«Der Verrückte spielt wieder mit seinen Schiffchen«, sagte David Hoven, der Kommandant der Feuerwehr von Whitesands, als er vom Angeln nach Hause kam und seiner Frau Lornie drei Fische auf den Küchentisch klatschte.»Man soll es nicht für möglich halten: Steht bis zum Bauch im Wasser, hat den Gummioverall an, und obenrum trägt er eine Art Uniform mit Schnüren und Schnörkeln, als spiele er in einem dieser historischen Hollywoodschinken mit. >He!< habe ich ihm zugerufen. >Was gibt das da?< Und er hat geantwortet: >Wenn ich die Schweden diesmal schlage und ihre Flotte vernichte, bin ich der Herr der Ostsee!< — Was soll man dazu sagen? Er wird immer verwirrter im Kopf. Und als ich ihm zurief: >Ron, komm aus dem Wasser. Es ist noch zu kalt. Du verkühlst dir den Arsch!<, winkte er wie ein Feldherr und sagte stolz: >Was nimmt Er sich heraus?! Erkennt Er Pjotr Alexejewitsch nicht?< — Da bin ich weg. Wer ist Pjotr Alexejewitsch?«
«Kenn ich die Spinnereien des Alten?«Lornie betrachtete die Fische. Sie waren gut für zwei Mahlzeiten… einmal Bratfisch, einmal Fischsuppe.»Du solltest mal den Reverend fragen. Der kennt ihn besser. Auf jeden Fall ist es etwas Russisches.«»Was hat Ron Calling mit Rußland zu tun?«
«Verrückte leben immer in anderen Welten. Das habe ich mal irgendwo gelesen. Solange er ein harmloser Irrer ist, kann er von mir aus auf Tahiti leben und am Strand Hula-Hula tanzen…«
Vor fünfundzwanzig Jahren war Ron in Whitesands aufgetaucht, ein fröhlicher, starker Bursche mit einem flotten Oberlippenbärtchen und gelockten Haaren, genau an dem Tag, an dem der alte, von allen geliebte und verehrte Williams in seinem weißen Schloß am Meer starb. Noch genau konnte man sich an diesen Tag erinnern: Alle Glocken im Ort läuteten, am Rathaus wurde die amerikanische Flagge auf Halbmast gesetzt, in den drei Kirchen wurde gebetet. Es war mehr Trauer unter dem Volk, als wenn der Präsident der USA gestorben wäre. Der Präsident war weit, dahinten in Washington, aber
Williams war nahe gewesen, ein Wohltäter, wie es keinen zweiten mehr geben würde, nicht für Whitesands. Einen Kindergarten hatte er gestiftet, zwei neue Feuerwehrlöschwagen, er war Mentor der Baseball- und Football-Mannschaft, er hatte ein Schwimmstadion bauen lassen, und jedes halbe Jahr durften sich alle Einwohner von Whitesands auf seine Kosten in der Klinik der Bezirksstadt auf Krebs untersuchen lassen. Wo gab es so etwas wieder? Der Tod von Williams war ein nationaler Trauertag für Whitesands.
Ron Calling hatte an dem großen Trauerzug teilgenommen. Er hatte auch am Grab gestanden und einen Blumenstrauß hinunter auf den schweren Eichensarg geworfen. Die Einwohner von Whitesands fanden das sehr lobenswert, denn Mr. Calling war ja erst vor vier Tagen angekommen und hatte den alten guten Williams nie gekannt.
Dann wurde das Testament eröffnet, ganz Whitesands staunte und hätte Beifall geklatscht, wenn's nicht ein so trauriger Anlaß gewesen wäre: Williams hatte sein gesamtes Vermögen der Krebsforschung vermacht, weil — so schrieb er — sein Sohn Joe diese Welt verlassen hatte. Man munkelte etwas von fast dreihundert Millionen Dollar, und eine Delegation des bedachten Krebsforschungsinstitutes pilgerte nach der Testamentseröffnung mit einem riesigen Blumengebinde zum Grab des Spenders und legte auch einen schönen Blütenkranz vor dem Ehrenmal nieder, das Williams für seinen gefallenen Sohn Joe hatte errichten lassen.
