Jemand stellte ihr nach. Sie hatte gelesen, daß es Triebtäter gab, Spanner, Schleicher, Fetischisten, wie immer man sie auch nennen mochte, die Frauen verfolgten und belästigten, aber so etwas kam doch nur in einer anderen, einer brutaleren Welt vor. Sie hatte keine Ahnung, wer es sein könnte, konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer ihr etwas antun wollte. Sie kämpfte mit aller Macht gegen ihre Ängste an, wollte auf keinen Fall die Nerven verlieren, aber in letzter Zeit war sie von fürchterlichen Alpträumen heimgesucht worden, und jeden Morgen hatte sie beim Aufwachen das Gefühl, als drohte ihr ein schreckliches Unheil. Vielleicht bilde ich mir alles nur ein, dachte Ashley Patterson. Ich arbeite zuviel. Ich brauche Urlaub.
Sie wandte sich um und betrachtete sich im Schlafzimmerspiegel. Sie war Ende Zwanzig, hübsch gekleidet, schlank, hatte ein ebenmäßiges, geradezu aristokratisches Gesicht und intelligente, besorgt dreinblickende braune Augen. Das dunkle Haar fiel in sanftem Schwung auf die Schulter. Sie war elegant und attraktiv, aber auf eine eher dezente Art. Ich kann mich nicht ausstehen, dachte Ashley. Ich bin zu dünn. Ich muß mehr essen. Sie ging in die Küche und bereitete das Frühstück zu, zwang sich, nicht mehr an ihre Ängste und Beklemmungen zu denken, und konzentrierte sich darauf, daß das Omelett leicht und luftig geriet. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und schob eine Scheibe Brot in den Toaster. Zehn Minuten später war alles fertig. Ashley deckte den Tisch und setzte sich hin. Sie griff zur Gabel, starrte einen Moment lang auf das Frühstück und schüttelte dann verzweifelt den Kopf. Vor lauter Angst war ihr der Appetit vergangen.
Das kann nicht so weitergehen, dachte sie ungehalten. Ich weiß nicht, wer dahintersteckt, aber so was lasse ich nicht mit mir machen. Niemals.
Ashley warf einen Blick auf ihre Uhr. Höchste Zeit, daß sie sich auf den Weg zur Arbeit machte. Sie sah sich noch einmal in der vertrauten Umgebung um, so als suchte sie Zuspruch. Ihre geschmackvoll eingerichtete Wohnung, die aus Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer, Bad, Küche und Gästetoilette bestand, lag im zweiten Stock eines Mietshauses am Via Camino Court. Sie wohnte seit drei Jahren in Cupertino, Kalifornien. Bis vor zwei Wochen war ihr diese Wohnung immer wie ein gemütliches Nest vorgekommen, ein Refugium. Jetzt war sie zu einer Festung geworden, einer Zuflucht, in die niemand eindringen und ihr etwas antun konnte. Ashley ging zur Wohnungstür und musterte das Schloß. Ich lasse mir ein Riegelschloß einbauen, dachte sie. Gleich morgen. Sie schaltete sämtliche Lichter aus, überzeugte sich davon, daß die Tür fest verschlossen war, und fuhr mit dem Aufzug hinunter in die Tiefgarage.
Die Garage war menschenleer. Ihr Wagen stand etwa fünf Meter vom Fahrstuhl entfernt. Sie sah sich vorsichtig um, rannte dann zu ihrem Wagen, stieg ein, verriegelte die Türen und blieb einen Moment lang sitzen, bis ihr Herz wieder ruhiger schlug. Dunkel dräuende Wolken zogen über den Himmel, als sie in Richtung Innenstadt fuhr. Laut Wetterbericht sollte es Regen geben. Aber es wird nicht regnen, dachte Ashley. Die Sonne wird wieder herauskommen. Ich schlage dir was vor, lieber Gott. Wenn es nicht regnet, bedeutet das, daß alles in Ordnung ist, daß ich mir alles nur eingebildet habe.
Zehn Minuten später fuhr Ashley Patterson durch das Stadtzentrum von Cupertino. Sie war stets aufs neue beeindruckt, wenn sie sah, was aus diesem einstmals verschlafenen Winkel des Santa Clara Valley geworden war. Hier, in diesem rund achtzig Kilometer südlich von San Francisco gelegenen Tal, hatte die sogenannte Computerrevolution ihren Anfang genommen, was dem Tal den durchaus treffenden Beinamen Silicon Valley eingetragen hatte.
Ashley war bei der Global Computer Graphics Corporation beschäftigt, einem erfolgreichen, rasch expandierenden, jungen Unternehmen mit zweihundert Angestellten.
Als Ashley in die Silverade Street einbog, überkam sie wieder dieses beklemmende Gefühl, als wäre er hinter ihr, verfolgte sie. Aber wer? Und warum? Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Anscheinend war alles so wie immer.
Doch eine innere Stimme sagte ihr etwas ganz anderes.
Vor Ashley erstreckte sich das weitläufige, moderne Firmengebäude von Global Computer Graphics. Sie fuhr auf den Parkplatz, zeigte dem Wachmann ihren Ausweis und stieß auf den für sie reservierten Stellplatz. Hier fühlte sie sich sicher.
Als sie aus dem Wagen stieg, fing es an zu regnen.
Um neun Uhr morgens herrschte bei Global Computer Gra-phics bereits reges Treiben. In den acht nach dem Baukastenprinzip gestalteten Kabuffs saßen die Computergenies in Diensten der Firma, allesamt junge Leute, die hier Websites entwickelten, Logos für neue Unternehmen gestalteten, Graphiken für CD-Hüllen und Buchumschläge entwarfen und Bildmaterial für Illustrierte bearbeiteten. Der Betrieb war in mehrere Abteilungen untergliedert: Verwaltung, Verkauf, Marketing und Kundendienst. Der Umgangston war eher zwanglos. Die Angestellten liefen in Jeans, T-Shirts und Pullis herum.
Als Ashley sich zu ihrem Arbeitsplatz begeben wollte, wurde sie von ihrem Abteilungsleiter Shane Miller angesprochen.
»Morgen, Ashley.«
Shane Miller war Anfang Dreißig, ein stämmiger, ernster Mann, der eine angenehme Art an sich hatte. Am Anfang hatte er versucht, Ashley ins Bett zu locken, hatte es aber schließlich aufgegeben, und im Lauf der Zeit waren sie gute Freunde geworden.
Er reichte Ashley die neueste Ausgabe des Time Magazine. »Schon gesehen?«
Ashley schaute auf das Cover. Dort prangte das Bild eines vornehm wirkenden, auf die Sechzig zugehenden Mannes mit silbergrauem Haar. Die Schlagzeile lautete: Dr. Steven Patterson, Vater der Herz-Mikrochirurgie.
»Ich hab’s schon gesehen.«
»Wie fühlt man sich denn als Tochter eines berühmten Vaters?«
Ashley lächelte. »Wunderbar.«
»Er ist ein großartiger Mann.«
»Ich werd’s ihm ausrichten. Wir sind zum Mittagessen verabredet.«
»Gut. Übrigens ...« Shane Miller zeigte Ashley ein Foto von einem Filmstar, das für die Anzeige eines Kunden verwendet werden sollte. »Wir haben hier ein kleines Problem. Desiree hat etwa fünf Kilo zugelegt, und das sieht man. Schau dir die dunklen Ringe unter den Augen an. Und selbst mit Make-up wirkt die Haut unrein. Meinst du, du bekommst das hin?«
Ashley betrachtete das Bild. »An die Augen kann ich mit Weichzeichner rangehen. Ich könnte versuchen, ihr Gesicht etwas schmäler zu ziehen, aber - nein. Vermutlich würde sie dadurch etwas merkwürdig aussehen.« Wieder musterte sie das Bild. »Möglicherweise muß ich’s mit Airbrush versuchen und an der einen oder anderen Stelle den Kloner einsetzen.«
»Danke. Ist mit Samstag abend alles klar?«
»Ja.«
Shane Miller deutete mit dem Kopf auf das Foto. »Das eilt nicht. Sie wollten es schon letzten Monat haben.«
Ashley lächelte. »Na, das ist ja mal ganz was Neues.«
Sie machte sich an die Arbeit. Ashley war Werbegraphikerin und Expertin für Text- und Bildgestaltung per Computer.
Als Ashley eine halbe Stunde später an dem Foto arbeitete, spürte sie, daß jemand sie beobachtete. Sie blickte auf. Es war Dennis Tibble.
»Morgen, meine Süße.«
Seine Stimme ging ihr auf die Nerven. Tibble war das Computergenie der Firma. Er wurde im ganzen Betrieb nur »Der Tüftler« genannt. Jedesmal wenn ein Computer abstürzte, wurde Tibble darauf angesetzt. Er war Anfang Dreißig, dürr und glatzköpfig, und unangenehm arrogant. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er nicht mehr locker, und in der Firma ging das Gerücht, daß er auf Ashley fixiert sei.
»Kann ich dir behilflich sein?«
»Nein, danke.«
»Hey, wollen wir Samstag abend irgendwo eine Kleinigkeit essen gehen?«
»Besten Dank. Ich habe schon was vor.«
»Gehst du wieder mit dem Boß aus?«
Ashley wandte sich um und schaute ihn wütend an. »Hör mal, das geht dich gar nichts .«
»Ich versteh’ sowieso nicht, was du an dem findest. Das ist doch ein Streber hoch drei. Mit mir wird’s bestimmt amüsanter.« Er zwinkerte. »Weißt du, was ich meine?«
Ashley versuchte sich zu beherrschen. »Ich muß wieder an die Arbeit, Dennis.«
Tibble beugte sich zu ihr. »Ich will dir mal was verraten, meine Süße«, flüsterte er. »Ich gebe nicht auf. Niemals.«
Sie schaute ihm nach, als er wegging. Könnte er derjenige sein? fragte sie sich.
Um halb eins fuhr Ashley ihren Computer herunter und begab sich zum Margherita Di Roma, wo sie mit ihrem Vater zum Essen verabredet war.
Sie saß an einem Ecktisch in dem bis auf den letzten Platz besetzten Restaurant und blickte auf, als ihr Vater auf sie zukam. Er sah gut aus, das mußte sie ihm lassen. Die Leute drehten sich um und starrten ihn an, als er zu Ashleys Tisch ging. Wie fühlt man sich denn als Tochter eines berühmten Vaters?
