Die Schachtanlagen der Kaligrube Kaiseroda II/III bei der kleinen Stadt Merkers in Thüringen waren von amerikanischen Panzern umstellt. Rund um das Salzbergwerk war Flak aufgestellt worden, alle Straßen nach Merkers waren von amerikanischen Militärpolizisten gesperrt, über der Schachtanlage kreisten zwei Hubschrauber, und ein Bataillon Infanterie stand in Paradeformation auf dem Platz vor dem Verwaltungsgebäude der Grube. Eine Menge von Jeeps und Trucks war aufgefahren, schwere Lastwagen mit kompletten Werkstatteinrichtungen, drei mittelschwere Kräne standen vor den Schachteingängen, an denen Posten mit schußbereiten Maschinenpistolen warteten.
Es war der 12. April 1945. Die 3. US-Armee unter General Patton hatte Thüringen erobert in einem Sturmlauf, der atemberaubend war. Als die ersten Panzerkolonnen und Kettenfahrzeuge durch Merkers rasselten, ein Captain das Gemeindeamt betrat, den Bürgermeister und alle anderen Amtspersonen für abgesetzt und vorläufig unter Haft erklärte, war auch ein Jeep unter den Fahrzeugen, in dem Captain Fred Silverman und Lieutenant Bob Mulligan saßen. Auch sie hielten beim Gemeindeamt, verlangten den Bürgermeister und sprachen den verschüchterten Mann — wer ist nicht voller Angst, wenn er plötzlich verhaftet wird? — in einem einwandfreien Deutsch an. Silverman, als Friedrich Silbermann in Frankfurt am Main geboren, war im Februar 1933 über London nach New York geflohen, zusammen mit seinen greisen Eltern und nur mit einem Koffer in der Hand. Der Captain grüßte kurz und fragte knapp:
«Wo geht es zur Kaligrube Kaiseroda II/III?«Der Bürgermeister erklärte es ihm und wurde etwas bleich. Silverman bemerkte es, winkte Mulligan zu und setzte sich vor dem Verhafteten auf einen der Bürostühle.
«Ich sehe Ihnen an, Sie wissen, wonach ich frage. Spielen Sie jetzt nicht den Ahnungslosen!«sagte er scharf.»Bevor wir uns selbst darum kümmern, beantworten Sie mir erst einige Fragen. Zunächst zu uns: Wir sind Mitglieder des OSS, das ist die Abkürzung von Office of Strategie Service! Das sagt Ihnen nichts?«
«Nein. Habe ich noch nie gehört. «Der Bürgermeister schüttelte den Kopf.
«Es ist der Name des amerikanischen Geheimdienstes. Sie sollten ihn sich gut merken. Sie werden noch oft mit ihm sprechen. Die Einsatzgruppe für Kunst- und Kulturgüter im deutschen Reichsgebiet«, wir nennen sie ORION, hat seit 1944 über Agenten, durch Geheimberichte und andere Quellen eine genaue Kenntnis über die Auslagerungsstätten deutscher und geraubter Kunstschätze erhalten. Mein Kollege Mulligan und ich sind Kunsthistoriker, und wir wissen, genau wie Sie, welche Bedeutung Merkers hat. «Silverman machte eine Sprechpause und gab damit das Wort an Mulligan weiter.
Mulligan hielt sich nicht mit einer langen Vorrede auf.»Was befindet sich im Kalibergwerk?«fragte er schroff.
«Ich weiß es nicht, Herr Offizier.«
«Wann wurden die Lieferungen ausgeführt?«
«O Gott, das waren eine ganze Menge. Das begann schon 1944 und ging ab Januar 1945 erst richtig los. Laufend Transporte. Schwere Lastwagen und Eisenbahnwaggons von Weimar und Gotha… von allen Truppenteilen. Wehrmacht, Luftwaffe, SS… man hat gemunkelt, daß nach Reinhardsbrunn das neue Führerhauptquartier kommen sollte.«
«Das wissen wir. «Mulligan winkte energisch ab.»Weiter.«»Der letzte Transport kam im Salzbergwerk am 10. April an. Lastwagen mit Schweizer Kennzeichen, Schweizer Flagge und dem Roten Kreuz. Aber da saßen keine Schweizer drin, keine Zivilisten… SS war es… sogar hohe Offiziere. So wie SS-Obersturmbannführer und SS-Standartenführer. Ja, das war, soviel ich weiß — ich habe ja nicht alles gewußt, ich wurde ja auch nie gefragt — der letzte Transport. Sie haben zwanzig Kisten, große Kisten abgeladen. Holzkisten, zum Schutz mit Firnis gestrichen, und auf den Kisten stand >Wasserbaubehör-de Königsbergs Ja, und alle hatten einen deutlichen roten Punkt. Mehr.weiß ich nicht.«
Mulligan und Silverman sahen sich kurz an.
«Kamen die Kisten von Schloß Reinhardsbrunn?«
«Möglich. Ich weiß es nicht. Die Wagen kamen zweimal… am 9. und am 10. April.«
«Also vorgestern…«Silverman sprach nun weiter.»Und dann?«
«Dann stießen Ihre Panzerspitzen vor, und der Spuk hatte ein Ende. Alle verschwanden über Nacht.«
«Aus den Schächten ist nichts mehr mitgenommen worden?«»Unmöglich. Dazu blieb ja keine Zeit.«
«Es ist also alles noch drin? Sind die Eingänge gesprengt?«»Nein. Das heißt, ich weiß es nicht. Ich bin seit zwei Tagen kaum aus dem Haus gegangen. Da war die SS, wissen Sie, und KZ-Häftlinge mußten die Kisten und alles andere schleppen.«
«Und die SS hat die Häftlinge mitgenommen?«Silvermans Gesicht war schmal und kantig geworden.
«Ja. «Der Bürgermeister senkte den Kopf.»Wir können doch nichts dafür, Herr Offizier.«
Silverman erhob sich abrupt, auch Mulligan sprang auf.»Fahren wir zum Bergwerk, Bob«, sagte Silverman mit belegter Stimme.»Alle sind sie unschuldig, alle. Aber drei Onkel, drei Tanten, zwei Cousinen und ihre Ehemänner sind in Buchenwald und Dachau verscharrt worden. Darunter drei Kinder, Bob! Aber alle Deutschen sind unschuldig… sie haben nur alle geschrien >Führer, wir folgen dir!< so wie man eben schreit als sei's ein Football-Spiel…«
Sie verließen das Gemeindeamt, sprangen unten in ihren Jeep und fuhren sehr schnell in Richtung Kalibergwerk ab.
Jetzt, um fünf Uhr nachmittags, war die Schachtanlage Kaiseroda II/III zu einer Art Festung geworden. In wenigen Minuten sollten die Männer eintreffen, von denen die ganze Welt sprach: Die US-Generäle Bradley, Patton — und Eisenhower. Der kleine thüringische Ort Merkers wurde zur Sensation.
Larry Brooks, aufgewachsen in einem Armenviertel von Brooklyn als Sohn eines Leichenwäschers in einem großen Beerdigungsinstitut, während die Mutter von sechs Uhr abends bis zwei Uhr in der Frühe als Klofrau im gekachelten Keller eines Mittelklasse-Hotels dazuverdiente, um sechs Kinder nicht hungern zu lassen, hatte als Jüngster der Brooks-Familie das für ihn einzig Richtige getan: Er hatte sich zur Army gemeldet. Sie wurde sein Zuhause, die Kameraden waren seine Familie. Er hatte ein Bett zu jeder Jahreszeit, er bekam ein gutes Essen, der Lohn reichte aus für Zigaretten, Whiskey und einen Puff-Besuch einmal pro Woche, und selbst die gesamte Kleidung stellte die Army, von den Socken bis zum Schlips. Es war ein herrliches Leben, auch wenn man dauernd angebrüllt wurde, strammstehen mußte und sadistische Ausbilder einen durch Sandgruben oder Schlammlöcher hetzten. Kein Lohn ohne Arbeit, sagte sich Larry. Aber gegen das, was mein Alter seit Jahrzehnten machte, immer nur Tote schrubben, rasieren, anziehen und schminken, bis sie aussahen wie die ondulierten Leichen in den Hollywood-Filmen — komischerweise gefiel das den Hinterbliebenen, und sie waren von Al Brooks Leistungen begeistert —, war der Militärdienst eine saubere, reelle Sache. Als er dann Sergeant wurde und selbst kommandieren konnte, wurde die Army wirklich seine Heimat. Der Krieg gegen die Germans, die man» Krauts «nannte, weil in Amerika Sauerkraut mit Eisbein als Inbegriff alles Deutschen galt, die Invasion in Italien, der Vormarsch auf Monte Cassino, die Versetzung zur 3. Armee des sagenumwobenen Generals Patton, die Eroberung Deutschlands… das alles war ein verdammt harter und blutiger Job gewesen, aber eben nur ein Job für Larry, weiter nichts. Es galt nicht, die Freiheit der USA zu verteidigen, sondern den größenwahnsinnigen» Krauts «in den Arsch zu treten und diesen kleinen Schnurrbart, diesen Hitler zu beseitigen. Für die ungeheuren Massen von Material, das man aus den USA nach Europa warf, fuhr er einen schweren dreiachsigen Truck und hatte darauf schon alles transportiert, was man verladen konnte: von Granaten bis zu beschlagnahmten Kühen, von Werkstattkisten bis zu schlichten Holzsärgen.
Bei der 3. Armee, Transportbataillon II, lernte er Joe Williams kennen.
Williams war ein völlig anderer Mensch als Larry. Er war in einem guten Elternhaus aufgewachsen, zwei Jahre älter als er, und wenn Joe Bilder zeigte, waren das Fotos von einer großen weißen Villa in einem weiten Park, von einem Cadillac und Reitpferden, einem gemütlichen, dcklichen Vater, einer schlanken Mama von mexikanischem Aussehen und einer Schwester, die Hollywood auf den Kopf hätte stellen können, wenn sie sich bei den Filmbossen gemeldet hätte. Aber das hatte sie nicht nötig, Geld schien bei den Williams keine Rolle zu spielen.
Joe, einziger Sohn und damit Erbe des Riesenvermögens, das der alte Williams mit Baumwolle und Erdnüssen verdient haben wollte, mußte Whitesands, so hieß der Besitz am Meer, frühzeitig verlassen. Nicht um zu studieren, wie man schädliche Käfer von Erdnüssen fernhält, sondern um zunächst für zwei Jahre auf Weltreise zu gehen! Grund: Zehn Meilen von Whitesands entfernt war die Leiche eines jungen schwangeren Mädchens angeschwemmt worden, von dem man nur wußte, daß es öfter mit Joe gesehen worden war.
O nein, ein Verdacht fiel nie auf Joe. Sein Daddy unterstützte eine Partei, finanzierte den Wahlkampf des Oberstaatsanwalts, der gerne Gouverneur werden wollte, stiftete einen Kindergarten, sponserte eine Football-Mannschaft und ließ eine schöne Kirche bauen. Die Unbekannte wurde begraben, die Akten geschlossen, aber auf freundschaftliches Anraten des Oberstaatsanwalts schickte der alte Williams seinen Joe erst einmal nach Europa.
Dort geschah in diesen zwei Jahren Merkwürdiges. In London wurde ein Juwelier überfallen und zum Krüppel geschossen. In Rom verblutete ein Bankdirektor neben seinem geöffneten Tresor. In Berlin fand man im Grunewald einen Mann mit durchschnittener Kehle. Ein rätselhafter Mord, bis die Spezialisten der Kriminalzentrale am Werderschen Markt entdeckten, daß der Tote mit Kokain gehandelt hatte. In Budapest entdeckte das Zimmermädchen auf der 2. Etage des Hotels Metropol die Sängerin Ilona Varanady nackt auf ihrem Bett.
Einen großen Blumenstrauß hielt sie in den gefalteten Händen, zwischen die üppigen Brüste gedrückt, nur war leider auch ihre Kehle durchschnitten. Daß in Whitesands Ansichtskarten von Joe aus London, Berlin, Rom und Budapest eintrafen, war bestimmt nur ein Zufall.
Joe sprach nie darüber, wie er zur Army gekommen war. Er war jedenfalls da, hatte es bis zum Master-Sergeanten gebracht und kommandierte die 1. Gruppe der Truck-Kolonne, zu der auch Larry gehörte. Joe war ein guter Vorgesetzter, hielt nicht viel vom Herumbrüllen, war ein guter Kamerad und bei allen beliebt. Nur ab und zu benahm er sich etwas merkwürdig. In den Nächten mit Neumond saß er mit finsterer Miene herum, gab kaum Antworten, war blaß im Gesicht, und einmal beobachtete Larry in solch einer Nacht zufällig, wie Joe aus dem Stall eines Bauern vier Hühner holte, sie an den Beinen hoch in die Luft hielt und ihnen mit einem ungemein scharfen Messer die Kehle durchschnitt, ja ihnen die Köpfe abhieb.
Larry behielt diese Beobachtung für sich. Der Krieg hatte sie zu Freunden gemacht, und dabei sollte es bleiben. Nach dem Sieg sah ja alles anders aus: Larry würde nach New York zurückkehren, und Joe würde am eigenen Badestrand am Meer, irgendwo im Süden, schwimmen. Nach ein paar Briefen hin und her würde dann die Freundschaft einschlafen. Wie das so ist…
An diesem 12. April 1945 standen sie vor ihren Trucks und warteten auf Eisenhower und seine Generäle. Wie immer war Joe Williams bestens unterrichtet und hatte zu Larry gesagt:»Da unter der Erde haben sie 'ne tolle Sache entdeckt. Ich habe gehört, daß in den Salzstollen Millionen liegen sollen.«»Tote?«fragte Larry ahnungslos.
«Dollar, du Idiot. «Wenn Joe Idiot sagte, war das wie eine Zärtlichkeit.
«Da unten? Wieso das denn?«
«Noch keiner weiß was Genaueres. Jedenfalls kriechen da unten Kunstexperten rum und sollen sich wie Kokssüchtige benehmen. Glaubst du, Eisenhower kommt sonst in dieses Nest, wenn da unten nicht eine Sensation liegt? Mensch, Larry, denk doch an die Bergwerke, die wir schon hinter uns haben! Gemälde, Teppiche, Silber, Bücher, Porzellan, Gobelins, Ikonen, Statuen, Patentakten… Kunstschätze aus allen Jahrhunderten und Ländern, aus China, Ägypten, Rußland, Mesopotamien, Persien… ganze Museen! Aber das hier muß das Tollste sein. Wenn Eisenhower sich sogar persönlich auf die Socken macht — «
«Na und?«Larry Brooks hob die Schultern.»Man wird alles raufholen und zu dem anderen tun.«
«Und in die Staaten bringen, Larry!«
«Klar. Wir haben ja den Krieg gewonnen… kann nicht mehr lange dauern.«
«Wir haben ihn gewonnen. Das hast du richtig gesehen. Wir! Also auch du und ich.«
«Wenn man's so sieht… stimmt.«
«Nun denk einmal nach, Larry-Boy!«Williams hatte sich neben Brooks an den Truck-Kühler gelehnt.»Von all den Millionen — sagen wir ruhig Milliarden Dollar, die man jetzt überall wegschleppt —, was sehen wir davon? Nichts! Keinen Dreck unterm Daumen. Das geht alles in die große Tasche von Washington. Siegerbeute! Aber wir, Larry, wir sind ja auch die Sieger. Was bleibt in unseren Taschen hängen? Ein paar zerquetschte Chesterfields! Soll das alles sein, was wir Mami mitbringen? Dafür haben wir Kopf und Arsch hingehalten… für nichts?«
«Ich komm da nicht mit, Joe. «Brooks hatte den Kopf geschüttelt.»Was soll das alles? Wülste in eurem Schloß am Meer ein Privatmuseum aufmachen? Und dafür Bilder oder sonstwas klauen?«
«Sicherstellen, Larry. Sicherstellen. Für alle Zeiten…«
«Joe, du hast'n Knall. «Brooks hatte den Kopf zum wiederholten Male geschüttelt.»Wie willst du die Dinge rüber in die Staaten bringen?!«
«Das ist alles nur eine Frage der Organisation. Wenn Schiffsladungen von Kunstgütern über den Teich schwimmen, ist auch 'ne Ecke für uns dabei. Eine kleine Ecke im großen Schiff… Larry, in ein paar Jahren sitzt du in Florida unterm
Sonnenschirm, die süße Dolly neben dir, eine Suite hast du im besten Hotel und bezahlst das alles aus der linken Hosentasche.«
«Das kannst du dir doch schon alles leisten, Joe.«
«Aber du nicht, Larry-Boy! Ein paar Bildchen nur, und du hast ein neues Leben, bist ein anderer Mensch… und hast dir nichts anderes genommen, als was dir als Sieger über die >Krauts< zusteht. Überleg mal.«
«Und wie soll das gehen, Joe?«
«Warten wir ab, was sie da unten entdeckt haben. Und dann spielen wir Hühnchen und picken uns ein paar goldene Körnchen heraus.«
«Und dann?«
«Warten wir weiter ab. «Joe Williams lachte und klopfte Larry auf die Schulter.»Selbst Gott brauchte für die Schöpfung der Welt sechs Tage.«
Die Ankunft von Patton, Bradley und Eisenhower in Merkers war ein kleines militärisches Fest. Die deutschen Armeen befanden sich in Auflösung und kämpften nur noch im Norden, um Berlin und im Ruhrkessel. In Torgau hatten sich amerikanische und sowjetische Generäle die Hand gereicht, die Zj-sammenschnürung Deutschlands war vollendet, die Kapitulation aller deutschen Wehrmachtsverbände war nur eine Frage von Tagen, noch über 300000 Flüchtlinge aus dem Osten mußten in Sicherheit gebracht werden, und Goebbels rief in einer seiner letzten Reden in das verwüstete Land hinein:»…aber wenn wir abtreten, dann soll der Erdkreis erzittern…!«
Das war deutlich genug. Eisenhower kam nicht als Feldherr nach Merkers, sondern als Sieger.
Aber es gab keine Parade, kein Abschreiten einer Ehrenformation. Patton, Bradley und Eisenhower begaben sich sofort in das Verwaltungsgebäude des Salzbergwerkes.
Fred Silverman und Bob Mulligan erwarteten ihn im Zimmer der Direktion. Eberhard Moschik, der Grubendirektor, und einige andere Herren erhoben sich von ihren Stühlen, als die Generäle ins Zimmer traten. Der deutschen Grubenleitung war ab sofort das Betreten des Betriebsgeländes verboten worden. Unter Bewachung, als handele es sich um Kriegsverbrecher, hatte man sie zum Verwaltungsgebäude geführt, das von amerikanischer Militärpolizei, kurz MP genannt, hermetisch abgeriegelt worden war. Den Befehl dazu hatte Silverman kraft einer Vollmacht aus Washington gegeben. Merkers war eine Angelegenheit des Geheimdienstes OSS geworden. Die erste Handlung, die Silverman vorgenommen hatte, war die Beschlagnahme der Lagerlisten des Bergwerkes, in denen, mit preußischer Gründlichkeit, jeder Gegenstand aufgeführt war, der tief unten in den Salzsolen versteckt sein mußte.
Beim Durchlesen dieser Listen hatte sich Silverman hinsetzen müssen. Ihm, dem Kunsthistoriker, war schwindlig geworden.»Mein Gott«, hatte er zu Mulligan gesagt,»das darf nicht wahr sein! Das ist der Fund des Jahrhunderts… dagegen ist das Grabmal des Tutenchamun eine Müllgrube!«
Nach einer kurzen Begrüßung stellte sich Silverman vor. Auch Mulligan machte sich bekannt. Für General Patton waren sie keine Unbekannten, schon bei drei früheren Naziverstecken waren die OSS-Männer tätig geworden und hatten Millionenschätze aus deutschen Museen entdeckt. Ihre Listen für den Geheimdienst waren sensationell.
«Ich schlage vor, General, wir fahren sofort in die Grube ein«, sagte Silverman ohne lange Vorreden.»Das, was wir hier vorfinden, kann man nicht erklären, das muß man sehen und dann die Lagerlisten lesen. Ich habe ja bereits gemeldet, daß es so etwas noch nicht gegeben hat.«
«Da bin ich wirklich gespannt. «Eisenhower, mit Mütze und in einem leichten Mantel, sah sich um. Die Generäle Patton und Bradley trugen ihre Helme mit den vier großen Sternen auf der Stirnseite. Sie nickten ihrem obersten Chef zu.
«Mister Platow wird uns führen. «Silverman zeigte auf einen mittelgroßen, stämmigen Mann, der in der Gruppe der Grubenleitung stand. Da alle Deutschen vorläufig verhaftet worden waren und ihr ferneres Schicksal nicht kannten, war auch er abwartend, vorsichtig und bedrückt.