Auch bei diesen Feierlichkeiten war Ron Calling immer dabei, was ihn bei allen beliebt machte, und als die Forschungsstelle begann, das Erbe, nämlich Schloß, Grundstück und eine große Seehütte, in Dollars umzusetzen, war jedermann damit einverstanden, daß Ron Calling das Seegrundstück kaufen konnte.
Glatte dreihunderttausend Dollar legte er dafür auf den Tisch. Man wunderte sich darüber, denn Calling hatte bisher sehr bescheiden in einer Pension gelebt. Er aß am liebsten Hamburger oder eine heiße Wurst mit scharfer Currysoße, wie die Hauswirtin erzählte, aber dann vergaß man das Staunen und sah mit Wohlgefallen, wie Calling die Seehütte ausbaute.
Er ließ sie mit Steinen ummauern, brach große Fenster in die Fassade zum Meer hin, zog eine hohe Mauer um sein Grundstück, und schließlich kamen ein paar Möbelwagen an, brachten Couches und Schränke und Teppiche und Sessel und zwanzig große Kisten mit, die einen kompletten Haushalt enthalten mußten.
Drei Monate lang arbeiteten dann drei Handwerker aus New Orleans im Hause von Ron Calling. Sie wohnten bei ihm, sie kochten sich selbst das Essen, gingen nie aus, machten keine Jagd auf die hübschen Mädchen im Ort, nur der SupermarktBesitzer erzählte im Vertrauen, daß sie immer die besten und teuersten Sachen bestellten und ins Haus liefern ließen: französischen Wein, russischen Kaviar, geräucherten Stör, Champagner, gewaltige Steaks und Schokoladentorten. Was die drei Handwerker im Hause von Calling machten, wußte niemand… sie waren plötzlich aus New Orleans gekommen —, so hieß es, und ebenso plötzlich waren sie nach drei Monaten wieder verschwunden. Hinter der hohen Mauer blieb vieles verborgen, auch der Bau der neuen Terrasse. Daß unter der Betondecke in einer Grube drei Leichen lagen… wer konnte das ahnen? Wer traute Ron Calling so etwas zu, ihm, dem netten Kerl, der immer so freundlich grüßte, jeden Monat einen Blumenstrauß vor dem Ehrenmal Joe Williams' niederlegte und dann sinnend einige Minuten verharrte. Der Plattenleger, der später die Marmorplatten anbrachte, konnte bloß berichten, daß Mr. Calling ihn nur bis in die Gartenhalle gelassen hatte. Weiter nicht, und der ganze linke Flügel des Hauses, zehn Meter lang, habe drei riesige Fenster, die aber immer verschlossen und mit einer Jalousie von innen versehen seien. Dann wurde es still um den neuen Einwohner von Whitesands. Man sah ihn viel am Meer sitzen, nie ließ er sich in den Restaurants oder in einer Bar blicken. Auch Frauen schienen ihn nicht zu interessieren, denn niemals, in all den späteren Jahren, sah jemand ein weibliches Wesen in seinem Haus, obwohl er doch ein ansehnlicher, starker, netter Mensch war, mit dem so manche Frau, auch in Whitesands, sofort ins Bett gegangen wäre. Außerdem schien er genug Geld zu haben, um schon in seinen besten Jahren im Liegestuhl zu liegen, im Meer zu schwimmen oder am Sandstrand entlangzulaufen, statt sich um den Erwerb von Dollars zu kümmern.
Wo Geld lockt, ist das Versprechen der ewigen Seligkeit nicht weit. Reverend John Killroad von der» Kirche der Kinder Gottes «erschien denn auch bei Ron Calling, als man sah, daß der Bau vollendet war. Das Ganze wirkte letztlich etwas exzentrisch, denn über dem linken Flügel des Hauses ließ Calling einen kleinen Zwiebelturm anbringen, mit vergoldetem Dach und auf der Spitze ein Doppelkreuz wie bei den orthodoxen Kirchen. Reverend Killroad staunte, konnte sich darauf keinen Vers machen und bat um eine Audienz.
Ron Calling empfing ihn nicht im Haus, sondern vor dem Haus, auf der Marmorterrasse. Wenn Killroad geahnt hätte, daß er genau über drei einbetonierten Leichen saß, während er es sich auf einer Gartenliege bequem machte und Orangensaft mit Wodka trank, hätte er das Glas von sich geworfen und wäre geflüchtet. Aber so freute er sich über die Gastfreundschaft des neuen Bürgers Calling, schenkte ihm eine Broschüre, in der die Geschichte seiner Kirche stand, und ließ so nebenbei verlauten, daß der Altar doch ein wenig primitiv sei. Mr. Williams habe versprochen, einen neuen Altar zu stiften, aber der Tod habe das großherzige Werk verhindert.