Vor etlichen Jahren war Dr. Steven Patterson ein entscheidender Durchbruch in der Anwendung mikrochirurgischer Methoden bei Herzoperationen gelungen. Seither wurde er ständig von sämtlichen bedeutenden Universitätskliniken auf der ganzen Welt zu Vorträgen eingeladen. Ashleys Mutter war gestorben, als Ashley zwölf war, und außer ihrem Vater hatte sie keinerlei Anverwandte.
»Entschuldige die Verspätung, Ashley.« Er beugte sich vor und küßte sie auf die Wange.
»Ist schon gut. Ich bin gerade erst gekommen.«
Er setzte sich. »Hast du das Time Magazine gesehen?«
»Ja. Shane hat es mir gezeigt.«
Er runzelte die Stirn. »Shane? Dein Chef?«
»Er ist nicht mein Chef. Er ist - er ist einer der Abteilungsleiter.«
»Beruf und Privatleben sollte man stets voneinander trennen, Ashley. Du triffst dich doch auch privat mit ihm, nicht wahr? Das ist ein Fehler.«
»Vater, wir sind doch bloß gute -«
Ein Kellner kam an ihrem Tisch. »Darf ich Ihnen die Speisekarte bringen?«
Dr. Steven Patterson drehte sich um. »Sehen Sie nicht, daß wir uns gerade unterhalten?« herrschte er ihn an. »Verschwinden Sie gefälligst, bis wir Sie rufen.«
»Entschuldigung, Sir.« Der Kellner eilte davon.
Ashley wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Sie hatte vergessen, wie aufbrausend ihr Vater sein konnte. Einmal hatte er während einer Operation auf einen Assistenten eingeprügelt, weil der sich ein Fehlurteil erlaubt hatte. Ashley konnte sich nur zu gut an die Streitereien zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater erinnern, die sie als kleines Mädchen miterlebt hatte. Sie hatten sie zu Tode erschreckt. Es war immer um das gleiche Thema gegangen, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war. Sie hatte es verdrängt.
Ihr Vater fuhr fort, als ob nichts gewesen wäre. »Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja. Daß du dich nicht mit diesem Shane Miller abgeben solltest. Auf gar keinen Fall.«
Und seine Worte beschworen eine weitere schlimme Erinnerung herauf.
»Du solltest dich nicht mit diesem Jim Cleary abgeben«, hörte sie ihren Vater sagen. »Auf gar keinen Fall ...«
Ashley war gerade achtzehn geworden. Sie lebten in Bedford in Pennsylvania, wo sie auch geboren war. Jim Cleary war der beliebteste Junge auf der ganzen High-School. Er spielte in der Footballmannschaft, sah blendend aus, war immer lustig und konnte einen hinreißend anlächeln. Ashley hatte den Eindruck, daß sämtliche Mädchen auf der Schule mit ihm schlafen wollten. Und die meisten haben es vermutlich auch getan, hatte sie seinerzeit spöttisch gedacht. Als Jim Cleary sich auch mit ihr verabreden wollte, war Ashley fest entschlossen, nicht mit ihm ins Bett zu gehen. Sie war davon überzeugt, daß er sie nur herumkriegen wollte, doch im Laufe der Zeit änderte sie ihre Meinung. Sie war gern mit ihm zusammen, und sie hatte das Gefühl, daß er sie wirklich mochte.
In diesem Winter fuhr die Oberstufe übers Wochenende zu einem Skilager in die Berge. Jim Cleary war leidenschaftlicher Skifahrer.
»Das wird bestimmt klasse«, versicherte er Ashley.
»Ich fahre nicht mit.«
Er schaute sie verdutzt an. »Wieso nicht?«
»Ich kann die Kälte nicht ausstehen. Ich hab’ dann immer steif gefrorene Finger, selbst mit Handschuhen.« »Aber es macht doch Spaß, wenn -«
»Ich fahre nicht mit.«
Schließlich blieb auch er in Bedford.
Sie hatten die gleichen Interessen, die gleichen Ideale, und sie kamen wunderbar miteinander aus.
»Heute morgen hat mich jemand gefragt, ob du meine Freundin bist«, sagte Jim Cleary eines Tages zu Ashley. »Was soll ich ihm sagen?«
Ashley lächelte. »Sag einfach ja«, erwiderte sie.
Dr. Patterson war besorgt. »Du triffst dich ziemlich häufig mit dem jungen Cleary.«
»Vater, er ist ein anständiger Junge, und außerdem liebe ich ihn.«
»Wie kannst du den denn lieben? Einen Footballspieler, verdammt noch mal. Ich lasse nicht zu, daß du einen Footballspieler heiratest. Er ist nicht gut genug für dich, Ashley.«
Das hatte er bislang bei jedem Jungen gesagt, mit dem sie gegangen war.
Ihr Vater äußerte sich weiterhin abfällig über Jim Cleary, doch an dem Tag, an dem sie ihr Abschlußzeugnis erhielt, kam es zur offenen Auseinandersetzung. Jim Cleary wollte Ashley am Abend zu einer Abschlußfeier mitnehmen. Als er sie zu Hause abholte, weinte sie.
»Was ist los? Was ist passiert?«
»Mein - mein Vater hat gesagt, daß er mich nach London bringt. Er hat mich - er hat mich dort auf einem College angemeldet.«
Jim Cleary schaute sie fassungslos an. »Er will nicht, daß wir miteinander gehen, stimmt’s?«
Ashley nickte kläglich.
»Wann reist du ab?«
»Morgen.«
»Nein! Um Gottes willen, Ashley, das darf er uns nicht antun. Hör zu. Ich möchte dich heiraten. Mein Onkel hat mir einen Bombenjob in seiner Werbeagentur in Chicago angeboten. Wir brennen durch. Morgen früh um sieben geht ein Zug nach Chicago. Wir treffen uns am Bahnhof. Kommst du mit?« Sie schaute ihn eine ganze Weile an. »Ja«, sagte sie dann leise.
Hinterher konnte sich Ashley beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie die Abschlußfeier gewesen war. Sie und Jim hatten sich den ganzen Abend aufgeregt über ihre Pläne unterhalten.
»Warum fliegen wir nicht nach Chicago?« fragte Ashley. »Weil wir bei der Fluggesellschaft unsere Namen angeben müßten. Wenn wir mit dein Zug fahren, weiß niemand, wohin wir uns gewandt haben.«
»Hast du Lust, noch kurz mit zu mir nach Hause zu kommen?« fragte Jim Cleary leise, als sie die Party verließen. »Meine Eltern sind übers Wochenende weggefahren.«
Ashley zögerte. Sie war hin- und hergerissen. »Jim - wir haben so lange gewartet. Auf die paar Tage kommt’s jetzt auch nicht mehr an.«
»Du hast recht.« Er grinste. »Vermutlich bin ich der einzige Mann auf diesem Kontinent, der eine Jungfrau heiratet.«
Als Jim Cleary Ashley nach Hause brachte, erwartete sie Dr. Patterson bereits wutentbrannt. »Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«
»Tut mir leid, Sir. Die Party -«
»Kommen Sie mir nicht mit dummen Ausreden, Cleary. Glauben Sie etwa, Sie könnten mir etwas vormachen?«
»Ich will Ihnen nichts -«
»Ab sofort lassen Sie die Finger von meiner Tochter. Haben Sie verstanden?«
»Vater -«
»Du hältst dich da raus.« Er schrie jetzt. »Cleary, ich möchte, daß Sie auf der Stelle verschwinden und sich nie wieder blik-ken lassen.«
»Sir, Ihre Tochter und ich -«
»Jim -«
»Geh auf dein Zimmer.«
»Sir -«
»Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, breche ich Ihnen sämtliche Knochen.«
Ashley hatte ihn noch nie so wütend erlebt. Am Ende hatten alle durcheinandergebrüllt. Dann war Ashley in Tränen ausgebrochen, und Jim hatte das Weite gesucht.
Das lasse ich mir von meinem Vater nicht antun, dachte Ash-ley voller Entschlossenheit. Er will mein Leben zerstören. Sie saß eine ganze Weile auf ihrem Bett. Jim ist meine Zukunft. Ich möchte mit ihm Zusammensein. Ich habe hier nichts mehr verloren. Sie stand auf und packte eine Reisetasche. Eine halbe Stunde später stahl sich Ashley aus der Hintertür und begab sich auf den Weg zu Jim Cleary, der ein paar Straßen weiter weg wohnte. Ich bleibe heute nacht bei ihm, und morgen früh fahren wir mit dem Zug nach Chicago. Doch je näher sie dem Haus kam, desto unsicherer wurde sie. Nein, dachte sie. Das ist falsch. Ich möchte nichts verderben. Ich treffe mich mit ihm am Bahnhof.
Und sie kehrte um und ging wieder nach Hause.
Ashley blieb die ganze Nacht wach, dachte über ihr künftiges Zusammenleben mit Jim nach und stellte sich vor, wie wunderbar alles werden würde. Um halb sechs nahm sie ihre Reisetasche und ging leise an der verschlossenen Tür zum Schlafzimmer ihres Vaters vorbei. Sie schlich sich aus dem Haus und fuhr mit dem Bus zum Bahnhof. Jim war nicht da, als sie dort eintraf. Sie war früh dran. Der Zug ging erst in einer Stunde. Sie setzte sich auf eine Bank und wartete ungeduldig. Sie stellte sich vor, wie ihr Vater aufwachte und entdeckte, daß sie weg war. Er würde toben vor Wut. Aber ich kann nicht zulassen, daß er mir mein Leben vorschreibt. Eines Tages wird er Jim richtig kennenlernen, und er wird sehen, wie glücklich ich mit ihm bin. Halb sieben ... zwanzig vor sieben ... Viertel vor sieben ... zehn vor sieben ... Von Jim war immer noch nichts zu sehen. Ashley bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Was konnte nur dazwischengekommen sein? Sie beschloß ihn anzurufen. Niemand meldete sich, fünf vor sieben . Er kommt bestimmt jeden Moment. Sie hörte von fern den Zug pfeifen und schaute auf ihre Uhr. Eine Minute vor sieben. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Sie stand auf und blickte sich hektisch um. Irgendwas Schreckliches muß ihm zugestoßen sein. Vielleicht hatte er einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Ein paar Minuten später stand Ashley da und sah zu, wie all ihre Träume zerstoben, als der Zug nach Chicago abfuhr. Sie wartete noch eine halbe Stunde und rief dann erneut bei Jim an. Als sich wieder niemand meldete, ging sie langsam und unglücklich nach Hause.