«Vortreten!«befahl Silverman auf deutsch.
Grubeninspektor Johannes Platow trat zwei Schritte vor. E-senhower musterte ihn kurz und wandte sich dann ab.»Gehört er zu den Kriegsverbrechern?«fragte er.
«No, Sir. «Silverman versuchte ein knappes Lächeln.»Dann hätte ich ihn nicht mit Mister angeredet…«
Zwanzig Minuten später waren die Generäle, Silverman, Mulligan, vier andere Offiziere und drei MPs in den Schacht eingefahren. Auf der Sohle in 450 Meter Tiefe verließen sie den Förderkorb und betraten nach einem kurzen, hervorragend ausgebauten Tunnelgang die Lagerstätte. Johannes Platow ging voraus und winkte mit seiner Grubenlampe. Die drei Militärpolizisten und zwei Lieutenants, denen man auch eine Grubenlampe in die Hände gedrückt hatte, folgten ihm und verteilten sich. Sie hoben die Grubenlampen hoch und verstummten wie in Ehrfurcht.
«Okay!«sagte Silverman.»Bitte, Sir — «
Die Generäle traten ein. Vor ihnen lag eine riesige Halle, die an ein mächtiges Domgewölbe erinnerte. Kristallen schimmerte es von den Wänden, der Boden war eben, zum Teil mit Brettern belegt, zum Teil nackter, geglätteter Fels.
Über zwei Drittel der Halle waren vollgestellt mit Kisten, Kartons, Säcken, stählernen Behältern und hier unten angefertigten Verschlagen.
Ein paar Kisten und Säcke waren von Silverman und seinen Helfern aufgebrochen und aufgeschnürt worden, und der n halt lag nun, wie in einer Schaufensterauslage, vor ihnen. Altrussisches Silbergeschirr, ägyptische Plastiken, Gemälde und breite, geschnitzte Goldrahmen, goldene russische Kirchenleuchter, Banknoten, Goldmünzen, Goldbarren, edelsteinbesetzte Inka-Masken. Ein Berg von Schmuck mit funkelnden Diamanten, eine Sammlung antiken Glases, ein aufgerollter flämischer Gobelin… im Schein der Grubenlampen war es, als wolle sich das Märchen vorn Sesam-öffne-dich wiederholen und ihnen allen Reichtum der Welt zu Füßen legen.
Fassungslos stand Eisenhower vor diesen Schätzen. Hinter ihm starrten Patton und Bradley stumm vor Staunen in die
Halle hinein.
«Jesus — «sagte Eisenhower leise, ging einen Schritt weiter und stellte sich auf die Schienen der schmalen Transportbahn, die bis zum Ende der Halle verlegt waren. Vor ihm lagen Tausende von Säcken, jeder korrekt mit einem Schild an der Schnürstelle, auf dem der Inhalt angegeben war. Auf der linken Seite lagerten die Kisten, schnurgerade aufgestellt.»Jesus… das ist unglaublich. Captain, das sind alles Kunstschätze?«
«Alles, Sir. «Silverman hatte die Listen in der Hand und las daraus vor. Mulligan hielt die Grubenlampe über ihn.»Ich gebe nur ein paar Beispiele. In dieser 450-Meter-Sohle lagern — «er zeigte auf die Sackreihen —»nach der sichergestellten Liste, die wir noch überprüfen müssen, folgende Werte, die fast das gesamte deutsche Reichsvermögen ausmachen: Deutsches Papiergeld im Wert von 187 Millionen Dollar, 110 000 britische Pfund, 4 Millionen norwegische Kronen, 89 000 französische Francs und — «er sah kurz zu Eisenhower hin, — »238 Millionen Dollar in purem Gold! Auf der anderen Seite sehen Sie über 3000 Kisten mit dem Inhalt unschätzbarer Kunstwerke aus 15 Berliner Museen, aus Weimar, Reinhardsbrunn, Königsberg und vielen anderen Museen. In einigen Nebenräumen lagern noch Kisten mit russischen Ikonen, unersetzlichen Monstranzen, drei Pharaonenstatuen, handgeschriebenen Klosterbibliotheken und einer ganzen Bibliothek mit in Silberplatten gebundenen Büchern, edelsteinverziert. «Silverman machte eine spannungssteigernde Sprechpause, ehe er fortfuhr.»Wir alle kennen Rembrandts berühmtes Gemälde >Der Mann mit dem Goldhelm<. Jeder kennt die >Vier Apostel< von Albrecht Dürer. Und es gibt keinen, der sie nicht von Millionen Nachbildungen her kennt: die Büste der Nofretete. Hier, Sir — «Silverman machte eine weite Handbewegung —»hier lagern sie!«»Jesus!«sagte Eisenhower noch einmal, und diesmal war Erschütterung in seiner Stimme.»Dieser Tag wird in die Historie eingehen! Captain, ich möchte mir das näher ansehen. «Johannes Platow und Silverman führten Eisenhower, Patton und Bradley durch die Riesenhalle und einige Nebenräume.
Sie sahen Gemälde, die man nur aus Kunstbüchern kannte, sie legten Bild nach Bild nur einer Kiste um und wußten, daß allein diese eine Kiste Millionen Dollar wert war, sie kauerten sich vor die großen Koffer mit den Monstranzen und hoben die Ikonen der berühmten Nowgoroder Schule in den Schein der Grubenlampen. Und sie sprachen kaum ein Wort, und wenn sie etwas sagten, redeten sie mit gedämpfter Stimme, als seien sie in einer Kirche. Auch Kunst kann stumm machen.
Bei einem Stapel von zwanzig gefirnißten Kisten mit dicken Eisenschlössern, denen man an den abgestoßenen Ecken ansah, daß sie schon oft herumtransportiert worden waren, blieb Silverman stehen. Jetzt wurde sogar seine forsche Stimme etwas stiller, ja fast feierlich.
«Auf den Kisten steht >Wasserbaubehörde Königsbergs «sagte er.»Und sie haben alle einen roten Punkt. Wir waren erstaunt, da auch in der Liste genau diese Bezeichnung steht. Wieso lagert man Behördenakten ein? Eine Tarnung für geheime Reichssachen? Akten der SS oder des Außenministeriums? Unterlagen aus Hitlers Parteikanzlei? Alle Kunstwerte sind detailliert aufgeführt, und nun zwanzig Kisten einer Behörde? Das machte mich besonders neugierig, und ich habe eine Kiste aufbrechen lassen. Nur eine, Sir… die anderen wage ich nicht anzurühren. Geschützt durch Kissen, Federbetten und Decken kam das hier zum Vorschein. «Er nahm mit Hilfe von Mulligan und zwei MPs einen der schweren Deckel von der Kiste und winkte. Die Grubenlampen wurden hingehalten. Golden, in allen Farben, vom hellsten Gelb bis zum Schwarzbraun, schimmerte eine Wandtafel aus Bernstein: Mosaike und Schnitzereien, Girlanden und Rosetten, und umgeben von einem besonders prächtig geschnitzten Rahmen aus Bernstein ein geschliffener venezianischer Spiegel.»Das Bernsteinzimmer von Zar Peter dem Großen aus dem KatharinenPalast von Zarskoje Selo, jetzt Puschkin, in der Vollendung des Hofarchitekten der Zarin Elisabeth, dem Italiener Rastrel-li. «Silverman hielt den Atem an, ehe er fortfuhr:»Sir… Sie stehen vor einem der größten Wunderwerke der Kunst. Lenin nannte es ein nationales Heiligtum… ein Heiligtum des russischen Volkes.«
«Wieviel Dollar?«fragte Patton nüchtern, während Eisenhower voll Ehrfurcht schwieg.
«Unschätzbar, Sir. Dafür gibt es keine Wertangabe mehr. Wer könnte sagen, was die Sixtinische Madonna kostet?«
«Und so was fällt in unsere Hand«, sagte Eisenhower leise. Mulligan und die beiden MPs stellten den Kistendeckel wieder vor die Wandtafel.»Das darf keinen Tag länger mehr hier lagern. Das muß sofort, ich sage sofort, in Sicherheit gebracht werden. Captain, alle diese Schätze hier sind auf schnellstem Wege nach Frankfurt zu bringen, in das Gebäude der Deutschen Reichsbank. Die Tresore dieser Bank sind erhalten geblieben. Die Gemälde, Figuren und die anderen Kunstgegenstände kommen in den Central Collecting Point Wiesbaden (Zentrale Kunstsammelstelle der US-Streitkräfte in Wiesbaden) und bleiben dort, bis über die Kunstbeute entschieden wird. Patton — «
«Sir?«General Patton hob den Kopf.
«Sie sorgen für die nötige Sicherheit der Transporte. Schärfste Bewachung. Es könnte zu Sabotageakten oder Überfällen kommen. Ich vermute, daß wir genau beobachtet werden.«
«Es wird nichts passieren, Sir. «Patton lächelte breit.»Es wird sein, als verlagere man den amerikanischen Goldschatz aus Fort Knox.«
Nach dem Abflug der Generäle kamen Joe Williams und Larry Brooks wieder zusammen. In der Kantine des Transportbataillons saßen sie sich bei Kaffee und Schokoladenkuchen gegenüber, rauchten eine Lucky Strike, und Joe kam auf das alte Thema zurück, daß auch der kleine Soldat der Sieger sei und seinen Anteil haben müßte. Sogar Vergleiche zog er, der kluge Junge:
«Denk an Alexander den Großen, Larry-Boy«, sagte er.»Als der Persien eroberte, überließ er die Städte seinen Soldaten, und die konnten sich nehmen, was sie wollten. Auch die Frauen… Junge, das waren noch Zeiten!«Er beugte sich über den Tisch vor und senkte seine Stimme zu einem Flüstern.»Ich habe gehört, daß wir in den nächsten Tagen den ganzen
Reichtum wegbringen sollen. Vierhundert Tonnen Kunst… da fallen ein paar Pfund weniger nicht auf. Laß das mal Joe machen.«
Nach Eisenhowers Besuch wurde das Bergwerk zur Besichtigung für die amerikanischen Offiziere und die niedrigen Dienstgrade freigegeben. Mit der Sorglosigkeit und Unkompliziertheit der Amerikaner stöberten die Besucher zwischen den Kisten und Kartons, Koffern und Verschalungen herum, rissen Bretter heraus, schlitzten Kartons auf, wühlten zwischen den Ikonen und Gemälden, den Silbergeschirren und Steinskulpturen, den Exponaten der ostasiatischen Sammlungen und ägyptischen Ausgrabungen. Nie ist darüber gesprochen worden und nie hat man gegen irgendwelche Personen ermittelt, aber als am 14. April auf Befehl von General Patton die erste schwere Truck-Kolonne mit den Kunstschätzen des Bergwerks Kaiseroda II/III von Merkers beladen wurde, waren eine Menge Kisten aufgebrochen und unersetzliche Kunstwerke einfach verschwunden. Es war nicht anders als bei dem anderen ungeheueren Kunstfund im Bergwerk Grasleben, das am 12. April von den Amerikanern erobert und später am 1. Juni 1945 an die Engländer übergeben wurde. In einem Top-Secret-Bericht der Engländer hieß es:»In allen aufgesuchten Lagerstätten sind verschiedene Kisten von den Investigators des CIC zu Anfang der Besetzung aufgebrochen und mit halb herausgezerrtem Inhalt zurückgelassen worden. In Grasleben waren von den 6800 Kisten mehr als die Hälfte offen, als sie später herausgeholt wurden…«
Am 14. April fuhr der erste Truck-Konvoi aus Merkers weg in Richtung Frankfurt. Patton hatte sein Versprechen gehalten: Der Transport war gesichert wie noch nie ein Konvoi vorher. Die 29 riesigen Lastwagen waren bewacht von fünf Zügen Infanterie, zehn mobilen Flakgeschützen und zwei MG-Trupps. Über der Kolonne kreisten drei Beobachtungsflugzeuge, und zwei Mustang-Bomber überflogen immer wieder die Trucks, um einzugreifen, wenn der» Werwolf«, die von den Amerikanern so gefürchtete deutsche Partisanenbewegung, den Transport überfallen sollte.
Die letzten drei Wagen wurden von Larry, Joe und einem farbigen GI gefahren, der, wie viele Schwarze, den biblischen Vornamen Noah trug. Es war eine langweilige Fahrt durch das zerstörte deutsche Land, durch Felder und Wälder und Dörfer, durch Städte, in deren Fenstern noch die weißen Fahnen hingen und wo lange Menschenschlangen an den Lebensmittelausgaben standen. Um Schokolade bettelnde Kinder rannten neben den Lastwagen her, und abends, bei der Rast an Stadträndern vor allem, strichen deutsche Mädchen um die Kolonne herum, um sich für Butter, Zucker, Mehl, gebratene Hähnchen oder eine Stange Zigaretten anzubieten. Zwar hieß Eisenhowers Befehl: No fraternization — aber wer konnte den deutschen» Fräuleins «widerstehen? Mary, June und Anny waren weit weg, tausend Meilen übern großen Teich…
Larry und Joe waren mit sich zufrieden. Unter den Sitzen ihrer Trucks und den stählernen Ersatzteilkisten an den Seiten lagen bei Larry sieben Ikonen, vier alte, aus purem Silber getriebene, einzigartige russische Leuchter und ein aus dem Rahmen geschnittenes, zusammengerolltes Gemälde, das mit van Dyck signiert war. Joe transportierte in seinem Wagen zwei altrussische dreiflügelige Altar-Ikonen, zwei assyrische Steinmasken, ein Gemälde von Caravaggio, ein Gemälde von Tizian, einen kleinen Koffer voll altägyptischem Goldschmuck und die von Alexander von Humboldt dem Berliner Museum für Völkerkunde geschenkte, in der gesamten Kunstwelt berühmte Serpentinscheibe mit dem Sonnengott der Inkas. Noah, der den dritten Wagen am Ende fuhr, hatte nichts in den Kästen oder unter dem Sitz. Ihn interessierte nicht, was er da durch die Gegend fuhr… für ihn war wichtig, daß ein deutsches» Fräulein«, ein wonderful weißes Mädchen, nur eine Stange Chesterfield oder ein halbes Pfund Butter zusätzlich einem halben Hähnchen kostete.
Dann, sie hatten ihr Nachtquartier am Stadtrand von Alsfeld aufgeschlagen, geschah das, was niemand begreifen konnte, was nie geklärt wurde, was einfach unglaublich war und trotzdem eine Tatsache: Von den 29 scharf bewachten Trucks fehlten am nächsten Morgen drei! Sofort schwärmten Suchtrupps aus, durchkämmten die ganze Gegend, über Funk wurde der ungeheure Vorfall zur 3. Armee gemeldet. General Patton schrie herum, erließ den Befehl der strengsten Geheimhaltung, so geheim, daß Eisenhower erst viel später davon e-fuhr… die drei Lastwagen blieben verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Die Fahrer waren: Larry Brooks, Joe Williams und Noah Rawlings.
«Die besten Burschen, die wir haben!«sagte der Transportkommandant, ein Colonel.»Was ist denn da passiert?«Zwei Tage stockte der Konvoi, zwei Tage und Nächte wurde gesucht, Hubschrauber überflogen das Gebiet, so niedrig es möglich war, wie Ameisen tuckerten die Jeeps durch das Land. Nicht eine Spur fand man… eine Jeep-Besatzung stieß am zweiten Tag in einem Waldstück südlich von Alsfeld auf den toten Noah Rawlings. Er hatte ein Loch in der Stirn, lag da mit bloßem Oberkörper, und in seine glänzende, schwarze, muskulöse Brust war ein großes Hakenkreuz eingeschnitten. Für die Amerikaner war die Lage klar: Der deutsche» Werwolf «hatte die drei Trucks geholt. Wie das möglich war, ohne einen Laut, vorbei an den Wachen, blieb das große Geheimnis. Dem» Werwolf «war — man sah es ja — alles zuzutrauen. Wo Larry und Joe geblieben waren, wurde zum Rätsel. Hatte man sie mitgenommen? Hatte man sie wie Noah erschossen, aber besser versteckt? Die Suche wurde abgebrochen und dem amerikanischen Stadtkommandanten von Alsfeld übergeben. Der Konvoi fuhr weiter nach Frankfurt.
Nur Fred Silverman stieß einen dumpfen, fast röchelnden Laut aus, griff sich an die Brust, als stehe plötzlich sein Herz still, und wurde bleich wie ein Leichentuch, als die Meldung in Merkers auf seinen Tisch kam.
«Das Bernsteinzimmer — «stammelte er und sah dabei Mulligan aus entsetzten Augen an.»Bob… das Bernsteinzimmer war auf den drei Trucks. In zwanzig Kisten! Und vierzehn französische Impressionisten! Bob!«Und dann schrie er seine ganze Qual hinaus:»Das Bernsteinzimmer ist weg!«
An diesem Abend besoff sich Silverman so, daß man glaubte, er werde an Alkoholvergiftung sterben. Er schüttete den Whiskey in sich hinein, als sei er ein Faß ohne Boden. Besinnungslos fiel er um und wurde ins Militär-Hospital gebracht.
Von da an interessierte ihn nicht mehr, was die Konvois vom 14. und 17. April aus der Grube von Merkers nach Frankfurt brachten. Ihn interessierten überhaupt keine neu entdeckten Lagerstätten der Nazis mehr… er kannte nur noch eins: die Suche nach dem Bernsteinzimmer — bis zum Ende seines Lebens.
Das Bernsteinzimmer war ihm zum Schicksal geworden.
Sie hielten auf einer kleinen Straße südlich von Alsfeld am Ufer des Flüßchens Antrift an, um kurz nachzusehen, was Noah im dritten Wagen tat und vor allem dachte. Bei der A> fahrt hatte er nichts gesagt… sein Master-Sergeant hatte es befohlen, also mußte es richtig sein. Aber mittlerweile mußte es auch einem simplen Geist wie Noah aufgefallen sein, daß irgend etwas nicht stimmte. Als Larry und Joe nach hinten kamen, hockte Noah mit nachdenklichem Gesicht hinter seinem Lenkrad und kaute auf seinem Gummi.
«Alles okay?«fragte Joe. Noah schüttelte den Kopf.
«No…«
«Wo fehlt's denn?«
«Joe, das ist doch ein krummes Ding, was wir hier machen.«»Unser Bibeljunge wacht auf!«Williams lachte. Er wartete, bis Noah aus dem Truck gesprungen war. Er war ein großer, athletischer Neger mit riesigen Armmuskeln, der einen Weltmeister im Boxen abgegeben hätte, wenn er nicht Angst vor Schlägen an den Kopf gehabt hätte. Als Kind hatten ihm weiße Jungen einen Stein an den Kopf geworfen, vier Wochen lag er im Hospital. Seitdem ließ er nichts mehr an seinen Kopf heran, auch wenn ihm Trainer und Manager vorrechneten, daß er Millionen Dollar verdienen könnte mit seinen Muskeln und seiner Bullenstärke.
«Ich weiß nicht, was ihr vorhabt«, sagte Noah bedächtig.»Ihr habt mich da hineingezogen, ich bin an allem mitschuldig… also steht mir auch ein Drittel von allem zu. Egal, was.«»Unser Blackyboy kann rechnen. «Williams lachte wieder, aber es klang jetzt etwas rauher, mit einem gefährlichen Untertan.»Paß mal auf, Kleiner. Das hier ist ein Sonderkommando. Das >Special of Joe Williams<. Verstehst du?«
«No.«
«Ist auch nicht nötig. Für uns, Blacky, ist der Krieg zu Ende, wir sind vermißt, gehen eine Zeitlang in Deckung und tauchen irgendwann mal irgendwo wieder auf, wenn uns alle vergessen haben.«
«Ich will nach dem Krieg nach Hause!«sagte Noah laut.»Joe, ich will nicht tot sein, wenn auch nur so.«
«Okay, darüber reden wir noch. «Williams stieß Brooks verstohlen an. Der verstand den Rippenstoß nicht und hob nur die Augenbrauen.»Du bist noch vor uns bei deiner Mami…«»Meine Mom ist tot.«
«Na ja. War nur so 'ne Redensart.«
«Und was wird aus den Trucks?«
«Da fällt mir noch was ein. «Joe grinste breit.»Mir fällt zur Zeit überhaupt viel ein. Los, fahren wir weiter.«
Noah hielt seine breite Hand hin und sah Williams fordernd an.»Ein Drittel, Joe. Garantiert.«
«Du erhältst, was dir zusteht, Blacky. «Williams schlug in die Pranke ein.»Verlaß dich drauf.«
Sie fuhren die ganze Nacht durch, sehr vorsichtig und nur auf kleinen Nebenstraßen, die eine feste Decke hatten und deshalb keine Spuren aufnahmen. Es regnete sogar eine Stunde, als helfe ihnen auch noch die Natur, spurlos zu verschwinden. Beim Morgengrauen kamen sie in das Gebiet des Naturschutzgebietes Vogelsberg, bogen in einen befestigten Waldweg ab und hielten am Fuß des 772 Meter hohen Berges Taufstein an. Dichter Wald umgab sie.
