DIE PERSONEN:
Peter Alexejewitsch Romanow Katharina Alexejewna Alexander Menschikow Pjotr Schafirow Lewon Uskow Alexej Petrowitsch Friedrich Theodor Wachter Adele Wachter Julius Wachter Fürst Dolgorukij Graf Wladimir Viktorowitsch Kubassow Dr. Benjamin van Rhijn
Zar Peter I. der Große Zarin, Peters 2. Frau Günstling des Zaren Günstling des Zaren Zwerg und Hofnarr Zarewitsch, Sohn Peters I. Betreuer des Bernsteinzimmers seine Frau sein Sohn Berater Peters I. Haushofmeister
Zweiter Hofarzt des Zaren
Ein kalter Winter war's gewesen, dieser Anfang des Jahres 1717. In Rußland lagen Eis und Schnee noch über Wäldern, Feldern, Hütten und Straßen, die Karren blieben noch in den Schuppen, und die Schlitten, die großen für den Transport, die kleinen für die Menschen, knirschten und kreischten über den festgestampften Schnee, gezogen von den kleinen struppigen Panjepferdchen mit den Glöckchen am Geschirr.
Anders in Preußen. Hier begann — in diesem Jahr zwar langsam — schon der Frühling. Der aufgeweichte Boden hing schwer an den Rädern, und auf der Fahrt von Berlin nach Kol-berg, wo ein Schiff nach Memel liegen sollte, rief man oft die Bauern aus den Häusern oder von den Feldern, um die Räder aus dem Lehm zu ziehen.
Das besorgte mit scharfen Befehlen und oft auch mit den Schlägen eines langen Haselstockes, ganz im Sinne des Königs, der Leutnant Johann von Stapenhorst, der mit einer Abteilung Kürassiere vor, hinter und neben dem wertvollen Transport ritt. Friedrich Wilhelm hatte die schwere Reitergruppe in ihrem blinkenden eisernen Küraß, eine Art Brustpanzer, zum Schutz beigegeben, obwohl Wachter meinte, es sei nicht nötig.
«Er hat eine zu gute Meinung von den Menschen!«hatte der König zu ihm gesagt.»Merke Er sich eins: Es gibt mehr Halunken als Beter, und selbst die Beter werden zu Halunken, wenn es sich lohnt, zu stehlen und zu betrügen. Sei Er immer auf der Hut, Wachter! Das Gesindel ist überall.«
Und so wartete außerhalb des Schlosses die Abteilung Kürassiere auf das Bernsteinzimmer und nahm den Transport in ihre Mitte. Und so waren es nun zusammen mit den 108 Zugpferden und Wachters Apfelschimmel, den sechs Kutschpferden und den dreißig Kavalleriegäulen 145 Pferde, die nach Osten zogen. Leutnant von Stapenhorst schien keine Ahnung zu haben, was er da bewachen sollte, denn gleich nach der Begrüßung fragte er Wachter:
«Was bringen wir denn da nach Kolberg? Ist es wertvoll?«
Und Wachter antwortete knapp:»Fragen Sie den König, Leutnant. Ich kann Ihnen nichts sagen.«
Die Fahrt bis Kolberg vollzog sich ohne Ereignisse bis auf den Schrecken, den jede als Übernachtung ausersehene Garnison bekam, wenn die Kolonne einrückte. 145 Pferde, 66 Männer, eine Frau, ein Kind und einen Hund zu versorgen, und das aus dem Magazinbestand der Garnison, rief bei allen Kommandeuren tiefe Seufzer hervor, aber sobald Wachter den schriftlichen Befehl — die Order — des Königs vorzeigte, brachte man heran, was der Transport brauchte. Ganz ohne Schwierigkeiten ging das plötzlich, bis auf Moritz, das Hundemonstrum mit dem braunweiß gefleckten Fell und den blauen Augen. Als der Koch einer Garnison ihm einen schon faulig riechenden Knochen hinwarf, beschnupperte Moritz das stinkende Etwas, hob dann den Kopf, starrte den Koch an und flog plötzlich mit einem gewaltigen Satz auf ihn zu, verbiß sich in seinen linken Oberschenkel und ließ nicht mehr los. Es half kein Schreien und Schlagen, kein Abschütteln.
«Ich bring sie um, die Bestie!«schrie der Gebissene.»Wartet nur ein wenig, ich hole mein Messer. Abstechen werd ich das Vieh!«
«Einen faulen Knochen habt Ihr ihm gegeben!«sagte Wachter streng.»Das beleidigt ihn.«
«Will er etwa ein gebratenes Hühnchen haben?«brüllte der Koch.
«Das war schon was. Da hätte er Euch die Hand geleckt. Mein Moritz hat eine menschliche Seele.«
Dieser Ausspruch verbreitete sich schnell in der Garnison. Am Abend, als die Offiziere unter sich waren, fragte der Kommandeur, ein Obrist, den Leutnant von Stapenhorst:»Wer ist dieser Wachter?«
«Ein Vertrauter des Königs… so nimmt man an. Er hat alle Vollmachten in der Tasche. Sein Pferd ist aus dem königlichen Stall. Eine undurchsichtige Person.«
«Hält's der König neuerdings mit Narren?«
«Oberst, wir haben gelernt, nicht zu fragen, sondern zu gehorchen.«»Das ist es, Leutnant. Da sagt Er ein wahres Wort. Ich frage mich oft: Wo führt das hin, ein einziger denkt, und ein ganzes Volk muß denken wie er.«
Der Oberst winkte ab, als er die betretenen Gesichter der Offiziere sah.»Wir werden sehen, was daraus wird. Gott ist so gnädig, uns nicht in die Zukunft blicken zu lassen.«
In ihrem Quartier, meistens einem Zimmer in der Kaserne, das für eine Nacht der Futtermeister räumen mußte, legte sich Adele Wachter sofort auf das Bett, erschöpft, müde, blaß und mit schwerem Atem. Von Station zu Station wurde es ärger, manchmal lag sie da, preßte die Hände auf den gewölbten Leib und sagte, mit geschlossenen Augen, lange kein Wort. Wachter saß dann neben ihr, streichelte ihr Gesicht, legte auch seine Hände auf ihren Leib und konnte nichts für sie tun, als Trost zu geben.
«Bald ist es vorbei, Delchen«, sagte er zärtlich zu ihr.»In Kolberg, auf dem Schiff, kannst du dich ausruhen. Diese holprigen Wege, das Rütteln und Schütteln und die Stöße… ich weiß, wie es dir zusetzt. Beiß die Zähne zusammen, Deichen.«
«Das Kind tritt in mir, als wolle es den Leib sprengen. So war es nie bei Julius. «Sie umschlang seinen Nacken und zog seinen Kopf hinunter auf ihren Bauch.»Hörst du es, Fritz? Es wehrt sich… es will nicht in mir sterben…«
«Es wird nicht sterben, Delchen. Bestimmt wird es nicht sterben. Es wird in Petersburg zur Welt kommen… nur daran sollst du denken.«
Etwa auf der Mitte der Strecke nach Kolberg änderte Wachter seinen Zeitplan. Er legte öfter eine Ruhestunde ein, ließ Adele sich auf einem Strohsack in einem der Kistenwagen ausstrecken, und Julius, nun bald elf Jahre alt, lief über die Felder, suchte in Wiesen und an Bachrändern und brachte frische Kräuter mit, die Wachter, in Wasser getaucht, Adele auf den Leib legte. Das beruhigte und erfrischte sie, kühlte die ziehenden Schmerzen und gab ihr neue Kraft.
Dann endlich, endlich hatten sie Kolberg erreicht, die kleine, schmucke, saubere Küstenstadt an der Ostsee, machten zum letztenmal Station in einer Kaserne, und Leutnant von Stapenhorst schickte einen Kurier los nach Berlin, die glückliche Ankunft in Kolberg zu melden.
Zusammen mit Adele und Julius fuhr Wachter schon am nächsten Tag zum Hafen, um das Schiff nach Memel zu besichtigen.
Es war kein großes Schiff, eher eine kleine Korvette mit nur einem Mast, ohne Geschütze, dafür mit Laderäumen in dem breitbauchigen Rumpf und einem Aufbau, in dem die Kajüten für Kapitän, Fahrgäste und die Mannschaft lagen. Die preußische Fahne flatterte am Bug.
Über einen Steg gingen Wachter, Adele und Julius an Bord, während Moritz angebunden in der Kutsche bleiben mußte und jämmerlich heulte und wütend, mit hochgezogenen Lefzen, die ein spitzes, starkes Gebiß bloßlegten, bellte.
Als sie an Deck standen, spürten sie trotz der Windstille das Schwanken des Schiffes.
Zum erstenmal hatten sie einen Boden unter den Füßen, der sich bewegte, ein unangenehmes Gefühl, das Unsicherheit in ihnen hochkommen ließ. Wachter begriff, warum Seeleute an Land, auf festem Boden, breitbeinig und schaukelnd dahergingen, wie auch der Zar es tat, der verliebt war in Schiffe, Meer und Wellenschlag.
Der Kapitän der Wilhelmine II. - so hieß das Schiff — kam ihnen mit wiegendem Schritt entgegen, warf einen Blick auf Adeles hohen Leib und reichte dann Wachter die Hand.
«Ihr kommt von dem königlichen Transport?«fragte er.
«Ich bin der Leiter, Kapitän.«
«Willkommen an Bord. «Er drückte Wachters Hand.»Wann laden wir?«
«Schon morgen. Achtzehn große Kisten und Reisegepäck. Zeigt mir, wohin sie gestellt werden… sie dürfen nicht im Geringsten beschädigt werden. Ich habe dem König darüber Meldung zu machen. Hütet Euch davor, nach Berlin zum Rapport befohlen zu werden. Der Stock des Königs tanzt gern auf anderen Rücken, und die Gefängnisse sind dunkel, feucht und voll Ungeziefer.«»Es wird alles so sein, wie Ihr befehlt. Mit dicken Tauen werden wir die Kisten vertäuen. «Der Kapitän machte eine weite Handbewegung.»Aber dem Meer können wir nichts befehlen. Im April kann es stürmisch werden… da müssen wir uns dem Stärkeren beugen.«
Sie gingen in die Kapitänsräume, tranken heißen Tee und Rum und knabberten an Zwieback und trockenen Wecken. Der Kapitän erzählte von wilden Stürmen und Begegnungen mit Geisterschiffen, wobei Adele ganz übel wurde, während Julius dagegen glühende Backen bekam, bis Wachter lachend ausrief:»Genug des Seemannsgarns. Kapitän… sehen wir uns das Schiff näher an.«
Es war ein altes, aber gutes Schiff. Dick im Holz, guter Teer in den Fugen, dicht vor allem, kein Durchsickern von Wasser, und die Laderäume, in denen man die Kisten vertäuen wollte, waren besonders trocken. Sie lagen in der Mitte des Rumpfes und hatten genug Eisenhaken an den Wänden, um das Bernsteinzimmer rüttelfrei festzuhalten.
«Sind wir allein auf dem Schiff?«fragte Wachter.»Keine anderen Waren?«
«Keine. Der Befehl des Königs…«Der Kapitän verzog das Gesicht, als habe er innere Schmerzen.»Kennt Ihr einen Grafen von Bülow?«
«Ja. Er berät den König bei den Finanzen.«
«Ein Halsabschneider, unter uns gesagt. Schickt mir ein Schreiben: >Was nehmt Ihr für eine Fracht von Kolberg bis Memel im Auftrage des Königs?< Ich denke, o Himmel, der König selbst, und nenne einen anständigen, niedrigeren Preis als sonst. Und was schreibt mir der Graf von Bülow zurück: >Ist er verrückt? Seine Majestät hat angeordnet…< Und er nennt mir eine Talersumme, die fast nur die Hälfte meiner Kosten deckt. Was ist besser, habe ich gedacht? Das Schiff versenken oder des Königs Order annehmen? Ich habe angenommen… und deshalb erwartet nicht, daß Ihr zum Essen große Braten oder fette Kapaune bekommt. Kohl und Grütze wird es geben, gesalzenen Fisch und Fladen. Und die Mannschaft, wundert Euch nicht, wenn sie Euch scheel ansieht… nur zwei Drittel des Lohnes bekommen die Kerle für diese Fahrt. Meinen Verlust kann ich allein nicht tragen. So ist es hier — «
Am nächsten Morgen fuhr die Kolonne von achtzehn Wagen und drei Kutschen an den Kai vor der Wilhelmine II. Leutnant von Stapenhorst hatte nur noch zehn Kürassiere mitgegeben, seine Mission war beendet, die ihm nie behagt hatte. Er war Soldat und nicht Begleiter eines Kistentransportes.
Das Verladen der riesigen, schweren Kisten wurde ein Problem. Aus den Wagen konnte man sie ganz gut auf den Kai zerren und schieben, aber sie auf das Schiff bringen, schien fast unmöglich. So große Fracht hatte man noch nie geladen, nicht Kisten von diesem Gewicht und diesen Ausmaßen. Selbst wenn man sie mit Ketten umgurtete und über Rollen an von Deck ragenden Balken hochzog, war es zweifelhaft, ob man sie heil an Bord bekam.
Aber es gelang. An dicken Seilen und über eisernen Rollen wurden die Kisten Zentimeter um Zentimeter ins Schiff gehoben und in den Laderäumen festgebunden. Einen ganzen Tag dauerte es, bis alle achtzehn Kisten im Schiff standen, und als Wachter zufrieden nickte, rief der Kapitän erleichtert:
«Jetzt darf unsereiner einen guten Schluck nehmen. Ihr auch, Wachter?«
«Warum nicht?!«
Sie tranken kräftig, lagen dann trunken in ihren Kojen und fielen in einen kurzen Schlaf. Morgens um sechs Uhr setzte man die Segel, holte den Laufsteg ein und löste die Taue aus den in den Kaiboden eingelassenen eisernen Ringen. Von Leutnant von Stapenhorst sah Wachter nichts mehr… Abschied nahm er nur von den Fuhrleuten und den Kutschenfahrern, die ebenfalls aufatmeten, die kostbare Ladung endlich los zu sein.»Viel Glück in Petersburg!«sagte der Vormann der Fuhrleute zu Wachter, als sie sich die Hand drückten.»Ich spreche es ehrlich aus: Ich beneide Euch nicht um das neue Leben…«
Von Deck, an der Reling stehend, sah Wachter den Wagen und Kutschen nach, als sie den Hafen verließen. Noch einmal winkte er ihnen zu und wußte, daß es gleich, mit dem Ablegen des Schiffes, ein Abschied für immer war. Er würde Preußen nie wiedersehen -
Adele, Julius und Moritz standen neben ihm, als sich über ihnen die Segel blähten, die Kommandos des Kapitäns über Deck hallten und das Schiff langsam aus dem Hafen glitt, hinaus aufs Meer. Das Schwanken wurde stärker, die Wellen hoben und senkten das Schiff, ließen es von Seite zu Seite rollen, festklammern mußte man sich am Relingseil und de Beine spreizen, um einen guten Stand zu haben. Julius fand es herrlich, jauchzte und winkte hinüber zu der verschwindenden Stadt, Moritz bellte und wedelte mit dem buschigen Schwanz, fletschte die Zähne und biß in das Relingseil, und man wußte nicht, war es Übermut, Freude oder Gegenwehr gegen das Schaukeln. Nur Adele war es übel, das Heben und Senken des Bootes war ihr fürchterlich, ihr Magen drängte hinauf zur Kehle, sie lehnte sich an Wachter, umklammerte seine Taille und würgte schon, als sie gerade den ruhigen Hafen verlassen hatten. Das Meer nahm sie freundlich auf, es war kaum Wellengang, aber Adele genügte es vollauf. Wachter brachte sie zurück zur Kajüte, legte sie aufs Bett, stellte einen Eimer neben sie, legte ein feuchtes Tuch auf ihre Stirn und stieg wieder an Deck. Der Kapitän stand neben dem Steuermann am riesigen Ruderrad und kam auf ihn zu.
«Eure Frau legt sich hin? Sie ist schon seekrank?«
«Das Kind macht ihr zu schaffen.«
«Und Ihr spürt nichts?«
«Nein, es ist doch eine ruhige Fahrt.«
«Warten wir's ab, bis wir weiter nach Norden kommen. Da gibt es einige Stellen, wo man vom Wind das Pfeifen lernen kann. «Es sollte viel schlimmer werden. Am dritten Seetag fiel ein Unwetter über sie herein, das Schiffchen tanzte auf den Wellenkämmen, wurde hin und her geworfen wie ein Ball, gewaltige Wellen brachen über Deck, schäumende und brüllende Wassermassen fegten alles weg, was nicht festgezurrt war. Die Segel waren gerefft, nur ein Sturmsegel knatterte im Sturm, und dort hingen ein paar Matrosen an umgebundenen Seilen, die in starken Eisenösen verknotet waren. Wurden sie abgelöst, schwankten sie in ihre Kajüte, als seien ihnen die Knochen zerschlagen worden. Sie griffen nach der Rumflasche und tranken, als käme aus ihr das neue Leben. Und kalt wurde es, immer kälter, als sie die Kurische Nehrung entlangsegelten… der Wind aus dem Osten, aus Rußland herüber, stieß wie mit Fäusten nach ihnen.
