Sie den Ahnenpaß sehen? Ich hole ihn…«

«Danke! Danke!«Dr. Wendler winkte ab, nickte Wachter noch einmal zu und verließ dann mit knarrenden Stiefeln die Wohnung. Einen Augenblick blieb Wachter ruhig liegen, aber dann schnellte er aus seinen Kissen empor.

«Das war das Tollste, was ich je gehört habe! Wer hat dir denn die Sache mit dem Ahnenpaß beigebracht?«

«Bitte bleiben Sie liegen, Herr Wachter. «Janas dunkle Augen blitzten vor Freude.»Irgendwann habe ich mal in der PRAWDA gelesen, daß die Deutschen ganz wild auf Ahnenpässe sind. Jeder will nachweisen, daß er ein Arier ist, nie ein Jude in seiner Familie war. Daran habe ich mich plötzlich erinnert.«

«Du… Verzeihung… Sie sind ein wunderbares Mädchen, Jana. Und jetzt seien Sie noch wunderbarer, lassen Sie mich aufstehen und zu meinem Bernsteinzimmer gehen.«

Ein paar Minuten später stand Wachter, gestützt auf Janas Schulter, in dem Saal. Erschütterung lahmte seine Zunge, er war zu keinem Wort mehr fähig, nur seine Augen schimmerten feucht.

An vielen Stellen waren die Verkleidungen heruntergerissen, häßliche Löcher klafften in den Bernsteinwänden, Rosetten und Girlandenstücke fehlten — ein Anblick, der einem das Herz zerreißen konnte. Aber das Zimmer war leer. De deutschen Soldaten hatten es räumen müssen. Was sie zurückgelassen hatten, waren verdreckte Polster auf den Sesseln und Kanapees, einen durch Nagelstiefel beschädigten Fußboden, eine Menge Papier, Dosen und Flaschen und an einer nackten Frauenfigur aus Bernstein ein Pappschild:»Wichsen verboten!«

«Ein deutscher Soldat zerstört nichts…«wiederholte Wachter leise die Worte Dr. Wendlers.»Und wir waren immer stolz darauf, Deutsche geblieben zu sein. Jetzt schäme ich mich.«

Er senkte den Kopf, schloß die Augen —, und Jana ließ ihn allein mit seinem Schmerz, sprach ihn nicht an, sagte kein Wort und biß die Zähne zusammen.

Was sollte man auch sagen? Krieg war, und jeder Eroberer benimmt sich wie ein Eroberer… seit Jahrtausenden…

Sie schraken zusammen. Hinter ihnen klappte die Tür zu. Sie drehten sich schnell um und sahen, daß General von Kortte ins Zimmer gekommen war. Er warf einen kurzen Blick durch den Saal und hob in stummer Resignation die Schultern.

«Ich war bei Ihnen, Herr Wachter«, sagte er.»Aber Sie waren nicht in Ihrer Wohnung. Wo anders als im Bernsteinzimmer kann er sein, dachte ich, und so ist es. Ich weiß, was Sie sagen wollen… es bleibt mir nur die beschämende Pflicht, mich für meine Soldaten zu entschuldigen. Davon haben Sie nichts, davon kommen die herausgebrochenen Stücke nicht wieder, vier Soldaten warten auf ihre Bestrafung, den anderen ist nichts nachzuweisen… ein Krieg fordert vielerlei Opfer. «General von Kortte schritt die Wände ab, betrachtete die freigelegten Bernsteinvertäfelungen, die Figuren, Gemälde, Rosetten und Girlanden und blieb nach diesem Rundgang wieder vor Michael Wachter und Jana Petrowna stehen.

«Ich verstehe ja wenig davon«, sagte er.»Museen waren mir immer ein Greuel. Eine Ansammlung toter Gegenstände… ich habe es lieber mit lebenden Menschen zu tun. Aber das erkenne ich jetzt doch: Das hier ist von unschätzbarem Wert. Das ist ein Kunstwerk, das einen nicht kaltlassen kann. «Er zögerte und fügte dann hinzu:»Wie ich Ihnen schon gesagt habe, im Reich scheint man genauso zu denken.«

«Was… was meinen Sie damit, Herr General?«Wachters Stimme bekam einen besorgten Unterton.»Was haben Sie gehört?«

«Morgen treffen zwei Sonderkommissionen bei uns ein, ein >Sonderkommando AA<, das heißt vom Außenministerium, und Herren des >Einsatzstabes Rosenberg<. Sämtliche Herren sind Kunstwissenschaftler, Museumskonservatoren, Kunstsachverständige. Experten also. Warum wohl strömen sie aus allen Ecken nach Puschkin und ausgerechnet zum Katharinen-Palast?!«

«Ja, das ist kein schweres Rätsel, Herr General. «Wachter stützte sich schwer auf Janas Schulter. Ihm war, als weichten die Knochen seiner Beine auf.»Was raten Sie mir? Was soll ich tun?«

«Nichts.«

«Das ist verdammt wenig.«

«Etwas anderes bleibt Ihnen gar nicht übrig, Herr Wachter. «General von Kortte sah Jana fragend an. Eine Rote-Kreuz-Schwester zur Betreuung eines Niedergeschlagenen… wer hatte diesen Luxus angeordnet? Aber er fragte nicht weiter nach, wie alle anderen, für die eine Schwester im Einsatz ein gewohntes Bild war.»Kann ich etwas für Sie tun?«

«Die Sonderkommandos nicht in das Schloß lassen, Herr General.«

«Wie stellen Sie sich das vor? Der Chef der 18. Armee, Generaloberst von Küchler, hat sie mir angekündigt. Ich kann doch nicht zu dem Generaloberst sagen: Rufen Sie die Herren zurück!«

«Warum nicht?«

«So kann nur ein Zivilist fragen. Erstens kann ich dem Generaloberst keine Vorschriften machen, und zweitens unterstehen die Sonderkommandos nicht der Befehlsgewalt des Heeres, sondern nur ihren Ministerien. Ich werde einen Teufel tun, Ribbentrop oder Rosenberg anzusprechen. «General von Kortte stieß wieder die Tür auf und wandte sich zum Weggehen. Aber im geschnitzten, vergoldeten Türrahmen drehte er sich noch einmal um.»Machen Sie keine Dummheiten!«sagte er ernst.»Ein Mensch ist ersetzbar, dieses Kunstwerk nicht… wo immer es stehen wird. Ihre Familie hat jahrelang vorbildlich ihre Pflicht getan. Auch das gibt es nicht wieder.«

Im Führerhauptquartier» Wolfsschanze «bei Rastenburg in Ostpreußen, im Norden der Masurischen Seenplatte, bereitete sich Reichsleiter Martin Bormann, der, Chef der Parteikanzlei und einer der wenigen Vertrauten Hitlers, auf die obligatorische Mittagstafel des Führers vor.

Zwar aß Hitler nur wenig und vorwiegend vegetarisch, aber das beeinträchtigte in keiner Weise die tägliche Spannung, die diesem Mittagsmahl vorausging. Die Tischgespräche, die Hitler dabei führte, diese endlosen Monologe über seine Zukunftsgedanken, seine Ziele, seine Hoffnungen, seine Ansichten über Kunst und Wissenschaft, Strategie und Weltpolitik, Wirtschaft und nationalsozialistischer Rechtsreform, Außenpolitik und Baukunst entblößten von Tag zu Tag mehr das Wesen dieses Führers, der angetreten war, die ganze Welt zu verändern.

An diesem 22. September 1941 stand es fest, daß Leningrad nicht erobert werden sollte, sondern der Sturm auf Moskau vordringlicher war. Der Ring war geschlossen, die Blockade konnte beginnen, das Aushungern von 1,5 Millionen Menschen. Was an dieser Front entbehrlich war, wurde herausgezogen und in die Schlacht um Moskau geworfen, zuerst die 4. Panzergruppe von General Hoepner. Es war eine Entscheidung, die weder Stalin noch Schukow glaubten, nichts als ein Täuschungsmanöver, sagten sie, aber dann tauchte die 4. Panzergruppe im Norden Moskaus auf und bestätigte die Wahrheit: Leningrad wurde nicht mit Waffengewalt erobert… es sollte verhungern.

Martin Bormann ordnete ein paar Schreiben in einen Schnellhefter, kniff ihn unter den Arm und betrat kurz vor Hitler den Eßraum des Führers. Die Lagebesprechung war beendet, die Meldungen von den Fronten hatten Hitler erfreut, zwar war der Vormarsch der deutschen Armeen äußerst zäh und der W-derstand der Sowjets wuchs von Tag zu Tag, aber das große Ziel rückte immer näher: der Einmarsch deutscher Truppen in Moskau. Was Napoleon mißlungen war, würde der Führer in Kürze dem deutschen Volk und der Welt melden können: Zum ersten Mal in der Geschichte betrete ein europäisches Heer die Hauptstadt Rußlands.

An diesem Tag war Hitler mit sich, seiner Welt und seinen Generälen zufrieden. Man konnte sich schöneren Dingen zuwenden, zum Beispiel den Künsten.

Wie kaum ein anderer aus seiner Umgebung kannte Bormann den Führer, seine Stimmungen und seine Schwächen. Er ahnte fast immer richtig voraus, was Hitlers Geist außerhalb den militärischen Situationen beschäftigte. Oft lenkte er vorsichtig die Gespräche auf dieses oder jenes Thema, das er gerade für wichtig hielt.

Die Mittagstafel verlief wie immer. Hitler aß wenig, trank zum Nachtisch eine Tasse Tee, unterhielt sich kurz mit seinem Leibarzt Dr. Morell und wandte sich dann Bormann zu. Ein langer Monolog war gerade beendet. Zur Freude Bormanns hatte Hitler über seine Pläne gesprochen, nach dem Endsieg in Linz an der Donau, der Stadt, die er besonders liebte, ein gigantisches Museum zu bauen, über dessen Gestaltung sein Architekt Albert Speer schon nachdachte. Es sollte ein gigantischer Bau werden, der alles bisher Gesehene übertreffen und gegen den das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg wie eine Zwergenheimstatt wirken würde. Die wertvollsten Kunstschätze der Welt sollten in diesem Museum versammelt sein, eine riesige Walhalla der Kunst, gefüllt mit Plastiken und Gemälden, Teppichen und Gobelins, Goldschmiedearbeiten und Porzellanen, Möbeln und Büchern, Ikonen und Holzschnitzereien. Die unschätzbarsten Kulturgüter aus ganz Europa würden für alle Zeiten der Menschheit erhalten bleiben, deutscher Besitz für die kommenden tausend Jahre. Ein Erbe für Hunderte Generationen… denn Europa gehörte dem Deutschen Reich, daran zweifelte Hitler nicht einen Augenblick. Vor allem die unsagbaren Schätze im Osten, in den Schlössern, Klöstern und Kirchen, in den Zarenpalästen und den Palais der Fürsten und des russischen Hochadels sollten die Glanzstücke dieses Museums werden.

Schon gleich zu Beginn des Krieges wurde eine Verfügung herausgegeben, daß alle Kunstschätze aus den eroberten Gebieten von Experten begutachtet und selektiert werden sollten. Die besten und wertvollsten Stücke wurden danach ausgesondert, um nach dem Sieg nach Linz gebracht zu werden.

«Führervorbehalt «wurde diese Verfügung genannt. Hitlers Hand lag auf allem, was eine zweitausendjährige Kunst hervorgebracht hatte.

An diesem 22. September hatte Hitler vor der Tischrunde seinen großen Traum von Linz ausgebreitet. Aus den besetzten Ostgebieten waren lange Listen mit» sichergestellten «Schätzen eingetroffen, die Hitler in Begeisterung versetzten. Er warf einen kurzen Blick zu Bormann hinüber und lehnte sich weit zurück, die Hände über dem Leib zusammengelegt.

«Sie möchten etwas vortragen?«sagte er und wies dabei auf den roten Schnellhefter, der neben Bormann lag.»Fangen Sie an.«

«Mein Führer — «Bormann öffnete den Schnellhefter und überflog noch einmal schnell die Meldungen, die er darin gesammelt hatte.»Das Einsatzkommando >Hamburg< des Sonderkommandos AA, das sich bei Schließung des Rings um Leningrad im Verband der 18. Armee befand, hat einen Vorbericht geschickt. Ein großer Teil der Kunstschätze von Puschkin, von Gatschina, Pawlowsk und Petrodworez, dem ehemaligen Peterhof, sind gerettet worden, zum größten Teil unversehrt. Darunter befindet sich im Katharinen-Palast in Puschkin auch das wertvollste und schönste Kunstdenkmal: das Bernsteinzimmer. Es wäre wert, in Linz einen eigenen Saal zu bekommen. Fotos des Bernsteinzimmers liegen vor. Bitte, mein Führer.«

Bormann reichte Hitler vier großformatige Fotografien. Sie zeigten das Bernsteinzimmer von allen Seiten, die Deckengemälde und den eingelegten Fußboden. Es waren Ajfnahmen vor dem Krieg mit allen Möbeln und Bernsteinschränken und dem auf einem hohen, mit soldatischen Marmorfiguren umringten Sockel stehenden Reiterstandbild Friedrich des Großen. Auch die alten chinesischen Vasen waren zu sehen, die Bernstein-Intarsientischchen und der wunderschöne Bernsteinsekretär.

Lange sah sich Hitler die Fotos an. Dann gab er sie an Bormann zurück, nickte kurz und knapp:»Ich werde das Zimmer in Linz als einen Mittelpunkt aufstellen. Veranlassen Sie das

Notwendige. Es soll mit größter Sorgfalt vorgegangen werden. Wer soll die Leitung übernehmen?«

«Ich denke an Dr. Herbert Wollters oder Dr. Hans-Heinz Run-nefeldt. Sie sind Experten, vor allem für Bernstein.«

«Am besten beide. «Hitler trank einen Schluck Tee und schien sehr zufrieden zu sein. Man sah es an seinen Händen — er rieb sie aneinander.»Sie sollen sofort beginnen. Und die anderen Kunstwerke?«

«Sie werden im Rahmen der Aktion Bernsteinzimmer sichergestellt werden. «Bormann warf wieder einen Blick in seinen Schnellhefter.»In den Schlössern Puschkin und Pawlowsk sind es vor allem noch seltene Bücher aus vier Jahrhunderten… man schätzt über 50 000 Bände. Daneben hat man noch eine sensationelle Ikonensammlung entdeckt. Auch das wäre etwas für Linz, mein Führer.«

Hitler nickte wieder.»Kümmern Sie sich darum«, sagte er.»Ikonen… darin lebt Rußlands Seele.«

Er begann einen langen Monolog über Ikonen, Kirchenschätze und den ungeheuren Einfluß des Christentums auf die Kunst des Mittelalters.

Bormann entschuldigte sich und verließ den Eßraum. Er war einer der wenigen, der die Mittagsrunde vor Hitler verlassen durfte.

Am 26. September bekam der Oberbefehlshaber des Heeres ein Schreiben von der Adjutantur der Wehrmacht beim Führer. Darin hieß es:

«Der Führer hat nach Vortrag von Reichsleiter Bormann entschieden, daß der Leiter des Außenamtes der staatlichen Museen, Dr. Hans-Heinz Runnefeldt, der zur Zeit als Sonderführer die Betreuung der Kunstschätze in Reval ausübt, so eingesetzt wird, daß er auch für weitere Aufgaben auf dem Gebiet, z. B. Sicherstellung der Kunstschätze von Zarskoje Selo, Peterhof und Oranienbaum und späterhin auch Petersburg zur Verfügung steht…«

Das» deutsche Gold der Ostsee«, wie Hitler den Bernstein von jeher genannt hatte, das größte Kleinod, das Bernsteinzimmer in Puschkin, war» Führervorbehalt «geworden. Bestimmt für das gigantischste Museum, das die Welt besitzen sollte, den» ewigen Bau «in Linz an der Donau.

Die beiden Expertenkommissionen, das Sonderkommando AA und der Einsatzstab Rosenberg trafen im Abstand von zwei Tagen im Katharinen-Palast ein. Sie meldeten sich bei General von Kortte und legten ein Schreiben von Generaloberst von Küchler vor, dem Oberbefehlshaber der 18. Armee, die den Einschließungsring um Leningrad errichtete und zu deren Verwaltungsgebiet nun auch Puschkin gehörte. Von Kortte las das Schreiben und machte eine weite Handbewegung.

«Sehen Sie sich um, meine Herren«, sagte er.»Ich kann's nicht ändern.«

Der Leiter des Sonderkommandos AA, das zuerst in Puschkin auftauchte, überhörte höflich den Sarkasmus des Generals.»Dr. Herbert Wollters«, stellte er sich vor.»Ich handele im Auftrag des Herrn Reichsaußenministers von Ribbentrop und einer Sondervollmacht der Parteikanzlei.«

«Das haben Sie eben schriftlich gegeben, Herr Hauptmann. «Von Korttes Stimme war abweisend.»Ich habe es zur Kenntnis genommen.«

«Rittmeister, Herr General…«

«Wie bitte?«Der General hob die Augenbrauen, der Ton war wie vereist.

«Ich bin Rittmeister, Herr General.«

«Ist das nicht das gleiche wie Hauptmann?«Die Stimme wurde schroff und die Worte zerhackend.»Ihre Belehrungen habe ich nicht nötig. Ich war selbst Rittmeister, da ochsten Sie noch auf der Penne.«

«Ich bitte um Verzeihung, Herr General.«

«Schon gut. «Von Kortte winkte ab.»Eine Ordonnanz wird Sie durchs Schloß führen. Wo fangen Sie an?«

«Ich habe die Grundrißpläne bei mir. «Dr. Wollters klopfte gegen die lederne Aktentasche, die er unter dem Arm trug.»Beim Bernsteinzimmer.«»Das habe ich erwartet. «Von Kortte ging zum Telefon auf seinem Schreibtisch, drehte eine Nummer und sagte kurz:»Viebig, kommen Sie zu mir.«

Als hätte er vor der Tür darauf gewartet, trat sofort ein junger Leutnant ein.»Herr General?«fragte er in strammer Haltung.»Der Herr Rittmeister vom AA — «von Kortte betonte das Rittmeister besonders deutlich und genüßlich —»möchte zum Bernsteinzimmer und dann durch das ganze Schloß geführt werden. Begleiten Sie ihn.«

Dr. Wollters verabschiedete sich zackig mit einem Nicken, dem er den Hitlergruß hinzufügte. Es war für von Kortte das erste Mal, daß er einen Offizier damit grüßen sah und nicht mit der Hand am Mützenschirm. Er verkniff sich eine neuerliche Bemerkung, drehte sich um und wandte Dr. Wollters den Rücken zu. Es war ein stummer, aber deutlicher Hinauswurf. Michael Wachter saß auf einem Schemel im Bernsteinzimmer, als wollte er seinen Namen in die Tat umsetzen: er bewachte es. Notdürftig hatte er die Holz- und Pappverschalungen wieder geflickt, hatte den herrlichen Fußboden vom Sand befreit und gesäubert und hatte versucht, die Schmutzflecken von den Seiden- und Damastbezügen der Möbel zu entfernen. Jana Petrowna half ihm dabei. Sie war noch immer im Katharinen-Palast und wohnte bei ihrem zukünftigen Schwiegervater — falls Nikolaj die Belagerung Leningrads und den Krieg überlebte.

Vor kurzem hatte sie Wachter den Verband abgenommen. Er trug jetzt ein breites Pflaster auf dem Kopf, nachdem man ihm die Haare kreisrund wie eine Tonsur abrasiert hatte. Einige Witzbolde nannten ihn seitdem» Pater Michaelus «und baten um einen Beichttermin. Wachter machte das Spiel mit; die Hauptsache war, man fragte nicht mehr und sah ihn als Faktotum, als ein Teil der Einrichtung des Schlosses an.

Dr. Wollters blieb mitten im Saal stehen und sah sich um. Den Intarsienfußboden kann man ausbauen, dachte er. Die großen Bernsteintafeln, die Plastiken der Krieger und Göttinnen, vor allem die Masken der» Sterbenden Krieger «am oberen Vries, die, wie man vermutete, sogar von dem berühmtesten Bildhauer der damaligen Zeit, Andreas Schlüter, stammen sollten, waren ebenfalls ohne Schwierigkeiten abzutransportieren, nur die Deckengemälde bereiteten ihm einige Sorgen. Es würde äußerst schwierig sein, die bemalte Deckenschicht herauszuschälen.

Dr. Wollters kannte dieses Zimmer bis ins Detail, und das nicht nur von Fotos. Noch 1937 war er als Gast des Leiters des Städtischen Museums in Leningrad gewesen, hatte die Schätze in den Ausstellungssälen bewundert und war dann mit ihm hinaus nach Puschkin gefahren, zum Katharinen-Palast. Voll stummer Bewunderung, ja mit echter Ergriffenheit hatte er im Bernsteinzimmer gestanden und das goldene Farbenspiel auf sich wirken lassen.

«Guten Tag!«sagte Wachter laut.

Dr. Wollters, der grußlos ins Zimmer gekommen war, als hätte er den Mann auf dem Schemel nicht gesehen, warf einen Blick zur Seite, wie wenn er angespuckt worden wäre. Er erwiderte den Gruß nicht, sondern fragte hochmütig:

«Wer sind denn Sie?«

«Sie müßten mich kennen, mein Herr«, sagte Wachter und blieb auf seinem Schemel sitzen.

«Ich — Sie? Nicht daß ich wüßte. Woher denn?«

«Sie waren schon einmal hier. Mit dem Direktor der Leningrader Städtischen Sammlungen. War's 1937… ich weiß es nicht mehr genau. Aber ich habe Ihr Gesicht nicht vergessen.«»Behalten Sie all die Gesichter der Tausenden, die das Bernsteinzimmer besucht haben?«fragte Dr. Wollters und lächelte mokant.

«Nein. Nur wenige, aber Ihres ist dabei: Damals haben Sie gesagt: >Das ist das wundervollste aus Bernstein, das es auf der Welt gibt!< Fast genau an der gleichen Stelle wie jetzt standen Sie damals. Das habe ich nicht vergessen.«

«Sie sind hier einer der Museumsdiener?«

«Ich bin der Verwalter des Bernsteinzimmers. Mein Vorfahr Friedrich Theodor Wachter hatte diesen Auftrag von König Friedrich Wilhelm I. erhalten und ist mit dem Bernsteinzimmer zu Zar Peter I. nach Sankt Petersburg gekommen.«»Der letzte einer Dienerdynastie. Sieh an!«Dr. Wollters Hochmut schien ohne Grenzen.»Die Nachwelt wird Ihnen dankbar sein, daß Sie das Bernsteinzimmer so gut gepflegt haben.«

«Was geschieht jetzt mit dem Zimmer?«fragte Wachter. Die Arroganz von Dr. Wollters tropfte an ihm ab wie von einer Wachstuchhaut. Vielleicht hätte sein Vater Igor Ger-manowitsch an seiner Stelle zugeschlagen und diesen Herrn mit Faustschlägen aus dem Saal getrieben. Aber was brachte das? Nur Ärger, nur eine Verhaftung, lange Verhöre, eine Entfernung von Puschkin, eine Strafversetzung nach Deutschland, sogar an die Front konnte man ihn noch schicken mit seinen 55 Jahren, er war ja ein Deutscher… also war es klüger, den Demütigen zu spielen.

«Was geht Sie das an?«Dr. Wollters betrachtete wieder die Deckengemälde. Ohne Beschädigungen gelingt der Ausbau nie, dachte er. Man wird sie nachher vorsichtig restaurieren müssen. Im Notfall malt man sie nach den vorhandenen Detailbildern nach. Es gibt nun mal Grenzen, jeder Experte muß mir da recht geben.

«Ich habe die Verpflichtung, beim Bernsteinzimmer zu bleiben.«

«Kaum zu glauben, daß der Führer sich auch verpflichtet fühlt! Aber Sie können sich ja bewerben. Das ist nicht meine Sache. Nur mache ich Ihnen wenig Hoffnungen, daß man Sie nach Linz holt.«

«Das Zimmer kommt nach Linz?«fragte Wachter. Seine Stimme hatte jeden Klang verloren.

«Nach dem Endsieg. Es wird also nicht mehr lange dauern — «»Und wo liegt Linz?«

Dr. Wollters sah Wachter an, als habe ein Affe einen Grunzlaut von sich gegeben. Ja, war das denn die Möglichkeit? Der Kerl kannte Linz nicht? Gab's denn so was? Eine Art Analphabet bewachte einen der größten Kunstschätze der Welt?! So etwas war auch nur bei den Bolschewiken möglich.

«Linz liegt an der Donau«, sagte Dr. Wollters widerwillig.»Im früheren Österreich. Jetzt gehört es zum Großdeutschen

Reich. Haben Sie nicht mitgekriegt, daß der Führer seine Heimat eingegliedert hat? Haben Sie 1938 verschlafen? Linz wird einmal die Kunstmetropole dieser Welt sein. Der Führer plant Gigantisches. Aber warum erzähle ich Ihnen das… Sie begreifen es ja doch nicht.«

«Nein, ich begreife es nicht. «Wachter faltete die Hände im Schoß. Wie ein Stein legte sich die Sorge auf sein Herz.»Ich begreife vieles nicht.«

«Es scheint so. «Dr. Wollters drehte sich zu dem jungen Ordonnanzoffizier um, der an der offenen Tür wartete. In seinem Blick war zu lesen, daß er diesen Kunstexperten widerlich fand. Das Bernsteinzimmer interessierte Leutnant Viebig überhaupt nicht — es war die Art und Weise, wie Wollters sprach, die ihn abstieß. Eine durch und durch arrogante Sau, dachte er. Denkt, er sei etwas Besonderes, weil er vom AA kommt. Nicht zu hoch die Nase, Herr Rittmeister, es könnte hineinregnen.

«Gehen wir!«sagte Wollters zackig.»Die anderen Säle und die Keller. Meine Leute müssen eine Bestandsaufnahme machen. Erstaunlich, was die Russen hier zurückgelassen haben. «Er lachte abgehackt.»Wir waren ihnen zu schnell. Gott sei Dank, muß man da sagen — «

Wachter wartete noch zehn Minuten, als Dr. Wollters gegangen war. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Kunstexperte nicht mehr in der Nähe war, verließ er schnell das Bernsteinzimmer. Er rannte hinüber zum Gesindeflügel, warf in seiner Wohnung die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Schwer atmend lehnte er sich gegen den Rahmen.

Jana Petrowna sah ihn betroffen an. Wachters verzerrtes Gesicht verhieß nichts Gutes. Sie war gerade damit beschäftigt, den Bezug eines Gobelinsessels mit einer milden Seifenlauge von Flecken zu reinigen. Etwas anderes als Seife gab es nicht.»Hör auf damit!«schrie Wachter und ließ sich auf sein Sofa fallen.»Hör auf! Zerschneid lieber alles, zerreiß es…«

«Was… was ist denn passiert, Väterchen?«fragte sie arschrocken.

Wachter atmete ein paarmal tief durch, wurde ruhiger und wischte sich mit beiden Händen über die Augen.»Es ist soweit. Sie werden es ausbauen«, sagte er dann dumpf.»Wollen es nach Linz bringen. In ein Museum. Linz an der Donau, Töchterchen. Weit weg von hier. Hitler will das Bernsteinzimmer unbedingt haben. Ich weiß es jetzt sozusagen amtlich. O Gott, laß das nicht zu, tu ein Wunder…«

«Wann wollen sie das Zimmer ausbauen?«

«Ich weiß es nicht, Janaschka. Bald, hat er gesagt, bald. Und keiner kann das verhindern.«

«Du wirst mit dem Bernsteinzimmer mitgehen, Väterchen.«»Wegjagen werden sie mich! Sie kriegen es sogar fertig, mich zu erschießen. Du hast nicht seine Augen gesehen… diese kalten Augen, dieses steinerne Gesicht.«

«Sie werden dich nicht töten, Väterchen. Nur zurücklassen werden sie dich.«

«Genügt das nicht?«Wachter starrte Jana Petrowna wie ein Sterbender an.»Auch das ist Tod — «

«Ich werde dann an deiner Stelle bei dem Zimmer bleiben, wie wir es ausgemacht haben«, sagte sie und versuchte, ihn durch ein Lächeln zu besänftigen.»Verlaß dich auf mich, Väterchen. Nicht aus den Augen werde ich es lassen.«

«Auch dich werden sie wegjagen, Jana.«

«Nein. Eine Schwesterntracht trage ich, ein Rotes Kreuz… unangreifbar bin ich für einen Deutschen. Im ersten Transportwagen werde ich sitzen und mitfahren, wohin auch immer das Bernsteinzimmer kommt. Und keiner wird lange fragen, warum ich mitfahre.«

Wachter schüttelte den Kopf. Ein Wahnsinn war das, dachte er. Auch wenn sie recht haben sollte, daß die Schwesterntracht sie schützt… es blieb ein Wahnsinn. Er sah Jana Petrowna aus traurigen Augen an und erschrak über ihre Entschlossenheit.

«Viel zu gefährlich, Jana.«

«Ich habe keine Angst.«

Zwei Tage später — Dr. Wollters und sein Sonderkommando AA waren wieder abgezogen mit dem Versprechen, bald wieder zurückzukommen — fuhren die Experten des» Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg«, militärisch abgekürzt ERR, vor dem Katharinen-Palast vor. Ihr Leiter, ein Kunstexperte und Kunsthistoriker im Range eines Majors, meldete sich bei General von Kortte. Der diensthabende Wachoffizier benachrichtigte über Telefon den General, während ein Feldwebel die Herren zum Chinesischen Zimmer führte.

Von Kortte tat es wohl, gleich bei ihrem Eintritt zu sagen:»Meine Herren, den Weg hätten Sie sich sparen können. Das Auswärtige Amt war schneller. Sie kommen zwei Tage zu spät. Alle Kunstschätze sind bereits katalogisiert. Möchten Sie einen Kognak zur Beruhigung?«

Der Major, er stellte sich als Heinrich Müller-Gießen vor, verbarg nicht seine Enttäuschung. Er machte vor von Kortte eine knappe Verbeugung.»Verbindlichsten Dank, Herr General«, sagte er.»Uns war unbekannt, daß die Kameraden vom AA schon hier waren.«

«Aha! Es schwirren also noch mehr Trupps herum, um Kunstwerke sicherzustellen? Man sollte eine Koordination versuchen und nicht Hase und Igel spielen.«

Major Müller-Gießen überhörte den Spott, nahm sich aber vor, solche Bemerkungen in seinem nächsten Bericht an Rosenberg zu erwähnen. Schließlich war Rosenberg der neue Reichsminister für die besetzten Ostgebiete und sein» Sonderstab Bildende Kunst «als erster damit beauftragt worden, das gigantische Kunstprojekt Linz des Führers mit außergewöhnlichen Kunstschätzen zu füllen. Zudem lag ein Vorschlag Rosenbergs bei Hitler vor, seinem Einsatzstab das alleinige Recht der Sammlung zu übertragen und alle bisher von anderen Organisationen sichergestellten Kunstgegenstände in seine Verwaltung zu geben.

«Wir möchten trotzdem das Schloß besichtigen, Herr General«, sagte Müller-Gießen unbeeindruckt.»Wir haben einen Auftrag von höchster Stelle, den wir erfüllen müssen.«

«Bitte, ich hindere Sie nicht. «General von Kortte machte, wie bei Dr. Wollters, eine allesumfassende Handbewegung.»Registrieren Sie, zählen Sie, bewerten Sie… wie heißt's so schön? Doppelt genäht, hält besser.«

Dieses Mal saß nicht Wachter auf seinem Schemel im Bernsteinzimmer, Jana Petrowna stand im Saal, als Müller-Gießen und die anderen Sachverständigen eintraten. Mit hochgezogenen Brauen betrachtete sie die graugrünen Uniformen.

«Ah, ein kunstliebendes Schwesterchen!«sagte MüllerGießen, plötzlich wieder gut gelaunt. Wie für die meisten Soldaten war auch für ihn eine Rote-Kreuz-Schwester zuerst ein Objekt männlichen Interesses.»Nicht wahr, das ganze Palais ist ein Wunderwerk der Kunst. Aber hier, das Bernsteinzimmer, ist einsame Klasse. Nur sehen Sie leider jetzt nicht viel. Die ganze Pracht werden wir Ihnen dann nach dem Sieg in Linz zeigen. Es wird sich lohnen, nach Linz zu kommen.«»Bestimmt werde ich nach Linz kommen, bestimmt… wenn das Bernsteinzimmer dort sein wird. «Janas Lächeln bezauberte Müller-Gießen in Sekundenschnelle. Er war Professor für Kunstgeschichte, schon Anfang Fünfzig, und zu Hause in Würzburg wartete eine etwas dickliche Frau auf ihn und eine Tochter, die Lehrerin war.

Mit fünfzig Jahren kann einen das Lächeln einer hübschen Krankenschwester bis ins Herz treffen. Müller-Gießen versuchte einen uralten Trick. Er sagte charmant:

«Die Kunst nimmt Sie gefangen, Schwesterchen? Darf ich den Gefangenenwärter spielen? Ich erkläre Ihnen gern die Schätze des Katharinen-Palastes. Staunen werden Sie, wo Sie hier sind. Wie war's mit heute abend?«

«Da habe ich Dienst. «Janas Lächeln verstärkte sich. Instinktiv spürte sie, daß dieser Mann in der Offiziersuniform ein wichtiger Mann war.

«Dann morgen?«

«Wie lange bleiben Sie in Puschkin?«

«In Puschkin? Bestimmt fünf Tage. Wir haben auch noch die anderen Paläste zu besuchen und aufzulisten. «Müller-Gießen spürte ein Jucken unter den Haarwurzeln und genoß dieses Gefühl. Es war wie damals am 29. August 1940, als er in Frankreich die Kathedrale von Chartres besichtigte und dabei Lucienne Dambrous kennenlernte. Sie war ein süßes, neunzehnjähriges Mädchen gewesen mit schulterlangen blonden Haaren und hatte ihn seelisch völlig außer Kontrolle geraten lassen, als sie die Nächte bei ihm blieb. Er überschüttete sie mit Schokolade, Wein, Kognak und kleinen Kunstwerken, die er in Kirchen und Museen» sicherstellte«. Jetzt stand ihm eine schwarzhaarige Schönheit gegenüber, blinzelte ihn an, und unter seiner Kopfhaut juckte es.»Also dann morgen abend«, sagte Müller-Gießen forsch.»Schwesterchen, ich zeige Ihnen alles, was Sie wollen.«

Die anderen Herren in seiner Begleitung, ausnahmslos Kunstwissenschaftler, grinsten breit. Ja, der Major, das war ein Draufgänger… im wahrsten Sinne des Wortes.

Michael Wachter saß in seinem Wohnzimmer auf dem Biedermeier-Sofa, seinem Lieblingsmöbel, das er aus dem Gartensaal zu sich genommen hatte, nicht weil es besonders wertvoll war — da gab es im Schloß hundertmal kostbarere Möbel, sondern weil es sich bequem darauf ausruhen ließ. Man konnte sich langstrecken, hatte immer einen warmen Rücken durch die hohe Lehne und ein festes Polster unter sich. Er hatte einen alten Katalog vor sich und blätterte darin herum. In ihm waren alle Kunstgegenstände aufgeführt, die im Katharinen-Palast einmal zu besichtigen gewesen waren, als ganz Zarskoje Selo noch ein riesiges, in der Welt einmaliges Museum gewesen war. Selbst jetzt, nachdem sich die russischen Sondereinheiten zurückgezogen hatten, war noch genug vorhanden, um das Herz jedes Kunstsachverständigen höher schlagen zu lassen.

Wachter blickte auf, als Jana Petrowna in die Wohnung kam.»Sie sind da, Väterchen«, sagte sie rnd ließ sich in einen Sessel fallen.

«Jana!«

Sie verzog den Mund und nickte.»Herr Wachter… ich weiß. Geführt werden sie von einem älteren, geilen, widerlichen Offizier. Er will mich morgen abend abholen und mir alles zeigen. Ich weiß, was er mir zeigen will!«

«Natürlich gehst du nicht hin. «Wachter musterte sie forschend.»Oder…?«

«Verstecken werde ich mich. «Sie nahm einen Schluck von dem kalten Tee, der in einer großen Tasse auf dem Tischchen stand. Überrascht zog sie das Kinn an und holte tief Atem.»Da ist ja Wodka drin!«

«Ja. Ein wenig.«

«So wenig, daß es einem die Kehle durchbrennt!«»Töchterchen — «

Jetzt rief sie:»Herr Wachter!«und hob mahnend die Finger. Doch dabei lachte sie.

«Fräulein Rogowskij… So ein Tee beruhigt die Nerven. Ich habe es nötig. «Wachter legte den Katalog auf das Sofa.»Was haben Sie erfahren?«

«Sie tun so, als wollten sie morgen das Bernsteinzimmer ausbauen.«

«Haben sie das gesagt?«

«Ich habe gehört, wie einer der Offiziere zu einem anderen leise sagte: >Wie kriegen wir diese Deckenmalerei heil her-aus?< Das heißt doch, daß sie das Zimmer mitnehmen. «Wachter erhob sich von seinem Sofa und zog seine dünne Jacke über das Hemd.»Ich sehe mir das mal an«, sagte er mit belegter Stimme.»Vielleicht ist das unser Glück. Da streiten sich zwei Nazi-Räuber um die gleiche Beute. Bis sie sich einig sind, wer weiß, wie dann die Welt aussieht? Sie verändert sich jetzt von Tag zu Tag.«

Er verließ die Wohnung, ging langsam von seinem Wohntrakt durch das Schloß. Die an ihm vorbeieilenden Soldaten, meist Offiziere der Stäbe, beachteten ihn nicht. Aus zwei Sälen, in denen Mannschaften sich niedergelassen hatten, erklangen Lachen, Stimmengewirr und zog der Geruch von vielen Zigaretten auf die Gänge. Er begegnete dem Adjutanten von General von Kortte, der ihn freundlich grüßte, und betrat dann das Bernsteinzimmer. An der Tür blieb er stehen und sah eine Weile stumm zu, wie die Experten des» Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg«, die einige der Verkleidungen von den Wänden wieder herausgerissen hatten, nun voll staunender Bewunderung davorstanden. Sie sahen das Bernsteinzimmer zum ersten Mal. Bisher kannten sie es nur von Fotos und aus Beschreibungen.

Müller-Gießen spürte, daß jemand den Raum betreten hatte und ihn musterte. Es war ihm, als sei ein Brennglas auf seinen Nacken gerichtet. Schnell drehte er sich um und starrte Wachter böse an.

«Wer sind Sie denn?!«fragte er in scharfem Ton.»Wie kommen Sie hier herein?!«

«Durch die Tür, Herr Major.«

«Lassen Sie diese dämlichen Bemerkungen!«bellte MüllerGießen.»Raus mit Ihnen! Halt! Hiergeblieben! Wieso kommen Sie als Zivilist in dieses Schloß?!«

«Ich gehöre zum Palais. Ich wohne hier.«

«Wie lange denn?«

«Von meiner Geburt an.«

«Aahh — «Das klang gedehnt und angriffslustig.»Ein Russe also?!«

«Nein, ein Deutscher. «Wachter machte eine weite Handbewegung, die das ganze Zimmer umfaßte. «Ich verwalte das Bernsteinzimmer.«

«Seit wann?!«

«Seit 1716…«

Müller-Gießen verzog sein Gesicht, als habe er Essig getrunken. Doch dann brüllte er los, und brüllen konnte er vorzüglich. Er benutzte dabei wie ein Sänger die Zwerchfellatmung.

«Sie Idiot! Was nehmen Sie sich heraus?! Sie O-beiniger Zivilist! Ich werde Ihnen abgewöhnen, sich über andere lächerlich zu machen! Wer ist Ihr Vorgesetzter?!«

«Ich habe keinen Vorgesetzten.«

«Sie haben keinen… Mann, wer ernährt Sie denn? Bei wem sind Sie angestellt?!«

«Zur Zeit lebe ich in einem Niemandsland.«

«In Deutschland leben Sie!«schrie Müller-Gießen und wurde rot im Gesicht.»Wo wir sind, ist Deutschland! Das werden Sie noch begreifen lernen. «Er atmete tief ein.»Sie verwalten das Bernsteinzimmer? Na gut, werde ich nachforschen. Das Zimmer wird in den nächsten Tagen ausgebaut.«»Von wem?«

«Das geht Sie einen Scheißdreck an, Mann!«

«Aber ich weiß es, Herr Major: Das Sonderkommando des AA…«

Es war ein Hieb, der saß. Genau in die Magengrube von Müller-Gießen. Die anderen Herren hatten sich umgedreht und verfolgten interessiert die Auseinandersetzung ihres Chefs mit diesem schäbiggekleideten Zivilisten.

«Ist das sicher?«bellte Müller-Gießen.

«Ein Herr Dr. Wollters, Rittmeister Wollters, ließ das verlauten.«

«Wollters. Ausgerechnet Wollters!«schrie Müller-Gießen. Gegen diesen Namen war er allergisch. Bauchschmerzen bekam er, wenn er an ihn dachte. Schon siebenmal war Dr. Wollters schneller gewesen als Müller-Gießen, und immer hatte er von Reichsleiter Martin Bormann recht bekommen. Gegen Bormann kam keiner an, am wenigsten Rosenberg. Es gab eine Reihe von hohen Parteigenossen, die Bormann, nach außen hin immer höflich, innerlich aber für sich abhakte: Neben Rosenberg war das vor allem auch Josef Goebbels. Aber jetzt, hier beim Bernsteinzimmer, wollte Müller-Gießen Sieger bleiben. Er brauchte nur einige Lastwagen, vielleicht 20 oder 22 Stück… und das war ein Problem, das er im Augenblick noch nicht lösen konnte. Aber das AA auch nicht, das war sicher. Zwanzig Lastwagen zu bekommen, um Kunstschätze zu transportieren, war ebenso schwierig wie der Abbau der Deckengemälde.

«Was hat Wollters noch zu Ihnen gesagt?«Müller-Gießen sprach den Namen so voller Ekel aus, als wollte er sich jeden Augenblick erbrechen.

«Nichts.«

«Termine?«

«Keine. Nur: So schnell wie möglich.«

«Das >wie möglich< beruhigt mich etwas. Er kann auch nicht zaubern.«

«Die Männer von Ribbentrop hatten ein Schreiben aus dem Führerhauptquartier bei sich. Auf Veranlassung von

Bormann — «

«O Scheiße! Scheiße!«Müller-Gießen schlug erregt die Fäuste gegeneinander. Die anderen Herren zogen betretene Gesichter. Wiederholte sich zum achten Mal der Wettlauf der beiden Kunstsammler?» Wie rief Richard III. bei der Schlacht von Bosworth? >Ein Pferd! Ein Pferd! Ein Königreich für ein Pferd!< Ich brauche kein Pferd… ich brauche zwanzig Lastwagen! Meine Herren, wir werden doch noch für den Führer zwanzig Lastwagen auftreiben können!«

Es zeigte sich, daß Müller-Gießen die Lage unterschätzt hatte. Schon bei General von Kortte blitzte er eiskalt ab. Als MüllerGießen zu ihm sagte, er brauche sofort, sofort betonte er noch einmal, zwanzig Lkws, sah ihn von Kortte fast mitleidig an und tippte sich dann an die Stirn.

«Herr Major, Sie spinnen«, sagte er abgehackt.

«Ihr Armeekorps wird doch wohl zwanzig Wagen haben.«»Zum Munitionstransport. Für Verpflegung, Nachschub, zur schnellen Verlegung von Truppen an die Front, zum Rücktransport von Verwundeten… aber doch nicht für Wände aus Bernstein!«

«Es handelt sich um Besitztümer des Führers!«

«Dann soll der Führer mir persönlich einen Befehl dazu geben.«

«Herr Reichsleiter Rosenberg — «

«Mein Vorgesetzter ist der Kommandierende der Armee und der Oberbefehlshaber der Wehrmacht.«

«Unser Sonderauftrag ist klar umrissen, Herr General.«

«Das kann ich nicht entscheiden. Wenden Sie sich an den Oberbefehlshaber der 18. Armee, Generaloberst von Küchler. Wenn es Lkws gibt, dann nur mit seiner Genehmigung.«

«Das heißt: Sie wollen nicht?«

«Ich kann nicht. «Von Korttes Stimme schwamm in Ironie. Es tat ihm in der Seele gut, Müller-Gießen ebenso abfahren zu lassen wie diesen hochnäsigen Dr. Wollters.»Als Akademiker sollten Sie den Unterschied zwischen Können und Wollen verstehen. Ich bedaure, Herr Major.«

Damit war Müller-Gießen entlassen. Er stand stramm, grüßte kurz und verließ wutschnaubend das Chinesische Zimmer. Auf dem breiten Flur, wo seine Herren warteten, machte er sich Luft.

«So ein Fatzke!«schrie er.»So ein Saboteur! Als ob wir Scheißhaufen wären! Das gibt eine Meldung an den Reichsleiter, das kann ich Ihnen sagen. Diesem Kortte werden noch die Augen überlaufen! Da werden sich jetzt andere Stellen um ihn kümmern! Ha, der kennt uns noch nicht. «Er winkte.»Gehen wir, meine Herren. «Er sah sich um. Wachter, der ihn zu General von Kortte geführt hatte, war nicht mehr da.»Wo ist dieser russendeutsche Zivilist?«

«Gegangen. Sollte er bleiben, Herr Major?«Ein Kunstexperte im Range eines Oberleutnants hob die Schultern.»Wir wußten nicht, daß…«

«Schon gut. Wir müssen sofort zum Hauptquartier der 18. Armee. Diesmal müssen wir die ersten sein!«Aber auch bei Generaloberst von Küchler kamen sie zu spät. Dr. Wollters war schon da gewesen. Und wie ihm ließ von Küchler durch einen seiner Adjutanten auch Müller-Gießen sagen, daß während der Kämpfe um Leningrad noch nicht mal ein Rad für außerkriegerische Zwecke zur Verfügung gestellt würde.

«Und jetzt geht's los!«sagte Müller-Gießen angriffslustig.»Wer zuerst die Lkws hat, ist Sieger. Meine Herren, wir bleiben hart am Mann.«

Im Schloß von Königsberg hatte Gauleiter Koch seine» Gauleitung Ostpreußen «eingerichtet. Für ihn war das Schloß der richtige und einzige Ort, an dem er wohnen und arbeiten konnte.