Den ganzen nächsten Tag kletterten sie auf dem Taufstein herum und suchten.»Wo ein Berg ist, gibt's auch Höhlen!«hatte Joe gesagt.»Wir werden doch wohl noch zwanzig Kisten unterbringen können…«
Den ganzen Tag lang kreisten über ihnen Hubschrauber und ein Aufklärungsflugzeug, sonst störte sie niemand.»Sie suchen uns«, sagte Larry einmal. Sie lagen im Wald unter den Bäumen, flach auf den Boden gedrückt, bis der Hubschrauber weiterknatterte.
«Sie werden uns noch monate-, noch jahrelang suchen, Larry. «Williams setzte sich und holte eine Zigarette aus der Tasche. Er trug seinen Stahlhelm, wohl berechnend, daß sich jeder» Kraut«, wenn er in die Nähe kam, beim Anblick des amerikanischen Stahlhelms schnell aus dem Staub machte. Noch war ja Krieg, noch waren die US-Truppen Feinde, noch durften sie auf alles schießen, was verdächtig war. Die Ruhe im eroberten Land war so lange trügerisch, wie es noch keine Kapitulation der deutschen Wehrmacht gab. Die Heeresgruppe B unter Generalfeldmarschall Model hatte sich zwischen Rhein, Ruhr und Lippe eingeigelt und den» Ruhrkessel «geschaffen. Am 14. April überrannten die 9. US-Armee und die 1. US-Armee die deutschen Truppen und Model erschoß sich selbst. Zur gleichen Zeit stießen die Russen nach Berlin vor, im Norden Deutschlands sammelten sich die letzten deutschen Divisionen, abgeschnitten von allem, von Munition, Nachschub und Verpflegung. Aber der große, ersehnte Befehl: Das Ganze halt. Helm ab. Gott, wir danken dir… war noch nicht gekommen. Joe Williams hatte schon recht. Ein amerikanischer Stahlhelm verscheuchte jetzt noch die» Krauts«.
Es war ausgerechnet Noah, der eine Höhle fand. Dichtes Gebüsch verdeckte den Eingang, der gerade hoch genug war, daß man die Kisten durchschieben konnte. Ein schmaler Gang kam zuerst, dann die Höhle selbst, uneben, zerklüftet, feucht, glitschig, aber groß genug, um die zwanzig Kisten aufzunehmen.
«Bernstein rostet nicht«, sagte Joe, nachdem er die Höhle besichtigt hatte.»Und die Kisten haben eine Schutzschicht gegen Feuchtigkeit. Jungs, hier können sie eine Zeitlang stehen, bis die Welt anders aussieht. Los, spuckt in die Hände. «Nur mühsam kamen sie mit den Trucks bis in die Nähe der Höhle heran, und dann begann eine Knochenarbeit mit Schleppen, Heben und Drücken, Meter um Meter, bis sie alle zwanzig Kisten in die Höhle gezwängt hatten. Sogar drei junge
Bäume hatten sie gefällt, um die Stämme als Rollen zu benutzen, und es zeigte sich, daß Noahs Bullenkräfte unbezahlbar waren. Er spannte sich wie ein Stier in die Seile und zog die Kisten den schrägen Weg zur Höhle hinauf. Larry und Joe drückten von hinten, keuchend, ächzend und mit Flimmern vor den Augen. Am Nachmittag hatten sie es geschafft.
«Und nun?«fragte Noah. Mit bloßem Oberkörper, schweißbedeckt, saß er auf dem Trittbrett seines Trucks und löffelte aus einer Dose kaltes Huhn.»Die Kisten hätten wir weg. Was wird aus uns?«
«Darüber denke ich nach. «Joe Williams nahm einen Schluck Whiskey aus der Flasche.»Zuerst sprengen wir den Eingang zur Höhle zu.«
«Womit?«fragte Larry.
«Larry-Boy, Joe denkt an alles. Ich habe eine Stange Sprengstoff mitgenommen. Die reicht. Brauchen ja nur den Eingang zu verschütten. Und dann? Alles schön der Reihe nach.«
Joe kannte sich aus, es gab keine laute, weithin hörbare Explosion, als die Ladung hochging und der Höhleneingang verschüttet wurde. Zufrieden besichtigten er und Larry das Ergebnis und drückten sich die Hände.
«Das ist perfekt!«sagte Larry.»Da findet niemand mehr die kleinste Spur.«
«Und nun zum nächsten. «Joe Williams wirkte ausgesprochen heiter.»Jetzt machen wir eine kleine Spazierfahrt mit zwei Trucks.«
Noah fragte nicht lange, als er hörte, daß Williams sich die Gegend ansehen wollte, wo man die Trucks verstecken konnte. Wieder über einsame Wege fuhren sie zurück in Richtung Alsfeld, bis Williams an einem Waldrand zwischen den Flüssen Antrift und Schwalm plötzlich anhielt.»Hier — «sagte er zu Larry, der neben ihm saß. Hinter ihnen bremste Noah.»Das ist eine gute Stelle.«
«Wozu?«fragte Larry verwundert.
«Zum ersten Schritt in die Zukunft, Baby. «Joes Stimme hatte sich auf einmal verändert. Sie klang kalt und metallhart.»Wir steigen aus, du nimmst deine Pistole und schießt Noah ein schönes Loch in die Stirn.«
«Nein, Joe!«Larry zuckte zusammen und duckte sich wie eine Katze zum Sprung.»Das kannst du nicht verlangen! Das mache ich nicht. Du bist total verrückt, Joel«
«Verrückt bist du, Larry. «Williams sah Brooks mit einem kalten Blick an.»Du bist auf der Leiter, Millionär zu werden. Nur noch ein paar Stufen, und du bist ganz oben! Der Junge aus den Slums.«
«Nicht für einen Mord!«schrie Larry.»Warum tust du es nicht?!«
«Ich will mir sicher sein. «Joes Kälte ließ Brooks frieren.»Ich muß wissen, daß du mich nicht verrätst, mir nicht in den Rücken fällst, mich nicht betrügst.«
«Ich bin doch dein Freund, Joe — «
«Freundschaften können bei Millionen Dollar sterben. Wenn du Noah in seinen Himmel schickst, weiß ich, daß du immer zu mir hältst.«
«Das schwöre ich dir, Joe.«
«Dann nimm die Pistole und geh zu Noah…«
«Joe — «
«Ja oder nein? Auch Schwüre kann man vergessen, aber ein Killer vergißt nie! Wir sind jetzt Außenseiter, Larry, Vogelfreie… da gelten andere Gesetze. Wir beide bauen uns ein neues Leben auf. Laß nicht einen Balken auf dich runterstürzen.«
Brooks verstand. Er warf noch einen verzweifelten Blick auf Williams, stieg aus dem Truck und ging nach hinten. Noah war ebenfalls ausgestiegen und sah ihm entgegen. Er hatte seine Jacke nur über die Schulter geworfen, der breite Brustkorb war bloß, er schwitzte noch immer. Je näher Larry zu ihm kam, um so langsamer ging er. Seine rechte Hand lag auf dem Koppel, nicht weit von seinem Pistolenhalfter entfernt.
Um sein Herz krallte es sich wie eine Eisenklammer, als er Noahs breites, grinsendes, glänzendes schwarzes Gesicht sah. Tu etwas, dachte er, frag mich etwas, greif mich an, laß dein Gehirn arbeiten und die Lage erkennen, Noah, steh nicht so grinsend herum, merk doch endlich, was los ist… Aber wie sollte der gute, harmlose Noah Rawlings merken, daß sein Leben nur noch eine knappe Minute dauern würde?
«Hier stellen wir die Trucks ab?«fragte er sogar ungläubig.»Und den ganzen Weg latschen wir zurück? Larry, das ist doch'n idiotischer Plan. Meine Beine sind fast lahm…«
«Wir gehen auch nicht zu Fuß«, sagte Larry mit erstickter Stimme. Er spürte in seinem Nacken Joes Blick, der sich aus dem Wagenfenster lehnte und wartete.»Es ist alles so furchtbar, Noah, alles so sinnlos…«
Mit einem Ruck riß er die Pistole heraus, starrte auf Noahs Stirn, ließ den Lauf in Augenhöhe schnellen und drückte sofort ab. Er war einer der besten Schützen, und genau in der Mitte der Stirn platzte das kleine Loch auf. Mit einem erstaunten Kinderblick sah ihn Noah an, obwohl er schon in derselben Sekunde tot war, dann warf ihn der Aufschlag nach hinten auf den breiten Rücken. Nur ein schmaler Blutfaden floß aus der Wunde.
Williams sprang aus seinem Truck und rannte zu Larry. Er klopfte ihm auf die Schulter, beugte sich stumm über den Toten, nahm sein breites Kombimesser aus dem Gürtel und ritzte in die schwitzige, muskelbepackte Brust ein großes Hakenkreuz. Als er sich aufrichtete, sah er Larrys Pistole auf sich gerichtet.
«Mach keinen Scheiß, Larry«, sagte Joe leise und gefährlich.»Allein bist du eine Null. Nur mit mir kommst du zu 'ner Villa in Miami. Wir sind ein Team, begreif das! Los, steig ein… in Noahs Wagen. Ich fahr voraus.«
«Warum mußtest du auch noch Noahs Brust zerschneiden…«Larry steckte seine Pistole in das Halfter, Joe atmete sichtbar auf. Das war knapp, dachte er. Larry hat ein empfindsames Gemüt, und da gibt es leicht Kurzschlüsse.
«Wenn sie ihn finden, sagt jeder: Das war der deutsche >Wer-wolf<. Und uns haben sie gekidnappt oder auch gekillt und besser vergraben. Wir werden von der Liste gestrichen. Köpfchen muß man haben, Larry.«
«Du bist ein Gangster, Joe«, sagte Larry leise.»Jawohl, ein Gangster. Jetzt weiß ich es. Und die Millionen von deinem
Vater… schmutziges Geld. Heißt ihr überhaupt Williams?«
Joe war weit davon entfernt, beleidigt zu sein. Er gab sogar eine Antwort.
«Wir heißen jetzt Williams, okay? Mein Daddy war ein cleverer Bursche, nicht einen Verdacht, nicht eine Verhaftung, nicht eine Anklage. Wie auch? Er hat mit einer lautlos arbeitenden Organisation ausgesucht hübsche Mädchen an südamerikanische Puffs verkauft. Nie in die USA. Engländerinnen, Schwedinnen, Finninnen, wundervolle Püppchen aus Korea, den Philippinen, Hongkong, Singapur und Macao, braune Schönheiten von Samoa, Tahiti, Fidji und den Cook-Inseln… Larry, die gingen weg wie frischer Schokoladenkuchen. Mit fünfzig setzte sich Daddy zur Ruhe und ließ sich als Wohltäter bis hinauf zum Senat in Washington feiern. «Williams lächelte Brooks breit an.»Das ist doch ein ehrliches Geschäft, Larry, der eine handelt mit Maschinen oder Apfelsinen, der andere mit Fötzchen…«
«Und du bist ein eiskalter Killer!«
«Im Augenblick bist du es, Larry-Boy. Los, steig ein! Wir bringen Noahs Wagen dorthin, wo sie ihn finden werden.«
Sie fuhren durch das Land, stellten Noahs Truck hinter einer einsam am Feldrand stehenden, leeren, verfallenen Scheune ab und kehrten dann zum Taufstein zurück.
Zwei Monate später, im Juni, als der Krieg schon sechs Wochen zu Ende war, meldeten Einwohner von Kronberg im Taunus, daß auf einer Waldschneise seit etwa drei Wochen zwei amerikanische Lastwagen parkten. Ohne Fahrer. Das wäre doch merkwürdig. Ein Jeep mit vier MPs raste zur Fundstelle, sie untersuchten die Trucks, stellten erstaunt fest, daß die Tanks noch halb voll waren, und fuhren sie nach Frankfurt zum Hauptquartier. Dort stellte man anhand der Nummern sehr schnell fest, daß sie zu einer Transportstaffel der 3. Armee gehört hatten und in der Liste der Verluste am 16. April als vermißt eingetragen waren. Bemerkung: Voraussichtlich Überfall des» Werwolfs«. Die Sache deckte sich mit der Meldung über den erschossenen GI Noah Rawlings und dessen später aufgefundenen Wagen.
Der Fall wurde abgehakt und mit einer Randbemerkung geschlossen. Joe Williams und Larry Brooks waren zwar verschwunden, aber nach Lage der Dinge konnten sie nicht mehr leben. Der zuständige Offizier in der 3. Armee erklärte sie für tot und ließ die Angehörigen verständigen.
Larrys Eltern weinten, obgleich sich Larry in den letzten Jahren kaum bei ihnen hatte sehen lassen. Der alte Williams ließ auf dem Friedhof von Whitesands eine große Marmorsäule zum Gedächtnis an seinen Sohn errichten und mit militärischen Ehren und Salutschüssen einweihen. Sein Ansehen als Vater eines Helden stieg noch mehr. Nur Mrs. Williams, die zeit ihres Lebens glaubte, ihr Mann handele wirklich mit Baumwolle und Erdnüssen, nur ihr Sohn sei das große Sorgenkind, sagte tapfer:
«Wer weiß, wofür es gut ist. Joe war ein so ganz anderer Mensch als wir…«
Um diese Zeit lebten Larry und Joe mit gekauften gefälschten Pässen sorglos in Frankfurt, bauten in der Moselstraße ein vormals halbzerstörtes Haus auf und gründeten ein StripteaseLokal mit Bar und drei Etagen Einzelzimmer. Es war ein Edelbordell, eines der ersten nach Kriegsende und deshalb eine Goldgrube. Vor allem die GIs standen Schlange, die Deutschen hatten kaum Geld dafür, denn ein anständiger Fick hatte den Gegenwert von einem Pfund Kaffee, und das kostete 1947 pure 500 Reichsmark. Dafür kauften sich die Deutschen lieber Butter, Speck, einen Braten oder eben Kaffee. Die Dollars aber, welche die GIs den Mädchen zwischen die Titten drückten, waren hartes, gutes Geld.
Ende 1947 funktionierte der Postverkehr mit den USA wieder reibungslos. Die besiegten» Krauts «erwiesen sich nach einer Entnazifizierungswelle als durchaus ernstzunehmende Mitmenschen, während man die ehemaligen Kriegsverbündeten, die Russen, nur noch mit der Zange anpacken wollte, was den Mitsiegern schweres Kopfzerbrechen bescherte und Churchill zu der Bemerkung hinreißen ließ:»Wir haben die falsche Kuh geschlachtet«. Genau am 10. November schickte Joe Williams einen kleinen Brief an seinen Daddy mit der lapidaren Mittei-lung:
Lieber Dad,
Dein Joe lebt. Für heute nicht mehr. Du hörst bald von mir Genaueres. Warte und frage nicht. Dein Jonnyboy.
In Whitesands schlug der Brief wie eine Bombe ein, aber man verhielt sich still. Der alte Williams sprach nicht darüber. Mrs. Williams begann in der von ihnen gestifteten Kirche jeden Tag zu beten, die Marmorsäule blieb stehen und wurde wie bisher mit frischen Blumen geschmückt. Aber sonst hielt sich der Alte einen Teufel an die Bitte seines Sohnes. Er machte einen umfangreichen Apparat von Privatdetektiven und Agenten mobil, ließ seine Beziehungen spielen und kurbelte eine Suchaktion ohne Beispiel an.
Umsonst. Joe, der seinen Vater genau kannte, hatte den Brief natürlich nicht in Frankfurt zur Post gegeben, sondern war extra dafür nach Hamburg gefahren und hatte ihn dort in den Kasten der Bahnpost gesteckt. Hamburg aber war englisch besetztes Gebiet… die Suche des alten Williams lief sich tot. Larry verzichtete auf Nachricht. Die wäre auch nie angekommen — sein Vater, der Leichenwäscher, starb an Kehlkopfkrebs, ihm folgte Anfang 1947 Larrys Mutter an Herzversagen. Seit Larrys Todesnachricht war sie immer weniger geworden, wie eine abbrennende Kerze. Der Tod ihres Mannes blies die Kerze aus.
Die verschüttete Höhle im Vogelsberg-Gebiet war bis jetzt nicht entdeckt worden. Der Eingang war in den beiden Jahren zugewachsen, die Höhle lag sowieso an einer Stelle, an die kaum ein Wanderer kam und die auch für das Forstamt uninteressant war. Die krüppeligen Bäume lohnten keinen Holzeinschlag.
Das Bordell in Frankfurt blühte. Brooks und Williams waren zufrieden. Sie hatten Zeit, und die Zeit half ihnen. Das Bernsteinzimmer geriet in Vergessenheit. Wichtigere Probleme bestimmten das Geschehen: der Aufbau Europas.
Das Bernsteinzimmer nahm ihnen keiner mehr weg.
Kleine Irrtümer merkt man gleich, große Irrtümer bedürfen der Reifung.
Vieles hatte sich geändert seit dem Tag im Jahre 1945, an dem Michael Wachter und Jana Petrowna am Eingang von Reinhardsbrunn standen und dann mit einem vom Ortskommandanten geliehenen Jeep resignierend zurückgefahren waren. Die letzte Spur hatte ihnen eine alte Köchin des Schlosses gegeben: In den Bogengängen unter dem Ahnensaal des Schlosses hätten Anfang 1945 zwanzig große Kisten gelagert. Im Schloß erzählte man sich, daß sie aus Königsberg stammten, wie es ja auch auf den Deckeln stand: Wasserbaubehörde Königsberg, aber daß sie nichts mit einer Behörde zu tun hatten, sondern das berühmte Bernsteinzimmer enthielten. Und weiter erfuhr Wachter von der Köchin, daß die Kisten später in das weitverzweigte unterirdische Bunkersystem des neuen Führerhauptquartiers» Wolfsturm «gebracht werden sollten oder nach Saalfeld. Dort hatte Gauleiter Koch nach seiner Flucht aus Königsberg über Pillau sein neues eigenes Hauptquartier aufschlagen wollen… einerseits, um in der Nähe seines Führers zu sein und damit in Bormanns Nähe, andererseits, um» sein «Bernsteinzimmer nicht aus den Augen zu verlieren. Hitlers und Kochs Pläne wurden durch den schnellen Vormarsch der Amerikaner und der Russen vereitelt — die unterirdischen Anlagen wurden nie bezogen. Aber die zwanzig Kisten, so erzählte die Köchin, waren noch da gewesen, im Bogengang. Dann kamen zwei große Lastwagen mit dem Roten Kreuz und der Rote-Kreuz-Fahne, luden die Kisten auf und fuhren davon. Wohin, das wußte sie nicht, das wußte niemand. Auffällig war nur, daß die Rote-Kreuz-Wagen von SS-Offizieren gefahren wurden. Hohen Offizieren, sagte die Köchin. Sie habe gehört, wie ein Soldat, stramm stehend, gerufen hatte:»Jawoll, Herr Standartenführer. «Wachter und Jana waren sofort nach Saalfeld gefahren, aber in Saalfeld waren die Kisten nie angekommen. Die Spur verrann wie ein Wassertropfen in der Wüste.
«Es ist in der Nähe«, hatte Wachter zu dem Ortskommandanten von Friedrichroda, zu dem Schloß Reinhardsbrunn gehörte, gesagt.»Ich wittere es wie ein Wolf! Es ist hier… im weiten Umkreis… aber es ist da! Irgendwo haben sie es versteckt.«
Der Kommandant, ein Oberstleutnant der 3. US-Armee, sah an Wachter und Jana vorbei an die Wand, an der ein Bild des seit kurzem zum US-Präsidenten gewählten Harry S. Truman hing. Jana, die ihn aufmerksam beobachtete und in seinem Gesicht zu lesen schien, sagte plötzlich:
«Sie wissen mehr, als Sie uns sagen. Was wissen Sie mehr?«Sie sprachen deutsch miteinander, und trotz der zwölf Jahre, die zwischen der Auswanderung und der Rückkehr des Oberstleutnants lagen, hörte man noch den schwäbischen Zungenschlag heraus.»Ich habe Ihnen nichts zu sagen…«
«Das mag sein… aber Sie wissen mehr. «Wachter griff in seine Rocktasche. Der viel zu weite Anzug schlotterte um seinen Körper. Ein Papier holte er heraus, das in vier Sprachen abgefaßt war… in deutsch, englisch, französisch und russisch. Es bat alle Besatzungsmächte, dem Michail Wachterowskij bei der Suche nach dem Bernsteinzimmer mit allen Mitteln behilflich zu sein. Dann folgte eine Beschreibung, was das Bernsteinzimmer überhaupt war und daß es die Nazis aus Puschkin gestohlen hatten. Der US-Oberstleutnant winkte ab und nahm das Schreiben gar nicht in die Hand.