Mittags saß Ashley mit ihrem Vater in einem Flugzeug nach London.
Ashley ging zwei Jahre lang in London aufs College, und da sie festgestellt hatte, daß sie gern mit Computern arbeiten wollte, bewarb sie sich für das begehrte MEI-Wang-Stipendium für Frauen in technischen Berufen an der Universi-ty of California in Santa Cruz. Sie wurde angenommen, und drei Jahre später wurde sie bei der Global Computer Graphics Corporation eingestellt.
Anfangs hatte Ashley eine Handvoll Briefe an Jim Cleary geschrieben, doch sie hatte sie alle wieder zerrissen. Sein Verhalten, vor allem aber sein Stillschweigen, verrieten ihr nur allzu deutlich, was er für sie empfand.
Die Stimme ihres Vaters riß Ashley in die Gegenwart zurück. »Du bist ja völlig abwesend. Worüber denkst du nach?« Ashley musterte ihren Vater über den Tisch hinweg. »Über gar nichts.«
Dr. Patterson winkte dem Kellner und lächelte ihn liebenswürdig an. »Jetzt dürfen Sie uns die Karte bringen«, sagte er.
Erst auf dem Rückweg ins Büro fiel Ashley ein, daß sie vergessen hatte, ihrem Vater zu dem Titelbild auf dem Time Magazine zu gratulieren.
Als Ashley zu ihrem Schreibtisch kam, erwartete sie Dennis Tibble.
»Ich habe gehört, daß du mit deinem Vater zu Mittag gegessen hast.«
Der kleine Schleimer hat seine Ohren überall. Er will über alles Bescheid wissen, was hier vorgeht. »Ja.«
»Kann ja nicht besonders amüsant gewesen sein.« Er senkte die Stimme. »Wieso gehst du eigentlich nie mit mir zum Mittagessen?«
»Dennis - ich hab’s dir doch schon mal gesagt. Ich habe kein Interesse.«
Er grinste. »Das kommt schon noch. Wart’s mal ab.«
Ashley blickte ihm hinterher, als er wegging. Er hatte etwas Unheimliches an sich, etwas Gruseliges. Wieder fragte sie sich, ob er derjenige sein könnte, der ... Sie schüttelte den Kopf. Nein. Sie durfte nicht daran denken, mußte sich anderen Dingen zuwenden.
Auf der Heimfahrt machte Ashley kurz beim Apple Tree Book House halt. Bevor sie hineinging, warf sie einen Blick in die spiegelnden Schaufensterscheiben. Hinter ihr war niemand, jedenfalls niemand, den sie kannte. Sie betrat die Buchhandlung.
Ein junger Verkäufer kam auf sie zu. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ja. Ich - haben Sie ein Buch über Sittenstrolche?«
Er warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Über Sittenstrolche?«
Ashley kam sich ziemlich blöd vor. »Ja«, sagte sie rasch. »Außerdem hätte ich gern ein paar Bücher über - äh - Gartenbau und die Tierwelt Afrikas.«
»Sittenstrolche, Gartenbau und afrikanische Tierwelt?«
»Ganz recht«, erwiderte sie bestimmt.
Wer weiß? Vielleicht habe ich eines Tages einen Garten und unternehme eine Reise nach Afrika.
Als Ashley zu ihrem Wagen zurückging, fing es wieder an zu regnen. Sie war kaum losgefahren, als schwere Tropfen auf die Windschutzscheibe prasselten und sämtliche Konturen verwischten, so daß die Straßen vor ihr aussahen wie hingetupfte Landschaften auf einem pointillistischen Gemälde. Sie schaltete die Scheibenwischer an. Surrend setzten sie sich in Bewegung, so als tuschelten sie miteinander. »Er kriegt dich . kriegt dich . kriegt dich . « Ashley stellte sie schleunigst wieder ab. Nein, dachte sie. Sie sagen: Niemand da, niemand da, niemand da.
Ashley stellte ihren Wagen in der Tiefgarage ab und drückte den Fahrstuhlknopf. Zwei Minuten später fuhr sie hoch zu ihrer Wohnung. Sie ging zu ihrer Tür, steckte den Schlüssel ins Schloß, sperrte auf und blieb wie erstarrt stehen. In ihrer Wohnung brannten sämtliche Lichter.
»Will ich in mein Gärtlein gehen, will mein Zwieblein gießen, steht ein bucklicht Männlein da, fängt gleich an zu niesen.«
Toni Prescott wußte genau, warum sie dieses alberne Lied so gern sang. Ihre Mama hatte es gehaßt. Hör auf mit diesem dämlichen Lied. Hast du gehört? Du kannst sowieso nicht singen.
Ja, Mutter. Und Toni sang es wieder und immer wieder leise vor sich hin. Es war lange her, aber die Erinnerung, wie sie ihrer Mutter getrotzt hatte, weckte in ihr auch heute noch ein Gefühl des Triumphs.
Toni Prescott konnte ihre Arbeit bei Global Computer Graphics nicht ausstehen. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, schelmisch, lebhaft und keck, teils Schalk, teils Irrwisch. Sie hatte ein herzförmiges Koboldgesicht, verschmitzte braune Augen und eine hinreißende Figur. Sie war in London geboren und sprach mit einem bezaubernden britischen Akzent. Sie war kräftig und muskulös und trieb für ihr Leben gern Sport, vor allem Wintersport: Ski- und Bobfahren und Eislaufen.
Als sie in London aufs College gegangen war, hatte sich Toni tagsüber eher konservativ gekleidet, aber abends hatte sie sich in Miniröcke und Disco-Fummel geworfen und war durch die Kneipen gezogen. Sie hatte sich nächtelang im Electric Ball-room an der Camden High Street, im Subterania und in der Leopard Lounge herumgetrieben, wo die Szene aus dem West End verkehrte. Sie hatte eine wunderbare Stimme, rauchig und sinnlich, und in dem einen oder anderen Club setzte sie sich ans Klavier, spielte und sang, und die Gäste jubelten ihr zu. Dann fühlte sie sich in ihrem Element.
In den Clubs lief immer wieder die gleiche Masche ab:
»Weißt du, daß du eine phantastische Sängerin bist, Toni?«
»Danke.«
»Darf ich dir was zu trinken spendieren?«
Sie lächelte. »Ein Pimm’s wäre klasse.«
»Mit Vergnügen.«
Und es endete auch immer auf die gleiche Weise. Ihr Nebenmann beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Wollen wir zu mir nach Hause gehen und uns ein bißchen balgen?«
»Zisch ab.« Und darauf verzog Toni sich. Sie lag nachts im Bett, dachte darüber nach, wie blöde die Männer waren und wie verdammt leicht sie sich um den Finger wickeln ließen. Die armen Tröpfe wußten es wahrscheinlich nicht, aber sie wollten sich um den Finger wickeln lassen. Sie brauchten es regelrecht.
Und dann war sie von London nach Cupertino gezogen. Am Anfang war es grauenhaft gewesen. Toni haßte Cupertino, und die Arbeit bei Global Computer Graphics verabscheute sie von ganzem Herzen. Das ewige Gerede über Standardschnittstellen und Bildauflösung, Halbtonvorlagen und Basislayouts langweilte sie zu Tode. London fehlte ihr sehr, vor allem das aufregende Nachtleben. In der Gegend von Cupertino gab es nur ein paar Nachtlokale, und dort verkehrte Toni dann auch: im San Jose Live, im P. J. Mulligan’s oder im Hollywood Junction. Sie trug knapp sitzende Miniröcke, hautenge Tops und dazu Riemchensandaletten mit fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen oder Plateauschuhe mit dicken Korksohlen. Und sie schminkte sich, was das Zeug hielt: üppiger, dunkler Eyeliner, falsche Wimpern, bunter Lidschatten und greller Lippenstift. Fast so, als wollte sie ihre wahre Schönheit verbergen.
Am Wochenende fuhr Toni manchmal nach San Francisco, wo wirklich etwas geboten war. Sie trieb sich in den Restaurants und Clubs herum, in denen Live-Musik lief. Sie suchte Harry Denton’s auf, das One Market Restaurant und das California Cafe, und wenn die Musiker im Laufe des Abends eine Pause einlegten, setzte Toni sich ans Klavier und spielte und sang. Die Gäste waren begeistert. Und wenn Toni hinterher ihre Zeche zahlen wollte, winkten die Inhaber immer ab. »Nein, das geht auf Kosten des Hauses«, sagten sie. »Sie sind wunderbar. Kommen Sie bitte bald wieder.«
Hast du das gehört, Mutter? »Sie sind wunderbar. Kommen Sie bitte bald wieder.«
Eines Samstag abends aß Toni im French Room des Cliff Hotels zu Abend. Die Musiker legten eine Pause ein und gingen von der Bühne. Der Oberkellner schaute Toni an und nickte einladend.
Toni stand auf und ging quer durch das Lokal zum Klavier. Sie setzte sich hin, stimmte ein Cole-Porter-Stück an und begann zu singen. Als sie aufhörte, gab es begeisterten Applaus. Sie sang zwei weitere Songs und kehrte dann an ihren Tisch zurück.
Ein kahlköpfiger Mann mittleren Alters kam zu ihr. »Entschuldigen Sie bitte. Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?«
Toni wollte bereits nein sagen, als er hinzufügte: »Ich bin Norman Zimmerman. Ich will eine Tourneeaufführung von Der König und ich produzieren. Ich würde gern mit Ihnen darüber sprechen.«
Toni hatte gerade einen überschwenglichen Zeitungsartikel über ihn gelesen. Er galt als Theatergenie.
Er setzte sich. »Sie besitzen ein bemerkenswertes Talent, junge Frau. In Lokalen wie diesem vergeuden Sie nur Ihre Zeit. Sie sollten am Broadway auftreten.«
Am Broadway. Hast du das gehört, Mutter?
»Ich würde Sie gern zu einer Besetzungsprobe für -«
»Tut mir leid. Ich kann nicht.«
Er schaute sie überrascht an. »Das könnte Ihnen etliche Türen öffnen. Ich meine es ernst. Ich glaube, Sie sind sich gar nicht im klaren darüber, wie begabt Sie sind.«
»Ich habe einen Job.«
»Und was machen Sie, wenn ich fragen darf?«
»Ich arbeite bei einer Computerfirma.«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Egal, was Sie derzeit verdienen, ich biete Ihnen von Anfang an das Doppelte und -«
»Besten Dank«, erwiderte Toni, »aber ich . ich kann nicht.«
Zimmerman lehnte sich zurück. »Haben Sie etwa keine Lust, ins Showgeschäft einzusteigen?«
»Riesengroße sogar.«
»Und was hindert Sie daran?«
Toni zögerte. »Womöglich müßte ich mitten in der Tournee aussteigen«, wandte sie dann ein.