«Ein unwirtliches Land ist es, in das ihr kommt«, sagte der Kapitän am letzten Tag der Fahrt. An seinem Tisch saßen sie, aßen eine Suppe aus eingesalzenen Bohnen, dunkles Brot, geräucherte Leberwurst und in Essig eingelegte Gurken. Adele, tapfer wie sie immer war, saß bei ihnen, mit leerem, ausgebrochenem Magen und ekelte sich vor jeder Speise.
«Kein Land kann so schlimm sein wie ein Schiff«, sagte sie stockend, und es würgte sie wieder beim Anblick des gedeckten Tisches.»Nie wieder werde ich ein Schiff betreten. Das sei geschworen.«
Und dann tauchte an der Küste Memel auf, das schöne stolze Memel mit seinen Türmen und Kirchen. Im Hafen drängten sich die Schiffe, an den Kais standen die Fuhrwerke mit Waren, die aus den Schiffen gebracht oder auf ihnen verladen wurden, und stolz, wie es sich für ein vom preußischen König gemietetes Schiff gebührte, fuhr die Wilhelmine II. zu ihrem Landeplatz.
Man hatte sie erwartet. Ein Kommando von sechs Reitern, befehligt von einem Wachtmeister, stand am Kai, und als das Schiff anlegte, ertönte ein Trompetensignal zur Begrüßung. Was und wer auch immer da anlegte — es kam aus Berlin, vom König.
Schon eine Stunde später stand Wachter vor dem preußischen Festungskommandanten von Memel, dem General Charles de Brion, und wurde etwas steif empfangen.
«Nun ist Er endlich da!«sagte der General wenig höflich.»Die Sondermission des Zaren ist längst nach Petersburg zurückgekehrt. Ein Kurier wird sofort an die Grenze abgeschickt. Was hat Er für eine Order?«
Wachter überreichte das Schriftstück, General de Brion las es aufmerksam durch und sah dann Wachter erstaunt an.
«Er hat Generalvollmacht?«sagte er, ein wenig freundlicher.»Was soll ich Ihm zur Verfügung stellen? Was braucht Er?«
«In schnellster Zeit Wagen und Leute.«
«Er wird alles bekommen.«
Zwei Tage dauerte es, bis man die Kisten vom Schiff geholt und wieder auf schwere Wagen umgeladen hatte. Bei ihrer Ankunft in Memel, das die Litauer Klaipeda nannten, war es der 30. April 1717 gewesen, nun, am 2. Mai, saß Wachter wieder auf einem Pferd, hatten Adele, Julius und Moritz wieder eine Kutsche, und die Kolonne wartete auf das Zeichen zum Aufbruch. Die Kisten waren äußerlich unversehrt, wie es drinnen aussah, wußte man nicht. Was hatte der Sturm auf dem Meer zerstört? In Petersburg würde man es sehen und dann den Kopf senken.
«Also, begeben wir uns nach Rußland!«sagte Wachter zu dem Führer des Begleitkommandos.»Die kurländische Grenze ist nicht mehr weit. Wie sind die Straßen?«
«Wie sollen sie sein?«Der Wachtmeister der Reiter hob die Schultern.»Je weiter nach Osten, desto unpassierbarer wird es. Und dann, so sagt man, das weite russische Land ist wie bei der Erschaffung der Welt.«
«Wir werden es schaffen. «Wachter richtete sich im Sattel auf.»Wenn der Zar bei seinen Reisen das Land verläßt, werden wir auch ankommen können.«
Er ritt wieder an die Spitze der Kolonne, hob die Hand und gab den Weg frei. Nach Osten, nach Rußland, in das riesige Unbekannte.
In die neue Heimat.
Gott steh uns bei!
Am 2. Mai schrieb General Charles de Brion seinen Bericht an den König von Preußen. Er lautete:
«Euer Königlichen Majestät habe hiermit alleruntertänigst berichten sollen, daß das Bernstein-Cabinet vorgestern in gutem Stande, so viel als ich bemerken und von dabei gestellten Leuten die Nachricht einziehen können, hier angelanget, und bald darauf weiter bis an die Grenze geschicket worden, und sein aus diesem Amte drei Relais, auf jede Relais 108 Vorspann Pferde zu deren Fortbringung gegeben…«
Das hieß, daß wieder mit achtzehn schweren Wagen, beladen mit je einer Kiste und von sechs Pferden gezogen, das Bernsteinzimmer auf den Weg nach Rußland gebracht worden war. Drei Stationen waren es bis zur russischen Grenze, über Straßen, deren Löcher und Querwellen die Fuhrwerke schütteln und springen ließ und Hunderte von Stößen in den Rücken schickten. Adele litt fürchterlich, aber tapfer, nur nach der zweiten Station sagte sie schwach zu Wachter:»Das Kind wird es nicht ertragen, Fritz. Tot wird es zur Welt kommen. Ich fühle es. Zu früh und tot wird es kommen…«
Die dritte Station, die Grenze, war ein befestigter Posten mit viel Grenadieren und einem Obersten als Kommandeur. Ohne Aufenthalt in der Kaserne ließ Wachter die Kolonne weiter zur Grenze fahren. Ein Trompetensignal kündigte sie an, und als sie am Schlagbaum standen, wartete ihnen gegenüber die russische Delegation. Zweihundert Kosaken unter dem Hetman Grigorij Semjonowitsch, neun Kutschen für den Reisemarschall Fürst Semjon Borisowitsch Netjajew, den Wachter schon vom Besuch des Zaren in Berlin her kannte.
Und wieder erfolgte die Mühe des Umladens auf russische Fuhrwerke. Neben hochrädrigen Karren waren es auch Schlitten, nicht nur, weil in diesem strengen Winter noch Schnee auf der Strecke bis Petersburg lag, sondern weil man auch bei Tauwetter mit Schlitten besser durch den Schlamm und Morast gleiten konnte als mit Rädern, die sich in die aufgeweichten Straßen mahlten. Dann gab es kein Vorwärtskommen mehr.
Fürst Netjajew begrüßte Wachter und Adele wie preußische Gesandte. Er sprach deutsch mit etwas schwerer Zunge, aber man konnte ihn gut verstehen.
«Im Namen Seiner Majestät des Zaren seid Ihr willkommen in Rußland«, sagte der Fürst.»Ist das Kabinett unversehrt?«
«Ich hoffe es. Beim Öffnen der Kisten wird's sich zeigen.«»Von jetzt ab wird ihnen nichts mehr geschehen. Ich übernehme die Verantwortung.«
«Ich habe die Order von meinem König, das Bernsteinzimmer heil bis Petersburg zu bringen unter meinem Kommando, Fürst Netjajew.«
Wachter zeigte ihm das Blatt mit der Unterschrift Friedrich Wilhelms, aber Netjajew wischte es mit einer Handbewegung zur Seite.
«Euer König kann Euch befehlen… aber jetzt seid Ihr in Rußland. Hier gilt allein das Wort des Zaren. Steckt das Papier ein, Ihr braucht es nicht mehr. Der Befehl des Zaren ist für Euch maßgebend, nicht mehr das Schreiben Eures Königs. Gewöhnt Euch daran, bevor Euch die Knute belehren muß. «Wortlos ging Wachter zu dem großen, durch einen Holzaufbau verschlossenen Schlitten zurück, in dem Adele auf einem Fellberg lag und Julius mit einem nassen Tuch die Stirn seiner Mutter kühlte. Moritz hatte sich bei den Russen schon Respekt verschafft… jeder, der in den Schlitten blickte, wurde angeknurrt, und zog er sich nicht sofort zurück, schnellte er vor mit weit aufgerissenem Maul und blinkenden Zähnen. Das genügte… die Neugierigen flüchteten.
«Was ist, Fritz?«fragte sie mit leiser Stimme.»Du siehst nicht aus wie ein glücklicher Mensch.«
«Ich bin ein Nichts… das hat man mir eben vorgeführt. Ich habe nichts mehr zu tun als neben dir im Schlitten zu sitzen. Fürst Netjajew übernimmt den Transport. Ich werde behandelt wie ein Kulak.«
«Noch können wir zurück, Fritz. Nur ein paar Meter rückwärts, und wir sind wieder in Preußen. «Sie umklammerte plötzlich seine Hand und zog sie an ihre Lippen.»Fritz, laß uns umkehren. Es ist die letzte Möglichkeit.«
«Und das Bernsteinzimmer?«
«Es ist in Rußland! Du bist frei…«
«Nicht von meinem Eid vor dem König. Ein Eid für alle Nachkommen…«
«Willst du dein Leben opfern für das Bernsteinzimmer?«
«Ja!«»Und mein Leben? Und das Leben deiner Kinder?«
«Wir alle gehören zum Bernsteinzimmer, heute, morgen, solange die Welt besteht, hat der König gesagt. Ich habe es geschworen, Delchen… und wenn ich mit der Zunge die Bernsteinwände säubern müßte, ich täte es, denn ich bin bei ihm.«
Zum erstenmal stand Wachter dem Zaren so nah gegenüber, von Angesicht zu Angesicht, daß er die Warze auf dessen Backe sehen konnte wie auch das plötzlich aufflammende Zucken der Gesichtsmuskeln, die Veränderungen der Augen, während der Zar sprach, die Ungeduld in seinen Fingern und das Atmen des breiten Brustkorbes in dieser riesenhaften, von Kraft strotzenden Gestalt. Ein wenig bleich sah Peter I. aus. In Amsterdam hatte ihn eine schwere Grippe mit Nieren- und Blasenschmerzen der heftigsten Art aufs Lager geworfen, dann war er in Bad Pyrmont zu einer Kur gewesen, aber die Nachwirkungen der Krankheit hatte sein massiger Körper noch nicht überwunden. Hinzu kam die Sorge um seinen Sohn, den Zarewitsch Alexej Petrowitsch, der aus Angst vor seinem herrischen Vater nach Österreich geflüchtet war und in Wien versteckt lebte.
Alexej. Wenn der Zar an ihn dachte, kam Trauer über ihn oder schäumende Wut, die jedesmal schreckliche Anfälle auslöste. Schwach war der Zarewitsch, ein Säufer und Hurer zudem, der seine Frau Charlotte von Wolfenbüttel nur zwangsweise, um einen Thronerben zu zeugen, im Schlafgemach besucht hatte, sonst aber mit Mätressen sich vergnügte, vor allem mit Weibern niedrigen Standes, mit leibeigenen Mägden, die sich glücklich schätzten, dem dürren, schwärmerisch veranlagten Zarewitsch zu Willen zu sein. Als Charlotte bei der Geburt des Thronerben Peter Alexejewitsch nach neuntägigem Leiden am 22. Oktober 1715 starb, verließen den Zarewitsch alle Hemmungen. Er soff wie ein Irrer, ruinierte seine Gesundheit und wurde zu einem Thronfolger, dem kein Thron mehr gebührte. Die Briefe seines Vaters beantwortete er mit sklavischer Untertänigkeit, aber als Peter I. ein Ultimatum verfaßte, das ihm alle Ausschweifungen verbot im Hinblick auf seine spätere Zarenwürde, flüchtete er nach Wien. Von dort trafen laufend böse Nachrichten ein… von einer Verschwörung war die Rede, sogar von einer Ermordung des Zaren, die der Sohn offen begrüßte. Er lebte zusammen mit einem Mädchen, Afrosinja, einer drallen, fast häßlichen Bauernmagd, aber von einer solchen Lüsternheit, daß sich der Zarewitsch ein Leben ohne Afrosinja nicht mehr vorstellen konnte.
Das alles hatte sich in das Gesicht des Zaren eingegraben… Wachter erschrak, als er Peter I. gegenüberstand und zu dem Riesen hochblickte.
«Ich habe den Brief Seines Königs gelesen«, sagte der Zar mit erstaunlich gütiger Stimme.»Nicht nur das Bernsteinkabinett schenkt er mir, sondern auch Ihn! Samt Frau und Kindern. Er soll bis zu seinem Tode das Bernsteinzimmer pflegen, und später seine Erben von Generation zu Generation. Nun wohl… der Wunsch des Königs von Preußen soll erfüllt werden. Er bleibe also bei mir, erhalte eine Wohnung im Beamtenhaus und bekomme guten Lohn und freies Logis, einen Karren mit zwei Pferden, einen Schlitten und den Titel eines kaiserlichen Hausmeisters. Ist Er damit zufrieden?«
«Mir schlägt das Herz, Majestät. «Wachter verneigte sich tief.»Möge diese große Güte immer anhalten.«
«Es liegt nur an Ihm. Solange Er das Bernsteinzimmer vorzüglich pflegt, gibt es keinen Grund, ihn das spanische Rohr spüren zu lassen. Er heißt Friedrich Theodor Wachter?«
«Ja, Majestät.«
«Er und Seine Nachkommen werden immer in Rußland leben. Einen russischen Namen muß er haben, keinen preußischen. Ich mache Ihn zum Russen, also heißt er ab sofort Fjodor Fjo-dorowitsch Wachterowskij. Seine Frau heißt?«
«Adele, Majestät.«
«Adele Iwanowna — Sein Sohn?«
«Julius…«
«Heißt Julian Fjodorowitsch. Geb Er mir die Hand und schwöre Er, ein guter Russe zu sein.«
Zögernd reichte Wachter dem Zaren seine Hand. Zu widersprechen wagte er nicht, konnte nicht sagen, daß er ein Preuße war und es bleiben würde. Er sah den spanischen Stock, die berüchtigte Dubina, in der Zimmerecke stehen und hatte kein Verlangen, sie auf seinem Rücken oder über seinem Kopf zu spüren. Er zuckte heftig zusammen, als der Zar ihm die Hand drückte, so fest, daß er einen Augenblick das Gefühl hatte, man habe ihm alle Finger zerbrochen. Der Zar beobachtete Wachters Gesicht, erkannte die beherrschte Miene und war zufrieden.
«Schwör Er mir unbedingte Treue, Fjodor Fjodorowitsch.«
«Ich schwöre es, Majestät, mit meinem Leben.«
«Jederzeit kann Er zu mir kommen, wenn es nötig ist. Und wer Ihn hindern will, dem sage Er: Der Zar hat es befohlen. Er hat immer freien Zugang.«
Damit schien das Gespräch beendet. Aber Wachter, sich der Gunst der Stunde und des Zaren bewußt, verließ nicht das Zimmer.
«Majestät, ist eine Frage erlaubt?«sagte er. Peter I. sah erstaunt auf ihn hinab.
«Was will Er fragen?«
«Wo soll das Bernsteinzimmer aufgestellt werden?«
«Hier, in meinem Winterpalais. Es wird ein Saal dafür geräumt werden. Ich brauche die Maße, die Höhe…«
«Und ich brauche Spezialisten, Majestät. Fachleute, die mit Bernstein umgehen können, die Beschädigungen ausbessern, die das Zusammenfügen der Wandtafeln überwachen, und dann noch Handwerker, vor allem Tischler, für die tragende Zwischenwand aus Holz.«
«Bekommt Er alles. «Der Zar lächelte breit.»Fordere Er nur die Leute beim Haushofmeister an, wann Er sie braucht. «Zufrieden verließ Wachter den Zaren und kehrte in das Beamtenhaus zurück, wo die Verwaltung des Winterpalais bereits vier Zimmer angewiesen hatte. Langsam ging Wachter zu dem Gebäudeflügel zurück, in dem nun sein Leben und das Leben seiner Familie eine Heimat finden sollte. Der erste Eindruck des Winterpalais war enttäuschend. Ein zweistöckiger Holzbau war's mit zwei Flügeln für Hofstaat und Beamte. Kein Prunkbau also, der den Namen Palais verdiente, und dessen Fassade sich von den anderen Villen an der Uferstraße der südlichen Newa nur dadurch hervorhob, daß über dem Einfahrtstor die Krone der kaiserlichen Marine angebracht war. Alle Häuser in der Umgebung des Zaren an der Newa waren dagegen wirkliche Paläste… der Palast des Generaladmirals Apraxin, die Häuser von Justizminister Jaguschinskij, die Villa von V-zeadmiral Cruys… sie alle aber waren Hütten gegen den Palast, den sich Fürst Menschikow hatte bauen lassen. Nach dem Sieg von Poltawa gegen die Schweden hatte Peter seinem Günstling die größte Insel im Newa-Delta, die Wassi-lewskij-Insel, geschenkt, und auf ihr, am Newa-Kai, war nach den Entwürfen des deutschen Architekten Friedrich Schädel ein dreistöckiger Palast ganz aus massivem Stein entstanden, mit einem Dach aus weithin leuchtenden, rot lackierten Eisenplatten und einer so riesigen Haupthalle, daß künftig die großen Feste und Bälle von Petersburg nur mehr in ihr stattfinden konnten. Der Menschikow-Palast blieb bis zu Peters Tod das größte Privathaus der immer glänzender und schöner werdenden Stadt.