Drei Dinge liebte der ehemalige Maler und Anstreicher und jetzige Gauleiter und Reichskommissar für die Ukraine besonders: die Macht, die Frauen und den Prunk. Genau in dieser Reihenfolge. Die Macht besaß er, regierte wie ein König in Ostpreußen und der Ukraine, mit einer Grausamkeit, die Tausende von Männern, Frauen und Kindern in den Tod trieb, in Konzentrationslagern verschwinden ließ und die ganze Dörfer zerstörte, verbrannte und einebnete. Seine Macht und sein Haß auf die» slawischen Untermenschen «war so groß, daß selbst Rosenberg und der Chef der Polizei der Ukraine, der Höhere SS- und Polizeiführer Hans Prützmann, Beschwerde bei Hitler führten. Nur erreichten sie nichts… Koch war mächtiger.

Bei den Frauen hatte der Gauleiter selten mit Gegenwehr zu rechnen, aber nicht etwa, weil er ein schöner, charmanter Mann war. Koch war mittelgroß, hatte große, leicht abstehende Ohren und trug unter der breiten Nase einen kurzen Schnurrbart, eine» Fliege«, ähnlich wie sein von ihm vergötterter Führer Adolf Hitler, und saufen konnte er, als sei er ein endloser Schlauch. Seine Erfolge im Bett waren in den meisten Fällen auf die Angst der Frauen, ihm Widerstand zu leisten, zurückzuführen. Frauen nannte er grundsätzlich Weiber oder, wenn er in Stimmung war,»geile Wackelärsche «oder» Titten mit Beinen«. In Königsberg und über das ganze Land verstreut hatte er sich seine» Liebeslauben «eingerichtet. Am luxuriösesten war das alte, ehrwürdige Herrengut Nasza Polska (Unser Polen) zwischen Warschau und Nasielsk. Hier hatte Koch sein Schlafzimmer mit Spiegelwänden ausgestattet und über dem breiten Himmelbett ebenfalls einen riesigen Spiegel an der Decke anbringen lassen. Wohin man also beim Liebesspiel blickte… man sah sich von allen Seiten: ein Zimmer voll von kopulierenden Paaren. Hier fühlte sich Erich Koch wohl, hier war er der Sonnenkönig des Ostreiches. Weiber — das war Leben!

Mit der dritten Leidenschaft, dem Prunk, hatte er ein gespaltenes Verhältnis. Seine Pläne, sich wie ein echter Herrscher mit wertvollen Kunstschätzen zu umgeben, erfüllten sich nur teilweise oder zögernd. Zu viele waren nach den Eroberungen unterwegs, um sich mit Gemälden, Gobelins, Möbeln, Teppichen, Goldschmiedearbeiten oder Bibliotheken und Porzellanen einzudecken. Göring raubte für seine feudalen Landsitze Karinhall und Schorfheide, Rosenberg für Hitler und sein Linzer Traummuseum, Himmler für seine Villa auf dem Obersalzberg, Ribbentrop als Sammler für den Führer, Generalgouverneur Frank für seine Häuser, nur Martin Bormann zeigte wenig Interesse an der Kunst, dafür aber um so mehr für die Sammelleidenschaft der anderen. Immer wieder rügte er das Abtransportieren von unersetzlichen Kunstwerten, die dem» Führervorbehalt «unterlagen, mahnte die unbedingte Befolgung des Führerbefehls an und ließ alle oberen Reichsbehörden wissen, daß er sehr wohl über alles unterrichtet sei und im Namen des Führers eingreifen werde.

Gauleiter Koch beklagte im kleinen Freundeskreis sein Schicksal, immer nur die Brosamen einsammeln zu können, die ihm die Großen vom Kunsttisch übrig ließen. Natürlich reichte auch das aus, um seine Häuser mit herrlichen Kunstwerken zu schmücken, aber es war sozusagen die zweite Garnitur. Das verletzte Kochs Stolz ungemein… hier im Osten war er die Nummer eins, Ostpreußen der schönste aller Gauen. Wem also stand daher das Schönste aus den eroberten Schlössern, Bibliotheken, Klöstern und Museen zu?

Am 19. September 1941, als der Einschließungsring um Leningrad geschlossen war und Generalfeldmarschall Ritter von Leeb, der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, den Artilleriebeschuß der Stadt zur Demoralisierung der Bevölkerung befahl — ein Bombardement, das 18 Stunden dauerte, 18 Stunden lang ein Regen von Granaten —, hatte Gauleiter Koch seinen Vertrauten, den Gauamtsleiter Bruno Wellenschlag und den Direktor der Kunstsammlungen der Stadt Königsberg, Dr. Wilhelm Findling, zu einem Glas Wein in seine Wohnung eingeladen. Dr. Findling, mehr ein ernster und stiller Mensch, der die Wissenschaft liebte, als ein Zechkumpan, hatte vor der Einladung noch kräftig gegessen und sich Magnesiumpillen eingesteckt.»Das wird wieder eine Sauferei!«hatte er zu seiner Frau gesagt.»Koch hat angerufen.«

Sie saßen nun in tiefen Sesseln, tranken zum Auftakt des gemütlichen Abends eine Flasche französischen Kognak und hörten Erich Koch zu, der nichts Neues oder Bewegendes berichtete: Er lobte des Führers Tatkraft, Rußland in einem Sturmlauf ohne Beispiel niederzuzwingen. Die» Ostmark«, wie Koch die eroberten Gebiete nannte, würden einmal die Kornkammer und das Gemüsebeet des Reiches werden. Plötzlich aber unterbrach er sich selbst und beugte sich zu Dr. Findling vor.

«Kennen Sie Puschkin?«fragte er.

«Ja. Das alte Zarskoje Selo, Herr Gauleiter.«

«Schloß an Schloß, nicht wahr?«

«Vor allem zwei: Der Katharinen-Palast und das AlexanderPalais.«

«Sie waren schon dort?«

«Dreimal, Herr Gauleiter.«

«Dann kennen Sie ja auch das Bernsteinzimmer.«

«Aber bestens. So etwas gibt es nie wieder. Das größte Kunstwerk, das jemals aus Bernstein hergestellt wurde. Wie der Führer es ausdrückte: Das deutsche Gold der Ostsee. Seit Jahrhunderten nennt man es auch den >Sonnenstein<.«

Dr. Findling nahm einen tiefen Schluck Kognak. An Bernstein konnte er sich begeistern wie Koch an einer schönen Frau. Die berühmte Königsberger Bernsteinsammlung lagerte in seinen Städtischen Kunstsammlungen, atemberaubende künstlerische Bernsteinarbeiten und ein Kleinod von Millionenwert: ein Kabinettschrank mit Flügeltüren und Schubladen, alles in leuchtendem Bernsteinmosaik. Er hatte ein paar enthusiastische Bücher geschrieben und war seither als Bernsteinfachmann international angesehen.

«Ich weiß, Herr Gauleiter«, sagte er jetzt,»woran Sie denken.«

«Genau an das, Dr. Findling. «Koch war in bester Stimmung. Der Kognak war gut, und die Frau, die Bruno Wellenschlag ihm für den Rest des Tages zugeführt hatte, schien vorzüglich. Sie wartete im Schloß in einem abgelegenen Zimmer, das Koch seinen Reitstall nannte.

«Das Bernsteinzimmer. Sie möchten es gern in Königsberg haben…«

«Möchten? Ich will! Hierher gehört es, hier ins Schloß, und nirgendwo anders hin! Dr. Findling, können Sie sich vorstellen, wie das sein wird: Das Bernsteinzimmer hier bei uns im Schloß?!«

«Ein geradezu märchenhafter Gedanke, Herr Gauleiter.«

«Kein Märchen! Ich lasse es wahr werden! Ich schaffe das.«»Da gibt es doch für außergewöhnliche Kunstwerke den >Füh-rervorbehalt<. Das Zimmer fällt bestimmt darunter.«

«Und wenn… ich werde mit Bormann sprechen. Nur ich kann das. Habe ich nicht dafür gesorgt, daß am dritten Mai 1933 ein Gesetz zum Schütze des Bernsteins erlassen wurde?«

«Das war eine epochale Tat, Herr Gauleiter.«

Dr. Findling meinte das ehrlich. Wenn es um Bernstein ging, schob sein Enthusiasmus alles andere beiseite, auch seine politischen Ansichten. Er war weder Parteimitglied noch in sonst einer Organisation, mit Ausnahme des NS-Beamtenbundes, und das auch nur, um seine Stellung als Museumsdirektor zu behalten und die Kunstschätze nicht in die Hände eines Heil-Hitler-Nazis fallen zu sehen. Er hatte keinen NS-Rang, hatte nie eine Uniform getragen mit Ausnahme im Ersten Weltkrieg, wo er es bis zum Unteroffizier gebracht hatte, weil — so sagte man ihm — er zu dämlich sei, um Offizier zu werden. Er sah lieber einen van Gogh an als ein Maschinengewehr — mit einer solchen Einstellung konnte man kein Soldat sein. Nicht in der kaiserlichen Armee. Mit Gauleiter Koch verband ihn nur, daß dieser auch im Schloß residierte und den Bernstein besonders liebte. Sonst hielt er auf Distanz bis auf die Saufabende, denen er nicht immer ausweichen konnte, denn so viele Ausreden hätten selbst Koch nachdenklich gemacht.

Dr. Findling zuckte dennoch zusammen, als Koch mit großer Betonung sagte:

«Fahren Sie nach Puschkin und verhindern Sie, daß sich jemand anderes unser Bernsteinzimmer untern Nagel reißt. «Er sagte tatsächlich» unser Bernsteinzimmer«, als sei es schon in seinem Besitz.

«Zunächst wird man mich gar nicht nach Puschkin lassen. «Dr. Findling trank wieder einen Schluck Kognak.»Das ist absolutes Kampfgebiet. Da kommt keiner rein, ein Zivilist sowieso nicht. Die erste Kontrolle wird mich schon festnehmen.«

«Ich sorge dafür, daß Sie nach Puschkin kommen. «Erich Koch erhob sich, holte den Eiskübel mit den Weinflaschen von einem anderen Tisch und schüttelte den Kopf, als Bruno Wellenschlag aufsprang, um den Kühler zu tragen. Bei solchen Gesprächen verzichtete Koch auf seine ihn sonst bedienenden Ordonnanzen. Hier wollte er ungestört sein, ohne fremde Aj-gen und Ohren, genau wie im Bett, wenn er sich schnaufend in den Spiegeln betrachtete.»Ich werde Bormann anrufen oder — das ist vielleicht am besten — gleich ins Führerhauptquartier fahren. In der >Wolfsschanze< habe ich immer offene Türen. Und was heißt hier Führervorbehalt, Dr. Findling?! Natürlich wird der Führer für sein Riesending in Linz das Bernsteinzimmer von uns bekommen. Es sei denn, ich kann ihn überzeugen, daß das größte Kunstwerk aus Bernstein dorthin gehört, wo man den Bernstein findet… nach Ostpreußen, also nach Königsberg!«

«Wissen Sie, was wir zum Abtransport brauchen, Herr Gauleiter?«

«Sagen Sie es, Dr. Findling.«

«Mindestens zwanzig Lastwagen.«

«Haben wir!«Koch lachte und bog sich dabei nach hinten.»Wenn keiner sie hat, ich habe sie! Ganz offiziell. Ich werde eine >Transportstaffel Koch< zusammenstellen, und dann geht's los, meine Lieben. «Er entkorkte die erste Flasche, eine Rüdesheimer Auslese von 1931, roch am Flaschenhals, goß sich einen Schluck ein, roch am Korken und in das Glas, nahm einen kleinen Schluck und kaute den Wein, ehe er ihn hinunterschluckte.»Ein Himmelströpfchen, wirklich«, sagte er mit echter Begeisterung.»Was gehört zum Schönsten dieses Lebens? Eine geile Frau, ein herrlicher Wein und — «

«Und die nötige Potenz!«sagte Wellenschlag respektlos.»Bruno, hat es je daran gefehlt?!«Koch goß die Weingläser voll und stieß dann Wellenschlag die Faust in den Rücken.»Bist ja nur neidisch. Nach der ersten Nummer liegst du da und schnarchst. Ich werde erst ab Nummer vier so richtig munter! Prost! Auf unser Bernsteinzimmer!«

Sie hoben die Gläser und stießen an. Dr. Findling seufzte innerlich. Er mochte solche Reden nicht, er fand sie ordinär und obszön, aber wer mit Koch auskommen wollte, mußte sich daran gewöhnen. Nicht einmal seine Nichte entging den anzüglichen Bemerkungen und vulgären Ausdrücken, mit denen Koch alle Frauen auf ihre Gebärfunktion reduzierte. Er fand das wunderbar und nannte es volkstümlich.

Die Sauferei dauerte bis drei Uhr morgens.

Dr. Findling tastete sich an den Wänden entlang durch die Schloßgänge bis zu seiner Wohnung, es fiel ihm schwer, sich aufrecht zu halten, zumal er größte Lust verspürte, auf allen vieren vorwärts zu kriechen. Aber er erreichte ohne Kratzer oder Beulen sein Zuhause, fiel neben seiner Frau aufs Bett, hatte keine Kraft mehr, sich auszuziehen, stammelte nur noch:»Wenn das gelingt… wenn das gelingt…«und schlief sofort ein. Das fast kindliche Lächeln blieb auf seinem Gesicht.

Bruno Wellenschlag begleitete seinen Gauleiter zu dem Lie-beszimmer, in dem die von ihm besorgte Frau schon seit Stunden wartete. Sie lag halb ausgezogen auf dem Bett und schlief. Eine hübsche Frau mit langen rötlichen Haaren.

«Du bist ein Fachmann, Bruno«, sagte Koch und zog seine Jacke aus, streifte die Hosenträger herunter und begann, seine Hose aufzuknöpfen.»Genau das richtige zum Nachtisch. Und jetzt raus, du Zuhälter!«

Wellenschlag verließ schnell das Zimmer. Beleidigen konnte man ihn nicht mehr. Wer jahrelang mit Koch arbeitete, hatte verlernt, sich aufzuregen. Zur Beruhigung trug bei, daß man unkündbar war… man wußte zu viel. Nur der Tod konnte die Verbindung auslöschen, nur war auch das für den Gauleiter kein besonderes Problem.

Im Zimmer stand Koch nackt vor der schlafenden Frau und wippte auf den Zehen auf und nieder. Er fühlte sich pudelwohl… die richtige Menge Alkohol machte ihn zum LiebesChampion.

Aber auch Gauleiter Koch kam nicht weiter mit» seinem «Bernsteinzimmer. Martin Bormann war nicht zu erreichen, weder in Rastenburg im Führerhauptquartier, noch in der Parteikanzlei. Ihn privat in seiner Villa auf dem Obersalzberg anzurufen, wo Bormann neben Göring und Himmler auf einem Hügel mit wundervoller Fernsicht wohnte, wagte er nun doch nicht.

Erst am 22. September bekam Koch nach lautem Gebrüll mit einem Adjutanten Martin Bormann ans Telefon und trug ihm seine Vorschläge vor. Bormann, der gerade von Hitlers Mittagstafel kam, schien ein offenes Ohr für Kochs Vorstellungen zu haben.

«Der Führer hat eben von den Museen in und um Leningrad gesprochen«, sagte er.»Die noch vorhandenen Kunstschätze sollen selbstverständlich gerettet werden. Auf Wunsch des Führers hat Generalfeldmarschall Keitel sofort eine Weisung an die Heeresgruppe Nord erlassen, den bronzenen Neptunbrunnen im Oberen Garten von Schloß Peterhof auszubauen. Ein Nürnberger Bildhauer aus dem 17. Jahrhundert hat ihn geschaffen, und der Führer sagt ganz richtig: Er gehört nach Nürnberg! Er wird sofort zusammen mit der berühmten Samsonstatue und anderen Figuren der großen Kaskade ausgebaut. Das Bernsteinzimmer… hm, ich werde mit dem Führer darüber sprechen. Warten Sie weitere Weisungen ab, Gauleiter.«

Hoffnungsfroh legte Koch auf. Kein striktes Nein… das bedeutete ein halbes Ja. Rosenberg, Ribbentrop, Göring und alle anderen Interessenten schienen ausgeschaltet. Der» König von Ostpreußen «besaß den besseren Draht zum Führerhauptquartier.

Inzwischen ärgerte sich Major Müller-Gießen gründlich und fand sich nur schwer mit seiner Enttäuschung ab. Er hatte mit seinen Kunstexperten ein paar Zimmer im Sommerpalais des Zaren Alexander bezogen, hatte sich gebadet und die Uniform von seinem Burschen ausbürsten lassen, aß vorsorglich vier Spiegeleier und trank eine halbe Flasche Rotwein dazu und fühlte sich danach kräftig genug, das hübsche Schwesterchen herumzuführen und — wie versprochen — ihr alles zu zeigen. Die Erinnerung an seine französischen Erlebnisse machte ihn geradezu beschwingt.

Im Bernsteinzimmer aber traf er das tolle Schwesterlein nicht an. Der widerliche Zivilist, dieser Russendeutsche Wachter, saß auf einem Hocker neben der Tür und wartete auf ihn. Mü l-ler-Gießen blieb ruckartig stehen.

«Was machen Sie hier?«fragte er schnarrend.»Sie sind Ihrer Aufgabe, auf das Zimmer aufzupassen, enthoben!«

Michael Wachter verzichtete darauf, mit Müller-Gießen über dieses Thema einen Streit anzufangen. Höflich erhob er sich von seinem Sitz und sagte:

«Ich soll Ihnen mitteilen, Herr Major, daß Schwester Jana nicht kommen kann.«

«Ach!«Müller-Gießen schnaufte durch die Nase.»Das kann sie mir nicht selbst sagen?«

«Dann wäre sie ja hier.«

«Und wo ist sie?«

«Das weiß ich nicht. Sie muß dringend in ein Lazarett, sagte sie.«

«In welches?«

«Das hat sie nicht gesagt. Ich habe auch nicht gefragt, sie war sehr in Eile.«

«Scheiße!«Müller-Gießen stampfte im Bernsteinzimmer hin und her, versuchte, seine Enttäuschung zu dämpfen, gab sich dann einen sichtbaren Ruck und verließ grußlos den Saal. Er fragte sich im Schloß durch, bis er den Oberstarzt im Stabe der Division gefunden hatte und bat um Auskunft.

«Wieviel Lazarette haben wir in Puschkin?«sagte er.

«In Puschkin selbst oder auch in der Umgebung?«

«Im näheren Gebiet, Herr Oberstarzt.«

«Oje! So aus dem Ärmel schütteln kann ich das nicht. Mit den zurückliegenden Hauptverbandsplätzen, Krankensammelstellen und Feldlazaretten könnten es im Gebiet um Puschkin mindestens neunzehn sein. «Der Oberstarzt sah MüllerGießen verwundert an.»Wozu wollen Sie das wissen?«

«Es geht mir darum, ob Lazarette in Schlössern eingerichtet sind, in denen sich noch wertvolle Kunstschätze befinden«, sagte Müller-Gießen glaubwürdig. Seine Enttäuschung wuchs. Neunzehn mindestens… unmöglich, sie alle abzuklappern und das Schwesterchen zu suchen. Jana hieß sie. Ein Name, so schön wie sie selbst. Jana, das paßte genau zu ihr. Jana…»Unsere Ärzte und Sanitäter interessieren sich für die Verwundeten, nicht für Gemälde oder Antiquitäten. «Der Oberstarzt wurde verschlossener. Müller-Gießen sah ein, daß es keinen Sinn hatte, noch mehr zu fragen. Vorbei, dachte er bitter. Vorbei, ohne daß es angefangen hat. Übermorgen mußte man weiter nach Petrodworez, wo der Sonderführer Dr. Hans-Heinz Runnefeldt den Neptunbrunnen ausbaute. Er hatte von der 18. Armee die nötigen Lastwagen bekommen… kein Kunststück, wenn es der Führer selbst befahl.

Müller-Gießen grüßte, sagte artig:»Danke, Herr Oberstarzt «und wandte sich aus dem Zimmer. Auf dem Flur sagte er wieder laut sein Lieblingswort:»Scheiße!«und verließ den Katharinen-Palast. Vor der Treppe parkte sein Wagen. Der Fahrer, ein Unteroffizier, las in der Soldaten-Illustrierten Die Wehrmacht, was Kriegsberichterstatter von allen Kriegsschauplätzen schrieben, fotografierten oder zeichneten. Er warf sie sofort auf den Nebensitz, als Müller-Gießen aus dem Schloß stürmte.

«Zurück zum Alexander-Palais!«schnarrte Müller-Gießen. Er ließ sich auf den Rücksitz fallen und lehnte sich zurück.»Nein… fahren Sie in die Stadt. Halten Sie auf der Bolschaja, dem Großen Platz. Aber flott, flott, ehe es ganz dunkel wird. «Die Nacht verbrachte er dann mit einem drallen Bauernmädchen, das er an der Straße nach Puschkin auflas. Sie regte ihn nicht sonderlich auf; sie lag da wie ein Brett, hatte die Augen geschlossen und erduldete den schwitzenden deutschen Offizier. Ein unbefriedigender Ersatzfick, so sah es auch Müller-Gießen. Er schenkte dem Mädchen drei Tafeln Schokolade, zwei Pakete mit Dauerkeks und eine kleine runde Blechkonserve mit Leberwurst. Das Mädchen war glücklich, küßte ihm die Hand und rannte dann davon. Nur deshalb hat sie's getan, sagte sich Müller-Gießen und wusch sich ihren Geruch vom Körper. Wie anders wäre das mit Jana gewesen. Wie himmelhoch jauchzend. Aber 19 Lazarette abklappern — ein Wahnsinn!

«Und morgen — «, sagte er laut ins Zimmer hinein,»organisiere ich zwanzig Lkws! Ich werde mit Küchler selbst sprechen!«

Es blieb ein frommer Wunsch. Generaloberst von Küchler

«Er ist weg«, sagte Wachter und rieb sich die Hände.»Mit Dampf vor der Nase wie ein wütender Stier. Der kommt nicht wieder.«

Jana Petrowna saß vor dem kleinen Radio, als Wachter zurück in seine Wohnung kam. Sie hatte den Ton ganz leise gestellt und sich zum Lautsprecher vorgebeugt. Sie hörte Radio Leningrad, die Aufrufe an die Bevölkerung, die Berichte von den Verteidigungsmaßnahmen und den Kämpfen an der Ringfront. Nichts wurde beschönigt oder verschwiegen. Die Einwohner von Leningrad wußten, was sie bei der Blockade erwartete: Hunger, Tod, Bomben und Granaten und im kommenden Winter das Erfrieren. Aber nie, nie würde man die Hände hochheben und sich ergeben. Leningrad blieb russisch. Sie schaltete das Radio aus, richtete sich auf und fuhr sich, wie immer, wenn sie innerlich erregt war, mit gespreizten Händen durch die Haare.

«Danke, Herr Wachter«, sagte sie gehorsam. Ihr war eher zumute, aufzuspringen, zu ihm hinzulaufen und ihm um den Hals zu fallen.

Drei Tage lang blieb Jana in Wachters Wohnung und traute sich nicht hinaus. Erst als es sicher schien, daß Müller-Gießen mit seinem» Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg«, ERR, nicht mehr in Puschkin herumschnüffelte, wagte es Jana, wieder als Rote-Kreuz-Schwester im Katharinen-Palast herumzulaufen. Wie erwartet: Sie fiel wieder niemandem auf. Keiner fragte, woher sie kam und was sie hier wollte. Man fragte nur, ob sie Zeit habe… Eine Menge Offiziere bemühte sich darum, ihr die langweiligen Abende zu vertreiben. Sie blieb standhaft bei aller Freundlichkeit und allem aufreizenden Lächeln, und so wurde sie zum Wettobjekt im Offizierskasino.

Wem gelingt es, das süße Schwesterchen ins Bett zu tragen? Wer wird der Sieger sein beim Sturm auf ihren Unterleib? Sie war doch nicht etwa noch unschuldig? Du lieber Himmel, was sind denn das für Ärzte, die solch einen Engel noch als Jungfrau herumlaufen lassen?! Kameraden, die Degen

heraus -

Am 28. September wechselte die Besetzung des Schlosses. General von Kortte verabschiedete sich von Wachter, als ließe er einen guten Freund zurück. Sein Armeekorps wurde in den östlichen Teil des Einschließungsringes verlegt. Dafür bezog der Stab des 50. Armeekorps den Katharinen-Palast.

«Ich wünsche Ihnen alles Gute«, sagte von Kortte zum Abschied.»Vielleicht sehen wir uns einmal wieder… irgendwo… Sie sind ja leicht zu finden. Wo das Bernsteinzimmer ist, sind auch Sie.«

«Wenn wir den Krieg überleben, Herr General. «Wachter schluckte, seine Stimme wurde unsicher.»Ich danke Ihnen für alles. Wenn Beten hilft, dann werde ich für Sie beten. Vielleicht wacht Gott auf… jetzt schläft er…«

«Sagen Sie das nicht so laut, Wachter, das ist Defätismus. Wehrkraftzersetzung. Das wird mit dem Tode bestraft. Denken und reden Sie nur vom Endsieg, dann überleben Sie. Das Bernsteinzimmer braucht Sie doch. «Von Kortte klopfte Wachter auf die Schulter.»Sie haben keine Kinder, keine Erben?«»Nichts, Herr General. «Wachter versuchte ein kumpelhaftes Grinsen.»Aber es ist noch nicht zu spät… bin ja erst fünfundfünfzig Jahre alt.«

«Beeilung, mein Lieber, Beeilung!«Von Kortte lachte und gab Wachter noch einmal die Hand.

«Und wer kommt jetzt hierher, Herr General?«

«Das 50. Korps. Kommandeur General Jobs von Haldenberge.«

«Kennen Sie ihn?«

«Mehr oder weniger. Mit ihm kann man reden. Ich werde ihn auf Sie hinweisen. Ein ernster, aber angenehmer Mann. Sie werden ihn von dem Bernsteinzimmer überzeugen können, bei mir haben Sie's ja auch geschafft…«

Am Abend traf die lange Kolonne des Stabes des 50. Armeekorps beim Katharinen-Palast ein. General Jobs von Haldenberge bezog wie von Kortte das Chinesische Zimmer. Sein Schlafzimmer schlug er im Schlafraum von Katharina II. auf. Ein Zimmer, das ein kleines Heer von Liebhabern der Zarin gesehen hatte und dessen Wände, könnten sie sprechen, von ungeheuren Liebesräuschen erzählen würden.

Am nächsten Morgen ließ sich Wachter bei General von Haldenberge melden. Zur Verblüffung des Adjutanten empfing ihn der Kommandeur ohne lange Wartezeit. Haldenberge war bekannt dafür, jede unnütze Störung als eine persönliche Beleidigung anzusehen.

«Sie wurden mir schon empfohlen, Herr Wachter«, sagte er. Aber er gab ihm nicht die Hand, wie es von Kortte getan hatte. Ein Händedruck war für ihn schon eine Art von Vertraulichkeit.»Ich habe eine halbe Stunde Zeit. Sie können mir das sagenhafte Bernsteinzimmer zeigen.«

Jana Petrowna, die im Zimmer stand, um General von Haldenberge kennenzulernen, wurde von ihm überhaupt nicht beachtet. Eine Krankenschwester, die in ihrer Freizeit Kunstschätze ansieht… was soll's?!

«Phänomenal!«sagte von Haldenberge, als Wachter ihm unter einer losen Verkleidung eine der Wandtafeln und Figuren zeigte.»So etwas habe ich noch nie gesehen. Kein Wunder, daß der Führer so etwas für das Reich retten will. Das gibt's nicht wieder.«

«Der Führer?«fragte Wachter dumpf.

«Ja. Hat Ihnen von Kortte nicht gesagt, was da läuft?«General von Haldenberge starrte an die Decke mit den herrlichen Deckengemälden.»Wir haben einen Führerbefehl bekommen… über Generalfeldmarschall Ritter von Leeb und Generaloberst von Küchler ist er auch zu mir gekommen als neuer Herr über Puschkin. «Er sagte tatsächlich» Herr über Puschkin«. Wachter zog wie frierend die Schultern hoch.»In zwei, drei Tagen wird das Einsatzkommando >Hamburg< des Sonderkommandos AA hier im Schloß sein.«

«Rittmeister Dr. Wollters?«

«Sie kennen ihn bereits? Ja, er ist dabei. Geführt wird das Kommando von einem Sonderführer Dr. Runnefeldt, wenn ich den Namen richtig verstanden habe. Dieser Runnefeldt, oder wie er heißt, soll umfassende Vollmachten vom Führer haben. Das steht auch in der Anweisung vom Führerhauptquartier.

Das Kommando soll, wie Generaloberst von Küchler mir sagen läßt, das Bernsteinzimmer ausbauen. «Von Haldenberge sah auf den Fußboden. Das Intarsienparkett aus rosa und schwarzem Palmenholz mit Palisander, vermischt mit leuchtendgelben Bernsteinstücken, entlockte dem General einen bewundernden Ausruf.»Unfaßbar! Ist das ein Parkett! Das waren noch Künstler, Herr Wachter, und sie hatten Zeit für ihre Kunst. Da wurde nichts gehudelt. «Er verließ das Bernsteinzimmer, ohne auch nur einen Blick auf Jana Petrowna zu werfen, und blickte Wachter wieder nachdenklich an. Von Kortte schien ihn gut unterrichtet zu haben, oknn er zog jetzt ein Stück Papier aus der Uniformtasche, faltete es auseinander, indem er es in der Luft schüttelte, und klemmte ein Monokel in sein linkes Auge.

«Um Ihnen zu zeigen, wie ernst es in den nächsten Tagen wird, lese ich Ihnen das hier vor. Es ist eine Eintragung ins Kriegstagebuch der 18. Armee, zu der mein Korps gehört: >28. September 1941, 16 Uhr. Rittmeister Dr. Wollters, vom OKW mit der Erfassung der Kunstgegenstände in den Zarenschlössern beauftragt, bittet um Schutz für das Zarenschloß Puschkin, das durch Bombentreffer leicht zerstört und zur Zeit in vorderster Linie durch unachtsames Verhalten der Truppe gefährdet ist. Mit der Sicherung wird L. A. K. beauftragt. A. Nachsch. F. stellt Arbeitskräfte und Kfz zur Bergung der bes. wertvollen Kunstschätze unter Leitung von Rittmeister Dr. Wollters zur Verfügung<. «Von Haldenberge ließ das Blatt sinken.»Das ist doch klar, nicht wahr? Noch heute wird das Schloß von den Truppen geräumt, nur die Stäbe bleiben hier, ich werde aus der Nachschubeinheit zwanzig oder mehr Mann zur Verfügung stellen, so viel man braucht, nur Kfz habe ich nicht übrig, da muß noch was organisiert werden. «Von Haldenberge steckte das Papier wieder in seine Rocktasche. Er sah Wachters entsetzte Augen, bedauerte ihn, aber helfen konnte er ihm nicht mehr. Das OKW hatte befohlen, und hinter diesem Befehl standen die Wünsche von Bormann und Hitler. Man konnte nur noch gehorchen.

«Und damit die Sache ganz im Sinne des Führers verläuft«, fügte er hinzu,»wird die ganze Aktion vom Sonderbeauftragten Dr. Runnefeldt selbst überwacht werden. Das ist Bormanns Vorschlag gewesen.«

«Sie… sie wollen also das Bernsteinzimmer stehlen…«sagte Wachter leise. General von Haldenberge hob die Augenbrauen und sah Wachter fast entsetzt an.

«Mann, was reden Sie da?«zischte er.»Das will ich nicht gehört haben! Das Bernsteinzimmer kommt heim ins Reich… es gehörte Friedrich Wilhelm I. Deutsche Bernsteinkünstler haben es geschaffen! So muß man das sehen. Und so sieht es auch der Führer.«

Wachter nickte und schwieg. Er dachte an das Schicksal der Familie Wachter in den vergangenen 225 Jahren und den niedergeschriebenen Bericht seines Vorfahren Friedrich Theodor Wachter:»Der König hat sein Bernsteinzimmer dem Zaren Peter I. geschenkt! Er muß besoffen gewesen sein. Einziger Trost: Wir werden das Zimmer nach Petersburg begleiten. Das hat uns der König versprochen. Wie wird unser Leben fernerhin aussehen?«

Ja, wie wird unser Leben aussehen? Was wird aus uns ohne das Bernsteinzimmer?

«Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen. «Von Haldenberge klopfte Wachter auf die Schulter. Es war gut gemeint, aber verringerte in keiner Weise Wachters Schmerz.»Hier hätte Ihnen auch General von Kortte nicht mehr helfen können. Außerdem, wer weiß, was noch auf uns zukommt. Das Bernsteinzimmer ist jedenfalls gerettet. Das muß doch für Sie ein großer Trost sein.«

Wachter nickte wieder stumm. Er wartete, bis von Haldenberge gegangen war, und kam dann ins Bernsteinzimmer zurück. Entsetzt starrte ihn Jana Petrowna an, stürzte dann, alle Vorsicht vergessend, auf ihn zu und umarmte ihn.

Er weinte. Väterchen weinte! Unter Zuckungen liefen Tränen über sein Gesicht.

«Sie… sie kommen…«sagte sie und umarmte Wachter.

«Ja — «

Da weinte auch sie. Die Stirnen gegeneinander gepreßt, hiel-ten sie sich wie Ertrinkende umklammert und hatten keinen Trost mehr füreinander.

«O nein, nicht schon wieder! Mein Kopf fühlt sich noch jetzt an wie in einem Schraubstock.«

Dr. Findling hatte von einer Ordonnanz wieder einen Zettel von Gauleiter Koch überreicht bekommen. Eine Einladung für den Abend. Mörderische Alkoholstunden standen bevor.

«Ich sage ab. Ich bin krank. Meine Herbstgrippe. Du mußt mich entschuldigen, Martha.«

«Ich? Allein zu Koch? Nicht mit zehn Pferden!«Martha Findling wedelte mit beiden Händen durch die Luft.»Koch ist dein Freund. Das mußt du allein mit ihm ausmachen, Wilhelm.«

«Er ist nicht mein Freund, wie oft soll ich das noch sagen!«»Aber er tut so.«

«Wenn ich Koch brüskiere, bin ich innerhalb von 24 Stunden entlassen und werde an die Front versetzt. Frontbewährung nennen sie das! Koch ist pathologisch stolz und nachtragend. Nur Krankheit wird er akzeptieren. Martha — «

«Nein! Nein! Nein! Ich habe genug vom letzten Mal. Da hat er mich an die Brust gefaßt…«

«Davon weiß ich ja gar nichts. Davon hast du mir nie etwas erzählt! Dieser Hurenbock!«

«Was hättest du getan, wenn ich's dir erzählt hätte? Nichts! Koch ist immer der Stärkere.«

Martha Findlings Charakterisierung war nicht übertrieben… Koch war der Stärkere. Als Dr. Findling mit zerknirschter Miene bei ihm erschien, natürlich war Kochs Intimus Bruno Wellenschlag auch zu Gast, und sich entschuldigte, er habe seine alljährliche Herbstgrippe, rief Koch frohgelaunt:

«Dann trinken Sie erst mal einen Dreifachen, Doktor! So mach ich's immer. Ich gurgele die Bazillen mit Kognak weg! Und dann, wenn ich Ihnen sage, warum ich Sie gerufen habe, werden Sie wie ein Neger herumtanzen. Zuerst der Dreifache…«Dr. Findling trank mit wahrer Tapferkeit den großen Kognakschwenker leer. Koch und Wellenschlag, die keine Herbstgrippe plagte, leisteten ihm Gesellschaft. Und dann schoß Koch mit dem Gesicht eines siegreichen Gladiators seine erste Triumphrakete ab.

«Der Kontakt mit Generaloberst von Küchler und der 18. Armee ist perfekt. Mit Kußhand wurde die >Transportstaffel Koch< angenommen und läuft wie am Schnürchen. Sie bringt Munition und Nachschub an die Front, entlastet die armeeeigenen Wagen, die nun schnelle Truppenbewegungen übernehmen, und stehen auf dem Rückweg, um nicht leer zu fahren, für die Gauleitung zur Verfügung.«

«Sehr schön«, sagte Dr. Findling. Sein Kopf brummte, der Magen wehrte sich massiv gegen den Kognak. Gauleiter, dachte er würgend, wenn ich Ihnen gleich auf den Teppich kotze, sind Sie allein schuld. Was Kochs Mitteilung bedeutete, begriff er noch nicht.

Koch blinzelte seinem Intimus Wellenschlag zu, der sich in einem der tiefen Sessel räkelte.

«Nummer zwei«, rief Koch und rieb sich die Hände.»Ich war in der >Wolfsschanze< und habe mit Bormann gesprochen. Ich habe ihm erzählt, wo der beste und sicherste Aufbewahrungsort für das Bernsteinzimmer ist, bis es der Führer nach dem Endsieg in Linz ausstellt. Es gehört dorthin, wo es geschaffen worden ist, und Bormann hat das eingesehen: nach Königsberg. Hier in das Schloß! In Ihre Hände, Dr. Findling!«

Findling starrte Gauleiter Koch entgeistert an. Seine Magenschmerzen waren wie weggezaubert, sein Hirn war frei, der Alkohol verflüchtigte sich wie leichtes Gas.

«Mein Gott…«stammelte er.»Zu mir… mein Gott…«

«Was soll Gott dabei?«Koch wedelte mit beiden Händen durch die Luft, als verscheuche er einen Schwarm Wespen.»Der hat uns nicht geholfen. Ich habe es geschafft! Wie erwartet. Ich!«

«Es ist großartig, Gauleiter«, sagte Wellenschlag. Er kannte Kochs Eitelkeit nur allzu gut. Sie nicht zu pflegen, kam einer Art von Selbstmord gleich.»Einfach großartig! Da werden die anderen von Berlin bis Berchtesgaden aber spucken!«Er applaudierte sogar, der treue Bruno Wellenschlag, als habe Koch gerade eine Wagner-Arie beendet.

«Wann?«fragte Dr. Findling. Er mußte sich setzen. Diese Nachricht ging ihm in die Knie.»Wann, Herr Gauleiter?«

«Sie sind schon unterwegs. 18 Lkws, mit meinen besten Fahrern. Von Pleskau sind die Kunstexperten des Einsatzkommandos >Hamburg< des AA unterwegs, dem der Führerauftrag zugeteilt wurde. Rittmeister Dr. Wollters und Sonderführer Dr. Runnefeldt werden die Aktion leiten. Der Kommandeur des 50. Armeekorps, General von Haldenberge, wird uns so viel Hilfskräfte zur Verfügung stellen, wie wir brauchen. In spätestens 14 Tagen werden wir das Bernsteinzimmer hier im Schloß empfangen…«Koch goß sich auf diesen Triumph noch einmal den Kognakschwenker voll und leerte ihn in einem Zug, ohne Luft zu holen oder zu spucken.»Was sagen Sie nun, Dr. Findling?«

«Nichts — «

«Nichts?!«

«Ich kann nichts mehr sagen, Herr Gauleiter. Ich bin zu überwältigt. «Findling meinte es ehrlich. Der Gedanke, in 14 Tagen den größten Bernsteinschatz in seinem Schloßmuseum zu beherbergen, drückte ihm fast die Luft ab.»Ist es nicht möglich, daß ich auch nach Puschkin fahre?«

«Unzweckmäßig wäre das. Ausbau und Tränsport sind militärische Aktionen, so ist es mit Generaloberst von Küchler abgesprochen. Schon wegen Rosenberg. Der liegt auf der Lauer wie der Teufel auf eine Kardinalsseele. Erst wenn das Bernsteinzimmer in Königsberg ist und bei Ihnen abgeladen wird, legen wir die Hände drauf. «Erich Koch begann im Zimmer hin und her zu wandern, die Hände auf dem Rücken verschränkt.»Sie sollten sich bis dahin überlegen, wo Sie das Zimmer wieder aufbauen können.«

«Es kommt dafür nur ein Raum im dritten Geschoß des Südflügels in Frage. «Dr. Findlings Stimme schwamm noch immer. Sein klopfendes Herz war kaum zu beruhigen.»Wenn man eine Wand herausnimmt, könnte er die ungefähren Maße von Puschkin haben.«

«Und was ist jetzt darin?«

«Der Raum gehörte zur Gemäldegalerie. Wir stellen dort Werke von Liebermann, Modersohn-Becker und Corinth aus.«»Entartete und jüdische Kunst!«fügte Wellenschlag eilfertig hinzu.»Sogenannte Kunst, Gauleiter, eine Schreckenskammer.«

«Raus damit!«Koch stieß den rechten Zeigefinger wie einen Dolch auf Dr. Findling.»Wieso gibt es diese Schmierereien überhaupt noch? Warum sind sie nicht verbrannt worden?«»Auch im >Haus der Deutschen Kunst< in München gibt es einen Saal mit entarteter Malerei und Plastik. Auf Wunsch des Führers. Zur Abschreckung und zur Bildung einer gesunden völkischen Kunst. Man kann gute Kunst nur erkennen im Vergleich mit solchen Auswüchsen.«

«Dr. Findling, das ist wahr. «Koch nickte mehrmals.»Der Führer sieht das richtig. Er war ja selbst ein Künstler. Hat auch gemalt. Also, was machen Sie mit den jüdischen Schmierern?«

«Sie kommen in den Keller, Herr Gauleiter. «Dr. Findling atmete auf. Das ging knapp an einer Katastrophe vorbei, dachte er. Koch hätte alles verbrennen lassen können. Ein Glück, daß mir die Sache mit Hitler einfiel. Man sollte sich in kritischen Situationen immer auf ihn beziehen. Eine bessere Rückendeckung gibt es gar nicht.

Koch blieb abrupt vor Dr. Findling stehen und zog das Kinn an. Dadurch bekam er ein Doppelkinn, was dem Gesicht eine trügerische Gutmütigkeit verlieh.

«Sie werden einen Zeitungsartikel schreiben, Doktor«, sagte er.»Die Rückkehr des Bernsteinzimmers in seine Heimat.«»Wie Sie wünschen, Herr Gauleiter. «Dr. Findling war bereit, schier alles zu tun, wenn diese Kostbarkeit in das Schloßm u-seum kam. Es war der Höhepunkt seines Lebens, ein erfüllter Traum, ein wahrgewordenes Märchen. Er stellte sich den Augenblick vor, in dem er mit seinen Händen über die leuchtenden Bernsteinmosaiken, Figuren und Girlanden streicheln würde. Welch ein ungeheures Gefühl! Es machte ihn wieder atemlos.»Man soll es nur vorsichtig ausbauen, ganz vorsichtig… mit Gefühl, wenn man so sagen darf.«

«Dafür wird Dr. Runnefeldt schon sorgen. «Gauleiter Koch ließ sich in einen Sessel fallen und streckte die Beine von sich. Diesmal war er in Uniform, trug weitausladende BreechesHosen, seine Reitstiefel glänzten wie Lackleder.»Reichsleiter Bormann konnte keinen Besseren empfehlen.«

«Soll das Bernsteinzimmer denn ausgestellt werden?«Dr. Findling hielt Wellenschlag sein Glas hin. Jetzt war der Alkohol wie Medizin für ihn. Ein inneres Feuer nahm von ihm Besitz.»Soll es der Öffentlichkeit zugänglich sein?«

«Warum nicht?«Koch zog die Augenbrauen hoch.»Dafür holen wir es doch! Erst Königsberg, später Linz… wenn es mir nicht gelingt, den Führer umzustimmen und es in Königsberg zu lassen. Als Symbol des >deutschen Goldes<.«

Die alte Weisheit, daß Diebe mit ihrer Beute niemals prahlen, galt nicht mehr. Die Eroberer waren stolz auf ihre Raubzüge, jeder sollte ihre Beute sehen und bewundern. Das Volk der Sieger durfte begeistert sein.

Räuber-Ehre.

Wer zweifelte jetzt noch am Endsieg?

Nur Wehrkraftzersetzer… und die richtete man hin.

Am 1. Oktober traf die kleine Kolonne des Außenministeriums des» Einsatzkommandos Hamburg «in Puschkin ein. Den Weg zum Katharinen-Palast kannte man ja, hielt vor der Freitreppe und stieg etwas lahm von der langen Fahrt und unter Recken und Kniebeugen aus den Wagen. Koffer wurden ausgeladen und in einer exakten Reihe neben die Treppe gestellt.»Da sind sie…«sagte Michael Wachter. Mit Jana Petrowna stand er am Fenster eines kleinen Zimmers, das mit weißem und blauem Email verziert war und das man die» Tabaksdose «nannte. Das einzige Möbelstück, das in dem Zimmer stand, war ein großer, überbreiter orientalischer Diwan. Auf ihm, wie auch nebenan im Schlafgemach, hatte Zarin Katharina II. ihre Liebhaber empfangen und mit ihrer unersättlichen Wollust ausgesaugt. Hinterher wurde geraucht… und deshalb hieß das kleine Zimmer» Die Tabaksdose«.

«Tatsächlich. Dr. Wollters ist gekommen«, sagte Jana.»Verstecken muß ich mich jetzt. Nicht sehen darf er mich. Sein

Blick ist so merkwürdig.«

«Warten wir es ab, Jana. «Wachter beobachtete das Ausladen der Wagen. Ein Ordonnanzoffizier von General von Haldenberge war aus dem Schloß gekommen und sprach mit einem Mann, der eine SS-Uniform trug mit silberglänzenden Schulterstücken, die schmäler waren als die üblichen Offizierslitzen.»Das muß Dr. Runnefeldt sein«, sagte Wachter und verkrampfte die Finger ineinander.»Was… was hat die SS damit zu tun? Ich denke, sie kommen vom Außenministerium? Jana, das sieht böse aus — «

«Was hast du vor, Väterchen?«Ihre dunklen Augen suchten in seinem Gesicht nach einer Regung, aber es war wie eine starre, unbewegliche Maske.»Du kannst nichts mehr tun…«

«Ich werde Ihnen helfen«, sagte Wachter dumpf.

«Helfen, Väterchen?«

«Beim Abnehmen der Vertäfelungen werde ich ihnen helfen. Beim Einpacken, beim Verladen… nichts darf mehr beschädigt werden. Es ist schon genug zerstört worden.«

«Wenn sie dich noch an das Zimmer lassen…«

«Mit Dr. Runnefeldt werde ich sprechen. Der General sagt, er hat mehr zu sagen als Rittmeister Wollters. «Er blickte wieder hinunter auf die Wagen und starrte auf den Mann in der SS-Uniform. Der hatte die Beine etwas gespreizt, den Kopf in den Nacken gelegt und betrachtete die herrliche Fassade des Palastes. Man sah ihm an, daß er von diesem Anblick überwältigt war.»Ich glaube, mit ihm kann man sprechen. Er hat gute Augen.«

«Ein SS-Offizier…?«

«Es gibt auch Tiger, die man streicheln kann. «Wachter trat vom Fenster der» Tabaksdose «zurück.»Ich gehe hinunter und begrüße sie. Alle müssen wissen, daß ich genauso zum Bernsteinzimmer gehöre wie eine der geschnitzten Rosen oder Rosetten.«

Wachter zog seinen Rock an, streichelte der bleichen Jana Petrowna über das nervös zuckende Gesicht und verließ schnell das kleine Email-Zimmer.