«Mr. Williams wollte Ihnen einen neuen Altar schenken?«fragte Calling interessiert.
«So ist es! Nun hat er alles der Krebsforschung gestiftet, und da ist nicht ein Cent zu holen. Im nächsten Jahr hätte der Altar eingeweiht werden können. Einen Entwurf gab es schon.«»Bringen Sie die Pläne das nächstemal mit«, sagte Calling leichthin.»Es interessiert mich.«
«Sie haben einen Zwiebelturm auf dem Haus. «Reverend Killroad rülpste verhalten. Er hatte den Wodka mit Orangensaft zu schnell getrunken.»Hat das was zu bedeuten?«
«Ja. Ich liebe Rußland.«
«Aha! Sie kennen Rußland, Mr. Calling?«
«Sehr gut, Reverend. «Calling lehnte sich auf seiner Liege weit zurück.»Und Rußland liebt mich. Die Schlacht von Pol-tawa war die Geburt eines unbesiegbaren Reiches.«
«So ist es. «Reverend Killroad wischte sich über die Augen und blickte durch die gespreizten Finger Calling an. Was meint er damit, rätselte er. Die Schlacht von Poltawa? Wir Amerikaner haben doch im letzten Krieg nicht in Rußland gekämpft? Oder war Calling in Rußland bei einem Spezialverband? Man hat nie von einer solchen Truppe gehört.»Rußland muß schön sein.«
«Wunderschön. Im Winter… die Schlittenfahrten durch die Wälder… im Sommer das Segeln auf dem Meer mit dem Blick auf mein Petersburg… man kann es einfach nicht erklären. Und aus dem Nichts habe ich es gestampft, aus einem elenden, unbebaubaren, fiebrigen Sumpfgebiet. Es sollte schöner werden als Paris. Ein Juwel unter den Städten der Welt.«»Wenn nur die Bolschewisten nicht wären…«, sagte Reverend Killroad vorsichtig. Irgendwie kam ihm Calling jetzt unheimlich vor.
Ron hob den Kopf und starrte Killroad an.»Ich kenne keine Bolschewisten«, sagte er erstaunt.»Was ist das?«
«Sie interessieren sich überhaupt nicht für Politik, nicht wahr?«
«Wie können Sie das behaupten?«Calling sprang auf.»Schweden muß besiegt werden, und ich will Polen haben!«»Ein großer Plan, Mr. Calling…«, stotterte Killroad verwirrt. Auch er sprang von dem Liegestuhl auf.»Wann darf ich wiederkommen mit den Plänen?«
«Jederzeit. Pläne machen mich fröhlich.«
Calling begleitete Killroad bis zum Eingangstor in der hohen Mauer, drückte ihm so fest die Hand, daß der Reverend das Gesicht verzog und die Hand nachher vorsichtig schüttelte, um zu sehen, ob nichts gebrochen war, und winkte ihm nach, bis er in den Hügeln verschwand.
Zu Hause angekommen, griff Killroad sofort nach einem Lexikon, schlug unter Poltawa nach und las Gebiets hauptstadt in der Ukraine. Im Nordischen Krieg siegte hier Peter der Große 1709 entscheidend über den Schwedenkönig Karl XII.
Killroad ließ das Lexikon auf den Teppich fallen, starrte gegen die Wand und hatte dann einen dreifachen Whiskey nötig. Er ist verrückt, dachte er. Lieber Gott, er ist schizophren! Er bildet sich ein, Zar Peter der Große zu sein: Mein Rußland, mein Petersburg, ich will Polen haben, meine Stadt aus dem Sumpf gestampft, das Juwel unter allen Städten der Welt… Jesus, er ist verrückt. Jetzt muß man sich beeilen, der Altar muß stehen, bevor er ganz verrückt ist.