Für Peter war dieser Prunk seiner Umgebung nur nützlich, wenn er Empfänge gab. In seinem» Winterpalais «konnte er das kaum… um die Symmetrie der Uferstraße nicht zu unterbrechen, hatte er seinen Holzbau den anderen Häusern ai-gleichen lassen, was bedeutete, daß auf allen Stockwerken große, hohe Räume entstanden waren, die den Zaren störten. Er, der Zwei-Meter-Riese, fühlte sich nur wohl in niedrigen Räumen, wie er sie in Holland bei seiner Tätigkeit als Zimmermann der Schiffswerften kennengelernt hatte. Er ließ also in allen Zimmern, die er bewohnte, eine niedrigere Zwischendecke einziehen… hier lagen in dem Hohlraum zwischen der echten und der falschen Decke oft seine Spitzel auf den Holzdielen und belauschten die Gespräche der Besucher, die in zwei Vorzimmern auf eine Audienz beim Zaren warteten. Auf diese Art erfuhr Peter I. so manche Wahrheit oder Meinung, die man vor ihm nicht auszusprechen wagte.
Das Bernsteinzimmer in diesem Winterpalais? In einem Holzhaus? Ein Haus, das brennen konnte wie trockenes Reisig?! Wachter kratzte sich den Haaransatz, ging in den Beamtenbau und fand Adele damit beschäftigt, die Taschen und Kisten auszupacken. Drei Kammermädchen halfen ihr dabei, vom Haushofmeister selbst dazu abkommandiert. Die Kunde, daß der neue Deutsche hoch im Wohlwollen des Zaren stand, hatte sich in Windeseile bei den Höflingen herumgesprochen. Das Speichellecken begann, und natürlich auch der Neid.»Welch eine Stadt«, sagte Wachter und setzte sich auf einen Diwan im Wohnzimmer. Die Zimmer hatte man ihnen voll eingerichtet übergeben, mit schönen Möbeln, die Adele in Berlin sonst nur bei den Hofdamen gesehen hatte, bei den adeligen Damen, vor denen sie immer einen tiefen Knicks gemacht hatte. Jetzt sollte sie in diesem kleinen Luxus leben. Mit klopfendem Herzen war sie von Zimmer zu Zimmer gegangen, hatte die Möbel und die Bezüge gestreichelt, Damaste, Gobelins und Seiden, sogar gute Teppiche lagen auf den Dielen, einige Ikonen hingen an den Holzwänden, ein Bild des segnenden Christus, und in der Küche war alles vorhanden, was eine Hausfrau brauchte, vom Wassertopf bis zum Schöpflöffel.»Welch eine Wohnung, Fritz«, rief sie glücklich.
«Wo ist Julius?«
«Im Garten spielt er mit Moritz. «Sie drehte sich einmal um sich selbst, wie eine Tänzerin, es wäre grazil gewesen ohne ihren schweren Leib.»Alles ist so groß, so weit, so hoch…«»Wie dieses Land, Deichen. Unendliche Erde unter einem hohen Himmel. Petersburg kann einmal schöner werden als Paris, wenn der Zar es weiterhin so ausbaut. Gärten sollen entstehen, große Parks, breite Straßen, und dann die Kathedralen, Deichen, Paläste zur Ehre Gottes, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat! Wir werden nie bereuen, Berlin verlassen zu haben.«
«Laß uns darum beten, Fritz. «Sie setzte sich neben ihn auf den Diwan und legte den Arm um seinen Nacken.»Weißt du, wie sie mich schon rufen?«
«Ja. Adele Iwanowna…«Er lachte, als sie ihn verblüfft anblickte, küßte sie zwischen die Augen und rief fröhlich:»Ja, das bist du. Meine schöne, meine einzige Adeluschka… Wie das klingt! Adeluschka… Adelinka… Adjuschka!«
«Ich sehe, du wirst ein Russe, Fritz.«
«Nur äußerlich, Adelinka. Nur äußerlich. Im Herzen bleiben wir Wachters immer Preußen.«
Schon zwei Tage später, die Kisten mit dem Bernsteinzimmer standen sicher in den Stallungen, ließ Wachter sich bei dem Haushofmeister melden.
Es war ein Graf Wladimir Viktorowitsch Kubassow, ein völlig anderer Mensch als der Hofmarschall Fürst Netjajew, der Wachter an der Kurlandgrenze den Transport aus der Hand genommen hatte. Der Weg durch Schnee, Matsch und Schlamm von Memel bis Petersburg war mühsam gewesen, drei Pferde gingen dabei ein, vier Schlitten und zwei Fuhrwerke brachen zusammen, weil Netjajew eine Eile befahl, als ginge es um ein Wettrennen. Erschrocken sah dabei Wachter zum ersten Mal, daß ein Leibeigener oder ein anderer niederer Mensch in Rußland nicht mehr galt als ein Tier. Als die Schlitten brachen oder auf besonders aufgeweichten Wegabschnitten Kufen und Räder versanken, sausten die Peitschen nicht nur über die schmerzhaft wiehernden Pferde, sondern auch über die Rücken, Schultern und Köpfe der Kutscher und Fuhrleute. Viele saßen dann blutend auf ihren Böcken, aber keiner wagte auch nur einen Ton zu sagen. Wachter ahnte, daß Netjajew den Mann zu Tode peitschen oder pfählen hätte lassen können.
Kubassow empfing Wachter wie einen Freund… die Gunst des Zaren hob ihn hoch über alle anderen. Wie hatte einst Men-schikow angefangen? Als Stallbursche. Jetzt war er Fürst, überhäuft mit anderen Titeln und einem unschätzbaren Reichtum, Generalgouverneur von Petersburg, ein so enger Freund des Zaren, daß man ihn mehr fürchtete als den Zaren selbst. Wußte man, was einmal aus diesem Deutschen werden würde? Am Hofe und im ganzen Land gab es genug Generäle, Kämmerer und Auserwählte, Architekten wie Ärzte, Astronomen wie Physiker, die aus dem Ausland gekommen waren, die meisten aus Landen mit deutscher Zunge.
«Ja, wohin mit ihm, dem Bernsteinzimmer?«sagte Kubassow, als Wachter ihn gefragt hatte, welcher Raum dafür geeignet sei.»Wohin? Wie sagt Ihr, sind die Maße?«
«4,75 Meter hoch, und an Wandfläche brauche ich vierzehn Meter. Es sind zwölf Wandfelder, 0,80 bis 1,50 in der Breite, genau wie die Sockelstücke. Dazu kommen zwei Türen mit Gesimsen bis zur Decke.«
Die Zahlen schienen Kubassow schwindelig zu machen.»Weiß das der Zar?«fragte er betroffen.
«Er hat das Zimmer in Berlin gesehen und brach in Begeisterung aus.«
«Was soll man tun? Im ganzen Palais gibt es nicht solch einen Raum! Man müßte ihn erst bauen, Zimmer zusammenlegen, die Decken erhöhen.«
«Das müßte man wirklich tun. Sofort. Denn der Zar wünscht…«
Graf Kubassow ließ Wachter nicht ausreden. Wenn dieser sagte, der Zar wünsche es, dann war es ein Befehl, als käme er vom Zaren selbst. Ein kaiserlicher Haushalt besteht nicht nur aus Mobiliar in einem Palast, sondern auch aus vielen Ohren, die alles hören. So wußte Kubassow von Wachters Vollmachten, schon bevor er mit ihm gesprochen hatte.
«Sehen wir uns an, was ich vorschlagen kann«, sagte er.»Wo soll das Bernsteinkabinett stehen?«
«In der Nähe der Zaren-Zimmer.«
Kubassow seufzte, erkannte die großen Probleme, die auf ihn zukamen, und führte Wachter dann durch das Palais. Zwei Räume fanden sie, von denen Wachter sagte, sie seien geeignet für das Geschenk des Königs von Preußen. Im ersten Stockwerk lagen sie, mit zwei großen Fenstern hinaus zur Newa. Das Licht fiel voll herein, so daß der Bernstein in der Sonne leuchten konnte und seine ganze Schönheit entfalten würde, und leicht ließen sich die Wände herausnehmen und die Decken auf das nötige Maß erhöhen, da auch hier eine Zwischendecke eingezogen war.
«Das ist es!«sagte Wachter und drehte sich ein paarmal um
sich selbst, alles genau betrachtend.»Hier kommt es hin.«»Gleich neben den Gemächern der Zarin?«Kubassow wiegte den Kopf.»Der Lärm des Umbaues — «
«Nur ein paar Wochen sind's… der Schönheit willen wird's die Zarin dulden.«
Schon einen Tag später begannen die Arbeiten. Kubassow hatte mit Katharina, der Zarin, gesprochen. Sie war in den ausgewählten Räumen erschienen, hatte den sich tief verneigenden Wachter lange und eingehend gemustert und ihn dann in ihren Haushalt aufgenommen.
Eine dralle, vollbusige Frau war sie, mit sinnlichen Lippen und einer fröhlichen Stupsnase. Breite rote Wangen bestimmten ihr Gesicht, und sie hatte einen kräftigen Körper, was ihr bei den vielen Geburten zugute kam.
Bei der Belagerung von Marienburg, das in schwedischer Hand war, hatte General Scheremetjew sie zum ersten Mal gesehen… die Magd eines geflohenen sächsischen Pastors mit Namen Glück, mit der er Weiterreisen wollte nach Moskau, und die nicht genau wußte, wie sie hieß, da sie nie ihren Vater kennengelernt hatte.»Wer ich bin?«hatte sie gesagt, als Scheremetjew sie nach ihrem Namen fragte.»Einmal heiße ich Katharina Wassilewska, einmal Katharina Trubatschow. Mir ist gleichgültig, wie ich wirklich heiße. Ist's wichtig bei der Arbeit? Ich putze, koche, backe, schenke aus und bediene, wasche und bügle, halte den Garten in Ordnung und versorge den Stall.«
«Und läßt dich jede Nacht mit den Kerlen ein…«hatte der General gerufen.
«Das nicht. Deshalb bin ich geflohen aus Marienburg. Die schwedischen Soldaten ziehen durch die Stadt und greifen nach jedem Mädchen. «Sie hatte den General flehend angesehen und dann hinzugefügt:»Laßt uns weiter nach Moskau, Herr. Ich will dort meinem Pastor den Haushalt führen.«
Nicht nach Moskau kam sie, sondern nach Petersburg. General Scheremetjew nahm sie mit, damit sie seine Hemden bügelte. So kam Katharina Wassilewska — für diesen Namen entschied sie sich —, die Tochter eines ihr unbekannten Leibeigenen und einer Wirtshausmagd aus Litauen, nach Petersburg in den Haushalt des Generals. Dort sah sie bei einem Besuch der mächtige Menschikow. Sie stand gerade auf der Leiter, putzte die Fenster, und Menschikow, der Frauenkenner, sah sofort ihre schöne Gestalt, ihre Füße und Waden, ihre Taille und die vollen weißen Brüste, und sie lachte ihn keck an, als er sie so aufmerksam musterte.
Scheremetjew, immer bedacht, ein Freund des großen Menschikow zu bleiben, schenkte ihm Katharina. Nun bügelte sie die Hemden des Fürsten, zerknitterte des Nachts seine Bettlaken, eine Kriegsbeute, wie Scheremetjew sie genannt hatte, wie sie nicht schöner, lieblicher und dreister sein konnte.
Bei Fürst Menschikow sah sie der Zar. Ohne viel Worte lieh er sich die Magd aus, und als Menschikow sie nach zwei Wochen von Peter zurückerbat, ließ der Zar mitteilen, daß Katharina noch so viele Hemden auszubessern und zu bügeln habe, daß er sie bei sich behalten wolle.
Nun war sie die mächtige Zarin, verheiratet mit Peter I, und der vielleicht einzige Mensch, der es wagte, anderer Meinung als er zu sein, die einen hellen Verstand besaß und zu vernünftigen Ratschlägen in der Lage war. Für ihren Mann strickte sie selbst wollene Strümpfe, verlangte nie etwas Ungewöhnliches von ihm, lebte bescheiden mit ihm in Holzhütten, kochte, trocknete Peters Seemannswäsche, fuhr mit ihm über das Meer bei Petersburg, war immer das einfache Mädchen geblieben, auch als sie die Zarin geworden war. Aber es gab auch die andere Katharina in seidenen, mit Perlen und Edelsteinen bestickten Roben, mit einem Hofstaat von Fürstinnen, Gräfinnen und besonders hübschen Hofdamen, der Glanz aller Feste war sie, und wenn im Palast des Menschikow die prunkvollen Empfänge und im Garten die herrlichen Feuerwerke, die Peter so liebte, stattfanden, dann neigte Fürst Menschikow das Haupt vor seiner ehemaligen Magd und erkannte sie als Zarin an.
Bei Wachter erschien Katharina in einem schlichten Kleid, so wie sie es immer trug, wenn Peter und sie keine offiziellen Verpflichtungen hatten. Wie eine Arbeiterfrau sah sie aus, durch die Geburten etwas dicklich geworden, mit wachen, alles sehenden Augen.
«Er will hier umbauen?«fragte sie Wachter.»Das Bernsteinkabinett aufstellen? Der Zar hat mir von dem Zimmer erzählt. Wie sieht es aus?«
«Das kann man nicht erklären, das muß man sehen, Majestät. Hier versagen Worte.«
«So schön?«
«Es ist die Sonne, eingefangen in Tausenden goldenen Steinen.«
«Dann baue Er das Zimmer. «Katharina nickte Wachter zu.»Über Schönheit kann Er jederzeit mit mir sprechen.«
Am vierten Tag des Umbaues, nachdem die Wand herausgerissen war und es nun daranging, die Zwischendecken aus Holz abzunehmen und die Wände mit Holz zu verkleiden, erschien der Zar auf der Baustelle. Eine fleckige Arbeiterhose trug er, darüber ein dunkelblaues grobes Hemd, und eine Lederschürze hatte er sich umgegürtet, die ebenfalls voller Flecke war. In den großen breiten Händen trug er Hobel und Stecheisen, Feilen und eine Säge. Im Bindeband der Schürze staken drei Hämmer, eine kleine Meßlatte und ein kegelförmiger Senkel.
«Welch eine faule Brut arbeitet hier?«schrie er mit seiner Donnerstimme.
«Zeigen werd ich's euch, was ein Zimmermann kann! Geht nach Holland und lernt, ehe ihr ein Brett anpackt! Fjodor Fjo-dorowitsch…«
«Hier bin ich, Majestät. «Wachter trat auf den Zaren zu.
«Er ist der Vormann. Zeig Er mir, was ich zu tun habe!«Er warf sein Werkzeug auf den Boden und rieb sich die Hände.»Zier Er sich nicht, mir Arbeit zuzuweisen. Ich bin wieder Peter, der Zimmermann. Gott sei mein Zeuge… ist das schön!«Zwei Wochen arbeitete der Zar als Zimmermann am Ausbau des Bernsteinzimmers mit, jeden Tag drei Stunden. Und er verstand sein Handwerk besser als die Schreiner, die unter den besten von Petersburg ausgesucht worden waren. Zu seinem Werkzeug kam nun auch noch seine geliebte Dubina hinzu, das gefürchtete spanische Rohr mit dem selbstgeschnitzten Elfenbeinknopf. Wie oft tanzte der Knüppel auf den Rücken der anderen Schreiner herum, wenn Peter einen krummen Nagel entdeckte, ein schiefes Brett, keine senkrechten Fugen oder winkelige Zusammenfügungen, die er Gehrung nannte.
«In Holland hätte man euch alle ersäuft wie blinde Katzen!«brüllte er herum.»Und solche Idioten wollen meine Stadt bauen? Zusammenfallen wird sie, das sehe ich schon! Ihr alle werdet am Galgen enden, auf den Pfählen, auf dem Rad, unter den Peitschen!«
Ein schreckliches Arbeiten war es, aber sieh da… schon nach elf Tagen waren die Zimmer so umgebaut, daß sie einen einzigen Saal ergaben, genau in den Maßen, die das Bernsteinzimmer verlangte. Die großen Kisten in den Stallungen wurden geöffnet, die Tafeln, Figuren, Sockel, Gesimse, Reliefe und Bordüren vorsichtig freigelegt, und es zeigte sich, daß nichts zerbrochen war, daß der schwere Weg von Berlin nach Petersburg schadlos überwunden worden war.