General von Haldenberge hatte unterdessen die Herren vom

AA empfangen, überflog kurz ihre Legitimationen und bot ihnen Platz auf den mit kostbaren Perlmuttbildern verzierten chinesischen Stühlen.

«Sie wurden mir schon vom Armeestab angekündigt«, sagte er.»So schnell habe ich Sie nicht erwartet. Sind Sie auf einer Kanonenkugel wie weiland Münchhausen geritten?«

Dr. Runnefeldt lachte. Dr. Wollters verzog keine Miene. Er, der Humorlose, sah darin gar keinen Witz, eher eine perfide Anspielung auf seinen Titel Rittmeister. Erst dieser von Kortte, jetzt dieser von Haldenberge… ausgerechnet in der Generalität gibt es eine Menge solcher Typen!

«Jeder Tag ist wichtig!«sagte er deshalb mit dem gebotenen Ernst.»Puschkin liegt im Kampfgebiet, da kann allerhand passieren.«

«Wie wahr und scharf beobachtet. «Von Haldenberge bot Z-garetten an. Wollters lehnte ab, Dr. Runnefeldt griff mit geradezu süchtiger Gier zu.»Wo geschossen wird, kann was passieren. «Der Spott war so dick, daß Wollters sich wie verhöhnt vorkam.»Sie fangen sofort an?«

«Ja. Morgen schon, Herr General.«

«Wieviel Hilfskräfte brauchen Sie?«

«Ein paar nur. «Dr. Runnefeldt rauchte drei tiefe Züge, inhalierte den Rauch und stieß ihn dann stoßweise aus.»Zuviel stehen sich im Weg. Sechs, höchstens zehn Mann. Männer mit Gefühl in den Händen. Das ist eine diffizile Arbeit. Da braucht man Fingerspitzengefühl. Vielleicht haben Sie sogar Künstler in ihrer Truppe?«

«Das läßt sich feststellen. Auch in den Lazaretten lasse ich nachfragen. Bestimmt haben wir Künstler hier. Es wird aber länger als einen Tag dauern.«

Wollters wollte schon fragen, wieso man mehr als einen Tag dafür brauchte, aber Dr. Runnefeldt schnitt ihm vorher das Wort ab.»Wir werden uns unterdessen mit dem Bernsteinzimmer befassen und die Verkleidungen entfernen lassen. Dazu brauchen wir keine Fachleute. «Er warf einen schnellen Blick zur Seite.»Sie wollten auch etwas sagen, Herr Rittmeister?«»Nein!«Wollters schob das eckige Kinn vor. Er war beleidigt. Was bildet sich dieser Sonderführer ein, dachte er wütend. Sonderführer… noch nicht mal ein Offizier! Ein neugeschaffener Dienstgrad, um auch ewige Zivilisten in die Ehre zu versetzen, eine Uniform zu tragen. Eine Beleidigung für jeden Offizier. Für jeden ehemaligen Kadetten. Und so einer will hier kommandieren? Spielt sich auf und bläht sich wie ein Puter?! In der Tasche schleppt er einen Führerbefehl herum — wenn schon, das berechtigt ihn zwar zu Aktionen, die von oberster Stelle abgesegnet sind, aber es berechtigt ihn nicht dazu, einen Rittmeister wie einen Stallburschen zu behandeln.

Eine Ordonnanz brachte auf einem Tablett Kaffee und Gebäck. Silberne Kannen, zartes Meißner Porzellan, blanke silberne Bestecke. Besitz der Zarin Elisabeth… die Zimmer waren voll davon.

Dr. Wollters nahm seinen Kaffeelöffel und führte ihn an die Augen. Dann drehte er die Tasse herum und sah die gekreuzten Schwerter. Wirklich, echtes altes Meißen.

«Und die Kannen stammen aus der besten Silberschmiede von Petersburg«, sagte von Haldenberge mokant und klemmte sein Monokel ins Auge.»Sie sollen schon Zar Peter dem Großen gehört haben.«

Geht auch mit, dachte Dr. Wollters, ohne auf die Bemerkung des Generals einzugehen. Alles geht mit: die Ikonen, das Silber, die Edelsteinsammlung, die aus Gold, Bergkristall und Edelsteinen hergestellten Kronleuchter in den Prunksälen. Nichts bleibt hier. Mein lieber General, ich weiß genau, welch ungeheuren Schätze noch im Katharinen-Palast lagern. Nicht einmal Dr. Runnefeldt weiß das, und das beruhigt. Drei oder vier der ältesten und besten Ikonen werden einmal in meinem Arbeitszimmer hängen… und ich werde mich noch nicht einmal schämen.

Er wurde aus seinen angenehmen Gedanken aufgeschreckt, als er von Haldenberge sagen hörte:»Eine Ordonnanz wird Sie zu Herrn Wachter bringen.«

«Wer ist Wachter?«fragte Dr. Runnefeldt erstaunt.

«Ein Spinner. «Dr. Wollters winkte lässig ab.»Er wartet das

Bernsteinzimmer… seit über 200 Jahren, wie er sagt. Familientradition. Benimmt sich, als sei er der Besitzer. Auf ihn können wir verzichten.«

«Ich möchte ihn trotzdem kennenlernen. «Dr. Runnefeldt e-hob sich und drückte seine Zigarette in einem vergoldeten Aschenbecher aus. Er gehörte einmal dem Zaren Alexander II.»Vielleicht kann er uns Ratschläge geben?«

«Ratschläge? Ein Museumsdiener, ein Lakai — «sagte Wollters hochmütig.

«Ich bin für jeden Ratschlag dankbar. Ein Museumsdiener weiß manchmal besser Bescheid über die ihm anvertrauten Kunstschätze als ein Museumsdirektor. Ich hatte mal einen SaalWachter, der hat sogar eine Fälschung entdeckt. Wir großen Experten hielten es für echt und hätten jede Expertise unterschrieben.«

Sie grüßten stramm, von Haldenberge tippte kurz an seine Stirn, was einen Gruß bedeuten konnte oder auch etwas anderes, auf jeden Fall war es doppeldeutig. Dann standen sie draußen, warteten auf den Ordonnanzoffizier und schwiegen sich an.

Im Bernsteinzimmer stand nur ein älterer Mann, als sie die Tür öffneten. Der Offizier drehte sich wortlos um und ließ sie allein. Dr. Runnefeldt streckte seine Hand aus, Dr. Wollters ging provokativ an die freigelegte Bernsteintafel und betrachtete sie. Dabei pfiff er leise vor sich hin:»So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage…«

«Sie sind Herr Wachter, nicht wahr?«sagte Dr. Runnefeldt freundlich.»Der Herr General hat uns von Ihnen erzählt. Sie gehören zum Bernsteinzimmer?«

«So ist es. «Wachter nickte und wunderte sich.»Sie sind Dr. Runnefeldt…«

«Ja.«

«Von der SS?«

«Nein. Wieso? Ach deshalb!«Er sah an seiner Uniform hinunter.»Ich bin der Leiter des Außenamtes der Staatlichen Museen von Berlin. Der Führer hat mir einen Sonderauftrag erteilt. Ich bin kein Soldat und kein Offizier und kann daher den Ehrenrock nicht tragen. Da hat man mir den SS-Habitus verliehen und mich zum Sonderführer gemacht. «Dr. Runnefeldt hob die Schultern.»Uniform muß eben sein.«

Dr. Wollters pfiff lauter. Unerhört, maulte er in Gedanken. Diese Kumpelhaftigkeit mit einem niedrigen Angestellten. Und so etwas setzt man mir, einem Rittmeister, vor die Nase! Überhaupt dieser Wachter! Hat man ihn überprüft? Wer hat ihn überprüft? Wo ist die Personalakte? Der kann ja Wunder was erzählen, die Wolken vom Himmel lügen, und ist in Wirklichkeit ein sowjetischer Agent! 225 Jahre im Dienste der Russen… das ist doch mehr als ungewöhnlich! Und will nie in den Jahrhunderten ein Russe geworden sein? Wer glaubt das denn? Wenn von dem Burschen keine Personalakte besteht, werden wir ihm eine verpassen lassen und seine Vergangenheit aufrollen! Vielleicht quellen uns dann die Augen über, was für ein Bürschchen das ist.

«Sie wollen also das Bernsteinzimmer ausbauen und mitnehmen?«fragte Wachter. Er war nun doch ein wenig beruhigt, daß es nicht die SS war, die das Zimmer als Siegesbeute beschlagnahmte und es damit für alle Zeit verschwinden lassen würde.

«Ja«, antwortete Dr. Runnefeldt.»Morgen geht's los. Wir werden das Zimmer ganz vorsichtig in die einzelnen Wandtafeln zerlegen, gut in speziell dafür anzufertigende Kisten verpacken und wegbringen. Wir sollen dafür achtzehn Lkws bekommen. «Dr. Runnefeldt starrte auf den Rücken Dr. Wollters, der noch immer pfiff. Jetzt war es der Paradiermarsch.»Helfen Sie uns dabei, Herr Wachter?«fragte er betont laut.

«Wenn ich darf — «

«Wenn jemand das Bernsteinzimmer kennt wie sich selbst, dann sind Sie es.«

«Die wenigsten kennen sich selbst, Herr Doktor.«

«Da haben Sie recht. Viele sind sich selbst gegenüber blind. «Das war auf Dr. Wollters abgeschossen. Er verstand es sofort richtig und preßte die Lippen zusammen. Sein Pfeifen verendete in einem Zischlaut.

«Und wohin bringen Sie das Zimmer jetzt?«fragte Wachter.

Große Hoffnung, das zu erfahren, hatte er nicht.

Aber Dr. Runnefeldt machte kein Geheimnis daraus.»Nach Königsberg«, sagte er.

«Königsberg. «Wachters Gehirn arbeitete fieberhaft. Königsberg. Ostpreußen. Das Bernsteinzimmer blieb im Osten! Eine winzige Hoffnung stieg in ihm auf… nach Königsberg konnte man mitkommen. Dr. Runnefeldt war nicht jemand, der sofort nein sagen würde. Wirklich, mit ihm konnte man reden. Schon daß es zwischen ihm und Dr. Wollters offensichtliche Spannungen gab, war eine kleine Tür in die Zukunft.

«Später, nach dem Endsieg, wird es im größten Museum der Welt aufgebaut. «Dr. Runnefeldt machte eine weite Armbewegung durch den ganzen Saal.»Das Bernsteinzimmer wird das Glanzstück sein. Ein Museum, das der Führer in Linz bauen wird, ein Kunsttempel für tausend Jahre..«

«Davon habe ich schon gehört. Linz an der Donau, in Österreich.«

«In der Ostmark, mein lieber Wachter. Aber diese Feinheiten kennen Sie noch nicht. «Dr. Runnefeldt lächelte breit.»Ihre Familie war immer in russischen Diensten… warum sind Sie nicht Russe geworden?«

«Das war ein Auftrag von König Friedrich Wilhelm I. Wo das Bernsteinzimmer auch sein mag, ein Wachter, der immer ein Deutscher bleibt, soll es betreuen.«

«Und Sie sind nun der letzte?«

«Ja — «sagte Wachter zögernd.»Ja, Herr Doktor. Es ist mir nie gelungen, Kinder zu zeugen. Meine Frau starb sehr früh. Ich habe sie sehr geliebt und an eine andere, neue konnte ich mich nicht gewöhnen. Ich weiß, das ist ein Fehler. Seit 225 Jahren haben die Wachters Söhne gehabt, nun erlischt mit mir der Auftrag des Königs. «Er schwieg einen Moment, dachte an Nikolaj, der vielleicht jetzt in der Eremitage in Leningrad wohnte und mit viel Glück diesen mörderischen Krieg überleben konnte. Wenn nicht… dann hatte er jetzt nicht gelogen.

Er nahm allen Mut zusammen und sah Dr. Runnefeldt voll in die Augen. Gute Augen hat er, dachte er wieder. Nur die SS-Uniform machte ihn so gefährlich.

«Und deshalb… deshalb hätte ich eine Bitte«, sagte Wachter und atmete tief durch.»Als letzter der Wachters… kann man mich da gebrauchen? Kann ich mitfahren nach Königsberg?«Dr. Wollters drehte sich auf den Absätzen um. Die Sohlen seiner Reitstiefel knirschten über das kostbare Intarsienparkett.»Unerhört!«sagte er empört.»Was bildet sich dieser Mensch bloß ein?! Das leere Schloß kann er später bewachen und Ratten, Wanzen und Kakerlaken jagen.«

Er schwieg abrupt, und ihm war plötzlich klar, daß er einen großen, nie wieder gutzumachenden Fehler begangen hatte. Prompt reagierte Dr. Runnefeldt.

«Ich will mich für Sie verwenden, Herr Wachter«, sagte er.»Aber ich bin nur zuständig bis Königsberg, bis zur Ablieferung. Was dann kommt, entscheidet Museumsdirektor Dr. Findling in eigener Verantwortung. Unter uns — Dr. Findling ist ein sehr angenehmer Mensch, und vor allem der größte Bernstein-Experte, den wir haben.«

«Ich kann also Hoffnung haben?«

«Ohne Hoffen wäre das Leben sinnlos.«

«Und Sie… Sie nehmen mich mit nach Königsberg?«

«Das weiß ich noch nicht«, Dr. Runnefeldt legte die Hand auf Wachters Schulter. Es war soviel wie ein stummes Versprechen.»Richten Sie sich auf jeden Fall darauf ein.«

Kurz nach diesem Gespräch stürzte Wachter in seine Wohnung, riß Jana Petrowna in seine Arme, küßte sie, als sei er ein junger stürmischer Liebhaber, drehte sich mit ihr im Kreis und strahlte vor Glück.

«Ich werde mitfahren, Töchterchen!«rief er.»Nach Königsberg werde ich mitfahren… mit meinem Zimmer… Bei ihm werde ich sein… bis Nikolaj aus dem Krieg zurückkommt und ihr einen Sohn habt. Vielleicht ist es wirklich besser, daß es aus dem Schloß wegkommt. Gerettet wird es und nicht unter Granaten und Bomben begraben. Jana, mein Töchterchen, das Schicksal meint es gut mit uns!«

An diesem Tag trug der für das Tagebuch des 50. Armeekorps verantwortliche Offizier auf einer Außenstelle des Korps in das Buch ein:

1.10.1941 Krasnogwardejsk:

Zur Sicherstellung der Kunstgegenstände im Befehlsbereich des L.A.K. sind vom A.O.K. 18 Rittmeister Dr. Wollters und Sonderführer Dr. Runnefeldt eingesetzt.

Und an diesem Abend — wer hat nicht Verständnis dafür — betrank sich Michael Wachter nach langer Zeit. Aus dem Schlafzimmer der Zarin Maria-Feodorowna holte er seine letzte Wodkaflasche. Er hatte sie im Bett aus Ahornholz versteckt.

Eintragung in das Kriegstagebuch des 50. Armeekorps:

14.10.1941 Krasnogwardejsk

Abtransport der durch die Kunstsachverständigen Rittmeister Dr. Wollters und Sonderführer Dr. Runnefeldt in Puschkin sichergestellten Kunstgegenstände, u.a. der Wandverkleidung des Bernsteinsaales aus Schloß Puschkin (Zarskoje Selo), nach Königsberg…

Es waren 14 Tage, in deren Nächten Michael Wachter kaum Ruhe fand, und wenn er übermüdet auf ein Feldbett sank und drei Stunden erschöpft und unruhig schlief, dann nur im Bernsteinzimmer. Das Feldbett hatte er mit einem zum Ausbau abkommandierten Soldaten aus dem Schlafzimmer von Zar Alexander I. geholt. Es stand in dem Barockschlafzimmer hinter einem Vorhang… eine spartanische Ruhestatt des soldatischen Zaren.

Bei der Auswahl der Helfer, die Dr. Runnefeldt angefordert hatte, Männer mit Fingerspitzengefühl, gab es allerdings einige Vorfälle.

So ließ der Hauptfeldwebel, auch Spieß genannt, eine zur Erholung und Auffrischung aus der Front nach Puschkin abgezogene Kompanie antreten, und es entstanden bemerkenswerte Dialoge.

«Alle mal herhören!«schrie Hauptfeld Max Himmerich und blickte die Reihe seiner Soldaten entlang.»Wer ist Künstler?«

Keiner meldete sich. Man kannte Himmerich zu gut. Wenn sich jemand meldete, konnte es heißen:»Was sind Sie? Bildhauer? Ab zur Latrine und die trockene Scheiße von den Wänden hauen!«

«Ja, gibt's das denn?«brüllte Himmerich.»Ich habe keinen Künstler in der Kompanie?! Nur Analphabeten? Alle Künstler — vortreten!«

Zögernd traten jetzt drei Mann aus den Reihen und bauten sich drei Schritte vor der Kompanie auf. Hauptfeld Himmerich kniff die Augen zusammen. Drei, immerhin etwas.

Er ging zum ersten Freiwilligen und starrte ihn an. Die drei Kerle sahen nicht aus wie Künstler, auch wenn Himmerich nicht wußte, wie ein Künstler auszusehen hatte.

«Was sind Sie?«knarrte er.

«Schütze Eberhard Gneisl, Herr Hauptfeld.«

«Was habe ich gesagt«, brüllte Himmerich.»Nicht wer Sie sind!«

«Impressionist«

«Aha!«Himmerich zog die Augenbrauen hoch. Impremist, dachte er. Was ist das? Sicher unbrauchbar…

«Wegtreten!«bellte er. Der zweite Künstler grinste breit, als Himmerich zu ihm kam.»Und Sie?«

«Töpfer, Herr Hauptfeld.«

Himmerich holte tief Atem.»Sie Idiot!«schrie er und wurde hochrot im Gesicht.»Stellt Töpfe her und nennt sich Künstler!«Nummer drei sah mit gemischten Gefühlen seiner Befragung entgegen und nahm Haltung an, als Himmerich vor ihm stand.»Und Sie? Sind wohl artistischer Kunstscheißer?!«

«Nein, Herr Hauptfeld… Bleiverglaser.«

Himmerich stutzte. Was man darunter verstand, war ihm völlig unbekannt, auf jeden Fall gehörte es nicht zur Kategorie Künstler, wie Himmerich sie verstand. Kein Pianist, kein Sänger, kein Maler, nicht mal ein Anstreicher. War das eine saumäßige Kompanie!

«Wegtreten!«brüllte Himmerich. Er sah die lange Reihe der Angetretenen an und steckte den Daumen neben das Spießbuch in den aufgeknöpften Uniformschlitz.»Ich brauche p-manden mit Fingerspitzengefühl.«

«Hier, Herr Hauptfeld!«rief es aus der Mitte.

«Vortreten!«

Ein Gefreiter kann nach vorn und baute sich vor Himmerich auf.

«Was sind Sie?«Himmerich war auf alles gefaßt.

«Schneider, Herr Hauptfeld.«

Himmerich atmete hörbar auf. Ein Schneider! Wenn ein Schneider kein Gefühl in den Fingerspitzen hatte, konnte er einpacken! Wozu tragen die Schneider alle einen Fingerhut? Das war der richtige Mann!

«Sie melden sich abmarschbereit in einer halben Stunde bei mir!«sagte Himmerich wohlwollend.»Sie werden nach den Zarenschlössern verlegt. Kompanie weggetreten!«

Zufrieden stiefelte er zurück n seine Schreibstube. Nur ein Mann, aber immerhin — die Ehre der Kompanie war gerettet. Künstler sind eben selten, weiß der Teufel, wohin man sie eingezogen hat.

Immerhin — so kamen aus Puschkin zehn Männer mit Fingerspitzengefühl zusammen und meldeten sich bei Dr. Runnefeldt. Im Vertrauen auf die gute Organisation der Wehrmacht befragte er nicht jeden einzeln, sondern versammelte sie im Bernsteinzimmer. Drei Verschalungen waren bereits abgetragen worden. Die Pracht, die darunter zum Vorschein kam, ließ jeden Betrachter ganz still werden.

«Das Bernsteinzimmer…«sagte einer der zehn leise. Dr. Runnefeldt sah zu ihm hinüber.

«Sie kennen es?«

«Nur von Bildern, aber die können nie wiedergeben, wie es wirklich ist. Das erschlägt einen ja.«

«Was sind Sie von Beruf?«

«Bildhauer, Herr Sonderführer.«

«Das ist ja vorzüglich. Wenn Rittmeister Dr. Wollters und ich nicht da sein sollten, übernehmen Sie das Kommando. Sie heißen?«

«Ludwig Gronau, Herr Sonderführer.«

«Also, Gronau… Sie sind mir jetzt verantwortlich. «Er zeigte auf Wachter, der den Bildhauer kritisch musterte.»Und das ist Herr Wachter. Er hat das Bernsteinzimmer bisher gepflegt, er gehört zum Zimmer. Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich an ihn. Und noch etwas: Wenn Herr Wachter Vorschläge macht, sind sie zu befolgen. Er kennt jedes Steinchen der Wände.«

Dr. Wollters hielt sich jetzt aus allen Anordnungen von Dr. Runnefeldt heraus. Er hatte einen ganzen Tag damit verbracht, die anderen Kunstschätze, die man noch im Katharinen-Palast zurückgelassen hatte, zu registrieren. Von Stunde zu Stunde wurde er unruhiger. Was in diesem Schloß noch an Werten vorhanden war, übertraf selbst die kühnsten Erwartungen. Immer wieder las er die lange Liste durch und bekam dabei Herzklopfen. Da waren verzeichnet:

Über 200 Schmuckgegenstände, von denen die in Kunstkreisen berühmten Frühlingssträuße aus Goldfiligran und Edelsteinen das wertvollste war.

Eine grandiose Sammlung von Meißner und französischem Porzellan.

Die Sammlung von Katharina II. mit 50 Ikonen, zum Teil eingefaßt mit edelsteinbesetzten Goldrahmen.

Die in der Welt einmalige Sammlung von Peter I, dem Gründer von Petersburg. Sie allein umfaßte 650 Ikonen. Alle Schulen der Ikonenmalerei waren vorhanden, von den Anfängen an. Geschenke der Kirchen und Klöster an den großen Zaren.

45 Deckengemälde der italienischen Schule, und unter seinen Füßen die wertvollen Parkette. In den Prunkräumen hingen die riesigen Kronleuchter mit ihren Verzierungen aus Bergkristall und Edelsteinen. Auch das Schlafzimmer Katharinas II. war noch vorhanden, die Möbel in den Nebengemächern standen herum, aus Holz geschnitzte und vergoldete einmalige Obszönitäten: Stühle mit Beinen aus erigierten Penissen, Behänge aus hölzernen Hodensäcken, im Holzrahmen eines Diwans eine naturgetreue Nachbildung einer Vagina.

Dr. Wollters war wie betäubt von der Fülle dieser Kunstgegenstände, wie es auch Müller-Gießen gewesen war, der das alles aufgelistet hatte.

«Kommt alles mit!«sagte Wollters halblaut zu sich selbst.»Alles! So etwas darf der Zerstörung nicht zum Opfer fallen. «Natürlich wird der Führer in seinem Linzer Museum keine holzgeschnitzten Penisse ausstellen, aber Himmler oder Rosenberg oder wer sonst noch — ach ja, Göring — bekommen sie auch nicht, dachte Wollters und hatte vor Begeisterung rote Ohren. Das werde ich für mich reservieren… irgendwie wird sich das möglich machen lassen. Ich habe ein großes Haus. Warum soll ich mir nicht ein Katharinen-Zimmer einrichten? Eine hochkünstlerische Sauerei — das wird für Stimmung sorgen. Und unbezahlbar ist es auch.

Am Abend saß er mit Dr. Runnefeldt zusammen im Offizierskasino des Armeekorps-Stabes, aß ein halbes Hähnchen, trank dazu einen leichten Wein und fühlte sich rundum wohl. Nicht einen Gedanken verschwendete er dafür, an die Soldaten zu denken, die kaum 30 km entfernt in ihren Gräben und Löchern verbluteten. Die Sowjets waren zum Entlastungsangriff angetreten… ihre 42. und 52. Armee stürmten gegen den deutschen Einschließungsring. Die 23. Armee versuchte, das Südufer des Ladoga-Sees zu halten, um über Straße und See einen Versorgungsweg herzustellen. In Leningrad hatte das Hungern begonnen -

«Wann kommen die Lastwagen?«fragte er Dr. Runnefeldt und nagte einen Hähnchenknochen ab. Das widersprach nicht seiner guten Erziehung, gab es doch einen englischen König, Heinrich VIII., der auch Hühnerknochen abgenagt und sie dann über die Schulter gegen die Wand geworfen hatte.

«Am 12.«, antwortete Dr. Runnefeldt kurz.

«Bis dahin sind wir fertig?«

«Müssen wir fertig sein! Die >Transportstaffel Koch< kann uns nur eine beschränkte Zeit zur Verfügung stehen. Sie ist im Nachschub der 18. Armee eingesetzt.«

«Ich habe es Ihnen von Anfang an gesagt: Mir gefällt das nicht. «Dr. Wollters legte den Knochen auf den Teller zurück und säuberte seine fettigen Hände an einer großen Papierserviette.»Wieso hat Koch auch hier seine Finger drin? Was spielt sich da im Hintergrund ab?«»Das Bernsteinzimmer kommt nach Königsberg ins Schloß, und da residiert nun einmal Gauleiter Koch. Führerbefehl. Unterstellen Sie dem Führer Dilettantismus?«

«Um Himmels willen — nein!«Dr. Wollters beugte sich etwas über den Tisch vor.»Ehrlich und unter uns, Dr. Runnefeldt, mögen Sie Erich Koch?«

«Ich kümmere mich nur um das Bernsteinzimmer«, sagte Runnefeldt eisig.»Eine Kritik an Gauleiter Koch steht mir nicht zu.«

Dr. Wollters wechselte das Thema. Es war ihm nicht gelungen, Runnefeldt festzunageln.

Der Ausbau des Bernsteinzimmers war mühsam und zeitaufwendig. Die großen Wandtafeln mußten vorsichtig vom Untergrund gelöst werden und wurden an den Nahtstellen zerlegt, die Rosetten, Girlanden, Putten, Kriegerköpfe und Figuren trennte man mit größter Feinfühligkeit heraus, eine Millimeterarbeit, bei der kein Mosaiksteinchen verlorengehen durfte. An den Wänden war schon in den ersten Tagen der Schloßbesetzung genug gesündigt worden. Die» Andenken «sammelnden Soldaten hatten große Bernsteinstücke aus den Mosaiken gebrochen. Überall sah man Löcher, ein paar Figuren, die den Seitengewehren standgehalten hatten, waren völlig zerkratzt, beschädigt oder durchgebrochen… es war ein Anblick, bei dem sich Wachters Herz verkrampfte.

«Eine Schande!«sagte Ludwig Gronau ein paarmal, wenn er die häßlichen Lücken sah: Er hatte mit Wachter Freundschaft geschlossen. Unter seinen Künstlerhänden zerbrach nichts, selbst beim Ausbau schien er das Bernstein zu streicheln.»Ich schäme mich für meine Kameraden.«

«Genau dasselbe hat General von Kortte gesagt. Was soll's…«Wachter hob resignierend die Schulter.»Nach dem Krieg wird man alles restaurieren, wenn es nicht schon Dr. Findling in Königsberg machen läßt. Der größte Teil ist jedenfalls erst mal gerettet.«

«Wenn wir den Krieg gewinnen, Michael.«

«Du glaubst nicht?«»Hast du dir mal die Karte von Rußland angesehen? Von der Westgrenze bis zum Kap Deschnew im äußersten Sibirien? Das wollen wir erobern… dieses unendliche Land? Selbst wenn wir Moskau einnehmen, dann ziehen sich die Sowjets hinter den Ural zurück. Dann in die Sümpfe, in die Taiga, ins sibirische Hochland, in die Tundra und die Steppen, an die Grenze Chinas. Die Generäle sollten Hitler nicht nur Ausschnitte zeigen, sondern auch mal die Karte des ganzen Rußland. Da siegen wir uns zu Tode, schon bis zum Jenisseij, geschweige bis zur Lena. Da kommen wir nie hin!«

«Und was wird dann aus dem Bernsteinzimmer?«fragte Wachter bedrückt.

«Das bekommt ihr wieder. Verlaß dich drauf. Was wir hier tun, ist nur eine Verlagerung zum Schutz vor Zerstörung. Überall steht die Front, der Vormarsch ist gestoppt. Paß mal auf, wie das jetzt weitergeht… nämlich zurück.«»Wenn das einer hört, bist du dran, Ludwig.«»Ich sag's nur dir, Michael. Denk an meine Worte, wenn das große Muffensausen beginnt.«

Später sprach Wachter in seiner Wohnung mit Jana Petrowna darüber. Bisher hatte sie sich versteckt gehalten, stand nur des Nachts am offenen Fenster und saugte die frische Luft ein. In der Wohnung war sie sicher, weder Wollters noch Runnefeldt hatten sie bisher betreten — was sollten sie auch dort? Nur General von Haldenberge hatte Wachter einmal besucht, da war Jana auf das Klo geflüchtet, von Haldenberge blieb zum Glück nur eine knappe Viertelstunde, er war verwundert, wie bescheiden Wachter inmitten des ihn umgebenden Prunkes lebte.

«Bald sind wir soweit«, sagte Wachter und goß sich eine Tasse Tee ein, in die er ein paar harte Kekse tunkte.»Wir sind schon dabei, die Kisten zu zimmern. Eine Schwierigkeit hat Dr. Runnefeldt noch nicht beseitigt: Wo bekommen wir genug Holzwolle zum Transportschutz her? Die beiden Sägewerke von Puschkin liegen still.«

«Vielleicht bringen die Lastwagen Holzwolle mit.«»Das ist unsere große Hoffnung, Töchterchen. «Kurz darauf, am nächsten Morgen, wäre es bald zur Katastrophe gekommen.

Auf Befehl des Generals war eine Putzkolonne unterwegs, um von außen die großen Fensterscheiben zu putzen. An dicken Seilen ließ sie sich vom Dach an der Hauswand hinunter, auch um beschädigte Fassadenteile abzuschlagen, die nach dem Bombenangriff vor der Eroberung übriggeblieben waren. Von Haldenberge blieb keine andere Wahl; ein großes Stück Gesims war heruntergefallen und hätte fast einen Oberst des Stabes erschlagen.

So kam es, daß der Gefreite Willy Schmidt an seinem Tau auch am Fenster von Wachters Wohnung vorbeipendelte und einen schnellen Blick ins Zimmer warf. Jana Petrowna, wie immer in Schwesterntracht, saß auf dem Sofa und las in einem Buch von Tolstoj. Daß es in russischer Sprache war, konnte man nicht erkennen.

«Ein Mäuschen!«sagte Schmidt begeistert.»Junge, Junge, ist die 'ne Wucht. «Er stellte sich draußen auf die Fensterbrüstung und klopfte an die Scheibe. Als hätte man auf sie geschossen, sprang Jana Petrowna auf. Das Buch fiel mit einem dumpfen Laut auf den Boden.

Willy Schmidt winkte fröhlich durch die Scheibe und spitzte die Lippen.

«Küßchen!«rief er.»Küßchen! Mach das Fenster auf, Süße… der scharfe Willy ist da!«

Nur einen Augenblick hatte Jana gezögert, dann kehrte ihre Geistesgegenwart zurück. Mit verführerischem Lächeln kam sie ans Fenster, aber sie öffnete nicht die Flügel. Durch die Scheibe rief sie:»Hau ab, du Kletteraffe.«

Willy Schmidt grinste breit, machte eine eindeutige Handbewegung und klopfte wieder an die Scheibe.

«Mach auf, Schätzchen!«rief er und drückte seine Stirn gegen das Fenster.»Ich sag dir, du verpaßt was! Ich habe drei Atü in der Hose…«

«Da muß ich erst Stabsarzt Dr. Reiners fragen… meinen Verlobten«, rief Jana zurück.

«Ach, Scheiße… immer die Offiziere und Ärzte!«Willy Schmidt ließ sich an seinem Tau wegpendeln, winkte noch einmal zu Jana hin und verschwand dann vom Fenster in die Tiefe. Mit weichen Beinen ging Jana zum Sofa zurück. Was nun? dachte sie. Wird er das den anderen erzählen? Wird jetzt jemand kommen und nachsehen, was eine Rote-Kreuz-Schwester im Schloß zu suchen hat?

Sie wartete, breitete Verbandsmull, Pflaster, eine Schere und ein Fläschchen mit Desinfektionsflüssigkeit auf dem Tisch aus, als ob sie Wachter noch versorgen müßte, obgleich seine Platzwunde am Kopf längst verheilt war. Aber niemand kam. Willy Schmidt schwieg. Nicht, weil er abgeblitzt war und deswegen nicht von seinen Kameraden verspottet werden wollte, sondern aus der Erfahrung heraus, daß man ein Offiziersliebchen nicht aufreißen durfte. Einmal hatte er es getan, in Uh-kenntnis der Lage, beim Einmarsch in Polen, im Lazarett von Sokolow, wo er eine Woche lang lag mit einem grandiosen Durchfall und zu seinen Stubenkameraden sagte:»Jungs, ich kann doch nichts dafür… ich scheiße mich tot…«Kurz vor seiner Entlassung aus dem Lazarett hatte er dann Irma kennengelernt, aber mehr als über ein Streicheln ihrer Brust war er nicht hinausgekommen. Doch das genügte. Oberarzt Dr. Muthesius, Irmas Nachtgefährte, hatte das Griffekloppen zufällig gesehen, schiß Schmidt grauenhaft zusammen und sorgte dafür, daß er ohne Erholungsurlaub sofort wieder an die Front kam.

So ein Erlebnis machte vorsichtig. Finger weg von Offi-ziershüpferchen…

Wachter war sehr betroffen, als Jana Petrowna ihm am Abend von der Begegnung am Fenster erzählte.»Ab sofort ziehen wir die Vorhänge dicht zu«, sagte er.»Besser im Halbdunkel sitzen als in einer Zelle. Wirklich, man kann nie vorsichtig genug sein. Wer denkt denn daran, daß die außen an der Fassade herumturnen?«

Aber auch am nächsten Tag kontrollierte niemand Wachters Wohnung. Jana und er atmeten auf. Ihr Schicksal hatte sich noch nicht erfüllt.

Pünktlich am 12. September traf die Kolonne von 18 Lkws der» Transportstaffel Koch «in Puschkin ein. An einem Seiteneingang fuhren sie auf und standen dann auf den Zentimeter ausgerichtet auf dem Kies. Der Transportleiter, ein Oberleutnant, meldete sich in der Armeekorps-Adjutantur und dann bei Dr. Runnefeldt.

«Das klappt ja vorzüglich!«sagte Runnefeldt und gab dem Oberleutnant die Hand.»Das ist eben deutsche Gründlichkeit. Haben Sie Holzwolle bei sich?«

«Aber ja. Gauleiter Koch ahnte schon, daß es damit Schwierigkeiten gibt. Jeder Wagen hat ein paar Säcke Holzwolle bei sich.«

«Phantastisch! Hier ist wirklich einer, der noch denken kann. «In Wahrheit dachte er: Kochs Interesse ist gefährlich groß. Was spukt da in seinem Gehirn herum? Was hat er mit dem Bernsteinzimmer vor? Zwar gibt es da den Führerbefehl, den» Führervorbehalt«, und Bormann wird ein waches Auge auf das Bernsteinzimmer haben… aber Koch ist alles zuzutrauen. So harmlos er aussieht, so ein Gauner ist er auch. Ein Glück, daß es noch einen Dr. Findling gibt -

Während der Oberleutnant ins Kasino geführt wurde, um nach der langen Fahrt wieder etwas Anständiges zu essen und zu trinken, und die 36 Fahrer, für jeden Lkw zwei Mann abwechselnd am Steuer, in der Mannschaftsküche zum Koch gingen und sagten:»Nun greif man in dein Versteck, Junge, und bring was Gutes auf die Platte… wir sind vom Führer ausgesucht…«, teilte Dr. Runnefeldt die Neuigkeit im Bernsteinzimmer mit. Hier standen bereits 21 verpackte Kisten, nur die Holzwollaus-kleidung fehlte. Sechs Schreiner klopften die restlichen Kisten zusammen.

«Wir haben Holzwolle, soviel wir wollen!«rief Runnefeldt fröhlich.»Die Organisation läuft wie am Schnürchen! Herr Wachter, wischen Sie Ihre Sorgenfalten weg!«

«Nun ist es soweit«, sagte am Abend Wachter zu Jana Petrowna.»Wenn Runnefeldt mich tatsächlich mitnimmt nach Königsberg, was wird dann aus dir? Wir werden uns trennen müssen… und wo sehen wir uns wieder? Was auch mit mir passiert, du mußt den Krieg überleben, Töchterchen.«

Sie nickte, bereitete Wachter das Abendessen und feilte seither an ihren Gedanken, die sie seit vier Tagen beschäftigten.

Sie sprach nicht darüber, es war ihr Plan, und Väterchen würde ihn glatt verbieten, wenn er ihn erfahren würde. Eine große Überraschung sollte es außerdem werden, auch wenn er sie hinterher beschimpfte.

Dr. Wollters war voll damit beschäftigt, die anderen Kunstgegenstände zu verpacken. Für jede der unbezahlbaren alten Ikonen — viele stammten aus der berühmten Nowgoroder Schule — ließ er ein Futteral aus dickem Packpapier oder Pappe anfertigen. Dann wurden die Kronleuchter zerlegt und in Kisten verstaut. Schwierigkeiten gab es nur mit dem Bett von Katharina II. und den Penisstühlen… Dr. Runnefeldt hatte Wollters wenig Hoffnung gemacht, hm zwei Lastwagen extra abzugeben. Erst das Bernsteinzimmer… wenn dann noch Platz war, bitteschön. Von Möbeln hatte man im OKW nichts gesagt, und von geschnitzten und vergoldeten Hodensäcken schon gar nicht. So etwas fiel nicht unter den» Führervorbehalt«. Das war höchstens eine Kunst für den Frauenjäger Josef Goebbels.

«Auch ungefähr 20 000 Bücher müssen mit«, hatte Wollters gesagt.»Aus den Klöstern, von Mönchen handgeschrieben. Mit Initialen, gemalt mit Kobalt, Purpur und Gold! Ganze Gemäldeseiten zum biblischen Text. Dr. Runnefeldt, so etwas muß einfach mit. Dafür muß Platz vorhanden sein.«

«Erst das Bernsteinzimmer«, wiederholte Runnefeldt geduldig.»Vielleicht haben Sie Glück, Herr Wollters.«

Am frühen Morgen des 13. Oktober begann das mühsame Verladen. 27 große Kisten füllte das demontierte Bernsteinzimmer, und Dr. Runnefeldt zeichnete jede auf dem Deckel mit seinem Namen ab, bevor sie in die Lastwagen gehoben wurden. Die Kisten waren so schwer, daß Dr. Runnefeldt bei General von Haldenberge vorsprach und um Hilfe bat. Ein Zug des in Kampfreserve bei Puschkin liegenden PionierBataillons rückte zum Katharinen-Palast aus und brachte e-nen kleinen fahrbaren Kran und einen Flaschenzug mit.»Vorsicht!«sagte Dr. Runnefeldt zu dem jungen Leutnant, der den Zug führte.»Größte Vorsicht. Da ist alles zerbrechlich in den Kisten. Nirgendwo anstoßen, und fallen lassen — das wäre eine Katastrophe.«

«Meine Jungs sind Spezialisten. «Der Leutnant blickte zu den Fenstern des abmontierten Saales. Ein dicker Kragbalken aus Vierkantholz wurde gerade durch ein Fenster geschoben und verankert. Man machte es mit soldatischem Improvisationstalent: Die Pioniere schlugen einfach dicke Stahlkrampen in die Fensterbrüstungen und innen in die nun kahlen Wände. Der große Flaschenzug konnte in Kürze aufgehängt werden.

Auch Spezialisten haben mal eine schwache Minute. Es passierte nicht beim Herunterlassen der Kisten, sondern beim Einschwenken des Krans auf einen der Lastwagen. Ein Strick riß, Dr. Runnefeldt griff sich entsetzt an die Stirn, der PionierLeutnant brüllte auf… aber verhindern konnte man nichts mehr. Die Kiste Nr. 19 rutschte aus den Stricken und fiel laut krachend mit der Kante auf den Kiesboden.

«Da haben wir's!«rief Dr. Runnefeldt erregt.»Jetzt ist nur noch Bruch in der Kiste.«

«Ich bitte festzustellen«, sagte der Leutnant mit eisiger Miene,»daß die Verschnürung der Kisten nicht von uns gemacht worden ist. Die Verantwortung liegt bei Ihnen.«

«Habe ich Ihnen einen Vorwurf gemacht?«Dr. Runnefeldts Stimme konnte auch dröhnend werden, was ihm niemand zugetraut hätte.»Ich stelle nur fest: Eine Kiste ist im Eimer!«»Das werden Sie ja beim Auspacken sehen. Vielleicht haben Sie Glück. Bei solcher Holzwollenstopfung… und die Fallhöhe war auch nicht groß.«

«Sie wissen ja gar nicht, was Sie da verladen.«

«Ich will es auch gar nicht wissen.«

Der Leutnant ging hinüber zu der Kiste, die gerade mit dem Flaschenzug heruntergelassen wurde, und ließ Dr. Runnefeldt einfach stehen.

Am späten Nachmittag waren die Lkws beladen. Zehn Fahrzeuge hatte das Bernsteinzimmer gebraucht… Acht Wagen blieben übrig. Dr. Runnefeldt ging ins Schloß und traf Wollters im halb abgerissenen Bernsteinsaal an.

«Sie haben ein unverschämtes Glück, Herr Wollters«, sagte er, deutlich verärgert.»Acht Lkws sind frei für Sie… Zufrieden?«

«Hervorragend. «Dr. Wollters überdachte schnell, was er hätte zurücklassen müssen, wenn es nur zwei Wagen gewesen wären.»Dann kann ich die Ikonen und Gemälde aus der Schloßkapelle und der Schloßkirche noch mitnehmen. Haben Sie diese herrliche Ikonostase gesehen? Eine geschnitzte, vergoldete Zwischenwand, über und über bedeckt mit edelsteinbesetzten Ikonen der berühmtesten Schulen.«

«Ja. Ich habe sie gesehen.«

«Wir müssen noch einen Tag dranhängen, Herr Dr. Runnefeldt. Ich lasse die ganze Nacht hindurch die Wand abtragen.«»Morgen früh fahren wir los: Werden Sie es bis dahin schaffen? Wir können den Transportplan ohne Zustimmung des Armeekommandos nicht umstoßen. Das wissen Sie. Generaloberst Küchler wäre stinksauer.«

«Ich schaffe es. «Dr. Wollters spürte, wie seine Nerven vibrierten. Acht Wagen voll… Geschenke für den Führer… wenn das nicht in der» Wolfsschanze «lobend aufgenommen wurde, gab es keine Gerechtigkeit mehr. Und fünf, na, sagen wir zehn Ikonen aus dieser Fülle von Kunst konnte man privat abzweigen, bei rund 700 Ikonen fielen diese zehn gar nicht auf. Schon gar nicht die geschnitzten goldenen Hodensäcke… sie tauchten in keiner Liste auf, in keinem» Sicherstellungspapier«, Dr. Wollters hatte sie übersehen.»Wann sind Sie mit dem Verladen fertig?«

«In drei Stunden, denke ich.«

«Kann ich dann Ihre zehn Spezialisten und die Pioniere haben?«

«Sprechen Sie mit dem Leutnant, Herr Wollters.«

«Herr Runnefeldt, wir ziehen doch beide am gleichen Strang — «

«So ist es… nur jeder am anderen Ende.«

Wollters blickte Runnefeldt mit bösem Blick nach, als dieser zurück zu den Lastwagen ging. Fatzke, dachte er wütend. Hochnäsiges Arschloch. Ich werde alles in einem vertraulichen Bericht niederschreiben und es Ribbentrop zukommen lassen. Auch ein Dr. Runnefeldt ist entbehrlich… da hilft ihm keine

Verbindung zu Bormann und dem Führer. Gerade im Führerhauptquartier wechseln schnell die Stimmungen.

Er verließ schnell das kahle Zimmer und ging mit weit ausgreifenden Schritten durch die langen Gänge des Palastes zur Schloßkirche.

Michael Wachter saß auf seinem Hocker mitten im ausgeräumten Saal, als Dr. Runnefeldt zu ihm hinaufkam.»Das hätten wir geschafft«, sagte er mit müder Stimme.»Den schönen Fußboden nehmen wir nicht mit?«

«Noch nicht… beim nächsten Mal aber bestimmt.«

«Sie wollen noch mal in den Katharinen-Palast, Herr Doktor?«»Wir müssen, Herr Wachter. «Dr. Runnefeldt zeigte nach oben.»Wir müssen uns etwas einfallen lassen, die Deckengemälde unversehrt wegbringen zu können. Dann geht auch das Mosaikparkett mit.«

«Wann fahren Sie?«

«Morgen, ganz früh.«

«Ich werde da sein und Abschied nehmen von meinem Bernsteinzimmer.«

«Ach ja…«Dr. Runnefeldt starrte wieder auf die Deckengemälde, um Wachter nicht in die Augen sehen zu müssen.»Wir werden noch früher der Kolonne vorausfahren.. Dr. Wollters, ich und — Sie.«

Es traf Wachter wie ein elektrischer Schlag. Er zuckte hoch und preßte beide Hände flach gegen seine Brust. Nur jetzt nicht umfallen, bettelte er. Herz, halt stand… verkrafte es, bitte, bitte, sei jetzt stark genug. Du darfst mich jetzt nicht verlassen, Herz.»Ich darf tatsächlich mit…? Nach Königsberg? Sie nehmen mich also mit, Herr Doktor? Ich kann bei meinem Bernsteinzimmer bleiben?«

«Bis Königsberg sicherlich. Was dann wird, das kann ich nicht bestimmen. Das müssen Dr. Findling und Gauleiter Koch entscheiden. Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt. Sind Sie zum Abmarsch bereit?«

«Ja, Herr Doktor. «Wachter holte tief und mit einem Röcheln Atem.»Alles steht gepackt bereit. Drei Koffer, mehr habe ich nicht, was ich mitnehmen kann. Das meiste gehört ja dem

Schloß.«

«Rechnen Sie damit, daß Sie nie wieder nach Puschkin kommen. Vielleicht nach dem Endsieg, wenn der KatharinenPalast dann noch steht.«

«Es geht mir nicht um das Schloß, Herr Doktor, auch wenn wir Wachters hier über 200 Jahre lang gelebt haben.«

«Ich weiß, Sie und das Bernsteinzimmer gehören zusammen. Ich glaube, das wird auch Dr. Findling einsehen. «Dr. Runnefeldt zog sein Kinn an den Uniformkragen und zwang sich, äußerlich keine Rührung zu zeigen. Als er sah, wie Wachters Augen glänzten und dieser Schimmer von verhaltenen Tränen kam, drehte er sich weg und verließ schnell das leergeplünderte Zimmer.