»Wegen Ihrem Mann oder -?«
»Ich bin nicht verheiratet.«
»Das verstehe ich nicht. Sie sagen, daß Sie Lust aufs Showgeschäft haben. Das hier wäre der ideale Einstieg für Sie -«
»Tut mir leid. Ich kann es nicht erklären.«
Er würde es nicht verstehen, auch wenn ich ’s ihm erklären würde, dachte Toni unglücklich. Keiner kapiert das. Weil es wie ein Fluch ist, mit dem ich leben muß. Für immer und ewig.
Ein paar Monate nachdem sie bei Global Computer Graphics angefangen hatte, lernte Toni das Internet kennen, den großen, weltumspannenden Treffpunkt, auf dem man jede Menge Männer kennenlernen konnte.
Sie saß mit Kathy Healy, einer Freundin, die bei einer Konkurrenzfirma arbeitete, beim Abendessen im Duke of Edinburgh. Das Restaurant war ein original englisches Pub, das man in seine Einzelteile zerlegt, in Kisten und Container verstaut und per Schiff nach Kalifornien verfrachtet hatte. Toni kam hierher, wenn sie Lust auf echte Londoner Fish & Chips, Rinderkamm mit Yorkshire-Pudding, Bratwürstchen mit Kartoffelpüree und Biskuittörtchen mit Sherry hatte. Mit einem Bein am Boden bleiben, sagte sie sich. Nicht vergessen, woher ich stamme.
Toni blickte zu Kathy auf. »Könntest du mir einen Gefallen tun?«
»Raus damit.«
»Ich möchte, daß du mir das Internet vorführst, Liebes. Zeig mir, wie man damit umgeht.«
»Toni, der einzige Computer, an den ich rankomme, steht an meinem Arbeitsplatz. Und in der Firma sieht man es nicht gern, wenn -«
»Pfeif doch auf die Firma. Du weißt, wie man im Internet klarkommt, stimmt’s?«
»Ja.«
Toni tätschelte Kathy Healys Hand und lächelte. »Klasse.«
Am folgenden Abend ging Toni in Kathy Healys Büro, und Kathy führte sie ins Internet ein. Kathy klickte das InternetIcon an, gab ihr Kennwort ein, ging mit doppeltem Mausklick auf ein weiteres Icon und landete in einem Chat-Raum. Toni saß fassungslos da, als sie die getippten Gesprächsfetzen sah, die Menschen weltweit miteinander austauschten.
»Das muß ich haben!« sagte Toni. »Ich besorge mir einen Computer für zu Hause. Würdest du so lieb sein und mir das Internet erklären?«
»Klar. Ist ganz einfach. Du mußt lediglich mit der Maus deinen Online-Dienst anklicken und -«
»Wie heißt es so schön? Sag nichts, zeig es mir.«
Am Abend darauf begab sich Toni das erste Mal ins Internet, und von da an änderte sich ihr ganzes Leben. Sie langweilte sich nicht mehr. Das Internet war wie ein fliegender Teppich, mit dem man um die ganze Welt reisen konnte. Wenn Toni von der Arbeit nach Hause kam, schaltete sie sofort ihren Computer ein, ging ins Internet und klinkte sich in allerlei Chat-Räume ein.
Es war so einfach. Sie klickte das Internet-Zeichen an, drückte eine Taste und schon tauchten auf ihrem Bildschirm zwei Fenster auf. »Hallo«, gab Toni im oberen Teil ein. »Ist da jemand?«
Im unteren Abschnitt tauchten Buchstaben auf. »Bob hier. Ich warte auf dich.«
Sie war bereit, die Welt kennenzulernen.
Ein gewisser Hans aus Holland meldete sich.
»Erzähl mir was von dir, Hans.«
»Ich bin D. J. in Amsterdam. Ich steh’ auf Hip Hop, Rave und Weltmusik. Was es halt so gibt.«
»Klingt gut«, tippte Toni ein. »Ich tanze für mein Leben gern. Am liebsten die ganze Nacht. Ich lebe in einer gräßlichen Kleinstadt, in der außer ein paar Discos nichts geboten ist.«
»Klingt ziemlich öde.«
»Genau das ist es auch.«
»Vielleicht kann ich dich ein bißchen aufheitern. Können wir uns nicht irgendwo treffen?«
»Tschüs.« Sie klinkte sich aus.
Dann war da Paul, aus Südafrika.
»Ich habe schon gewartet, daß du dich wieder meldest, Toni.«
»Bin schon da. Ich würde wahnsinnig gern was über dich erfahren, Paul.«
»Ich bin zweiunddreißig. Ich bin Arzt in einem Krankenhaus in Johannesburg. Ich -«
Aufgebracht klinkte sie aus. Ein Arzt!
Schreckliche Erinnerungen überfluteten sie. Sie schloß einen Moment lang die Augen, atmete ein paarmal tief durch, bis ihr Herz wieder ruhiger schlug. Das reicht für heute abend, dachte sie, als sie mit zitternder Hand den Computer abstellte. Sie ging ins Bett.
Am folgenden Abend schaltete sich Toni wieder ins Internet ein. Scan aus Dublin meldete sich.
»Toni ... Das ist ein hübscher Name.«
»Besten Dank, Sean.«
»Warst du schon mal in Irland?«
»Nein.«
»Du würdest bestimmt drauf abfahren. Es ist das Land der Feen und Kobolde. Verrat mir, wie du aussiehst, Toni. Du bist bestimmt wunderschön.«
»Ganz recht. Ich bin wunderschön, ich bin atemberaubend, und ich bin ledig. Was bist du von Beruf, Sean?«
»Ich bin Barkeeper. Ich -«
Toni beendete das Gespräch.
Jede Nacht gab es etwas Neues. Einen Polospieler aus Argentinien zum Beispiel, einen Autohändler aus Japan, einen Herrenkonfektionsverkäufer aus Chicago, einen Fernsehtechniker aus New York. Das Internet war ein faszinierendes neues Spiel, und Toni kostete es in vollen Zügen aus. Sie konnte so weit gehen, wie sie es wollte, und sich trotzdem sicher fühlen, weil sie völlig anonym war.
Und dann, als sie sich eines Nachts in den Chat-Raum einklinkte, lernte sie Jean Claude Parent kennen.
»Bon soir. Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Toni.«
»Ganz meinerseits, Jean Claude. Wo steckst du?«
»In Quebec.«
»Ich war noch nie in Quebec. Meinst du, es würde mir dort gefallen?« Toni rechnete damit, daß auf dem Bildschirm ein Ja auftauchen würde.
»Ich weiß nicht recht«, meldete sich Jean Claude statt dessen. »Kommt drauf an, was für ein Mensch du bist.«
Toni fand die Antwort faszinierend. »Wirklich? Was für ein Mensch müßte ich denn sein, damit mir Quebec gefällt?«
»Quebec ist so, wie man sich den alten amerikanischen Westen vorstellt. Bloß auf französisch. Die Menschen hier wollen ihre eigenen Wege gehen. Wir lassen uns nicht gern von anderen etwas vorschreiben.«
»Ich auch nicht«, gab Toni ein.
»Dann würde es dir hier gefallen. Es ist eine herrliche Stadt. Inmitten von Bergen und Seen gelegen. Ein Paradies für jeden Angler und Jäger.«
Toni schaute wie gebannt auf den Bildschirm. Sie spürte geradezu die Begeisterung, die in Jean Claudes Worten mitschwang. »Klingt ja super. Erzähl mir was von dir.«
»Moi? Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich bin achtunddreißig, ledig. Ich habe gerade eine Beziehung hinter mir und möchte endlich die richtige Frau kennenlernen. Et toi? Bist du verheiratet?«
»Nein«, tippte Toni ein. »Ich bin ebenfalls auf der Suche nach jemandem. Was machst du beruflich?«
»Ich besitze ein kleines Juweliergeschäft. Ich hoffe, daß du eines Tages vorbeikommst und mich besuchst.«
»Ist das eine Einladung?«
»Mais oui. Ja.«
»Klingt interessant«, gab Toni ein. Und sie meinte es ernst. Vielleicht komme ich ja irgendwie dorthin, dachte Toni. Vielleicht kann er mich ja retten.
Toni plauschte fast jeden Abend mit Jean Claude. Er überspielte ihr per Scanner ein Foto von sich, und Toni fand, daß er sehr attraktiv und intelligent wirkte.
Als Jean Claude das Foto sah, das Toni ihm per Scanner übermittelt hatte, schrieb er: »Du bist wunderschön, ma cherie. Aber das wußte ich ja. Komm mich bitte besuchen.«
»Wird gemacht.«
»Bald.«
»Tschüs.« Toni klinkte sich aus.
Am nächsten Morgen hörte Toni in der Firma, wie sich Shane Miller mit Ashley Patterson unterhielt. Was, zum Teufel, findet er an ihr? dachte sie. Das ist doch ‘ne richtige Zicke. Für Toni war Ashley eine verklemmte alte Jungfer, die typische Unschuld vom Lande. Die hat doch keinen blassen Schimmer davon, was Spaß macht, dachte Toni. Toni konnte sie einfach nicht ausstehen. Ashley war eine Transuse, die abends am liebsten zu Hause blieb, ein Buch las oder sich irgendwelchen historischen Kram oder Nachrichten anguckte. Sie hatte keinerlei Interesse an Sport. Wie langweilig! Sie hatte sich noch nie in einen Chat-Raum eingeklinkt. Nie und nimmer würde Ashley wildfremde Menschen über Computer kennenlernen wollen. Kalt wie ein Fisch, dachte Toni. Die weiß ja gar nicht, was sie sich entgehen läßt. Ohne Internet und Chat-Raum hätte ich Jean Claude niemals kennengelernt.
Toni mußte an ihre Mutter denken, die das Internet vermutlich von ganzem Herzen gehaßt hätte. Aber ihre Mutter hatte so gut wie alles gehaßt. Sie konnte sich nur auf zweierlei Art ausdrücken - entweder schrie sie, oder sie jammerte. Toni konnte ihr nie etwas recht machen. Du dummes Gör, kannst du denn gar nichts? Ja, ihre Mutter hatte sie einmal zu oft angebrüllt. Toni mußte an den schrecklichen Unfall denken, bei dem ihre Mutter ums Leben gekommen war. Sie konnte immer noch ihre Hilfeschreie hören. Beim Gedanken daran mußte sie lächeln.