«Vorsichtig!«rief Wachter immer wieder, als das einmalige Getäfel vom Stall in das Palais getragen wurde.»Vorsichtig! Bis jetzt hat es gehalten, stellt euch nicht an wie die Dummköpfe…«
«Meint Er mich damit?«fragte Peter I. Er trug auf seiner Schulter ganz allein ein großes Sockelstück, an dem sonst drei Mann geschleppt hätten. Seine Kräfte waren ungeheuer.»Majestät…«Wachter schlug die Hände zusammen.»Natürlich die anderen!«
«Sag Er nur, wenn ich mich dumm anstelle. «Der Zar tappte weiter mit seinem Sockel.»Er bekäme die Knute, wenn Er mir nicht die Wahrheit sagt!«
Am Abend ging Wachter erschöpft nach Hause. Aus der Küche roch es nach Sauerkohl und geräucherter Schweinehaxe. Adele saß an dem großen, gemauerten Herd, lehnte an einem Stützbalken und hatte die Augen geschlossen. Moritz, der Höllenhund, saß vor ihr und winselte leise.
«Adjuschka, was hast du?«Die vergangenen Wochen hatten genügt, soviel Russisch zu lernen, daß er nun ganze Sätze aussprechen konnte. Vor allem auf russisch fluchen hatte er gelernt, abgehört von den Handwerkern, wenn sie sich beschimpften. Er umfaßte Adele, streichelte sie und spürte, wie sie schlaff in seinen Armen lag.
«Es war zuviel, Fritz…«sagte sie, fast unhörbar.»Das Meer, die Schlitten…«Sie legte die Hände auf den gewölbten Leib und starrte Wachter flehend an.»Das Kind… ich spüre es nicht mehr… es bewegt sich nicht mehr… es ist alles so still in mir… Ich habe Angst — «
Angst hatte auch Wachter, als er den Zustand seiner Frau sah.»Den Arzt hole ich!«sagte er und wußte sonst keine Worte, die sie trösten konnten.»Leg dich hin, Delchen, lieg ganz still… es ist bestimmt nichts Schlimmes.«
Der Zweite Hofarzt, ein Benjamin van Rhijn aus Amsterdam, den Peter I. bei seiner letzten Reise 1716 mitgenommen hatte, wollte Wachter erst an einen normalen Medicus verweisen, wurde dann aber sehr zuvorkommend, als er hörte, daß der Zar diesem Deutschen viele Sonderrechte eingeräumt hatte. Als Wachter in seine Wohnung zurückkam, lag Adele fiebernd auf dem Bett, mit glühendem Kopf, geschwollener Zunge und schien nicht mehr zu begreifen, was um sie herum vorging. Julius saß an ihrem Bett mit weiten, angstvollen Augen und betete stumm.
«Die Mama…«stammelte er, als Wachter uid der Arzt ins Zimmer stürzten.»Die Mama…«
Es war, wie Adele schon befürchtet hatte: das Kind in ihrem Leib war gestorben, das Leichengift floß bereits durch ihre Adern. Dr. van Rhijn setzte sich auf die Bettkante und sah zu Wachter hinauf.
«Hier kann nur Gott helfen — «sagte er betroffen.
«Gott ist nicht hier, aber Ihr seid da. Tut etwas! Rettet sie! Wozu habt Ihr studiert, wenn Ihr nur herumsitzen könnt und klagt. Rettet sie…«
Dr. van Rhijn nickte.»Tücher brauche ich«, sagte er.»Viel heißes Wasser, große Schüsseln und Eimer. Ob es gelingt, ich weiß es nicht.«
Drei Stunden arbeiteten sie gemeinsam an Adeles Körper und kämpften gegen den Tod. Sogar Julius, der Elfjährige, half tapfer, wenn auch weinend mit, schleppte Wasser, trug die blutigen Tücher weg, spülte die Schüsseln aus und starrte auf seine Mutter, als könne sein Blick den Tod verjagen. Fürchterlich war es, was Dr. von Rhijn tat, aber es war die letzte Möglichkeit, Adeles Leben zu retten. Mit langen Zangen holte er das tote Kind stückweise aus dem Körper. Ein Mädchen war's, wie die Hebamme in Berlin es vorausgesagt hatte. Das faulende Fruchtwasser saugte er ab, ließ Adele zur Ader und rieb die Ohnmächtige mit kalten rauhen Tüchern ab, mischte verschiedene Pulver und Flüssigkeiten zusammen und füllte sie in eine dunkle Flasche.
«Das muß sie trinken«, sagte der Arzt und sank erschöpft auf einen Stuhl.»Fünfmal am Tag fünfzig Tropfen in Wasser. «Er blickte zur Seite auf die noch immer ohnmächtige Wachterin. Farblos war ihr Gesicht geworden, eingefallen die Backen und die Augenhöhlen. Auf ihrem Leib lagen jetzt mit kaltem Wasser getränkte Tücher, ein scharfer Alkoholgeruch war im Zimmer — zum Schluß hatte Dr. von Rhijn noch den ganzen Körper mit starkem Wodka eingerieben.»Mehr kann ich nicht tun. «Er blickte Wachter mit müden Augen an.»Jetzt können wir wirklich nur noch auf Gott hoffen…«
«Ihr habt keine Hoffnung mehr?«
«Was soll man da sagen?«Dr. van Rhijn wischte sich über das Gesicht.»Es ist das erstemal, daß ich solch eine Operation gemacht habe.«
Am nächsten Tag begann man, die erste Bernstein wandtafel an die neue Unterkonstruktion zu befestigen. Der Zar war natürlich wieder dabei in seiner Zimmermannskleidung, davon begeistert, mitarbeiten zu können und bis in die Seele entzückt von diesem» Wunder aus Bernstein«, das ausgebreitet vor ihm auf den Dielen lag. Er war der einzige, der frohgelaunt war. Die Schreiner- und Bernsteinmeister fürchteten seinen Zorn und schielten immer wieder auf das spanische Rohr, das in einer Zimmerecke stand, und Wachter tappte übermüdet und mit geröteten Augen umher und starrte ab und zu wie abwesend aus dem Fenster.
«Was hat Er?«fragte Peter I.»Ist er krank? Wie sieht Er aus… Augen wie ein Kaninchen, ein welker Hals…«
«Meine Frau ist sehr krank, Majestät… Ein Kind hat sie verloren…«
«Das kenne ich. Dafür wird ein neues kommen…«
«Im Mutterleib ist es gestorben, hat den Körper vergiftet. Der Medicus hat das Kind entfernt…«
«Welcher Medicus?«fragte der Zar plötzlich mit lauter Stimme.
«Der Zweite Hofarzt, Dr. van Rhijn…«
«Her mit ihm!«brüllte Peter I. in höchstem Zorn.»Hierher, sofort!«Die Tür riß er auf und schrie in den Gang, wo einige Lakaien warteten.»Herbringen, den Zweiten Medicus! Hier in das Bernsteinkabinett!«
Nach zehn Minuten schon erschien Dr. van Rhijn in der Tür. Seine lederne Arzttasche hatte er bei sich, im Glauben, der Zar habe sich bei der Arbeit verletzt. Aber sofort erkannte er den Irrtum, als Peter wie ein tobender Riese auf ihn zuging.»Was hat Er getan?!«brüllte er.»Operiert, ohne mir ein Wort zu sagen? Weiß Er nicht, was alle Spitäler der Stadt wissen? Kennt er nicht meinen Befehl, mir jede ungewöhnliche Operation zu melden und zu warten, bis ich ihm assistiere?! Hat Er nie gehört, daß ich von Holland das beste chirurgische Besteck mitgebracht habe?! Er Lump, Er verdammter?!«»Majestät — «Dr. van Rhijn senkte den Kopf. Er wollte vor dem Zaren auf die Knie fallen, aber das hätte Peter noch mehr erzürnt. Einen kriechenden, um Gnade bettelnden Mann verabscheute er.»Es war zu eilig…«
«Nichts ist so eilig, als daß man mir ein Wort sagt! Er hat operiert, ohne mich zu rufen. In meinem Haus! Weiß Er, was Er verdient hat?«
«Majestät…«
«Zwanzig Schläge mit der Knute! Er melde sich beim Exekutor, oder soll ich Ihn hinschleifen lassen? Hinaus! Und komme Er wieder und zeige Er mir seinen blutigen Rücken — «
Wie gebrochen wankte Dr. van Rhijn aus dem Bernsteinzimmer, lehnte sich draußen an die Wand und weinte. Ein Page trat zu ihm… was der Zar im Zimmer gebrüllt hatte, war auf den Fluren gut zu hören gewesen.
«Weint nicht, Medicus«, sagte der Page voll Mitleid.»Was sind schon zwanzig Schläge? Man kann sie überstehen. Kommt, ich führe Euch zur Strafkammer. Dort habt Ihr's besser, als wenn der Zar Euch selbst verprügelt.«
Im Bernsteinzimmer herrschte ängstliches Schweigen. Peter stand am Fenster, sein Gesicht zuckte wieder, der nervöse Krampf verzerrte sein Antlitz zu einer Fratze, die einen erstarren ließ. Woher Wachter den Mut nahm, er wußte es hinterher nicht mehr zu erklären. An den Zaren trat er heran, stellte sich dicht hinter ihn und sagte leise:
«Warum wird der Medicus bestraft? Vielleicht hat er meiner Frau das Leben gerettet…«
Der Zar drehte sich nicht um. Zum Fenster hin knurrte er:»Sei Er still, Fjodor Fjodorowitsch! Noch nicht lange genug ist Er in Rußland. Wissen muß Er, daß nur ein Wort gilt: das des Zaren! Ist es bei Seinem König anders?«
«Nein, Majestät.«
«Also bezwinge Er sich und widerspreche Er nicht Seinem Zaren.«
Kurz danach betraten Peter I. und Wachter die Beamtenwohnung, und der Zar ging sofort in das Schlafzimmer. Adele lag graubleich im Bett, aus der Ohnmacht erwacht war sie, aber zu schwach, um ein Wort hervorzubringen. Als sie den Zaren erkannte, der sich über sie beugte, wurden ihre Augen weit, ihre Lippen bewegten sich, und in den Mundwinkeln tauchte ein Zucken auf. Julius stand auf der anderen Seite des Bettes, starrte den Zaren an und hielt das nasse Tuch mit beiden Händen umklammert, das er gerade seiner Mutter vom Leib gezogen hatte, um es zu wechseln.
«Sie wird es überstehen«, sagte Peter I. Ein väterlicher Ton war in seiner Stimme.»Ich kenne Sterbende… Sie sieht anders aus. Habe Sie nur Mut und einen starken Glauben.«
Ganz leicht bewegte Adele den Kopf… sie nickte. Der Zar richtete sich wieder auf und warf einen Blick auf Julius, der immer noch erstarrt die Tücher an sich drückte.
«Ist das Sein Sohn, Fjodor Fjodorowitsch?«fragte er dann.
«Ja, Majestät. Bisher mein einziger. Das zweite Kind hat mir nun das Bernsteinzimmer genommen.«
«Ein braver Bursche. Was soll er später werden?«
«Mein Nachfolger wird er sein, das Bernsteinzimmer pflegen.«»Er wird Ihm würdig sein, Wachterowskij. «Der Zar griff in die Tasche seiner Zimmermannshose, aber da war nichts als Nägel und Klammern. Was hatten Kopeken oder Rubel auch dort zu suchen?» Du bekommst zehn Rubel von mir«, sagte Peter I.»Dein Vater bringt sie dir morgen mit. Wie heißt du?«»Julius…«stotterte der Junge.
«Julian Fjodorowitsch. Natürlich, ich hab's vergessen. Zehn Rubel. Was wirst du damit tun?«
«Ein Buch kaufen über das Wissen eines Medicus.«
«Bei Blitz und Donner, das ist eine kluge Antwort. «Der Zar wandte sich zu Wachter um und klopfte ihm auf die Schulter. Wachter war es, als zerbräche sein Schulterblatt.»Stolz kann Er sein auf Seinen Sohn. Er bleibt jetzt hier bei Seiner Frau. Die Bernsteintafel werden wir auch ohne Seine Hilfe an die Wand bekommen.«
«Sie darf mit dem Untergrund keine Spannung haben, Majestät.«
«Ich habe Schiffe gebaut, Schiffe für alle Meere. Traut Er mir da nicht zu, eine Wandtafel anzubringen?!«
Der Zar nickte Adele noch einmal zu, warf einen wohlwollenden Blick auf den Jungen und verließ dann die Wohnung. Erst als die äußere Tür zufiel, rührte sich Julius. Er sah sich suchend um und schüttelte den Kopf.
«Wo ist Moritz?«
«Unterm Bett. «Wachter lachte leise.»Selbst er hat Angst vor dem Zaren.«
«Ich habe keine Angst vor dem Zaren!«sagte Julius.»Er ist ein böser Mann… aber mich hat er angeblickt wie einen Freund. «Er hob die Laken hoch und sah seinen Vater strahlend an.»Papa… wir müssen die Tücher wechseln.«
Adele Wachter überlebte. Ein Wunder war's… oder doch die ärztliche Kunst von Dr. van Rhijn? Nach fünf Tagen stand sie zum ersten Mal auf, schwankte, auf Julius gestützt, einmal durchs Zimmer und legte sich dann, vor Schwäche zitternd, wieder hin. Aber ihr Gesicht hatte wieder Farbe bekommen, sie aß, ganz langsam schluckend, eine kräftigende Suppe aus Rindsbouillon mit kleinen, geringelten Nudeln, die der Hofkoch hinüber ins Beamtenhaus bringen ließ.
Der Zar war selbst dabei, als Adele zum ersten Mal das Bett verließ, und sagte tadelnd, als Adele, kaum daß sie die Beine auf den Dielen hatte, einen tiefen Knicks versuchte, bei dem sie umgefallen wäre, wenn Julius sie nicht aufgefangen hätte:»Laß Sie den Unsinn, Adele Iwanowna! Ich bin nicht der Zar… ich bin der Zimmermann Pjotr Alexejewitsch. Draußen ist Frühling, die Bäume beginnen mit der Blüte, die Wildgänse sind zurückgekommen, die Störche fliegen ein, und das Meer leuchtet wie Silber. Wenn Se kräftig genug ist, schicke ich eine Kutsche, und Sie fährt übers Land und erholt sich in der Sonne. «Er zögerte und fügte dann hinzu:»Der Amsterdamer Medicus ist belohnt worden. Zum Leibarzt habe ich ihn ernannt. Ist Sie zufrieden mit mir?«
«Majestät…«stammelte Adele und hielt sich an ihrem Sohn fest.»Wie kann ich Ihnen danken?«
«Indem Sie nach angemessener Zeit vergißt, was gewesen ist, und sich nach einem neuen Kind sehnt. Sie ist eine tapfere, schöne Frau…«
So war es. Eine Woche später — der Aufbau des Bernsteinzimmers war zur Hälfte vollendet — fuhr eine kaiserliche Kutsche vor mit einem uniformierten Leibkutscher, und hinter dem Aufbau standen zwei Pagen zur Bedienung. Es war, als fahre eine Fürstin aus.
Petersburg im Frühling… ein Wirklichkeit gewordenes Märchen.