Reverend Killroad sprach mit niemandem über seinen Verdacht, auch später nicht, als der Altar längst in der Kirche stand und bewundert wurde. Ab und zu besuchte er Ron Calling, unterhielt sich mit ihm über den verräterischen Zarewitsch und dessen Bauernhure, über die Zarin Katharina und lachte gequält, wenn Calling von seinen Zwergen und Krüppeln erzählte, die während der Festessen Faxen und Possen reißen mußten.
Mit den Jahren gewöhnte sich Whitesands an seinen merkwürdigen Bewohner. Er war ein großzügiger Mäzen, nicht so generös wie Williams, dessen Reichtum alles erlaubte, aber wenn Mr. Calling fünftausend Dollar für den Bau eines Golfplatzes stiftete, war das eine Großzügigkeit, die man loben mußte. Da konnte er noch so wunderlich sein und werden — er hatte ein Herz für seine Mitmenschen. Und nur das zählt. Verschrobenheit ist eine persönliche Angelegenheit, solange sie nicht andere einschränkt. Und das war bei Mr. Calling nicht zu erwarten.
Vor zehn Jahren hatte er dann begonnen, mit seinen großen Holzschiffen im Meer zu spielen, wenn die Wellen ruhig waren und er in dem langen Gummioverall bis zum Bauch ins Wasser watete, im Rock eines russischen Admirals, und eine Seeschlacht entfachte, bei der er sogar einige Schiffe brennen ließ und die Hand an die Stirn legte, wenn sie untergingen.
Ein armer, reicher Mensch, sagten die Whitesandser mitleidig und mitfühlend. Mit jedem Jahr wird er verrückter. Aber wer kann ihm helfen? Er läßt ja keinen in sein Haus hinein. Und einen Arzt ruft er auch nicht. Nur der Reverend darf zu ihm, und Killroad schweigt, wie es seine Priesterpflicht ist. Paßt auf… eines Tages findet er ihn tot im Sessel, auf der Terrasse oder in irgendeiner Ecke.
Aber noch legt er Blumen am Ehrenmal für Joe Williams nieder…
Jeden Tag, meistens um die Mittagszeit, zog Joe Williams die dicken Läden an den drei hohen Fenstern im linken Flügel seines Hauses hoch, über dem in strahlender Sonne die Zwiebelkuppel glänzte. Er stieß die Fenster auf, ließ Luft und Licht in den Raum, ging dann zu einem mit rotem Samt bezogenen, geschnitzten und vergoldeten Sessel und setzte sich hinein. Er hatte die Generalsuniform der zaristischen Garde angelegt, stützte sich auf einen Stock aus spanischem Rohr mit einer in Elfenbein geschnittenen Krücke und starrte mit stolzem Blick um sich.
Um ihn herum schimmerten, glitzerten und leuchteten die Wände aus Bernstein wie tausende kleine Sonnen. Die Girlanden funkelten, die Simse und Friese warfen vielfach gebrochen das Sonnenlicht zurück, die Köpfe der Engel, Krieger und Blütenmädchen schienen im Wechselspiel von Sonne und Schatten lebendig zu werden. So ungeheuer war der goldene Glanz des» Sonnensteins «im Licht von Mississippi, so leuchtend das Farbenspiel der Bernsteinmosaike, daß Joe Williams ab und zu die Augen schließen mußte, um nicht geblendet zu werden.
Fast zwei Stunden saß er in dem Prunksessel mitten im Bernsteinzimmer, jeden Tag, seit über zwanzig Jahren, den spanischen Stock zwischen die Knie geklemmt, die Hände zu Fäusten geballt auf den Lehnen, und blickte durch die Fenster hinaus über das Meer, das in sanften Wellen gegen den feinsandigen Strand lief.
Mein Petersburg. Das Meer mit den stolzen Schiffen, deren Segelmaste hoch in den Himmel stießen, der Atem der Freiheit, der mit dem Wind über das Land strich, die göttliche Ruhe des Bernsteinzimmers, in das man flüchtete, wenn das Herz voll und die Gedanken überladen waren, mein Reich, mein Rußland, meine eigene Welt, von mir erschaffen… So überwältigend war es, daß Joe Williams jedes Mal die Augen schloß, die Fäuste gegen die Brust preßte und das Gefühl hatte, an seinem Glück zu ersticken.