«Ich kenne es ja«, sagte er.»Sie haben mir's schon zweimal gezeigt. «Er zögerte und fügte dann hinzu:»Wenden Sie sich an das OSS beim Stab der 3. Armee. Verlangen Sie Captain Fred Silverman. Aber verraten Sie bloß nicht, von wem Sie den Tip bekommen haben! Ehrenwort.«
«Sie haben es. «Wachter drückte ihm die Hand.»Und was weiß dieser Silverman?«
«Das müssen Sie ihn selbst fragen. Viel Glück.«
«Auch das muß ich suchen. «Wachters Antwort klang wie ein Hilferuf. Er legte den linken, noch immer schmerzenden Arm um Janas Schulter und ging hinaus.
Am nächsten Morgen verließen sie Friedrichroda mit einem zur Verfügung gestellten Beutewagen, in einem alten Adler, in dessen Türen noch Maschinengewehrkugeln steckten.
Es war ein weiter Weg, bis sie Captain Silverman fanden.
Da ihnen, trotz des überall vorgezeigten Schreibens, keiner der US-Kommandeure sagen wollte, wo sich gegenwärtig das Hauptquartier der 3. US-Armee und General Patton befand, schickte man sie nach Nürnberg zu einer Dienststelle des Geheimdienstes. In der fast völlig zerstörten Stadt bekamen sie ein Barackenzimmer bei einer amerikanischen Pioniereinheit, wurden von der Kompanieküche verpflegt und warteten. Viermal wehrte Jana Petrowna in diesen Tagen zudringliche Soldaten ab. Ein schwarzer GI versuchte sogar, erst durchs Fenster zu klettern und nachher die Tür aufzubrechen, aber das bekam ihm nicht gut, denn Jana hatte seit Wochen immer ein Stück Eisenrohr bei sich, wie man es für eine Wasserleitung verwendet. Sie hatte es durchbohren lassen, hatte einen Strick durch das Loch gezogen und trug das Eisenrohr jetzt am Gürtel ihres Kleides.
Es war schon oft nützlich gewesen, so wie auch jetzt, wo der liebestolle GI nach Aufbrechen der Tür schon beim ersten Schritt über die Schwelle einen so kräftigen Hieb über den Kopf bekam, daß er lautlos zu Boden ging und besinnungslos blieb, bis ihn zwei MPs abholten.
«Ich möchte den Kompaniechef sprechen!«rief Wachter e-regt.»Das ist das vierte Mal, daß wir belästigt werden. Ist das etwa das sogenannte freie amerikanische Leben?«
Die MPs verstanden kein Deutsch. Sie starrten Jana nur an und grinsten anzüglich.
«Sei still, Väterchen«, sagte sie da auf russisch.»Was bringt's? Es ist eine böse Zeit, können wir sie ändern? Sieh doch, ich kann mich wehren.«
Zwei Wochen warteten sie in Nürnberg. Zwei verlorene Wochen, wie Wachter meinte. Durch die zerstörten Straßen gingen sie, sahen Frauen und Kinder in den Ruinen wühlen und Ziegelsteine abklopfen, ob man sie noch verwenden konnte. Keller wurden ausgegraben, zerborstene Wände geflickt und die mit Trümmern verstopften Straßen freigeschaufelt. An den
Lebensmittelausgabestellen stauten sich die Menschenschlangen ebenso wie an den Hydranten, wo man eimerweise das Wasser holen konnte. De deutschen Verwaltungsdienststellen hatten unter amerikanischer Aufsicht wieder mit der Arbeit begonnen und versuchten, Ordnung in das Chaos zu bringen. Der Krieg war ja nun seit dem 9. Mai zu Ende, es gab nicht mehr Freund und Feind, sondern nur noch Sieger und Besiegte. Und überall, am Bahnhof, auf den Plätzen, am Fuße der Burg, an der alten Stadtmauer und den türmen begann, zunächst zaghaft, der Schwarzmarkt. Endlich, in der dritten Woche, kam ein Offizier zu Wachter und Jana und lehnte sich in den Türrahmen. In einem gebrochenen Deutsch sagte er:»Telefon… hin und her… Jetzt alles okay! Captain Silverman ist in Austria. In Salzburg. Okay?«
Er grüßte und verließ das Zimmer.
«In Salzburg«, sagte Wachter und setzte sich an den Tisch.»Jana, wir müssen nach Salzburg. Silverman ist vielleicht der einzige, der uns weiterhelfen kann.«
«Aber dort ist nicht das Bernsteinzimmer, Väterchen.«
«Wissen wir's? Die Amerikaner haben ein riesiges unterirdisches Lager mit Kunstschätzen in Alt-Aussee entdeckt. Hitlers persönlicher Schatz soll es sein, haben sie uns erzählt. Das ganze Lager ist noch gar nicht erfaßt… vielleicht sind die zwanzig Kisten aus Königsberg darunter. Jana, an jeden Hoffnungsstrahl müssen wir uns klammern.«
Sie fuhren mit dem klapprigen, zerschossenen Adler-Wagen nach Salzburg und erfuhren im Hauptquartier des 15. US-Armeekorps, daß Captain Silverman mit seinem OSS-Büro auf Schloß Kiessheim einquartiert war. Am nächsten Morgen dann, endlich, endlich, standen sie vor Silverman, ließen ihn ihre Legitimation lesen und warteten auf seine Reaktion. Silverman legte das Schreiben in den vier Sprachen und mit den vielen Stempeln vor sich auf den Schreibtisch und blickte zu Wachter und Jana Petrowna auf. Jetzt sind die Russen auch da, dachte er. Natürlich, ihnen gehört ja das Bernsteinzimmer, wenn man historisch denkt. Historisch dachten auch die Deutschen und sagten: Es gehört uns. Es ist heimgekehrt.
Und wenn wir als Sieger denken, kann es heißen: Es gehört den USA, denn wir haben es erobert. Es ist Kriegsbeute. Das ist rechtlich nicht haltbar, aber was gilt Recht im Krieg? Wem das Bernsteinzimmer letztendlich auch gehört… es ist weg. Es gibt keine Probleme mehr… bis man es wiederfindet.
«Sie sprechen deutsch?«fragte er.
«Ja«, antwortete Wachter.»Ich bin Deutscher.«
«In Ihrer Vollmacht steht: Wachterowskij. Russe.«
«Ich war und bin in russischen Diensten. Seit fast 230 Jahren.«
«Dafür haben Sie sich gut gehalten. So alt sehen Sie wirklich nicht aus.«
Der alte, dumme Witz. Wachter lächelte schwach.
«Ich hoffe, daß meine Nachkommen auch weitere 230 Jahre das Bernsteinzimmer betreuen können.«
«Wenn es da ist.«
«Deswegen sind wir zu Ihnen gekommen, Captain Silverman.«
Silverman hob beide Arme hoch, als richte Wachter eine Waffe auf ihn.
«Bitte, überzeugen Sie sich — «sagte er mit Bitterkeit in der Stimme, — »ich habe es nicht in der Tasche.«
«Aber Sie haben es gesehen, Captain.«
«Wer hat Ihnen das gesagt?«
«Wir haben Informationen gesammelt — wären wir sonst bei Ihnen?«
Silverman fiel auf den Bluff herein. Er ließ die Arme sinken und blickte Jana erstaunt an, die jetzt sagte:
«Wir haben die Spur der zwanzig Kisten von Königsberg über Berlin, Weimar, Friedrichroda und Schloß Reinhardsbrunn verfolgt. Von dort hat man auf Lastwagen mit dem Roten Kreuz und mit Schweizer Autonummern das Bernsteinzimmer weitertransportiert.«
«Das stimmt. «Silverman tappte blind in die Falle.»Und als wir die Kaligrube von Merkers durchsuchten, stand ich vor den Kisten.«
Es war das erste Mal, daß Wachter und Jana den Namen
Merkers hörten. Keiner hatte ihnen je etwas davon gesagt, nur Andeutungen hatte es gegeben. In Saalfeld war einmal ein amerikanischer Offizier mit der Bemerkung herausgerückt:»Hier in Thüringen haben Millionenschätze übereinander gelegen. «Wo, das hatte auch er verschwiegen.
Merkers. Wo liegt Merkers? Eine Kaligrube…
Weder Wachter noch Jana ließen sich anmerken, welch ein Aufruhr in ihnen ausgebrochen war. Als wüßten sie das alles, sahen sie Silverman nickend an. Der Captain starrte zur Seite hinaus aus dem Fenster. Eine warme Frühlingssonne lag über dem Park von Schloß Kiessheim, über den Wegen, Büschen, Beeten und Steinfiguren. Ein richtiger Friedenstag mit einem weiten blauen Himmel.
«Dann wissen Sie, wo das Bernsteinzimmer ist?«fragte Wachter.
«Natürlich.«
Durch Wachter zuckte ein heißer Stich.»Wo?«
«Es hat sich aufgelöst in Luft. «Silvermans Stimme bebte in der Erinnerung vor Erregung.»Es ist ganz einfach verschwunden.«
«Das gibt es nicht«, sagte Jana laut.»Zwanzig große Kisten… ein paar Lastwagen voll!«
«Genau drei Armee-Trucks. Wir haben auf Befehl Eisenhowers alle in der Schachtanlage Kaiseroda II/III gefundenen Kunstschätze und Geldsäcke mit zwei Transporten nach Frankfurt gebracht. Am 14. und am 17. April. Konvois unter größter Bewachung. Trotzdem verschwanden von dem ersten Transport am 16. April die drei Trucks mit dem Bernsteinzimmer. Die Trucks fand man später wieder und einen der Fahrer, Noah Rawlings. Erschossen. In seine Brust war ein Hakenkreuz eingeritzt. Daraus folgerten wir: Der deutsche >Werwolf< hat die Trucks entführt. Nur, wie er das so lautlos fertiggebracht hat, ist uns ein Rätsel geblieben.«
«Und die anderen Fahrer?«fragte Wachter.
«Sind nie wieder aufgetaucht und werden vielleicht einmal durch Zufall als Gerippe im Wald entdeckt. «Silverman wandte sich ihnen wieder zu.»Sie suchen im Auftrag der sowjetischen
Regierung das Bernsteinzimmer. Ich habe mir selbst den Auftrag gegeben. Wir sollten uns zusammentun…«Er atmete tief durch.»Mein Gesuch auf Entlassung aus dem OSS liegt bereits in Washington auf dem Tisch. Dort hält man mich anscheinend für verrückt…«
«Wir sind auch Verrückte, Captain«, sagte Wachter sarkastisch.»Nur so werden wir durchhalten. Eine bittere Frage: Ist es möglich, daß man das Bernsteinzimmer bewußt hat verschwinden lassen, um es dann heimlich in die USA zu bringen?«
«Wie denn? Und wer denn? Herr Wachter, Sie bezichtigen US-Offiziere des Kunstraubes?!«
«Es war nur so eine verrückte Idee, Captain«, sagte Wachter schnell.»Ich habe in diesen Tagen gehört, daß in einem Bergwerk bei Grasleben, wo über 6000 Kisten Kunstschätze versteckt gewesen waren, die Hälfte davon aufgebrochen war, bevor Grasleben von den Engländern übernommen wurde. Es waren Amerikaner… das CIO und Angehörige der 50. US-Armee.«
«Davon weiß ich nichts. «Silverman richtete sich steif hoch.»So vieles ist noch Hetze!«
«Und in Merkers war das nicht möglich?«
«Nein. Da war ich und paßte auf. Auf gar keinen Fall konnten zwanzig Kisten dieser Größenordnung heimlich verschwinden.«
«Wir sollten noch einmal in Merkers mit der Spurensuche beginnen, Captain.«
«Dann müssen Sie sich beeilen. «Silverman lehnte sich in seinem Stuhl weit zurück. Er schürzte die Lippen und drückte damit aus, für wie absurd er das alles hielt.»Aufgrund der alliierten Beschlüsse und der Einteilung Deutschlands in Besatzungszonen hat General Eisenhower befohlen, Sachsen und Thüringen zu räumen und den Sowjets zu übergeben.«»Was?!«Wachter zuckte zusammen, aber es war nicht aus Entsetzen, sondern aus Freude.»Unsere Soldaten kommen nach Thüringen?«
«Ich denke, Sie sind Deutscher?«fragte Silverman befremdet.
«Dann ist Merkers russisch?«rief Jana Petrowna.
«Nein… russisch besetzt. Das ist ein Unterschied. Wir bleiben in Bayern, aber deswegen ist Bayern nicht amerikanisch, sondern bleibt Deutschland. Wie das alles in den nächsten Jahren aussieht — wer weiß das?«
«Wenn Merkers russisch besetzt wird, können wir dort ungestört arbeiten. «Wachter schloß kurz die Augen. Das Deutschland, das er bisher nur von der Landkarte kannte, gab es nicht mehr. Es war zerschlagen und zerteilt worden. Durch die Straßen Berlins, der Heimat seiner Vorväter, marschierten sowjetische Truppen.»Darüber freue ich mich: Die sowjetischen Behörden werden uns bei unserer Suche nach dem Bernsteinzimmer überall unterstützen.«
«Die amerikanischen auch«, sagte Silverman fast beleidigt.»Aber weder Ihre Behörden noch meine sind Magier, die das Bernsteinzimmer herbeizaubern können, «Silverman ließ seinen Stuhl wieder nach vorn kippen.»Überhaupt, was wollen Sie in Merkers suchen? Da ist nichts mehr… die Grube ist leergeräumt. Die drei Trucks sind in Alsfeld verschwunden. In Hessen.«
«In Alsfeld…«sagte Wachter gedehnt. Das war eine völlig neue Spur, von Hessen war nie gesprochen worden. Alle bisher theoretisch möglichen Wege einer Verlagerung der zwanzig Kisten aus Reinhardsbrunn wiesen in Richtung Göttingen, Westsachsen oder Mecklenburg (wenn das Bernsteinzimmer wieder in die Nähe Berlins gebracht worden war) und in die allgemeine Richtung Süden, vor allem zur» Alpenfestung «und nach Österreich. Aber Hessen lag völlig außerhalb aller Mutmaßungen.»Man hat also doch eine Spur — «
«Wenn Sie es so nennen wollen, jawohl. Seit Wochen wird dort gesucht.«
«Wäre es möglich, daß die Kisten von Alsfeld weiter nach Süden oder nach Nordwesten gebracht worden sind?«
«Möglich ist alles. «Silverman machte eine weite Handbewegung.»Die Welt ist groß… aber ich könnte schwören, das Bernsteinzimmer ist noch in Deutschland.«
«Dann finden wir es auch!«sagte Wachter voller Zuversicht.
«Captain Silverman, wollen wir gemeinsam suchen?«
«Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund. «Silverman erhob sich von seinem Stuhl.»Für mich ist die Suche aber erst dann möglich, wenn ich meine Entlassung aus dem OSS erhalten habe und auch die Army auf mich verzichtet. Ich muß auf Washington warten. «Er zeigte aus dem Fenster in den Park von Schloß Kiessheim.»Wollen Sie hier mit mir warten? Im Schloß ist Platz genug. Ist es nicht wundervoll? Der Blick über Salzburg, hinüber zur Veste, das Panorama der Berge, die Seen des Salzkammergutes vor der Tür. Hier könnte ich leben. Sie wissen, daß ich ein deutscher Jude bin?«
«Ich habe es angenommen, Captain.«
«Zwölf Jahre lang habe ich Heimweh gehabt nach diesem Deutschland. Nach diesem schrecklichen Deutschland! Vierzehn Verwandte sind in Buchenwald, Flossenbürg und Mauthausen umgekommen, erschlagen, zu Tode gequält, in der Gaskammer, als Opfer von medizinischen Versuchen. Und trotzdem hatte ich Heimweh, verstehen Sie das?«
«Ja. Janaschka und ich… wir haben auch Heimweh nach Puschkin… aber nur mit dem Bernsteinzimmer.«
«Vielleicht bleibe ich wirklich hier in Österreich. Vielleicht kann man mich als Kunsthistoriker gerade hier in Salzburg gebrauchen. Hier atmet Kunst aus jedem Stein. «Silverman schüttelte den Kopf und lächelte schwach.»Pläne… der größte Krieg aller Zeiten ist zu Ende, und wir machen schon. Pläne. Wie sieht die Zukunft aus, Herr Wachter?«
«Ich kenne nur ein Ziel: das Bernsteinzimmer.«
«Und wenn Sie dadurch zum ewigen Wanderer werden?«»Dann muß es so sein, Captain«, sagte Wachter in fast feierlichem Ton.»Dann ist es Gottes Wille.«
Die Entlassung Captain Silvermans zog sich hin. So einfach kann man nicht vom Geheimdienst abspringen, vor allem nicht, wenn man so viel wußte wie Fred Silverman und seine von ihm geleitete Einsatzgruppe ORION für Kunst und Kulturgüter im deutschen Reichsgebiet. Außerdem leitete er eine Abteilung der T-Forces, eine Spezialeinheit, die nach Auswertung der Geheimberichte nicht nur verborgene Schätze, Patente, Archive oder Bibliotheken suchte, sondern auch untergetauchte, versteckte, unter falschem Namen lebende Kriegsverbrecher. Ein solcher Mann will gehen, wirft seine Aufgabe hin?
Captain Silverman wurde nach Washington befohlen. Am 3. August flog er nach Amerika. Zur Berichterstattung, wie es hieß. Zum Verhör, wie er wußte. Wachter und Jana hielten es auf Schloß Kiessheim nur bis zum Juli aus. Sie fuhren, noch immer mit dem alten Adler-Wagen, zurück zur amerikanischsowjetischen Zonengrenze, über die von Hitler so geliebte Autobahn München-Berlin, und zeigten den amerikanischen Posten nördlich von Hof ihre Ausweise. Ein Lieutenant nickte, warf mit amerikanischer Unkompliziertheit einen Blick auf die Ausweisbilder, verglich sie mit den Personen und gab den Weg frei.
Auf sowjetischer Seite empfing sie zunächst Mißtrauen, vor allem als Jana auf russisch» Guten Tag, Genossen!«rief. Sie wurden in eine Baracke gebracht, wo ein junger Oberleutnant vor einem Radio saß und andächtig eine Arie aus der Oper Eugen Onegin hörte. Er blickte kurz auf, zeigte auf die Wand, der Posten schob Jana und Wachter an die Bretterwand, und dort standen sie, bis die Arie zu Ende war. Der Oberleutnant drehte das Radio unwillig leiser. Das nächste Stück war die Ouvertüre zu Ruslan und Ludmila.
«Woher? Wohin?«fragte er im Befehlston.
«Von Salzburg nach Berlin, Genosse Oberleutnant«, antwortete Wachter auf russisch.