Adele weinte vor Glück und vor Ergriffenheit vor soviel Schönheit, als sie am jenseitigen Ufer der Newa stand und hinüberblickte auf die in der Sonne leuchtende Stadt, auf die Türme und Dächer, die Paläste und Häuser, die Kanäle und breiten Straßen. Und sie legte den Arm um Julius und sagte:»Mein Junge, das ist wirklich unsere Heimat. Vergiß es nie!«Die Einweihung des wiederaufgestellten Bernsteinzimmers nahm der Zar allein vor. Diesmal waren seine Narren und Zwerge nicht dabei, wie sonst bei den Festen, wo sie tanzten und purzelten, sangen, deklamierten und die Gäste verspotteten. Am Hofe wurden die über sechzig Spaßmacher wie Haustiere gehalten, die der Zar liebte und verhätschelte, die aber unter Anführung seines Lieblings zwerges Lewon Uskow nicht nur harmlose Spaße trieben, um die Geladenen zu erheitern. Sie waren vor allem seine Beobachter und Spione, die auch alle Schwächen, Verfehlungen, Veruntreuungen, Lügen und Diebstähle der Würdenträger bei Hofe auskundschafteten und diese dann wie fröhliche Geschichten erzählten, während der Zar die Betroffenen scharf musterte, wie sie darauf reagierten. Im Bernsteinzimmer hingegen saß er ganz allein auf einem geschnitzten, vergoldeten Stuhl in der Mitte des» Sonnenzimmers«, schwieg, blickte wie in unendliche Weiten und schien sein bisheriges Leben zu überdenken… den schier ewig währenden Krieg gegen Schweden, die bisher über 300 000 Gefallenen, die vielen Enthaupteten, Geräderten und Gepfählten, die Gefolterten und zu Krüppeln Geschlagenen, die schleimigen Günstlinge und die willigen, lüsternen Mätressen. Der Zarewitsch war nach Österreich geflohen, um zu saufen und zu huren und sich als Werkzeug einer Verschwörung gegen seinen Vater mißbrauchen zu lassen. Er dachte vielleicht an die schöne Zeit in Holland und Frankreich, die ihm viele Erfahrungen und einen Tripper eingebracht hatte, der trotz Behandlung durch die Leibärzte Dr. Blumentrost, einem Deutschen, und Dr. Paulson, einem Engländer, immer wieder ausbrach, oder auch an die wilden Saufgelage, die er manchmal veranstaltete, bei denen Huren in solchen Scharen zu Diensten waren, daß Dr. Blumentrost eines Tages zu ihm sagte:
«Majestät, schonen Sie sich. Geben Sie Ihr ausschweifendes Leben auf.«
Und Peter hatte ihn angebrüllt:»Esel seid Ihr! Alle Esel!«
Bei der dritten Warnung hatte er Blumentrost und Paulson mit der Dubina verprügelt, so arg, daß sie von da an schwiegen und nur sorgenvoll das Wachsen seiner verschiedenen Krankheiten beobachteten: die schweren Beine, die Nieren- und Blasenschmerzen, die Harnsteine, die immer häufiger auftretenden Krämpfe, das Schwanken zwischen Bärenstärke und schlaffer Bettruhe.
Und an Katharina, seine Frau, dachte der Zar in dieser einsamen Stunde im neuen Bernsteinzimmer, an die Frau, die einmal Dienstmagd gewesen war, und jetzt, trotz aller wechselnder Mätressen, der Ruhepol seines Lebens geworden war, die Frau, die er liebte und zur Kaiserin gemacht hatte, die ihm treu war — das glaubte er unerschütterlich — und bei der er ein Mensch und nicht nur der gefürchtete Zar sein konnte.
Welch ein Leben lag hinter ihm — und welch ein Leben hielt die Zukunft noch für ihn bereit?
Ab und zu hob er den Kopf, ließ den Blick über die Bernsteinmosaike, die Sockel, Schnitzereien, Figuren, Masken, Bordüren und Gesimse gleiten: eine in der Sonne vom weißlichen Gelb bis zum Braun schimmernde, ihn umschließende, eigene Welt. Und er spürte, wie sich die Unruhe in ihm legte und dieses Zimmer seine heimliche, seelische Beichtkammer werden konnte. Hier, von tausendfältigen Strahlen umgeben, konnte er sich vor sich selbst offenbaren und ehrlich gegen sich selbst sein.
Nach gut einer Stunde riß der Zar die Tür auf und winkte den draußen wartenden Wachter hinein.
«Begreif Er eins — «sagte er sehr ernst —»das hier ist mein Zimmer. Niemand anderes darf hinein! Nur wenn ich es befehle.«
«Auch nicht die Zarin, Majestät?«fragte Wachter.
«Sie darf… aber sie wird nicht. Nur ich und Er… und ich schicke Ihn nach Sibirien zu den Wölfen, wenn ein Fremder dieses Zimmer betritt.«
Der Zar ging zum Fenster, blickte hinaus über die Newa und die Kanäle und Inseln, über die herrliche Stadt, die sein Werk war, herausgestampft aus einem sumpfigen, modrigen Boden, und sagte mit leiser Stimme:
«Umgeben bin ich von Arschleckern, Heuchlern, Intriganten, Verrätern, Dieben, Mördern, Postenjägern und Ehrgeizlingen. Fürchterlich ist es…«
«Jagt sie alle weg, Majestät.«
«Und dann? Die dann Kommenden sind nicht besser. Eine Hydra ist's… einen Kopf schlägt man ab und zwei neue wachsen nach! Habe ich Freunde? Ist Menschikow mein Freund? Schafirow? Dolgorukij? Trubezkoj? Romodanowskij? Ich weiß es nicht. Jeder würde mich verraten, wenn es ihnen nützt. Fjodor Fjodorowitsch, Er wird mich nie verraten.«
«Nie, Majestät. «Wachter trat neben den Zaren ans Fenster.»Schlagt mir den Kopf ab beim geringsten Verdacht.«
«Ein guter Mensch ist Er. Er und Seine Familie. Sein Sohn ist, wie ich gern einen Sohn gehabt hätte. Aber das Schicksal hat mir einen Schwächling, Säufer und Verräter beschert. Wachterowskij, sei Er mein heimlicher Freund. Ich weiß, Er begehrt nichts von mir, kein Amt, kein Fürstentum, keinen Palast, keine Armee, keine Weiber… er ist nur da für das Bernsteinzimmer. Und ich will, daß Er auch da ist für mich. Bei Ihm will ich mich aussprechen und sagen, was keine anderen Ohren hören sollen. Hier in diesem Zimmer. Er soll der Trog sein, in den ich mein Herz ausschütte. Aber wehe, wehe Ihm, wenn ein einziges Wort davon bekannt wird. Auch bei seinem Weibe nicht.«
«Ich schlucke Ihre Sorgen in meine Seele, Majestät. Mit mir sterben sie.«
Der Zar nickte, legte den Arm um Wachter, küßte ihn auf beide Wangen und verließ dann das Bernsteinzimmer. Draußen im Flur hörte man ihn wieder mit den Höflingen brüllen. Zwei Zaren gab es jetzt in Petersburg: Peter den Großen, den mächtigsten Herrscher Europas, und Peter Alexejewitsch Romanow, der immer morscher werdende Riese, der in seinem Bernsteinzimmer allein Gericht über sich selbst hielt. Welch ein Zwiespalt, von dem die Welt nie etwas erfahren würde!
Das Jahr ging vorüber, Adele war wieder schwanger, Julius, unterrichtet von dem deutschen Lehrer Georg Thorfeld aus Hannover, las mit glühenden Wangen medizinische Bücher und begleitete Dr. van Rhijn oft zu den Kranken.
Ein ruhiges, schönes Leben wäre es gewesen, wenn nicht am 21. Januar 1718 der nach Österreich geflüchtete Zarewitsch Alexej nach Rußland zurückgekehrt wäre. Eine List Peters hatte ihn aus der Sicherheit weggelockt… der Zar versprach ihm Gnade und Güte, wenn er ab jetzt ein guter Kronprinz sei, und er sicherte ihm sogar zu, daß er seine Mätresse Afrosinja heiraten könne. Die Anhänger des Zarewitsch, die Grafen Tolstoj, Rumjanzew und Wesselowskij warnten ihn, aber allein die Aussicht, seine über alles Geliebte als Zariza zu sehen, zerstreute bei Alexej alle Bedenken. Er ließ Afrosinja in Venedig zurück und freute sich auf die Umarmung mit seinem ihm vergebenden Vater.
Die Wahrheit erfuhr er sofort, nachdem er die russische Grenze überschritten hatte. Kosaken kreisten die Kolonne ein und brachten alle nach Twer bei Moskau, wo sie erfuhren, daß der Zar sie in Moskau sprechen wolle.
Vor seiner Fahrt nach Moskau saß der Zar wieder eine Stunde allein im Bernsteinzimmer und sprach mit sich selbst. Dann holte er Wachter herein, umarmte ihn und sagte mit dumpfer Stimme:»Ein schwerer Gang steht mir bevor. Die Welt wird mich ein Ungeheuer nennen, aber Rußland und sein Weiterleben zwingen mich dazu. Ich allein bin verantwortlich für mein Volk!«
Am 3. Februar 1718 fand im großen Audienzsaal des Kreml von Moskau in Gegenwart der höchsten Würdenträger des Reiches der erste Prozeß gegen den Zarewitsch und seine Freunde statt. In einem kurzen Vorgespräch sicherte der Zar seinem Sohn große Gnade zu, wenn er die Verräter und Mitverschworenen beim Namen nenne. Sonst — und das war klar gesagt — gab es Folter bis zum Tod.
Alexej, der Schwächling, der Säufer, Spieler, Hurer und Verräter, brach zusammen, warf sich, unter Tränen, dem Zaren zu Füßen und nannte Namen… viele Namen, große Namen, von Peters Halbschwester, der Zarewna Maria Alexejewna bis zu
Fürst Wassilij Dolgorukij, von Fürst Juri Trubetzkoj bis zum Fürsten von Sibirien, selbst seine eigene Mutter, die frühere Zarin Jewdokija, verschonte er nicht.
Eine Untersuchung jagte die andere, die Verhafteten füllten die Verliese, gestanden unter grausamen Foltern ihre Kontakte zu Alexej, was dem Zaren genügte, und am 22. März sprach man die Urteile.
Der Zar selbst war dabei, als am 26. März 1718 auf dem Roten Platz vor der Kremlmauer die Hinrichtungen stattfanden. 300 000 Zuschauer waren gekommen, um diesem grausigen Schauspiel beizuwohnen… dem Enthaupten und Aufhängen, dem Rädern und Pfählen, dem Zu-Tode-Peitschen und dem Tod durch glühende Eisen. Ein Ab schlachten war's, vor dem die übrige Welt erschauderte.
Gleich nach den Hinrichtungen fuhr Peter I. nach Petersburg zurück. Alexej, den Zarewitsch, nahm er mit. Er saß neben seinem Vater im Schlitten, unterwürfig, dankbar, nicht so bestraft zu werden wie seine Freunde und seine eigene Mutter, die der Zar auspeitschen und in ein fernes Kloster bringen ließ.
«Es ist geschehen!«sagte der Zar, als er zwei Tage nach seinem Strafgericht in Moskau wieder im Bernsteinzimmer saß und umgeben von dem Sonnenstein seine innere Ruhe wiederzufinden suchte.»Fjodor Fjodorowitsch, nur der Anfang war's. Erinnert Er sich noch an meine Worte? Habe ich Freunde? Mein eigener Sohn gehört an den Galgen. Aber kann ich das? Steck ich ihn in ein einsames Kloster… neue Verräter und der Pöbel werden ihn befreien. Nie kommt mein Land zur Ruhe. Gott, was soll ich tun?!«
Am 15. April 1718 traf die Geliebte des Zarewitsch, die angebetete Hure Afrosinja, in Petersburg ein. Voll Ungeduld wartete Alexej darauf, sie in die Arme nehmen zu können, aber anstatt sie zu ihm zu bringen, schloß man sie sofort in eine Zelle der Peter-und-Pauls-Festung ein. Ihr Gepäck wurde durchsucht, und man fand, eingenäht in einen Kleidersack, zwei Briefe, die Alexej von Neapel aus geschrieben hatte: an den russischen Senat und an die Erzbischöfe der russischorthodoxen Kirche. Briefe, die eindeutig bewiesen, daß der Zarewitsch nur auf den.Sturz seines Vaters wartete, um sich als neuer Zar krönen zu lassen.
Mit versteinertem Gesicht las Peter diese Schriftstücke. Von neuem zog er sich allein ins Bernsteinzimmer zurück, las immer wieder die Zeilen seines Sohnes und drückte dann die Stirn hilflos gegen eine der Wandtafeln, als könne ihn der Bernstein aus seinem Millionen Jahre alten Leben einen Rat geben.
Am 14. Juni 1718 eröffnete der Zar im großen Senatssaal mit einem Gottesdienst die Gerichtsverhandlung gegen seinen Sohn. 127 Würdenträger bildeten das weltliche Gericht; drei Metropoliten, fünf Bischöfe, vier Archimandriten und eine große Zahl anderer hoher Kirchenherren stellten das geistliche Gericht dar. Der Zar selbst führte die Anklage und verhörte den Zarewitsch.
«Behandelt Alexej wie jeden meiner Untertanen!«rief der Zar in den Saal.»Behandelt ihn in der erforderlichen Form und mit der notwendigen Strenge.«
Alle im Saal erstarrten, jeder wußte, was diese Aufforderung bedeutete: Die Folter! Die Folter für den Zarewitsch!
Am 19. Juni war die erste Befragung. In einer Kalesche, begleitet von seinem Günstling Fürst Menschikow, fuhr der Zar hinüber zur Peter-und-Pauls-Festung und stieg hinab in die eigens für den Zarewitsch eingerichtete Folterkammer. An die Wand stellte er sich, gab selbst den Wink, und dann führten die Knechte den Zarewitsch herein, mit entblößtem Oberkörper, ein langaufgeschossenes bleiches Kerlchen, das beim Anblick der Foltergeräte und seines Vaters zu weinen begann. Sofort ergriffen ihn vier geübte Henker, hoben ihn hoch, schnallten ihn an den Wippgalgen, seine Füße berührten nicht mehr den Boden, an ausgerenkten und verdrehten Armen hing er frei in der Luft. Und dann trat der Henkersknecht heran, in der Hand die Peitsche aus nicht gegerbter, sondern in Milch gekochter Kuhhaut, so hart und ins Fleisch schneidend wie Stahl, sah den Zaren an, und der Zar nickte.
Schon beim ersten Schlag, der die Rückenhaut tief aufriß, schrie Alexej fürchterlich. Beim zweiten Schlag bäumte sich der Körper auf, verkrümmte sich, beim dritten Schlag hingen die ersten Fleischfetzen vom Rücken.
Ein Wink… die Befragung begann. Alexej, unfähig zu sprechen, schüttelte auf alle Fragen den Kopf. Hatte der Kaiser von Österreich ihm Truppen angeboten? Sollten die Trappen in Mecklenburg rebellieren? Wollte er an deren Spitze nach Petersburg marschieren und den Zaren stürzen? Wieviel Geld hatte er von Österreich bekommen?
Der Zarewitsch schwieg.
Fünfundzwanzig Knutenschläge prasselten auf ihn nieder, zerfetzten seinen Rücken bis auf die Knochen, das Blut lief in Strömen an ihm herunter, und immer hatte der Zar bei einem fragenden Blick des Henkers dumpf gesagt:»Weitermachen!«Alexej gestand alles, brüllte seine Schuld heraus, schluchzte in den Schlagpausen, bettelte um Gnade, und schrie gellend wieder auf, wenn ein neuer Knutenschlag ihn traf.
Nach dem fünfundzwanzigsten Schlag trat der Arzt an den Zaren heran und empfahl, die Befragung zu unterbrechen. Dort hing kein denkender Mensch mehr.
«Er sagt nicht alles! Er lügt noch immer!«sagte Peter ernst.»Henker, mach Er weiter…«
Noch einmal klatschten fünfzehn Schläge mit der in Milch gekochten Kuhhaut auf den zerfetzten Rücken des Zarewitsch. Die tiefen Wunden bildeten schon eine zusammenhängende Masse heruntergerissenen Fleisches, und jetzt, beim vierzigsten Schlag, brüllte Alexej heraus, was Peter erwartet hatte:
«Ja! Ja! Ja! Ich wünschte mir den Tod meines Vaters!«
Der Zar stieß sich von der Mauer ab und verließ den Folterraum. Der Zarewitsch wurde vom Wippgalgen losgebunden, brach auf dem Boden zusammen und wurde hinausgetragen. Der Arzt folgte ihm, um die Wunden zu versorgen. Er ahnte, daß dies nicht die letzte Befragung gewesen war.
In der Nacht zum 20. Juni sah Wachter von seinem Schlafzimmerfenster aus Licht im Bernsteinzimmer. Sofort zog er sich an und rannte hinüber zum Winterpalais, wo ihn die Wachen ohne Fragen einließen. Jeder kannte ihn jetzt und seine
Vollmachten.
Der Zar saß wieder in seinem Sessel, hatte die Hände gefaltet und starrte, weit zurückgelehnt, auf die aus Bernstein geschnitzte Maske des sterbenden Kriegers, die Schlüter entworfen haben soll. Ein Gesicht, verzerrt im Schmerz und mit aufgerissenem Mund. Die letzte Sekunde vor der Ewigkeit.»Was will Er?«knurrte der Zar.»Hinaus mit Ihm!«
«Ich habe Licht gesehen, Majestät. Meine Pflicht ist es…«»Pflicht! Fjodor Fjodorowitsch, es gibt Pflichten, vor denen man sterben möchte. «Der Zar schloß die Augen, drehte den Kopf zu Wachter und öffnete sie dann wieder. Sein Blick war elend und voll Qual.»Was täte Er, wenn Sein Sohn wünschte, der Vater wäre tot?«
«Ich weiß es nicht, Majestät. Traurig würde ich sein.«»Aber der Wunsch bleibt! Und es werden Mördergesellen gesucht, und Verzeihung wird mit Mord gedankt. Mein Freund, der Zar hat keine andere Wahl… er muß richten. Richten nach dem Gesetz und vor Gott. Raus! Laß Er mich allein! Ich kann jetzt keinen Menschen sehen… auch Ihn nicht.«
Leise verließ Wachter das Bernsteinzimmer, setzte sich auf einen Hocker in eine Ecke des Flures und wartete. Er wußte um die Qual des Zaren… auf den Prozeß gegen den Zarewitsch starrte alle Welt.