Nach einer Stunde schweigenden Sitzens begann Joe zu sprechen. Ab und zu stand er auch auf, ging die sonnenglänzenden Bernsteinwände entlang, blieb vor den eingelassenen Spiegeln stehen und betrachtete sich. Dann hob er auch hin und wieder die Hand, um einen Kopf zu streicheln, eine Rosette mit den Fingern nachzuziehen oder eine Girlande zu verfolgen, und dabei sprach er in würdevollem Ton mit sich selbst, mit seinem russischen Volk, mit Gott sogar und hinaus in alle Welt.
«Ich habe die Pflicht«- sagte er einmal und blickte hinauf zu dem Kopf eines sterbenden Kriegers —»für mein Volk zu leben, aber auch für mein Volk zu sterben, wenn es ihm nützt. Solange es eine schwedische Flotte gibt und ich nicht Herr der Ostsee bin, finde ich keinen Schlaf. Ein großes Heer habe ich aufgebaut, das stärkste der Welt, selbst die Preußen sind mir unterlegen… aber ich muß mehr tun für meine Flotte. Ich muß bauen, bauen, bauen… Und an Sibirien muß ich denken. Was weiß man von Sibirien? Wieviel unbekanntes Land gibt es dort noch. Helft mir, ihr guten Geister, das Werk zu vollenden. «Nach zwei Stunden schloß er die Fenster wieder, ließ die Jalousien herunter, verriegelte die Tür, hängte sich den Schlüssel um den Hals, zog die Generalsuniform und die langen Gummistiefel an und ging hinunter zum Meer, wo in einer kleinen Sandbucht seine» Flotte «ankerte. Es waren Holzschiffe, wie sie zur Zeit Peter des Großen gebaut wurden, voll unter Segel, jedes ungefähr einen Meter fünfzig lang und entsprechend hoch im Mast, eine stolze Armada, bereit, den Schweden die Ostsee wegzunehmen. Und dann schob er die Schiffe ins Meer, dirigierte sie mit einem langen Stab hin und her, ließ sie in Kiellinie laufen, in breiter Angriffsfront und in Rammposi-tionen.
Je älter er wurde, um so wunderlicher wurde er. David Hoven, der Feuerwehrkommandant, der viel Zeit hatte, denn in Whitesands hatte es seit vierzehn Jahren nicht mehr gebrannt und sein Beruf als Schlossermeister strapazierte ihn auch nicht übermäßig, der also viel angeln ging und stundenlang auf einer Holzmole am Meer saß und Ron Calling mit seinen Schiffen beobachtete, erzählte seiner Frau Lornie regelmäßig, was der Alte wieder an neuen Marotten erfunden hatte.
«Gestern ist ein Schiff von ihm verbrannt«, sagte er.»Wirft der Idiot eine Fackel in den Kahn, und als der natürlich sofort in Flammen aufgeht, springt er im Meer herum, rauft sich die Haare, steht dann stramm und grüßt, als das Schiff untergeht. Und dann«- Hoven holte tief Luft —»ging er ans Ufer, breitete die Arme weit aus und schrie die Sonne an. Was, konnte ich nicht verstehen, aber eine Stimme hatte er dabei, eine Stimme sag ich dir. Als wenn du auf Metall schlägst! Es dauert nicht lange, da ist er völlig übergeschnappt. Wäre verdammt schade, wenn wir ihn in eine Anstalt bringen müßten.«
Auch Reverend Killroad war über den Verfall seines Altarspenders bestürzt. Beim letzten Besuch auf der Terrasse hatte Calling gesagt:»Ich komme nicht weiter. Ich komme nicht weiter! Die schwedische Flotte weicht mir aus. Es kommt zu keiner Schlacht. Wie kann ich einen Sieg erringen, wenn ich keinen Gegner finde?!«
«Das ist wirklich ein Problem«, hatte der Reverend geantwortet.»Es hat noch nie was eingebracht, gegen Schatten zu kämpfen.«
«Schatten. Das ist es, John. Schatten. Überall Schatten. Die Welt wird immer dunkler… Schatten! Wer nimmt die Schatten weg?«