«Warum?«
«Deswegen. Lesen Sie — «
Wachter entfaltete das viersprachige Papier und legte es dem Offizier auf die Tischplatte. Die Wirkung war verblüffend. Mit einem kurzen Blick erfaßte der Oberleutnant die vielen Stempel auf dem Papier, drehte sofort das Radio aus, blickte e-staunt zu Jana und Wachter und beugte sich über das Schreiben. Die Wunderkraft der Stempel wirkte. Je mehr Stempel auf einem Papier, um so ehrfurchtsvoller wird ein
Russe. Ein Stempel kommt von einem Amt, und je mehr Ämter gestempelt haben, um so wichtiger muß die Person sein.»Seien Sie willkommen, Genossen«, sagte der Oberleutnant nach der Lektüre des Briefes.»Natürlich können Sie sich frei bewegen, wohin Sie wollen. Das Bernsteinzimmer suchen Sie? Ich habe davon schon gehört, von dem Zimmer, in der Armee-Zeitung stand es, die Faschisten haben es gestohlen. Was diese Hunde nicht alles gestohlen haben, nicht wahr, Genossen?! Bekommen wird jetzt alles wieder?«
«Wer weiß das?«Wachter nahm das Papier wieder an sich, faltete es und steckte es ein.»Wir können weiterfahren?«»Wohin Sie wollen. Genosse. «Der Oberleutnant lachte jungenhaft.»Von mir aus bis Sibirien.«
«Vielleicht später«, sagte Wachter trocken.»Froh werden wir sein, wenn wir mit dem alten Wagen von Berlin aus Leningrad erreichen.«
«Nach Leningrad wollt ihr, Genossen? Welch ein Weg!«
«Wir sind von Leningrad bis hierher gekommen, dann geht's auch zurück. Genauer gesagt: Puschkin ist das Ziel.«
«Dann gute Fahrt, Genossen. «Der Oberleutnant gab Jana und Wachter die Hand Einen langen Blick warf er über ihre schäbige Kleidung. Einen Beauftragten mit so vielen Stempeln stellte man sich anders vor.»Wer unterstützt Sie eigentlich?«»Sie, Genosse Oberleutnant, zum Beispiel. «Jana lachte ihn an.»Wir brauchen Benzin, Motoröl, Brot, Butter, Marmelade, Wurst, Büchsenfleisch, Gurken, Zwiebeln…«
«Geräucherten Stör und Kaviar vom Asowschen Meer…«»Auch gut, Genosse.«
«Einen Schein stelle ich aus«, sagte der Oberleutnant und bremste seine Heiterkeit ab.»Den legen Sie dem Stadtkommandanten von Saalfeld vor. Er wird Ihnen Lebensmittelkarten geben, damit können Sie überall einkaufen oder in einem Hotel und einem Restaurant essen, wenn Sie ein offenes finden.«»Es wäre praktischer, von Lager zu Lager der Roten Armee zu fahren und dort zu essen.«
«Versuchen Sie es, Genossen. «Der Oberleutnant grinste verlegen.»Sie kommen von den Amerikanern, sind verwöhnt, nicht wahr? Die haben zehnmal mehr zu essen als wir, ihre Verbündeten. «Er hob resignierend die Schultern.»Aber eine Kascha werdet ihr bekommen oder eine Kapusta. Legt schnell die Verwöhntheit ab, Genossen. Am fetten Topf degeneriert man zu schnell — «
Zwei Wochen waren sie unterwegs, schliefen in Kasernen oder Feldlagern der Roten Armee, aßen mit den Offizieren, erzählten vom Bernsteinzimmer. In Berlin bekamen sie von der Zentralstelle der sowjetischen Verwaltung neue, richtigsitzende Kleidung. Einmal hielt Wachter im Offizierskasino von Karlshorst einen Vortrag über Puschkin, den KatharinenPalast und das Bernsteinzimmer, was ihnen einen anderen Wagen einbrachte, einen Beutewagen Marke Horch, ein geradezu luxuriöses Fahrzeug, mit sowjetischer Militärnummer. Noch ein paar Stempel mehr drückte man auf ihr Papier, auf dem jetzt die Namen von vier Generälen und einem Marschall der Sowjetunion prangten, und mit dieser Ausrüstung setzten sie die Fahrt nach Puschkin fort.
Noch einmal besuchten sie Königsberg, die fast menschenleere, zerstörte Stadt, den zerbombten Hafen mit den Schiffswracks, das ausgebrannte Schloß mit den zerborstenen Mauern. Noch einmal stieg Wachter hinunter in den Keller des» Blutgerichts«, wo das Bernsteinzimmer und er alle Zerstörungen überlebt hatten. An der Außenwand der Tür hing sogar noch das Hitlerbild, aber man hatte das Gesicht des Führers zerschnitten, und unten am Geschlecht war das Bild aufgeschlitzt. Im Kellerraum standen noch Tisch, Stühle und das Feldbett, nur die Matratzen und das Bettzeug fehlten, im Schrank das Geschirr und die Bestecke und auch den Ofen hatte man mitgenommen. Es war damals kalt gewesen in Königsberg, von Januar bis April 1945. Unglaublich, daß alles nur sechs Monate her war seit jenem Januartag, an dem der Transport mit Hauptmann Leyser auf die Flucht geschickt wurde.
Jana Petrowna fuhr zum Krankenhaus. Nur leicht beschädigt war es, an der Pforte saß ein alter Mann im Kontrollraum, unbekannte deutsche und sowjetische Schwestern eilten durch die Gänge, neue Ärzte begegneten ihr auf den Fluren und sahen sie fragend an, und dann stand sie in Friedas Zimmer. Nichts hatte sich verändert: Der breite Schreibtisch war da, der Maschinentisch mit der Schreibmaschine, de abgestoßenen Aktenschränke und der abgewetzte Linoleumboden. Nur Frieda war nicht mehr da, eine andere Oberschwester saß auf ihrem Platz, im gleichen, überbreiten Stuhl, extra für Frieda angefertigt, und hinter der Schreibmaschine hockte ein schmales, blasses, junges Mädchen mit einem Mausgesicht.
«Ja, bitte?«fragte die Oberschwester, als Jana eingetreten war und sich stumm umschaute.»Sie wünschen?«
«Nichts.«
«Das ist etwas Neues.«
Das Mäuschen an der Schreibmaschine hob den Kopf und grinste verlegen.
«Wo ist Oberschwester Frieda Wilhelmi?«
«Das weiß ich nicht. Ich kenne sie nur aus den Unterschriften in den Akten. Als ich hier anfing, war sie weg. Wohin? Keine Ahnung.«
«Wann haben Sie hier angefangen?«
«Am 15. April… sechs Tage nach der Kapitulation von Königsberg.«
«Und Dr. Pankratz?«
«Ist am 2. April bei einem Bombenangriff gefallen.«
«Und von Frieda keine Spur?«
«Keine. Ich weiß gar nichts. Wer sind Sie denn?«
«Ich habe dort — «sie zeigte auf den Platz an der Schreibmaschine — «gesessen und… und wurde dann versetzt.«
«Tut mir leid. «Die Oberschwester zuckte mit den Schultern.»Damals sind so viele Menschen in Königsberg spurlos verschwunden oder als unbekannte Tote begraben worden. Die Russen schossen ja fast pausenlos in die Stadt. Wer da auf der Straße erwischt wurde… ein namenloser Toter mehr. Es war die Hölle.«
«Danke. «Jana nickte der Oberschwester zu. Ihre Kehle war trocken und wie geschwollen.»Danken wir Gott, daß jetzt alles vorbei ist.«
Sie verließ Friedas Zimmer, lehnte sich draußen an die Flurwand und weinte. Niemand blieb stehen und fragte. Man hatte in Königsberg immer Grund, zu weinen… denn ein Königsberg gab es nicht mehr.
Am 3. August, dem Tag, an dem Captain Silverman nach Washington abflog, lag Puschkin vor ihnen… die breite, von hohen Bäumen gesäumte Zufahrt des Katharinen-Palastes. Eine zerstörte Fassade, eingesunkene Dächer, zerbrochene Mauern.»Mein Gott«, sagte Wachter leise und faltete die Hände.»Mein Gott — «
In einigen der mehr oder weniger beschädigten Prunkräume war ein Kommando der Roten Armee untergebracht worden, um den Katharinen-Palast zu bewachen. Auch wenn man bekanntgegeben hatte, daß jeder, der etwas aus dem Palast mitnahm, als Plünderer betrachtet und sofort erschossen würde, so sicher war man sich nicht, daß von den unüberblickbar vielen, dennoch geretteten Kunstschätzen nicht doch eine Kleinigkeit beiseite geschafft wurde. Ein ziselierter Silberlöffel, ein handgetriebener silberner Kerzenleuchter, chinesische Prozellantellerchen, eine kleine Vase, ein assyrisches Glas, eine goldene Tabatiere… es gab so viele Dinge, die man in eine Hosentasche stecken oder unter einer Mütze mitgehen lassen konnte.
Nach der Zerstörung des Schlosses und dem Rückzug der deutschen Truppen am 15. Januar 1944 aus Puschkin hatten vor allem die eingesetzten Puschkiner Frauen die Trümmer weggeräumt. Feuerwerkertrupps der Roten Armee durchsuchten Schloß und Parks nach Blindgängern, versteckten Bomben und Sprengsätzen, und eine Kommission von Kunstexperten besichtigte die Paläste des ehemaligen Zarskoje Selo und stellte fest, daß die Deutschen sachverständig und gründlich gestohlen hatten. Was man nicht vorher schon nach Leningrad in Sicherheit gebracht hatte, war verschwunden oder zerstört… nur wenige Teile waren gering genug beschädigt, daß man sie wieder restaurieren konnte.
Aber dafür war jetzt keine Zeit. Auch nicht im Jahre 1945, dem
Jahr des Sieges. Es galt, die zerstörten Städte und Dörfer aufzubauen, die Landwirtschaft und die Industrie notdürftig in Schwung zu bringen, die Bilanz von Tod und Vernichtung zu ziehen und die Milliarden Rubel aufzubringen, das verbrannte Land wieder zum Blühen zu erwecken. Die Kunst konnte warten… ein hungernder Mann findet keinen Gefallen mehr an einem Gemälde von Raffael. Zuerst hieß es, Wohnungen bauen… für die Schlösser war der kommende Frieden lang genug. Auch der Katharinen-Palast war soweit aufgeräumt worden, daß man wieder durch die Räume gehen konnte. Einige der prunkvollen Säle waren sogar mit geretteten Möbeln ausgestattet worden. Ständig im Einsatz tätige Putzkolonnen von Frauen aus Puschkin sorgten dafür, daß etwas Sauberkeit den einstigen Glanz des Palais ahnen ließ und daß im Winter der Frost nicht noch mehr zerstörte. Ein Verwalter überwachte alle Arbeiten und sortierte vor dem Abtransport der Trümmer alles heraus, was man später für die Erneuerung noch gebrauchen und einbauen konnte.
Eine ganze Weile standen Wachter und Jana Petrowna vor der zerstörten Fassade, blieben in ihrem Horch-Wagen sitzen und schwiegen erschüttert.
Der Krieg hatte aus Europa ein Ruinenfeld gemacht, Jahrhunderte von Kulturen waren im Granaten- und Bombenhagel vernichtet worden, waren in Brand aufgegangen oder mutwillig in die Luft gesprengt worden — aber war das ein Trost für Michael Wachter? Das hier war sein Katharinen-Palast, war sein Puschkin, war einst sein Bernsteinzimmer gewesen. Fast 230 Jahre hatte ein Wachter in diesen Räumen gelebt, war dafür geboren worden und dafür gestorben. Zaren und Zarinnen waren gekommen und gegangen, hatten unter dem Gesang der Priester und Mönche und dem Geläut der Glocken ihre Seele ausgehaucht oder waren ermordet worden. Rasputin, der Wundermönch, hatte in Zarskoje Selo seine wilden Saufund Liebesgelage abgehalten und hatte sogar zweimal im Bernsteinzimmer vor dem Zarewitsch gesessen und mit dem Streicheln seiner Hände einen Anfall der Bluterkrankheit des kleinen Alexej aufgehalten. Trotzkij war durch das Schloß gegangen; Lenin hatte ergriffen im Bernsteinzimmer gestanden und es zum russischen Heiligtum erklärt. Stalin hatte sich auf einem Stuhl mitten ins Zimmer gesetzt und sich geduldig, was sonst nicht seine Art war, die Geschichte des Bernsteinkabinetts von Wachter erzählen lassen, vor allem die Orgien der großen Katharina II., die sich oft mit ihrem jeweiligen Geliebten in dem Zimmer eingeschlossen hatte, um sich im Glänze des» Sonnensteines «besonders angeregt zu verlustigen. Immer war ein Wachter zur Stelle gewesen, immer war ein Wachter der Vertraute gewesen, und über Georgij Ludwigowitsch Wachterowskij hatte Rasputin ein Kreuz geschlagen, wonach er nie wieder krank wurde und im Alter von 101 Jahren friedlich, während des Schlafes, zu Gott einging.
Hatte ein Wachter nicht das Recht, beim Anblick der Trümmer seines Schlosses Tränen in die Augen zu bekommen?
So saßen sie also stumm in ihrem Auto. Jana Petrowna hatte den Arm um Wachters Schulter gelegt, und sie ließ ihm Zeit, sein Inneres zur Ruhe zu bringen. Vom säulengetragenen Eingang in den Park kam ein sowjetischer Major langsam auf sie zu. Er hatte die Mütze in den Nacken geschoben, den Uniformrock aufgeknöpft und sogar den Hemdkragen geöffnet. Hier draußen nahm man es nicht so genau, Kontrollen waren selten, und kam mal ein höherer Offizier zum KatharinenPalast, dann wurde das vorher rechtzeitig gemeldet, und man konnte sich schnell wieder korrekt kleiden. Es war heiß. Die Augusttage in Leningrad können brennen, und dieser Sommer 1945 war besonders heiß und lag schwer über dem Land.
Der Major betrachtete den großen Horch-Wagen, las die sowjetische Militärnummer, sah aber nur zwei Zivilisten im Auto, einen älteren Mann und eine schöne, höchst interessante Frau mit hohen Wangenknochen und leicht schräg gestellten Aj-gen. Er zog seine Mütze etwas tiefer in die Stirn, was ihn amtlicher machte, dann trat er an die Wagentür mit der heruntergekurbelten Scheibe heran.
«Haben die Genossen Fragen?«sagte er und sah Jana wohlgefällig an.
Wachter nickte, öffnete die Tür und stieg aus. Auf der anderen
Seite tat Jana das gleiche. Tief holte Wachter Atem und stieß mit der Luft den Rest seiner Erschütterung heraus.
«Ich kenne das Palais von früher«, sagte er.»Kann ich es betreten und mich umsehen?«
«Sie kennen es, Genosse? Sie werden weinen.«
«Ich habe bereits geweint, Genosse Major.«
«Ich kannte den Palast nicht, als ich hierherkam. Aber viele, die ihn jetzt besucht haben und sich erinnerten, haben auch geweint. Was wollen Sie sehen? Nicht alles ist zu besichtigen… es gibt Teile, die sind gesperrt wegen Einsturzgefahr. Nur wenig ist übriggeblieben. Das meiste liegt noch in Leningrad und wird — so sagt man — erst wiederkommen, wenn das Schloß wieder aufgebaut worden ist.«
«Ich weiß es. «Wachter blickte zu dem Teil des Schlosses hinüber, den er so gut wie kein anderer kannte.»Das Bernsteinzimmer möchte ich sehen.«
«Weg ist es, Genosse. Gestohlen von den Faschisten! Ein schönes Zimmer muß es gewesen sein.«
«Es gab nichts Schöneres. Ein greifbares Wunder war's. Der Himmel, die Sonne, die ganze Schönheit der Welt, das leuchtende Meer, aus dem der Bernstein kam. Menschen gab es, Genosse Major, die standen vor seinen Wänden, falteten die Hände und beteten. «Wachter holte wieder tief Atem.»Ich möchte es sehen, das Bernsteinzimmer… die leeren Wände…«
«Fragen Sie den Verwalter.«
Durch Wachter zuckte es wie ein Stich. Auch Jana Petrowna spürte eine Beklemmung, begriff Wachters Betroffenheit, kam zu ihm und legte ihm wieder tröstend den Arm um die Schultern.
«Einen Verwalter gibt es?«fragte Wachter.»Es gibt wieder einen Verwalter?«
«Eingesetzt von der Zentralstelle der Schlösserverwaltung. «Der Major bemerkte die Betroffenheit in den Gesichtern der Besucher und winkte lächelnd ab.
«Ein guter, zugänglicher Mann ist er, Genossen. Wird euch nicht verweigern, das leere Zimmer anzusehen. Hat schon viel aufgeräumt hier im Schloß. Hat die Putzbrigade und die Maurer fest im Griff. Ohne ihn — «der Major verzog sein Gesicht —»war's hier noch wie vor einem Jahr.«
«Dann gehen wir, Töchterchen. «Wachter blickte wieder hinüber zu den Fenstern des ehemaligen Bernsteinzimmers. Neue Scheiben hatte man eingesetzt und auch die Fensterrahmen erneuert. In die Zimmer stach darum die Sonne wie in offene Höhlen. Wachter gefiel das; auch der neue Verwalter schien das Bernsteinzimmer sehr zu lieben und hatte es als einen der ersten Säle geschützt. Und als sie die Schloßhalle betraten und der Major zurückgeblieben war, sagte Wachter:»Verraten wir dem neuen Verwalter nicht, wer wir sind, Janaschka. Reden lassen wir ihn, erklären soll er uns das Bernsteinzimmer, und wenn er fertig ist, sage ich zu ihm: Genosse, das haben Sie falsch erzählt und das und das haben Sie vergessen. Früher war hier ein Michael Wachter, der wußte mehr… Ein fröhliches Stündchen wird's werden.«
«Und nachher willst du nicht sagen, wer du bist, Väterchen?«»Nein, Janinka. Erst fahren wir weiter nach Leningrad und suchen die Menschen, die Nikolaj gekannt haben. Vielleicht können sie uns zeigen, wo sein Grab ist, und wir können ihm Blumen bringen.«
«Du glaubst, daß er doch noch gefallen ist?«
«Die letzte Nachricht war vor sieben Monaten. Freunde von Sylvie funkten es aus Leningrad. War's die Wahrheit? Warum von da ab keinen Ton mehr? Abgeschlossen habe ich mit dem Schicksal, der letzte Wachter zu sein. «Er sah die halbwegs erhaltene breite Treppe hinauf, die zum Bernsteinzimmer führte.»Jetzt gilt es Abschied nehmen von 230 Jahren treuen Diensten. «Er atmete tief durch, um Luft für eine feste Stimme zu bekommen.»Ob der neue Verwalter in unserer Wohnung lebt? Kann ich ihn bitten, sie mir zu zeigen?«
«Wir werden ihn fragen, Väterchen. Bestimmt wird er dich verstehen. Aber dann mußt du dich ihm zu erkennen geben. Was geht einen Fremden die Verwalterwohnung an?«
«Recht hast du, Janaschka, wie immer. Man muß sich das überlegen, sehr überlegen.«
Die breite Treppe gingen sie hinauf, ganz langsam, als wollten sie Stufe um Stufe genießen oder Abschied nehmen. Dann standen sie vor der Haupttür des Bernsteinzimmers, die Dr. Findling 1941 als fehlend reklamiert und ausbauen hatte lassen. Jetzt hatte man eine einfache Brettertür eingehängt, nur mit einer alten Klinke und ohne ein Schloß. Was sollte man auch abschließen? Die kahlen Wände? Was gibt's in einem leeren Raum zu stehlen?
Trotzdem drückte Wachter mit sichtbarer Ehrfurcht die Klinke herunter, öffnete die Tür und trat in das Zimmer ein. Jana ließ ihn vorangehen und folgte ihm erst nach einer Minute, blieb an der Tür stehen und atmete kaum.
Wachter stand in der Mitte des Raumes, die Hände auf dem Rücken, so wie er Jahrzehnte da gestanden hatte, allein oder mit einer Gruppe Besucher. Er stand im Zimmer, als leuchteten noch von den Wänden die Bernstein mosaike, als blitzten die Sockel und Paneele, die Girlanden und geschnitzten Köpfe, die Engel und die Masken, die venezianischen Spiegel und eingelassenen Gemälde.
Das wertvolle Intarsienparkett aus den verschiedensten Hölzern und mit Perlmutteinlagen, vielleicht einer der schönsten Fußböden der Welt, war noch, bis auf einige aufgebrochene Stellen, erhalten. Der neue Verwalter oder wer auch sonst hatte sauberes Sägemehl darüber schütten lassen. Mit den Schuhspitzen schabte Wachter eine kleine Fläche frei und spürte das Glück, diesen Boden wieder unter seinen Füßen zu haben. Auch die Deckengemälde waren noch vorhanden und unversehrt. Gepflegt waren sie, das sah er sofort, vorsichtig abgewaschen und vom Staub befreit. Es fehlten nur die Wände, die verschwundenen zwanzig Kisten mit dem BernsteinWunder, und er, Michael Wachter, hätte wieder hier stehen können und in russisch oder in deutsch sagen können:»Liebe Genossen, meine Damen und Herren. Was Sie hier sehen, werden Sie nie wieder und nirgendwo sonst sehen: das Bernsteinzimmer… das eingefangene Gold der Sonne…«
Nein, er würde es nie wieder sagen. Das Bernsteinzimmer war verschollen, und ein neuer Verwalter hatte das Wachtersche
Erbe übernommen. Vorbei war alles, Vergangenheit, Historie. Es war der Augenblick, in dem Wachter wußte, daß er ein alter Mann war. Ein Mensch von gestern.
Nur eins blieb ihm noch: die Suche nach dem Bernsteinzimmer.
Ganz langsam drehte er sich um sich selbst, schloß die Augen und sah vor sich die Wandtafeln, wie sie 230 Jahre lang dagewesen waren. Sogar das kleine Loch sah er, das Fjodor Fjodorowitsch, der Urahne und erste Wachter für das Bernsteinzimmer, am 26. Januar 1725 hinterlassen hatte, als er den kleinen Engelskopf aus dem Getäfel brach, um ihn Zar Peter dem Großen mitzugeben in die Ewigkeit.