Fast eine Stunde saß Wachter auf einem Hocker vor der Tür des Bernsteinzimmers, wie ein Hund, der seinen Herrn bewacht. Als Peter I. endlich aus dem Kabinett kam, blieb er vor Wachter stehen. Gerötete Augen hatte der Zar, als habe er lange geweint, und um seinen Mund lag ein Zug größter Resignation.
«Er ist ja noch immer hier!«sagte er mit rauher Stimme. Auch sie hatte gelitten, war fast tonlos vor Trauer und Bedrückung.»Solange jemand im Bernsteinzimmer ist, bin auch ich vorhanden, Majestät.«
«Und wenn ich Ihm befehle: Geh Er weg!?«
«Dann muß ich Majestät an meinen Schwur in Ihre Hand erinnern: Laß Er das Bernsteinzimmer nie allein…«»Ein merkwürdiger Mann ist Er, Fjodor Fjodorowitsch. Hat keine Angst vor dem Zaren! Als einziger von der ganzen Brut, die mich umgibt. Nur winselnde Hunde sehe ich, Tag um Tag, nur schleimige Kümmerlinge! Väterchen, sagen sie zu mir… und denken dabei: Wann stirbt er endlich?! Warum überlebt er alle seine Krankheiten? Warum steht er immer wieder auf von seinem Bett, stärker als vorher? Auch der Zarewitsch denkt so, Wachterowskij! Den Tod seines Vaters wünscht er. Dem österreichischen Kaiser hätte er Geld bezahlt, wenn dieser ihm eine Armee gegeben hätte, mich zu vernichten! Mein eigener Sohn ist ein Lump, ein Verräter, ein Mörder im Geiste, ein Zerstörer Rußlands. Mein Sohn, der Säufer und Hurer, der Knecht seiner mongolischen Dirne Afrosinja, der von Kriechern umschwänzelte Schwächling… er wollte Zar von Rußland werden! Was wäre aus meinem schönen, reichen, fleißigen Land geworden? Fjodor Fjodorowitsch, wie würde Er über einen solchen Sohn urteilen?«
«Mit Gnade, Majestät. Als Mönch in einem einsamen Kloster würde ich ihn büßen lassen. Ihn in die Vergessenheit versenken.«
«Er denkt wie die Zarin. «Peter lehnte sich an die Wand und starrte blicklos in die weite Ferne.»Gnade! Kennt man Gnade mir gegenüber? Ich weiß noch nicht, was ich tue. Geh Er zu seiner Frau, Wachterowskij. Ich tu das gleiche. Und denke Er nicht, sein Zar sei ein Teufel…«
Am 24. Juni 1718, an einem warmen Abend, trat das Gericht der 127 Würdenträger des ganzen Reiches zum letzten Mal zusammen, hörte sich die Geständnisse des Zarewitsch an und las die Zeilen, die Alexej unter größten Qualen, ein Wrack nach den Knutenschlägen, selbst geschrieben hatte, und die endeten mit den Worten:»… Ich hätte an nichts gespart, um meinen Willen durchzusetzen.. «Das hieß: den Tod des Zaren.
Nach kurzer Beratung, während der Zar die Richter mit bösem Blick anstarrte, fällten sie das Urteil, das man von ihnen erwartete, einstimmig, ohne den geringsten Versuch, einen mildernden Umstand zu suchen im Wesen und in den
Ausschweifungen des Zarewitsch. Nicht einer wagte es, sich dem stillen Wunsch des Zaren zu widersetzen. Das Urteil lautete:
24. Juni 1718. Wir, die Unterzeichneten, Minister, Senatoren, Funktionäre, Offiziere und Zivilpersonen, versammelt im Saal des Senats von St. Petersburg, haben nach reiflicherÜberlegung und inspiriert durch unseren christlichen Glauben kraft der heiligen Gebote des Alten und Neuen Testaments, der heiligen Briefe der Evangelisten und der Apostel, derRegeln und Satzungen derKirchenväterund Lehrer, des Rechts der römischen und griechischen Kaiser und jenes der anderen christlichen Herrscher wie auch kraft des russischen Rechts einstimmig und ohne Widerrede entschieden, daß der Zarewitsch Alexej für seine Schuld und seinen Aufruhrgegen seinen Herrscher und Vater ebensosehr als Sohn wie als Untertan Seiner Majestät den Tod verdient…«
Mit betrübtem Herzen und Tränen in den Augen — wie es später hieß — habe man den Zarewitsch zum Tode verurteilen müssen wegen einer Verschwörung, wie es sie ihresgleichen kaum jemals auf der Welt gegeben hat, in Verbindung mit dem Plan zu einem abscheulichen doppelten Vatermord — gegen den Vater seines Landes und seinen leiblichen Vater.
Bei der Verkündung des Urteils fiel der Zarewitsch ohnmächtig um und mußte weggetragen werden.
Der Zar ließ sich fast zwei Tage Zeit, das Urteil zu unterschreiben. Er schloß sich wieder in das Bernsteinzimmer ein, wanderte von Wand zu Wand, drückte die heiße Stirn gegen den kühlen Sonnenstein, betete und schlug sich selbst mit geballten Fäusten an die breite Brust. Tod durch den Henker oder Begnadigung zu einem Mönchsleben in Sibirien, das lebenslängliches Begrabensein bedeutete? Was bin ich zuerst: Zar von Rußland oder Vater eines mißratenen Sohnes? Was ist meine Pflicht gegenüber dem Vaterland, Gott und der übrigen Welt? Wer hilft mir? Mir, dem allmächtigen Zaren, der jetzt allein ist, ganz allein — und weint?
In der Nacht zum 26. Juni stand Wachter wieder vor dem Bernsteinzimmer auf dem Flur und wartete auf den Zaren. Wieder hatte er Licht gesehen, war voll dunkler Ahnungen in das Palais gelaufen und hatte an der Tür des Zimmers gerüttelt. Von innen kam keine Antwort, kein Wort, kein Zuruf, nur die stampfenden, dröhnenden Schritte hörte man, wenn der Zar ruhelos hin und her lief, und eine Art dumpfes Trommeln hörte man auch, das sich Wachter nicht erklären konnte. Es war, wie wenn der Zar sich selbst mit Fäusten schlug.
Um vier Uhr morgens öffnete der Zar die Tür und trat hinaus. Schrecklich sah er aus, zerstört das Gesicht, bleich, mit zuckendem Mund und starrem Blick. Die Krämpfe hatten ihn wieder geschüttelt und ihre Spuren tief in ihm hinterlassen.
«Da ist Er ja schon wieder!«sagte Peter mit müder Stimme.»Werd ich Ihn denn nie los?«
«Nur wenn Sie mich köpfen lassen, Majestät.«
«Vielleicht wird das einmal geschehen. «Der Zar lehnte sich wieder an die Wand des Flures.»Was will Er hier? Ich weiß, ich weiß… Er hat Licht gesehen. Aber nun weiß Er, wer hier ist, und Er kann gehen!«
«Mich treibt die Sorge, Majestät.«
«Sorge um wen? Um mich oder um den Zarewitsch?«
«Um beide, Majestät. Es ist eine Einheit.«
«Wenn Er weiterredet, ist Sein Kopf noch heute ab!«schrie der Zar.»Geh Er!«
«Sei's drum, Majestät. «Wachter holte tief Atem.»Alle kennen das Urteil gegen den Zarewitsch. Alles blickt nach Petersburg. Was tut der Zar?«
«Was er tut?«Peter I. ballte die Fäuste.»Allein ist er. Allein mit Gott! Allein mit seinem Gewissen! Allein mit seiner Pflicht! Niemand kann mir raten! Niemand wagt es, ein Wort zu mir zu sagen. Der einsamste Mensch auf dieser Erde bin ich… vor eine Entscheidung gestellt, die mir niemand abnehmen kann, wie sie noch nie einem Menschen gestellt worden ist. Das ist der Zar, Wachte-rowskij: ein Nackter im sibirischen Eissturm.«»Gibt es keinen, der Ihnen einen Pelz umhängt?«»Nein!«
«Darf ich es, Majestät?«
«Nein! Halte Er sich da raus, Fjodor Fjodorowitsch. Ein tödliches Mitleid kann das werden. Ich möchte Ihn behalten. Was um mich herumkriecht, dieses Geschmeiß, es ekelt mich! Welch ein Tag ist heute! Die Welt und ich werden ihn nie vergessen.«
Um acht Uhr morgens, am 26. Juni 1718, trafen in der Peter-und-Pauls-Festung der Zar, Fürst Menschikow, Fürst Dolgoru-kij, Admiral Apraxin, Kanzler Golowin, Vizekanzler Schafirow, General Buturlin — sie alle hatten das Urteil unterzeichnet — und einige andere Personen ein, begaben sich nach dem schnellen Verlassen ihrer Kutschen unverzüglich in die dunklen Gänge der Bastion Trubezkoj, und alle Türen wurden hinter ihnen verriegelt. Kurz darauf, so berichteten Bauarbeiter, die in der Nähe einen neuen Turm errichteten, gellten durch die vergitterten Fenster grauenvolle Schmerzensschreie, die nur von Alexej Petrowitsch kommen konnten. Aber auch sie verstummten sehr schnell, und dann lag eine bedrückende Ruhe über der T rubezkoj-Bastei.
Um elf vormittags öffneten sich wieder die Tore, der Zar mit seinem Gefolge kam heraus, stieg ohne ein Zeichen von Erregung, Trauer, Entsetzen oder Betroffenheit in seine Kutsche und fuhr davon. Er sah aus wie immer… ein unbezähmbarer Riese in einfacher Handwerkerkleidung, mit kühlem Blick und dem Gang eines Seemannes.
Zurückgekehrt ins Winterpalais aß er mit großem Appetit zu Mittag, trank hinterher Kwaß und zwei Gläser Anisbranntwein, und auch das Essen selbst war nichts Besonderes: eine Sauerkohlsuppe, kalter Braten mit Gurken und Pilzen, Kohlpiroggen und zum Abschluß der so geliebte Limburger Käse, dessen Größe er jedesmal mit einem Zirkel maß und sich notierte, weil er den Verdacht hegte, sein Küchenmeister Veiten nasche heimlich von diesem köstlichen, stinkenden Stück. An diesem Tag trank er sogar noch nach dem Kwaß und Branntwein zwei Gläser Tokajer, küßte der Zarin Katharina die Augen und ging in sein Arbeitskabinett. Den ganzen Nachmittag arbeitete er dort, gab Anordnungen für die am nächsten Tag geplanten Feierlichkeiten zum Jahrestag des glorreichen Sieges von Poltawa, bestimmte das Tedeum, das er wünschte, besprach in gütiger Laune einige politische Dinge und stieg dann hinauf ins Bernsteinzimmer. Keiner hatte ihn bisher e> was gefragt, auch Katharina nicht, die ihn bei Tisch stumm gemustert und in seinem Gesicht nach Antwort gesucht hatte. Wachter war — wie konnte es anders sein — im Bernsteinzimmer und reinigte mit einem feuchten weichen Lederlappen die Falten eines aus Bernstein geschnitzten Kopfes.
«Hinaus mit Ihm!«sagte der Zar dumpf.»Und wage Er nicht, mich zu stören! Keinen will ich sehen… auch Gott nicht…«
Mit einer tiefen Verbeugung und einem sorgenvollen Blick verließ Wachter das Zimmer.
Um sechs Uhr abends gaben der Festungskommandant und der Arzt den Tod des Zarewitsch Alexej Petrowitsch bekannt. Unerwartet, an einem Schlaganfall, sei er gestorben. Kurz nachdem sein Vater, der Zar, ihn gegen elf Uhr am Vormittag verlassen hatte, sei er in tiefe Ohnmacht gefallen und nicht mehr aus ihr aufgewacht.
Ein Zittern des Grauens lief durch Petersburg und später durch ganz Rußland, durch Europa, durch alle Herrscherhäuser. Wer glaubte an den Schlaganfall? Was war zwischen acht Uhr morgens und sechs Uhr abends in der Trubezkoj-Bastei geschehen? Die Eingeweihten schwiegen, das Entsetzen in sich verbergend. Aber bald kamen die Gerüchte auf, von denen keiner wußte, was Wahrheit oder Erfindung war:
Der österreichische Gesandte Pleyer meldete drei Tage nach dem Tod des Zarewitsch nach Wien, Alexej sei mit einem Schwert oder einer Axt hingerichtet worden, und der Zar selbst habe den tödlichen Hieb gegen seinen Sohn geführt.
Der holländische Gesandte Jakob de By sandte einen Bericht, nach dem der Henker dem Zarewitsch die Adern geöffnet habe und er verblutet sei. In Gegenwart des Zaren.
Eine Kammerfrau Katharinas, die Deutsche Anna Kramer, erzählte, man habe Alexej auf Befehl des Zaren und in seiner
Gegenwart die Kehle durchgeschnitten. Dann sei eine Frau aus Narwa, die nebenan gewartet habe, hereingeholt worden, und diese habe den abgeschnittenen Kopf kunstvoll wieder angenäht, damit man den Zarewitsch später mit Prunk im offenen Sarg aufbahren könne. Eine breite, lange Halsbinde würde jetzt den Schnitt verdecken.
Ein anderes Gerücht wurde verbreitet: Alexej sei von vier Gardeoffizieren mit Kissen erstickt worden. Einer der Offiziere mit Namen Rumjanzew beichtete es später auf seinem Totenbett — aber wer glaubte ihm?
Und es wurde weiter gerätselt. War der Zarewitsch erdrosselt worden? Hatte man ihm Gift gegeben? Hatte sein Vater ihn mit der Knute so lange geschlagen, bis er unter dieser schrecklichen Folter starb? Wie kann man die Schmerzens-schreie kurz nach Eintreffen des Zaren und seines Gefolges in der Peter-und-Pauls-Festung erklären?
Lebte Alexej Petrowitsch noch, als der Zar um elf Uhr vormittags die Trubezkoj-Bastei verließ?
Wer wagte zu fragen? Wer wollte sich Verfolgungen aussetzen? Wer wollte gehängt werden? Der Zarewitsch war tot — das war das einzige, was man sicher wußte. Alles andere blieben wilde Vermutungen, die nie bestätigt wurden.
An diesem Abend, dem 26. Juni 1718, blieb Peter I. allein in seinem Bernsteinzimmer, und Wachter stand draußen und schickte jeden weg, der den Zar sprechen wollte. Selbst Men-schikow und Vizekanzler Schafirow verwehrte er ein Klopfen und Rufen an der Tür, was Menschikow mit dem gefährlichen Hinweis beantwortete:»Merk Er sich gut: Auch Er ist sterblich, Er, Leiblakei!«
Bevor sie gingen, drückten sie Wachter eine Schriftrolle in die Hand, und Schafirow sagte:
«Übergeb Er dies dem Zaren! Er weiß, was es ist, nach seinem Willen ist es geschrieben. Er möge es unterzeichnen. Es eilt.«
Wieder saß Wachter bis gegen Morgen vor der Tür des Bernsteinzimmers auf seinem Hocker und wartete. Einmal kam Adele zu ihm, mit einem Korb voll Obst und kaltem Pfannkuchen, einem Krug mit Bier und einer Pfeife mit Tabak.
«Etwas essen mußt du«, sagte sie leise.»Und sei vorsichtig, Fritz. Hat er seinen Sohn mit eigener Hand umgebracht?«
«Ich weiß es nicht.«
«Überall in Petersburg flüstert man es. Zu Tode gepeitscht soll er ihn haben und dann auch noch geköpft!«
«So viel wird erzählt werden. Geh jetzt und laß mich mit dem Zaren allein. Einsam ist er im Herzen… nur niemand sieht es. «Der Morgen graute schon, als das Bernsteinzimmer aufgeschlossen wurde. Der Zar stieß die Tür auf, verkrümmt von Schmerzen; mit wild zuckendem Gesicht und einem verzerrten Mund, aus dem der Speichel rann, stand er dort. Ein neuer Anfall hatte ihn gepackt, und er war so schwer, daß Peter in diesen Minuten an seinen Tod glaubte. Erst der Zarewitsch, jetzt er… Gott strafte Rußland.