»Will ich in mein Küchel gehen, will mein Süpplein kochen, steht ein bucklicht Männlein da, hat mein Töpflein brochen.«
An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit wäre Alette Peters vermutlich eine erfolgreiche Künstlerin gewesen. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie sämtliche Sinneseindrücke als Farbtöne wahrgenommen. Sie sah Farben nicht nur, sie konnte sie auch riechen und hören.
Die Stimme ihres Vaters war blau, manchmal auch rot.
Die Stimme ihrer Mutter war dunkelbraun.
Die Stimme ihres Lehrers war gelb.
Die Stimme des Lebensmittelhändlers war violett.
Das Rauschen des Windes in den Bäumen war grün.
Fließendes Wasser klang grau.
Alette Peters war zwanzig Jahre alt. Sie konnte unscheinbar wirken, aber auch attraktiv oder hinreißend schön, je nachdem, wie sie gelaunt war oder sich selbst empfand. Aber einfach hübsch sein, das konnte sie nicht. Ihre Anziehungskraft war auch darauf zurückzuführen, daß sie sich ihres Aussehens überhaupt nicht bewußt war. Sie war schüchtern, hatte eine leise Stimme und wirkte so sanftmütig, als stammte sie aus einer anderen Zeit.
Alette Peters war in Rom geboren, und sie sprach mit einem melodiösen italienischen Akzent. Sie liebte Rom von ganzem Herzen. Sie hatte hoch oben auf der Spanischen Treppe gestanden, über die ganze Stadt hinweggeblickt und gespürt, daß all das ihr gehörte. Wenn sie die alten Tempel und das riesige Kolosseum betrachtete, wußte sie, daß sie eigentlich zu jenen Zeiten hätte leben sollen. Sie war über die Piazza Navona spaziert, hatte dem Singsang des Wassers in dem großen Brunnen mit den allegorischen Darstellungen der vier Flüsse gelauscht und war dann die Piazza Venezia hinuntergegangen, wo das wie eine riesige Hochzeitstorte wirkende Monument zu Ehren von König Viktor Emmanuel II. stand. Sie hatte sich stundenlang in der Peterskirche herumgetrieben, in den vatikanischen Museen und der Villa Borghese, hatte die zeitlos schönen Kunstwerke eines Raffael und Fra Bartolommeo, Andrea del Sarto und Pontormo bestaunt. Deren Können faszinierte sie, zugleich frustrierte es sie aber auch. Sie wünschte, sie wäre im 16. Jahrhundert zur Welt gekommen und hätte sie persönlich kennengelernt. Alette kamen sie vertrauter vor als die Passanten draußen auf der Straße. Sie wollte unbedingt Künstlerin sein.
Sie hörte förmlich die dunkelbraune Stimme ihrer Mutter: Du verschwendest bloß das teure Papier und die Farben. Du hast kein Talent.
Sie war zutiefst verunsichert gewesen, als sie nach Kalifornien gekommen war. Anfangs hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, ob sie sich wohl jemals eingewöhnen würde, doch Cupertino hatte sie angenehm überrascht. Sie genoß die Ruhe und das vertraute Miteinander der Menschen, das es nur in einer Kleinstadt gab, und die Arbeit bei der Global Computer Graphics Corporation machte ihr Spaß. Zwar gab es in Cuper-tino keine bedeutenden Galerien oder Museen, aber am Wochenende fuhr Alette nach San Francisco und besuchte die dortigen Kunsthallen.
»Wieso interessierst du dich so für dieses Zeug?« fragte Toni Prescott sie manchmal. »Komm mit ins P. J. Mulligans und amüsier dich ein bißchen.«
»Machst du dir denn gar nichts aus Kunst?«
Toni lachte. »Klar doch. Wie heißt er mit Vornamen?«
Nur etwas trübte Alette Peters Glück: Sie war manischdepressiv und litt an Kontaktschwierigkeiten. Ihre Stimmung konnte völlig unverhofft umschlagen - eben war sie noch euphorisch, und im nächsten Moment am Boden zerstört. Sie hatte keinerlei Einfluß darauf.
Toni war die einzige, mit der sich Alette über ihre Probleme unterhalten konnte. Toni wußte immer eine Lösung, und für gewöhnlich lautete die: »Komm, wir ziehen los und amüsieren uns!«
Mit Vorliebe ließ sich Toni über Ashley Patterson aus. Sie beobachtete, wie Shane Miller mit Ashley redete.
»Schau dir diese verklemmte Zicke an«, sagte Toni abfällig. »Der reinste Eisberg.«
Alette nickte. »Sie ist immer so ernst. Jemand sollte ihr mal beibringen, was Lachen heißt.«
Toni schnaubte. »Der sollte mal jemand beibringen, was vögeln heißt.«
Einen Abend pro Woche ging Alette zur Obdachlosenmission in San Francisco und half bei der Essensausgabe. Dort traf sie eine kleine alte Frau, die sich immer ganz besonders auf ihre Besuche freute. Sie saß im Rollstuhl, und Alette schob sie an einen Tisch und brachte ihr eine warme Mahlzeit.
»Meine Liebe, wenn ich eine Tochter hätte, müßte sie genauso sein wie Sie«, sagte die Frau voller Dankbarkeit.
Alette drückte ihr die Hand. »Was für ein wunderbares Kompliment. Vielen Dank.« Doch dann meldete sich eine innere Stimme. Wenn du eine Tochter hättest, wäre sie bestimmt genauso häßlich wie du. Und Alette war entsetzt von ihren eigenen Gedanken. Es war, als ob da ein anderes Wesen in ihr steckte und diese entsetzlichen Worte sagte. Es passierte ständig.
Einmal ging sie mit Betty Hardy, einer Frau aus ihrer Kirchengemeinde, einkaufen. Sie blieben vor einem Warenhaus stehen.
Betty bewunderte ein Kleid, das im Schaufenster hing. »Ist das nicht wunderschön?«
»Zauberhaft«, pflichtete Alette ihr bei. Das ist das scheußlichste Kleid, daß ich je gesehen habe. Genau das richtige für dich.
Eines Abends ging Alette mit Roland, dem Küster der Kirche, zum Essen aus. »Ich genieße unser Zusammensein sehr, Alette. Wir sollten das öfter machen.«
Sie lächelte schüchtern. »Von mir aus gern.« Doch sie dachte dabei: Non faccia, lo stupido. Nie im Leben, du Blödmann. Und wieder war sie entsetzt. Was fehlt mir nur? Aber darauf wußte sie keine Antwort.
Der geringste Affront, ob beabsichtigt oder nicht, konnte sie zur Raserei treiben. Eines Morgens zum Beispiel wurde sie auf dem Weg zur Arbeit von einem anderen Wagen geschnitten. Sie biß die Zähne zusammen und dachte: Ich bring dich um, du Mistkerl. Der Mann hob entschuldigend die Hand, und Alette lächelte ihn freundlich an. Aber innerlich kochte sie immer noch vor Wut.
Wenn sich die schwarze Wolke auf sie herabsenkte, stellte sich Alette vor, wie die Leute auf der Straße einem Herzinfarkt erlagen, von einem Auto erfaßt oder überfallen und umgebracht würden. Sie spielte diese Szenen in ihrer Phantasie durch, und sie standen ihr lebhaft vor Augen. Im nächsten Moment schämte sie sich zu Tode.
An guten Tagen wirkte Alette wie ausgewechselt. Sie war von Grund auf freundlich, voller Mitgefühl und freute sich, wenn sie andern helfen konnte. Doch ihr Glücksgefühl war trügerisch, wußte sie doch, daß sich die Düsternis jederzeit wieder auf sie legen und sie in ihren Bann schlagen konnte.
Jeden Sonntagmorgen ging Alette zur Kirche. Die Gemeinde brauchte ständig ehrenamtliche Helfer, die bei der Speisung der Obdachlosen mitwirkten, mit den Kindern nach der Schule zeichneten und malten und ihnen Nachhilfeunterricht gaben.
Alette leitete die Sonntagsschule und half bei der Kinderbetreuung. Sie nahm an allerlei wohltätigen Veranstaltungen teil und opferte dafür soviel Zeit, wie sie nur konnte. Vor allem aber freute sie sich, wenn sie den Jüngsten Malunterricht geben konnte.
Eines Sonntags veranstaltete die Gemeinde einen Wohltätigkeitsbasar, bei dem Alette ein paar ihrer Bilder zum Verkauf feilbot. Der Pfarrer, Frank Selvaggio, betrachtete sie voller Bewunderung.
»Die sind - die sind ja großartig. Sie sollten sie in einer Galerie verkaufen.«
Alette errötete. »Nein, wirklich nicht. Ich mache das nur aus Spaß.«
Der Basar war gut besucht. Die Gemeindemitglieder hatten ihre Freunde und Angehörigen mitgebracht, und man hatte allerlei Stände und Buden aufgebaut, an denen die Besucher sich beim Spiel vergnügen oder Bastelarbeiten und Kunsthandwerk kaufen konnten. Es gab wunderbar verzierte Torten, hinreißende handgearbeitete Steppdecken, selbstgemachte Marmelade in hübschen Gläsern und allerhand Holzspielzeug. Die Leute gingen von Stand zu Stand, kauften hier eine Kleinigkeit, dort eine andere und erstanden allerlei Sachen, für die sie am nächsten Tag vermutlich keine Verwendung hatten.
»Aber es geht doch um eine gute Sache«, hörte Alette eine Frau sagen, die es ihrem Mann erklärte.
Alette betrachtete ihre Bilder, die sie rund um den Stand aufgebaut hatte. Es waren hauptsächlich Landschaften, in hellen, leuchtenden Farben gemalt, die einem förmlich entgegensprangen. Doch sie hatte schwere Bedenken. Du vergeudest das schöne Geld für Farben, Kind.
Ein Mann kam zu ihrem Stand. »Hallo. Haben Sie die etwa gemalt?«
Seine Stimme war tiefblau.
Nein. Michelangelo hat kurz vorbeigeschaut und sie gemalt.
»Sie sind sehr begabt.«
»Vielen Dank.« Was verstehst du schon davon?