Die zehn Lastwagen standen aufgereiht längs der Zufahrt zum Katharinen-Palast, die Planen fest verschnürt, die Fahrerkabinen verschlossen. Acht Wagen warteten neben der Schloßkirche, um mit den Kunstgegenständen beladen zu werden, die Dr. Wollters noch ausbaute. Die zehn Künstler mit Fingerspitzengefühl und der Zug der Pioniere arbeiteten ohne Unterbrechung, nahmen die Ikonostase auseinander, holten die Kronleuchter von den Decken, schleppten große chinesische Vasen und brokatene Barockmöbel ins Freie und stapelten die eingehüllten Ikonen und Gemälde, Gobelins und Teppiche. Dr. Wollters stand an der Tür und strich jedes herausgetragene Teil penibel auf seinen Listen an.

Ein kurzer Haken. Aus! Es würde Rußland nie wiedersehen. Unteroffizier Julius Paschke, geboren in Berlin-Wedding, von Beruf Kaminkehrer, den man als nicht kriegswichtigen Betrieb eingestuft hatte, saß auf dem Trittbrett von Wagen sieben und hielt Wache. Ohne Bewachung wollte Dr. Runnefeldt seine wertvolle Fracht nicht in der Nacht herumstehen lassen… auch die festeste Kiste war für einen Landser kein Hindernis, wenn er an etwas herankommen wollte. Im Rhythmus von zwei Stunden lösten sich die Wachen ab, nur Julius Paschke mußte länger aushalten. Er war Kolonnenführer der Wagen sechs bis zehn und außerdem der vorgesetzte Wachhabende, der UvD, der Unteroffizier vom Dienst.

Er saß da auf dem Trittbrett, rauchte eine Zigarette nach der anderen, hatte einen Mordsappetit auf eine Flasche Bier, auch wenn es Dünnbier war, das man Urinol oder Pissulin nannte, und hing schweren Gedanken nach. Vor allem beschäftigte ihn seine Frau Johanna, ein hübsches Frauchen mit strammen Titten und einem geilen runden Arsch, und seit Paschke an der Front war — und er war vom ersten Tage des Einmarsches in Polen dabei — fragte er sich immer: Was macht sie jetzt? Liegt sie in dieser Nacht wirklich allein im Bett? Denkt sie immer an den Spruch: Hab Gott vor Augen und die Buxe zu…? Noch genug Männer waren in der Heimat, in den kriegswichtigen Fabriken, bei Siemens zum Beispiel, und diese Kerle sahen es gewissermaßen als Verpflichtung an, die Frauen ihrer kämpfenden Kameraden nicht vertrocknen zu lassen. War Johanna auch so eine?

Beim letzten Urlaub hatte Paschke versucht, ihr ein Kind zu machen, aber das war mißlungen. Wieso, das wußte Paschke auch nicht. Er hatte sich 14 Tage lang unermüdlich bemüht und kam dann durchaus nicht erholt zur Truppe zurück. Hannas Brief, der in dem Satz gipfelte:»Nix ist, Julius. Die polnischen Weiber haben Dich schlapp gemacht!«, war Anklage und Spott zugleich. Jetzt lag sie vielleicht unter einem dieser als unabkömmlich erklärten Kerle und blies ihm ihren Atem ins Gesicht. Himmel, Arsch und Zwirn, hoffentlich ist der Scheißkrieg bald zu Ende…

Er schrak zusammen, sein gesenkter Kopf zuckte hoch. Vor ihm stand eine weibliche Gestalt in einer Schwesterntracht. Lautlos war sie gekommen, völlig ohne Geräusch, als sei sie durch die Luft geflogen.

«Det is ja wunderbar!«sagte Julius Paschke, warf seine Zigarette weg und zermalmte sie mit der Stiefelsohle.»Wat is jefällig? Blutdruck, Herzklopfen oder Entlausung? Is alles da, Schwesterchen. Am schlimmsten empfind ick di Spannung in der Hose…«

«Ich möchte Sie um etwas bitten. «Jana Petrowna zögerte einen Moment, dann setzte sie sich neben Paschke auf das

Trittbrett. Ein leichter Parfümgeruch umwehte Paschke und erinnerte ihn an den Puff von Riga.

Jeijeijei… ausgerechnet jetzt! Beim Wacheschieben gibt es kein anderes Schieben. Mädchen, ich komme vors Kriegsgericht — einen Teufel werde ich tun!

«Schieß los, Kleene, wat soll's denn sein?«sagte er und musterte Jana von der Seite. Sein Blick blieb auf ihrem Busen haften, und er kratzte sich nervös die Nase. Immer wenn's gemütlich wird, kommt was dazwischen.

«Sie fahren doch morgen nach Königsberg?«

«Hat sich det schon rumjesprochen? Ja, wir dampfen nach Königsberg.«

«Wie weit ist das?«

«Von hier?«Paschke kniff die Augen zusammen und sah in den fahlen Himmel. Morgen regnet's, dachte er. Eine Scheißfahrt wird das werden. Die russischen Straßen sind wahre Knochenbrecher.»Luftlinie unjefähr 800 Kilometer. Aber über die Straßen werden's ooch über 900 sein. Wird 'ne Quälerei. Und wenn's regnet, sitzen wir bis zum Arsch im Schlamm. So is det…«

«Ich muß nach Königsberg«, sagte Jana Petrowna ohne einen falschen Unterton. Es klang vollkommen glaubhaft.»Zum Lazarett II. Bin dorthin versetzt. «Ob es ein Lazarett II gab, wußte sie nicht, auch nicht, ob man Lazarette überhaupt so nannte, sie wagte es einfach, es so zu nennen.

«Königsberg is scheen. Dat wird Sie jefallen, Schwesterchen. Wenn Se mal uf der Kurischen Nehrung jebadet haben… det is'n Erlebnis, sag ick Sie.«

«Nehmen Sie mich mit?«

«Ick? Nach Königsberg? Mit so 'nem Rappelkasten? Woll'n Se nen roten Affenhintern haben?«

«Mit der Bahn ist es noch unbequemer. Von hier nach Pleskau, dann nach Rositten, weiter nach Memel… ich habe mich erkundigt.«

«Fährt denn von hier keen LaZ nach Königsberg?«

«Nein, morgen fährt kein Lazarettzug nach Ostpreußen. Aber ich muß morgen weg. Der letzte Termin. Warum kann ich denn nicht mit Ihnen fahren?«

«Weil det verboten is, Süße. Sonderkommando, vastehste? Jesperrt für alle Zivilisten.«

«Ich bin kein Zivilist. Ich bin eine Rote-Kreuz-Schwester.«

«Det stimmt nu ooch wieda. «Julius Paschke betrachtete Jana wieder von der Seite — is'n verdammt hübsches Pferdchen, dachte er — und stürzte sich damit in einen Gewissenskonflikt.»Mädchen, ick kann doch nich…«

«Bitte. «Sie legte ihm die Hand auf den Arm und streichelte ihn. Paschke bekam einen Kloß in den Hals, das Hämmern seines Herzens setzte wieder ein wie damals, als er im Puff von Riga der rothaarigen Eina gegenüberstand und als Eintrittskarte seine Packung Präservative vorzeigen mußte.»Mich wird auch keiner sehen und entdecken. Ich verstecke mich im Wagen hinter den Kisten.«

«Det können aba jut drei Tage werden… wenn's regnet.«

«Das macht mir nichts aus.«

«Mädchen, und wennste mal strullen mußt?«Jana verstand das Wort nicht. Was ist strullen, dachte sie. In ihrem Wortschatz kam es nicht vor. Ich werde Väterchen fragen. Tapfer sagte sie:

«Ich muß nicht.«

«Drei Tage lang?«Paschke sah sie zweifelnd an.»Det wär'n medizinisches Wunder. Aba wennste det anhalten kannst, nachts kannste dann abprotzen…«

«So ist es. «Jana Petrowna lächelte Julius Paschke umwerfend an.»Sie nehmen mich also mit?«

«Ick weeß nich, ich weeß nich… wenn ick uffalle, dann sind de Litzen weg. Dann bin ich wieda Schütze Arsch. Laß mir det überlejen, Mädchen. Komm morjen früh noch mal, aber noch wenn's dunkel is. Ick sitz dann wieda uffm Trittbrett.«

Jana Petrowna legte den Arm um Paschkes Schulter, gab ihm einen Kuß auf die Stirn und sagte» Danke! Danke! Danke!«Dann huschte sie weg, so lautlos wie sie gekommen war. Den knirschenden Kiesboden schien sie nicht zu berühren.

Paschke starrte ihr nach, bis sie an der dunklen Hauswand verschwand. Ein schwebender Schatten.

Da sitzte nun und kneifst de Beene zusammen, dachte er. So'n jünstiger Oogenblick kommt nich wieda. Und während der Fahrt nach Königsberg is ooch nix drin, und in Königsberg, im Lazarett, schnappen die Offiziere se wech.

Allet Scheiße, deene Emma -

Er steckte sich eine neue Zigarette an, rauchte hastig und wünschte sich einen ganzen Kasten voll Pissulin…

In dieser Nacht noch nahmen Michael Wachter und Jana Petrowna Abschied voneinander. Sie umarmten sich ange, küßten sich nach russischer Art dreimal auf die Wangen, nur wenige Worte sprachen sie, was sollte man jetzt auch noch sagen. Aber als sie sich voneinander lösten, hob Wachter beide Hände über Janas Kopf.

«Mein Töchterchen«, sagte er feierlich,»Gott segne dich. Gott möge dich beschützen. Hörst du mich, Gott? Laß sie nicht aus den Augen, erhalte mir mein Töchterchen und Nikolaj, meinen Sohn. Wenn es sein muß — nimm mich. Herr, erbarme dich unser… Amen.«

In aller Ruhe packten sie wortlos Janas schwarze Wachstuchtasche. Sie nahm kaum etwas mit, ein paar Stücke Unterwäsche, dicke Strümpfe, denn der Winter kam bestimmt, und Wachter sagte, es würde ein besonders schlimmer Winter werden. Die Stare und Störche seien früher als sonst nach Süden geflogen, die Wildenten sammelten sich bereits, und die Biber im weiten Schloßpark schleppten für die langen, weißen Monate Futter in ihre Bauten.

«Du bleibst also hier?«fragte Wachter, als die Tasche gepackt war.

«Vorläufig, Väterchen. Ich melde mich im Lazarett in der Gor-kij-Schule. Irgendwie komme ich auch in die Nähe, wo du bist. Und wenn der Krieg schnell beendet ist, fahre ich sofort nach Leningrad zu Nikolaj.«

Er sah ihr zu, wie sie das Häubchen auf ihr Haar setzte, den Kragen mit der runden Brosche schloß und ihren grauen Mantel über die Schultern warf. Gott hat mich gesegnet, daß mein Sohn eine solche Frau bekommt, dachte er. Immer schon hat-ten die Wachters Glück mit ihren Frauen gehabt, selbst Urgroßvater Pjotr Germanowitsch, der drei außereheliche Kinder hatte, gottlob nur Mädchen. Jeden Fehltritt hatte Urgroßmutter ihm verziehen, sogar die gefährliche Liebe zu der Zarenköchin Wassilissa Valentinowna. Sie hatte den Ehrgeiz, die zweite Frau Wachterowskij zu werden, aber Urgroßvater machte ihr ein Kind, und die sittenstrenge Zarin verbannte sie als Gefängnisköchin auf die Peter-und-Pauls-Festung.

«Was ist strullen, Väterchen?«fragte Jana Petrowna plötzlich.»Pinkeln.«

«Und abprotzen?«

Wachter sah Jana verblüfft an.»Woher hast du die Ausdrücke?«

«Soldaten haben davon gesprochen… unter dem Fenster.«»Abprotzen nennen die Soldaten, wenn sie hinter einen Busch gehen, sich hinhocken…«

«Ach so. «Jana griff nach ihrer Wachstuchtasche und hob sie hoch. Wachter spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. Der Abschied, die letzten Minuten, die letzten Worte, die letzten Blicke. Vielleicht für immer… endgültig.»Auf Wiedersehen, Väterchen.«

«Auf Wiedersehen, Töchterchen. Gott sei mit dir.«

«Und mit dir, Väterchen. Wir sehen uns bald wieder.«»Bestimmt sehen wir uns wieder.«

Er riß ihr die Tür auf, ließ sie aus der Wohnung und machte die Tür schnell wieder zu. Ein langer Abschied ist eine unendliche Qual.

Mit gesenktem Kopf tappte Wachter in das Wohnzimmer zurück, setzte sich auf das Sofa und starrte auf seine drei Koffer. Königsberg. Mein König… die Wachters haben bisher immer ihre Pflicht erfüllt. Sie haben es Euch in die Hand versprochen.

Auf seinem Trittbrett saß Julius Paschke und wartete auf das schöne Schwesterchen. Er hatte einen Entschluß gefaßt: Er nahm sie mit. Unter der Plane, hinter den Kisten. Dort hatte er in der vergangenen Stunde ein Lager für sie hergerichtet: drei Decken übereinander, in die Ecke gequetscht einen Eimer, den man dann in der Nacht leeren konnte. Ein Problem war nur sein Beifahrer, der Gefreite Heini Doll. Er war in Köln geboren und durfte gar nicht anders heißen als Doll. Wenn er Witze erzählte, schmerzte nach einer Viertelstunde das Zwerchfell. Das war die eine Seite. Die andere war ein strammer Nationalsozialist. Dolls Vater war ein politischer Leiter in Köln. Er arbeitete in der Propagandaabteilung der Kreisleitung Köln-Mitte und glaubte alles, was Goebbels in seiner wöchentlichen Kolumne in der Zeitschrift Das Reich herunterlog. Wenn Doll den blinden Passagier entdeckte, begann die Kacke zu dampfen.

So lautlos wie beim ersten Mal stand Jana Petrowna plötzlich wieder vor Paschke. Sie wuchs einfach aus dem Schatten heraus. Paschke zog die Luft durch die Nase ein und zeigte dann auf die schwarze Wachstuchtasche.

«Det is alles?«

«Ja. In Königsberg bekomme ich eine neue Ausstattung.«

«Und det jerahmte Foto vom Bräutigam?«

«Ich habe keinen.«

«Es jibt wirklich viel Blinde uf d'r Welt. «Er hob die an der Ladeklappe aufgeschnürte Plane hoch und warf die Tasche in den Wagen.»Komm, ick helfe dir klettern. Der Chef fährt in 'ner halben Stunde ab, uns voraus, will de Laje peilen…«

«Wie heißt du?«fragte sie und nahm das Du auf, das Paschke angefangen hatte.

«Julius. Julius Paschke. Berlin-Wedding. Schornsteinfeger. Macht mir imma wieda Spaß, det Fegen. «Er verschränkte seine Hände vor dem Bauch wie zu einem Trittbrett und nickte Jana Petrowna zu.»Darf ick Jnädigste in meenen Horch bitten. Wie heest denn du?«

«Jana. Jana Rogowskij. «Sie hob das Bein, zog sich an Paschkes Schulter hoch, gestützt von seinen Händen, und setzte sich dann auf die Ladeklappe. Ihre schlanken Beine baumelten vor seinem Gesicht. Da kann die Hanna nich mit, dachte er. Und dabei is se so stolz uf ihre Beene. Det hier sind Rehbeenchen…

«Verschwinde nach hinten!«sagte er rauh.»Mach dich kleen, ick hab dir auch nen Eimer hinjestellt.«

«Für strullen und abprotzen…«

«Kleene, du bist in Ordnung. Du hast'n richtijen Drall. Los, krabble nach hinten. Und meld dir erst, wenn ick in den Wagen flüstere: Komm raus. Vastanden?«

Jana Petrowna nickte, schwang die Beine über die Laderampe und kroch an der Wand entlang zu ihrem Lager. Ihre Augen hatten sich schnell an die Dunkelheit gewöhnt, sie erkannte den Eimer in der Ecke, und neben den drei Decken Paschkes eine» eiserne Ration«, die Notverpflegung der Soldaten, die nur im allerhärtesten Notfall aufgerissen werden durfte und die man bei jedem Appell vorzeigen mußte, genauso wie die Präservative. Paschke, als Unteroffizier, kontrollierte man nicht… er selbst kontrollierte die anderen Landser, die Fahrer und Beifahrer.

Sie legte sich hin, konnte sich sogar in dem Hohlraum zwischen den Kisten ausstrecken, schob die Wachstuchtasche als Kissen unter ihren Nacken und schloß die Augen. Erst jetzt spürte sie das Zittern in ihrem Körper, die Anspannung der Nerven und versuchte, sich zu beruhigen. Alles ist gutgegangen, sagte sie zu sich. Und alles wird auch weiterhin gutgehen. Nur Ruhe, Ruhe, Jana Petrowna, das ist das wichtigste. Einen immer klaren Kopf mußt du behalten. Nichts kann dir passieren… diese Schwesterntracht macht dich unangreifbar. Irgendwann später hörte sie draußen Stimmen. Paschke rief laut:»Alles in Ordnung, Herr Rittmeister. «Und dann Dr. Run-nefeldts Stimme:»An kritischen Stellen halten wir und warten auf Sie. Wann müssen Sie tanken?«

«Alle Fahrzeuge sind vollgetankt, Herr Sonderführer. Das müßte für 400 Kilometer reichen.«

«Also dann… macht's gut, Jungs.«

«Gute Fahrt, Herr Sonderführer.«

Sie hörte das Anlassen eines Motors, der Kies knirschte unter den anfahrenden Reifen, irgendwo quietschte es. Gute Fahrt, Väterchen… ich bin hinter dir, ich komme dir nach. Sie legte sich wieder zurück auf Tasche und Decken und drückte das Ohr an die Holzwand zur Fahrerkabine, als der Gefreite Doll hinter das Lenkrad kletterte. Die erste Strecke fuhr er. Er hatte ausschlafen dürfen.

Das wollte jetzt auch Paschke machen und kuschelte sich bequem in seinen Sitz.

«Du, isch han vürhin ne dolle Nummer jehört!«sagte Doll.»Kütt die Lehrerin in de Klass, setzt sich ans Pult… und hätt kein Botz an! Fränzchen in der eschten Reih kann ihr untern Rock spinxe und fängt an, breit zu grinsen. >Fränzchen — < fragt die Lehrerin. >Wat ist denn? Warum laachste su?< Und da Panz antwortet: >Frollein, isch han noch nie 'n Schlüpfer aus Maulwurffell jesinn…< Jut, wat?«

«Abfahren!«schrie Paschke.»Du dämlicher Hund! Laß alle vorbei — wir machen den letzten!«

«Warum dat denn? Bisher…«

«Bisher is nich heute! Ick bin verantwortlich, daß keener verloren jeht. Und det siehste am besten hinten, als letzter. Kapiert?«

Det is der sicherste Platz, dachte Paschke. Da haste keenen hinter dich. Da kann die Kleene ooch mal de Neese ins Freie stecken und keener sieht det. War schon in de Schule so… hinten links, letzte Bank, da konnste imma in Deckung jehen. Intelligent mußte sein, Jefreiter Doll.

Endlich dröhnte der Motor auf, der Aufbau begann zu wackeln, es knackte, als Doll den Gang einlegte, und dann setzte sich der Wagen in Bewegung und drückte unter seinen Rädern den Kies weg. Unter dem Bodenblech klang es wie das Trommeln von Schrotkugeln.

Königsberg, wir kommen, dachte Jana Petrowna. Das Bernsteinzimmer kommt… und wir Wachters.

Irgendwann fielen ihr vom Schwanken des Wagens und dem gleichmäßigen Motorengebrumme die Augen zu, und sie schlief fest mit einem Lächeln um die Lippen.

Als sie aufwachte, war heller Tag, aber es regnete. Auf die Dachplane trommelten die Tropfen. Neben Doll schlief Julius Paschke mit offenem Mund und schnarchte fürchterlich. Am Mittag war Fahrerwechsel, da sollte es Bohnensuppe geben, aus Dosen, die auf einem Spirituskocher heiß gemacht wurden. Dann wollte sich Doll für das bestialische Schnarchen rächen.

Jana Petrowna rutschte an die Kabinenwand und schob sich an ihr empor. Durst hatte sie, aber daran hatte Paschke nicht gedacht. Er hatte ihr seine Feldflasche nicht dagelassen.

Auf den Knien untersuchte Jana die vor ihr stehenden Kisten, fand einen abgesplitterten Span, riß ihn aus dem Holzdeckel und begann, auf ihm herumzukauen. Der Speichel, der sich dabei bildete, verdrängte etwas das Durstgefühl. Es war eine alte, simple Erfahrung: Kauen, kauen, ganz gleich, was es ist… nur kauen… damit hältst du den Durst aus. Eine Zeitlang wenigstens läßt sich der Körper betrügen.

Im Licht, das durch die Planenritzen schimmerte, las sie, was Dr. Runnefeldt auf die Kistenseiten mit dickem Fettstift geschrieben hatte.

Nr. 23 stand direkt vor ihr und hatte den Span geliefert.

Vier Engel, ein Kriegerkopf und eine große Vasenplastik. Und dann, nachträglich, weil mit einem anderen Stift geschrieben, hatte Dr. Runnefeldt noch hinzugefügt:

Eine Madonna aus Bernstein, gefunden im Schlafzimmer der Zarin Elisabeth-Petrowna.

Petrowna. Jana beugte sich vor, küßte die Kiste und den Namen und bekreuzigte sich dann.

Madonna, hilf, daß alles gutgeht.

Und bitte, kümmere dich auch um Väterchen.

Dr. Runnefeldts Auto, ein offener Wagen der Marke Adler, kam gegen den russischen Regen nicht an. Das derbe, feste Segeltuchdach war zwar ein Schutz, aber an den Seiten regnete es durch. Es schloß nicht dicht genug mit dem Rahmen der Karosserie ab. Außerdem stand ein ziemlich heftiger Wind auf der rechten Seite und peitschte den Regen durch die Ritzen. Rechts aber, vorn neben dem Fahrer, saß Rittmeister Dr. Wollters und blickte verbissen in die graue, rauschende Gegend. Er hatte es so gewollt, er hatte es strikt abgelehnt, hinten neben Wachter zu sitzen, den er für völlig unnütz hielt. Dr. Runnefeldt hatte nichts dagegen, die Plätze zu tauschen, und jetzt freute er sich, daß ausgerechnet vorn rechts das Faltdach eine große Lücke zwischen Fensterrahmen und Dachumrandung hatte. Wollters rechte Uniformseite begann durchzunässen. Der Stoff saugte das Wasser wie ein Schwamm auf — eine maßgeschneiderte Uniform aus bestem Aachener Tuch.

«Ein Mistwagen ist das!«sagte Wollters empört und drehte sich zu Dr. Runnefeldt und Wachter um. Auch bei ihnen drang der Regen durch ein paar Ritzen, aber es war noch zu ertragen. In die breiteste Ritze hatte Dr. Runnefeldt sein Taschentuch geklemmt und lächelte Wollters in einer Art von Resignation an.»Wer hat Ihnen denn diese Krücke angedreht?«

«Im Sommer ist ein offener Wagen ideal«, erwiderte Dr. Runnefeldt gelassen.

«Da kann man vor Staub nicht mehr atmen! Und im Winter? Zittern Sie sich warm?«

«Da sitze ich in meinem Büro in Berlin.«

«Im Winter sind Kunstschätze in den eroberten Gebieten für Sie nicht vorhanden?«

«Richtig. Mein lieber Herr Wollters… Kriege fangen erfahrungsgemäß im Sommer oder im Herbst an, wenn das Korn so richtig kräftig steht, die Felder überquellen, die Straßen und Wege pulvertrocken und hart sind. Haben Sie schon mal von einem Krieg gehört, der im Winter anfing? Denken Sie mal die Jahrhunderte zurück. Auch unser Krieg: Polen am 1. September, Frankreich 10. Mai, Rußland am 22. Juni… immer zur besten Zeit. Und bis zum Winter hatten wir Gelegenheit genug, uns um die Sicherstellung der Kunstwerke zu kümmern.«»Aber jetzt kommt der Winter…«

«Das schreckt mich nicht. Wenn wir Moskau in diesem Jahr noch erobern, hat der Abtransport der noch gar nicht abzusehenden Kunstschätze Zeit bis zum Frühjahr. So lange werden wir sowieso brauchen, um alles zu erfassen. Was allein im Kreml lagert — «

Wachter verbiß sich eine Frage, die ihm auf der Zunge lag. Glauben Sie wirklich, hätte er fragen mögen, daß die Deutschen Moskau erobern? Nur drei, vier Wochen noch, höchs-tens, dann ist der Winter, die Schnee- und Eiszeit da. Der» General Winter«, wie er seit Napoleons Untergang vor Moskau heißt. Hat einer von euch schon einen russischen Winter erlebt? Wißt ihr, wenn der Schneesturm über das Land heult, wie armselig ihr dann alle seid, trotz eurer Technik, trotz Panzer und Flugzeugen? Vereisen werden sie alle, am Boden friert ihr fest… da hilft euch kein Befehl von Hitler, nur vorwärts und nicht zurück zu marschieren. Der russische Winter ist stärker als alles… er macht mit euch, was er will, nicht, was ihr wollt. Und gegen General Winter wollt ihr Moskau besetzen? Warten wir es ab, meine Lieben. Kommt nicht jetzt schon die Front vor Moskau zum Stehen?

Rittmeister Dr. Wollters schwieg. Die Belehrungen, die ihm Dr. Runnefeldt so freundlich erteilte, kotzten ihn an. Auch er zerrte aus der Hosentasche ein Taschentuch und stopfte es in die Verdeckritze; aber bei ihm half das wenig, es war in kurzer Zeit durchnäßt. Der Regen tropfte auf seine Uniform, als sei das zusammengedrehte Taschentuch ein Wasserhahn.

«Gibt es denn hier nichts, womit man das Scheißverdeck dicht kriegt?«rief er empört.»Ich bin bis auf die Haut naß.«

«Hier hinten ist es erträglich. «Dr. Runnefeldt dehnte sich behaglich.»Es war Ihr Wunsch, vorn zu sitzen.«

Dr. Wollters biß die Zähne zusammen. Und wenn ich hier vorn schwimme… du bringst mich nicht dazu, meine Meinung zu ändern, dachte er verbissen. Das Mitschleppen dieses Halbrussen ist und bleibt eine Frechheit.

Zur Mittagszeit machten sie Rast an einem Bauernhof. Die Bäuerin, zwei Kinder — eine Tochter und ein Junge von 14 Jahren — und der Großvater waren beim Einmarsch der Deutschen nicht geflohen, sie hatten die graue Lawine über sich hinwegrollen lassen, hatten miterlebt, wie die deutsche Artillerie und die gefürchteten heulenden Stukas, die aus dem Himmel herausfielen, die Stalin-Linie, die vermeintlich uneinnehmbare Verteidigungslinie der Roten Armee, zerbombten und zerschlugen, und hatten damals beschlossen, lieber in den Trümmern ihres Hauses zu sterben, als davonzulaufen. Nicht weit von ihnen lag die Stadt Pskow, das jetzt Pleskau hieß, und hier hatte vor zweihundert Jahren der Leibeigene des Fürsten Michajlow, der Bauer Jermil Konstantinowitsch Gri-maljuk einen Hof zur Betreuung übernommen. Nach Ende der Leibeigenschaft durften die Grimaljuks Haus und Land behalten, lebten bescheiden, aber zufrieden, fuhren oft zum Fischen an den nahen Peipus-See und lobten Gott ob seiner Güte. Jetzt war der Bauer, der Genosse Ilja Wladimirowitsch, als Scharfschütze irgendwo an der Front. Es gab keine Nachricht, keinen Brief, keine Karte — wie auch, seine Heimat war jetzt besetztes Gebiet geworden —, und niemand wußte, ob er noch lebte.

Praskowja Nikolajewna, die Bäuerin, die Kinder und vor allem Trofim, das noch recht muntere Großväterchen, hatten sich, so gut es eben ging, mit ihrem Schicksal abgefunden. Sie hatten das Korn gemäht, die Sommerkartoffeln aus dem Feld gezogen und die Gemüsebeete geharkt, um dann alles, was man nicht selbst zur Ernährung brauchte, den deutschen Besatzern zu verkaufen. Dabei hatte man sie zweimal elend betrogen… ein Schwein und ein Kälbchen hatten die Deutschen gekauft und mit deutschen Geldscheinen bezahlt.

«Das Geld«, hatten de Landser gesagt.»Germanskij Rubel, du verstehen? Einlösen in Kommandantur. Tauschen, kapiert? Menjat'… Guck nicht so blöd, alter Sack!«

Großvater Trofim nahm die Geldscheine, fuhr drei Tage später zum Ortskommandanten von Nostrow und legte Germanskij Rubel vor. Ausgelacht hatte man ihn und dann hinausgeworfen. Was er auf den Tisch legte, waren alte deutsche Lotterielose. Winterhilfswerk 1940.

Praskowja Nikolajewna stand in ihrer ausgebleichten Kittelschürze vor dem Haus, gegen den Regen einen Sack über den Kopf gestülpt, als Dr. Runnefeldts Auto auf dem Hof hielt. Die Kinder drückten die Nasen am Fenster platt, und Großvater Trofim bereitete sich darauf vor, gegen deutsche Lotterielose zu opponieren.

Dr. Wollters blickte mißmutig durch die Scheibe auf die Bäuerin und das alte Haus. Der Regen rauschte, als gieße man Eimer aus. Der Scheibenwischer kämpfte vergeblich gegen die vom Wind herangetriebene Flut an.

«Hier?«fragte er und drehte sich wieder um.

«Ja«, antwortete Dr. Runnefeldt.

«In dieser Bruchbude? Diesem Wanzennest? Sehen Sie sich mal das Weibsstück an… nur mit der Kneifzange anzufassen…«

«Wir wollen sie nicht anfassen, mein lieber Wollters, sondern eine Pause machen, etwas essen und trinken.«

«Da rühre ich nichts an! Soll ich vor Ekel die Gelbsucht bekommen?«

«Meistens haben die Bauern hier einen guten, frischen Quark«, sagte Wachter und erntete dafür einen bösen, durchbohrenden Blick.»Milch, eingelegte Gurken, feste Zwiebeln, selbstgebackenes Brot und vielleicht auch Grützwürstchen.«»Scheußlich! Können wir nicht weiterfahren bis zu einer Truppe? Irgendwo hier müssen doch deutsche Einheiten liegen! Lieber eine miese Feldküche als dieser Schweinefraß.«

«Wir müssen hier auf die Kolonne warten. «Dr. Runnefeldt setzte seine Mütze auf, schätzte den Weg vom Auto bis zur Haustür auf etwa drei Meter — man würde also naß werden und durch einen aufgeweichten Boden springen müssen.»Wir sind noch gut durchgekommen, aber wie haben es die Lkws in diesem Sauwetter geschafft? Das beschäftigt mich mehr als Essen. Ich habe erst Ruhe, wenn die Wagen hier aufgefahren sind. «Er stieß die Tür auf, sprang aus dem Auto und hetzte mit großen Sprüngen durch den Regen auf Praskowja zu. Wachter folgte ihm, der Schlamm spritzte an seiner Hose empor, an seinen Schuhen klebten sofort dicke Lehmklumpen. Stumm blickte der Fahrer zu Dr. Wollters an seiner Seite.

«O Scheiße«, sagte der Rittmeister resignierend. Dann stieß auch er seine Tür auf, sprang hinaus und rannte zu dem Bauernhaus. Praskowja Nikolajewna, die schon so viel von den Deutschen wußte, um feststellen zu können, daß da ein höherer Offizier durch den Schlamm hüpfte, riß den Kartoffelsack vom Kopf und warf ihn Wollters über die Schulter. Mit einer wilden Handbewegung schleuderte er ihn in den Regen und den Dreck.

«Haben Sie das gesehen?«rief er empört, als er in die Stube kam, wo Dr. Runnefeldt und Wachter bereits auf Großvater Trofim geprallt waren.»Diese widerliche Vettel wirft mir doch ihren Stinksack an den Kopf!«Dann schwieg er abrupt, denn Großväterchen sagte klar und deutlich:

«Gutten Tagg… Nix nähme Lotterie…«

«Was will er?«Wollters musterte den rüstigen Alten.»Total verkalkt, was?«

«Lassen Sie mich das machen. «Wachter nickte dem Großvater zu und sprach dann schnell einige Sätze auf russisch. Trofim riß die Äuglein auf, beleckte mit der Zunge seine tabakgelben Zähne und hörte stumm zu. Gefährlich, dachte er. Oh, wie gefährlich. Da ist einer, der spricht wie wir. Ein a3-trünniger Genosse, der den Deutschen in den Arsch gekrochen ist. Vorsichtig muß man sein bei solchen Gewissenlosen.»Wir sind auf der Durchfahrt«, hatte Wachter gesagt.»Wir wollen hier eine Weile bleiben, bis der stärkste Regen vorbei ist. Hast du was zum Essen da? Eine Kascha oder sonstwas? Eingelegte rote Rüben oder Gurken oder ein Töpfchen Schmalz? Gibt es bei dir Milch?«

Großväterchen wölbte die Unterlippe vor, so wie es Lamas tun, bevor sie spucken, aber er spuckte nicht, auf keinen Fall, man wollte ja noch weiterleben und warten, bis Ilja, das liebe Söhnchen aus dem Krieg zurückkam.

«Alles hat man uns weggenommen, alles«, sagte er, als Wachter schwieg.»Mein Schweinchen, mein Kälbchen, das Butterfaß, das Mehl, die Grütze, alles. Bezahlt haben Sie, deine neuen Freunde… mit wertlosem Papier.«

«Und wovon lebt ihr?«fragte Wachter.

«Ein paar Kartoffeln haben wir noch. Ein Süppchen, ein paar Zwiebeln… genug ist das. Schwer sind die Zeiten.«

«Was quatscht der Alte da?«fragte Dr. Wollters. Er zog seine durchnäßte Uniformjacke aus, ging zu dem aus Flußsteinen gemauerten Ofen und hing sie über eine gespannte Leine. Der Ofen gluckerte und war schön warm. Ich sage es doch, dachte Wachter zufrieden. Der Winter kommt diesmal schneller. Sie kennen ihre Natur genau, die Bauern, frühzeitig heizen sie ihre

Öfen an, gut vollgesogen mit Wärme sollen die Steine sein, bevor der erste kalte Sturm kommt.

Großväterchen Trofim starrte den deutschen Offizier entgeistert an. Wollters hielt seine Hosen mit Hosenträgern fest…breite, in buntem Muster gewebte, stabile Träger mit ledernen Schlaufen. Hatte man so etwas schon gesehen? So etwas gab es? Trofim konnte den Blick nicht von diesen Hosenträgern losreißen und verfluchte die Unmöglichkeit, sie nicht gegen ein Hühnchen eintauschen zu können.

Noch sieben Hühner hatte er im Stall versteckt und bisher vor allen Deutschen gerettet. Welch ein Wunderwerk von Hosenträgern…

«Ein paar Krümelchen werd ich noch zusammenkratzen«, sagte Trofim und ließ die Augen nicht von Wollters. Der hatte sich auf die Ofenbank gesetzt, lehnte den nassen Rücken gegen die wannen Steine und wunderte sich, daß es hier im Raum weder nach Schweiß noch nach saurer Milch roch. Praskowja stand an der Tür und wartete. Die Kinder hatten sich im Nebenraum versteckt, wo ein mit Stroh hoch gefülltes mächtiges Holzbett stand. Hier mummelte sich Großväterchen ein — so rüstig war er mit seinem Rheuma nun doch nicht, um noch auf den Ofen klettern zu können, auf die Plattform, auf der die ganze Familie im Winter schlief.

Wachter nickte zufrieden.»Guck in alle Ecken, Väterchen«, sagte er.»Es wird sich schon was finden.«

Trofim riß sich von den Hosenträgern los, schnalzte mit der Zunge und rieb mit der Oberlippe seine Nasenspitze.»Kann man tauschen?«fragte er und blinzelte Wachter zu.

«Was?«fragte Wachter verwundert.

«Gutes Essen gegen eine Leihgabe. Nur ein Viertelstündchen, das genügt. Ist ein guter Tausch, Genosse. Was ist schon ein Viertelstündchen im Leben eines Menschen. Mich wird's fröhlich machen.«

«Was willst du tauschen, Väterchen?«

«Einmal anziehen, Freundchen. «Großväterchen zuckte listig mit den Augen.»Vom Gospodin Offizier die Hosenträger…«Ratlos warf Wachter einen schnellen Blick auf Dr. Wollters.

Der Rittmeister saß, umgeben von molliger Wärme, am Ofen und wartete auf den Fraß, den man ihnen vorsetzen würde.»Alter, du bist verrückt!«sagte Wachter.»Ich kann doch den Herrn Rittmeister nicht bitten, dir seine Hosenträger zu leihen. Auch nicht für ein Viertelstündchen. Unmöglich.«

«Frag ihn, Brüderchen. Kein Fleckchen wird drankommen, kein Stäubchen.«

Wachter wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht und wandte sich herum zu Dr. Runnefeldt. Er stand in der» schönen Ecke «des Zimmers und betrachtete eine uralte Bauern-Ikone. Grob gemalt mit Eierfarben, schmale hohe Gestalten mit langgezogenen Gesichtern und großen runden Augen. Um etwa 1600 herum, dachte er. Das hat noch keiner erkannt, der hier im Zimmer gewesen ist. Ein kleines Juwel von Ikone. Man sollte es mitnehmen, so etwas gibt es kaum noch. Aber dann sah er Praskowjas Blicke und die Angst in ihnen. Diese Ikone war das einzige, was ihr von ihrem Glauben geblieben war. Das geschnitzte Kruzifix hatten Rotarmisten, die zur Stalin-Linie marschiert waren und bei ihnen rasteten, von der Wand gerissen und an der Hausmauer zersplittert. Und auch das Kerzchen, das ewige Licht, hatten sie ausgeblasen.»Da hängt ihr jetzt Stalin hin!«hatte ein Sergeant gebrüllt.»Ihr christlichen Heuchler. «Aber die Ikone ließen sie unberührt, sie zeigte Peter und Paul, und die Jünger waren kostbar gekleidet wie Bojaren.

Sie bleibt hier, dachte Dr. Runnefeldt und wandte sich von der Ikone ab. Wir haben über 500 Ikonen bei uns. Nehmen wir an, diese hier habe ich nie gesehen.

«Herr Doktor«, sagte Wachter leise, damit es Wollters nicht hörte.»Der Alte verspricht uns ein gutes Essen, wenn er die Hosenträger von Dr. Wollters einmal anziehen darf. Nur ein paar Minuten…«

«Das ist doch ein Witz!«sagte Dr. Runnefeldt entgeistert.»Nein, Herr Doktor. Können Sie Dr. Wollters nicht fragen?«»Das ist doch lächerlich!«

«Ein kleiner Tausch: Gutes Essen gegen…«Er schluckte.»Sonst gibt's für uns nur Essiggurken. Wir werden nie finden, wo sie ihre Vorräte versteckt haben.«

«So was Verrücktes gibt's nur einmal!«Dr. Runnefeldt ging hinüber zu Dr. Wollters und musterte die scheußlichen Hosenträger. Wollters fühlte sich wohl… er trocknete.

«Probleme?«fragte er.»Sag ich doch, das ist der reinste Schweinestall. Hier rühre ich nichts an!«

«Verleihen Sie für ein paar Minuten Ihre Hosenträger?«

«Wie bitte?«Wollters sah Dr. Runnefeldt fast entsetzt an.»Haben Sie öfters solche Anfälle?«

«Der Großvater möchte sie einmal tragen… dafür gibt es gutes Essen.«

«Das ist ja…«Wollters holte tief Luft.»Das ist unerhört!«Sein empörter Blick traf Großväterchen. Trofim grinste ihn freundlich und erwartungsvoll an.»Und so einen Blödsinn sprechen Sie auch noch aus, Herr Runnefeldt!«

«Ich finde, das ist ein guter Tausch.«

«Kein Fleckchen, kein Stäubchen wird drankommen — «warf Wachter ein.»Wenn es den alten Mann glücklich macht…«»Sind wir im Krieg, oder ziehen wir herum, um jeden glücklich zu machen?«bellte Wollters.

«Das letztere. «Dr. Runnefeldt setzte zum vernichtenden Schlag an.»Nach Ansicht des Führers befreien wir hier den slawischen Menschen vom Bolschewismus. Also eine Art von Beglückung. Hier ist unsere Zukunft, das weite Land des Ostens. Die Ausdehnung des Großdeutschen Reiches.«

Wortlos erhob sich Dr. Wollters von der warmen Ofenbank, schnallte seine Hosenträger ab und warf sie Trofim zu. Großväterchen fing sie geschickt auf, wirbelte dann auf dem Absatz herum und verschwand so flott wie ein junger Bursch im Nebenzimmer.

Aber schon nach wenigen Minuten war er wieder da. Über seiner blauen Bauernbluse zogen sich die bunten Träger und hielten seine alte, fleckige, dunkelgraue Hose fest. Mit verklärtem Gesicht und stolzen Schritten ging er im Zimmer herum, stellte sich vor seine Schwiegertochter Praskowja, ließ zwischen den Daumen die Hosenträger schnalzen, wanderte mit hocherhobenem Haupt an allen Wänden der Stube entlang, und als sogar die Kinder sich blicken ließen und Großväterchen bestaunten, marschierte er mit durchgedrückten Knien paradierend einmal vom Ofen zur Tür und von der Tür zum Ofen. So glücklich und ergriffen war der Alte, daß er bei dieser Parade nichts mehr von seinem Rheuma spürte.

Mit gleicher Würde verließ er darauf das Zimmer, verschwand hinter der Tür zu seinem Schlafraum, öffnete einen breiten Schrank und schlüpfte durch ihn und eine Holztür in den angrenzenden Stall. Fröhlich gackerten seine sieben Hühnchen bei seinem Anblick und reckten die Hälse vor. Gab es jetzt schon Körnerchen?

«So ist nun mal das Leben, ihr Lieben!«sagte Trofim feierlich.»Versprochen hab ich's, und ein Grimaljuk hält sein Versprechen. «Er musterte die Hühnerchen, entschied sich für ein fettes, rundes Exemplar und hob die Schultern.»Lydia, eine muß es sein. Warst ein braves Tierchen.«

Ein Beil nahm er von der Wand, packte Lydia ruckzuck bei den Flügeln, trug das schreiende Tier zu einem Holzblock und hieb ihm den Kopf ab. Weit von sich weghaltend, damit kein Spritzerchen an die Hosenträger kam, ließ er es ausbluten und kehrte dann durch den Schrank zurück.

Dr. Wollters saß auf der Ofenbank und blickte auf seine Armbanduhr.»Die Zeit ist um!«sagte er scharf.»Es ist unerhört, was man hier mit mir macht. Warum haben Sie Ihre Hosenträger nicht abgeschnallt, Herr Runnefeldt?!«

«Erstens habe ich keine so bunten wie Sie, und zweitens trage ich nur Gürtel. Ah, da kommt ja Großvater wieder.«

Trofim erschien in der Stube, in der Rechten die Hosenträger, in der Linken das geschlachtete Huhn. Praskowja stieß einen langen Seufzer aus. Ausgerechnet Lydia, die beste Eierlegerin! Großväterchens Verstand war auch nicht mehr wie früher. Dr. Wollters nahm seine Hosenträger entgegen und legte sie sofort wieder an.

«Der Kerl hat doch tatsächlich ein Huhn geköpft!«sagte er.»Der Tausch. «Dr. Runnefeldt nickte dem Alten ermunternd zu.»Wenn das kein Geschäft war, Herr Wollters. Wir bedanken uns alle bei Ihnen für das kommende fulminante Essen…«

Eine große Betriebsamkeit entstand in dem Bauernhaus. Praskowja nahm das Huhn aus, die Kinder rupften es, Trofim bot Tabak an, den grob geschnittenen Machorka, den nur eine Kehle aus Blech vertragen konnte, und zauberte unter einer losen Dielenplanke eine Flasche mit Stachelbeerwein hervor.»Sagen Sie der Bäuerin — «wandte sich Dr. Runnefeldt an Wachter — «daß das Huhn für 40 Personen reichen muß. Wir drei, der Fahrer und 36 Mann von der Kolonne. Wird zwar sehr dünn werden, die Suppe, aber bei dem Sauwetter tut sie allen gut.«

Praskowja stellte also einen riesigen Kessel auf den eisernen Herd, füllte ihn voll Wasser und ließ es kochen. Daß es ein Kessel war, in dem man sonst das Schweinefutter zubereitete, wußte keiner. Nur Wachter, und der hielt den Mund.

Aber die Suppe wurde nicht dünn, im Gegenteil, Praskowja schüttete, nachdem sie das Huhn in kleine Stücke zerteilt hatte, ein paar Hände voll Grütze in das brodelnde Wasser, dazu noch vier große Zwiebeln, und so wurde es mehr ein Brei als ein Süppchen. Trofim schnupperte in die Luft wie ein Ferkel-chen, sagte mit glänzenden Augen:»Riecht wie bei meinem Mütterchen!«, und wenn das ein über siebzig Jahre alter Mann sagt, mußte das stimmen und war ein großes Lob.

Vier Stunden später tauchte aus dem rauschenden Regen die Lkw-Kolonne auf. Bis zu den Planen mit Dreck bespritzt, pflügten sie tiefe Furchen in die Straße und schwankten durch den Schlamm wie klobige betrunkene Riesen. Am schwersten traf es Julius Paschke als letzten der Kolonne… er mußte alle tiefen Spuren der vor ihm den Straßengrund zermahlenden Wagen überwinden.