Killroad hatte sich daraufhin schnell wieder verabschiedet, war zu Dr. Simson, einem Psychiater, gefahren und hatte ihn gefragt, wann ein Irrer soweit sei, daß man ihn in einem Heim betreuen müsse. Dr. Simson, durch den täglichen Umgang mit geistig Verwirrten zum Zyniker geworden, hatte Killroad angesehen mit dem forschenden Blick eines Seelenkenners und dann gefragt:
«Mann oder Frau?«
«Mann.«
«Wie alt?«»Ich glaube siebenundsechzig…«
«Kein Alter… wird er kindisch?«
«Nein.«
«Läuft er mit einem Beil herum und will jeden erschlagen?«
«Im Gegenteil, er ist der friedlichste Mensch, den ich je kannte. Ein stiller Träumer, der nicht einmal eine Fliege töten könnte…«
«Debil ist er also?«Dr. Simson schüttelte den Kopf.»Wir alle sind mehr oder weniger debil, Reverend. Wir merken es bloß nicht. Solange der Mann noch für sich sorgen kann und nicht über die Wiese kriecht und Gras frißt, sehe ich keinen Grund, ihn in einer Anstalt restlos fertigzumachen. Zufrieden?«
«Nein, Doktor. «Killroad verließ die Praxis mit dem Gedanken, daß sich Nervenärzte mit den Jahren doch immer mehr ihren Patienten anglichen. Ron Calling war ein schwerkranker Mann, das war für ihn sicher, aber keiner konnte ihn zwingen, zu einem Arzt zu gehen. Ein jeder Mensch hat ein Recht auf seinen eigenen Körper und sein Leben.
Es war der 10. Oktober 1987, als über alle Rundfunksender die Sturmmeldung gebracht wurde: Ein Orkan mit 200 km Geschwindigkeit raste auf die Küste zu. Auch in Whitesands rechnete man mit Schäden, schlug Bretter vor die Schaufenster, ließ die Autos in der Garage, brachte alles Bewegliche im Haus in Sicherheit… mehr konnte man nicht tun. Nur noch weglaufen, aber das war nicht die Art der Whitesandser. Sie krempelten die Ärmel hoch.
Um elf Uhr vormittags hatte der Sturm die Küste erreicht. Ein lautes Heulen war in der Luft, der Himmel wurde bleigrau, die Palmen bogen sich, und die ersten Blechdächer von Schuppen wirbelten durch die Luft. Vom Strand wehte der feine, weiße Sand wie eine riesige Wolke über Häuser und Hügel und deckte vor allem das Haus von Ron Calling zu, das jetzt mitten im Sturm lag.
Nur eine halbe Stunde nach Ausbruch des Orkans kam das Meer. Wellen so hoch wie Häuser, donnerten gegen die Küste und begruben und zerschlugen alles, was sich ihnen in den Weg legte. Ein einziger Wirbel war es, ein Heulen und Kreischen, ein Donnern der niederstürzenden Wogen, und gewaltig zog sich ein Vorhang aus Sand, Erde, weggerissenen Büschen und im Sturm schwebenden Bäumen zwischen Meer und Himmel hoch.
Joe Williams saß zusammengekauert auf seinem Prunksessel im Bernsteinzimmer, hatte die Jalousien hochgezogen, aber die Fenster geschlossen gehalten. Auf den spanischen Stock gestützt, starrte er auf das Inferno vor sich, auf den Flugsand, auf die herandonnernden Wellen, auf die sich biegenden oder mit der Wurzel herausgerissenen Palmen und Bäume, auf die große Platane, die mitten im Stamm wie von einem Riesen abgedreht wurde, und auf die Schindeln, die von der hohen Mauer wie Geschosse durch die Gegend flogen.
Gegen ein Uhr mittags stemmte sich Joe Williams aus dem Sessel hoch, ging, auf den Zarenstock gestützt, zu dem mittleren Fenster und blickte hinüber zu der kleinen Bucht, in der die» russische Flotte «ankerte. Die Riesenwellen hatten die Bucht nicht nur überspült, sondern völlig zerstört. Es gab keine Bucht mehr, sondern nur noch eine wild ausgezackte Küste, die nach jeder Welle ihre Form veränderte und vom Meer gefressen wurde.