Ein Anblick war's, der Jana den Atem stocken ließ. Sie hörte nicht, daß jemand die Treppe heraufgekommen war, sie merkte nicht, daß neben ihr die Tür aufging, da der Türflügel diese verdeckte, und jemand ins Zimmer kam. Aber dann wurde sie zerrissen wie von einer Explosion, an die Wand mußte sie sich lehnen, krallte die Fingernägel in den bröckelnden Verputz und spürte keinen Herzschlag mehr.
Neben ihr, in der Tür, erklang ein Aufschrei. Ein so wilder, das Herz zerreißender Aufschrei, der auch ihr Blut fast erstarren ließ.
«Vater! Vater! O mein Gott — Vater!«
Wachter stand starr und schwankte. Die Gestalt in der Tür stürzte zu ihm, fing ihn auf, drückte ihn an sich, schlug die Arme um ihn, vergrub sein Gesicht am Hals des alten Mannes und rief wieder:»Vater! Vater!«
Und seinem Aufschrei folgte endlich, endlich der zitternde Schrei des Alten:
«Nikolaj! Kolka! Kolka! Mein Söhnchen… mein Söhnchen.. «Und dann sank Wachter in sich zusammen, nur noch gehalten von den Armen seines Sohnes, und er weinte, weinte, ließ sich auf die Knie fallen, faltete die Hände und hob sie empor zum Himmel, und die Tränen überströmten sein Gesicht, liefen in seine zitternden Lippen, sagen wollte er etwas, irgend etwas sagen, Nikolaj oder danke, danke, Gott. Und er sah seinen Sohn an, dieses reifer gewordene Gesicht, einen kurzen Bart trug er, aber er hatte noch die blonden Locken seiner Mutter, ihre blauen Augen. Sein Sohn, sein Sohn, nicht im Grabe lag er, er sah ihn, er fühlte ihn, seine Hände, seinen Atem. Nebeneinander knieten sie am sägemehlbestreuten Boden, hatten die Arme umeinandergeschlungen und küßten sich und zerflossen im Glück und fanden keine anderen Worte mehr als Söhnchen und Vater…
Noch immer knieten sie am Boden und hielten sich umfangen, als Nikolaj mit zitternder Stimme fragen konnte:
«Väterchen, was ist aus Jana geworden? Hast du etwas gehört von Janaschka…«
Da erst begriff Wachter, daß Jana hinter dem offenen Türflügel stand, hob den Arm und zeigte stumm über Nikolajs Schulter. In diesem Augenblick stieß sie sich von der Wand ab. Auch sie brach in einen hellen, zitternden Schrei aus.»Nikolaj, mein Liebling, mein Herz, mein Himmel!«schrie sie, stürzte auf ihn zu mit ausgebreiteten Armen und fiel dem Aufspringenden an die Brust.
«Nun endlich ist Frieden«, sagte Wachter und hatte seine Stimme wieder in der Gewalt. Über die Köpfe Janas und Nikolajs streichelte er und wunderte sich, daß vorhin sein Herz nicht einfach zersprungen war.»Nun sind wir wieder zusammen.«
«Laß uns ein Weinchen trinken. «Nikolaj legte seine Arme um Jana und seinen Vater.»Gefunden im Keller habe ich noch zwanzig Flaschen. Stellt euch das vor. Freuen wirst du dich, Väterchen. Der Tisch und die Stühle sind noch da, und auch dein geliebtes geschnitztes Sofa. Eigentlich ist alles so wie früher, wenn man nicht aus den Fenstern schaut.«
Es war das zweite Mal, daß Wachter seinen Kopf an die Schulter seines Sohnes legte.
«Du… du bist der neue Verwalter?«fragte er mit pfeifendem Atem.
«Selbstverständlich, Väterchen. Ein Wachter gehört hierher! Gibt's etwas anderes? Sofort nach der Befreiung Puschkins bin ich zurückgekommen. Aufgeräumt habe ich und in hundert Richtungen nach euch gefragt. Verschollen sind sie, hieß es überall. Aber ich habe immer gehofft und gehofft…«
«Mein tapferes Söhnchen…«Wachter biß die Lippen zusammen, um ein neues Schluchzen nicht freizulassen. Und dann sagte er wie eine Anklage gegen sich selbst:»Ich habe das Bernsteinzimmer verloren. Bei ihm war ich, bis der Luftangriff kam. Getrennt haben sie mich von ihm, und ich wußte es nicht.«
«Seine Schulter haben sie ihm zerschossen, Kolka. In ein Lazarett habe ich Väterchen gebracht, sonst wäre er gestorben. «Jana Petrowna sah Nikolaj wie um ein Urteil bittend an.»War's ein Fehler, Nikolaj? Hätte ich bei dem Zimmer bleiben müssen? Väterchens Leben war mir mehr wert in diesen Stunden. Meine Schuld ist's.«
«Alles war richtig, Janaschka.«
«Und diese Wände — «Wachter machte eine weite Handbewegung, — «bleiben kahl! Aber eine Spur gibt es, eine Spur… Söhnchen.«
«Wir werden alle sammeln, Vater. Wir werden das Bernsteinzimmer wiederfinden. Nun kommt, laßt uns den Wein trinken… die Kehle ist mir pulvertrocken, geweint haben wir, daß wir ausgeleert sind.«
Die Arme um die Schultern gelegt, gingen sie hinüber zum Verwaltertrakt und betraten die Wohnung. Wie früher war es, vor dem Sofa stand ein kleiner Hocker, auf den Wachter seine müden Beine legte, wenn er von den Schloßführungen zj-rückkam.
«Zu Hause«, sagte er, zog den Rock aus, setzte sich auf das Sofa, streckte die Beine aus und legte sie auf den Hocker.»Kinderchen, ich bin zu Hause. Wenn ich jetzt mein Pfeifchen hätte…«
«Auch die ist da. «Nikolaj lachte, holte aus dem Schrank die alte gebogene Pfeife und hielt sie Wachter hin.»Nur der Tabak, Väterchen, ist schlechter geworden.«
Ein Sommerabend in Puschkin… wie ein roter Ball versank die Sonne im Park.
Die schönsten Pläne sind abhängig von den Gegebenheiten.
Man kann nicht ein volles Netz Fische aus dem Meer ziehen, wo keine Fische sind; man kann eine geliebte Frau nicht in seine Arme ziehen, wenn sie nicht will; man kann kein Haus bauen, wenn man kein Grundstück hat, auf dem es stehen soll, und man kann nicht kreuz und quer durch Deutschland ein Bernsteinzimmer suchen, wenn die staatlichen Organisationen andere Dinge für wichtiger halten.
Die Sonderkommission für die Rückführung geraubter Kulturgüter in Moskau war zwar gegründet worden, eine Außenstelle wurde in Leningrad eingerichtet, ein Berg von Dokumenten wurde gesammelt, aber sie führte ein Schattendasein im allgemeinen großen Aufbau des zerstörten Landes. Die Deutschen waren zwar besiegt, sie hungerten jetzt, räumten ihre Ruinenstädte auf, aber die Behörden arbeiteten wieder und ein ungeheurer Lebenswille durchzog das Land. Sogar demokratische Parteien wurden gegründet, Namen wie Adenauer, Schumacher, Hundhammer und Heuss tauchten auf, das zerstörte Deutschland pumpte sich wieder mit Leben voll… wohingegen einer der Sieger — Rußland — die schrecklichen Wunden des Krieges so schnell nicht schließen konnte. Die Verluste an Menschen und Material, über 12 Millionen Tote allein, waren zu hoch, und man sah sich plötzlich isoliert, denn die Kampfgefährten von gestern waren zu den politischen Feinden von heute geworden. Die beiden Gesellschaftssysteme — Sozialismus und Kapitalismus — prallten wieder aufeinander. Verbündete im Kampf gegen Hitler-Deutschland ja… aber niemals ein Zusammenleben mit dem Kommunismus. Der Vorhang fiel wieder zwischen Ost und West, der Eiserne Vorhang, Rußland stand allein in seinem verbrannten Land.
Michael Wachter, Nikolaj und Jana waren nach Leningrad gefahren, waren wie Helden empfangen worden. Es gab zahllose Umarmungen mit den Museumsdirektoren, den Stadtverordneten und Parteifunktionären, und für einen Tag war Wachter es wert, in den Zeitungen genannt zu werden, sogar mit Bild und einem Zitat:»Ich werde nie aufhören, das Bernsteinzimmer zu suchen!«Aber so schnell und gründlich, wie der Wind den Staub vor sich herbläst, verwehten auch Wachters Name und sein 24-Stunden-Ruhm.
Die Leningrader Abteilung der Moskauer Sonderkommission hörte sich Wachters Bericht an, nahm ein genaues Protokoll auf und zeichnete auf einer Deutschland-Karte den mutmaßlichen Weg des Bernsteinzimmers ein: von Königsberg nach Berlin, von Berlin nach Schloß Reinhardsbrunn, vom Schloß in das Bergwerk Kaiseroda II/III bei Merkers in Thüringen, von Merkers, sehr umstritten, nach Frankfurt und auf diesem Wege bei Alsfeld verschwunden. Der Name Fred Silverman wurde rot unterstrichen als der wichtigste Zeuge.
«Sehr interessant das alles, Genosse Wachterowskij«, sagte der Vorsitzende der Sonderkommission nach den langen Gesprächen und Aufzeichnungen. Er war ein Kunsthistoriker, hieß Pawel Leonidowitsch Agajew, hatte ständig Hunger, und seine gelblichen Augäpfel wiesen auf einen schlechten Zustand von Galle und Leber hin. Wenn er einen Satz von mehr als zehn Worten sprach, begann er zu hüsteln.»Wir werden das alles nachforschen. Aber im Augenblick…«
«Sie sehen Schwierigkeiten, Genosse Agajew?«fragte Wachter betroffen.
«So ist es, mein lieber Michail Igorowitsch. Gemeinsam haben wir den Krieg gewonnen, aber mit dem letzten Schuß ist auch die Freundschaft wie weggeflogen. «Bitterkeit klang in seiner Stimme, und er hüstelte wieder stark.
«Sie sollten die Verbindung zu Captain Silverman herstellen«, sagte Nikolaj. Agajew sah ihn gequält an.
«Unmöglich. Sag ich's doch… die Freundschaft mit den Amerikanern ist eingefroren. Von ihnen Hilfe? Ha, wie utopisch denken Sie, Genosse! Beteiligung bei der Suche nach dem Bernsteinzimmer? Eher leiten Sie die Lena in die Mongolei! Ist der Kunstschatz in den Händen der US-Army — nicht ein Sil b-chen werden sie verraten, nicht einen Laut. Wer gibt ihn her, solch einen einmaligen Schatz?«
«Er gehört dem russischen Volk. Seit 230 Jahren, Genosse Agajew!«rief Jana Petrowna.
«Und wenn er schon 800 vor Christi Geburt den Skythen gehört hätte… jetzt hat ihn der Amerikaner. «Agajew sah Wach-ter an und klopfte auf das umfangreiche Protokoll.»Wenn alles stimmt, was Sie erzählt haben, Michail Igorowitsch.«
«Es ist nachprüfbar, Pawel Leonidowitsch.«
«Eben nicht!«Agajew zeigte mit dem Daumen auf einen Aktenschrank hinter sich und hüstelte wieder.»Alles Spuren von Kunstschätzen. Ein Berg von Vermutungen. Ein Hügelchen von tatsächlichem Wissen. Aber selbst an diesen Maulwurfhaufen kommen wir nicht heran… er liegt im Westen!«»Thüringen und Sachsen gehören jetzt zur sowjetisch besetzten Zone. «Nikolaj tippte mit dem Zeigefinger auf die Deutschlandkarte.»Und hier können wir nachforschen.«
«Mein lieber Genosse!«Agajew stützte die Stirn in die Hand.»Das heißt: Hunderte Orte, Schlösser, Depots und Bergwerke aufsuchen. Hunderte verschüttete Keller öffnen, gesprengte Stollen aufgraben, unterirdische Gänge freischaufeln, Tausende von Personen verhören, meterdicke Bunkerwände aufreißen — dafür haben wir jetzt keine Zeit und kein Geld.«
«Keine Zeit für das Bernsteinzimmer?«Wachter starrte Agajew ungläubig an.»Verhört muß ich mich haben.«
«Genossen, nur an das Bernsteinzimmer denkt ihr!«rief Agajew gequält aus.»Denkt daran, daß wir gerade eben erst, vor vier Monaten, den Krieg gewonnen haben und nun flach auf dem Hintern liegen. Die angeblich hungernden Deutschen haben mehr zu kauen als unsere Städter. Ein Kohlkopf wird bei uns vergoldet, eine Eiche kann man ausstellen wie eine griechische Statue, und eine mit Hackfleisch gefüllte Pirogge ist so üppig wie ein Bojarenmahl. «Nach diesem Riesensatz mußte er heftig husten.»Wo hat da noch ein Bernsteinzimmer Platz, liebe Genossen?«
Es hatte keinen Sinn, weiter mit Agajew zu reden. Die Wachters und Jana Petrowna sahen das ein, gaben dem Genossen Kommissionsvorsitzenden die Hand und standen dann wieder auf der Straße. Wohin man auch blickte, was er gesagt hatte, war nicht wegzuleugnen. Überall standen lange Schlangen von Männern, Frauen und Kindern, um zu kaufen, was es in diesem Geschäft gerade gab. Was, war zunächst gleichgültig. Es gab etwas. Wenn man Glück hatte, bekam man es, und wenn man es hatte, konnte man tauschen, es anziehen oder essen. Wichtig war: Es gab etwas.
Ein schöner Spätsommertag war's, sie spazierten ein wenig an der Newa entlang, standen am Ufer vor dem Winterpalais und der Eremitage, gingen zum Dekabristenplatz zurück und setzten sich auf die Steine des Denkmalsockels.
«Wir sollten es allein versuchen, meine Lieben«, sagte Wachter nach langem schweigendem Nachdenken.»Jananka und ich. Du, Nikolaj, bleibst in Puschkin.«
«Auf gar keinen Fall. Wir drei bleiben zusammen. Nur eine Frage, Väterchen, wer soll's bezahlen? Kein Ausflug ist's…«»Das weiß ich auch«, knurrte Wachter.»Es kann Monate dauern.«
«Wenn wir überall gegen Wände rennen, auch Jahre!«sagte Jana realistisch.»Zuerst müssen wir Silverman finden, aber wo? Das Fundament allen Suchens ist Silverman. Die Basis. Allein er weiß mehr als alle anderen, die man fragen könnte.«»Er wird sich melden. Um seine Entlassung hat er nachgesucht. Er hat versprochen, sofort Nachricht zu geben.«»Wohin?«fragte Nikolaj.
«Ich habe ihm die Puschkiner Adresse gegeben. KatharinenPalast.«
«Und du glaubst wirklich, daß dort ein Brief von ihm ankommt?«
«Warum nicht? Einmal ja… früher oder später. Es ist doch Frieden.«
«Nein, Väterchen, falsch siehst du das. «Nikolaj schabte mit den Schuhspitzen über das Pflaster.»Geschossen wird nicht mehr auf die Deutschen, das ist alles. Jetzt wird mit Schikanen, Verleumdungen, politischem Gift um sich geworfen und die Welt in zwei Teile gespalten. Noch lächelt man sich an, mit säuerlichen Mienen, noch bildet man ein Siegerquartett, um die Geschichte nicht völlig zu verwirren. Aber warte es ab, was in zwei oder drei oder zehn Jahren sein wird. Und schlimmer noch für uns: Wir sind Deutsche in Rußland. Wir leben hier wie die Russen, wir sprechen russisch, wir denken russisch, man spricht unsere Namen russisch aus, aber wir sind Deutsche.«»Das hat unser Urahn Friedrich Theodor dem Preußenkönig geschworen…«
«Die Amerikaner werden den Brief von Silverman an uns kontrollieren, der Brief wird dann von den sowjetischen Behörden zensiert, ehe er zu uns kommt… wenn er dann überhaupt noch kommt.«
«Nein, kein Brief an mich ist zensiert worden!«sagte Wachter abwehrend.»Jeder Brief an mich ist angekommen!«
«Vor dem Krieg, Vater. «Nikolaj erhob sich und zog Jana von dem Denkmalsockel hoch.»Aber jetzt? Der Krieg hat die Welt und die Menschen verändert… gründlich verändert. Nichts wird mehr so sein, wie es früher war. Die Welt hat ein anderes Gesicht bekommen.«
So schien's zu sein. Das Jahr ging zu Ende… der Genosse Agajew und seine Sonderkommission schwiegen. Ein paar Mal schrieb Wachter hin, aber Antwort bekam er nie. Als das Telefon wieder in Ordnung war, rief er dreimal an. Immer war eine tiefe, mürrische Frauenstimme am Hörer und sagte:»Ist in Moskau!«oder» Ist in Kiew!«oder» Ist nicht da! Wo er ist? Was kümmert's Sie, Genosse?!«
Nach dieser frechen, groben Auskunft ließ Wachter das Telefonieren sein. Er schrieb einen langen Brief an die Zentralkommission in Moskau, aber auch von dort antwortete ihm nichts als Schweigen. Nur von der Museenverwaltung hörte er etwas. In Würdigung seiner Verdienste um den KatharinenPalast und seiner jahrzehntelangen guten Arbeit habe man sich entschlossen, ihm ein ehrenvolles Ruhegeld von monatlich 100 Rubel zu geben, freie Wohnung im Katharinen-Palast und den Orden» Verdienter Arbeiter des Volkes«. Der Stadtsowjet von Puschkin würde ihm die Medaille überreichen. Verwalter blieb Nikolaj Michajlowitsch Wachterowskij.
«Hundert Rubel, das ist reichlich«, sagte Wachter, nachdem er den Brief gelesen hatte.»Zusammen mit freier Wohnung… da läßt's sich leben. Aber zu wenig ist's, um auf eigene Kosten das Bernsteinzimmer zu suchen.«
Am Donnerstag vor Ostern 1946 heirateten Nikolaj und Jana
Petrowna in der Schloßkapelle des Katharinen-Palastes nach griechisch-orthodoxem Ritus. Ganz altmodisch, obwohl Jana eine junge, gute Kommunistin war, aber die Liebe zu Kolka war stärker als ihre Ideologie. Sie standen vor einem Popen im Festgewand, vor einer Ikonostase, ein Männerchor von sechs Stimmen sang, und Wachter hielt über Janas geschmücktes Haupt die kleine Krone, so wie es üblich war, und während der Pope die Hochzeitssegnung vornahm, dachte er: Gewünscht hab ich es mir, diesen Tag im Bernsteinzimmer zu erleben. Auch Johann Friedrich Wachter, der Verwalter des Zimmers unter Zar Alexander II., hat dort seine Sophie geheiratet. Mein Großvater und meine Großmutter. Gott segne euch, meine Kinder… ein schöner Tag ist's und doch ein trauriger. Vier leere Wände verwalten wir, und keiner hört unsere Rufe. Er senkte den Kopf, als der Pope den Segen sprach.
Der Bericht, den Captain Fred Silverman seinem Hauptquartier des DSS zusammen mit der Bitte um Entlassung aus dem Dienst vorlegte, wurde aufmerksam gelesen… das A> schiedsgesuch weggelegt und in der Personalakte abgeheftet. General Allan Walker rief ihn nach sieben Wochen Warten in sein Büro, begrüßte ihn mit Handschlag, deutete auf einen Ledersessel, ließ sich selbst in einen hineinfallen und schlug die Beine übereinander.
«Sie wollen abhauen, Fred?«fragte er geradeheraus.
«Das ist nicht der richtige Ausdruck, Sir. «Silverman straffte sich in seinem Sessel.»Ich glaube, ich habe meine Aufgaben erfüllt und möchte ins Zivilleben zurück.«
«Das können Sie auch im Rahmen unserer Dienststelle, zum Beispiel als Botschaftsrat in einer unserer Botschaften. Nach Osten hin wird sich einiges tun. Noch spielen wir alle Ringelreihen und tun so, als seien die Beschlüsse von Jalta bindend, aber jeder weiß, daß es völlig anders kommen wird. Ich könnte Sie für die Botschaft in Ungarn vorschlagen, Fred/Später dann geht's an die Speerspitze: US-Botschaft Moskau! Reizt Sie das nicht?«
«Nein, Sir.«»Die Mädchen von Budapest… jeder andere würde schon morgen hinfliegen.«
«Ich bin nicht jeder andere, Sir, ich bin ich. Ich bitte um nichts Unerfüllbares: um meine Entlassung.«
«Sie sind Offizier, Fred. Captain… Ihre Beförderung zum Major liegt auf meinem Tisch.«
«Danke, Sir.«
«Die USA befinden sich in einer prekären Situation. Wir haben mit Rußland den Krieg gewonnen, aber wir mögen die Russen nicht. Gar nicht! Es wird zu großen Umwälzungen kommen, zu größten Veränderungen der Weltpolitik. Das HitlerDeutschland ist wegradiert… Weltpolitik gibt es ab jetzt nur zwischen Washington und Moskau! Sie sind ein guter Mann, Fred, wir brauchen Sie noch. Ein US-Offizier verläßt nicht sein Kommando, wenn ihn das Vaterland noch braucht.«
General Walker sah Silverman aus grauen, forschenden Augen an.»Amerika ist doch Ihr Vaterland geworden, nicht wahr?«
Silvermans Rücken wurde noch steifer.»Ich verstehe die Frage nicht, Sir.«
«Sie sind doch ein deutscher Jude, Fred.«
«Seit 1934 bin ich US-Bürger, Sir.«
«Im Paß! Aber wie ist's mit dem Herzen?«
«Ich habe gegen Deutschland gekämpft.«
«Gegen Nazi-Deutschland… das gibt es nun nicht mehr.«
«Fast meine gesamte Familie ist in den KZs ausgerottet worden.«
«Das ist schreckliche, unvergeßliche, unsühnbare Vergangenheit, Fred… wie aber sehen Sie die Zjkunft?«Walker beugte sich etwas zu Silverman vor.