«Dat is zum Mäusemelken!«hatte Doll ein paarmal geschrien.»Dat haste nu davon, mit dingem Fimmel von der Nachhut! Die da vürn rießen de Stroß op, und ich krieje die janze Scheiße ins Geseech! Nach dem Essen maache mir widder de Spitz…«

«Wir bleiben hinten«, sagte Paschke. Er bedauerte Jana, die hin und her geschleudert wurde. Die zarten Knöchelchen, dachte er. Und noch nich mal massieren kann ick se.»Ick weeß det besser als du…«

«Scheiße!«

Nun fuhren die 18 Lkws vor dem Bauernhaus auf, wieder schön ausgerichtet in langer Reihe. Von Wagen eins war die Meldung gekommen:»Das Auto vom Chef parkt vor einer Kate!«, und Paschke hatte den Befehl gegeben, auch dort zu halten. Mittagspause.

Etwas steif kletterten die Fahrer aus ihren Wagen und rannten hinüber zum Haus. Eine graugrüne, nasse Woge ergoß sich in das Zimmer, im Nu stank das ganze Haus nach durchweichten Kleidern und anderen Gerüchen. Großväterchen, neben Wollters einträchtig auf der Ofenbank sitzend, beobachtete interessiert die Soldatenflut. Wollters riß seinen Uniformrock von der Leine und zog ihn schnell an.

«Einsatzkommando >Hamburg< zur Stelle!«meldete Paschke und schlug die Hacken zusammen.»Keine besonderen Vorkommnisse.«

Dr. Runnefeldt nickte. Paschke rührte sich. Der Duft der Hühnersuppe, die ein Brei geworden war, zog ihm in die Nase.»Wie ist die Straße?«fragte Dr. Runnefeldt.

«Noch jeht's, Herr Sonderführer. Aber wenn det so weiter pißt… Bis Königsberg sind's noch gut 600 Kilometer.«

«Im Reich werden die Straßen besser, Paschke. Ihr habt Hunger, was?«

«Bis unta de Arme, Herr Sonderführer.«

«Dann Kochgeschirr raus und Essen fassen. Es gibt Brei mit Huhneinlage.«

«Wat flutscht, is imma jut, sagte meen zahnloser Großvater. «Paschke drehte sich um. Hinter ihm knubbelten sich die 35 Fahrer.»Bereit machen zum Essenfassen!«

Zwanzig Minuten später hatte jeder Soldat eine volle Kelle Hühnerbrei in seinem Kochgeschirr. Sie standen an den Wänden oder saßen auf den Dielen, und eine Weile hörte man nur das Klappern der auseinandernehmbaren Eßbestecke.

Dr. Runnefeldt, Wollters und Wachter saßen am Tisch und aßen von irdenen Tellern. Stumm sahen ihnen Praskowja, die

Kinder und Großväterchen zu. Er war heute ein glücklicher Mensch — die schönsten Hosenträger der Welt hatte er getragen.

Paschke aß nur ein wenig von seinem Hühnerbrei, sagte dann zu dem schlürfenden Doll, der aufmerksam die Zwiebelstücke herumrührte, beste Munition für seine Rache:»Ick jeh mal abprotzen. Irjendwo find ick schon ne trockne Ecke…«und verließ das Haus.

Geduckt rannte er zu seinem Wagen, sprang auf die Stoßstange und schnellte sich von ihr ab über die Ladeklappe ins Innere. Die paar Meter waren wie ein Lauf durch einen Wasserfall gewesen.

«Ick bin et, Mädchen«, sagte er in das Halbdunkel hinein.»Keene Angst. Allet läuft wie jeschmiert. Haste noch deene Knochen? Ick hab dir wat zum Essen jebracht. Hühnerbrei. Sieht aus wie vorverdaut… aba schmeckt besser als ick gedacht habe.«

Er zwängte sich durch die Kisten und blieb vor Jana stehen. Sie saß mit dem Rücken an der Kabinenwand und streckte die rechte Hand aus. Paschke reichte ihr sein Kochgeschirr hin.»Du bist ein guter Mensch«, sagte sie.

«Ick hab mit'n Löffel schon jejessen. «Janas Worte machten ihn sehr verlegen.»Kannst aba unbesorcht nehmen. Ick habe keene Syphilis.«

Er lehnte sich an die Kiste von der Jungfrau Maria und den Engelsköpfen und sah ihr eine Weile zu, wie sie den Hühnerbrei aß. Sie nahm nicht viel, nur ein paar Löffelchen, und hielt ihm das Kochgeschirr wieder hin.

«Danke, Julius…«

«Kannste allet essen, Jana.«

«Und du?«

«Ick orjanisiere mir schon wat. Det ham wa jelernt. Magste nich?«

«Ich bin satt, Julius.«

«Da frißt meen Meerschweinchen ja mehr. Ick hab nämlich en Meerschweinchen zu Hause, mußte wissen. Emma heeßt se. Nach meener Schwiejermutta. Zuerst war Hanna — det is mee-ne Frau — tief beleidicht. Dann koofte se sich eenen Kanarienvogel, den nannte se Klara. Wie meene Mutta. Da war'n wer quitt.«

Er nahm das Kochgeschirr zurück und löffelte den Rest des Breies aus. Jetzt hatte er auch seine Feldflasche mitgebracht, schraubte sie auf und gab sie Jana.

«Tee«, sagte er dabei.»Mit so nem Zitronenpulver drin. Aba es schmeckt.«

Durstig goß sie sich den Mund voll, bis sich ihre Backen blähten, und dann erst schluckte sie es hinunter. Dreimal. Die Feldflasche war halb leer, als Jana sie an Paschke zurückgab.»Bist 'n dolles Mädchen«, sagte er.»Und so wat wird nu im Kriech verheizt.«

«Er ist bald zu Ende, Julius.«

«Det glaubste? Ick weeß nich. Ick laß mir übaraschen.«

Mit langen Sprüngen kehrte er zum Bauernhaus zurück, triefend vom Regen, und stellte sich wieder neben Doll an die Zimmerwand.

«Dat wor äwwer ne nasse Eck zum Drießen«, sagte Doll. Paschke beugte den Kopf vor und ließ das Wasser aus seinen Haaren laufen.

«Sprich deutsch, sag ick dir imma.«

«Eine nasse Ecke zum Scheißen!«Doll bemühte sich, hochdeutsch zu sprechen.»Himmlische Spülung, wat?«

«Du kannst mir jreuzweise…«

Dr. Runnefeldt war ein paar Mal ans Fenster getreten und hatte hinaus in den Regen geblickt. Es sah nicht so aus, als ob sich der Himmel bald schließen würde.

«Es hilft alles nichts«, sagte er zu Dr. Wollters.»Wir müssen weiter. Wir können hier nicht Wurzeln schlagen. Ab und durch den Regen durch… wir sind ja nicht aus Zucker. Hinter der Düna, in Litauen, wird es besser. Da haben wir vernünftige Straßen. «Er wandte sich an die Landser und klatschte in die Hände.»Leute, es geht weiter! Wir kapitulieren doch nicht vor russischen Straßen! In Königsberg könnt ihr euch dann ausruhen…«

Als letzte verließen Wollters und Dr. Runnefeldt das Bauernhaus. Wachter saß schon hinten im Adler, der Fahrer hatte in die Verdeckritzen Streifen aus zerschnittenen Kartoffelsäcken gestopft.

«Wollen wir jetzt tauschen?«fragte Dr. Runnefeldt.»Sie hinten, ich vorn?«

«Nein!«antwortete Wollters stur.

«Dann Wachter nach vorn…«

«Ich bleibe auf meinem Platz!«Wollters zog den Kopf tief zwischen die Schultern und rannte los, riß die Wagentür auf und ließ sich auf den Sitz fallen. Dr. Runnefeldt gab Trofim die Hand. Der Alte war darüber so verblüfft, daß sich seine Hand anfühlte wie ein schlaffer Lappen.

«Mach's gut, Opa«, sagte Dr. Runnefeldt. Dabei wehrte er Praskowja ab, die unbedingt seine andere Hand küssen wollte. Wie gut war man heute weggekommen! Keine Hausdurchsuchung, keine Beschlagnahmung, nur Lydia hatte dran glauben müssen, ein kleiner Preis für die Güte der deutschen Offiziere. Und Großväterchen hatte sogar die, Hosenträger anziehen dürfen. Welch ein Erlebnis. Muß man da nicht danken auf die gute, alte Art?» Und paß auf deine Ikone auf… 16. Jahrhundert, damit kannst du nach dem Krieg ein neues Haus bauen!«

Trofim verstand ihn natürlich nicht, aber am Klang der Stimme ahnte er, daß ihm etwas Gutes gesagt wurde. Er nickte vorsorglich, begleitete Dr. Runnefeldt bis zur Eingangstür und blickte dann lange der Wagenkolonne nach, die sich langsam durch den Regen auf die Straßen quälte.

An diesem Tag trag der schriftführende Offizier in das Kriegstagebuch des 50. Armeekorps ein:

16.10. Krasnogwardejsk:

Rittmeister Dr. Wollters und Sonderführer Dr. Runnefeldt verlassen nach Abschluß ihrer Tätigkeit (Sicherstellung von Kunstgegenständen) den Stab Gen.Kdo. L.A.K….

Einer der größten Kunstraube der Geschichte war damit dokumentiert.

Zwei Tage und zwei Nächte waren sie unterwegs: 930 Kilometer durch Regen, Schlamm, zähen Lehm und klebenden Morast. In Kauen mußten drei Lkws in die Werkstatt, nachdem man sie mühsam mit Abschleppseilen mitgezogen hatte. Der Werkstattleiter der 3. Nachschubkompanie, ein Oberfeldwebel, stellte zwei Federbrüche, einen Getriebeschaden und eine angeknackste Achse fest und meldete dann:»Reparatur wird drei Tage dauern. Dazu müssen die Lkws entladen werden.«»Die Reparatur wird drei Stunden dauern!«hatte Dr. Wollters gebrüllt.»Und nicht ein Staubkorn wird entladen. Das wollen wir doch mal sehen!«

Hier erwies sich, daß ein Rittmeister mehr Autorität ausstrahlte als ein Sonderführer, ein Schmalspur-Offizier. Wollters ließ sich bei dem Kommandeur des Nachschub-Bataillons melden, legte diesem — einem Hauptmann — seine Legitimation vor und wartete die Reaktion ab. Der Hauptmann brauchte reichlich viel Zeit, das Schreiben zu lesen.

«Im Führer-Auftrag!«sagte Wollters schnarrend.»Drei Tage Warten sind ein Wahnsinn. Im Führerhauptquartier wartet man auf meine Vollzugsmeldung. Soll ich melden: In Kauen bin ich an lahme Ärsche geraten?«

Der Hauptmann gab das Schreiben zurück und sah Wollters verkniffen an. Du aufgeblasener Affe, dachte er. Auch der Führer kann keine Achse hopp-hopp unter einem vollbeladenen Lkw wechseln.»Wir werden unser Bestes tun«, sagte er kühl.»Wir werden die Nacht durcharbeiten.«

«Das habe ich auch angenommen.«

Wollters grüßte und verließ die Bataillonsgeschäftsstelle wie ein Sieger. In der Werkstatt wußte man schon durch das Telefon Bescheid. Man war gerade dabei, den ersten Wagen aufzubocken. Julius Paschke, voll Sorge um Jana, wieselte um Dr. Runnefeldt herum und redete auf ihn ein.

«Die anderen 15 Wagen können doch weiterfahren nach Königsberg!«sagte er.»Oder — noch besser — Sie fahren mit 14 Wagen nach Königsberg, Herr Sonderführer, und ick bleibe mit meinem Fahrzeug hier und komme dann mit den anderen drei nach. Da kann gar nichts passieren. «Er blickte Dr. Runnefeldt treuherzig in die Augen:»Det vaspreche ick Sie…«fiel er in seinen Dialekt zurück.

«Wir bleiben zusammen, Paschke. «Dr. Runnefeldt schüttelte den Kopf.»Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nicht an. Der Herr Rittmeister will bloß ein bißchen Rummel machen…«

Und wat mach ick mit Jana, dachte Paschke erschrokken. Hier kann se nirgendwo Luft schnappen, ick kann se nich füttern, det fällt ja uff, und raus kann se ooch nich. War schon bisher en Risiko, wenn se nachts ausem Wagen jeklettert is. Aba hier, uff'm Hof der Werkstatt… det jeht ins Auge. Wat soll ick bloß tun?

Noch einmal versuchte er, wortreich Dr. Runnefeldt davon zu überzeugen, daß Nachkommen besser sei als Warten. Und es regnete noch immer.»Ick schaff det schon, Herr Sonderführer«, beteuerte er.»Mir hält so'n Schlamm nich uff…«

«Hinter Kauen werden die Straßen besser, Paschke. Es bleibt dabei: Wir bleiben zusammen.«

Es hatte keinen Sinn, weiter auf Dr. Runnefeldt einzureden. Paschke verließ die Werkstatt, schlenderte hinüber zu den auf dem Hof nebeneinander stehenden Lkws und kletterte über die Ladeklappe in das Innere seines Wagens. Das fiel nicht auf… bisher hatte Unteroffizier Paschke noch jeden Tag die Ladung seiner Kolonne überprüft, ob nichts verrutscht oder eine Kiste beschädigt war.

«Ick bin's!«sagte er in das Halbdunkel des Laderaumes hinein.»Is allet 'ne jerührte Scheiße, Mädchen…«

Er zwängte sich nach hinten durch die Kisten und lehnte sich wieder an die holzverschalte Marienstatue. Jana hockte auf dem Boden und starrte ihn aus weiten Augen an. In der Wagenecke stand der Eimer, noch unbenutzt.

«Wir müssen hierbleiben«, sagte Paschke und hob hilflos die Schultern.»Ick wollte voraus — nix zu machen. Wat nun?«

«Wie lange?«fragte Jana ruhig. Nichts schien es zu geben, was sie aufregen konnte… wenigstens äußerlich.

«Wer weeß det? Üba Nacht bestimmt… Ick kann dir Essen bringen, det fällt nich uff… aber mit Strullen un so… ist nix. Mußt'n Eimer benutzen, Mädchen, kannst ja nicht raus aus'm Kasten, ooch nachts nich. Det wimmelt hier von Landsern.«»Wir schaffen es schon, Julius«, sagte Jana. Nicht sie mußte beruhigt werden, sondern der nervöse, zappelige Paschke.»Wir sind ja bald in Königsberg.«

«Noch 170 Kilometer…«

«Knapp einen Tag…«

«Wo willste denn raus?«

«Irgendwo in Königsberg. Am Rande vielleicht, bei einer Rast.«

«Det dich jeda sieht? Nee! Det geht nur in de Nacht…«

«Dann vor Königsberg, Julius.«

«Kommt druff an, wann mer hier wegkommen. «Paschke griff in die Tasche seines Mantels und holte zwei Butterbrote mit Käse und eine Flasche Mineralwasser hervor.»Det war allet, wat ick in der Kantine erjattern konnte. Vielleicht kann ick noch'n Schlag Suppe orjanisieren. Wird allet schwerer, Mädchen, als bisher. Sind zu vill Oogen da.«

Er kletterte zurück ins Freie, inspizierte noch drei Lkws, gewissermaßen als Alibi, bummelte dann zurück in die Werkstatt und sah den Mechanikern zu, die fluchend in der Grube oder an einer Hebebühne an den vollbeladenen Wagen herumarbeiteten. Rittmeister Wollters und Sonderführer Dr. Runnefeldt waren mit dem Kübelwagen zum Kasino des Nachschubbataillons gefahren, um sich frisch zu machen und etwas Gutes zu essen. Vorher hatte es noch eine kleine Auseinandersetzung gegeben.

«Muß dieser Wachter denn mit?«hatte Wollters hochmütig gefragt.»Er ist Zivilist und gehört in kein Offizierskasino.«

«Er ist unser Gast, Herr Wollters.«

«Ihr Gast. Das ist ein Unterschied, und den halten wir mal deutlich fest. Ein Museumsdiener im Kasino. Übertreiben Sie nicht, Herr Runnefeldt.«

«Wachter kann uns noch sehr wertvoll sein. Vor allem Dr. Findling wird sich freuen.«

«Über was denn?«»Wachter ist mit dem Bernsteinzimmer aufgewachsen. Wenn jemand das Zimmer bis ins kleinste Detail kennt, dann nur er… das kann uns beim Aufbau in Königsberg oder Linz sehr nützlich sein. Wir müssen weiterdenken..«

«Danke für die Belehrung!«Wollters war sauer und zeigte es auch. Er sprach mit Wachter kein Wort und ging als erster ins Kasino, als wollte er damit demonstrieren, daß er, als Rittmeister, immer den Vortritt habe.

Die Reparatur der drei Lkws dauerte doch länger, als der Werkstattleiter geschätzt hatte. Erst am nächsten Abend konnte der Oberfeldwebel melden:»Alles klar.«

«Wurde auch Zeit!«knurrte Wollters.

«Das war eine einmalige Leistung, Herr Rittmeister. Woher haben Sie diese Gurken denn bekommen? Da wackelt und rostet ja alles.«

«Von Gauleiter Koch persönlich.«

«Dann will ich nichts gesagt haben. «Der Oberfeldwebel hob abwehrend beide Hände. Doch er grinste dabei.»Das sind hervorragende Wagen, bestens gepflegt! Pech kann man ja mit dem zuverlässigsten Wagen haben…«

«Wir fahren sofort weiter!«Dr. Runnefeldt verabschiedete sich von dem Werkstattleiter mit Handschlag, was Wollters unter seiner Würde fand.»Schätze, daß wir gegen ein Uhr nachts in Königsberg sind.«

«Wollen Sie Gauleiter Koch aus dem Bett holen?«

«Ich nehme an, er wird noch gar nicht drin sein. «Dr. Runnefeldt lachte verhalten.»Ich werde ihn kurz vor unserer Abfahrt anrufen. Wie ich Koch kenne, wird er diese Nacht auf sein Bett verzichten, selbst wenn schon jemand darin wartet…«

Wollters sah Dr. Runnefeldt erstaunt an. Welche Reden! Er sah auf seine Uhr.»Haben wir noch Zeit, zu Abend zu essen?«

«Natürlich.«

«Im Kasino gibt es heute Rouladen mit Rotkohl. «Wollters hob die Augenbrauen.»Kommt dieser Museumsdiener wieder mit?«

«Soll Herr Wachter am Daumen lutschen?«

Wollters verschluckte eine Antwort, und das alte Spiel wiederholte sich. Er betrat als erster das Offizierskasino, ihm folgte Wachter und dann erst Dr. Runnefeldt. Die Lkw-Fahrer saßen in der Kantine der Werkstatt und schaufelten Nudelsuppe mit Rindfleischbröckchen in sich hinein. Paschke gelang es, sein Kochgeschirr in der Küche noch einmal füllen zu lassen.

Nach Einbruch der Dunkelheit kroch er wieder in seinen Wagen und hielt Jana das Kochgeschirr mit der dampfenden Nudelsuppe hin. Sie hatte den Eimer benutzen müssen, es roch scharf nach Urin.

«Verzeihung — «sagte Jana bedrückt, — »aber es ging nicht anders.«

«Ick sag ja nix. De Natur is stärker. Ick bringe den Eimer nachher raus. Iß erst mal. So um Mittanacht sind wir in Königsberg. Dann biste erlöst, Mädchen.«

«Wie kann ich dir danken, Julius?«

«Ick wüßte schon wat. «Paschkes Blick glitt über Janas Körper und blieb an der oberen Wölbung ihrer Schwesterntracht hängen.»Aba det jeht nich. Ick komm dir später im Krankenhaus besuchen. Wo biste denn da?«

«Im Städtischen Krankenhaus«, sagte sie sofort, ohne nachzudenken.»Da muß ich mich melden. Wohin sie mich dann stecken, das weiß ich noch nicht.«

«Ick werd dir finden. «Paschke griff nach dem Henkel des Eimers und verließ mit ihm wieder den Laderaum des Lkws. Draußen kippte er ihn in einen Gully vor der Werkstatt und spülte ihn unter einem Wasserhahn in der Werkhalle aus. Det is ooch dat erstemal, dat ick Mädchenpisse rumtrage, dachte er. Aba wat tut man nich allet for die Liebe. Liebe? Na sajen wir: Sympathie. Zu Hause wartet Hanna. Ooch wennse jetzt fremdjeht… nach'm Krieg is allet wieda normal. Dann is allet wieda vajessen. Ooch det Abenteuer Jana.

Kurz vor der Abfahrt, als Dr. Runnefeldt und Wollters mit Wachter schon im Kübelwagen saßen, kletterte er noch mal unter die Plane zu Jana und holte sein Kochgeschirr ab. Ein Soldat ohne Kochgeschirr ist nur ein halber Soldat. Zwei Dinge gibt's im Krieg, die wichtiger sind als alles andere: das Glück zu überleben, dazu braucht man Glück, und ein sattes Gefühl im Bauch, das kann man steuern. Ein Soldat kann vieles verlieren, nur nicht das am Gürtel scheppernde und gegen die Hinterbacke schlagende Kochgeschirr.

«Jetzt jeht's los!«sagte Paschke leise.»In Königsberg klopp ick jejen de Wand. Dann mußte ne Fliege machen, vastehste? Dann is et jünstig. Mädchen, mach's jut! Und ick suche dir in Königsberg, verlaß dir druff.«

Jana nickte. Plötzlich richtete sie sich an der Rückwand hoch, warf die Arme um Paschke und küßte den völlig Verblüfften auf den Mund. Wie ein Pfahl stand er da und glotzte dumm, als Jana sich wieder von ihm löste. In seinem Kopf, in seinen Schläfen, in seinem Herzen, überall summte es, als sei er ein Bienenkorb.

«Du weißt gar nicht, welch eine große Tat du getan hast, Julius!«sagte sie.»Ich werde dich nie vergessen. Gott sei mit dir… und überlebe den Krieg…«

«Dir… dir ooch allet Jute«, stammelte Paschke, fuhr sich mit beiden Händen über die Augen und tappte zur hochgeklappten Plane zurück. Erst auf dem Pflaster schüttelte er sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt, und stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ihm, als habe Feuer seine Lippen verbrannt.

Is det 'n heißes Stück, dachte er, leicht benommen. Julius, wennste die mal ins Bett kriegst, mußte dir nachher krank melden. Knochenerweichung. Junge, Junge…

Er ging nach vorn, enterte das Fahrerhaus und ließ sich neben den Gefreiten Doll aus Köln fallen. Zur Begrüßung ließ der einen dumpfen Rülpser los.

«Sau!«sagte Paschke knapp.

«Nach Nudelsupp muß isch immer en Bäuerchen maache. Pardon, Monsieur. «Doll ließ den Motor anspringen, der Kübel mit den Offizieren fuhr schon ab.»Widder als letzte?«

«Ja.«

«Woröm? Jetzt weed de Stroß doch besser. Isch han jenug Dreck in de Freß jekriegt. Immer hinte blieven…«

«Quatsch nich… warte. «Paschke lehnte sich weit zurück. Dieser Kuß, durchrann es ihn. Dieser Druck ihrer Brust jejen meine Brust. Det vajeß ick ooch nich, Mädchen. Und wenn mir späta Hanna küßt, denk ick, du bist's! Übaleb du ooch den Krieg, Jana, und, na ja, Jott sei ooch bei dir…

Als sie als letzte abfuhren und über das Pflaster holperten, wußte Paschke, daß er Jana zum letztenmal gesprochen hatte und nie wiedersehen würde. Er starrte durch das Fenster in die Nacht und kaute auf seinen Zähnen herum und wunderte sich, daß Abschied so schwer auf dem Herzen lasten konnte. Bei Hanna war das anders gewesen. Da hatte er gelacht und gerufen:»Ick komm wieda, wenn mer die Polen zurechtjerückt hab'n. «Aber dann kam nach Polen Frankreich dran, und jetzt Rußland… und was dann noch?

«Woran denkste, Jul?«fragte Doll.

«An 'n Puff in Königsberg.«

«Isch han da en jut Adress. «Doll lachte in sich hinein.»Du, da kenn ich ne Witz. Tünnes und Schäl jehn über de Bottermarkt und…«

«Hält's Maul!«sagte Paschke grob.

«Hinger uns läuft einer mit nem Blechemmer noch und winkt.«»Mit wat?«

«Blecheimer — «

«Jib Jas!«Julius Paschke zog den Kopf zwischen die Schultern.»Varrückte jibt's überall.«

Gauleiter Erich Koch übte sich in Geduld, aber es fiel ihm schwer. Nach dem Anruf von Dr. Runnefeldt aus Kauen hatte er schon in der nächsten Minute Dr. Findling und seinen Vertrauten und Trinkkumpanen Gauamtsleiter Bruno Wellenschlag benachrichtigt und mit Triumph in der Stimme gerufen:»Sofort herkommen! Das Bernsteinzimmer trifft heute Nacht ein!«

Dr. Findling nahm Abschied von seiner Frau, als habe er eine lange Reise vor sich.

«Bestimmt werdet ihr wieder saufen!«sagte sie wenig damenhaft.

«Bestimmt, Martha, bestimmt. Das Bernsteinzimmer bei uns!

Dieses Ereignis muß Koch begießen.«

«Und morgen zerplatzt dir wieder der Kopf, und die Magensäure steht dir bis zum Hals!«Sie dachte kurz nach und fügte dann hinzu:»Bevor du zu Koch gehst, trinkst du diesmal erst ein kleines Glas Salatöl…«

«Was soll ich trinken, Martha?«fragte Dr. Findling entsetzt.»Ein Gläschen Salatöl. Das schmiert die Magenwände aus, wirkt gegen Übersäuerung und neutralisiert den Alkohol.«»Mich übergeben werde ich!«

«Auch das ist nützlich. Wilhelm, Öl ist ein altes Hausrezept. Schon mein Großvater trank ein Glas, bevor er zu Versam m-lungen des Bürgervereins ging. Ich habe Großvater nie betrunken erlebt.«

«Kunststück… der war trainiert. Er konnte saufen wie ein Stier. «Dr. Findling sah mit zusammengepreßten Lippen zu, wie Martha in die Küche ging, Salatöl in ein kleines Schnapsglas goß und es ihm dann hinhielt.»Ich komme mir 47 Jahre jünger vor… da mußte ich jeden Morgen einen Löffel Lebertran nehmen. Seitdem kann ich keinen Fisch mehr riechen. Martha, muß das sein?«

«Ja. Du wirst sehen, es hilft.«

Tapfer trank Dr. Findling das Schnapsglas voll Öl, schluckte krampfhaft und wunderte sich, daß er sich nicht gleich darauf erbrach.

«Furchtbar!«sagte er nur.

«Warten wir's ab, Wilhelm. Bist du zum Frühstück wieder da?«»Auf keinen Fall.«

«Mittag?«

«Wahrscheinlich auch nicht. Ich will das Bernsteinzimmer sofort auspacken lassen und alles registrieren. Der Einbau in Raum 37 wird Wochen in Anspruch nehmen. Alles soll wieder so hergerichtet werden, wie das Zimmer seit der Zarin Elisabeth in Zarskoje Selo gestanden hat. Hoffentlich haben sie beim Ausbau die Wandtafeln und Wandfriese genau beziffert.«»Dr. Runnefeldt und Dr. Wollters sind doch international bekannte Kunstwissenschaftler.«

«Aber ob sie richtig nummerieren können… wir werden sehen. «Er warf noch einen Blick voll Skepsis auf das Schnapsglas, das Martha in der Hand hielt, gab ihr dann einen Kuß auf die Stirn und verließ seine Wohnung.

Wie erwartet: Bruno Wellenschlag war schon da und hatte mit Koch bereits die ersten zwei Gläser Kognak getrunken. In e-nem Eiskübel stand eine Flasche französischer Champagner. Gauleiter Koch wollte das Bernsteinzimmer gebührend begrüßen.

«Um Mitternacht herum sind sie hier!«begrüßte Koch mit einer weiten Armbewegung Dr. Findling.»Mein Lieber, Sie müssen ja vor Glück platzen.«

«Dieser Tag ist wohl der schönste in meinem Leben, Gauleiter. «Findling trank mit Widerwillen das erste Glas Kognak und hatte das Gefühl, Koch sofort vor die Stiefelspitzen kotzen zu müssen. Aber dann beruhigte sich sein Magen sehr schnell, das brennende Gefühl, das er immer hinterher beim Schnapstrinken empfunden hatte, blieb aus. Großvaters Salatöl schien eine gute Sache zu sein.

«Wir alle empfinden so… vor allem, weil wir diesen einmaligen Schatz Rosenberg vor der Nase weggeschnappt haben. Wo hätte Rosenberg das Zimmer unterbringen lassen? Hier, im Schloß von Königsberg, hier gehört es hin! Ich werde auch den Führer davon überzeugen: Was soll das Bernsteinzimmer in Linz an der Donau?! Bei uns an der Ostseeküste wird der Bernstein gefunden, der Sonnenstein, das deutsche Gold… und das größte Kunstwerk aus ihm muß in Ostpreußen bleiben. Wie konnte bloß ein preußischer König so ein Wunderwerk einem russischen Zaren schenken! Friedrich Wilhelm l muß damals besoffen gewesen sein. Wir, Sie, Findling, und ich holen es nach Deutschland zurück! Das Bernsteinzimmer ist in seine Heimat zurückgekehrt. So werden wir das auch in der Presse bekanntgeben.«

«Vergessen Sie den >Führervorbehalt< nicht, Gauleiter. «Dr. Findling setzte sich in einen der tiefen Sessel.»Bormann wird darauf bestehen, daß das Zimmer nach Linz kommt.«

«Mit Bormann werde ich sprechen. «Koch winkte ab, obwohl er wußte, daß hier eine große Auseinandersetzung bevorstand. Er mochte Bormann nicht, und es war bekannt, daß dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Der» kleine König von Ostpreußen «war Bormann zutiefst zuwider.

«Das wird ein schwerer Gang, Gauleiter«, sagte Wellenschlag ernst.

«Bormann ist logischen Argumenten immer zugänglich gewesen… im Notfall spreche ich mit dem Führer selbst. Mich hat der Führer immer angehört.«

Und dann begann das Warten. Das qualvolle Minuten-Zahlen. Die immer ungeduldiger werdende Frage: Verdammt, wo bleiben sie denn?! Warum bummeln sie so unverschämt? Ist unterwegs etwas passiert? Warum ruft Dr. Runnefeldt nicht an? Das ist doch nicht normal… schon halb eins, und Mitternacht wollten sie hier sein.

Die Unruhe von Koch übertrug sich auch auf Dr. Findling und Wellenschlag. Sie standen am Fenster und starrten auf den Schloßhof, liefen ins Treppenhaus und blickten die Auffahrt hinunter und kehrten dann achselzuckend zurück. Koch lief in seinem Arbeitszimmer hin und her, die Hände auf dem Rücken, das Kinn angezogen, den Kopf tief zwischen den Schultern… ein Stier kurz vor dem Herausstürzen in die Arena.»Wenn ich was hasse, dann ist es Unpünktlichkeit!«rief er erregt.»Von Kauen bis Königsberg ist es doch ein Klacks! Und die Straßen sind gut, keine Schlammlöcher wie in Rußland. Da stimmt doch was nicht! Das ist doch nicht normal!«Jedoch, es war nichts geschehen, alles war völlig normal, bis auf den Aufenthalt am Hauptbahnhof. Da stieß Julius Paschke dem Gefreiten Doll in die Seite und sagte dumpf:»Halt mal an, Junge.«

«Warum denn?«

«Weil ick pissen muß.«

«Hier? Vorm Bahnhof? Dat jibt nen Auflauf.«

«Jeder Bahnhof hat'n Lokus, du Arsch! Bis hierhin könnt ick mir's vakneifen, aba jetzt geht's nich mehr. Anhalten.«

Um seinen Worten Nachdruck zu geben, hieb er mit der Faust dreimal gegen die Rückwand. Das Zeichen für Jana. Steig aus, Mädchen. Wir sind da. Mach's jut, Kleene. Ick werd vill an dir denken…

Er wartete noch eine Minute, ließ Doll den Lkw vor den Haupteingang rollen und sprang dann mit einem Satz aus der Fahrerkabine.

«Haste de Botz schon naß?«fragte Doll fürsorglich.

«Wat hab ich?«

«Die Hose naß…«

Paschke winkte ab und lief nach hinten. Die Plane war offen und flatterte etwas im Nachtwind. Leise rief er Janas Namen, aber sie antwortete nicht. Der Wagen war leer, sie hatte sich nach dem Klopfen sofort über die Ladeklappe geschwungen. Verzweifelt sah sich Paschke um. Nur noch einmal sehen wollte er sie, und wenn's nur ihr weghuschender Schatten war, aber er konnte sie nirgendwo entdecken. Nur ein Haufen Landser und Zivilisten hasteten in und aus dem Bahnhof, und drei Feldjäger, sogenannte Kettenhunde wegen ihrer blanken Brustschilde, die sie an einer Kette um den Hals trugen, standen am Eingang und machten Stichproben, hielten Landser an und kontrollierten die Ausweise, Urlaubsscheine oder Marschbefehle.

Langsam ging Paschke in den Bahnhof, suchte die Toiletten, stellte sich neben andere an die Pinkelrinne, drückte ein paar Tropfen ab und kam sich wie verlassen, wie in dunkler Einsamkeit vor. Als er zurückkam zu seinem Wagen, stand der Kübelwagen schon bei ihm. Die ganze Kolonne wartete. Nach vorn war durchgegeben worden: Letzter Wagen muß halten. Darauf stand der gesamte Transport still.

«Was ist denn los, Unteroffizier?«bellte Wollters aus dem Fenster des Kübels. Paschke nahm stramme Haltung an.

«Ick mußte mal, Herr Rittmeister«, meldete er, grüßte stramm, stieg in die Fahrerkabine und sah Doll von der Seite an.»Weiterfahren…«

Doll ließ den Motor wieder anspringen.»Is se jut weg?«fragte er wie nebenbei.

«Wer?«

Paschke spürte ein Rumoren in seinem Bauch. Lauernd sah er Doll an.

«Dat Karbolmäuschen. «Doll grinste breit.»Wor die flink…«»Wat haste jesehen, Doll?«

«Jul, isch han doch ne Rückspiegel.«

«Du hast allet jewußt?«

«Klar. Isch han doch kein Tomaten op de Aujen. Isch wor nur jespannt, wie dat sich alles auflöst… Äwwer su wor et jut…«»Du hast nix jesehen, Doll, janix! Vastehste mir?«

«Isch seh als Fahrer nur die Stroß, sonst nichts. «Doll grinste Paschke von neuem an und ließ den Lkw anrollen. An ihnen vorbei brauste der Kübelwagen wieder an die Spitze der Kolonne.»Äwwer morjen, da krieje isch en Fläsch Schaubau von dir…«

«Wat kriegst de?«

«Eine Flasche Schnaps, Kamerad.«

Paschke nickte und lehnte sich wieder zurück. Er dachte an Jana, und es war ihm dabei elend zumute. Und bis jetzt verstand er noch immer nicht, warum sie diese tagelange Mistfahrt mitgemacht hatte und nicht mit dem Zug nach Königsberg gefahren war.

Kurz vor ein Uhr passierte endlich der Kübelwagen die Wache am Königsberger Schloß. Der wachhabende Offizier, ein junger, in Polen verwundeter Leutnant, kontrollierte eingehend die Papiere, die ihm Wollters aus dem Fenster reichte. Seine Gründlichkeit regte Wollters auf.

«Glauben Sie, wir bringen mit 18 Lastwagen Dynamit ins Schloß, um es in die Luft zu sprengen?«schnauzte er den Leutnant an.»Oder haben Sie Leseschwierigkeiten?«

«Inhalt der Lkws?«fragte der Offizier knapp.

«27 Kisten mit Parisern!«schrie Wollters außer sich.»Himmel und Arsch, Herr Gauleiter Koch erwartet uns! Hat man Ihnen keine Order gegeben?«

«Es hieß: Einige Wagen kommen. Aber 18?«

«Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Herr Leutnant. «Wollters holte tief Atem.»Sie lassen uns durch, und ich mache über Sie keine Meldung zur Frontbewährung.«»Ich bin bereits HV geschrieben. Heimatverwendungsfähig. In Polen schwer verwundet. Lungensteckschuß. Waren Sie auch schon verwundet, Herr Rittmeister?«

Die Frage war von einem leichten Grinsen begleitet. Wollters riß dem jungen Leutnant die Papiere aus der Hand, lehnte sich zurück und verzichtete auf eine Antwort.

«Können wir jetzt ins Schloß, Herr Leutnant?«fragte Dr. Runnefeldt sanft.

«Natürlich. «Er grüßte, trat zur Seite, die herausgetretene Wache gab die Einfahrt frei.»Ich tue nur meine Pflicht…«

Als der Kübelwagen ratternd in den Schloßhof einfuhr, sagte Wellenschlag, der gerade am Fenster stand, gemütlich, als hätte er nicht seit Stunden gewartet:»Sie sind da.«

Gauleiter Koch und Dr. Findling schossen aus ihren Sesseln heraus, als habe man sie gestochen. Mit einem Griff hatte Koch seine Mütze ergriffen und stülpte sie über seinen Kopf. Der nächste Griff galt seinem Koppel.

Während er es sich umschnallte und dann den Uniformrock straff zog, an dessen linker Brustseite eine Reihe Ordensspangen im Licht des Kristallusters glitzerten, sagte er mit vor Erregung bebender Stimme:

«Trinken wir jetzt zur Begrüßung unser Glas Champagner! Nachher kommen wir nicht mehr dazu. Soviel Zeit haben wir noch.«

Er entkorkte die Flasche, ließ den Korken mit einem leisen Knall an die Decke sausen, goß aus der vom Eiswasser triefenden Flasche die Gläser voll und stellte sie zurück in den Sektkühler.

«Auf unser Bernsteinzimmer!«rief er und hob sein Glas hoch in die Luft.»Auf daß es immer in der Heimat bleibe!«

Auch Wellenschlag und Dr. Findling hoben die Gläser und prosteten zu Gauleiter Koch hin.

«Ich danke Ihnen, Gauleiter«, sagte Dr. Findling mit ehrlicher Ergriffenheit.»Die Nachwelt wird es Ihnen nicht vergessen. Königsberg ist um einen Schatz reicher geworden.«

Stumm tranken sie in einem Zug die Gläser leer und taten es dann Erich Koch nach, der schwungvoll nach altem slawischen Brauch sein leeres Glas in eine Ecke des Zimmers warf, wo es an der wertvollen Tapete zerschellte.

«Und jetzt zu unserem Wunderwerk!«Gauleiter Koch rannte zur Tür und riß sie auf.»Die verlorene Tochter ist heimgekehrt.«

«Wieso Tochter?«fragte Dr. Findling verblüfft den neben ihm laufenden Wellenschlag.

«Bei Koch ist alles Schöne und Liebenswerte grundsätzlich weiblich«, lachte der Gauamtsleiter und klopfte Dr. Findling auf den Rücken.»Das müssen Sie doch wissen.«

Im Schloßhof waren die 18 Lkws in einem offenen Karree aufgefahren, vorn stand der Kübelwagen: eine Aufstellung wie zur Abnahme einer Parade. Wollters, Dr. Runnefeldt und Wachter waren ausgestiegen und warteten, bis der letzte Wagen mit Paschke und Doll als Abschluß hielt. Die Stoßstangen und Kühler waren auf den Zentimeter ausgerichtet. Plötzlich waren auch einige Männer in den gelbbraunen Uniformen der politischen Leiter der Gauleitung auf dem Hof, eine Ordonnanz rannte zum Gauleiterflügel und prallte dort auf Koch, der gerade die Tür aufriß.

«Herr Gauleiter«, rief der Mann.

«Ich sehe es ja!«Koch winkte ab, blieb unter der Tür stehen und überflog mit einem Blick die ganze Kolonne. Niemand sah ihm an, wie ergriffen er war.»Setzen Sie an Herrn Generalfeldmarschall Ritter von Leeb und den Kommandeur der 18. Armee, Herrn Generaloberst von Küchler, die Meldung ab: Der Transport aus Puschkin ist in Königsberg eingetroffen. Im Namen des Führers danke ich für diese historische Tat. Koch.«»Sofort, Herr Gauleiter. «Der politische Leiter rannte davon. Koch straffte sich, wölbte die Brust vor, nahm eine Herrscherpose ein und sah den drei Männern entgegen, die vom Kübelwagen auf ihn zukamen. Trotz seines niedrigen militärischen Ranges ging jetzt Dr. Runnefeldt voraus, blieb drei Schritte vor Koch stehen und hob grüßend die Hand an die Mütze.

«Herr Gauleiter«, meldete er und registrierte in Kochs Augen ein helles Glitzern,»ich melde: Das Bernsteinzimmer ist auf Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht und des Reichsaußenministeriums eingetroffen. Keine besonderen Vorkommnisse.«»Danke, Dr. Runnefeldt. «Koch gab ihm die Hand, sah dann auf Dr. Wollters und nickte ihm zu.»Sie sind Dr. Wollters, nicht wahr?«

«Jawohl, Herr Gauleiter. «Wollters knallte die Hacken zusammen.

«Und Sie?«Koch warf einen Blick auf den einzigen Zivilisten in dieser Runde.

Runnefeldt hatte diese Frage erwartet.»Darf ich Herrn Gauleiter den Herrn Michael Wachter vorstellen? Herr Wachter hat bis heute das Bernsteinzimmer in Puschkin betreut. Eine Familientradition seit 225 Jahren.«

«Und da haben Sie ihn gleich mitgenommen. Interessant. «Koch nickte auch Wachter zu und verzog seine Lippen zu einem leichten Lächeln.»Wir werden noch darüber miteinander sprechen, Herr — «

«Wachter, Herr Gauleiter.«

Mit größtem Interesse sah Wachter den mittelgroßen Mann in der gelbbraunen Uniform an. Das also ist Erich Koch, dachte er. Der Tyrann von Ostpreußen und den besetzten Gebieten. Der Reichskommissar. Der Gefürchtete, dessen Unterschrift über Leben und Tod entscheiden konnte. Der neue Herr über das Bernsteinzimmer. Auch mein Schicksal wird er sein.

Er trat zur Seite, als Koch sich vorwärts bewegte und folgte ihm dann mit Wollters und Dr. Runnefeldt. Langsam schritt Koch, wirklich wie beim Abschreiten einer Ehrenkompanie, die Lastwagen ab, hob vor jedem der verdreckten, mit Lehmklumpen verschmutzten Kühler kurz die Hand an die Mütze und grüßte sie. Dann blieb er vor dem letzten Lkw stehen, neben dem Doll und Paschke wie zwei Denkmäler standen.

«Sie sind der Kolonnenführer?«fragte Koch im Kommandoton.

«Jawohl, Herr Gauleiter, Unteroffizier Paschke.«

«Das haben Sie gut gemacht. «Er blickte auf Paschkes Brust und sah, daß sie leer war.»Noch kein Eisernes Kreuz?«

«Nee, Herr Gauleiter. Ick war imma uff'n Auto, von Anfang an. Ooch bei de >Transportstaffel Koch<.«

«Ich werde Sie zum EKII vorschlagen, Unteroffizier.«

Koch grüßte und wandte sich ab. Paschkes Gesicht war rot geworden, durch seinen ganzen Körper krabbelte es wie Ameisen. Det EK… wird da de Hanna stolz sein.

«Zwei Fläsch Schaubau…«hörte er neben sich Doll flüstern.»Jratuliere.«

Koch war zum Kübelwagen zurückgegangen und wies auf Dr. Findling und seinen Vertrauten Wellenschlag.

«Das ist Dr. Findling. Direktor der Königsberger Museen.«

«Wir kennen uns«, sagte Dr. Runnefeldt. Er gab Findling mit einem kräftigen Druck die Hand.»Ihr Buch über Bernstein ist Pflichtlektüre aller Kunstwissenschaftler.«

«Ich bitte Sie«, antwortete Findling verschämt.

«Gauamtsleiter Wellenschlag.«

Die Herren nickten sich zu, ohne sich die Hand zu geben. Wellenschlag hatte das auch nicht erwartet… ein Hofnarr wird zwar erwähnt und gebraucht, aber er ist ein Gegenstand, kein Gleichgestellter.

«Lassen Sie die Fahrer wegtreten«, sagte Koch voller Freundlichkeit.»Der Wachhabende wird sich um sie kümmern. Sie, meine Herren, bitte ich, meine Gäste zu sein.«

Sie gingen ins Schloß, im Hof übernahm die Wache die Kolonne, ein Feldwebel warf einen Blick über die 36 Fahrer, die als geballter Haufen vor ihm standen.

«Ihr stinkt wie ne ganze Herde Ziegenböcke!«sagte er.»Ihr bekommt jetzt euer Quartier zugewiesen, und dann badet ihr erst mal!«

«Und wann gibt's was zu Fressen?«rief einer aus der Menge.»Morgen früh um sieben. Das kennt ihr doch: Kaffeeholer raus!«

«O du Scheiße!«

«Ihr seid jetzt wieder unter zivilisierten Menschen. Gewöhnt euch daran.«

«Wat heeßt hier Zivil? Ick bin in Uniform! Übahaupt… wer biste denn?«

Paschke und der Feldwebel musterten sich. Gewitter lag in der Luft, das spürte jeder. Gib's ihm, Julius! Diese fette Etappensau…

«Ich spiele hier den UvD!«(Unteroffizier vom Dienst) Die Stimme des Feldwebels hatte sich erhoben.»Und wenn ich sage…«

«Und wenn ick saje — «unterbrach ihn Paschke —»det wir jetzt alle 'n Kaffee oder ne Pulle Bier kriegen, dann kriegen wir se! Oder ick jeh zum Gauleiter und saje: Parteijenosse, da draußen is'n Bettpisser, der mir scheuchen will… Wat jloobste, wat dann passiert, Kamerad?«

Der Feldwebel schien ein kluger Mensch zu sein. Er verzichtete auf eine Auseinandersetzung mit Paschke, sagte nur:»Erst badet ihr!«und ging dann dem Trupp voraus, um ihnen das Quartier zuzuweisen.

In Kochs Wohnung prosteten sich die Herren mit französischem Kognak zu. Der Gauleiter war bester Stimmung, und Wellenschlag konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so gelöst und fröhlich gesehen zu haben, selbst dann nicht, wenn er ihm eine besonders schöne Frau ins Schloß gebracht hatte.»Gleich morgen packen wir aus«, sagte Dr. Findling.»Ich kann's kaum erwarten.«

«Wie bei einer Frau, die man auszieht, was!«Koch lachte schallend.»Halten Sie durch, Dr. Findling.«

Da ist er wieder, der Erich Koch, dachte Dr. Findling. Nur Weiber im Kopf… Dr. Runnefeldt enthob ihn einer Antwort.