Ein junges Paar blieb vor Alettes Stand stehen. »Schau dir diese Farben an! Davon muß ich unbedingt eins haben. Die sind ja richtig gut.«
Und so ging das den ganzen Nachmittag. Ständig kamen Leute an ihren Stand und erklärten ihr, wie begabt sie sei. Und Alette hätte ihnen nur zu gern geglaubt, doch jedesmal fiel wieder der schwarze Vorhang, und sie dachte: Die lassen sich alle etwas vormachen.
Ein Kunsthändler kam vorbei. »Die sind ja wirklich zauberhaft. Sie sollten Ihr Talent kommerziell nutzen.«
»Ich bin reine Freizeitmalerin«, versetzte Alette. Und sie weigerte sich, weiter über das Thema zu sprechen.
Als der Tag zur Neige ging, hatte Alette sämtliche Bilder verkauft. Sie nahm das Geld, das sie eingenommen hatte, steckte es in einen Umschlag und gab ihn Pater Frank Selvag-gio.
»Vielen Dank, Alette«, sagte er und nahm ihn entgegen. »Es ist eine große Gabe, wenn man den Menschen so viel Schönes bescheren kann.«
Hast du das gehört, Mutter?
Wenn Alette in San Francisco war, hielt sie sich stundenlang im Museum of Modern Art auf, oder sie besuchte das De Young Museum und betrachtete die dort ausgestellten Werke amerikanischer Maler.
Etliche Nachwuchskünstler kopierten die an der Wand hängenden Bilder. Ein junger Mann fiel Alette besonders auf. Er war Ende Zwanzig, schlank und blond und hatte ein markantes, intelligentes Gesicht. Er kopierte gerade Georgia O’Keeffes Petunien, und er leistete erstaunlich gute Arbeit. Der Künstler bemerkte, daß Alette ihm zusah. »Hallo.«
Seine Stimme klang nach einem warmen Gelbton.
»Hallo«, erwiderte Alette schüchtern.
Der Künstler deutete mit dem Kopf auf das Bild, an dem er arbeitete. »Was halten Sie davon?«
»Bellissimo. Ganz wunderbar.« Und sie wartete darauf, daß sich ihre innere Stimme mit einem abfälligen »Jedenfalls für einen dummen Dilettanten« meldete. Doch nichts tat sich. Sie war überrascht. »Es ist wirklich wunderbar.«
Er lächelte. »Vielen Dank. Ich heiße Richard, Richard Melton.«
»Alette Peters.«
»Kommen Sie oft hierher?« fragte Richard.
»Si. Sooft ich kann. Ich wohne nicht in San Francisco.«
»Und wo wohnen Sie?«
»In Cupertino.« Nicht etwa »Das geht dich überhaupt nichts an« oder »Das möchtest du wohl gern wissen«, sondern »In Cupertino«. Was ist mit mir los?
»Das ist eine hübsche kleine Stadt.«
»Mir gefällt’s dort.« Nicht etwa »Wie, zum Teufel, kommst du darauf, daß es eine hübsche kleine Stadt ist?« oder »Was verstehst du schon von Kleinstädten?«, sondern »Mir gefällt’s dort.«.
Er war mit seinem Bild fertig. »Ich habe Hunger. Darf ich Sie zum Essen einladen? Im Cafe De Young gibt es ziemlich leckere Sachen.«
Alette zögerte nur einen kurzen Moment. »Va bene. Gern.« Nicht etwa »Du siehst blöd aus« oder »Ich geh ’ doch nicht mit wildfremden Menschen essen«, sondern »Gern«. Für Alette war das eine völlig neue, wohltuende Erfahrung.
Das Essen verlief überaus angenehm, und Alette verfiel nicht ein einziges Mal in düstere Gedanken. Sie unterhielten sich über große Künstler, und Alette erzählte Richard, daß sie in Rom aufgewachsen war.
»Ich bin noch nie in Rom gewesen«, sagte er. »Vielleicht komme ich eines Tages mal hin.«
Mit dir nach Rom zu fahren würde bestimmt Spaß machen, dachte Alette.
Sie waren gerade mit dem Essen fertig, als Richard seinen Wohnungsgenossen am anderen Ende des Lokals sah und ihn an ihren Tisch rief. »Gary, ich habe gar nicht gewußt, daß ich dich hier treffen würde. Ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist Alette Peters. Gary King.«
Gary war Ende Zwanzig, hatte leuchtendblaue Augen und schulterlange Haare.
»Schön, Sie kennenzulernen, Gary.«
»Gary ist seit unserer Schulzeit mein bester Freund, Alette.« »Jawohl. Und ich kenne jede Schlechtigkeit, die Richard in den letzten zehn Jahren getrieben hat. Wenn Sie also eine gute Geschichte hören wollen ...«
»Gary - mußt du nicht noch irgendwohin?«
»Stimmt.« Er wandte sich an Alette. »Aber vergessen Sie mein Angebot nicht. Bis bald mal.«
Sie blickten Gary nach. »Alette ...«, sagte Richard.
»Ja?«
»Sehen wir uns wieder?«
»Gern.« Sehr gern sogar.
Am Montag morgen berichtete Alette Toni von ihrem Erlebnis. »Laß dich bloß nicht mit einem Künstler ein«, warnte sie Toni. »Es sei denn, du willst von dem Obst leben, das er malt. Hast du vor, ihn wiederzusehen?«
Alette lächelte. »Ja. Ich glaube, er mag mich. Und ich mag ihn auch. Ich mag ihn wirklich.«
Es begann mit einer kleinen Meinungsverschiedenheit und endete in Zank und Streit. Pater Frank Selvaggio wollte nach über vierzigjähriger Amtszeit in den Ruhestand treten. Er war ein sehr guter und fürsorglicher Pfarrer, und die Gemeinde ließ ihn nur ungern ziehen. Man traf sich heimlich und beriet darüber, was man ihm zum Abschied schenken sollte. Eine Uhr . Geld . eine Reise . ein Bild: Für Kunst hatte er viel übrig.
»Warum lassen wir nicht einfach jemanden ein Porträt von ihm malen? Mit der Kirche im Hintergrund.« Sie wandten sich an Alette. »Hättest du Lust dazu?«
»Natürlich«, sagte sie freudestrahlend.
»Meine Tochter ist eine sehr gute Malerin. Vielleicht sollte sie das übernehmen?« warf Walter Manning ein. Manning war einer der angesehensten Männer in der Gemeinde und außerdem der wichtigste Spender. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, aber allen anderen schien er jeglichen Erfolg zu neiden.
»Warum lassen wir sie nicht beide ran und stimmen hinterher darüber ab, welches Bild wir Pater Frank schenken ...?«
Alette begab sich an die Arbeit. Sie brauchte fünf Tage, bis das Bild fertig war, doch es wurde ein Meisterwerk, das all die Barmherzigkeit und Güte ausstrahlte, die sie hatte einfangen wollen. Am darauffolgenden Sonntag trafen sich die Gemeindemitglieder zur Begutachtung der Bilder. Laute Beifallsrufe ertönten, als Alette ihr Werk vorstellte.
»Es wirkt so lebendig. Man meint, er würde jeden Moment von der Leinwand steigen .«
»Oh, das wird ihm sehr gefallen .«
»Ihre Werke gehören ins Museum, Alette ...«
Walter Manning enthüllte das Bild, das seine Tochter gemalt hatte. Es war durchaus ansprechend, aber ihm fehlten die Glut und die Klasse, die Alettes Porträt auszeichneten.
»Sehr hübsch«, sagte einer der Kirchenvorsteher, »aber meiner Meinung nach ist Alettes ...«
»Ganz recht .« »Alettes Porträt ist genau das ...«
Walter Manning ergriff das Wort. »Wir müssen einen einstimmigen Beschluß fassen. Meine Tochter ist Künstlerin von Beruf und« - er warf einen Blick auf Alette - »keine Hobbymalerin. Meine Tochter wollte uns damit einen Gefallen tun. Wir können ihr Bild nicht ablehnen.«
»Aber Walter -«
»Nein. Hier gibt es nur eine Entscheidung. Entweder schenken wir ihm das Bild meiner Tochter, oder er bekommt gar nichts.«
»Mir gefällt ihr Bild sehr gut«, sagte Alette. »Los, schenken wir’s dem Pater.«
Walter Manning lächelte selbstgerecht. »Er wird sich sehr darüber freuen«, sagte er.
An diesem Abend wurde Walter Manning auf dem Heimweg von einem Auto erfaßt und getötet. Der Fahrer entfernte sich anschließend vom Unfallort.
Alette war fassungslos, als sie es erfuhr.
Ashley Patterson wollte gerade in aller Eile duschen, weil sie ohnehin zu spät dran war, als sie das Geräusch hörte. Eine Tür? Ein klickendes Schloß? Sie stellte die Dusche ab und lauschte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Stille. Tropf naß und glitzernd stand sie einen Moment lang da, trocknete sich dann rasch ab und schlich vorsichtig in ihr Schlafzimmer. Alles sah so aus wie immer. Ich bilde mir das bloß wieder ein. Ich muß mich schleunigst anziehen. Sie ging zu ihrer Wäschekommode, zog die Schublade auf und starrte mit ungläubigem Blick hinein. Jemand hatte in ihrer Unterwäsche herumgewühlt. Ihre BHs und Höschen lagen kreuz und quer übereinander, aber sie bewahrte sie immer in fein säuberlich voneinander getrennten Stapeln auf.
Ashley wurde mit einemmal übel. Hatte er etwa seine Hose aufgemacht, einen ihrer Slips genommen und sich daran gerieben? Hatte er sich vorgestellt, daß er sie vergewaltigte? Sie erst vergewaltigte und dann ermordete? Sie bekam kaum noch Luft. Ich sollte zur Polizei gehen, aber dort würde man mich nur auslachen.
Sie sind also der Meinung, jemand hat in Ihrer Wäsche herumgewühlt, und wir sollten dem nachgehen?
Jemand stellt mir nach.
Haben Sie denjenigen gesehen?
Nein.
Hat Sie irgend jemand bedroht?
Nein.
Haben Sie eine Ahnung, weshalb Ihnen jemand etwas zuleide tun sollte?
Nein.
Es ist sinnlos, dachte Ashley verzweifelt. Ich kann nicht zur Polizei gehen. Man würde mir genau diese Fragen stellen, und ich stünde da, als wäre ich nicht recht bei Trost.