«Meine Schiffe…«, stammelte Joe.»Meine Flotte… meine schöne Flotte… Ich habe keine Schiffe mehr…«
Er sprang zurück ins Bernsteinzimmer, raste dann aus dem Raum, riß die Haustür auf, und sofort erwischte ihn der Sturm, hieb wie eine Faust auf ihn ein, schleuderte ihn gegen die Mauer und jagte ihn dort kreiselnd entlang. An einer schon fast umgeknickten Palme klammerte sich Joe fest, zog den Kopf tief zwischen die Schultern und stürzte sich dann wie ein Rammbock gegen den Sturm. Die Mütze wurde ihm weggerissen, der Rock flatterte wie ein Geistervogel davon… barhäuptig, im aufgerissenen Hemd und mit zerfetzten Hosen, erreichte er den Strand, umklammerte eine in den Strand gerammte Eisenstange, an der er vor zehn Jahren noch ein Ruderboot vertäut hatte, das jetzt längst verrottet war, und sah mit flackerndem, irrem Blick auf die weggeschwemmte Bucht. Kein Schiff mehr, kein Segel, keine russische Fahne… nur ein brüllendes Meer, das alles verschlang.
«Meine Schiffe!«schrie Joe Williams. Er warf den Kopf weit in den Nacken, hob die rechte Faust zum grauschwarzen Himmel empor, eine einzige klaffende Wunde war sein Mund, und aus dieser Wunde schrillte ein Schrei in das Toben des Orkans hinaus, ein heller, schriller Schrei, der das Herz zerreißen mußte.
«Meine Flotte! Die Schweden siegen! Mein Rußland… ich habe dich vernichtet. Ich, der Zar! Jetzt ist die Zeit gekommen — «
Er ließ den Eisenpfahl los, der Wind trieb ihn wie en Stück Holz auf sein Haus zu, er prallte gegen die Mauer, krallte sich an ihr fest und erreichte den Eingang. Irgendwo blutete er… er wußte nicht, wo, er spürte nichts, er sah nur, wie er eine Blutspur hinterließ, als er durch sein Haus schwankte. Er stieg in den Keller, schleppte auf den Schultern eine Holzkiste hinauf und stellte sie im Bernsteinzimmer ab.
Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ ihn zusammenzucken. Über ihm kreischte und splitterte es, klang es wie ein Ächzen aus tausend Kehlen. Die Riesenhand, die auch die Platane abgedreht hatte, griff nach der Zwiebelkuppel, riß sie aus ihrer Verankerung, hob sie hoch in den Sturm, als habe sie kein Gewicht, und schleuderte sie hinaus ins Land. Das schwere Doppelkreuz wurde gegen die Mauer geschleudert und schlug ein großes Loch in den Verputz.
«Vernichtung!«schrie Joe Williams mit greller Stimme. Sein irrer Blick glitt über die Bernsteinwände, die Spiegel und Gemälde.»Vernichtet alles! Nichts sollt ihr von mir finden! Ich ergebe mich nicht den Schweden. Ich ergebe mich nicht — «
Er riß den Kistendeckel auf und warf ihn weg. In der Kiste lagen gelb gestrichene Stangen, eine neben der anderen. In einem gesonderten Fach, in Ölpapier eingewickelt, war eine Kabelrolle eingepackt. Hin kleiner, viereckiger Kasten mit einigen Anschlüssen und einem roten Druckhebel stand daneben. Mit zitternden Fingern verteilte Joe die Dynamitstangen rund an den Wänden des Bernsteinzimmers entlang, zog die Zündkabel hinter sich her in die anderen Räume, verteilte auch dort die gelben Stangen an die Wände, und als er in allen Zimmern Dynamit gelegt hatte, verband er die Kabel miteinander, steckte sie in die Anschlüsse des elektrischen Zündkastens und schlug den roten Hebel hoch.
Draußen riß der Orkan an den Fenstern und Türen, hämmerte mit Eisenfäusten gegen die Außenwände des Bernsteinzimmers, das Meer fraß sich weiter ins Land und klatschte bereits gegen die Mauer. Ganz ruhig, mit einem Lächeln, das überirdisches Glück widerspiegelte, setzte sich Joe auf den vergoldeten, geschnitzten Sessel mitten im Bernsteinzimmer, nahm den Zündkasten auf seinen Schoß, und mit dem gleichen seligen Lächeln, den Blick auf den Bernsteinkopf des sterbenden Kriegers gerichtet, drückte er kraftvoll auf den roten Hebel herunter.