«Weiß man schon, wie es mit dem Bernsteinzimmer weitergeht?«

«Weitergeht?«Koch trank sein Glas leer. Sein Gesicht glühte.»Es bleibt hier! Ich werde den Führer bitten, es in die Hände der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten zu geben. Da ist es sicher. Und Dr. Findling werde ich für die Verwaltung der Königsberger Kunstschätze vorschlagen. An alles haben wir gedacht.«

Es wurde eine fröhliche Männerrunde, die sich erst gegen fünf Uhr in der Frühe auflöste. Ein wenig angeschlagen, aber nicht so betrunken wie sonst bei Kochs Einladungen, kam Dr. Findling in seine Wohnung zurück. Martha erwachte und setzte sich im Bett auf. Findling ließ sich auf die Bettkante fallen und kippte dann, angezogen wie er war, ins Bett.

«Ein Lob deinem Großvater«, sagte er mit schwerer Zunge und schloß die Augen.»Salatöl ist ein Wundermittel. Die anderen sind total besoffen. Aber ich… ich stehe aufrecht…«

«Ich seh's!«sagte Martha sarkastisch.

Aber das hörte Dr. Findling nicht mehr, er war schon eingeschlafen.

Ein glücklicher Mensch. Ein schwärmerischer Raubgehilfe….

Sofort nach dem dreimaligen Klopfen gegen die Kabinenrückwand war Jana Petrowna nach hinten gelaufen und hatte die bereits gelöste Plane hochgeschoben. Als habe sie das gründlich geübt, ließ sie sich über die Ladeklappe abrollen und sprang auf die Straße. Die Wachstuchtasche preßte sie dabei an ihre Brust, und einen Augenblick war es ihr, als sähen ihr hundert Augen zu, wie sie aus dem Wagen sprang. Aber niemand schien sie beobachtet zu haben, und so lief sie mit weit ausgreifenden Schritten, als müsse sie einen in wenigen Minuten abfahrenden Zug noch erreichen, in den Bahnhof und lehnte sich dort schwer atmend an einen Pfeiler. Sie wartete, daß jemand sie anhielt und kontrollierte, aber keiner beachtete sie, nur ein paar Landser, vom Heimaturlaub zurückkommend, gingen grinsend an ihr vorbei, beladen mit Freßpaketen von Muttern oder Ehefrauen.

Ein paar Minuten blieb Jana an der Säule stehen und ließ ihr heftiges Herzklopfen ausklingen. Geschafft. Bis hierher geschafft. Ich bin in Königsberg! Sie sah hinüber zu den Bahnsteigsperren, wo» Kettenhunde «jeden Reisenden kontrollierten und die Ausweise durchsahen, und sie war froh, nicht mit der Bahn gefahren zu sein. Sie wäre ohne Papiere nie durch die Sperren gekommen. Für die Zivilisten genügte eine Fahrkarte, aber jeder Uniformträger mußte sich ausweisen. War die Schwesterntracht eine Uniform? Sie wußte es nicht. Nur schnell weg von hier, dachte sie. Untertauchen wie in Puschkin. Königsberg war eine große, von Menschen wimmelnde Stadt, und irgendwo in diesem Häusermeer mußte es doch ein Versteck für sie geben.

Sie nahm ihre Wachstuchtasche in die Hand, ging durch die große Bahnhofshalle und hielt einen Bahnbeamten an, der um seine Mütze ein Band mit der Aufschrift Auskunft trug.

«Wo soll's denn hingehen, Schwester?«fragte der Mann. Es war ein alter Beamter, älter als Michael Wachter.»Nach Osten oder Westen?«

«Wie komme ich zum Städtischen Krankenhaus?«

«Mit der Straßenbahn. Linie eins. Aber die fährt erst ab fünf Uhr. Jetzt ist es erst kurz vor eins.«

«Und zu Fuß?«

«Da sind Sie ne ganze Zeit unterwegs. Und dann mit der schweren Tasche. Aber vielleicht nimmt Sie ein Wehrmachtswagen mit. Ich würde mich mal draußen umsehen.«»Danke.«

«Gern geschehen, Schwester.«

Sie blieb stehen, bis der Bahnbeamte in der Menschenmenge verschwunden war, las dann die Hinweisschilder und entschloß sich, dem Pfeil zu folgen, der sie Zu den Wartesälen wies.

Es gab zwei davon, einen der ersten Klasse und einen der zweiten Klasse. Sie blickte durch die breite Glastür in die erste Klasse, sah, daß neben einigen Zivilisten vor allem Offiziere an den Tischen saßen und entschloß sich, in die II. Klasse zu gehen. Hier war die Gefahr, angesprochen zu werden, geringer als bei den Offizieren.

Im Wartesaal II stauten sich die Reisenden und Wartenden. Selbst um diese Nachtzeit waren alle Stühle und Tische besetzt, an den Wänden hockten die Landser auf dem Fußboden oder lagen sogar und schliefen trotz des Lärms, die Tornister als Kopfkissen untergeschoben. Nirgendwo war mehr ein Platz, und obwohl man bemerkte, wie sich die Rote-Kreuz-Schwester umsah und suchte, stand niemand auf und bot ihr seinen Stuhl an. Fast fünf Stunden an der Wand stehen? Mit einem Achselzucken suchte sich Jana Petrowna ein Stück Wand, stellte ihre Tasche vor die Füße und lehnte sich an. Ein Landser, der neben ihr auf dem Boden saß und eine fürchterlich stinkende Selbstgedrehte rauchte, blickte zu ihr hinauf.»Wo wollen Sie denn hin, Schwester?«fragte er. Er war ein älterer Mann, der an der linken Rockseite das silberne Verwundetenabzeichen trug. Ein Ordensbändchen im Knopfloch wies ihn als Träger des EKII aus.

«Mit der Straßenbahn in die Stadt. Aber die erste Bahn fährt erst um fünf Uhr.«

«Und so lange wollen Sie hier herumstehen?«

«Was soll ich sonst tun?«

«Erster Klasse ist auch voll?«

«Da sind mir zuviel Offiziere.«

«Ach so. «Der Landser grinste verständnisvoll.»Warum gehen Sie nicht in die Bahnhofsmission?«

«Bahnhofsmission?«fragte Jana verblüfft.

«Noch nie was davon gehört? Eure Ausbildung wird auch immer schlechter. Schnellkurs… und dann hopp-hopp, in die Lazarette, was? In der Bahnhofsmission sind Sie richtig. Alles Schwestern, vor allem braune Schwestern.. die nehmen Sie bestimmt auf.«

«Danke. «Jana Petrowna hob ihre Tasche wieder hoch, nickte dem Landser zum Abschied zu und verließ den Wartesaal.

In der Halle sah sie sich um, fand den Hinweis Bahnhofsmission und blieb dann vor einer Tür stehen, durch die unaufhörlich Mädchen in einer ihr fremden Schwesterntracht aus und ein gingen, Leichtverwundete herausgeführt oder von Schwestern gebracht wurden. Soll ich? fragte sie sich. Was werden sie mich fragen? Werden sie glauben, was ich ihnen erzähle?

Allen Mut nahm sie zusammen, umkrampfte die Griffe ihrer Wachstuchtasche und betrat nach einem Soldaten mit einem Kopfverband den ersten Raum. Der Geruch von Bohnensuppe schlug ihr entgegen. In einer Ecke stand ein großer emaillierter Kochkessel, aus dem eine Schwester mit einer Kelle die Suppe in die hingehaltenen Kochgeschirre schöpfte. Eine Reihe von Verwundeten hatte sich gebildet, die Witze reißend an dem Kochtopf vorbeizog.

Die Küchenschwester warf einen Blick auf die unschlüssig und hilflos sich umsehende Jana und zeigte mit der Suppenkelle auf eine Pendeltür.

«Dort rein…«

«Danke.«

Sie stieß die Tür auf, kam in einen großen Raum, in dem an langen Tischen einige Verwundete saßen, Kaffee oder Tee tranken und an mit Dauerwurst belegten Broten kauten. Vier Etagenbetten an der Hinterwand waren belegt. Von dort e-klang ein gedämpftes Schnarchen. Eine braune Schwester kam auf Jana zu und musterte sie erstaunt.»Wo kommst du denn her?«fragte sie.

«Von der Front bei Leningrad«, antwortete Jana wahrheitsgemäß.

«Oje! Und nun hast du Heimaturlaub?«

«Nein. Ich muß mich im Städtischen Krankenhaus melden. Kann ich vier Stunden bei euch bleiben? Die erste Straßenbahn fährt erst um fünf Uhr.«

«Natürlich kannst du hier bleiben. Nimmt dich denn keiner mit? Es fahren doch genug Autos vom Bahnhof in die Stadt.«

«Ich habe noch niemanden gefragt. Und — ich fahre lieber mit der Bahn.«

«Wegen der ewigen Fummelei, was?«Die Schwester lachte.»Die einen gewöhnen sich daran, die anderen nicht. Ich hab mich daran gewöhnt. Was willst du machen, wenn so'n schicker junger Leutnant dir über'n Schenkel streichelt?«

«Die Alten sind noch schlimmer.«

«Du sagst's! Auch schon Erfahrungen gesammelt, was?«Die braune Schwester gab Jana die Hand und zeigte auf eine andere Tür an der Seitenwand.»Geh da rein…das ist unser Büro. Da ist's gemütlich, und keiner macht schweinische Witze. Von der Leningrader Front! Wie sieht's da vorne aus?«

«Eine Menge Verwundete.«

«Klar. Wir sehen es ja, wenn die LaZ-Züge hier vorbeikommen. In den Zeitungen und im Rundfunk bringen sie ja nichts darüber. Ist auch gut so. Worauf es ankommt, ist der Endsieg.«

«Genau so ist es«, sagte Jana. Ihre Kehle schnürte sich zusammen.

«Der Führer wird's schon machen.«»Ein… ein Glück, daß wir ihn haben…«Es war einer der schwersten Sätze, die Jana je gesprochen hatte. Sie nahm wieder ihre Wachstuchtasche von den Dielen auf und ging hinüber in das Büro. An der Wand standen zwei Liegen, auf denen zwei erschöpfte Schwestern schliefen. Sie wurden von Janas Eintritt nicht wach. Zehn Stunden Dienst, da schläft man wie betäubt.

Sie setzte sich auf einen Stuhl neben einen der mit Papieren überfüllten Schreibtische, stützte den Kopf in beide Hände und dachte darüber nach, wie es nun weitergehen solle. Zwei Möglichkeiten gab es: Irgendwo untertauchen und in der Illegalität leben, voll Vertrauen auf den Schutz ihrer Schwesterntracht, oder sich im Krankenhaus melden und offiziell als Schwester tätig sein. Nur zweihundert Mark habe ich bei mir, sagte sie sich. Das hält nicht lange. Wovon soll ich ein Zimmer bezahlen, wovon soll ich leben? Ich kann nicht immer nur als reisende Schwester von Schwesternheim zu Schwesternheim ziehen… dieses Versteckspiel ist schnell erschöpft. Und dann? Ihr Blick fiel über die Papierstapel. Am linken Schreibtischrand lag ein Block mit Vordrucken, und Jana las zunächst die fettgedruckte Überschrift.

Einsatzbescheinigung.

Es durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag. Sie warf einen schnellen Blick hinüber zu den zwei schlafenden Schwestern, zog den Block an sich und sah, daß das Formular blanko ausgestellt war. Unterschrift, Stempel…nur den Namen und das Datum mußte man noch einsetzen.

Hastig las sie den Text durch. Es war genau das, was sie brauchte. Name, Geburtsdatum, Heimatanschrift, Ausweisnummer und Bezeichnung der Dienststelle. Das Vorzeigen dieser Bescheinigung machte alle Fragen überflüssig. Sie war ein Paß der Sicherheit.

Hastig riß Jana Petrowna ein Blatt von dem Formularblock, warf wieder einen Blick auf die schlafenden Schwestern, raschelte bewußt mit einigen Papieren, aber sie erwachten davon nicht. Sie nahm einen Füllfederhalter, der in einer Buchse stak, und füllte das Formular mit Druckbuchstaben aus… die vor ihr stehende Schreibmaschine wagte sie nicht zu benutzen, das Klappern hätte die Schlafenden wecken können. Dann faltete sie die ausgefüllte Bescheinigung zusammen und steckte sie in die Wachstuchtasche. Aufatmend lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und schloß für einen Moment die Augen. So, den Kopf zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen, fand die Leiterin der Bahnhofsmission sie vor, als sie kurz ins Büro hineinsah.

«Müde?«fragte sie.»Wie lange bist du schon unterwegs?«»Von Puschkin bis Königsberg zwei Tage und anderthalb Nächte.«

«Da hinten stehen ein Elektrokocher, ein Topf mit Wasser und eine Tüte Kaffee. Echter Bohnenkaffee. Mach dir einen starken Kaffee. Bei uns gibt's keinen Muckefuck.«

«Danke.«

Was ist Muckefuck, dachte Jana Petrowna. Auch so ein Wort, daß ich noch nie gehört habe. Die Stationsleiterin ging wieder zurück in den Aufenthaltssaal und schlug die Tür zu. Die beiden Schwestern auf den Liegen schliefen weiter. Sie brühte sich keinen Kaffee auf, sondern wartete, bis zwei andere Schwestern in das Büro kamen, ihr die Hand gaben und dann einen Topf voll duftenden Kaffees aufgossen. Mit großem Genuß, fast gierig, trank Jana zwei Tassen.

«Ha, das ist was anderes als Muckefuck!«sagte sie dabei und kam sich sehr listig vor. Die eine Schwester nickte und schlürfte das heiße Getränk vorsichtig vom Tassenrand.

«Korn — «sagte sie, — »ist fürs Mehl da, nicht für den Kaffee. Aber das Geld dafür ist nötiger in der Rüstung. Nach dem Krieg können wir in Kaffee baden.«

«Genau!«Jana Petrowna nickte. Muckefuck ist also Ersatzkaffee, dachte sie. Aus gebranntem Getreide. So etwas muß man wissen, wenn man jetzt eine Deutsche ist.»Und wo bekommt ihr den Kaffee her?«

«Beziehungen…«Die junge Schwester lachte und schlürfte wieder an ihrem Kaffee.»Beziehungen sind alles. Man muß organisieren können.«

Jana lachte und tat so, als verstände sie das. Schon wieder etwas gelernt, dachte sie. Organisieren heißt also, hintenherum etwas zu besorgen, was man normal nicht mehr bekommt. Und Muckefuck ist Ersatzkaffee, und das Dünnbier nennen sie Urinol oder Pissolin. Das steht in keinem deutschen Wörterbuch. Aber wissen muß man's, sonst fällt man auf. Gibt es noch viele solcher Wörter, die ich lernen muß?

Die Wartezeit ging schnell herum… trotz des starken Kaffees war Jana, auf dem Stuhl sitzend, eingenickt und hatte geschlafen. Erst ein Rütteln an der Schulter ließ sie auffahren, ihr auf die Brust gesunkener Kopf schnellte hoch. Die leitende braune Schwester stand vor ihr.

«Muß dich leider von deinen Träumen befreien«, lachte sie.»Die erste Straßenbahn kommt gleich. Wenn du die noch haben willst… los, lauf los… Die Haltestelle ist genau gegenüber dem Haupteingang.«

«Danke!«Sie sprang auf und riß die Wachstuchtasche an sich.»An euren Kaffee werde ich noch lange denken. «Sie zögerte, hauchte dann der Schwester einen Kuß auf die Backe und lief hinaus.

Die Straßenbahn war fast leer. Nur vorn im Waggon saß ein Trupp Arbeiter, sie rauchten, diskutierten über den Wehrmachtsbericht vom Vortage, schlossen Wetten ab, wann Leningrad und Moskau erobert werden würden. Einer von ihnen sagte» Nie!«und wurde von den anderen niedergebuht. Haltestelle Städtische Krankenanstalten.

Jana Petrowna stieg aus, blieb neben dem Halteschild stehen und blickte lange hinüber zu den Mauern und Fensterreihen des Krankenhauses. Auf dieses Abenteuer hatte sie sich gründlich vorbereitet. Aus einem» Handbuch für Lernschwestern«, das Michael Wachter ihr einmal mitgebracht hatte — es war in russischer Sprache abgefaßt —, hatte sie einige Grundbegriffe auswendig gelernt und dann ins Deutsche übersetzt. Sie beherrschte, theoretisch, eine kleine Instrumentenkunde, hatte an Wachter, der einen Schwerkranken spielte, geübt, wie man Bettlägerige aufrichtete, ihnen die Pfanne unterschob, einen Verband wechselte, die Kranken wusch, den Puls fühlte und hatte an ihrer alten Kinderpuppe gelernt, wie man eine intramuskuläre Injektion setzt.

«Das muß genügen«, hatte später Wachter gesagt.»An mehr kommst du sowieso nicht ran. Nicht gleich als OP-Schwester werden sie dich einsetzen. Pillen wirst du verteilen, Bettwäsche wechseln, mal eine Spritze geben, in den Muskel nur, in die Vene, das machen die Ärzte oder die Stationsschwester mit Erlaubnis der Ärzte, stützen wirst du sie, wenn sie ihre ersten Gehversuche machen, Essen austeilen, Schwerkranke füttern, Fieber messen… das alles ist kein Problem für dich. Und sprich so wenig wie möglich, Janaschka… mit Worten verrät sich mancher mehr als durch Taten. Und halt die Augen offen… lernen mußt du, lernen, überall lernen… und plötzlich kannst du so viel wie eine richtige Schwester.«

Sie gab sich einen Ruck, überquerte die Straße und ging auf die Zufahrt zu, an der die Krankenwagen hielten. Jetzt war die Doppeltür der Einlieferung nur von zwei armseligen, trüben Lampen beleuchtet. Tiefe Stille lag über dem ganzen Gebäudekomplex.

Die Tür war abgeschlossen, in der linken Seitenwand war ein großer Klingelknopf in die Mauer eingelassen. Sie drückte ihn hinunter, hörte nichts und drückte noch dreimal. In der großen Aufnahmehalle flammte Licht auf, ein verschlafener Sanitäter kam breit gähnend zur Tür.

«Was ist denn los?«rief er.»Ich bin ja schon da! Habt ihr den Koch im Sanka?«Dann erst erkannte er, daß da draußen ganz allein eine Rote-Kreuz-Schwester stand, ein hübsches Püppchen, so ein richtiges knackiges Ding für die Ärzte.

Sanka, dachte Jana Petrowna sofort. Was ist denn das nun wieder?

«Ich bin kein Sanka!«sagte sie forsch.

«Nee, wirklich nicht. «Der Sanitäter grinste, trat zur Seite und ließ Jana eintreten.»Wär schade, wennste wie'n Krankenwagen aussiehst.«

Sanka ist also ein Krankenwagen. Ein neues Wort, das wichtig war. Die Abkürzung von Sanitätskraftwagen. Jana wartete, bis der Sanitäter wieder abgeschlossen hatte und sah sich um. Kahle Wände, ein blanker Linoleumfußboden, ein Geruch von

Desinfektionsmitteln, eine Reihe Türen, Rolltragen an einer Seite der Wände, zwei Untersuchungszimmer für Notfälle und Unfälle, zwei fahrbare Krankenstühle.

Der Sanitäter kam von der Eingangstür zurück und grinste Jana an.

«Na, über den Zapfen gewichst, und jetzt heimlich hinein durch die Hintertür. War's schön?«Er lachte, als er Janas verständnisloses Gesicht sah und legte den Arm um sie. Sie wußte nicht, ob sie es dulden oder ihn abschütteln sollte.»Machst Augen wie ein Engelchen, sooo unschuldig. Nun wetz schon in dein Bett, ehe dich die Nachtwache erwischt.«

«Ich muß mich bei der Oberschwester melden«, sagte Jana Petrowna, so wie sie es geübt hatte.

«Jetzt? Um halb sechs?«Er sah Jana genauer an und bemerkte ihre große Wachstuchtasche.»Ach Gott, du bist neu hier? Sollst dich melden?«

«Ja. Eben mit dem Zug angekommen.«

«Woher kommste denn?«

«Von der Front. Von Leningrad.«

«Das dreht ja 'n Hund in der Pfanne rum! Leningrad? Von ganz vorn?«

«Ja. Vom Hauptverbandsplatz.«

«Und was sollste dann hier bei uns?«

«Ich war krank. Typhus. Ich soll mich hier etwas erholen… und natürlich arbeiten. Sie haben mir einen Marschbefehl gegeben und mich losgeschickt.«

«Ja. So ist das!«Der Sanitäter faßte Jana unter und schob sie an seiner Seite zu einem Zimmer.»Mich hat's in Polen e-wischt. Schuß in die Hacke, und als ich hochgezuckt bin, noch'n Schuß in die linke Schulter. Schlüsselbein zertrümmert. Seitdem schlurfe ich hier herum. So, das ist mein Wachraum. Setz dich auf das Sofa, Mädchen. Wie ist es mit nem Bier? Erzähl mal, was da draußen los ist. Bis acht Uhr haben wir Zeit, vorher ist keiner in der Verwaltung, und Oberschwester Frieda kriegste erst um halb neun. Die Frieda Wilhelmi ist nämlich so was wie ne Kommandeuse. Da stehn sogar die Ärzte stramm. Was die sagt, stimmt und wird gemacht. Der kann keiner! Der erste Rat von mir: Stell dich mit der Wilhelmi gut. Aber das wird schwer sein… du bist zu hübsch, Mädchen. Da sieht sie wieder was kommen. Alle Ärzte sind wie Hunde, die eine läufige Hündin riechen, sagt sie.«

«So schlimm ist es hier?«

«Was? Hat dich noch kein Arzt angepackt?«

«An der Front hatten wir andere Probleme. Da standen wir zwischen Haufen zerfetzter Leiber… Wie heißen Sie?«

«Karl Bludecker… Dämlicher Name, was? Aber man kann sich ja seine Eltern nicht aussuchen. Und du?«

«Ich heiße Jana Rogowskij.«

«Echter ostpreußischer Adel, was?«Bludecker grinste, holte eine Flasche Bier, aber Jana winkte ab.

«Danke, Karl. Ich kann doch nicht mit einer Bierfahne bei Frieda Wilhelmi vorsprechen.«

«Die Frieda säuft auch. Heimlich. Das weiß ich. Also dann nicht. «Er hob die Flasche hoch und prostete ihr zu.»Es lebe die Schiffahrt!«

Er nahm einen langen Schluck, setzte dann die Flasche ab und stieß diskret auf. Jana saß auf dem Sofa und hatte die Hände in den Schoß gelegt.

«Warum Schiffahrt?«fragte sie.

«Das kennste nicht?«Bludeker klopfte gegen die Bierflasche.»Nach einem halben Liter Pissolin kannste ein Liter schiffen…«

«Oder strullen…«sagte sie.

«Auch. Das ist nur vornehmer ausgedrückt. Mädchen, du bist in Ordnung!«

Um acht Uhr führte Bludecker sie zum Zimmer der Oberschwester. Frieda Wilhelmi war noch nicht da, sie setzte sich artig auf einen Stuhl in der Ecke und wartete.

Pünktlich um halb neun ging die Tür auf und ein beweglicher, massiger Turm rollte ins Zimmer. Der Turm war mit einer Schwesterntracht behängt und trug oben einen Kopf mit einem bebrillten Gesicht. Hellblaue Augen musterten kurz die sofort aufspringende Jana, dann rollte der Turm zum Schreibtisch und fuhr Arme aus, die sich auf die Tischplatte stützten. Schon dieser erste Anblick genügte, um in Jana eine alarmierende Angst aufkommen zu lassen. Das war eine Frau, gegen die niemand ankam, die nichts erschüttern konnte, die gewohnt war, zu herrschen, die nichts anderes erwartete als Unterwürfigkeit.

«Was ist?!«fragte sie kurz.

Jana zuckte zusammen und starrte den Fleischberg an. Welch eine Stimme, dachte sie überrascht. Eine angenehme, tiefe, klangvolle Stimme mit einem leicht singenden Ton. Vertrauen konnte man zu ihr haben, man mußte nur die Augen schließen…

«Welche Station?«

«Noch gar keine, Oberschwester.«

«Wie bitte?«

«Ich soll mich hier melden. «Jana holte das selbstausgefüllte Formular aus der Wachstuchtasche und hielt es Frieda Wil-helmi hin. Mit größter Anstrengung versuchte sie, das leichte Zittern ihrer Hand zu unterdrücken. Jetzt entscheidet sich alles, dachte sie. Jetzt kann nur noch Gott helfen… falls er gegen Frieda eine Chance hat.»Ich komme von der Front. Von Leningrad.«

«Von der Front!«Frieda Wilhelmi warf wieder einen Blick über Jana, ein Blick, der sie vollkommen umfaßte und wie ein Dorn in sie einzudringen schien.»Leningrad!«Frieda nahm das Formular an sich, überflog es und warf es dann auf ihren Schreibtisch.»Papiere…«

«Ich habe nur diese Einsatzbescheinigung.«

«Sie müssen doch Papiere haben. Ihren DRK-Ausweis, ein Überstellungsschreiben…«

«Ich habe nichts, Oberschwester. In den Hauptverbandsplatz schlugen drei schwere Granaten ein. Eine mitten in unsere Wohnbaracke. Alles wurde vernichtet und verbrannte. Das war eine Stunde, bevor ich abfahren mußte. Nur meine Tasche ist übriggeblieben, weil ich sie bei mir hatte.«

Frieda Wilhelmi nahm das Formular vom Tisch, las es noch einmal und zuckte dann mit den dickfleischigen Schultern. Jana atmete innerlich auf. Ein Schulterzucken ist eine halbe

Kapitulation.

«Man hat Sie also uns zugewiesen?«sagte der Turm und warf das Papier wieder auf den Tisch zurück.»Waren Sie schon bei der Verwaltung?«

«Nein. Ich wollte mich erst bei Ihnen melden, Oberschwester. «Frieda nickte, fand nach dieser Antwort das Mädchen sympathisch und setzte sich auf einen breiten Stuhl, der unter ihrer Körpermasse verschwand.

«Da müssen Sie gleich hin, Schwester Jana. Sonst gibt's kein Geld. «Wieder dieser forschende, in die Tiefe dringende Blick.»Wo steck ich Sie hin? In einem Hauptverbandsplatz waren Sie? Da kommt nur die Chirurgie in Frage. Davon haben Sie ja Ahnung. Wir sind hier das größte Heimlazarett. Ich bringe Sie nachher zum Chef, Dr. Pankratz. Stabsarzt Dr. Pankratz. Er jammert immer wieder nach einer guten Fachschwester. Gehen Sie jetzt zur Verwaltung und kommen Sie dann zu mir zurück.«

«Jawohl, Oberschwester.«

Frieda Wilhelm! blickte Jana nach, als sie das Zimmer verließ. Ein hübsches Mädchen, dachte sie. Ein gut erzogenes Mädchen. Ein offener Blick und noch nicht verdorben. Das sieht man sofort. Man wird auf sie aufpassen müssen, daß sie nicht unter die Räder kommt. Ich werde mich selbst um sie kümmern. Jana Rogowskij. Geboren in Lyck… das liegt in Masuren, dicht an der russischen Grenze. Schlag den Ärzten und anderen auf die Pfoten, wenn sie Griffe kloppen wollen. Ich paß auf dich auf, Jana.

In der Verwaltung, Abteilung Personalbüro, saß ein rothaariger, jüngerer Mann und hatte neben dem Tisch sein rechtes Bein lang ausgestreckt. Erst beim zweiten Blick sah Jana, daß es eine Prothese war. Der Mann nickte und schob sich etwas auf dem Stuhl zurecht.

«Frankreich«, sagte er.»Sturm auf die Maginotlinie, Granatsplitter. Hat glatt den Knochen oberhalb des Knies durchschlagen. «Er streckte die Hand aus und nahm das Formular ab.»Sie wollen bei uns arbeiten?«

«Ich bin hierher abkommandiert. «Jana Petrowna war jetzt sicherer geworden.»Oberschwester Frieda schickt mich zu Ihnen. Ich soll auf der Chirurgie anfangen. Es ist alles geklärt, auch wegen der fehlenden Papiere. Ich komme von der Leningrad-Front.«

«Aha!«Der rothaarige Mann musterte Jana, als wollte er ein Kalb kaufen.»Wenn Frieda das sagt, ist ja alles in Ordnung. «Er wedelte mit dem Formular durch die Luft.»Das ist alles, was Sie haben?«

«Genügt das nicht?«

«Erraten. Aber wenn Frieda damit einverstanden ist… gut, ich trage Sie in die Personalliste ein. «Der Rothaarige steckte das Formular in eine blaue Mappe.»Aber sorgen Sie dafür, daß die fehlenden Papiere wieder beschafft werden.«

«So schnell wie möglich. «Sie wartete vor dem Tisch, aber die Einstellung schien damit beendet zu sein.»Wie ist Oberschwester Frieda?«fragte sie.

«Kennen Sie den Drachen, den Siegfried erschlug? Leider können wir Frieda nicht erschlagen… es meldet sich kein Siegfried.«

«So schlimm?«

«Ohne Frieda läuft hier nichts. Sie sieht, hört und riecht alles. Wenn sie sagt, Sie sind eingestellt, dann sind Sie's auch! Ich werde mich hüten, anders zu entscheiden wegen Ihrer fehlenden Papiere. «Er verzog sein Gesicht und fügte dann sehr ironisch hinzu:»Viel Freude an der Arbeit, Schwester. Eine Woche im Schützenloch ist gemütlich gegen ein Tag mit Frieda. Aber der Laden läuft mustergültig — das ist die andere Seite.«

Eine halbe Stunde später klopfte Jana wieder am Zimmer der Oberschwester an. Ein knurrendes» Ja «hieß»Eintreten«. Frieda Wilhelmi hob den Kopf und deutete auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Als Jana saß, kam sie sich vor wie ein armer Sünder vor dem Hohen Gericht.

«Mein Kind — «Wieder diese warme, gar nicht zu dem Fleischturm passende Stimme, und dann noch» mein Kind«, eine fast mütterliche Vertraulichkeit, die Jana Petrowna sogar körperlich spürte.»Bevor wir zu Stabsarzt Dr. Pankratz gehen, noch ein nötiges, ernstes Wort: Ich mag keine Liebschaften in meinem Haus.«

Sie sagte» mein Haus«, und sie ließ damit erkennen, daß ihr nichts verborgen blieb. Jana nickte gehorsam.

«Das kommt bei mir nicht vor, Oberschwester.«

«Ach Gott, das sagen sie alle. Ich bin verlobt, ich will kein flüchtiges Abenteuer, dafür bin ich mir zu schade und tausend andere Beteuerungen. Und dann fallen Sie Dr. Phillip in die Hände, und alles ist vergessen.«

«Sie warnen mich vor Dr. Phillip?«

«Auch. Der ist nur ein Beispiel. Alle Männer sind verrückt, wenn sie so ein Mädchen wie Sie sehen.«

«Bitte, Oberschwester, sagen Sie du zu mir.«

Das war ein geschickter Schachzug. Frieda warf einen wohlwollenden Blick in Janas Augen und lächelte sogar.»Leben deine Eltern noch?«fragte sie.

«Nein. Mutter starb 1938 an Krebs, und mein Vater…«Jana gelang es, ihr Gesicht zucken zu lassen. «Vater… ist in Frankreich vermißt. Aber ich fühle, daß er nicht wiederkommt. Ich spüre es.«

«Kannst du Schreibmaschine schreiben?«

«Sehr schlecht, Oberschwester.«

«Das kann man lernen. Alles kann man lernen, wenn man will und etwas Grips im Kopf hat. Du wirst Schreibmaschine lernen.«

«Jawohl, Oberschwester.«

«Ab sofort. Hier bei mir. «Frieda zeigte auf eine mächtige Adler-Schreibmaschine mit einem breiten Wagen, in den man auch Listen einspannen konnte.»Übung ist alles. Übung!«Der Turm warf wieder einen wirklich mütterlich zu nennenden Blick auf Jana Perrowna und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Schreibmaschine.»Setz dich dorthin, mein Kind, und fang an.«

«Aber… Oberschwester…«Jana erhob sich, setzte sich auf den Stuhl hinter die Maschine und starrte hilflos auf die Tastatur.»Ich habe nur zweimal… mit zwei Fingern… nur aus Spaß bei meinem Vater…«»Papperlapapp! Jeder kann Maschine schreiben! Heute zwei Finger, morgen vier Finger, in einem Monat alle zehn… Üben… Üben…«Frieda Wilhelmi nickte Jana aufmunternd zu. Und dann sagte sie etwas, was die gesamte Situation veränderte, was schicksalhaft für Jana werden sollte:»Ich schicke dich nicht auf Station, ich hab's mir anders überlegt, die Chirurgie hat genug Pfleger und Schwestern. Du bleibst bei mir und erledigst den ganzen schriftlichen Kram. Bisher hat das ein Mädchen aus dem Sekretariat getan. Sie wird dir noch so lange helfen, bis du allein arbeiten kannst. Einverstanden, mein Kind?«

«Selbstverständlich, Oberschwester.«

«Spann ein Blatt Papier ein und schreib-«Frieda wartete, bis das Papier eingezogen war, und diktierte dann ganz langsam:»Aktennotiz. An die Apotheke im Hause. Ich habe festgestellt, daß die Stationen zwei, sechs und sieben nicht genügend Spritzen und Kanülen haben. Wenn sterilisiert wird, stehen kaum noch Spritzen zur Verfügung. Trotz Bitten der Stationen erfolgte bisher nichts! Ich verlange sofortige Zuweisung neuer Spritzen oder mache Meldung, daß die nötige Versorgung der Patienten nicht mehr gewährleistet ist. Frieda Wilhelmi, Oberschwester.«

Nur mühsam kam Jana voran, bei jedem dritten Wort vertippte sie sich, suchte nervös Buchstabe nach Buchstabe zusammen, schrieb die Wörter mal groß, mal klein und legte dann, am Ende des Diktats, die Hände in den Schoß. Sie sah aus, als wollte sie gleich weinen.

Frieda wuchtete sich von ihrem Stuhl, rollte auf Jana zu, blickte ihr über die Schulter und stieß einen grunzenden Laut aus.»Immerhin, man kann's lesen«, sagte sie sanft.»Und nun, mein Kind, schreibst du das Ganze noch mal säuberlich ab. Du wirst sehen: Morgen geht es schon besser.«

«Bestimmt, Oberschwester. «Jana riß das Blatt aus der Maschine.»Darf ich hier in Ihrem Zimmer üben… nach der Dienstzeit? Ich… ich will Sie nicht enttäuschen.«

«Natürlich darfst du das. «In Frieda Wilhelmis Herz schien eine bisher verrammelte Tür aufgeschlossen worden zu sein.

Mit ihrer dicken, schweren Hand streichelte sie Jana über den Kopf, grunzte erneut und rollte dann zu ihrem Schreibtisch zurück.»Du wirst auch nicht im Schwesternbau schlafen, sondern im Zimmer nebenan. Das ist eine Art Magazin, das Badezimmer ist direkt daneben.«

«Danke, Oberschwester«, sagte Jana gehorsam. Ein Zimmer ohne Beobachtung, dachte sie dabei. Kein Dienst auf der chirurgischen Station. Schnell wird es sich rumsprechen, daß ich nur für die Oberschwester arbeite. Beneiden wird man mich, oder auch nicht, aber ein Hauch von Autorität wird auch auf mich fallen. Niemand wird mich kontrollieren. Unter ihrem Schutz stehe ich. Gott im Himmel, du hast mir wirklich geholfen.

Auf der chirurgischen Station II hatte sich erwartungsvolle Spannung ausgebreitet. Der Rothaarige in der Verwaltung hatte sofort, nachdem Jana Petrowna das Büro verlassen hatte, in der Chirurgie angerufen und bekam ausgerechnet Dr. Phillip an den Apparat. Dr. Hans Phillip, mit seinen 28 Jahren noch sehr jungenhaft aussehend, mit rötlichblonden Haaren und einem sportlichen Körper genau der Typ des modernen Germanen, wie man ihn in den Illustrierten abgebildet sah und wie der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, sie in extra dafür eingerichteten Zuchtanstalten, genannt» Lebensborn«, als neue deutsche Rasse züchten wollte, war der von allen geliebte Arzt in den Städtischen Krankenanstalten. Seine Abenteuer waren» grenzüberschreitend«: Nicht nur in der Chirurgie bekamen die Schwestern blanke Augen bei seinem Anblick, sondern auch in der Inneren, der Gynäkologie, der Pädiatrie und bei HNOlern gab es Schwestern, die ihn verfluchten und haßten und dennoch immer noch heimlich liebten. Ein Oberarzt der Röntgenabteilung hatte Phillip sogar schon einmal Schläge angedroht, ein Kollege von der Gynäkologie war noch weiter gegangen und hatte ihn zum Duell gefordert, auf Pistolen, draußen auf der Nehrung vor dem Haff an der Ostsee, aber da Duelle im Dritten Reich verboten waren ebenso wie das Pauken der Studenten, das Säbelfechten mit Mensuren, und alle schlagenden Studentenverbindungen aufgelöst worden waren, kam es nicht zu einer Begegnung zwischen den beiden Ärzten. Die Aufforderung, das Duell heimlich auszutragen, beantwortete Dr. Phillip mit großer Geste:»Wenn ich verwundet werden soll, dann nur an der Front! Aber doch nicht wegen eines Mädchens… ich bitte Sie.«

Dr. Phillip, im Range eines Unterarztes, hörte interessiert zu, was der Rothaarige zu berichten hatte.

«Sie stellt sich gleich vor?«fragte er mit freudiger Stimme.»Bildhübsch, sagen Sie? Pechschwarze Haare und ebensolche Augen? Und was Anständiges in der Bluse? Kommt von der Front bei Leningrad? Danke, Robert… dann ist die Kleine ja nahkampferfahren. Bei Frieda ist sie jetzt? Danke für den Tip. Ich werde mich doch noch zum Drachentöter qualifizieren.«

Der Chef der Chirurgie, Stabsarzt Dr. Pankratz, war noch nicht im Haus. Er hatte am vergangenen Tag bis gegen Mitternacht operiert. Ein Lazarettzug war angekommen, und neun Sankas hatten Schwerverwundete zum Krankenhaus gebracht, von denen fast die Hälfte sofort versorgt werden mußte. Sie kamen ohne Zwischenaufenthalt direkt von der Leningrader und Wol-chowi-Front, mit durchgebluteten Verbänden, eiternden Wunden, hohem Fieber… neun Wagen voll zerfetzter Leiber.

Dr. Phillip wartete auf die neue hübsche Schwester, hatte in seinem Arztzimmer einen starken Kaffee gebraut, mit Schokolade überzogene Kekse bereitgestellt und eine Flasche Danzi-ger Goldwasser aus dem Bücherschrank geholt. Die besten Erfahrungen hatte er damit gemacht… Kaffee, Schokoladenkekse und Danziger Goldwasser, das schien eine Mischung zu sein, die bei den Mädchen nicht nur die Herzen öffnete…

Er wartete eine Stunde, machte durch die Station II eine Runde und besuchte drei schwierige Fälle, kniff Schwester Angelika beim Vorübergehen in den Hintern und rief dann ungeduldig in der Verwaltung an. Der Rothaarige — Hausapparat 009 — war baß erstaunt.

«Was? Sie ist noch nicht bei Ihnen?«sagte er.»Das verstehe ich nicht. Vielleicht hat sie sich verlaufen.«»Eine Stunde lang?«

«Fragen Sie doch mal bei Frieda nach, Dr. Phillip.«

«Darauf kann ich gut verzichten. Wecken Sie einen schlafenden Löwen?«

«Nee.«

Dr. Phillip ließ noch eine Stunde verstreichen, fand das alles äußerst merkwürdig und rätselhaft und entdeckte in sich den Mut eines Helden: Er verließ die Chirurgie und machte sich auf den Weg zur Verwaltung und zu Oberschwester Frieda Wilhelmi. Fragen durfte man ja schließlich, wo die neue Mitarbeiterin blieb.

Der Rothaarige im Büro wußte gar nichts, hatte die hübsche Schwester nicht wiedergesehen und fand das Verschwinden auch sehr merkwürdig.

«Vielleicht hat die Kleine doch nicht die Klippe Frieda umschiffen können«, meinte er vorsichtig.»Da genügt nur ein dummer Satz, und schon ist der Ofen aus.«

«Ist das nicht eine Schande für uns alle, daß wir uns das gefallen lassen?!«

«Ändern Sie's mal, Herr Doktor. «Der Rothaarige grinste verlegen.»Machen Sie mal einen Versuch. Damals in Frankreich, wenn die Panzer angriffen, da hab ich im Graben gestanden und keine Angst gehabt, da hab ich gewartet, bis ich im toten Winkel war, und dann raus aus'm Graben, die Hafthohlladung an den Panzerturm geklebt, abgezogen und wieder in Deckung, und dann flog der Turm weg… aber wenn Frieda dort durch die Tür kommt, bekomme ich Herzklopfen.«

Dr. Phillip befahl sich, kein Feigling zu sein, ging hinüber zu den Räumen der Oberschwester, klopfte an die Tür und trat ein. Frieda Wilhelmi thronte hinter ihrem Schreibtisch, las in einem Aktenstück und warf einen durchdringenden Blick auf den Arzt. Am Schreibmaschinentisch saß eine junge, schwarzhaarige Rote-Kreuz-Schwester und schrieb mit zwei Fingern aus der Kladde etwas ab.

Das muß sie sein, dachte Dr. Phillip sofort. Genau, wie Robert sie geschildert hatte. Das Hübscheste, was ich seit langem gesehen habe. Ein Juwel von Mädchen. Was macht es hier bei Frieda an der Schreibmaschine? Sein Jungengesicht unter den blonden Locken glänzte. Siegfried, der strahlende Held, kam furchtlos näher.

«Was ist los?«fragte Frieda Wilhelmi und klappte die Akte zu. Erstaunt blickte Jana Petrowna hoch. Die Stimme hatte sich völlig verändert, der warme, mütterliche Ton hatte sich in eine kalte, durchdringende Trompete verwandelt. Dr. Phillip schien nur diesen Ton gewöhnt zu sein. Er blieb stehen.»Oberschwester, man hat der Chirurgie eine neue Mitarbeiterin angekündigt. Sie hat sich noch nicht gemeldet. Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«fragte er.

«Ich habe umdisponiert. Das ist alles.«

«Es wäre gut, wenn das auch die Chirurgie erfahren würde.«»Ist Stabsarzt Dr. Pankratz schon da?«

«Nein.«

«Dann halten Sie den Mund!«Das klang wie ein Kanonenschuß. Dr. Phillip empfand es wie eine schallende Ohrfeige. Die hübsche kleine Schwester blickte von ihrer Schreibmaschine auf. Nur eine Sekunde lang kreuzten sich ihre Blicke. Aber es reichte aus, um in Dr. Phillip ein Kribbeln zu erzeugen.»Ich werde dem Chef berichten.«»Oberschwester Frieda — «

«Was wollen Sie noch?!«

Jedes Wort war ein Schlag. Jeder Ton traf Dr. Phillip geradezu schmerzhaft. Er wollte ebenso scharf antworten, aber was hätte das bewirkt? Gegen diese Masse Machtbewußtsein kam niemand an. Selbst Dr. Pankratz hatte es zu Anfang seiner Tätigkeit versucht, mit dem Ergebnis, daß Frieda Wilhelmi die Chirurgie übersah und zugunsten der Inneren und der Gynäkologie Schwestern abzog und jeden Protest kalt von sich wegschob. Das ging so lange, bis Dr. Pankratz zu Frieda kam und sich mit gewundenen Sätzen, die nicht gleich wie eine Entschuldigung klingen sollten, entschuldigte. Frieda nahm die versteckte Kapitulation an, und von diesem Tag an lief der Betrieb in der Chirurgie wieder im normalen Gleis.

«Ist die Frage erlaubt, ob wir in Kürze mit der neuen Mitarbeiterin rechnen können?«fragte Dr. Phillip gepreßt. Es fiel ihm schwer, seine Wut über diese Erniedrigung zu verbergen.»Nein! Rechnen Sie nicht damit. Haben Sie nicht gehört: Ich habe umdisponiert.«

Dr. Phillip begriff, daß er hiermit die Aufforderung erhalten hatte, das Zimmer zu verlassen. Er drehte sich um, warf noch einen Blick auf Jana, deren große schwarze Augen ihn musterten, und verließ dann grußlos das Zimmer. Hinter sich ließ er die Tür laut ins Schloß fallen, als sei sie ihm aus der Hand geglitten.

«Flegel!«sagte Frieda dröhnend. Dr. Phillip mußte es draußen im Flur noch gehört haben.

«Wer war denn das?«fragte Jana Petrowna und lächelte verlegen. Sie begriff nun, was der Sanitäter Bludecker gesagt hatte und daß alle im Haus Angst vor Frieda Wilhelmi hatten.»Das war Dr. Phillip. Der berüchtigte. Der Bursche, der in dem Wahn lebt, der Mann sei die Krone der Schöpfung. «Frieda klappte die Akte wieder auf.»Übe weiter, mein Kind. Kümmere dich nicht um ihn. Und wenn er dir auflauert, sag es mir sofort. Alles, was einen Rock trägt, ist nicht sicher vor ihm.«

Jana Petrowna nickte und schrieb weiter, suchte die Buchstaben und klapperte mühsam den Übungstext ab. Die Gefahr, die von Dr. Phillip ausging, erkannte sie klar. Sie ahnte, daß er ab jetzt ihre Nähe suchen würde, daß er sie beobachtete und ihr nachging, daß er alles versuchen würde, um mit ihr in Kontakt zu kommen. Von heute an war sie nur sicher im Umkreis von Frieda Wilhelmi, und sie wußte jetzt, daß alles, was noch kommen konnte, abhängig war von dem unerwarteten mütterlichen Wohlwollen und der rätselhaften Zuneigung von Oberschwester Wilhelmi. Es war ihr, als sei sie ein Tier, das in eine warme schützende Höhle gekrochen war, um zu überleben. Sie hatte nun ein Bett, einen Schrank, einen Stuhl, einen Tisch und eine Stehlampe nebenan im Magazin. Sie hatte zu essen und zu trinken, sie hatte Wärme, wenn es Winter wurde, und sie hatte eine Beschützerin. Blieb alles so, wie es jetzt war, konnte man sicher das Ende des Krieges erwarten.