Sie zog sich an, so rasch sie konnte, wollte mit einemmal so schnell wie möglich aus ihrer Wohnung weg. Ich muß umziehen. Irgendwohin, wo er mich nicht findet.
Doch im gleichen Moment war sie sich bewußt, daß dies ein Ding der Unmöglichkeit war. Er weiß, wo ich wohne, wo ich arbeite. Und was weiß ich über ihn? Gar nichts.
Sie wollte keine Schußwaffe in ihrer Wohnung aufbewahren, weil sie jede Art von Gewalt verabscheute. Aber irgendwie muß ich mich jetzt schützen, dachte Ashley. Sie ging in die Küche, nahm ein Schlachtermesser und legte es in das Nachtkästchen neben ihrem Bett.
Vermutlich habe ich die Wäsche selber durcheinandergebracht. Vermutlich läuft es darauf hinaus. Oder ist das bloß Wunschdenken?
Im Briefkasten unten in der Eingangshalle war Post für sie. Der Absender lautete Bedford Area High-School, Bedford, Pennsylvania.
Ashley las die Einladung zweimal durch.
ZEHNJÄHRIGES KLASSENTREFFEN!
OB REICH, OB ARM, BETTLER ODER DIEB. HAST DU DICH NICHT SCHON OFT GEFRAGT, WIE ES DEINEN KLASSENKAMERADEN IN DEN LETZTEN ZEHN JAHREN ERGANGEN IST? JETZT KANNST DU ES ERFAHREN. AM ZWEITEN JUNIWOCHENENDE WOLLEN WIR EIN GROSSES WIEDERSEHEN FEIERN. ES GIBT JEDE MENGE SPEIS UND TRANK, DAZU EIN TOLLES ORCHESTER, DAMIT ALLE DAS TANZBEIN SCHWINGEN KÖNNEN. LASS DIR DEN SPASS NICHT ENTGEHEN.
SCHICK EINFACH DIE BEILIEGENDE ANMELDUNG ZURÜCK, DAMIT WIR WISSEN, OB DU KOMMST. WIR FREUEN UNS ALLE AUF DICH.
Auf der Fahrt zur Arbeit dachte Ashley über die Einladung nach. Wir freuen uns alle auf dich. Alle bis auf Jim Cleary, dachte sie bitter.
Ich möchte dich heiraten. Mein Onkel hat mir einen Bombenjob in seiner Werbeagentur in Chicago angeboten. Morgen früh um sieben geht ein Zug nach Chicago. Kommst du mit?
Und sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie gelitten hatte, als sie am Bahnhof auf Jim wartete. Weil sie ihm geglaubt, ihm vertraut hatte. Er hatte es sich anders überlegt, und er war nicht Manns genug gewesen, um zu ihr zu kommen und es ihr zu sagen. Statt dessen hatte er sie allein am Bahnhof sitzenlassen. Vergiß die Einladung. Ich fahre nicht hin.
In der Mittagspause ging Ashley mit Shane Miller ins TGI Friday’s. Sie saßen an ihrem Tisch und aßen schweigend.
»Du wirkst, als ob dich irgendwas beschäftigt«, sagte Shane.
»Entschuldige.« Ashley zögerte einen Moment. Am liebsten hätte sie ihm von dem Vorfall mit ihrer Wäsche erzählt, aber es hätte gar zu dumm geklungen. Jemand hat in deinen Sachen herumgewühlt? »Ich habe eine Einladung zum zehnjährigen Klassentreffen bekommen«, sagte sie statt dessen.
»Fährst du hin?«
»Bestimmt nicht.« Es klang heftiger, als sie beabsichtigt hatte.
Shane Miller schaute sie verwundert an. »Warum nicht? So was kann ziemlich lustig werden.«
Ob Jim Cleary wohl hinkommt? Ob er wohl verheiratet ist und Kinder hat? Was würde er wohl zu ihr sagen? Tut mir leid, daß ich nicht zum Bahnhof kommen konnte? Entschuldige, daß ich dich angelogen habe, als ich sagte, ich möchte dich heiraten?
»Ich fahre nicht hin.«
Aber Ashley mußte immer wieder an die Einladung denken. Es wäre bestimmt schön, ein paar alte Klassenkameraden wiederzusehen, dachte sie. Mit dem einen oder der anderen war sie gut befreundet gewesen. Vor allem mit Florence Schiffer. Was mag wohl aus der geworden sein? Und sie fragte sich, ob sich in einer Stadt wie Bedford jemals etwas ändern würde.
Ashley Patterson war in Bedford aufgewachsen, einer Kleinstadt in Pennsylvania, etwa zwei Autostunden östlich von Pittsburgh mitten in den Allegheny Mountains gelegen. Ihr Vater war Chef des Memorial Hospital of Bedford County gewesen, eines der hundert besten Krankenhäuser im ganzen Land.
Es war wunderbar gewesen, in einer Stadt wie Bedford aufzuwachsen. Es gab zahlreiche Parks, in denen man picknicken konnte, in den Flüssen wimmelte es von Fischen, und das ganze Jahr über war allerlei geboten. Ashley freute sich auf die Ausflüge ins Big Valley, wo es eine Amischen-Kolonie gab. Von Pferden gezogene Einspänner mit unterschiedlich gefärbtem Verdeck, je nachdem, wie streng es der Besitzer mit seinem Glauben nahm, waren dort ein alltäglicher Anblick.
Außerdem fanden Abenteuerabende statt, Theaterveranstaltungen und das große Kürbisfestival. Beim Gedanken an die schöne Zeit, die sie dort verbracht hatte, mußte Ashley lächeln. Vielleicht fahre ich doch hin, dachte sie. Jim Cleary traut sich bestimmt nicht zu kommen.
Ashley berichtete Shane Miller von ihrem Entschluß. »Ich fahre am Freitag nächster Woche hin«, sagte sie. »Am Sonntag abend bin ich wieder zurück.«
»Fein. Sag mir Bescheid, wann du ankommst. Ich hole dich am Flughafen ab.«
»Vielen Dank, Shane.«
Nach dem Mittagessen begab sich Ashley wieder in ihr Kabuff und schaltete den Computer ein. Sie traute ihren Augen kaum, als zahllose Pünktchen über den Monitor flimmerten und sich allmählich zu einem Bild formierten. Verdutzt starrte sie auf den Schirm. Dort entstand langsam ein Ebenbild von ihr. Dann sah Ashley voller Entsetzen, wie am oberen Rand des Monitors eine Hand auftauchte, die ein Schlachtermesser hielt. Sie stieß nach ihrem Ebenbild, als wollte sie ihr das Messer in die Brust rammen.
»Nein!« schrie Ashley.
Sie sprang auf und stellte den Computer ab.
Shane Miller kam zu ihr gestürzt. »Ashley! Was ist los?«
Sie zitterte am ganzen Leib. »Da - auf dem Bildschirm -«
Shane schaltete den Computer ein. Am Monitor tauchte ein Kätzchen auf, das ein Garnknäuel über eine grüne Wiese kullerte.
Shane drehte sich um und schaute Ashley verständnislos an. »Was -?«
»Es ist - es ist wieder weg«, flüsterte sie.
»Was ist wieder weg?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich - ich hatte in letzter Zeit allerhand um die Ohren, Shane. Entschuldige bitte.«
»Warum redest du nicht mal mit Dr. Speakman?«
Ashley war schon einmal bei Dr. Speakman gewesen. Er war der Firmenpsychologe, eigens dafür engagiert, daß er den Computergenies mit gutem Rat beistand, wenn sie vor Streß nicht mehr ein noch aus wußten. Zwar war er kein Mediziner, aber er war intelligent und verständnisvoll, und außerdem konnte es nichts schaden, wenn sie mit jemandem redete.
»Genau, das mache ich«, sagte Ashley.
Dr. Ben Speakman war Mitte Fünfzig, an diesem Born der Jugend also geradezu ein Methusalem. Sein gemütliches Büro lag am anderen Ende des Gebäudes und war eine Oase der
Ruhe.
»Ich hatte letzte Nacht einen schrecklichen Traum«, sagte Ashley. Sie schloß die Augen und ließ ihn noch einmal Revue passieren. »Ich bin gerannt. Ich war in einem riesigen Garten voller wilder Blumen. Sie hatten unheimliche, häßliche Gesichter ... Sie haben auf mich eingeschrien ... Ich konnte kein Wort verstehen. Ich bin nur gerannt, auf irgend etwas zu . Ich weiß nicht, was es war .« Sie hielt inne und schlug die Augen auf.
»Wäre es möglich, daß Sie vor etwas davongerannt sind? Hat Sie irgend etwas verfolgt?«
»Ich weiß es nicht. Ich - ich glaube, daß man mir nachstellt, Dr. Speakman. Es klingt verrückt, aber - ich glaube, jemand will mich umbringen.«
Er musterte sie einen Moment lang. »Wer sollte Sie denn umbringen wollen?«
»Ich - ich habe keine Ahnung.«
»Haben Sie gesehen, daß Ihnen jemand nachstellt?«
»Nein.«
»Sie leben allein, nicht wahr?«
»Ja.«
»Treffen Sie sich ab und zu mit jemandem? Privat, meine ich?«
»Nein. Im Augenblick nicht.«
»Dann ist es also eine Weile her, daß Sie - ich meine, wenn eine Frau keinen festen Partner hat, kann es vorkommen, daß es - nun ja, zu einer Art körperlichen Anspannung kommt .«
Er will mir damit sagen, daß ich mal wieder tüchtig - sie brachte es nicht über sich, das Wort auszusprechen. Sie hörte förmlich, wie ihr Vater sie anbrüllte. Sprich dieses Wort nie wieder aus. Die Leute denken ja, du wärst eine kleine Schlampe. Anständige Menschen sagen nicht »vögeln«. Wo hast du denn diese Ausdrucksweise her?
»Meiner Meinung nach haben Sie einfach zuviel gearbeitet, Ashley. Ich glaube nicht, daß Sie sich deswegen Sorgen zu machen brauchen. Vermutlich ist es nur die Anspannung. Treten Sie eine Zeitlang ein bißchen kürzer. Gönnen Sie sich etwas mehr Ruhe.«
»Ich werd’s versuchen.«
Shane Miller wartete bereits auf sie. »Was hat Dr. Speakman gesagt?«
Ashley rang sich ein Lächeln ab. »Er sagt, es ist alles in Ordnung. Ich arbeite nur zuviel.«
»Tja, dann müssen wir etwas dagegen tun«, sagte Shane. »Fangen wir doch gleich damit an. Wie wär’s, wenn du dir den restlichen Tag freinimmst?« Er klang sehr besorgt.