Die Explosion, die Druckwelle war sogar noch stärker als der Orkan. In Whitesands zerbarsten einige Fensterscheiben, Reverend Killroad sah von seiner Kirche den emporschießenden Feuerball, die Explosionswolke, die schnell vom Sturm auseinandergerissen wurde, und dann die Feuerwand, aus der im Wind die Funken hoch in den Himmel stoben.
Er rannte zum Telefon, rief David Hoven an, zum Glück konnte man noch innerhalb Whitesands telefonieren, da alle Leitungen unter der Erde verkabelt waren — auch ein Werk des alten guten Williams —, und brüllte:
«Bei Ron ist etwas passiert! Es brennt bei ihm! Sieht aus wie eine Explosion! Tatsächlich, es brennt bei ihm…«
«Ich kann nicht raus!«schrie Hoven zurück.
«Du mußt, David. Du mußt helfen! Du bist doch die Feuerwehr…«
«Der Sturm fegt mir die Löschwagen durch die Luft. Wie Spielzeugautos. Keine zehn Meter komme ich! John… mein Gott… ich bin hilflos bei diesem Sturm… Der arme Ron…«»Arm! Arm! Arm! Davon hat er nichts. Wir müssen ihm helfen, David…«
Es war unmöglich, wie Hoven es gesagt hatte. Der erste Löschwagen wurde vom Orkan gepackt und noch in der Garage gegen die Mauer geschleudert. Den zweiten ließ Hoven gar nicht erst ausfahren, sondern ging in den Bereitschaftsraum zurück, sah die Männer in ihren Feuerwehruniformen mit e-nem starren Blick an und sagte:
«Ron Calling gibt es nicht mehr. Freunde, laßt uns für ihn beten. Das ist alles, was wir für ihn tun können.«
Den ganzen Tag und die ganze Nacht heulte der Sturm und brannte das Haus am Meer. Am zweiten Tag gelang es endlich, die Löschwagen bis an die Mauer zu bringen. Die Kraft des Windes hatte etwas nachgelassen, aber er war noch stark genug, das Feuer immer wieder anzufachen. Ringsum herrschte noch eine solche Gluthitze, daß Hovens Männer nicht in die Nähe des Hauses kamen. Die Mauern zerbarsten und fielen unter sprühendem Funkenregen in sich zusammen. Es war kein Haus mehr, nicht einmal die Form oder die Ahnung eines Hauses ließen die Flammen zurück, geschwärzte Steintrümmer waren alles, was übrigblieb.
Am vierten Tag endlich gelang es Hoven und seinen Männern, die letzten Flammen zu löschen und die Trümmer zu betreten. Nach Ron Calling brauchte man nicht mehr zu suchen, auch nicht nach Überresten von ihm.»Der ist zu Pulver verbrannt!«sagte Hoven heiser. Neben ihm stand Reverend Killroad und segnete die Trümmer, in denen Rons Asche liegen mußte.»So was von Feuer hab ich noch nicht gesehen. Was hatte der Alte hier bloß gelagert? So gründlich fliegt keine Dynamitfabrik in die Luft…«
Er schüttelte den Kopf, atmete tief durch und stieg aus den Trümmern.»So 'n Ende hat ihm keiner gewünscht. Er war ein lieber, guter Mensch… und daß er am Ende ein wenig verrückt war, dafür konnte er nicht. Reverend, wir werden ihm auf dem Friedhof ein Kreuz errichten. Zum Gedenken an Ron Calling, unseren Freund. Das hat er verdient.«
«Ja — «, sagte Killroad feierlich.»Das hat er bei Gott verdient. «Ein paar Tage später fuhr ein Bagger ans Meer, schaufelte die Trümmer in große Trucks, und die Wagen brachten die geschwärzten Steine in ein Loch, das das Meer gerissen hatte, und füllten es damit auf.
Noch heute und vielleicht noch in hundert Jahren werden
Kunsthistoriker, Sonderkommissionen, Geheimdienste und private Kunstliebhaber das Bernsteinzimmer suchen. In Gruben, Bergwerken, unterirdischen Gängen und Gewölben.
Es gibt es nicht mehr, das Bernsteinzimmer. Die Wände aus dem» Sonnenstein «leuchten nicht mehr, und nur die Sonne, die es erstrahlen ließ, weiß, wo es geblieben ist.
Aber die Sonne schweigt.
Das Leben ist ihre Aufgabe… nicht die Erzählung vom Tod.