Und in ein paar Tagen sah sie Väterchen wieder. Im Schloß war er jetzt, bei seinem Bernsteinzimmer, treu dem Schwur, den sein Urahne vor seinem König geleistet hatte: Wo das Bernsteinzimmer ist, wird auch ein Wachter sein.

Gott im Himmel, laß Nikolaj Michajlowitsch in Leningrad überleben. Und einen Sohn zeugen müssen wir auch. Solange es das Bernsteinzimmer gibt, muß es auch einen Wachter geben.»Woran denkst du, Kind?«Friedas Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf.

«Ich mag diesen Dr. Phillip nicht, Oberschwester.«»Sag dir das immer vor. «Frieda Wilhelmi blickte auf die Uhr an der Wand. Das Mittagessen wurde in Kürze ausgetragen, eine sehr wichtige Stunde für sie und alle Menschen im Krankenhaus.»Und denk nicht mehr an ihn… er ist wirklich keinen Gedanken wert.«

Bereits am nächsten Tag, um zehn Uhr vormittags, fand die erste Besprechung zwischen Gauleiter Koch, Dr. Findling, Dr. Runnefeldt und Dr. Wollters statt. Wie immer war auch Bruno Wellenschlag anwesend, saß mit am Tisch und hörte schweigend zu. Ein Zeuge, den Koch bewußt hinzugezogen hatte, um später gegenüber Hitler, Bormann, von Ribbentrop und Rosenberg abgesichert zu sein.

Zwar lag aus dem Führerhauptquartier im voraus die Zusage vor, das Bernsteinzimmer in Königsberg aufzubauen, aber es bedurfte nur eines Fingerzeiges von Bormann, und die Lage änderte sich grundsätzlich.

Dr. Findling erschien etwas blaß und sichtlich angeschlagen zu dieser Konferenz. Großvaters Salatöl hatte zwar das Sodbrennen und die Übelkeit ferngehalten, aber die Alkoholschwere im Kopf konnte es nicht besiegen. Den anderen Herren schien es ähnlich zu gehen, bis auf Koch, der so munter und frisch war, als hätte er zwölf oder mehr Stunden geschlafen und nur Wasser getrunken. Er hatte in seiner Wohnung im Schloß übernachtet und war nicht hinaus zu seiner prunkvollen Villa gefahren, einem Prachtbau, der den Unwillen der Bevölkerung herausgefordert hatte, einen stillen, stummen, unterdrückten Unwillen natürlich, denn Kritik am Gauleiter wäre eine Brüskierung gewesen, die Koch sofort mit allen brutalen Mitteln bestraft hätte. Der» König von Ostpreußen «duldete keinen Widerspruch.

Koch eröffnete die Besprechung mit einer grundsätzlichen Frage an Dr. Findling:»Wie lange brauchen Sie zum Aufbau des Bernsteinzimmers im Schloß, Dr. Findling?«

Und Findling antwortete sofort:»Fünf bis sechs Monate, Herr Gauleiter!«

Er war auf diese Frage vorbereitet, und auch die Reaktion Kochs hatte er vorausgesehen. So erschrak er nicht, als Koch ihn anstarrte, und duckte sich auch nicht, als Koch plötzlich schrie:

«Ja, sind Sie denn verrückt geworden?! Sechs Monate?! Sechs Wochen gebe ich Ihnen — «

«Unmöglich.«

«Nichts ist unmöglich! Dr. Runnefeldt, wie lange dauerte der Ausbau in Puschkin?«

«Sechs Tage. «Dr. Runnefeldt warf einen ermunternden Blick hinüber zu Dr. Findling.

«Und Sie, Findling, quatschen von sechs Monaten?«schrie Koch aufgebracht.»Sind sie noch besoffen?!«

«Ich muß dem Kollegen Findling recht geben. «Dr. Runnefeldt, der keine Angst vor Koch hatte, zumal seine Auftraggeber Hitler, Bormann und das Außenministerium waren, ließ sich von Kochs giftigen Blicken nicht beirren.»Ausbauen ist einfacher als aufbauen. Man kann ein Haus in wenigen Stunden niederreißen, aber nicht neu bauen. Es ist ja nicht damit getan, die Wandtafeln einfach aufzustellen. Das Zimmer muß sachgemäß rekonstruiert werden. Tafel für Tafel, Figur für Figur.

Und nun, wo wir es zerlegt vor uns haben, sollte es auch historisch-wissenschaftlich untersucht und katalogisiert werden. Verschiedene Epochen und Künstler haben an ihm gearbeitet… vom Bernsteinschneider Gottfried Wolffram und den Danziger Meistern Ernst Schacht und Gottfried Turow im Jahre 1707 bis zu Rastrelli im Jahre 1760 in Zarskoje Selo, dem Jahr der endgültigen Aufstellung des Zimmers unter Zarin Elisabeth. Und auch dann noch, ab 1763, arbeiteten fünf Königsberger Bernsteinmeister am Aufbau und an Ergänzungen der

Vertäfelung weiter. Es waren Friedrich und Johann Roggenbuch, Clemens und Heinrich Wilhelm Friedrich und Johann Welpendorf. Das müssen wir alles sehr genau registrieren, bevor wir das Bernsteinzimmer wieder einbauen.«

«Unser Superfachmann!«Koch kratzte sich die Nase und strich dann über seinen kurzen Schnurrbart.»Was sagen Sie dazu, Dr. Wollters?«

«Ich pflichte den Ausführungen des Kollegen Findling bei, Herr Gauleiter«, antwortete der Rittmeister vorsichtig.»Wir haben jetzt die beste und ich glaube einmalige Gelegenheit, das Bernsteinzimmer genau zu untersuchen und kunsthistorisch auszuwerten.«

«Mit Wissenschaftlern zu arbeiten, ist eine Strafe!«Koch wandte sich wieder Dr. Findling zu.»Ich wünsche, daß alle diese Arbeiten so schnell wie möglich ausgeführt werden. Nicht, daß uns die Zeit überrollt und der Krieg gewonnen ist, bevor das Bernsteinzimmer im Schloß aufgebaut ist. Sie wissen doch, meine Herren, daß dann das Zimmer nach Linz, in die Ostmark, kommen könnte. Mein ganzes Trachten ist, diesen einmaligen Schatz hier im Schloß zu lassen… für alle Zeiten! Wenn es in Einzelteilen herumliegt, ist es leichter abzutransportieren, als wenn es wieder eingebaut ist und eventuell neuen Schäden ausgesetzt wird. Beeilung also, Dr. Findling. Ob nun eine geschnitzte Figur von Meister Popofax stammt oder eine Girlande von Meister Pipiström, das ist doch im Grunde gleichgültig!«

«Nicht für die Wissenschaft, Herr Gauleiter«, sagte Dr. Runnefeldt furchtlos.

«Ich sagte es ja: Ihr Wissenschaftler seid eine Strafe Gottes. «Koch hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die von einer Ordonnanz servierten Kaffeetassen klirrten.»Wann darf ich wenigstens eine Tafel sehen? Ist das denn erlaubt?«

«Wir werden einige Kisten öffnen und eine Tafel zusammensetzen. Allerdings nur liegend, Herr Gauleiter.«

«Wie gütig von Ihnen. «Koch erhob sich abrupt. Die erste Bernsteinzimmer-Konferenz war damit beendet. Die anderen Herren schnellten von ihren Stühlen hoch.»Wann?«fragte

Koch.

«Ich werde versuchen, es heute Nachmittag zu bewerkstelligen.«

«Versuchen Sie es, Dr. Findling. «Dicker Spott lag in Kochs Stimme.»Wohin darf ich mich begeben?«

«Ich schlage vor, eine Tafel auf dem Boden des für den Aufbau vorgesehenen Zimmers Nummer 37 auszulegen.«

«Und um welche Uhrzeit wäre meine Anwesenheit genehm?«»Ich werde Sie benachrichtigen, Herr Gauleiter.«

«Zu gütig!«Koch ging zur Tür, gefolgt von seinem Schatten Bruno Wellenschlag.»Denken Sie daran, daß ich um neunzehn Uhr zu Abend esse…«

Er riß die Tür auf und stampfte hinaus. Erst als die Tür zugefallen war, atmeten die Herren sichtbar auf. Dr. Runnefeldt sah zu Dr. Findling, der bleich an der Tischkante lehnte. Dr. Wollters kaute an seiner Unterlippe.

«Den haben Sie aber kräftig ins Kreuz getreten!«sagte Runnefeldt.»Natürlich sind Sie im Recht… aber befürchten Sie keine Repressalien von ihm?«

«Man hätte es diplomatischer ausdrücken sollen, nicht so direkt«, warf Dr. Wollters ein.»Wir kennen doch des Gauleiters Empfindlichkeit. Das wird Folgen haben, Dr. Findling.«

«Es geht nicht um mich, es geht um das Bernsteinzimmer. «Findling stieß sich von der Tischkante ab.»Auch ein Gauleiter muß vor so einem Kunstwerk Geduld lernen. «Er trat an das Fenster, blickte hinunter zum Schloßhof und auf die achtzehn Lkws. Sie wurden von fünf Soldaten bewacht.»Wie lange bleiben Sie, Kollegen?«

«Ich werde übermorgen nach Riga zurückkehren müssen«, sagte Dr. Wollters.»Vermute, daß ich noch einmal nach Paw-lowsk muß. Die Ausbeute an Kunstschätzen dort im Schloß ist ja kaum zu überblicken!«

Auf dem breiten Gang zum Treppenhaus blieb Koch kurz stehen und tippte Wellenschlag gegen die Brust.

«Hast du das gehört, Bruno?«fragte er.»Die studierten Kerle wollen mir die Hose übern Hintern ziehen!«

«Eine Frechheit, Gauleiter. «Wellenschlag kannte wie kaum jemand anderes Kochs Charakter und Gemütsverfassung.»Aber…«

«Was aber? Diesen Findling werde ich hüpfen lassen wie einen Frosch! Und du wirst der Storch sein, der ihm ständig im Nacken sitzt!«

«Genaugenommen kann man ihm nichts vorwerfen, Gauleiter.«

«Quatsch nicht so blöd, Bruno. «Koch stampfte weiter in Richtung Treppenhaus.»Du verstehst was vom Saufen, aber nichts von Menschenführung. Auch Findling ist ein Lakai, alle um mich herum sind nur Lakaien, und ein Lakai hat zu tun, was ihm befohlen wird, und den Mund zu halten.«

Er stutzte und blieb stehen. Über den Gang kam ihnen ein älterer Mann entgegen, den Koch irgendwo schon einmal gesehen hatte. Er überlegte schnell, kam aber zu keinem Ergebnis. Ein Mann in einem schäbigen Anzug, der außerdem noch zu weit war. Wie kommt dieser Kerl in den abgesperrten Trakt des Schlosses?

Der Mann zögerte einen Augenblick, dann streckte er den rechten Arm hoch zum deutschen Gruß.»Heil Hitler, Herr Gauleiter!«sagte er sogar. Es klang nicht sehr fröhlich.

«Wer sind Sie?«fragte Koch, ohne den Gruß zu erwidern.»Woher kenne ich Sie? Wir sind uns doch schon mal begegnet…«

«Heute morgen um ein Uhr, Herr Gauleiter. Mein Name ist Michael Wachter. Ich bin mit dem Bernsteinzimmer gekommen.«

«Der Wärter!«rief Wellenschlag.»Der Museumsdiener aus Puschkin, Gauleiter. Der mit seinen 225-Jahren-Vorfahren.«»Richtig!«Koch kam noch einen Schritt näher und schaute Wacher durchdringend an.»Sie sind einer der wenigen, die das Bernsteinzimmer genau kennen?«

«Vielleicht der einzige, Herr Gauleiter. Ich kenne jedes Mosa-iksteinchen. Ich bin in dem Zimmer aufgewachsen, es gehört zu meinem Leben.«

«Kommen Sie mit!«Koch winkte herrisch.»Wir müssen uns darüber unterhalten. Was sind Ihre Pläne?«»Pläne?«fragte Wachter verständnislos.

«Das Zimmer bleibt jetzt hier… was wollen Sie tun? Sie müssen doch eine Arbeit annehmen.«

«Ich habe gedacht, Herr Gauleiter, daß man mich hier brauchen kann. So wie bisher… als Wachter über das Bernsteinzimmer. Als Museumsdiener. Es gibt keinen, der…«

«Ich weiß. Ich weiß! Das Bernsteinzimmer ersetzte Ihnen die Muttermilch.«

«Fast war es so, Herr Gauleiter.«

«Wie lange schätzen Sie die Aufbauten hier im Schloß?«»Einige Monate.«

«Der auch, Bruno!«Koch nickte zum Treppenhaus hin.»Kommen Sie mit, Wachter. Ich habe eine Menge Fragen an Sie. Und das mit Ihrer Übernahme als Wachter überlege ich mir. Ich brauche einen vertrauenswürdigen Mann für das Bernsteinzimmer.«

«Danke, Herr Gauleiter. «Wachter schluckte. Ein Kloß im Hals beengte sein Atmen.»Es wäre eine große Ehre für mich, im Schloß arbeiten zu können.«

Sie gingen in ein weitläufiges Zimmer, in dem eine Reihe von Ritterrüstungen an den Wänden standen und in der Mitte einige Glasvitrinen mit historischen Waffen. Kurzschwerter, Stachelkugeln, Beile und Hellebardenköpfe. In der linken hinteren Ecke stand eine moderne Sitzgarnitur, die völlig fremd in dieser Umgebung aus dem Mittelalter ostpreußischer Geschichte wirkte.

Koch setzte sich und winkte Wachter zu, das gleiche zu tun.»Warum haben die Russen Sie nicht gezwungen, die deutsche Staatsbürgerschaft aufzugeben?«begann er das Gespräch, das mehr einem Verhör glich.»Wieso ist ausgerechnet ein Deutscher der Bewacher des Bernsteinzimmers?«»Es ist durch einen Vertrag von 1716 geregelt, Herr Gauleiter.«

Wachter war auf der Hut. Er überlegte jedes Wort genau, bevor er es aussprach. Nur ein kleiner Fehler, eine winzige Unaufmerksamkeit konnte sein Ende bedeuten — darüber war er sich absolut im klaren.

«1716…«Koch lehnte sich zurück, faltete die Hände über seinem Bauch und musterte Wachter wieder mit durchdringenden Blicken.»Und daran hat sich Stalin gehalten?«

«Jeder, Herr Gauleiter. Alle Zaren und Zarinnen. Kerenskij und Lenin und Stalin auch.«

«Und nun erwarten Sie das auch vom Führer…«

«Von Ihnen, Herr Gauleiter. Dem Führer wird es egal sein, wer das Bernsteinzimmer bewacht. Solange es in Königsberg steht, haben Sie die Verantwortung.«

«Es wird jetzt für alle Zeit in Königsberg stehen!«rief Koch. Der Mann, wie hieß er? Wachter, machte einen guten Eindruck auf ihn. Vor allem konnte er ein Auge sein, das Dr. Findling ständig beobachtete und laufend Berichte abgeben konnte. Nichts, was mit dem Bernsteinzimmer geschah, würde ohne Wachter stattfinden können. Wirklich ein wichtiger Mann.»Wo haben Sie in Puschkin gewohnt, Wachter?«

«Im Katharinen-Palais, nicht weit vom Bernsteinzimmer entfernt.«

«Das werden Sie hier auch. Sie bekommen im Schloß eine Wohnung.«

«Heißt das, daß ich… Herr Gauleiter, ich kann bleiben? Ich darf weiter das Zimmer betreuen? Ich…«

Koch nickte. Es war ihm peinlich, plötzlich Tränen in den Augen des Mannes sehen zu müssen. Er empfand das als unmännlich, auch wenn er in dieser Situation Verständnis dafür aufbrachte.

«Reißen Sie sich am Riemen!«sagte Koch grob und doch mitempfindend.»Ich will, daß Sie mir über alles berichten. Haben Sie Familie?«

«Meine Frau ist schon lange tot.«

«Keine Kinder?«

«Einen Sohn. Er hieß Nikolaus. Bei einem Unfall kam er ums Leben. Motorrad, Herr Gauleiter. Schädelbruch.«

«Ist wie ein Affe gesaust, was?«

«Die jungen Leute. «Wachter hob resignierend die Schultern.»Gut, daß seine Mutter ihn nicht so gesehen hat. Er war für mich eine große Hoffnung. Nun stirbt mit. mir die Familie

Wachter aus.«

«Wie alt sind Sie, Wachter?«

«Fünfundfünfzig, Herr Gauleiter.«

«Zehn Jahre älter als ich! Wachter, das ist doch kein Greisen-alter. Da kann man doch noch einen Sohn zeugen… mit einer jungen, temperamentvollen Frau! Überlegen Sie sich das. Ein Mann kann immer… nur Mut!«Koch lachte. Bei seinem Lieblingsthema angelangt, wurde er sogar kumpelhaft.»Sie wollen doch wohl nicht die 225-jährige Kette zerreißen? In den Lenden der Männer liegt Deutschlands Unsterblichkeit. Sehen Sie sich um, Wachter, in Königsberg wimmelt es von alleinstehenden Frauen mit dem nötigen Hunger.«

«Ich werde es mir überlegen, Herr Gauleiter.«

Koch schlug die Beine übereinander und nahm seine Mütze vom Kopf. Wachter wurde wieder vorsichtig. Es wird also länger dauern, dachte er. Das Verhör geht weiter. So schnell ist ein Koch nicht zu überzeugen.

«Erzählen Sie mir etwas von der Geschichte des Bernsteinzimmers«, sagte er ohne den sonst befehlenden Unterton.

«Das wird Tage dauern, Herr Gauleiter.«

«Na und? Wir haben doch Zeit. Jetzt eine Stunde… und morgen gehts weiter. Was hat zum Beispiel Lenin gesagt, als er zum erstenmal das Zimmer sah?«

«Auf dem Rücken der Werktätigen gebaut!«

«Das sieht ihm ähnlich!«Koch lachte schallend.»Weiter, mein lieber Wachter. Weiter.«

Nach drei Tagen hatte Jana Petrowna gelernt, mit zwei Fingern einigermaßen fließend zu schreiben. Allerdings hatte sie unentwegt geübt, hatte zehn Stunden lang hinter der Schreibmaschine gesessen und sieh die Buchstabeneinteilung der Tastatur gemerkt. Sie hatte sogar versucht, mit geschlossenen Augen zu tippen, aber das ging zu diesem frühen Zeitpunkt völlig daneben. Am Abend des dritten Tages zeichnete sie auf ein längliches Stück Karton die Tastatur der Maschine, genau in der Größe des Originals. Frieda Wilhelmi begutachtete die

Zeichnung, als sie von einem Rundgang durch die Stationen zurückkam. Wie üblich hatte es wieder eine Menge Ärger gegeben. Friedas Trompetenstimme hatte durch alle Flure gedröhnt, ein paar Schwestern ließ sie weinend in den Stationszimmern zurück. Ab und zu Dampf, das schadet nicht, war ihre Ansicht. Dampf treibt die Maschine. Ohne Dampf bleibt alles stehen.

«Was soll denn das, Kind?«fragte sie und legte den Karton zur Seite.»Merkst du dir die Buchstaben so leichter?«

«Nein, aber ich kann immer und überall mit den Fingern darauf üben.«

«Sehr klug!«Frieda umfaßte Jana mit einem fast liebevollen Blick.»Hast du keine Lust, mal an die frische Luft zu gehen?«»Es regnet doch, Oberschwester.«

«Wie war's, wenn du mal in ein Kino gehst? Im Ufa-Palast läuft ein neuer Film mit Zarah Leander. Der Weg ins Freie, heißt der Film. Und im Tivoli wird Jud Süß gespielt… das mußt du dir ansehen, mein Kind.«

«Wenn ich darf…«

«Natürlich darfst du. Du bist doch hier nicht im Gefängnis. Außerhalb deiner Arbeitszeit kannst du tun und lassen, was du willst. Selbstverständlich im Rahmen von Anstand und Moral.«»Ich möchte zu gerne einmal in das Museum im Schloß, Oberschwester. «Jana starrte auf ihre Schreibmaschine, um nicht Frieda Wilhelmi anschauen zu müssen.»Ich liebe Gemälde und Skulpturen. Bei einem Kurzurlaub von der Front habe ich sogar Schloß Peterhof besichtigt. Ich war richtig ergriffen.«

«Dann sieh dir das Museum doch an, mein Kind.«

«Es ist nur am Tag geöffnet, nicht abends, wenn ich hier fertig bin.«

«Das stimmt. «Frieda Wilhelmi überlegte nicht lange.»Ich gebe dir morgen einen freien Tag.«

«Wirklich, Oberschwester? O danke… danke…«

Sie wollte aufspringen und Frieda umarmen, aber dann sank sie auf ihren Stuhl zurück und wischte sich über die Augen.»Nun heul nicht!«sagte Frieda grob, aber nicht mit ihrer

Trompetenstimme.»Dir steht doch ein freier Tag zu. Du gehst also morgen ins Museum und erzählst mir, was es da zu sehen gibt. Ich würde mitgehen, aber ich kann ja hier nicht weg. Und übermorgen Abend sehen wir uns Zarah Leander an.«

In dieser Nacht wurde Jana Petrowna gestört. Ein Klopfen schreckte sie aus dem Schlaf auf, und das erste, was sie dachte, war: Wie gut, daß ich die Tür abgeschlossen habe. Auch ohne daß sich der Klopfende vorstellte, wußte sie, wer vor der Tür stand.

«Ja?«rief sie in der Art, wie sich Frieda immer meldete. Draußen im Flur hüstelte jemand. Dann sagte eine gedämpfte Stimme:

«Machen Sie auf. Bitte…«

«Wer ist da?«fragte sie völlig überflüssig.

«Hans…«

«Ich kenne keinen Hans.«

«Hans Phillip.«

«Ach Sie, Herr Doktor? Ein Notfall? Ich habe keinen Stationsdienst, das wissen Sie doch.«

«Man könnte es einen Notfall nennen, Schwester. Schließen Sie die Tür auf.«

«Nein.«

«Seien Sie doch kein Frosch.«

«Ich bin eine Jungfrau.«

«Wie bitte?«

«Ich bin Sternzeichen Jungfrau.«

«Humor haben Sie! Das gefällt mir. Wir sollten uns näher kennenlernen, aber nicht durch die Tür.«

«Ich wüßte nicht, wozu das nützlich ist.«

«Das könnte ich klären, wenn Sie mich hereinlassen.«

«Auch dann würden Sie mich nicht überzeugen.«

«Es käme auf einen Versuch an, Schwester Jana. Im Leben gibt es selten ein Nie.«

«Dann gehöre ich zu dieser Seltenheit, Herr Doktor. Lassen Sie mich jetzt weiterschlafen, bitte. Wieso sind Sie eigentlich noch im Haus?«»Ich habe Nachtdienst. Nun machen Sie schon auf. Ich habe auch zwei Flaschen Bier mitgebracht.«

«Pissolin?«

Schweigen. Dr. Phillip zwinkerte verblüfft mit den Augen. Was ist denn das, fragte er sich. Die spröde Kleine und dann solch ein Wort. Junge, die hat es ja faustdick hinter den Ohren. Die ist ja gar nicht ein Kräutchen-rühr-mich-nicht-an. Die tut nur so, die spielt mit mir Katz und Maus.

«Mädchen — «sagte er und preßte dabei den Mund an den Türspalt.»Du bist ein Teufelsweibchen. Komm und dreh den Schlüssel rum…«

«Nein. Gute Nacht, Herr Doktor.«

Jana Petrowna legte sich wieder zurück und zog die Decke über ihren Kopf. Sie hörte nichts mehr und wußte so auch nicht, wie lange Dr. Phillip noch an der Klinke rüttelte, redete, bettelte und lockte. Schließlich gab er auf, zum ersten Mal widerstand eine Frau seinen Lockungen, ein völlig unbekanntes Gefühl war das, und enttäuscht ging er zurück zum Arztzimmer der Chirurgie. Na, dann heute nicht, dachte er. Wir haben ja Zeit. Einmal wird's gelingen. Wer hat heute Nachtdienst? Schwester Veronika. Vroni, die Rundärschige. Besser als gar nichts.

Er packte seine Flaschen Bier wieder in die Kitteltasche und ging zur Station III, in der das Wachzimmer lag.

«Grüß dich, Vroni«, sagte er zu dem drallen Mädchen, beugte sich über sie, küßte sie und strich dabei über ihre Brüste.

«Machen wir's uns gemütlich. Es wird sonst eine langweilige Nacht werden.«

Und Schwester Vroni knöpfte ihren Kittel auf…

Gegen zehn Uhr am Vormittag betrat Jana Petrowna das Museum im Königsberger Schloß. Sie kaufte eine Karte, wagte aber nicht, zu fragen, wo man das Bernsteinzimmer aufstellen wollte. Niemand außer ein paar Eingeweihten wußte von der Ankunft des Schatzes. Es war anzunehmen, daß die Kartenverkäuferin überhaupt keine Ahnung hatte.

Um nicht aufzufallen, ging Jana von Saal zu Saal, blieb vor einigen Gemälden stehen, stieg hinauf in den ersten Stock und sah nirgendwo einen leeren Saal oder eine Betriebsamkeit, die auf ein Auspacken des Bernsteinzimmers hinwies. Erst als sie in den zweiten Stock gehen wollte, versperrte ein dickes Seil die Treppe. Ein Schild hing an dem Seil: Gesperrt. Und auf der Treppe auf einem Ständer las sie: Bis auf weiteres kein Zutritt.

Jana blieb stehen und hob lauschend den Kopf. Da oben also, dachte sie. Da muß Väterchen sein. Was wird er sagen, wenn ich plötzlich vor ihm stehe? Sie hörte entferntes Hämmern, ein paar Stimmfetzen mischten sich dazwschen, irgend etwas schleifte über den Boden, dann eine deutliche Stimme:»Karl, pack mal mit an! Vorsichtig, du Knallkopf! Und jetzt: Hebt hoch!«

Jana Petrowna hob das Seil an, ging gebückt darunter her und stieg die Treppe hinauf. Um die Ecke des breiten Flurs hörte sie nun deutlicher das Hämmern. Zwei Männer bogen von einem Seitengang ein und blieben beim Anblick der Rote-Kreuz-Schwester stehen.

«Wo soll's denn hingehen, Schwester?«fragte einer von Ihnen.»Hier ist im Moment nichts zu sehen.«

«Ist denn das Schild unten weg?«fragte der andere.

«Ich bin dienstlich hier. Im Krankenhaus wurde angerufen. Ich weiß nicht, was los ist.«

«Wird sich einer an den Mistkisten den Daumen gequetscht haben«, sagte der eine fröhlich.

«Hoffentlich nicht was anderes«, lachte der andere. Er winkte den Seitenflur entlang.»Freie Fahrt, Schwester. Und nehmen Sie ihn vorsichtig in die Hand…«

Laut lachend verschwanden sie in einem Zimmer. Jana zögerte einen Moment, dann preßte sie die Lippen zusammen und ging weiter. Vor einer breiten Tür, über der die Nummer siebenundzwanzig stand, blieb sie stehen. Hinter der Tür erklang laut das Stakkato des Hämmerns und vielfaches Stimmengewirr. Sie nahm allen Mut zusammen, drückte die Tür auf und betrat einen großen, leeren Saal.

Auf dem Parkettboden war eine der Wandtafeln des Bernsteinzimmers zusammengelegt worden, zwei Männer in Offiziersuniform studierten einen Bernsteinengel, den einer von ihnen in beiden Händen hielt, drei Männer an der hinteren, kahlen Wand schlugen Haken in die Mauer, ein vierter, mit einem Plan in der Hand, zeichnete mit einem dicken Stift neue Bohrlöcher an.

Und vor der auf dem Boden liegenden Wandtafel kniete Michael Wachter und untersuchte mit einer großen runden Handlupe das Mosaik aus geschliffenem, funkelndem Bernstein.

Der erste, der Jana Petrowna bemerkte, war Dr. Runnefeldt. Er blickte von dem Bernsteinengel hoch und sah sie an. Verblüffung lag in seinem Blick. Dr. Findling bemerkte es und drehte sich um. Auch ihm sah man das Erstaunen an.

«Sie haben sich verlaufen, Schwester«, sagte Dr. Runnefeldt höflich.

«Ich weiß nicht. Jemand hat im Krankenhaus angerufen, hier soll es einen kleinen Unfall gegeben haben. «Ihre Geistesgegenwart war hervorragend. Sie sah dabei hinunter auf die Wandtafel, vor der Wachter kniete.

Ich bin da, Väterchen! Mach dir keine Sorgen mehr um mich. Gut geht es mir. Schon bei den ersten Worten hatte es Wachter durchzuckt, er wollte herumfahren, aufspringen, aber dann siegte der Verstand, er blieb auf den Knien und schob nur seine Schultern hoch. Jana, das ist Janaschka… ihre Stimme ist es, keine zweite hat eine solche Stimme, eine solche Betonung der deutschen Sprache. Sie ist es, sie ist es… Jana ist nach Königsberg gekommen.

Langsam, was ihm viel Mühe und Selbstbeherrschung kostete, drehte auch er sich um, und als er Jana anblickte, mußte er sich zusammenreißen, um nicht die Arme auszubreiten.

Mein Töchterchen, dachte er. O Gott, mein Töchterchen. Wir sind wieder zusammen! Wie geht es dir? Wo bist du untergeschlüpft? Woher weißt du, daß ich im Schloß bin?

Er erhob sich von den Knien, klopfte den Staub von seinen Hosenbeinen und legte beide Hände flach auf sein Herz.

Töchterchen, ich grüße dich.

Dr. Runnefeldt hatte unterdessen den Kopf geschüttelt.»Ein Unfall? Hier bei uns? Nicht daß ich wüßte. Haben Sie eine Ahnung davon, Dr. Findling?«

«Nein. Hier ist keiner verletzt. Vielleicht unten bei den Wagen?«

«Das wüßten wir. «Dr. Runnefeldt kam einen Schritt auf Jana zu. Bedauern lag in seiner Stimme.»Es kann sich nur um einen dummen, aber gemeinen Scherz handeln, Schwester. «Erstaunen stieg plötzlich in seine Augen. Mit schräg gelegtem Kopf musterte er Jana genauer.»Kennen wir uns nicht?«»Nein. Bestimmt nicht.«

«Wir sind uns noch nicht begegnet? Ich habe mich bisher noch nie geirrt. Und ein gutes Personengedächtnis habe ich. Irgendwoher kenne ich Sie…«

«Vielleicht von der Front? Ich habe im Hauptverbandsplatz gearbeitet. Vor Leningrad. «Sie sagte es so sicher und bestimmt, daß keine Zweifel aufkommen konnten.»Waren Sie an der Front?«

«Nein. Zum ersten Mal irre ich mich. Verzeihen Sie, Schwester. Mein Name ist Runnefeldt.«

«Findling — «schloß sich Dr. Findling mit einer kleinen Verbeugung an.»Wie gesagt: Hier gibt es keinen Unfall.«

«Dann ist es wirklich ein übler Scherz. «Sie warf noch einen schnellen Blick auf Wachter und drückte ihre Einsatztasche an sich.»Wie komme ich jetzt wieder hinaus? In diesem Schloß kann man sich ja verlaufen.«

«Kein Problem, Schwester. «Wachter trat vor und sah mehr Dr. Runnefeldt als Jana an.»Ich werde Ihnen den Weg zeigen. Kommen Sie mit.«

«Danke. Verzeihen Sie mein Eindringen, aber ich kann ja nichts dafür. «Sie drehte sich um und ging aus dem Saal, Wachter nach, der ihr vorauslief. Auf dem Flur waren sie allein. Mit schnellem Griff faßte Wachter ihre Hand, zog sie in ein Zimmer mit Bildern von Liebermann und ModersohnBecker und riß sie mit einem Aufschluchzen in seine Arme.»Töchterchen…«stammelte er.»O mein Töchterchen. Nun sind alle Sorgen fort. Wo lebst du? Wo hast du dich versteckt? Hast du Hunger? Brauchst du Geld? Eine neue Tracht hast du ja an. Wo hast du sie gestohlen? O Töchterchen, wie glücklich bin ich…«

Eine Weile standen sie so engumschlungen im LiebermannZimmer, sprachen nach den ersten gestammelten Worten keinen Ton mehr, sondern gaben sich ganz dem Glück des Wiedersehens hin. Nur ein paar Tage waren sie getrennt gewesen, aber für Michael Wachter war es in Puschkin ein Abschied geworden, eine unbekannte Zukunft lag vor ihm, die kein Wiedersehen einschloß. Nun lagen seine Arme um Jana Petrowna, hier war sie, in Königsberg, im Schloß, so etwas wie ein Wunder war's, das über einen hereinbricht und einen stumm werden läßt.

Erst als Wachter wieder durchatmen konnte, ließ er Jana los, und sie konnte sagen:

«Väterchen, eine gute Stelle habe ich. Hier, im Städtischen Krankenhaus. Bin die Sekretärin der Oberschwester. Eine ehrenhafte Stelle. Habe ein eigenes Zimmer, bekomme ein Gehalt und freies Essen, werde von der Oberschwester Frieda beschützt wie eine Ikonensammlung, lerne Schreibmaschine, kann mich überall frei bewegen, kann in ein Kino gehen, ins Theater, in ein Cafe, ein Restaurant- wie ein normaler deutscher Bürger lebe ich… und ich trage eine Uniform, die mich vor allen Kontrollen schützt. Eine eigene Uniform, Väterchen, keine gestohlene wie die erste, und einen Ausweis habe ich, eine Kennkarte, Lebensmittelkarten, Tabakkarten, Sonderzuteilungen — «sie breitete die Arme aus und drehte sich um sich selbst —»ich bin ein vollgültiger Mensch! Und du, Väterchen?«»Der Gauleiter und der Museumsdirektor Dr. Findling haben mich für das Bernsteinzimmer angestellt. Ich bewache und betreue es weiter.«

«Dann hat sich ja nichts geändert!«

«Nur der Ort, Töchterchen. Der Ort… und das ist eine Änderung, die uns noch viel zu schaffen machen wird. Wer weiß, wie der Krieg ausgeht?! Alle hier reden vom Sieg der Deutschen…«»Du bist doch ein Deutscher, Väterchen.«

«Ja, das bin ich. Ein Preuße bin ich, wie meine Ahnen… aber ich bin nicht ein Deutscher wie die vielen heute, die sich Deutsche nennen. Die Endsiegglauber, die Heilrufer, die Hitlerhörigen, die Übermenschen, vor denen alle anderen nur Untermenschen sind, vor allem ihr, die Slawen, die Völker des Ostens. Was ich in den letzten Tagen alles gehört habe. Töchterchen, man müßte sich schämen, ein Deutscher zu sein und zu ihnen zu gehören.«

Einen Augenblick dachte Jana an Julius Paschke und schüttelte den Kopf.

«Auch andere gibt es, Väterchen. Vielleicht viele andere. Wir kennen noch zu wenig.«

«Aber fast alle glauben an den Sieg. An die Vernichtung Rußlands. Vor Moskau stehen sie, vor Leningrad, die Krim haben sie erobert, marschieren durch den Kaukasus…«

«Und der Winter wird kommen… den kennen sie noch nicht. Und der Ural liegt vor ihnen, dann das unendliche Sibirien, der Amur, der Ussuri, Chinas Grenze, Kamtschatka, die Gebiete um Wladiwostok und am Pazifik… niemand, auch die Deutschen nicht, kann Rußland erobern. Unser weites Land ist unser ewiges Leben.«

«Wie klug du redest, Töchterchen. Lassen wir uns überraschen vom General Winter.«

Noch viel, o wieviel hatten sie miteinander zu reden, aber es würde verdächtig werden, wenn Wachter nicht bald in das Bernsteinzimmer zurückkam. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt, spähte in den Flur und zog dann Jana Petrowna aus dem Liebermann-Zimmer. Er brachte sie bis zur Treppe, nickte ihr zu, wartete, bis se die Stufen hinabsprang, und kehrte dann ins Bernsteinzimmer zurück.

Dr. Findling, Dr. Runnefeldt und Dr. Wollters hatten ihn nicht vermißt. Sie standen diskutierend vor der großen, auf dem Boden liegenden zusammengesetzten Wandtafel und verglichen sie mit Fotos aus alten Museumskatalogen des Katharinen-Palastes. Dr. Findlings Gesicht war von einer großen Betroffenheit gezeichnet.

«Wenn alle Tafeln so sind wie diese«- sagte er gerade —»na, dann Prost. Es fehlen der nach oben abschließende Wandfries, de Ornamentverzierungen — zwischen dem Wandfries und dem Deckengemälde, das ja in Puschkin geblieben ist, und eine ganze Menge der Mosaiksteinchen der Tafel. Mir ist das rätselhaft. Das war doch alles noch vorhanden, als Sie das Zimmer ausbauten, meine Herren! Oder nicht?«

«Ich hab's nicht in der Tasche!«antwortete Dr. Wollters beleidigt.»Wir haben das ausgebaut, was vorhanden war.«

«Der über ein Meter hohe Wandfries war da! Das Bernsteinzimmer stand komplett im Saal. «Dr. Runnefeldt ging einmal um die ajsgelegte Tafel herum.»Nichts fehlte! Das kann ich beschwören! Das wäre uns doch aufgefallen… rundum eine kahle Wand von einem Meter Höhe! Und die Ornamente zwischen Fries und Deckengemälde hätten ja auch Lücken hinterlassen, wenn sie nicht mehr dagewesen wären! Nein, das Zimmer war bis auf kleine Schäden unversehrt.«»Fragen wir Wachter. Wenn einer etwas weiß, dann er…«

Bei dieser Lage der Dinge war Wachter zurückgekommen und hatte die letzten Worte noch gehört.

«Sie haben gehaust wie die Hunnen«, sagte er laut.

«Wer?«Dr. Findling fuhr herum, er hatte Wachter nicht zurückkommen gehört.

«Die Soldaten…«

«Da haben wir es. Diese sowjetische Soldateska…«Dr. Wollters ballte die Fäuste.»Nichts ist ihr heilig…«

«Es waren deutsche Soldaten, Herr Rittmeister«, sagte Wachter.

Jetzt fuhr Dr. Wollters herum, als habe ihn der Museumsdirektor in die Kniekehlen getreten.»Eine Unverschämtheit ist das!«schrie er mit hochrotem Gesicht.»Mann, was Sie da behaupten, ist Wehrkraftzersetzung! Darauf steht die Todesstrafe, wenn ich das melde. Wenn ich das melde! Der deutsche Soldat ist ein Kulturträger, begreifen Sie das?!«»Schwer — «

«Sie… Sie Volksverräter!«Dr. Wollters japste nach Luft.»Sie bezichtigen unsere tapfer kämpfende Truppe des Vandalismus?! Ich… ich finde keine Worte mehr!«

«Eine Anzeige wäre sehr interessant. «Wachter übersah, daß ihm sowohl Dr. Findling wie auch Dr. Runnefeldt warnend zublinzelten. Maul halten, Wachter! Um Himmels willen, seien Sie doch still! Sie wissen ja gar nicht, was Sie da anrichten! Wenn Wollters wild wird, können wir Ihnen nicht mehr helfen. Keiner kann das dann mehr… selbst Gauleiter Koch nicht.»Wäre sie das?«bellte Wollters.»Das Vergnügen können Sie haben!«

«Ich kann einen Zeugen vorweisen, Herr Rittmeister, dem wird man glauben: General von Kortte. Er hat es selbst gesehen, wie die Soldaten im Bernsteinzimmer gehaust haben. Mit ver-dreckten Stiefeln, voller Lehmklumpen, lagen sie auf den wertvollen Polstermöbeln, mit Seitengewehren haben sie Mosaike und ganze Schnitzereien aus den Wänden gebrochen, zur Erinnerung und um die Andenken an ihre Frauen zu schicken, mit ihren Nagelstiefeln haben sie das unersetzliche Intarsienparkett zertreten. Ich wollte sie von der Zerstörung abhal-ten…was haben sie getan? Mich niedergeschlagen haben sie, fast getötet, eine Horde von…«

«Jetzt reicht's!«brüllte Wollters außer sich.»Bezeichnet unsere heldenhaften Soldaten als marode Horde… Meine Herren, Sie haben es gehört! Sie sind meine Zeugen!«

«Wir können bezeugen, daß Herr Wachter, als wir in Puschkin ankamen, noch einen Kopfverband trug, und daß wir von Herrn General von Kortte erfahren haben, daß er das Bernsteinzimmer sofort nach diesem Vorfall räumen ließ und die Truppe andere Quartiere erhielt. «Dr. Runnefeldt hob die Schultern.»Leider ist das alles wahr, lieber Kollege… und Sie wissen es auch. Sie waren ja immer dabei. Unsere Soldaten haben das Bernsteinzimmer wie einen Steinbruch benutzt.«»Nun übertreiben Sie nicht, Runnefeldt!«Dr. Wollters ging ein paarmal um die zusammengesetzte Wandtafel auf dem Boden herum.»Ich habe kaum etwas bemerkt.«

«Ich um so mehr. «Wachter ließ sich durch nichts mehr einschüchtern. Er war im Recht, und er hatte zeit seines Lebens untadelig gelebt und war ein aufrechter Mann.»Ich war ja dabei, wollte es verhindern und wurde dafür fast ermordet.«»Unsere Landser haben doch nicht den ganzen Wandfries geklaut.«

«Nein.«

«Und um den geht es jetzt, nicht um ein paar herausgebrochene Steinchen. Der Wandfries war unbeschädigt. Stimmt das?«

«Ja.«

«Also, dann halten Sie den Mund, Wachter, und spielen Sie nicht kleine Einzelverfehlungen zu einer Diffamierung deutscher Soldaten hoch! Das klingt ja so, als ob unsere gesamte Wehrmacht nur aus Kunsträubern bestünde!«

«Nein… das sind nur einzelne, Herr Rittmeister. Nur eine kleine Gruppe…«

«Na also! Wer wird aus einem Furz schon einen Elefanten machen? Vergessen wir Ihr Gejammer…«

Daß er mit festem Schritt in eine Falle marschiert war, bemerkte Wollters nicht. Dr. Findling und Dr. Runnefeldt begriffen sofort den Doppelsinn der Worte und fühlten sich unmittelbar angesprochen. Mit betroffenem Blick sahen sie Michael Wachter an, und Runnefeldt atmete erlöst auf, als er feststellte, daß der Rittmeister den Tiefschlag gar nicht bemerkt hatte.

«Lassen wir dieses Thema doch fallen, meine Herren«, schlug Runnefeldt vor.»Wir müssen uns mit dem abgeben und begnügen, was wir als Bernsteinzimmer aus Puschkin bekommen haben. Außerdem sind ja noch nicht alle Kisten ausgepackt.«

«Es ist trotzdem eine Sauerei!«schrie Dr. Wollters in hellster Empörung.

«Auf dem Transport ist nichts verlorengegangen, das können wir alle bezeugen. Wenn von dem Bernsteinzimmer etwas fehlt, muß es in Puschkin zurückgeblieben sein. Wie ist das möglich? Wo stehen diese Kisten jetzt? Oder deutlicher: Wer hat sie in diesen Tagen geklaut?«

«Wenn hier Kisten verschwunden sind, werden wir das nie erfahren, Herr Kollege. «Dr. Runnefeldt setzte sich auf den Rand einer an der Wand stehenden, aufgestemmten Kiste.

«Wir können nur registrieren, was fehlt. Und nach dem Endsieg werden wir dann anhand der Fotos alles Fehlende wieder ergänzen und restaurieren. Wir verfügen über enorme Künstler der Bernsteinschnitzerei. Das wäre also kein Problem… was mich bis zur Galle ärgert, ist die lautlose Raffinesse, mit der man uns aufs Kreuz gelegt hat!«

«Das waren keine einfachen Landser«, sagte Wachter ganz ruhig.»Sie verfügen gar nicht über Möglichkeiten, so etwas verschwinden zu lassen.«

«Etwas ganz Wichtiges ist anscheinend vergessen worden, meine Herren«, warf Dr. Findling ein.»Von den drei wertvollen, unersetzlichen, geschnitzten und mit Blattgold belegten Türen des Bernsteinzimmers fehlen zwei! Nur eine ist mitgekommen. Warum?«

«Scheiße!«Dr. Wollters ballte die Fäuste.»Wenn man nicht selbst jede Schraube überwacht — «

«Zwei riesige Türen kann man nicht übersehen«, stellte der Museumsdirektor maliziös fest.»Beim Auspacken der einzelnen Teile habe ich das gleich bemerkt. Wir müssen sofort in Puschkin anrufen.«

«Das wird kaum über eine Privatleitung gelingen. «Dr. Runnefeldt schüttelte den Kopf.»Puschkin ist Frontgebiet, ist sogar nach dem Führerbefehl der Belagerung von Leningrad die vordere Hauptkampflinie. Da gibt es nur militärische Sprechverbindungen. Wenn es überhaupt möglich ist, in dieses Telefonnetz hineinzukommen, dann müßten wir mit dem Nachschubführer der 18. Armee sprechen. Der ist jetzt der einzige, der die zwei Türen — und vielleicht die Wandfriese, falls noch vorhanden — auf den Weg nach Königsberg bringen kann.«

«Dann versuchen Sie das, meine Herren!«Dr. Findling machte eine weite Handbewegung durch den noch leeren Saal.»Sollen wir in Zukunft alle Lücken mit ausstellen?«

«Der Gauleiter muß helfen«, sagte Dr. Runnefeldt gepreßt.

«Ja, der Gauleiter. «Wachter nickte hoffnungsvoll.»Jetzt kann er zeigen, ob er wirklich so mächtig ist, wie man sagt.«»Ist denn keiner hier, der diesen Kerl zur Ordnung ruft?«schrie Wollters empört.»Jetzt kritisiert er auch noch den Gauleiter! Mann, das alles ist nur Ihre Schuld! Sie hatten den Auftrag, das Bernsteinzimmer zu überwachen, seit 225 Jahren, wie Sie immer betonen! Sie hätten das Fehlen bemerken müssen! Wozu sind Sie sonst da?!«

Wie immer, wenn sich hohe Herren in die Enge getrieben fühlen, schuld haben immer die Untergebenen. Auf eine elegante und fast immer sichere Art schieben sie den anderen, den Wehrlosen, die Schuld zu. Was die Beschuldigten auch beteuern, es hat kein Gewicht. Bevor der eigene Kopf rollt, müssen erst andere den ihrigen hinhalten. Das Opferlamm wird nie aussterben. Aber Michael Wachter war kein solches Opfertier. Mit einem Satz brachte er den Rittmeister von seinem hohen Roß herunter.