«Fjodor — «keuchte er, als er Wachter erkannte.»Fjodor, helf Er mir. Ich sterbe… ich sterbe… Gott hat mich verlassen… Mein armes Rußland…«
Er stützte sich auf Wachters Schulter, aber es war mehr ein Aufbäumen, ein Kampf gegen die Krankheit, und die ganze Last des Riesen lag auf Wachters Rücken. Er stemmte sich breitbeinig gegen das Gewicht, hatte das Gefühl, kleiner zu werden unter dieser Last, zusammenzuschrumpfen, die Knochen schoben sich ineinander, und mit letzter Kraft gelang es ihm, den Zaren gegen die Wand zu lehnen und sich gegen ihn zu drücken wie ein stützender Pfahl.
«Sie werden weiterleben, Majestät — «keuchte er dabei.»Warum? Warum muß ich weiterleben?«
«Majestät haben noch so viele Pläne, um aus Rußland die stärkste Macht der Welt zu machen. Das müssen Sie noch erfüllen.«
«Und wenn ich es nicht mehr kann, Fjodor Fjodorowitsch?!«»Sie können es, Majestät. Sie sind wie ein Fels… auch der Tod des Zarewitsch spaltet Sie nicht.«
Der Druck auf Wachters Schulter ließ nach, der Zar richtete sich auf, der Anfall ebbte ab. Mit schweißüberströmtem Gesicht, den Mund noch verzerrt, ein Zittern in den Händen schwankte er in das Bernsteinzimmer zurück, tastete sich an der Wand entlang, Halt suchend, und erreichte mühsam den geschnitzten Sessel. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich auf den Sitz fallen und streckte die Beine weit von sich.
«Was weiß Er vom Tod meines Sohnes?«fragte Peter I.»Nichts… nur daß er tot ist.«
«Und Er fragt mich nicht?«
«Ich möchte — wie Sie — weiterleben, Majestät. «Er holte aus der Rocktasche die Schriftrolle und hielt sie dem Zaren hin.»Das haben mir Fürst Menschikow und Kanzler Schafirow gegeben. Es bedarf noch Ihrer Unterschrift.«
«Menschikow. Schafirow! Sie waren hier?«
«Ja, ich habe sie weggewiesen. Ich wußte, daß Majestät allein sein wollten, ganz allein…«
«Eine gute Tat war das. Ich werde es Ihm danken.«
Der Zar rollte das Schriftstück auf und las den kunstvoll geschriebenen Text. Nicht mehr anzusehen war ihm der Anfall, die Krämpfe hatten seinen Körper verlassen. Ruhig, als sei's ein Tag wie jeder andere, mit gerunzelter Stirn und etwas geschürzten Lippen beendete er die Lektüre des Schreibens und blickte dann zu Wachter hoch.
«Er ist ein kluger Mensch, das weiß ich«, sagte der Zar.»Hör Er zu, was ich in aller Welt verbreiten lassen will:
>Bei der Verkündigung des Gerichtsurteils gegen Unseren Sohn schwankten Wir, sein Vater, zwischen dem naturgemäßen Erbarmen einerseits und der Sorge um die Sicherung des Friedens im Reiche andererseits. Wir konnten in dieser so schmerzlichen und schwerwiegenden Angelegenheit keine Entscheidung treffen. Aber der allmächtige Gott wollte Uns in seiner Güte aus Unseren Zweifeln befreien und Unser Haus und Unser Land vor der Gefahr und der Schande schützen. Er zerschnitt gestern, am 26. Juni, den Lebensfaden des Zarewitsch Alexej. Dieser erlag einer schweren Krankheit, die ihn bei der Verlesung des Todesurteils und der Liste seiner Verbrechen gegen Uns und den Staat befiel. Die
Krankheit begann mit einer Art Schlaganfall. Dann kam er wieder voll zu Bewußtsein, beichtete, empfing die christlichen Sterbesakramente und bat Uns, ihn zu besuchen, was Wir auch, seine sämtlichen Übeltaten vergessend, begleitet von allen Unseren Ministern und Senatoren, taten. Er gestand aufrichtig seine Verbrechen gegen Uns, weinte viel und erhielt die Vergebung, die Wir ihm als Vater und Herrscher schuldeten. Am 26. Juni gegen sechs Uhr nachmittags starb er eines christlichen Todes.. <
Ist das gut so, Fjodor Fjodorowitsch?«
«Es ist klug aufgesetzt, Majestät… aber keiner wird es glauben.«
Der Kopf des Zaren schnellte hoch, seine Augen sprühten wieder das gefährliche Feuer.
«Warum nicht?! Es ist die Wahrheit!«
«Wenn es die Wahrheit ist, will sie niemand glauben. Sie klingt zu einfach.«
«Ich habe geschrieben: >… er zerschnitt den Lebensfade<. Ich habe geschrieben: >…eine Art von Schlaganfall. < Und ich war bei ihm bis gegen elf Uhr morgens. Was ist da Lüge?!«»Sie haben dem allmächtigen Gott alles zugeschoben. Er hat gerichtet, Sie von der Entscheidung befreit. Majestät, es klingt wie eine Flucht zu Gott.«
Der Zar starrte Wachter an, als sei er von ihm geschlagen worden. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde so mit ihm gesprochen, niemand hatte es je gewagt, ihn der Lüge zu bezichtigen, und wer bisher etwas Schlechtes über den Zaren gesagt hatte, war ausgepeitscht, gehängt, geköpft oder gerädert worden. Der Zar hatte immer recht — was er auch tat, es war gottgewollt.
«Denkt so das Volk?«fragte er.
«Ich befürchte es, Majestät.«
«Und das sagt Er mir ins Gesicht?! Wachterowskij, hat Er keine Angst vor dem Pfählen?!«
«Ich bin ganz in der Hand Ihrer Majestät. Urteilen Sie über mich… ich habe Ihnen versprochen, immer die Wahrheit zu sagen.«
Der Zar ließ die Schriftrolle fallen und blickte auf die vom Kerzenschein erhellten Bernsteinwände. Das Zucken um seinen Mund begann wieder, aber neue Krämpfe folgten nicht. Mit leiser, stumpfer Stimme sagte er nur:
«Sag Er, wird man mich vergleichen mit Iwan IV.? Iwan, den man den Schrecklichen nennt? Er erschlug seinen Sohn, den Zarewitsch Iwan, wirklich mit seinem eisenbeschlagenen Stock. Im Jahre 1582 war's… wird man nun sagen: Im Jahre 1718 wurde der Zar zu Peter dem Schrecklichen?«
«Man wird Sie immer Peter den Großen nennen — «
«Und wenn ich wirklich meinen Sohn getötet habe?!«schrie der Zar auf.
«Sie bleiben >der Große<. Sie haben das alte Rußland in die Neuzeit geführt, und Sie werden Rußland noch mächtiger machen… wer wird da noch über Alexej Petrowitsch sprechen? Der Weg der Völker zum Licht war immer blutig. Wie starb der Zarewitsch… Majestät, das müssen Sie allein in Ihrer Seele tragen. Da sind Sie jetzt wirklich allein. Nur Gott kennt Ihre Seele.«
«Er ist ein Philosoph… ein Volks-Philosoph. Welch ein Glück, daß ich Ihn mag! Alles, was Er jetzt gesagt hat, ist hundert Tode wert. Fjodor Fjodorowitsch… ich könnte Ihn zum Grafen machen.«
«Was soll ich auf einem Gut, Majestät. «Wachter hob beide Hände, die Handflächen nach oben.»Erweisen Sie mir das Glück und die Ehre, bei dem Bernsteinzimmer bleiben zu dürfen und es zu pflegen. Was fange ich mit einem Grafen an ohne Bernsteinzimmer? Es gibt genug Bojaren, Grafen und Fürsten in Rußland, aber nur ein Bernsteinzimmer.«
«Dann gebe ich Ihm tausend Rubel… und mein Vertrauen.«»Ich danke Euer Majestät. «Wachter ließ die Hände sinken und verneigte sich.»Das ist mehr als Fürst zu sein oder Metropolit.«
«Dann also an die Arbeit!«Der Zar erhob sich, riesig, bärenstark.»Heute feiern wir den Sieg von Poltawa. Mit Kanonendonner, Glockengeläut, Tedeum, Schiffsparade, Musik und
Tanz und dem größten Feuerwerk, das die Welt gesehen hat!«»Sollen wir Trauerkleidung tragen?«
«Nein! Warum?«Der Zar sah Wachter strafend an.»Der Zarewitsch ist schuldig gestorben!«
Er ließ Wachter stehen, ging an ihm mit dröhnendem Schritt vorbei, und auf der Treppe hörte man ihn kurz danach schreien, die Lakaien beschimpfen und die Wartenden wegscheuchen.
Und die Feier fand statt, wie Peter befohlen. Man tafelte üppig in der Wandelhalle des Sommergartens, das gesamte Diplomatische Korps war anwesend, nachdenklich und wortkarg saß die Zarin am Tisch, während Peter nach allen Seiten scherzte und bester Laune war. Der Sekretär des Zaren, Menschikow, schrieb in sein Tagebuch:»Nach dem Essen ging man in den Garten Seiner Majestät hinunter, wo man sich sehr gut unterhielt.«
Am klaren, sommerlichen Nachthimmel von Petersburg zerplatzten die Raketen und Feuerräder, die Sternenregen und Lichtergarben. Feurige Kaskaden stürzten aus dem Himmel, von allen Seiten donnerte und blitzte es, das größte Feuerwerk, das Peter je gegeben hatte… und zur gleichen Zeit wurde in der Trubezkoj-Bastei die Leiche des Zarewitsch gewaschen, angekleidet und in einen mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Sarg gelegt.
Ein Pope überwachte die Tätigkeit und betete um Vergebung, während die Raketen knallten und ganz Petersburg lachte und tanzte.
«Der Horizont hat sich erhellt!«rief der Zar und schwenkte sein Glas, und alle jubelten ihm zu. Nicht einer wagte es, ein ernstes, trauriges Gesicht zu machen.
Nur Wachter saß mit seiner Frau Adele und seinem Sohn Julius in einer Ecke der offenen Wandelhalle und sagte bedrückt:»Mich friert's, wenn ich sehe, wozu Menschen fähig sind…«Dann schloß er die Augen. Er konnte das Feuerwerk nicht mehr sehen, es genügte, wenn er es hörte.
Es war so, wie es Wachter gesagt hatte: Die kommenden Jahre sahen das Aufsteigen Rußlands zur Weltmacht, niemand sprach mehr von dem Zarewitsch Alexej. Peters Reformen, mit eiserner Hand, ja Terror durchgesetzt, veränderten das Weltbild. Katharina war offiziell zur Zarin gekrönt worden, Gymnasien und Universitäten wurden gegründet, das Heer wuchs zu einer gigantischen Macht, es gab keine europäische Politik mehr ohne Rußlands Wort. Die Schweden waren besiegt, die Türkei und die Sultanate hatten mit Peter Frieden geschlossen, und Petersburg reihte sich ein unter die schönsten Städte Europas. Aus Bären und Barbaren — wie man bisher de Russen nannte — waren Bündnispartner und soziale Vorkämpfer geworden, und wenn auch das Volk unter Steuern und Knute litt… ein anderes Leben war's als die Jahrhunderte vorher. Ein Leben in die Zukunft hinein.
Peter I., nun nicht nur wegen seiner Zwei-Meter-Größe, sondern auch als Herrscher und Staatsmann» der Große «genannt, war auf der Höhe seiner Macht ein kranker Mann geworden. Ein hohler Riese, der immer öfter das Bett hüten mußte, der zu Kuren fuhr, der sich in seinen Krämpfen wand, der unmäßig essen und saufen konnte, um dann wieder wie ein einfacher Bauer zu leben, der die Mätressen wechselte wie seine Hemden, aber nur eine Frau wirklich liebte, seine Katharina. Sie hatte ihm zwölf Kinder geboren, sechs Jungen und sechs Mädchen, von denen nur die Tochter Elisabeth noch lebte, neben Anna, der älteren Tochter, die nun mit dem Deutschen Karl Friedrich von Holstein-Gottorp verheiratet war.
Ein Zar wie aus einem Märchen, aus der Ferne betrachtet. In Rußland selbst aber träumte man von einem Zaren, der gütig und väterlich war und seinen Weg zum Erfolg nicht mit Galgen, Rädern, Pfählen und Köpfen säumte. Aber wann hatte es in Rußland jemals einen solchen Zaren gegeben? Noch jeder Herrscher über das Riesenreich war vom Volk gehaßt worden, von den Millionen Bauern und Leibeigenen, Handwerkern und Gewerblern. Mit Peter I. hatte man endlich eine Art Lichtgestalt, die jeder» Väterchen «nannte, weil er Vater eines neuen Rußland war.
Friedrich Theodor Wachter und seine Frau Adele bekamen in diesen Jahren noch drei Kinder; zwei starben kurz nach der Geburt, das dritte, ein Mädchen, ertrank an einem warmen Sommertag 1723 in der Newa, weil niemand sich um die Hilfeschreie kümmerte und jeder am Ufer vorbeiging. Hineinspringen? In die Newa? Welch ein Gedanke! Wer in diesem Wasser schwamm, war selbst schuld an seinem Unglück. So blieb den Wachters also nur Julius, der Erstgeborene, und oft sagte der Zar zu seinem heimlichen Vertrauten:
«Fjodor Fjodorowitsch, paß Er gut auf Seinen Sohn auf! Denk Er an das Erbe. Ein kluger Junge ist's, nicht wahr? Nur Gutes hört man von ihm.«
«Ein Medicus will er werden.«
«Verboten! Er gehört zum Bernsteinzimmer!«
«Gesagt hab ich's ihm… aber er hat andere Pläne, Majestät.«»Ein Arzt!«Peter hatte abgewinkt und dabei sein Gesicht verzogen.»Weiß Er, was ich von Ärzten halte? Schwätzer alle, Lateinscheißer, Scharlatane, Besserwisser ohne Wissen, Quacksalber. Wieviel Ärzte habe ich um mich, weiß Er das? Ich weiß es nicht… aber sie wimmeln um mich herum wie die Ameisen. Deutsche Ärzte, Engländer, Franzosen, Russen, Holländer, Österreicher, sogar ein Perser ist dabei! Aber helfen sie mir? Lindern sie meine Schmerzen? Von Heilung spreche ich schon gar nicht! Nur Geld kosten sie mich, Tausende von Rubel, und dafür stehen sie um mein Bett herum, glotzen mich an, und jeder hat eine andere Meinung von meiner Krankheit! Jeder braut sein eigenes Säftchen. In Wirklichkeit wissen sie gar nichts. Wachterowskij, Sein Sohn wird kein Medicus!«
Nun, im Jahre 1725, nach einem Weihnachtsfest voller Freude, an dem der Zar zusammen mit seinen Freunden die Tradition der Weihnachtssinger fortführte, ein Umzug von Haus zu Haus der vornehmen Petersburger Gesellschaft, wo Peter I. mit dem Hut in der Hand die Rubel einsammelte, die man ihm natürlich reichlich gab, war Julius Wachter neunzehn Jahre alt. Er hatte sich in die Tochter des Kammerherrn Kondratin M-chajlowitsch Kurakin, die schöne Sofja Kondratinowna, verliebt, studierte heimlich bei dem Leibarzt des Zaren, dem
Deutschen Dr. Blumentrost, Anatomie, die Kunst des Schneidens und das Erkennen von Krankheiten, das man Diagnose nennt, und wurde gleichzeitig von seinem Vater in die Pflege des Bernsteinzimmers eingewiesen.
«Warum, Vater — «sagte Julius eines Tages,»- kann ein Arzt nicht auch ein Zimmer bewachen? Dazu bleibt Zeit genug.«»Warum kann ein Zimmerwächter kein Arzt sein?«antwortete Wachter.»Weil man nur einem richtig dienen kann… der Medizin oder dem Bernstein! Beides zusammen heißt, in jedem nur die Hälfte zu tun. Und die Hälfte, mein Sohn, ist für das Bernsteinzimmer zu wenig…«
Das Neujahrsfest endete mit einem der prächtigen Feuerwerke, die der Zar so liebte. Am Dreikönigstag stand er zur Wasserweihe auf der zugefrorenen Newa… aber es war nicht mehr der Zar, der Silberteller aufrollen konnte oder in der Schmiede den Hammer schwang oder auf seinem kleinen schnellen Boot hinaus in die Ostsee fuhr und gegen den Sturm anschrie, wenn dieser über sein Schiff herfiel. Ein kranker Mann stand da, der nichts von Krankheit wissen wollte, der sich gegen alles stemmte, was ihn angriff, der jetzt, vielleicht von Ahnungen geplagt, Fest um Fest feierte, fast jeden Tag eins, der eimerweise Wodka, Whisky und Branntwein soff, und der unmäßig das Fleisch von Bären, Hirschen, Bullen und Hasen in sich hineinschlang. Bei der von ihm erfundenen» Saufsynode«, einem alkoholischen Gegenstück zu Friedrich Wilhelms preußischem Tabakkollegium, ließ er als Abschluß einer geheimen» Sauf-Papst«-Wahl sogar gebratene Wölfe, Füchse, Katzen und Ratten auffahren, die jeder in der Runde essen mußte… der Zar als Voresser!