«Sprechen wir miteinander wie zwei gute Freunde: Was haben Sie vor, wenn Sie das OSS verlassen haben und ein freier Zivilist sind?«
«Ich werde nach Deutschland zurückkehren.«
«Aha, also doch. Als Friedrich Silbermann. «Walker lehnte sich wieder in den Ledersessel zurück.»Wie ich aus den Akten sehe, wollen Sie intensiv nach dem verschwundenen
Bernsteinzimmer forschen.«
«Nicht nur, Sir. Ich möchte so viele Kunstgüter wie möglich, die von den Nazis geraubt wurden, aufstöbern und den rechtmäßigen Besitzern zurückgeben.«
«Das sind vor allem die Russen.«
«Es sieht so aus, Sir. Ich weiß viele Stellen, wo die Nazis die Kunstschätze versteckt hatten, und ich will den Weg zurückverfolgen, wohin sie nach der Besetzung Deutschlands gekommen sind.«
«Ihr Wissen haben Sie als Angehöriger des OSS bekommen, und nun wollen Sie dieses Wissen gegen die USA verwerten!«Walkers Stimme hatte sich gehoben.»Finden Sie das nicht schäbig, Fred?! Irgendwie verräterisch?! Ein Dolchstoß in den Rücken?«
«Heißt das, daß alles, was die US-Armeen abtransportiert haben, jetzt US-Besitz ist?«
«Darüber entscheiden nicht Sie oder ich, sondern andere Stellen. Ihre Aufgabe war es, die Lagerstätten zu entdecken und auszuforschen, die Truppenführer hinzubringen und die entdeckten Depots in ihrer Liste anzustreichen. Damit war Ihre Tätigkeit erfolgreich beendet. Haben Ihnen nicht Eisenhower, Patton und Bradley die Hand gedrückt und Sie gelobt?«
«Ja. In Merkers, einer Stadt in Thüringen. Wir hatten den größten Schatzfund der Kriegsgeschichte gemacht. Aber wo sind diese Schätze jetzt?«
«Geht Sie das etwas an, Fred?«
«Gemälde von Rubens lagerten da, von Caravaggio, Tizian, Uccello, Masaccio, Rembrandts >Mann mit dem Goldhelm< und der Kopf der Nofretete… wo sind Sie hingekommen?«
«Da zuckt Ihr deutsches Herz, Friedrich Silbermann, nicht wahr?«Walker hob die Hand und winkte energisch ab, als Silverman etwas entgegnen wollte.»Ich soll Sie also entlassen, damit Sie unser Gegner werden?«
«Nein, Sir, ich will nur…«
«Einen Teufel werde ich tun, Fred. Ich befördere Sie zum Major, nagele Sie auf Ihren Eid als US-Offizier fest und damit hat es sich! Und wir schicken Sie als Kultur-Attache an die Botschaft von Neuseeland. Da können Sie kein Unheil anrichten und können die Kultur der Maoris studieren.«
«Sir — «
«Mein letztes Wort, Major Silverman!«Walker sprang auf, Silverman mußte ihm folgen und nahm Haltung an.»Melden Sie sich im Außenministerium. Dort weiß man schon Bescheid. Ihre Versetzung nach Wellington/Neuseeland wird bereits nächste Woche erfolgen. Viel Glück, Fred… und werden Sie ein international angesehener Maori-Forscher.«
Walker nickte. Für Silverman blieb nur der Rückzug und der aufbrechende Gedanke: So lasse ich mich nicht behandeln! Ich decke doch keinen Kunstraub. Es muß einen Weg geben, und ich werde ihn finden!
Am nächsten Tag schrieb er an Michael Wachter, KatharinenPalast, Puschkin bei Leningrad, UdSSR.
Der Brief kam nie an.
Die Lena floß noch nicht in die Mongolei -
Das Jahr 1956 machte Michael Wachter zum Siebzigjährigen. Welch ein Fest war das in Puschkin und im Katharinen-Palast! Wieder einmal wurde Michail Igorowitsch, der» Schloßgeist von Zarskoje Selo«, wie fixe Journalisten ihn tauften, zum Tagesthema der Zeitungen. Sie beschrieben sein Leben und das seiner Vorfahren, zeigten Fotos, wie der Bürgermeister von Leningrad ihm eine Blütenkette um den Hals hängte, als sei man in der Südsee, wie man ihm noch eine Medaille an den Rock heftete und der nun fast überall im Gesicht gelb gewordene Kulturfunktionär Agajew eine kurze Laudatio hielt, die in dem gehüstelten Satz endete:»Die Treue war für ihn nicht nur Maßstab, sondern Halt, aus ihr schöpfte er Kraft, auch wenn er sein großes Ziel nicht erreichte, das Bernsteinzimmer nach Puschkin zurückzuholen.«
Wachter empfand diesen Satz als eine Frechheit. Nikolaj und Jana Petrowna konnten ihn nur mit Mühe davon abbringen, in seiner Erwiderung zu sagen:
«Der Genosse Agajew hat gut zu bedauern. Wenn seine Behörde soviel Rubel für das Bernsteinzimmer ausgeben würde, wie sie für unnütze Beamte ausgibt, könnten wir vielleicht schon längst vor diesem Wunderwerk stehen.«
Er sagte es also nicht, ließ sich feiern, ließ sich küssen, schüttelte unzählige Hände und fuhr dann nach Puschkin zurück, wo ein großes Abendessen vorbereitet war.
In den vergangenen elf Jahren Frieden war viel oder wenig geschehen, je nachdem, aus welcher Ecke man es betrachtete und zu welchem Volk man gehörte. Die Städter standen noch immer Schlange vor den Geschäften. Die Kolchosen und Sowchosen erfüllten ihre Planziele, ohne daß der allgemeine Lebensstandard stieg, was so mancher nicht verstand. Aber wer genug Rubelchen besaß, ein paar Hintertürchen kannte und ein paar geheime Quellchen anzapfte, der bekam schon genug Fleisch, Eier, Speck, Krimsekt, Krimwein, grusinischen Kognak und natürlich Wodka, das Wässerchen aller Wasser. Auch Mehl hatte man, Grieß, Grütze, Zwiebeln, Gurken wie Pilze, gesäuert oder gesalzen und getrocknetes oder konserviertes Obst… Genossen, was will man mehr von dieser Welt als gut essen, gut saufen und gut schlafen neben einem warmen Frauen-körperchen! Brauchen wir den Luxus der Kapitalisten? Französische Mode und Parfüms? Englisches Golf? Oder amerikanische Steaks und Hollywood? Einen deutschen Mercedes oder Urlaub auf Mallorca? Hebt euer Gläschen, Freunde — in zehn Jahren sieht's noch besser aus. Der Welt können wir das größte Geschenk überhaupt machen: Zeit. Zeit, Genossen, haben wir genug…
Nikolajs Idee war es gewesen, die Festtafel im leeren Bernsteinzimmer aufzustellen. Die rohen, beraubten Wände hatte man mit gelbem Stoff bespannt, im Licht von vielen Glühbirnen strahlte das Deckengemälde und leuchtete der einmalige Parkettboden. Väterchen Michail saß vorn am Kopf der Tafel, und neben ihm saßen seine Enkel Peter und Janina, Janas Kinder, die sie vor neun und sieben Jahren bekommen hatte. Eine schöne, reife, viel bewunderte Frau war sie geworden, nun vierunddreißig Jahre alt, schlank geblieben und doch mit begehrten Rundungen, dort wo sie hingehörten, und wenn sie lachte und sich dabei zurückbog und Bluse, Kleid oder Pullover sich spannten, wurde Nikolaj, man gestehe es offen, von allen anderen Männern beneidet.
Eine große Überraschung erlebte Wachter an diesem Abend, als nach dem Essen eine hochgewachsene, dunkelhaarige Frau auf ihn zutrat, man konnte sie auf dreißig schätzen, und sich als Wassilissa Iwanowna Jablonskaja vorstellte.
«Ein schönes Geschenk bringe ich Ihnen mit aus Moskau«, sagte sie mit einer warmen Altstimme.»Mich — «
«Wie exklusiv!«lachte Wachter und hob sein Glas.»Willkommen, Wassilissa Iwanowna… aber bedenken Sie, heute bin ich siebzig geworden. Was wollen Sie mit mir noch anfangen?«
«Ihren Lebenstraum vollenden. «Sie machte eine kleine Pause und sagte dann feierlich:»Von der Zentralkommission in Moskau soll ich Ihnen mitteilen, daß die Suche nach dem Bernsteinzimmer wiederaufgenommen wird. Ich bin die Leiterin der Sonderkommission. Wir werden zusammenarbeiten, Michail Igorowitsch.«
Da stieß der alte Wachter einen Jauchzer aus wie ein Bayer, drehte sich einmal um sich selbst und warf sein Glas gegen die Wand.
Und alle Gäste lächelten und dachten: Na, Alterchen, geht dir der Wodka zu schnell ins Hirnchen? Und viele Gläser flogen seinem Glas nach.
Nicht in Moskau, sondern letztlich in Peking war Fred Silverman gelandet, immer noch weitab vom Schuß. General Walker, seit drei Jahren in Pension, hatte seinen problematischen Major zunächst tatsächlich nach Neuseeland geschickt, auf einen Posten, wo er völlig kaltgestellt war. Gemäß der uralten, aber immer wieder sich bestätigenden Wahrheit, daß die Zeit alle Spuren verwischt, gibt es nach zehn, zwanzig oder dreißig Jahren kaum noch Erinnerungen, die man auswerten kann, oder die meisten Zeugen sind gestorben. So wurde Silverman ans andere Ende der Welt versetzt, und um ihm ein wenig Abwechslung zu gönnen, ließ man ihn später nach Peking umziehen, das für einen Kunsthistoriker wie ihn ein überwältigendes Erlebnis war. Die in den deutschen und österreichischen Salzbergwerken eingelagerten und entdeckten Kunstschätze der Nazis schnitt man damit aus seinem Leben heraus.
Viel Informationen für die Öffentlichkeit gab es sowieso nicht, die wechselvolle Geschichte des Kunstraubes wurde totgeschwiegen. Nur einmal sickerte eine Bemerkung durch, als der damalige Leiter des Central Collecting Point Wiesbaden, Mr. Walter Fermer, voller Verbitterung sagte:»Wir konnten es nicht fassen, daß wir Amerikaner uns nun anschickten, genau das zu tun, was Hitler getan hatte. Wir waren dabei, Bilder aus dem Besitz eines anderen Landes in >Sicherheitsgewahrsam< zu nehmen. Das Besondere dieser Auswahl aber war: Die Zusammenstellung der Bilder sollte die Lücken in amerikanischen Sammlungen füllen.«
Auch private, unbekannte Sammlungen profitierten davon, und in den Tresoren von Kunstliebhabern oder einfach Kapitalanlegern stapelte sich Kunst. So verschwanden unter amerikanischer Besatzung spurlos weltberühmte Kunstwerke aus den Berliner Museen, die vor allem im Salzbergwerk Grasleben ausgelagert worden waren. Das erste, was vom amerikanischen Geheimdienst beschlagnahmt wurde und danach verscholl, waren fast alle Lagerlisten mit den genauen Angaben. Erst viele Jahre später gelang es, eine Reihe der fehlenden Kunstwerke zu benennen. Verschwunden waren der» Schatz des Priamos«, die Goldkiste der ägyptischen Abteilung, 80 Steinskulpturen der indischen Sammlungen, 34 Kisten unersetzbarer ostasiatischer Kunst, 50 Kisten mit anderen Skulpturen, 330 antike Vasen, berühmte Gemälde wie Menzels» Tafelrunde in Sanssouci «oder der bewunderte» Knabe aus Naxos«, Inbegriff griechischer Schönheit und Harmonie.
Diese Schätze und noch viel, viel mehr hatten nicht, wie immer wieder laut behauptet wurde, die Russen als Beutegut ao-transportiert, sondern waren im Westen unter amerikanischer Besatzung verschwunden.
Merkwürdiges geschah dann in den folgenden Jahren nach dem Krieg: Die deutschen Museumsbeamten und Abteilungsleiter der Berliner Museen, die das Ende des Hitler-Reiches überlebt hatten und die nun darangegangen waren, nach dem Verbleib der Kunstschätze zu forschen, die mit den letzten Transporten aus Berlin am 6. und 7. April 1945 nach Grasleben und Merkers geschafft worden waren, dezimierten sich auf rätselhafte Weise.
Der Leiter der Antikenabteilung wurde mit einer harmlosen Blinddarmreizung in ein Krankenhaus eingeliefert, operiert, die Wunde verheilte gut, er fühlte sich gesund und kräftig, aber an dem Tag, an dem er aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte, starb er plötzlich. Die schnelle Diagnose: Darmkrebs. Vier Tage später schluckte der Chef der Skulpturenabteilung, die am meisten gelitten hatte, eine tödliche Dosis Zyankali, nachdem er eine Liste der fehlenden Exponate angefertigt hatte. Die Liste wurde nie gefunden, nur der Tote.
An seinem Schreibtisch wurde der Leiter des Völkerkundemuseums erschossen aufgefunden. Selbstmord hieß es, wie bei dem Zyankalitoten. Aber weshalb Selbstmord? Es gab nicht den geringsten Grund dafür.
Plötzlich starb im Sommer 1945 auch der Restaurator der Gemäldegalerie. Herzschlag, hieß es. Aber niemand konnte sich daran erinnern, daß er jemals über Herzbeschwerden geklagt hatte — er war ein gesunder Mann gewesen.
Und spurlos verschwand auch ein anderer Restaurator der Nationalgalerie, der am 7. April eine genaue Liste aufgestellt hatte, ein Inventarverzeichnis der ausgelagerten Gemälde.
Und der Mann, der diese Aufzählung von Merkwürdigkeiten und Rätseln zusammengestellt hatte, war später nicht mehr bereit, darüber zu sprechen. Freunde flüsterten sich zu, er habe Angst, Todesangst.
Und die Zeit, die Jahre breiteten einen Schleier des Verges-sens über alle Mutmaßungen und über alle Wahrheiten. Silverman im fernen Peking hatte dieses umfangreiche Material gesammelt. Er war nun vierundvierzig Jahre alt, Botschaftsrat, und konnte einem angenehmen Lebensabend entgegensehen. Über das Bernsteinzimmer sprach er seit zehn Jahren nicht mehr, es galt als verschollen und verloren, seitdem es angeblich im Bergwerk von Merkers gelagert haben sollte. Das Verschwinden der drei Trucks mit zwanzig Kisten und der Tod des armen Noah Rawlings, diese Blamage der US-Transportstaffel, wurden gründlich vergessen. Ein unglücklicher Zwischenfall im Krieg wie tausend andere — das war's. Wozu darüber große Worte? Silvermans damalige Berichte wurden in die Tresore des OSS verbannt und waren damit für alle Zeiten uneinsehbar. So vieles ist verlorengegangen, wie viele Städte waren nur noch rauchende Ruinen… wer regte sich da über ein Zimmer aus Bernstein auf?! Leute, so etwas braucht man nicht zum Leben. Seht euch an, was nach einem verlorenen Krieg möglich ist: das deutsche Wirtschaftswunder! Das ist wichtig: ein starker Block gegen den Osten! Silverman paßte sich dem neuen Denken an, wenn auch nur als Tarnung. Das Bernsteinzimmer war lein Gesprächsstoff mehr, und nach der Pensionierung von General Walker kam ein Nachfolger an die Spitze des OSS, dem Silverman kein Begriff mehr war und der die interne Geschichte des Diplomaten im Fernen Osten nicht kannte.
Silverman selbst sah eine große Chance in diesem Wechsel. Zunächst schickte er ein Gesundheitsattest des Botschaftsarztes nach Washington. Der Arzt, Dr. Humbert Seyko-none, ein Halbjapaner, hatte viele Gespräche mit Silverman geführt, bis dieser ein so großes Vertrauen zu ihm faßte, daß er ihm vom Bernsteinzimmer erzählte. Seykonone, im Herzen ein Japaner, erinnerte sich daran, was amerikanische Truppen damals von den von ihnen besetzten japanischen Inseln aus Tempeln, Grabanlagen und Heiligtümern weggeschleppt hatten, gab Silverman die Hand und sagte:»Ich werde Sie krank schreiben, Fred, Ihr Gesuch um Entlassung unterstützen und auch dem Botschafter erklären, daß ein Mann wie Sie seine Ruhe verdient hat und die letzten Jahre seines Lebens eigentlich in Florida oder an der kalifornischen Küste genießen sollte.«
«Dann müssen Sie mir aber eine verdammt tückische Krankheit andichten, Humbert. «Silvermann sah Seykonone nachdenklich an.»Wenn das gelingt — «»Versuchen wir es.«
Dr. Seykonone fand eine Krankheit, die man kaum anzweifeln konnte und die so ernst klang, daß eine Pensionierung Silvermans gerechtfertigt war. Laut Attest litt Silverman an einer beginnenden Nephrosklerose, eine vaskuläre Nierenerkrankung unter Beteiligung der kleinen Gefäße. Das mußte reichen.
Und es reichte. Silverman wurde nach Washington gebeten, ins Außenministerium, und dort empfing ihn ein sehr freundlicher Beamter, drückte ihm die Hand und ließ sich nicht ai-merken, wie sehr er den Kranken bedauerte.
«Ihr Gesuch, lieber Silverman, ist von uns eingehend geprüft worden«, sagte er.»Wie fühlen Sie sich?«
«Schlapp. Und oftmals ist da eine schreckliche Übelkeit. Von den Nierenstauungen ganz abgesehen. «Silverman hatte Sey-konones Ratschläge gut auswendig gelernt.»Ich habe manchmal das Gefühl, in der Mitte durchzubrechen.«
«Die beste Krankheit taugt nichts«, versuchte der Beamte den alten dummen Scherz.»Wir haben für Ihre Lage volles Verständnis. Wären Sie bereit, in vier Wochen in den Ruhestand zu treten?«
«Es wäre für mich eine große Erleichterung. Ich möchte mich dann nach Monterey zurückziehen und nur noch Golf spielen.«»Die Bewegung in der frischen Luft wird Ihnen guttun. «Es sollte aufmunternd klingen, aber Silverman hörte mit innerer Freude heraus, was man insgeheim dachte: Der arme Kerl. Will Golf spielen und weiß nicht, daß er bald an seiner Nierenverkalkung zugrunde geht.»Wir werden alles vorbereiten, Mr. Silverman.«
Schon drei Wochen später traf in Silvermans Hotel die Nachricht ein, daß er aus dem diplomatischen Dienst und Geheimdienst ehrenvoll entlassen sei. Eine große, schöne Urkunde erhielt er, einen Händedruck eines Staatssekretärs, die Bestätigung einer angemessenen Pension… und dann war er kein US-Beamter mehr, kein ehemaliger Major des Geheimdienstes OSS, kein» besonderer Fall «wie bei General Walker, er war frei in allen seinen Handlungen, konnte sich überall auf der Welt niederlassen, natürlich auch zum Golfspielen in Monterey, südlich von San Francisco.