«Wie konnte ich das?«sagte Wachter ohne Erregung und hob dabei bedauernd die Schultern.»Sie haben mich während des Abbaus genau zehnmal aus dem Bernsteinzimmer hinausgeworfen, Herr Rittmeister. Ich konnte meiner Aufgabe ja gar nicht mehr nachgehen — «

«Aha!«bemerkte Dr. Findling nur. Mehr nicht, aber es genügte, um Wollters erneut explodieren zu lassen. Er streckte den Körper, richtete sich auf den Stiefelspitzen auf und schleuderte einen vernichtenden Blick auf Dr. Findling.

«Ihre Anmerkung war völlig überflüssig!«brüllte er.»Ich übernehme die Verantwortung für alles, was in Puschkin geschehen ist! Genügt das?!«

«Im Prinzip ja. «Dr. Findling schüttelte den Kopf, was eigentlich dem Ja widersprach, es sogar, genaugenommen, aufhob.»Aber davon habe ich noch nicht meine Türen und die Wandfriese wieder…«

Unterdessen war es auf der Treppe zu einer verhängnisvollen Begegnung gekommen: die herabsteigende Jana Petrowna stieß auf den hinaufeilenden Gauleiter Koch. Sie kannte ihn nicht, aber die goldbetreßte Uniform und die Personenbeschreibung, die man ihr von Koch gegeben hatte, paßten genau: mittelgroßer Mann, stämmig, Augen, die alles abschätzend musterten mit einem kalten Blick, über der Oberlippe ein kurzgehaltener, kleiner Schnurrbart, eine Nase mit breiten Nasenflügeln, eine Uniform, die vor allem dadurch auffiel, daß sie besonders breite, ausladende Breeches besaß, die an den Oberschenkeln wie Flügel aussahen, eine überdimensionale Reithose also, die der kleinen Gestalt mehr Gewicht verlieh. Er muß es sein, dachte Jana Petrowna blitzartig. Kein anderer könnte dieser Beschreibung so entsprechen.

Wie alle körperlich etwas zu kurz Geratenen war auch Koch immer und überall bestrebt, dieses Manko durch Machtfülle, Forschheit, einen barschen Befehlston und eine unerträgliche Rechthaberei auszugleichen.

Gauleiter Erich Koch verlor und kapitulierte nie. Seine entsetzlichen, gnadenlosen, vernichtenden Mittel heiligten sein übersteigertes Selbstbewußtsein und schmeichelten seinem schon paranoischen Drang, immer der Größte, der Unangreifbare, der Rechthabende zu sein. In seiner Nähe fror man nicht… man hatte einfach nackte Angst — und das war für Koch der Gipfel seines Lebens.

Jana und Koch blieben ruckartig auf den Treppenstufen stehen und sahen sich an. Der Gauleiter, zu allem Überfluß noch zwei Stufen tiefer als Jana und damit zusätzlich benachteiligt, denn es ist immer besser, auf etwas hinabzusehen als hinaufzublicken, glich diese Situation auf gewohnte Art aus.

«Ja, wer ist denn das?!«rief Koch. Ehrliche Begeisterung lag in seiner Stimme. Mit unverschämten Blicken musterte er Jana Petrowna, als stünde sie nackt vor ihm, tastete hren Körper ab, von den schlanken Beinen bis zu den schwarzen Locken, glitten dann zurück zu ihren Brüsten, die auch in der Schwesterntracht auffielen, und blieben an ihnen hängen.»Welch ein wunderschönes Schwesterchen kommt da ins Schloß! Wer ist hier krank? Wer braucht Ihre Hilfe? Was den Patienten auch quält… jetzt muß er eine neue Krankheit bekommen haben: Blutsausen und Herzklopfen!«

«Es war ein Fehlalarm, Herr Gauleiter. Niemand ist hier krank.«»Sie kennen mich?«fragte Koch kokett, obwohl er sicher war, daß ihn in Ostpreußen jeder kannte. Das könnten andere Gauleiter nicht vorweisen, weder Mutschmann von Sachsen, weder Grohe von Köln-Aachen, noch Wagner von WestfalenSüd. Sie waren bekannt, aber die zweifelhafte Popularität von Koch erreichten sie nie.

«Wer kennt Sie nicht, Herr Gauleiter?«antwortete Jana Petrowna. Sie kam nicht näher, blieb auf ihrer Treppenstufe stehen und blickte auf Koch hinunter. Aber auch der stieg die beiden Stufen nicht hinauf… die jetzige Perspektive war ihm äußerst angenehm.

«Auch wenn es, wie Sie sagen, ein Fehlalarm war, er hat etwas Gutes: Ich bin Ihnen begegnet. Sonst wäre das vielleicht nie geschehen… und das wäre ein Verlust gewesen. Wie heißen Sie, Schwesterchen?«

«Jana Rogowskij, Herr Gauleiter.«

«Das klingt ganz ostpreußisch.«

«Ich wurde in Lyck geboren.«

«Das ist doch in Masuren?«

«Ja, Herr Gauleiter.«

«Jana — ein masurisches Mädchen zu sein war immer eine Verpflichtung und ein Versprechen…«

«Wie soll ich das verstehen, Herr Gauleiter?«

«Ein masurisches Mädchen ist heißblütig, unersättlich in der Liebe, Himmel und Hölle in einer Person. Bist du heißblütig, Jana?«

Wie selbstverständlich duzte er sie sofort nach den ersten konventionellen Sätzen, und wieder tastete er ihren Körper langsam mit seinen unverschämten Blicken ab. Dabei lächelte er… ermunternd sollte das sein, aber Jana war nur um so mehr auf der Hut. Was sollte sie antworten? Wie würden andere Frauen darauf reagieren? Nur lächeln — das war eine Aufforderung. Den Kopf schütteln — das würde ihn nur zu neuen Fragen solcher Art provozieren. Bei jedem anderen Mann wäre es einfach gewesen, ihn ohne Antwort stehen zu lassen und wegzugehen… konnte man das aber mit einem Gauleiter tun? Mit einem Tyrannen wie Erich Koch? Sie entschloß sich, auszuweichen.

«Ich weiß es nicht, Herr Gauleiter«, sagte sie und spielte perfekt die Verschämte. Koch gefiel diese Geziertheit ungemein. Sein tastender Blick wurde fordernd, Jana spürte ihn auf ihrem Körper, als seien es Hände, die über ihre Haut strichen.

«Es hat dir noch keiner gesagt?«

«Nein — «

«Wir sollten diese >Volksmeinung< einmal überprüfen. Heißblütigkeit ist nur feststellbar, wenn man sie herausfordert. Enttäusche nicht Masuren, Jana. Wann hast du deinen freien Tag?«»Den bestimmt Oberschwester Wilhelm i.«

«Irrtum! Den bestimme jetzt ich!« Koch stieg nun doch die beiden Stufen hinauf, und als er neben Jana stand, war er ein paar Zentimeter kleiner als sie. Das war er gewöhnt — die meisten Frauen, die sein Bett kannten, waren größer als er gewesen. Aber welche Bedeutung hatte das? In den Kissen war er der Größte.

Er versuchte, Janas Taille zu umschlingen, aber sie wich auf der Treppe zurück, eine stumme Abwehr, die Koch sonst kaum erlebt hatte. Die meisten Frauen, die er» erobert «hatte, sahen das als eine Ehre an, so wie die Männer ihre Brust wölbten, wenn man ihnen einen Orden verlieh.

«Was ist denn?«fragte Koch etwas verwirrt und mit einem bösen Unterton in der Stimme. Janas Augen flimmerten, er konnte sich erklären, warum.

«Mich hat noch kein Mann angefaßt, Herr Gauleiter«, sagte sie fast kläglich.

«Das darf doch nicht wahr sein! Hast du bisher nur unter Blinden gelebt?«

«Alle haben auf mich aufgepaßt. Zu Hause der Vater und der älteste Bruder, im Schwesternheim die Leiterin, im Krankenhaus die Oberschwestern.«

«So etwas gibt es wirklich noch?«Koch kam näher, streckte die Arme aus, spreizte die Finger und preßte sie plötzlich an Janas Brüste. Sie erstarrte, ballte die Fäuste und hatte großes Verlangen, Koch einen kräftigen Schlag auf die breite Nase zu geben. Das aber — sie erkannte es klar — würde ihr Ende bedeuten. Verbannung aus Königsberg, Schwester in einem Arbeitslager der Ostarbeiter, vor allem aber würde man entdecken, wer sie wirklich war. Und das bedeutete Einweisung in ein KZ, oder sie würde sofort zum Tode verurteilt werden. Koch hatte die Macht dazu. Kein» unabhängiger «Richter würde es wagen, einen Wink des Gauleiters Koch zu übersehen. Auch Richter sind zu ersetzen…

«Du bekommst am Mittwoch deinen freien Tag!«sagte Koch und drückte Janas Brüste. Die Gier in seinen Augen nach dieser Berührung war unerträglich.»Und dann feiern wir ein masurisches Liebesfest.«

«Ich… ich weiß es nicht.«

«Aber ich weiß es, und das genügt. Mittwochabend, Jana. Ich lasse dich abholen. Wir werden in ein wunderschönes kleines Jagdschloß fahren… es wird dir gefallen.«

«Wenn die Oberschwester mir freigibt.«

«Daran ist nicht zu zweifeln. Wie heißt der Drachen?«

«Frieda Wilhelmi. Städtisches Krankenhaus.«

«Also dann bis Mittwoch, Jana.«

«Ja, Herr Gauleiter.«

Koch tätschelte ihr über die Wange, und als sie die Treppe hinunterging, blickte er ihr noch lange nach, gefangen vom Anblick ihrer schwingenden Hüfte, der wilde Phantasien in ihm wachrief. Ist das ein Weib, dachte er. Verdammt, das ist ein Weib!

In blendender Laune betrat er den Saal Nummer 37, gerade als Dr. Wollters wütend ausrief:

«Es muß sofort eine Verbindung nach Puschkin geschaffen werden! Wenn der Einsatzstab des Sonderkommandos Rosenberg mittlerweile dort war, können wir die fehlenden Dinge abschreiben.«

«Was ist mit Rosenberg?«fragte Koch. Seine scharfe Stimme ließ die Wissenschaftler herumfahren wie ertappte Diebe. Kochs gute Laune war wie weggewischt — der Name Rosenberg genügte, ihm gründlich den Tag zu verderben.

«Herr Gauleiter… es fehlen einige Dinge vom Bernsteinzimmer. «Dr. Findling zeigte auf die am Boden zusammengesetzte Bernsteinwandtafel.»Der obere Fries, die Ornamente zum Anschluß an die Deckenmalerei und zwei der drei Zimmertüren. Sie wurden offensichtlich vergessen, einzuladen.«

«Eine Sauerei!«schrie Koch und stampfte mit dem rechten Fuß auf. Er hatte das bei Hitler gesehen und festgestellt, daß solch ein Stampfen großen Eindruck hinterließ.»Vergessen! Wie kann man das vergessen?! Wer ist dafür verantwortlich?«Dr. Wollters schluckte, sah Wachter an, aber der schwieg und berichtete nichts von seinem zehnfachen Hinauswurf. Tapfer blickte der Rittmeister dann Koch in die wütenden Augen.

«Ich nehme die Verantwortung auf mich, Herr Gauleiter. Herr Dr. Runnefeldt hat den Ausbau des Bernsteinzimmers geleitet, ich die Verpackung und die Verladung. Das mit den Friesen ist mir ein Rätsel… die beiden Türen haben wir glatt vergessen.«»Und jetzt war Rosenberg im Katharinen-Palast, sagen Sie?«»Ja. Leiter der Aktion ist Major Heinrich Müller-Gießen. Zweimal waren wir schneller als er… aber was wir zurückgelassen haben, dürfte jetzt weg sein. Verschwunden. Hoffnung habe ich nur für die Türen. Herr Gauleiter, machen Sie es möglich, bitte, eine schnelle Verbindung nach Puschkin in den Palast zu schaffen. Wenigstens die Türen können wir noch retten…«»Und wenn sie nicht mehr da sind, weiß ich, wer sie hat! Auch den Deckenfries…«

«Das wird nicht nachzuweisen sein«, sagte Wollters vorsichtig.»Im Schloß ist genug zurückgeblieben, was sich für Rosenberg lohnt. Der Chinesische Saal, die Räume von Katharina der Großen, viele Gemälde… und wenn das Einsatzkommando Rosenberg erst einmal verpackt, fragt keiner danach, ob darunter auch die von uns vergessenen Kisten sind! Den Ausbau der Türen aber wird man sehen. Die 18. Armee muß davon unterrichtet werden. Auch General Jobs von Haldenberge, Befehlshaber des 50. Armeekorps. Er wohnt mit seinem Stab im Schloß.«

«Versuchen wir es. «Koch blickte auf die Wandtafel am Boden.»Welch ein Kinstwerk!«sagte er leise. Die Herren um ihn herum waren sprachlos: Koch zeigte Gefühle, konnte von einem Kunstwerk ergriffen sein. Wie paßte das zusammen? Runnefeldt zog eine Parallele: Hunderttausende Juden ließ Hitler umbringen, aber seinen Schäferhund Blondie liebte er abgöttisch und hätte geweint, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Wir werden den Menschen nie begreifen und ergründen lernen.

«Vor soviel Schönheit stockt einem der Atem…«fügte Koch mit leiser Stimme hinzu.»Deutsche Bernsteinmeister… vor über 230 Jahren… und so etwas Einmaliges soll in Rußland bleiben? Der Führer wird mir ewig dankbar sein, daß ich diesen Schatz nach Königsberg gerettet habe.«

Runnefeldt und auch Wachter vermieden es klug, Koch daran zu erinnern, daß es der Zarin Elisabeths Hofarchitekt war, der Graf Bartolomeo Francesco Rastrelli, der das Bernsteinzimmer nach dem Tode Peters des Großen mit neuen, nach eigenen Entwürfen hergestellten Bernsteinschnitzereien weiter vervollkommnet hatte, wozu auch der Wandfries gehörte… eine Sinfonie der Schönheit, eine blendende Pracht, die das Bernsteinzimmer, wirklich unnachahmbar machte. Dieser Bernsteinhymnus war das Werk des Italieners Rastrelli, nicht ostpreußischer Handwerksmeister. Aber wer wagte es schon, Gauleiter Koch zu berichtigen?

«Wenn nicht Bormann das Zimmer nach dem Krieg ins neue Museum von Linz bringen läßt. Führervorbehalt!«Dr. Runnefeldt riß damit Koch aus seinen Gedanken.»Und welche Kunstwerke unter Führervorbehalt fallen, das wird später allein Bormann bestimmen. Das wissen Sie, Gauleiter.«

«Um dieses Zimmer werde ich kämpfen! Es bleibt hier im Königsberger Schloß!«Kochs Stimme klang entschlossen.»Kämpfen, meine Herren!«

«Auch gegen Bormann?«

«Auch gegen ihn! Bormann ist nicht unverwundbar. Auch Siegfried hatte eine kleine Stelle zwischen den Schultern, wo Hagen ihn vernichten konnte. «Koch zeigte mit der geballten Faust auf die vor ihm liegende Wandtafel.»Für dieses Kunstwerk könnte ich zum Hagen werden!«

Die Herren nickten stumm, aber ohne Bewunderung. Sie alle wußten, daß Koch Angst hatte vor Bormann, daß sie sich haßten und daß nach dem Krieg ein Machtkampf ohne Beispiel beginnen würde, nicht einmal vergleichbar mit den mörderischen Intrigen der Renaissancefürsten, der Päpste und Kardinale.

«Ich werde versuchen, nach Puschkin oder zur 18. Armee durchzukommen. Ich kenne Generaloberst von Küchler gut.«»Das wäre ein großer Erfolg, Gauleiter. «Rittmeister Wollters glänzte über das ganze Gesicht.»Ich muß ohnehin nächste Woche nach Riga zurück und könnte nach Puschkin fahren und den Ausbau der Türen überwachen.«

«Das ist ein guter Vorschlag. «Koch war milder gestimmt und» ah Wollters an.»Sie haben ja einiges gutzumachen, nicht wahr?«

«Jawohl, Gauleiter.«

«Also los! Rufen wir von Küchler oder von Haldenberge im Katharinen-Palast an.«

Koch grüßte knapp mit dem Hitlergruß, drehte sich forsch auf den Absätzen um und verließ den Saal Nummer 37. Die Herren, mit Ausnahme von Wachter, hoben ebenfalls den rechten Arm und ließen ihn oben, bis Koch das Zimmer verlassen hatte.

Oberschwester Frieda wartete in ihrem Zimmer auf Jana Petrowna, wie eine besorgte Mutter auf ihre zum erstenmal allein ausgehende Tochter wartet. Man sah, wie sie aufatmete, als Jana ins Zimmer kam.

«Wie war es?«fragte sie.»Warst du im Schloßmuseum? Was hast du gesehen?«

«Viel, Oberschwester. «Jana setzte sich, nahm ihr Häubchen ab und schüttelte ihre schwarzen Locken.»Aber es war ein falscher Entschluß.«

«Wieso?«Der Fleischturm beugte sich etwas vor.»Was gefällt dir nicht am Schloßmuseum?«

«Ich habe Gauleiter Koch kennengelernt. Am Mittwoch will er mit mir zu einem Jagdschlößchen fahren.«

«Dieses abscheuliche Schwein!«sagte Frieda und schnaufte laut durch die Nase.»Du bleibst hier!«

«Der Gauleiter will mit Ihnen sprechen…«

«Soll er!«Frieda Wilhelm! richtete sich zu voller Größe auf.»Alle haben sie Angst vor dem Schwein… ich nicht!«

«Er ist mächtiger als Sie, Oberschwester.«

«Ein Dummkopf ist er! Ein primitiver Affe!«Sie hob die Augenbrauen und musterte Jana Petrowna verärgert.»Oder willst du mit ihm ins Bett? Eine seiner vielen Huren werden? Nach zwei Wochen wirft er dich weg. Du wirst irgendwohin versetzt, nur damit du nicht mehr in seiner Nähe bist.«

«Und wenn ich mich weigere… auch. Oberschwester, ich habe Angst.«

Auf der Bettkante saß sie, die Hände ineinander verschlungen, ein Häufchen Hilflosigkeit. Es gab nur einen Ausweg: die Flucht. Wieder untertauchen in die Anonymität. Nur so war es möglich, in der Nähe von Väterchen Michail und dem Bernsteinzimmer zu bleiben.

«Warten wir es ab, Kindchen. «Frieda Wilhelmi war so schnell nicht zu schrecken, ebensowenig wie man sie nicht zähmen konnte, wenn ihr Zorn alle Dämme brach. Da half nur noch der Rückzug… die Ärzte, ohne Ausnahme, hatten sich darauf eingestellt.

«Sie ist unersetzbar«, hatte Chefarzt Dr. Pankratz einmal während einer Ärztebesprechung gesagt.»Ohne Frieda hätten wir hier ein Chaos… aber ein Drachen ist sie trotzdem!«

«Am Mittwoch?«sagte sie jetzt nachdenklich.»Da sind wir gar nicht im Haus. Da sitzen wir im Kino und sehen uns den Za-rah-Leander-Film an. Und jetzt, Kindchen, koch uns einen starken Kaffee… ich habe wieder ein Pfund organisiert.«

Am Mittwoch abend erschien jedoch nicht Koch selbst, um Jana abzuholen, sondern Gauamtsleiter Bruno Wellenschlag, der Vertraute für alles. Er hielt mit einem unauffälligen neutralen Wagen, einem Adler, vor dem Krankenhaus und wandte sich an den Pförtner. Da er nicht seine Uniform, sondern Zivilkleidung trug, war alles noch unauffälliger.

«Ich möchte Schwester Jana abholen«, sagte Bruno.

«Jana? Kenn ick nich. Welche Station?«Der Pförtner blickte auf sein Telefonverzeichnis.»Hier laufen so viel Schwestern rum…«

«Sie arbeitet bei der Oberschwester.«

«Bei Frieda? Mann, haben Sie nichts Leichteres anzubieten?!«Der Pförtner musterte den Besucher. Wellenschlag sah nicht übel aus… einundvierzig Jahre, vom Alkohol etwas aufgeschwemmt, ein rosiges Gesicht, listige Äuglein, volle Lippen, ein Genußmensch. Und diese Jana war bestimmt zwanzig Jahre jünger. Na ja, wo die Liebe hinfällt. Im Krieg gibt's nicht mehr viel Auswahl… waren ja alle an irgendwelchen Fronten, vom Eismeer bis nach Afrika.»Ich versuche, anzurufen. Und wenn ick Frieda an der Muschel habe, kriegen Sie das Telefon. Aber atmen Sie tief durch.«

Der Pförtner wählte die Nummer von Friedas Büro, wartete, lauschte, zuckte dann mit den Schultern und legte wieder auf.»Nichts, mein Herr.«

«Unmöglich. Schwester Jana weiß, daß sie abgeholt wird.«»Aber bei Frieda ist keener.«

«Vielleicht ist sie auf irgendeiner Station.«

«Um die Zeit nicht mehr. Jetzt sind die Nachtschwestern schon dran. «Der Pförtner grinste breit.»Soll vorkommen, daß 'n Mädchen einen versetzt…«

«In diesem Fall ist auch das vollkommen unmöglich«, sagte Wellenschlag etwas hochmütig.»Telefonieren Sie mal rum…«»Bitte, bitte… wenn Sie sich so sicher sind…«

«Das bin ich.«

Wellenschlag lächelte mokant. Wenn du wüßtest, alter Knabe, daß ich hier für den Gauleiter stehe, würdest du deinen Hintern ganz anders in Bewegung setzen. Los, hol mir schon die Jana heran!

Der Pförtner tat sein Möglichstes. Er läutete alle Stationen an, sogar die Arztzimmer — Junge, Junge, hat man da schon Dinge erlebt — und legte dann resignierend den Hörer wieder aus der Hand.

«Fehlanzeige. Weder Frieda noch eine Jana sind im Haus. Tut mir leid. Wird für Sie jetzt 'n langweiliger Abend werden, nicht wahr?«»Ich glaube kaum. «Bruno dachte an Koch und wappnete sich innerlich, das Toben des Gauleiters zu ertragen. Es war das erstemal, solange Wellenschlag bei Koch war, daß eine Frau ihm auswich. Koch war nur an ein Ja gewöhnt, nicht an ein Nein. Meine liebe Jana, wer du auch bist… das gibt Komplikationen. Das vergißt der Erich dir nie! Dir steht ein schweres Leben bevor.

«Da kann man nichts machen«, sagte Wellenschlag und hob die Schultern.»Weiber! Bis später…«

«Was heißt später?«

«Ich werde wiederkommen, das ist doch klar. Morgen, übermorgen, was weiß ich?! Gute Nacht.«

«Gute Nacht.«

Der Pförtner sah Wellenschlag nach, bis er hinter der Eingangstür verschwand. Gib's auf, Männeken, dachte er. Wenn Frieda diese Jana unter die Fittiche genommen hat, verdrück dich lieber. Es ist aussichtslos.

Es war seltsam und für Wellenschlag ein völlig neues Erlebnis, daß Erich Koch nicht wie ein angestochener Stier tobte. Er hörte sich ruhig an, was Bruno berichtete, sagte dann:»Es ist gut. Du kannst nach Hause gehen, Bruno«, und zog seine Anzugjacke wieder aus. Aber dann fügte Koch noch etwas hinzu, auch mit ruhiger Stimme, und jetzt begriff Wellenschlag, wie gefährlich er war:»Ich will alles über diese Jana wissen… besorge mir ihre Personalakte.«

Wellenschlag nickte und verließ die prunkvolle Gauleiter-Villa. Wäre ich ein Buchhalter, dachte er, könnte ich jetzt den Namen Jana als erledigt abhaken.

War es die Scheu, als Gauleiter selbst mit Oberschwester Frieda Wilhelmi zu sprechen und damit offiziell sein Interesse an Jana Petrowna zu bekunden — was eigentlich gar nicht zum Charakter von Koch paßte, dem völlig gleichgültig war, was die Menschen von ihm dachten, solange sie das taten, was er befahl —, oder dachte er sich einen anderen Trick aus, um das hübsche Schwesterchen wiederzusehen? Bei Wellenschlag sorgte Kochs Ruhe für Verwirrung und schweres Rätselraten.

Donnerstag, Freitag und Samstag gingen herum, ohne eine Aktion von Seiten Kochs. Auch die Telefonverbindung mit Puschkin klappte nicht… dreimal war unter großen Schwierigkeiten und vielen Umschaltungen der Stab des 50. Armeekorps erreicht worden, aber schon nach den ersten Worten brach die Verbindung wieder zusammen. Wie verhext war es, Dr. Wollters faselte sogar von so etwas wie Sabotage, man wüßte ja, wer da telefonisch durchkommen wollte, und die Rosenberg-Leute hintertrieben das sicherlich, bis sich Koch nach der dritten Unterbrechung sagen lassen mußte, die Funker seien allesamt keine Idioten, sondern an der Front von Leningrad regne es. Alles versank in Schlamm und Morast, selbst Telefonverbindungen zwischen Kompanie und Bataillon brachen zusammen, die Suchtrupps blieben im Schlamm stecken, alles mußte zu Fuß gemacht werden, mit Fahrzeugen war überhaupt nicht mehr durchzukommen. Mit anderen Worten: Nichts ging mehr auf der ganzen Linie!

«Dann schreiben wir einen Brief«, sagte Dr. Findling.»Vielleicht ist die Briefpost besser dran als das Telefon. So etwas Verrücktes gibt es.«

In der Stabsliste der 18. Armee, die Koch vorliegen hatte, fand man den Namen des verantwortlichen Mannes: Major Pietschmann, Nachschubführer der 18. Armee. An ihn schrieb Dr. Findling im Namen von Gauleiter Koch, man möge die noch vorhandenen zwei Türen des ehemaligen Bernsteinzimmers in Puschkin, Katharinen-Palast, vorsichtig und, mit Hilfe von Schreinern ausbauen lassen, gut mit Holzwolle und Pappverschalungen verpacken und dann an die Kunstsammlungen der Stadt Königsberg schicken. Um dem Wunsch den nötigen Nachdruck zu geben, fügte er noch hinzu:

«Diese Türen gehören zu einem Kunstwerk, das zu seinem Schutz vor Vernichtung auf Anordnung des Führers von uns ausgebaut und gerettet wurde. Ich habe dem Führer darüber Bericht zu erstatten. Herr Rittmeister Dr. Wollters, der die Aktion leitete, wird in den nächsten Tagen in Puschkin eintreffen, um die sachkundige Abwicklung des Türentransportes zu überwachen.«»Das ist gut formuliert!«lobte Dr. Wollters den Brief, nachdem Findling ihn vorgelesen hatte.»Anordnung des Führers… da kann keiner dran vorbei!«

«Und es ist zudem auch noch die Wahrheit.«

«Ich werde morgen schon aufbrechen.«

«So schnell, Dr. Wollters?«Runnefeldt zeigte irgendwohin.»Wir haben die Kisten noch nicht alle ausgepackt. Wollen Sie nicht warten, bis…«

«Die Zeit ist kostbar, lieber Runnefeldt. Jetzt wegen der Türen um so mehr. Eile tut not! Nach Riga werde ich ohne große Schwierigkeiten kommen, und von Riga aus will ich versuchen, in einer Kuriermaschine zur 18. Armee einen Platz zu bekommen. Du lieber Himmel, Puschkin liegt doch auf keinem anderen Stern, da muß man doch hinkommen können!«

Schon am nächsten Tag fuhr Dr. Wollters mit einem Militärtransportzug nach Osten. Sein Abschied war kurz und knapp… ein Händedruck bei Dr. Findling und Dr. Runnefeldt ein Blick wie auf eine Made für Wachter. Als die Tür hinter ihm zuklappte, atmeten die anderen tief auf. Aber keiner sprach aus, was er in diesen Minuten dachte.

Um es vorwegzunehmen: Der Brief erreichte Major Pietschmann am 17. Januar 1942, am 20. Januar waren die Türen ausgebaut und am 25. Januar trafen sie mit einem Lazarettzug von der Leningradfront in Königsberg ein. Die Nachschuborganisation, die gesamte Logistik arbeitete vorzüglich. Der Oberquartiermeister und IC der 18. Armee mußte ein hervorragender Mann sein.

Den Türen lag ein Briefchen von Dr. Wollters bei. Ein knapper, unverbindlicher Gruß und die völlig uninteressante Mitteilung, daß es ihm gut gehe.

Das war die letzte Nachricht von Rittmeister Dr. Wollters. Das Schlafzimmer Katharinas der Großen tauchte nie wieder auf, genausowenig eine Reihe Ikonen der Nowgoroder Schule, Gemälde, Gold- und Silberarbeiten, Teppiche und Gobelins. Auch die Kisten mit den vergessenen Bernsteinwandfriesen, ein Höhepunkt der Arbeit von Rastrelli, blieben unauffindbar. Als Dr. Wollters den Katharinen-Palast wieder verließ, folgten ihm drei Lastwagen bis nach Riga. Was unter ihren Planen lag, kontrollierte niemand und interessierte auch nicht. Man hatte andere Sorgen im Kampfgebiet: Ein mörderischer Winter war ausgebrochen, die Truppe hatte nicht genügend Wintermäntel, Schals und Ohrenschützer, kaum Handschuhe und fast gar keine Filz- oder mit Fell gefütterte Stiefel. Alles erstarrte unter unvorstellbarem Frost und Eis, in den Wäldern hinter den Fronten überfielen Partisanen deutsche Trupps, sprengten Eisenbahngleise und Züge, zerstörten Brücken und vernichteten den Nachschub von Verpflegung und Munition. Wer kümmert sich da um einen Rittmeister mit drei klapprigen Lkws, zumal an die Türen Schilder geklebt waren Einsatzkommando Hamburg. Sonder-Kommando AA.

Wer fragte da noch nach einem Marschbefehl? Erstaunlich genug, daß das Außenministerium in Berlin ein SonderKommando an der Front hatte.

Und noch mehr vorweggenommen: Niemand weiß, ob Dr. Wollters den Krieg überlebt hat, ob er vielleicht heute noch lebt, ein unbekannter Greis, in einem selbst geschaffenen Grabmal aus Ikonen und Gemälden, Gobelins und dem Schlafzimmer der großen Katharina mit den aus Holz geschnitzten und vergoldeten Penissen und Hoden.

Der Bernsteinwandfries des Rastrelli aber versank in das Geheimnis…

Drei Tage lang rief Gauleiter Koch im Städtischen Krankenhaus an und verlangte Schwester Jana zu sprechen, natürlich ohne Nennung seines Namens. Und dreimal geriet er an Frieda Wilhelmi, die ins Telefon donnerte:»Was wollen Sie von Jana? Wer sind Sie?!«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, legte Koch wieder auf. Eine harte Nuß, dachte er wütend. Aber ich knacke sie. Bisher habe ich immer bekommen, was ich wollte.

«Wieder die Erzsau!«sagte Frieda mit deutlichem Ekel nach dem dritten Anruf.»Ruft er noch mal an, werde ich sagen: Nur über mich… Herr Gauleiter! Da wird er den Schwanz einziehen!«»Und wenn er das nun tut?«Jana lachte hell — gab es einen absurderen Gedanken?

«Was?«fragte Frieda verständnislos.

«Nur über mich…«

«Das sagst du mir?!«Frieda stemmte ihren Fleischturm aus dem Stuhl.»Du bist ein Wolf im Schafspelz! Du steckst ja voller Frivolität! Ein Chamäleon bist du… kannst die Farbe wechseln und gleichst dich deiner Umgebung an, bis du unsichtbar bist!«

«Vielleicht. «Jana war plötzlich ernst geworden.»Ich wünschte, ich wäre unsichtbar. Meine Schwesternhaube eine Tarnkappe, das wäre schön.«

Sie ist es ja, dachte sie. Sie ist eine Tarnkappe. Unter ihr lebe ich unsichtbar unter euch… niemand wird erfahren, daß ich Jana Petrowna Rogowskaja bin. Da hast du etwas Wahres gesagt, Frieda… ich werde wieder und wieder meine Farbe wechseln, um in der Nähe von Väterchen Michail und dem Bernsteinzimmer zu sein.

Am Montag verfiel Koch auf eine andere Idee. Er rief erneut im Krankenhaus an, ließ sich mit dem leitenden Chefarzt verbinden, nannte als Namen Bruno Wellenschlag, Abteilungsleiter des Schloßmuseums, erzählte etwas von ener Handverletzung, die sich ein Packer zugezogen habe, und bat um eine Schwester.

«Am besten Schwester Jana«, sagte Koch.»Sie war schon mal hier, sie kennt sich aus.«

«Ich schicke sofort einen Sanitäter los!«antwortete Dr. Pankratz.

«Danke. Schwester Jana, wie gesagt, kennt sich hier aus.«»Am besten ist, Sie bringen den Verletzten hierher zu uns.«»Wegen einer kleinen Handverletzung?«Es kostete Koch, unsagbare Mühe, nicht loszubrüllen. Pankratz, dachte er. Stabsarzt Pankratz. Ich werde dafür sorgen, daß Sie an der Front dringender gebraucht werden als in Königsberg. Sie haben die längste Zeit Ihren Arsch an der Krankenhausheizung gewärmt!

«So einfach ist das nicht. War's ein rostiger Nagel, kann sich eine Blutvergiftung einstellen, ein Wundstarrkrampf, ein Wundbrand. Ich habe in den Feldlazaretten schon tolle Dinge gesehen…«

«Danke!«sagte Koch und legte auf. Dann hieb er mit beiden Fäusten auf seinen Schreibtisch und setzte sich in seinen Sessel. Dieser Pankratz kommt also von der Front, scheint schwer verwundet zu sein und ist nur noch heimatverwendungsfähig. Einen Hvler zurück an die Front zu schicken, kann ein langwieriges Verfahren sein, aber man kann Dr. Pankratz in ein kleines Krankenhaus abschieben. Nach Rominten etwa oder Lyck. Auch an der Weichsel ist es schön — da kann er mit den Füchsen herumschnüren und im Winter mit den Wölfen heulen. Und Frieda Wilhelmi begraben wir als Oberschwester eines Irrenhauses. Da kann sie kommandieren, soviel sie will.

Jana, du masurische Wölfin, du entkommst mir nicht.

Er reckte sich etwas im Sitzen, griff wieder zum Telefon und rief Wellenschlag an. Wie immer nahm Wellenschlag eine straffe Haltung an, wenn Koch mit ihm sprach, auch wenn er ihn nicht sah, man konnte es an seiner Stimme erkennen.»Bruno — «

«Gauleiter…«

«Du hast mir mal erzählt, daß du im Kaufhaus, in der Stoffabteilung, eine hübsche Verkäuferin gesehen hast.«

«Jawohl, Gauleiter. Emmi Sonnemann…«

«Noch so ein blöder Witz… und du fliegst an die Front!«

«Ich kann nichts dafür, Gauleiter, daß die Kleine genauso heißt wie die Frau des Reichsmarschalls Göring. Sie heißt wirklich Emmi Sonnemann.«

«Das wird ja ein doppeltes Vergnügen!«Koch lachte laut und schlug sich dabei auf die Schenkel.»Bring heute abend Emmi Sonnemann zu mir.«

Er prustete vor Lachen und hängte ein. Das müßte ich Göring mal erzählen. Ich hatte eine Emmi Sonnemann im Bett. Aber darin versteht der Dicke keinen Spaß mehr.

Am Abend zog Jana Petrowna ihren dicken Wintermantel über und nahm einen Wollschal mit. Ganz plötzlich war mit dem scharfen Ostwind auch die Kälte über Königsberg hereingebrochen. Es schneite noch nicht, aber es gab bereits Nachtfrost, eine glatte Schicht bedeckte die Straßen, Hauswände und Dächer. Die Menschen tappten oder rutschten ihre Wege, die Fahrzeuge schlichen dahin. Der Kälteeinbruch war zu plötzlich gekommen, die wenigsten hatten sich darauf eingerichtet.

«Wo willst du hin?«fragte Frieda, als sie Jana mit Mantel, Schal und Strickhandschuhen sah.

«Ins Theater, Oberschwester. Eine Operette spielen sie. Der Vogelhändler.«

«Ich bin die Christel von der Post — «brüllte Frieda plötzlich los. Jana zuckte zusammen und starrte Frieda besorgt an.

«Was haben Sie, Oberschwester?«

«Das ist ein Lied aus dieser Operette, Kindchen. Mein Gott, der Vogelhändler. Sechsmal habe ich den gesehen. Zuletzt im Metropol-Theater von Berlin. Mit Johannes Heesters in der Hauptrolle. Schenkt man sich Ro-o-o-sen in Ti-i-i-rol…«

Auf einer Bühne wären jetzt die Kulissen umgefallen, aber Friedas Gesicht glänzte vom Glück der Erinnerung. Sie schwärmte heimlich von so vielem, von Zarah Leander und Ferdinand Marian, von Heinz Rühmann und Werner Kraus, von Heinrich George und Käthe Gold, von Gustaf Gründgens und Brigitte Horney… aber das alles schloß sie in ihren Panzer ein, um nicht irgendwo angreifbar zu sein.

«Gehst du allein ins Theater?«fragte sie mißtrauisch.»Natürlich. Ich will mir sogar ein Theater-Abonnement kaufen. Für Sie auch, Oberschwester?«

«Danke, nein, mein Kind. Das sind festgelegte Tage, und ich will mich nicht binden.«

Das war ihr Geheimnis, ihr Credo, nach dem sie lebte: Nicht binden! Ganz gleich, was es war. Friedas Freiheitsdrang war allumfassend.

«Wann bist du wieder zu Hause?«fragte sie. Jana hob die Schultern.

«Ich weiß nicht, wie lange die Operette dauert.«

«Na, sagen wir zwei Stunden. «Frieda blickte provozierend auf die Uhr.»Jetzt ist es sieben Uhr. Um acht fängt's an, um zehn kann's aus sein. Um elf bist du wieder hier! Wird es später, kriegen wir Streit.«

«Jawohl, Oberschwester.«

«Ich will nur dein Bestes, Kindchen.«

«Ich weiß es. Einen guten Abend noch, Oberschwester.«

«Du auch… Gern hab' ich die Frau'n geküßt… Ach Quatsch, das ist ja aus Paganini…«

Begleitet von Friedas Gebrüll verließ Jana das Zimmer und durch die Seitentür der Einlieferung das Krankenhaus. Im Wachraum der Ambulanz saß wieder der Sanitäter Karl Blu-decker und winkte ihr zu.

«Lange nicht gesehen, Schwester!«rief er.»Wo geht's denn hin? Ist verdammt glatt draußen. Halten Sie sich richtig fest an Ihrem Kavalier.«

«Ich gehe allein ins Theater. Der Vogelhändler.«

«Ist das das Stück, in dem jemand sagt: >Mit Vögeln bin ich aufgewachsen!

«Bludecker, Sie sind ein Ferkel!«Jana schüttelte den Kopf.»Schämen Sie sich.«

«Wenn ich das mal könnte. «Bludecker grinste breit.»Viel Vergnügen, Schwesterchen. Übrigens, ist schon lange her, da hat jemand nach Ihnen gefragt. Ein Unteroffizier aus Berlin.«»Julius Paschke.«

«Ja, so hieß er. 'ne tolle Type.«

«Und was haben Sie ihm gesagt?«

«>Da die Schwester — < habe ich gesagt >- bei Frieda arbeitet, müßte er erst den Bunker knacken. Geh hin zu Frieda, aber vergiß nicht, 'nen Flammenwerfer mitzunehmen.< Da ist er abgezogen.«

«Um elf Uhr bin ich wieder hier.«

«Is gut. Ich hab Nachtdienst. Kannst jederzeit kommen, Schwesterchen. Noch mal, viel Vergnügen.«

An der Theaterkasse kaufte Jana Petrowna ein Abonnement für vier Opern, zwei Operetten und drei Schauspiele, aber keine Karte für den Vogelhändler an diesem Abend. Sie kehrte zum Schloß zurück und drückte die Klingel an der Tür eines

Seiteneingangs. Dreimal kurz, einmal lang… so wußte Väterchen Michail, wer draußen stand.

Nach einer kurzen Wartezeit drehte sich der Schlüssel. Aber nicht Wachter öffnete, sondern ein anderer, fremder älterer Mann. Er schien gerade zu Abend zu essen, denn er kaute noch auf einem Bissen herum.

«Was is?«fragte er mißmutig.»Rote-Kreuz-Schwester?! Ist was los? Kann hier jemand nicht kacken?«

«Höflich sind Sie ja nicht!«schlug Jana Petrowna zurück.»Warum auch?«Der kauende Mann sah sie mit leidvollem Blick an.»Machen Sie mal zehn Stunden lang Führungen durchs Museum! Da fliegt Ihnen das Häubchen weg, Schwester. Bei den Besuchern? Da haben wir ein Gemälde im Saal neun. Leda und der Schwan. Von Boromäi Martini. Wunderschön! Und da führe ich 'ne Landsergruppe durchs Schloß, und was sagt einer von den Kerlen, nachdem er sich die Leda genau beguckt hat? >Nichts für mich, Kumpels… die hat zu wenig Titten!< — So was muß man sich gefallen lassen, muß das runterschlucken… und da soll ich auch noch höflich sein?!«

«Ich möchte zu Herrn Wachter.«

«Isser krank?«

«Nein, ich soll ihm einen Gruß überbringen.«

Der griesgrämige Mann trat zur Seite, gab den Eingang frei und zeigte eine Steintreppe hinauf.»Da oben, erstes Stockwerk, erster Flur links. Da wohnt er. Hat da ne Riesenwohnung und ist allein. Da kann er mit Rollschuhen von einem Raum zum anderen fahren. Ist neu bei uns, der Wachter. Extra für'n Zimmer eingestellt, das sie jetzt aufbauen. Muß ja ein gewaltiges Ding sein, das Zimmer, wenn es einen Wachter für sich allein hat.«

«Danke«, sagte sie, ging an ihm vorbei und drehte sich an der Treppe noch einmal nach ihm um.»Sie müssen sich nicht soviel ärgern. Der Krieg bringt uns Sorgen genug.«

«Wem sagen Sie das, Schwester!«Der Mann wischte sich mit beiden Händen über das zerfurchte Gesicht.»Ich habe drei Söhne an der Front. Einer ist schon von den Engländern gefangen. Drüben, in Afrika, bei Marsa Matruh. Der wenigstens wird die Scheiße überleben.«

«Ich hoffe, alle drei werden überleben.«

Michael Wachter hob erstaunt den Kopf, als es an der Wohnungstür klingelte. Er las gerade in der Zeitung die Berichte von dem schrecklichen Wintereinbruch in Rußland, der die deutschen Armeen vor allem vor Moskau lähmte. Zitternd vor Frost hatten sich die deutschen Truppen eingegraben, während die russischen Divisionen, bestens ausgerüstet für die Kälte, ununterbrochen gegen die deutschen Stellungen anrannten. Wiederholte sich für Hitler die Niederlage Napoleons vor Moskau?

Wachter legte die Zeitung weg, ging zur Tür, entriegelte sie und öffnete.

«Töchterchen!«sagte er voller Freude, zog Jana in die Wohnung und umarmte sie.»Wie oft habe ich in den letzten Tagen an dich gedacht. Komm, zieh den Mantel aus, soll ich uns einen Tee kochen oder einen Grog… kalt ist's geworden, nicht wahr, und noch kälter wird es werden.«

Er hing ihren Mantel an einen Dielenhaken und führte sie in die Wohnung. Sie war wirklich riesig… große, hohe Räume, beheizt mit Kachelöfen, die Decken mit kunstvollem Stuck verziert, Kassettentüren und ein Boden aus gewachsten Dielen. Die Einrichtung war über hundert Jahre alt und stammte aus dem Besitz des Museums. Trotz der weiten Räume war es gemütlich warm und sogar ein wenig vornehm, wie es im Volksmund heißt. Herrschaftlich.

Nachdem Wachter einen guten Grog aus Rum gebraut hatte, saßen sie sich in den tiefen, breiten Sesseln gegenüber, und Jana erzählte ihre Erlebnisse der letzten Tage.

«Diese Frieda Wilhelmi muß ich kennenlernen!«rief Wachter aus.»Umarmen muß ich sie! Keine bessere Stellung hättest du bekommen können.«

«Ich denke oft an Nikolaj, Väterchen. «Jana Petrowna nahm vorsichtig einen kleinen Schluck von dem dampfenden Grog.»Wie wird es in Leningrad sein? Hungern und frieren werden sie. Tausende werden sterben… wie gut geht es uns, und wie schlecht wird es Nikolaj haben. Ob sie ihn zur Verteidigung eingesetzt haben? Ob er vorn in einem Bunker liegt?«

«Wer weiß das, Janaschka? Einmal werden wir es erfahren, kein Krieg dauert ewig. Jeden Tag bete ich, daß wir Nikolaj wiedersehen. Viel Glück haben wir bisher gehabt. «Sie sprachen jetzt russisch miteinander, trösteten sich mit der gemeinsamen Sprache. Inmitten der fremden Räume und Möbel fühlten sie sich so fast wie zu Hause.»Das Bernsteinzimmer ist gerettet.«

«Das Zimmer. «Jana lehnte sich in ihrem Sessel zurück.»Du wolltest mir immer von dem Zimmer erzählen, Väterchen. Es ist wertvoll, ja, aber für dich bedeutet es noch mehr als ein Kunstwerk. Und Nikolaj denkt genauso.«

«Es ist so, Töchterchen. Wie könnte ein Wachterowskij ohne das Bernsteinzimmer leben! Warum… oh, das ist eine lange Geschichte. Ungeheure Schicksale haben seine Wände erlebt — getränkt ist es mit Blut und Tränen, Liebe und Haß, Elend und Glück. Alles, was das Leben einem Menschen geben kann, ist im Bernsteinzimmer aufbewahrt. Seine Wände amen… wir Wachterowskij spüren es. Wir sehen die Wände an und sehen zweihundert Jahre Schicksal.«

«Erzähl, Väterchen, erzähl — «

«Das dauert lange, Janaschka.«

«Jetzt haben wir Zeit. Jeden Abend werde ich zu dir kommen. Alles muß ich vom Bernsteinzimmer wissen… Nikolaj und ich werden es ja einmal von dir übernehmen. Lehn dich zurück, Väterchen, trink einen Schluck und erzähle mir von Königen, Zaren und Zarinnen und ihrem wilden Leben.«

Und Michael Wachter begann zu erzählen.

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