Ein Rausch war's, der die Wahrheit überdeckte. Sie wurde offenbar, als sich Peter I. am 16. Januar ins Bett legte, das er nicht mehr verlassen sollte.
Seine Krankheit hatte Dr. Blumentrost schon lange erkannt, ohne viel Hilfe leisten zu können. Da war zunächst die Infektion der Harnwege, die zum ersten Mal richtig zum Ausbruch gekommen war beim persischen Feldzug im Sommer 1722, der eine mörderische Hitze mit sich brachte. Vier Ärzte erklär-ten die Krankheit mit Harnsteinen und Harnzwang als eine Entzündung der Harnröhre und als Folge der mehrfachen Trippererkrankungen, die sich der Zar bei seinen wilden Lustspielen mit den Mätressen, vom Bauernmädchen bis zur Hofdame, geholt hatte. Im Sommer 1724 warfen die Schmerzen in der Blase den Zaren buchstäblich um. Er schrie, Krämpfe schüttelten ihn, kaum noch denken konnte er, die Welt um ihn herum war ein einziges Leiden.
Dr. Blumentrost, niedergedrückt von seiner Verantwortung als Leibarzt, hilflos wie auch sein Kollege Benjamin van Rhijn, rief den englischen Chirurgen Dr. Horn nach Petersburg, der den Zaren gründlich untersuchte.
«Wir kommen nicht daran vorbei«, sagte Dr. Horn und sah den Zaren dabei voll Anteilnahme an.»Wir müssen einen Katheter einführen, um der Blase einen Durchgang zu schaffen. Der Abfluß des Harns ist im Moment das Wichtigste.«
Die Operation war eine fürchterliche Qual. Dr. Horn gelang es nicht, einen Katheter bis zur Blase durchzuschieben, mehrmals versuchte er es, mit dem mageren Ergebnis, daß nur etwas Blut und Eiter herausflossen. Erst bei einem neuerlichen Versuch konnte er die Mündung der Blase in den Harnleiter so weit ausdehnen, daß er ein Glas voll Urin abzog. Ein lächerliches Glas voll…
Der Zar hatte eine Betäubung abgelehnt, er hielt sich statt dessen mit jeder Hand an den Armen von Dr. van Rhijn und Dr. Dupont fest, aber so sehr er sich zwang, die Schmerzen zu ertragen, sie überschritten die Grenze jeder Selbstbeherrschung, er schrie ab und zu laut auf und umklammerte die Arme der Ärzte. Als schließlich ein großer Blasenstein abging, fiel Dr. van Rhijn fast in Ohnmacht… die Hand des Zaren schien seinen Arm zerquetscht zu haben. Sein Griff war wie eine Stahlzwinge.
Jetzt nun, am 16. Januar 1725, lag Peter I. keuchend vor Schmerzen in seinem Bett, wälzte sich hin und her und biß sich in die geballten Fäuste. Er fror, zitterte am ganzen Körper vor Kälte, und obwohl man ihn mit Wolfsfellen und Bärenhäuten zudeckte, hielt das Frieren an. Er fluchte, verwünschte die
Ärzte und die Höflinge und sogar seine geliebte Katherinusch-ka, seine» kleine Herzensfreundin«, wie er sie zärtlich nannte — aber es gab keine Wärme mehr für ihn. Selbst der geflüsterte Vorschlag, man möge ihm eine junge heiße Orientalin als Wärmespenderin ins Bett legen, wurde von den Ärzten als völlig sinnlos verworfen.
Zum ersten Mal gab Dr. Blumentrost zu, die Krankheit nicht bekämpfen zu können. Die alte Infektion war wieder aufgeflammt, dazu kamen Harngrieß, eine beginnende Urämie, Störungen des Kreislaufes, vor allem aber war die Entzündung der Blase so schwer, daß Dr. Blumentrost einen Wundbrand voraussah.
Kuriere jagten auf den besten Pferden von Station zu Station nach Berlin, zu Dr. Stahl, und nach Leiden in Holland, zu Dr. Boerhaave, mit einem Schreiben, in dem Dr. Blumentrost in heller Verzweiflung um Hilfe oder auch nur einen Rat bat.
Zu spät, alles zu spät. Noch einmal kam die große Qual über den Zaren, als am 23. Januar der englische Chirurg Dr. Horn unter Beratung des italienischen Arztes Dr. Lazarotti einen Blaseneinstich vornahm und die Blase entleeren konnte. Ein Zeuge dieser Operation, der französische Gesandte Campre-don, der einige Pariser Ärzte empfehlen wollte, schrieb in sein Tagebuch:»Man entnahm ihm vier Liter Urin. Er stank entsetzlich und war vermischt mit Gewebeteilen.«
Das Ende?
Nein. Erleichtert von dem Harndruck, aß der Zar einige Löffel Hafergrütze, schlief eine Stunde, wachte dann erfrischt auf und sprach ein paar Worte mit dem Herzog von Holstein.»Sobald ich gesund bin, fahren wir gemeinsam nach Riga«, sagte er mit verhaltener Stimme. Und zu Katharina, die neben seinem Bett saß, Tag und Nacht, in einem Sessel schlief und Peters Stirn trocknete, sein Gesicht wusch, ihn festhielt, wenn wieder ein Krampf seinen Körper durchschüttelte, die weinte und schluchzte, wenn ihn die Schmerzen hochwarfen, und die mehrmals in Ohnmacht fiel, als die Operationen an dem Zaren vorgenommen wurden, sagte er:
«Kathinka, mein Seelchen, mein Paradies… weine nicht. Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Sieh, wie gut es mir wieder geht…«
Entsetzen verbreitete sich im Krankenzimmer. Peter I. richtete sich auf, klammerte sich an Dr. van Rhijn fest und stieg aus dem Bett. Er stand, ein Riese wie immer, auf seinen säulenartigen Beinen, die noch mächtiger wirkten durch den Wasserstau, und versuchte einige Schritte. In seinem Unterleib brannte ein Feuer, aber nicht ein Muskel zuckte in seinem Gesicht.
«Zum Bernsteinzimmer«, sagte er.»Ich will — «
«Unmöglich, Majestät. «Die Ärzte starrten erbleichend auf den Zaren. Katharina hielt ihn an seinem Nachtrock fest. Die Prinzessinnen Anna und Elisabeth schluchzten laut. Menschikow, der immer anwesend war, lauernd wie ein gejagter Fuchs, jedes Zucken registrierend, jeden weiteren Verfall bemerkend, trat ihm in den Weg.
«Wahnsinn ist das, was Sie tun«, sagte er.»Gehen Sie zurück ins Bett, Pjotr Alexejewitsch…«
«Wer ist hier der Zar?!«brüllte Peter plötzlich mit altgewohnter Stimme.»Wer? Noch bin ich es! Noch lebe ich! Und länger werde ich leben als euch allen lieb ist!«
Er wollte weitergehen, aber er wäre gefallen, wenn Dr. van Rhijn und Dr. Blumentrost ihn nicht festgehalten hätten. Der Zar senkte den Kopf.
«Bringt ihn zu mir«, sagte er matt.»Ich will Fjodor Fjodorowitsch sehen. Meinen Bernsteinwächter. Holt ihn und laßt mich mit ihm allein. Allein, sage ich. Kein Medicus, nicht du Halunke, Menschikow, auch Katharina nicht. Allein…«
Der Befehl des Zaren flog von Mund zu Mund, von Lakai zu Lakai, bis hinauf zum Bernsteinzimmer.»Er soll zum Zaren kommen!«sagte ein Diener zu Wachter, der wie immer mit einem Lederlappen die Bernsteintafeln blank putzte.»Sofort!«Als Wachter in das Krankenzimmer trat, von den Anwesenden wie ein seltenes Tier bestaunt, denn nur wenige kannten ihn, den stillen Mann irgendwo im Winterpalast, verließen alle den Raum, als letzte Katharina mit einem langen Blick auf den seltsamen Vertrauten ihres Mannes.
Der Zar wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, und winkte dann Wachter zu sich ans Bett. Er saß auf der Bettkante, hatte die Finger der rechten Hand in die Decken gekrallt und atmete schwer. Die Schmerzen zerstörten ihn, er schien von innen zu verbrennen.
«Nun ist's soweit«, sagte er mit mühsam fester Stimme.»Fjodor Fjodorowitsch, es heißt Abschied nehmen. Ich weiß, wie es um mich steht, aber ich täusche sie alle. Ihre gierigen Blicke sehe ich: Wer wird der neue Zar?! Wer erbt mein Reich?! Wer bleibt als Günstling am Zarenhof? Wen ereilt der Bannfluch? Wer wird in Zukunft die Rubel scheffeln? Wer von uns kann das Volk aussaugen? Geschmeiß alles, alles Geschmeiß! Wachterowskij — was wird nach mir aus Rußland? Weiß Er darauf eine Antwort? Was wird… das ist meine einzige Sorge, das schreckt mich, nicht der Tod. Wem kann ich noch vertrauen? Menschikow? Er ist der genialste Schuft von allen. Tolstoj? Ein Arschkriecher! Apraxin? Denkt nur an seine Karriere. Golowin? Ein Wolf, der mir die Hand leckt! Ich dürfte gar nicht sterben, ich müßte ewig leben, für mein Rußland leben… aber Gott ruft den Menschen früher oder später zu sich. Bei mir ist es zu früh, und kein Bereuen hilft mehr. «Er krallte wieder vor Schmerz die Finger in die Decken, und sein Gesicht schien sich aufzulösen.»Sag Er mir die Wahrheit wie immer, Fjodor Fjodorowitsch: Muß ich jetzt schon wirklich sterben?«
«Ja, Majestät. Die Kunst der Ärzte hat ein Ende. Mein Sohn Julius sagt es auch.«
«Er ist also doch ein Medicus geworden, hinter meinem Rücken?«
«Er hat noch nicht studiert. Er lernt bei Dr. van Rhijn, sieht ihm zu, assistiert ihm… Verzeiht ihm, Majestät.«
Der Zar nickte. Ein Schmerzanfall vernichtete für Minuten seine Stimme. Dann, nach einem röchelnden Atemholen, sagte er schwach:»Das Bernsteinzimmer sehe ich nie wieder. Mein geliebtes Kabinett, mein Beichtzimmer, der Ort, an dem ich mit meiner Seele sprechen konnte. Nie mehr! Wachterowskij — «»Majestät. «Wachter trat näher und stand jetzt dicht vor dem keuchenden Zaren.
«Wagt Er etwas Ungeheures, wenn Sein Zar es wünscht? Nicht befiehlt… er wünscht es. Beschädigt Er das Bernsteinzimmer?«
«Ich… ich weiß es nicht…«, antwortete Wachter stockend. Der Gedanke, das Bernsteinzimmer zu beschädigen, lag ihm so fern wie die Sterne.
«Ein Stück will ich haben. Ein kleines Stück nur. Brech Er mir etwas aus den Wänden… eine kleine Girlande, ein Köpfchen, ein Blatt, eine Blume… irgend etwas. Ich will es auf meine Brust legen, wenn ich sterbe. Nur ein kleines Stück aus meinem Zimmer… ein kleiner Strahl des Sonnensteins.«
«Ihr Wunsch wird erfüllt werden, Majestät«, sagte Wachter mit trockener Kehle.»In der Tafel vier gibt es einen kleinen Engelskopf… ihn breche ich heraus.«
«Ein Engel!«Der Zar ließ sich nach hinten sinken. Wachter sprang hinzu, stützte ihn, legte ihn ins Bett und breitete die Decken über ihm aus.»Ein kleiner Engel fliegt mit mir in die Ewigkeit. Fjodor Fjodorowitsch, die Welt wird es nie erfahren, sie wird nur Menschikow, Apraxin, Buturlin, Tolstoj, Schafirow und all die anderen Marionetten kennen… Er aber ist mein wahrer Freund. Gott segne Ihn und Seine Familie…«
Wachter beugte sich über den Zaren, küßte seine Hände, sah ihm tief in die graugrünen Augen und erkannte in der Tiefe den Tod.
Als er die Tür öffnete, stürzten an ihm vorbei sofort Katharina und Menschikow ins Zimmer. Erst dann folgten die Ärzte. Keiner richtete ein Wort an Wachter, der stumm an der Tür stand und sie beobachtete.
Die Wölfe stürzen sich auf ihr Opfer, dachte er. Die Aasfresser formieren sich. Zu lange dauert ihnen das Sterben des Zaren. Er stirbt nur Stück um Stück, Stunde um Stunde und lebt euch zu lange. Armer Zar, du hast recht, zu schreien: Was wird aus Rußland?!
Er stieß sich von der Tür ab, ging hinauf in das Bernsteinzimmer, holte aus dem Werkzeugkasten einen kleinen Hammer, einen dünnen Meißel, eine Zange und ein festes
Messer, betrachtete den kleinen Engelskopf in der vierten Wandtafel und begann dann, ihn vorsichtig herauszubrechen. Der Zar erhielt den Engel nicht. Am gleichen Tag, am Abend, schrie er wieder vor Schmerzen, beichtete und kommunizierte, streckte die Arme nach Katharina aus, umklammerte ihre Hände und stöhnte:»Wie schlecht geht es mir. Wie schlecht. Ein Haus drückt auf meine Brust… Katherinuschka, nimm mir das Haus von der Brust.«
Drei Tage quälte er sich, und kein Arzt konnte mehr helfen. Sie wußten nur eins: Die Blase war vom Wundbrand befallen, der Unterbauch war mit Eiter gefüllt, der Schließmuskel der Blase war zu einem steinharten Verschluß geworden, der keinen Tropfen mehr durchließ. Der Zar verfaulte von innen, während er noch sprach, in hellen Momenten sogar diktierte, Begnadigungen und Verzeihungen aussprach und mehrmals die Sterbesakramente empfing.
Was wird nach mir aus Rußland…
Am 26. Januar — in Petersburg waren alle Kirchen geöffnet, Tausende beteten für den Zaren, die Glocken läuteten und riefen Gott zu Hilfe — warfen die Krämpfe den Zaren so hoch, daß er fast aus dem Bett gefallen wäre. Katharina und seine Tochter Anna hielten ihn fest, im Palast versammelten sich alle Minister, Senatoren, Generäle und dir höchsten Beamten, um die Nachricht des Todes zu erfahren. Menschikow, Tolstoj und Buturlin saßen in einem Nebenzimmer zusammen und berieten kühl über die Nachfolge Peters I. Nicht Peter, der Sohn des hingerichteten Zarewitsch Alexej, sollte es sein, obgleich er in der Rangfolge der neue Zar hätte sein müssen, sondern Katharina, die Witwe. Sie garantierte, daß man auch weiterhin der Günstling am Hofe blieb.
In der Nacht zum 28. Januar begann der Atem des Zaren schwerer und röchelnd zu werden. Speichel floß aus seinem Mund, unter der grünen Nachthaube war sein Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse verzerrt. Der ganze Körper zuckte, aber er wehrte sich, der Zar, der Riese, der Bär. Sein Wille bäumte sich auf, er kämpfte und kämpfte gegen den unbesiegbaren Feind, der Beichtvater Feofan Prokopowitsch schlug das Kreuz und sagte:»Ich hoffe, Gott wird dir alle Sünden vergeben, wegen des Guten, das du für dein Volk zu tun bemüht warst…«Und Katharina betete und weinte, während Menschikow, Buturlin und Apraxin die neue Thronerklärung für Katharina L, die Zarin, ausarbeiteten.
Am 28. Januar 1725 bäumte sich Peter I. auf, seufzte tief und fiel dann in die Kissen zurück. Sein verzerrtes Gesicht entspannte sich.
Der Zar war tot… in der sechsten Morgenstunde.
Katharina fiel vor dem Bett auf die Knie, hob die betenden Hände hoch empor und rief so laut, daß es der Himmel hören mußte:
«O Herr, ich bitte dich, öffne dein Paradies, um diese große Seele bei dir aufzunehmen!«
Nicht nur ein Zar, ein Zeitalter war gestorben.
Menschikow verließ das Zimmer, um den Tod des Unsterblichen den Wartenden zu verkünden.
Er ging an Wachter vorbei, der draußen vor der Tür stand, wo er seit drei Tagen gestanden hatte, wartend, daß der Zar noch einmal die Kraft erhielt, ihn zu rufen. Auf einem Samtkissen lag der kleine Engelskopf aus Bernstein. Er hielt das Kissen in den Händen, als läge die Krone Rußlands darauf.
Der Zar ist tot. Es lebe die Zarin Katharina I.!
Mein Gott, was wird nach mir aus Rußland werden.