Von Washington noch rief er Dr. Seykonone in Peking an.»Humbert, ich werde Ihnen ewig dankbar sein. Seit neun Stunden bin ich nur noch Fred Silverman, der Pensionär.«»Gratuliere, Fred«, rief Seykonone zurück.»Und was werden Sie jetzt tun?«
«Die Farm meines Vaters verkaufen, alles Geld zusammenkratzen und nach Germany fahren. Doch vorher noch eine Frage, nur zur Beruhigung: Habe ich wirklich keine Nierenverkalkung?«
«Sie haben Nieren wie ein College-Boy, Fred«, lachte Seykonone.»Wenn's bei Ihnen nur an den Nieren hängt, können Sie hundert Jahre alt werden. Viel Glück im kalten Germany.«»Danke, Humbert. Vielleicht kann ich hundert Jahre sogar gebrauchen.«
Silverman legte auf. Das war mein letztes Telefongespräch mit einer amtlichen amerikanischen Stelle, dachte er. Jetzt heißt es, Geld beschaffen, ein Ticket nach Frankfurt zu kaufen und ein anderer Mensch zu werden. Ein deutscher Jude kommt nach Deutschland zurück, um ein russisches Bernsteinzimmer zu suchen. Er geht in das Land zurück, das seine ganze Familie ausgerottet hat. Etwas absurd war das schon… aber notwendig.
Ich bin der einzige, der mehr weiß als alle anderen.
Die Geschäfte mit dem Bordell, dem Stundenhotel und der Erotikshow liefen vorzüglich. Larry Brooks und Joe Williams waren zu den heimlichen Herrschern der Frankfurter Szene aufgestiegen und hatten das Puffgewerbe nach amerikanischem Muster völlig unter ihrer Kontrolle.
Als nach der deutschen Währungsreform 1948 auch die Deutschen wieder genug Geld hatten, um sich eine Stunde oder auch zwei mit den» Alleinunterhalterinnen «zu gönnen, vor allem aber neue Sexlokale gegründet wurden, auf deren Bühnen tabufreie Erotikshows stattfanden, an denen sich jeder Besucher im Saal beteiligen konnte, und als die Privatclubs überall aus dem Boden schossen, in denen Partnertausch und
Gruppensex gepflegt wurden, liefen alle Konzessionen erst einmal über Larry und Joe. Wer, ohne sie zu fragen, einen Puff aufmachte, bekam Besuch von Larry, und meistens war die Angelegenheit nach zehn Minuten Unterhaltung erledigt. Getreu dem Vorbild der Mafia von New York, Chikago, New Orleans und anderen Städten wurden Schutzverträge abgeschlossen und monatlich kassiert. Ein paar Wackere, die sich nicht beugen wollten, kamen spätestens nach sechs Monaten zu Larry und Joe, unterschrieben und zahlten… ein paarmal die Lokaleinrichtung zu erneuern oder einen Messerstich auszuheilen, ist nicht jedermanns Sache.
Und trotzdem, Larry beging eine Dummheit, die das ganze schöne Bordellgeschäft ins Schwanken brachte.
Ein Immobilienmakler bot ihm im Jahre 1955 eine Villa im Taunus an, ein weißes, schloßähnliches Gebäude mit eigenem Reitstall, einem See, mit Wild gut bestandenen Wäldern und einem verpachteten Bauernhof. Ein Traumbesitz, der — wie Larry sich sagte — gut zu ihm paßte, nur der Preis von elf Millionen harter DM überstieg Larrys aktuelles Konto. Aber er wußte Rat, und in neun Tagen hatte er die Summe zusammengebracht. Der Herrensitz im Taunus konnte gekauft werden.
Es war an einem Abend in der Villa von Joe Williams, daß sich Larry plötzlich nicht mehr sehr wohl fühlte. Carla, Joes gegenwärtige Geliebte, war nicht im Haus, was Larry auffiel, und auch Joe war anders als sonst, öffnete statt des Butlers selbst die Tür und ließ Larry stumm eintreten. Erst am Barschrank im großen Salon, nachdem Larry einen doppelten Whiskey bekommen hatte, blieb Joe vor ihm stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und zog das Kinn an.
«Hast du die Zeitung gelesen?«fragte er.
«Welche?«fragte Larry und bekam einen starken Druck im Magen.
«Die Frankfurter Allgemeine.«
«Ja.«
«Da steht, daß plötzlich bei einem Kunsthändler drei wertvolle, bisher verschollene Kunstgegenstände aufgetaucht sind, die aber schon, als die Polizei eingriff, an einen unbekannten Sammler nach Amerika verkauft waren. Es handelte sich um eine Ikone der Nowgoroder Schule, eine Monstranz von 1518 und ein Gemälde von Tiepolo. «Joes Stimme blieb ruhig und klang deshalb besonders gefährlich.»Soviel ich mich erinnern kann, gehörten diese Kunstschätze einmal einem Larry Brooks.«
«Joe, ich muß dir das erklären…«
«Das ist auch nötig, glaube ich.«
«Ich kann einen Traum von Haus kaufen. Mit See, Reitstall, Wäldern… im Taunus, weißt du. Sogar ein großer Bauernhof ist dabei.«
«Preis?«fragte Williams knapp.
«Elf Millionen DM.«
«Du bist verrückt, Larry. Du drehst durch…«
«Mir fehlten nur noch neunhunderttausend Mark! Lumpige Neunhunderttausend! Sonst wäre der ganze schöne Besitz an einen Araber gefallen. Da habe ich…«
«Da hast du in den Tresor gegriffen und ein paar Stückchen herausgeholt.«
«Ja, Joe.«
«Und mich zu fragen, daran hast du nicht gedacht.«
«Nein. Hättest du mir die Neunhunderttausend gegeben?«»Auf gar keinen Fall.«
«Siehst du. «Larry trank das zweite Glas Whiskey leer. In Joes Blick lag etwas, das Angst in ihm erzeugte.
«Ich sehe, und ich lese es. Wenn dieser Kunsthändler umfällt und die Schnauze aufmacht…«
«Er fällt nicht um, Joe…«
«Jeder Mensch hat seine Schwächen… sieh nur dich an, Larry! Also der Händler singt… und was ist dann? Eine Spur ist gelegt, und wie die Jagdhunde werden sie diese Spur aufnehmen. Die Kunsthistoriker, die Museumsdirektoren, die Polizei, unser Geheimdienst, das CIC… die ganze Meute gegen uns.«
«Ich habe meinen Namen nicht genannt. Sie werden nie auf uns kommen, Joe.«»Es gibt kein Nie im täglichen Leben, Larry. Wenn sie erst wissen, daß uns damals der >Werwolf< nicht umgebracht hat, werden sie auch wieder nach den zwanzig Kisten fragen! Und alles, alles war umsonst! Elf Jahre Versteckspielen… umsonst. Sie werden uns in die Staaten bringen und dort weichklopfen, bis wir hinausschreien, wo das Bernsteinzimmer ist! Und alles nur, weil Larry Brooks wie ein Graf leben will. Mit einem Gutsherrenschloß…«
«Es wird nichts geschehen, Joe, glaub es mir. Nichts wird geschehen!«rief Larry fast kläglich.»Alles verläuft im Sand.«»Darauf verlasse ich mich nicht. «Williams stieß sich von dem Barschrank ab und wanderte in dem großen Salon hin und her. Larrys Blicke folgten ihm und jeder seiner Bewegungen. Plötzlich blieb Joe ruckartig vor ihm stehen. Larry schrak zusammen.
«Du erinnerst dich an Noah?«fragte Joe.
«Ungern — «Larry verzog sein Gesicht.
«Es bleibt dir nichts anderes übrig, als es noch mal zu tun.«»Nein, Joe, nein!«Larry trat heftig einen Schritt zurück.»Ich bin kein Killer, das weißt du. Ich habe Jahre gebraucht, um Noahs Augen zu vergessen, bevor er umfiel!«
«Es ist unser einziger Schutz, Larry. Du nimmst die deutsche Pistole und korrigierst deine Dummheit. Und das Schlößchen kaufst du auch nicht!«
«Joe, ich bin kein Idiot! Ich bin auch nicht dein Tanzbär! Ich kann tun, was ich will!«Es war ein mattes Aufbegehren, das Williams mit einem Wink wegscheuchte.
«Du schaffst wieder Ordnung, Larry«, sagte er kalt.»Und ich kümmere mich darum, daß das Bernsteinzimmer in die Staaten kommt…«
«Du willst es rüberschaffen, Joe? Wie denn?«
«Von Genua aus mit dem Schiff.«
«Und wie kriegst du die zwanzig Kisten nach Genua?«
«Mit Geld in die richtigen Hände.«
«Einen deutschen Zollbeamten zu bestechen ist Wahnsinn!«»Aber nicht den Kommandanten einer US-Atlas-Trans-portmaschine. Im Hafen von Genua ist das Handaufhalten eine tägliche Übung.«
«Und drüben, Joe?«
«Larry, du bist ein Rindvieh! Natürlich kommen die Kisten nicht nach New York oder Boston oder Baltimore. In Mexiko kommen sie an Land und dann über die Grenze. Auch hier helfen Dollars. «Joe lehnte sich wieder an den Barschrank.»Zunächst aber bist du an der Reihe, Larry. Dein Kunsthändler muß schlafen.«
«Ich kann das nicht, Joe!«schrie Larry hysterisch.»Ich habe nicht die Nerven wie du!«
«Leider, Larry. Aber das Schicksal hat uns zusammengeführt, wir haben das größte Ding aller Zeiten gedreht, wir sind aufeinander angewiesen… es ist eben Schicksal. Reiß dich zusammen, Larry-Boy. Du bist erst fünfunddreißig… vierzig Jahre hast du sicherlich noch vor dir. Larry, vierzig Jahre!«
An diesem Abend betrank sich Larry Brooks so gründlich, daß er Joes Villa nicht mehr verlassen konnte. Er merkte nicht einmal, daß dieser ihn sogar ins Bett schaffen mußte.
Zwei Tage später berichteten die Frankfurter Zeitungen:
Der Kunsthändler M. Sch. wurde in der vergangenen Nacht in seinem Haus im Westend erschossen. Wie die Polizei mitteilt, gibt es keinen Hinweis auf den oder die Täter. Gestohlen wurde nichts, wodurch ein Raubmord ausgeschaltet werden kann. Der Täter benutzte eine ehemalige deutsche Wehrmachtspistole, 08 genannt, wie nach der ersten Obduktion festgestellt wurde.
Eingeweihte Kreise sprechen davon, daß die Ermordung des Kunsthändlers mit den vor kurzem aufgetauchten und von ihm weiterverkauften Kunstwerken, die seit Kriegsende als verschollen galten, in engem Zusammenhang steht. Eine Sonderkommission der Kriminalpolizei hat vor allem in dieser Richtung die Ermittlungen aufgenommen. Die wieder aufgetauchten Kunstwerke sollen — so Experten — aus dem Katharinen-Palast bei Puschkin/Leningrad stammen, der 1941 von deutschen Truppen und Sonderkommandos geplündert worden war. Darunter befand sich auch das berühmte Bernsteinzimmer, das bis heute verschollen ist.
«Da haben wir's!«sagte Williams, als er die Zeitung gelesen und Larry an den Kopf geworfen hatte. Larry hockte wie ein Häufchen Elend in einem Sessel und schien dem Weinen nahe.»Das Bernsteinzimmer kommt wieder ins Gespräch! Eine Scheiße ist das, Larry, eine große Scheiße! Wir müssen die zwanzig Kisten aus der Höhle holen und nach Genua bringen! Und warum… weil Larry Brooks, der Junge aus den Slums, ein Graf sein wollte! Mit Herrenhaus! Mit eigenem Reitstall! Mit einem eigenen See! Sitz nicht rum und heule!«
«Ich habe einen Menschen umgebracht, Joe. «Larry schlug die Hände vor sein Gesicht.»Zum zweiten Mal einen Menschen… Ich bin total fertig.«
«Bis übermorgen. Dann hast du's verdaut.«
«Das glaube ich nicht, Joe.«
«Aber ich… Das Bernsteinzimmer wird immer wertvoller. Jetzt hat es schon zwei Menschenleben gekostet.«
Es klang zynisch und eiskalt, und Larry fror wirklich bei diesen Worten vor Entsetzen und Angst.
Im November, an einem trüben Tag, der Genua noch häßlicher machte, als es ohnehin schon war, vor allem den Hafen, legte das Motorschiff Lukretia von der Pier ab. Es fuhr unter libanesischer Flagge, wurde von einem griechischen Kapitän befehligt und hatte eine Besatzung aller nationalen Schattierungen. Es transportierte Landmaschinen nach Mexiko, große Kisten, unter denen die zwanzig alten Kisten gar nicht auffielen, die eines Nachts an Bord gebracht worden waren. Eine Nacht, in der der Kapitän um fünfzigtausend Dollar reicher geworden war. Und bei fünfzigtausend Dollar stellt man keine Fragen mehr — das wußte Joe, und er konnte daher leicht großzügig sein.
Ein paar Tage zuvor war er nach Köln gefahren, um möglichen Nachforschungen vorzubeugen, und hatte vom Bahnpostamt ein Gespräch nach USA, nach Whitesands, angemeldet. Dort meldete sich der alte Butler William, Joe verstellte seine
Stimme und sagte, es sei eine wichtige Angelegenheit, auf die der Hausherr warte. Als er seinen Vater hörte, sagte er:
«Hallo, Dad… ich bin's!«
«Wer ist dort?«fragte der alte Williams steif.
«Joe, Daddy.«
«Das kann nicht sein. Mein Sohn ist in den letzten Kriegstagen in Deutschland gefallen, sein Ehrenmal steht in Whitesands…«»Dad, du weißt doch, daß ich lebe. Zugegeben, ich habe jahrelang nichts von mir hören lassen, ich habe an dich gedacht, als du fünfundsiebzig wurdest, aber es war noch nicht die Zeit, aufzutauchen…«
«Was wollen Sie?«fragte der alte Williams ziemlich grob.»Wo stecken Sie?«
«In Germany. Dad… wie geht es Mom?«
«Meine Frau ist vor sieben Monaten gestorben.«
«Mom… ist tot?«Joe schluckte ein paar Mal.»Woran ist sie gestorben?«
«Was interessiert Sie das, Sie sind mir unbekannt! Sie stehlen mir meine Zeit.«
«Dad! Sie war meine Mutter — «
«Ihr Sohn ist vor elf Jahren gefallen, Sie Lügner!«schrie der alte Williams ins Telefon.»Sie hatte keinen Sohn mehr! Und so traurig es ist, ein Kind zu verlieren, sie war froh, daß ihr Sohn wenigstens ehrenvoll gestorben ist. Als Kriegsheld… und nicht als Gangster.«
«Das sagst du mir, Dad? Ausgerechnet du?! Dein ganzes Leben lang hast du nur Glück gehabt, das ist es! Ohne dieses Glück wärst du längst auf dem elektrischen Stuhl gebraten worden! Verdammt noch mal, ich wollte jetzt nach Hause kommen.«
«Bleib bloß, wo du bist!«Die Stimme des alten Williams war beinhart.»Es könnte einen Unfall auf dem Weg nach Whitesands geben.«
«Dad! Das könntest du tun?«
«Mein Sohn Joe ist im Krieg gefallen — dabei bleibt es!«
Der alte Williams legte auf. Joe starrte eine Zeitlang auf seinen Hörer, ehe er einhängte, zum Postschalter ging und das Gespräch bezahlte.
So also ist das, dachte er. Es gibt mich nicht mehr. Auch gut… das Bernsteinzimmer kann überall stehen, dazu brauche ich Whitesands nicht. Bye bye, Dad — das war unser letztes Gespräch.
Der Abtransport der zwanzig Kisten aus der Höhle im Berg Taufstein war keine Schwierigkeit. Von einer Baufirma in Aisfeld lieh sich Larry Brooks einen kleinen Raupenbagger, fuhr ihn zur Höhle, und schon nach sechs Stunden hatten sie den gesprengten Eingang freigelegt. Joe hatte sich um einen Lastwagen bemüht und am Stadtrand von Alsfeld eine alte Lagerhalle gemietet. Dorthin transportierten sie in viermaligem Hin- und Herfahren das Bernsteinzimmer, gaben Bagger und Lkw wieder ab und ließen zwei Wochen verstreichen. Den Eingang der Höhle hatten sie mit dem Sprengschutt wieder verschlossen und überließen es dem Forstamt des Vogelsberges, sich darüber zu wundern, nach einer Erklärung zu suchen und keine zu finden.
Etwas schwieriger wurde es mit dem Kommandanten der Atlas-Maschine auf der US-Air-Basis von Frankfurt. Joe Williams blätterte zwanzigtausend Dollar auf den Tisch, aber Captain Hugh Fortner blieb verschlossen.
«Joe, ich mache keine krummen Dinger«, sagte er.
«Das ist kein krummes Ding. Das ist mein Privateigentum.«»Und warum soll das heimlich weggebracht werden?«
«Wegen des Zolls, Hugh. «Joe tippte auf die Dollarscheine.»Auch das ist steuerfrei. Und in meinen Sexladen hast du auf Lebenszeit freien Eintritt und kannst dir umsonst jedes Mädchen aussuchen. Freies Schießen, Junge.«
Fortner überlegte. Er war ein paarmal in Joes Bar und Stundenhotel gewesen, sie kannten sich gut, Joe hatte die schönsten Weiber von Frankfurt im Stall, das wußte jeder, und zwanzigtausend Dollar in bar waren kein Regentropfen auf der Hand. Einmal in der Woche flog er die Atlas nach Genua, um im Hafen Nachschub abzuholen oder irgendwelche Dinge auf ein amerikanisches Schiff zu bringen. Die US-Transporte der Army oder Air Force hatten freie Durchfahrt, keiner kontrollierte sie, die Hafenwache kannte sie, und zwanzig Kisten waren überhaupt kein Problem.
«Es ist kein schiefes Ding?«fragte Fortner noch einmal.
«Ich verspreche es dir, Hugh«, sagte Joe feierlich.»Ich muß die Kisten nur zur Basis bringen — das ist es.«
«Da helfe ich dir. Ich schicke dir einen Truck.«
«Zwei, Hugh. Es sind große Kisten. Zwei schwere Trucks.«»Okay, Wann?«
«Einen Tag, bevor du fliegst. Sie liegen in Alsfeld.«
Alles lief daraufhin reibungslos nach Plan. Zwei riesige Trucks der US-Air-Force holten die Kisten ab, brachten sie zur AirBasis, und dort wurden sie in Fortners Atlas-Maschine geladen. Sie bekamen die Bezeichnung» Umzugsgut«- was noch nicht einmal gelogen war —, nachdem Joe die Aufschriften» Wasserbaubehörde Königsberg«übermalt hatte, und am selben Tag, an dem Fortner nach Genua flog, waren auch Larry und Joe unterwegs nach Italien.
Für den Puffbetrieb hatten sie vorläufig einen Geschäftsführer eingestellt, einen Jugoslawen mit guten Kenntnissen der Frankfurter Szene, und Joe hatte ganz klar zu ihm gesagt:
«Wir werden bestimmt ein halbes Jahr wegbleiben. Und nun hör genau zu, Jugo-Boy: Wenn die Abrechnungen nicht stimmen, wenn du denkst, du könntest uns aufs Kreuz legen, wenn hier durch deine Schuld irgend etwas schiefläuft, kann deine Mami einen Kranz schicken! Verstehst du das?«
«Du sprichst deutlich genug«, antwortete der Jugoslawe und nickte.»Ich werd doch dein Vertrauen nicht ausnützen.«
«Das sagen alle. Boy, paß bloß auf!«
Nun dümpelte die Lukretia im Brackwasser des Genueser Hafens und sollte am nächsten Tag auslaufen. Man hatte die zwanzig Kisten geschickt unter die anderen Kisten mit Ersatzteilen und den Landmaschinen verteilt. Zum dritten Mal waren sie umbenannt worden. Jetzt hieß es:»Motoren und Ersatzteile«. Fünfundzwanzigtausend Dollar steckten in der Tasche des griechischen Kapitäns, noch einmal die gleiche Summe bekam er, wenn die Kisten in Mexiko an Land waren.
«Das große Werk ist gelungen!«sagte Joe Williams am Abend zu Larry Brooks. Es klang wie der Beginn einer Ansprache.»Das Bernsteinzimmer ist weg aus Deutschland… jetzt wird es keiner mehr finden, und wenn sie hundert Jahre suchen. Es gibt keine Spuren mehr. «Er sah Brooks mit strahlendem Gesicht an.»Wenn du nur nicht ein so weiches Gemüt hättest, Larry-Boy.«
Am nächsten Tag dampfte die Lukretia von Genua ab, hinaus ins Mittelmeer. Es war ein naßkalter, nebeliger Novembertag. Am gleichen Nachmittag flog Joe Williams von Genua nach Rom und von Rom weiter nach Mexiko.
Erst drei Tage später entdeckte ein Hafenboot einen im Wasser treibenden Gegenstand, kam näher und zog ihn heraus. Es war ein Mensch mit einem kleinen Loch in der Stirn. Ein unbekannter Toter. Ein Mord, den man nie klären würde. Und als ein Unbekannter wurde Larry Brooks dann auch in Genua begraben.
Der dritte Tote des Bernsteinzimmers.