»Danke.« Sie schaute ihn an und lächelte. Er war ein lieber Kerl. Ein guter Freund.
Er kann es nicht sein, dachte Ashley. Niemals.
In der darauffolgenden Woche mußte Ashley immer wieder an das bevorstehende Klassentreffen denken. Ob es wohl ein Fehler ist, wenn ich dort hinfahre? Was ist, wenn Jim Cleary doch aufkreuzt? Weiß er überhaupt, wie sehr er mich verletzt hat? Macht es ihm etwas aus? Kann er sich überhaupt noch an mich erinnern?
In der Nacht vor ihrer Abreise nach Bedford konnte Ashley nicht schlafen. Am liebsten hätte sie den Flug storniert. Ich bin albern, dachte sie. Was vorbei ist, ist vorbei.
Als Ashley am nächsten Morgen ihr Flugticket abholte, warf sie einen kurzen Blick darauf und stutzte dann. »Ich fürchte, hier liegt ein Irrtum vor«, sagte sie. »Ich fliege in der Touristenklasse. Aber das ist ein Ticket für die erste Klasse.«
»Ja. Sie haben doch umgebucht.«
Sie starrte den Mann am Schalter an. »Was habe ich?«
»Sie haben angerufen und gesagt, Sie möchten auf die erste Klasse umbuchen.« Er zeigte Ashley einen Beleg. »Ist das Ihre Kreditkartennummer?«
Sie warf einen Blick darauf. »Ja ...«, sagte sie tonlos.
Sie wußte genau, daß sie nicht angerufen hatte.
Ashley traf zeitig ein und mietete sich ein Zimmer im Bedford Springs Resort. Die offizielle Wiedersehensfeier begann erst um sechs Uhr abends. Bis dahin wollte sie ein bißchen die Stadt erkunden. Sie besorgte sich vor dem Hotel ein Taxi. »Wohin soll’s gehen, Miss?«
»Fahren Sie einfach ein bißchen durch die Gegend.«
Wenn man nach vielen Jahren wieder in seine Heimatstadt zurückkehrt, kommt sie einem normalerweise kleiner vor, als man sie in Erinnerung hat, aber Ashley hatte den Eindruck, daß Bedford eher größer wirkte. Das Taxi fuhr die altbekannten Straßen auf und ab, an der Bedford Gazette vorbei, am Gebäude des lokalen Fernsehsenders WKYE, an etlichen vertrauten Restaurants und Galerien. Das Baker’s Loaf of Bedford, ihre alte Lieblingsbäckerei, gab es immer noch, desgleichen Clara’s Place, das Fort Bedford Museum und das Old Bedford Village. Sie passierten das Memorial Hospital, einen anmutigen zweistöckigen Ziegelbau, dessen Vorderseite von Säulen gesäumt war. Hier hatte es ihr Vater zu Ruhm und Ehren gebracht.
Wieder fielen ihr die lauten Streitgespräche ihrer Eltern ein. Es war immer um das gleiche gegangen. Aber worum? Sie wußte es nicht mehr.
Um fünf Uhr kehrte Ashley ins Hotel zurück. Sie zog sich dreimal um und konnte sich immer noch nicht entscheiden, was sie tragen sollte. Schließlich wählte sie ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihrer Figur schmeichelte.
Als Ashley die festlich geschmückte Turnhalle der HighSchool betrat, sah sie rundum etwa hundertzwanzig Personen, die ihr vage vertraut vorkamen. Ein paar ihrer alten Klassenkameraden hätte sie beim besten Willen nicht mehr erkannt; andere hingegen hatten sich kaum verändert. Ashley aber hielt zunächst nur nach Jim Cleary Ausschau. Ob er sich wohl sehr verändert hat? Hat er vielleicht seine Frau dabei? Etliche Leute kamen auf sie zu.
»Hallo, Ashley, ich bin Trent Waterson. Toll siehst du aus!« »Danke. Du auch, Trent.«
»Ich möchte dir meine Frau vorstellen .«
»Du bist doch Ashley, nicht wahr?«
»Ja, äh -«
»Art. Art Davies. Kannst du dich noch an mich erinnern?« »Natürlich.« Er war schlecht gekleidet und fühlte sich sichtlich unwohl.
»Wie geht’s dir denn, Art?«
»Tja, weißt du, ich wollte ja eigentlich Ingenieur werden, aber irgendwie hat das nicht hingehaun.«
»Tut mir leid.«
»Na, und dann bin ich halt Maschinenbauer geworden.«
»Ashley! Lenny Holland, erinnerst du dich? Meine Güte, du siehst wunderbar aus!«
»Besten Dank, Lenny.« Er hatte zugenommen und trug einen schweren Diamantring am kleinen Finger.
»Ich mach’ jetzt in Immobilien. Läuft bestens. Bist du inzwischen in festen Händen?«
Ashley zögerte. »Nein.«
»Kannst du dich noch an Nicki Brandt erinnern? Wir sind miteinander verheiratet. Wir haben Zwillinge.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
Kaum zu glauben, wie sehr sich Menschen innerhalb von zehn Jahren verändern konnten. Den einen ging es offensichtlich gut, andere wirkten eher heruntergekommen. Etliche waren verheiratet, ein paar schon wieder geschieden . einige hatten Familie, andere waren kinderlos.
Sie aßen gemeinsam zu Abend, und anschließend gab es Musik und Tanz. Ashley unterhielt sich mit ihren ehemaligen Klassenkameraden und erfuhr nach und nach, wie es ihnen ergangen war, doch sie mußte fortwährend an Jim Cleary denken. Bislang hatte er sich noch nicht blicken lassen. Er kommt bestimmt nicht mehr, sagte sie sich schließlich. Er weiß, daß ich möglicherweise hier bin, und hat Angst davor, mir unter die Augen zu treten.
Eine attraktive Frau sprach sie an. »Ashley! Ich hatte ja so darauf gehofft, daß ich dich hier sehe.« Es war Florence Schiffer. Ashley freute sich von ganzem Herzen über das Wiedersehen. Florence war eine ihrer besten Freundinnen gewesen. Sie suchten sich einen Tisch in einer abgelegenen Ecke, wo sie ungestört miteinander plaudern konnten.
»Du siehst großartig aus, Florence«, sagte Ashley.
»Du aber auch, ‘tschuldige, daß ich so spät komme. Aber dem Kleinen ging’s nicht besonders gut. Ich hab’ nämlich geheiratet, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, bin aber schon wieder geschieden. Ich habe jetzt den absoluten Traummann an der Hand. Und was ist mit dir? Du bist nach der Abschlußfeier einfach abgehauen. Ich hab’ mich noch nach dir erkundigt, aber irgend jemand hat gesagt, daß du weggezogen wärst.«
»Ich bin nach London gegangen«, sagte Ashley. »Mein Vater hat mich dort auf einem College angemeldet. Wir sind am nächsten Morgen abgereist.«
»Ich hab’ Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, weil ich unbedingt erfahren wollte, wo du abgeblieben bist. Die Polizei hat nämlich gedacht, ich wüßte, wo du steckst. Die haben dich gesucht, weil du seinerzeit mit Jim Cleary gegangen bist.«
»Die Polizei?« sagte Ashley tonlos.
»Ja. Die Kripo, die Polizisten, die wegen dem Mord ermittelt haben.«
Ashley spürte, daß sie kreidebleich wurde. »Was - was für ein Mord?«
Florence starrte sie an. »Mein Gott. Weißt du das etwa nicht?«
»Was denn?« herrschte Ashley sie an. »Wovon redest du überhaupt?«
»Am Tag nach der Abschlußfeier sind Jims Eltern nach Hause gekommen und haben seine Leiche gefunden. Jemand hat ihn erstochen und entmannt.«
Vor Ashley s Augen drehte sich alles. Sie hielt sich an der Tischkante fest. Florence ergriff sie am Arm.
»Tut mir - tut mir leid, Ashley. Ich dachte, du hättest es aus der Zeitung erfahren. Aber natürlich, du warst ja unterwegs nach London.«
Ashley kniff die Augen zusammen. Sie hatte das Bild noch genau vor Augen, wie sie sich aus dem Haus geschlichen hatte, um zu Jim Cleary zu gehen. Aber sie war umgekehrt und wieder nach Hause gegangen, weil sie bis zum nächsten Morgen hatte warten wollen. Wenn ich doch nur zu ihm gegangen wäre, dachte Ashley, dann wäre er vielleicht noch am Leben. Und ich habe ihn all die Jahre gehaßt. Aber wer könnte ihn nur umgebracht haben? Wer -?
Und sie hörte die Stimme ihres Vaters: Ab sofort lassen Sie die Finger von meiner Tochter. Haben Sie verstanden? Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, breche ich Ihnen sämtliche Knochen.
Sie stand auf. »Entschuldige mich bitte, Florence. Ich - mir ist nicht ganz wohl.«
Ashley flüchtete förmlich von der Fete.
Die Polizisten. Sie mußten sich doch mit ihrem Vater in Verbindung gesetzt haben. Warum hat er es mir nicht erzählt?
Sie buchte einen Platz in der ersten Maschine, die nach Kalifornien ging. Der Morgen brach bereits an, als sie endlich einschlief. Und dann hatte sie einen Alptraum. Sie sah eine Gestalt im Dunkeln stehen, die Jim anschrie und auf ihn einstach. Dann trat der Mörder ins Licht.
Es war ihr Vater.
Ashley fühlte sich monatelang elend. Immer wieder hatte sie Jim Clearys blutigen, verstümmelten Körper vor Augen. Sie überlegte, ob sie Dr. Speakman noch einmal aufsuchen sollte, wußte aber auch, daß sie mit niemandem darüber sprechen konnte. Sie machte sich bittere Vorwürfe, daß sie ihrem Vater eine derart schreckliche Tat auch nur in Gedanken zugetraut hatte. Schließlich verdrängte sie all diese Überlegungen und versuchte sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Aber es ging nicht. Bestürzt musterte sie die Graphik, die sie gerade verpfuscht hatte.
Shane Miller betrachtete sie mit sorgenvoller Miene. »Ist alles in Ordnung, Ashley?«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Mir geht’s gut.«
»Die Sache mit deinem Freund tut mir wirklich leid.« Sie hatte ihm von Jim erzählt.
»Ich - ich komme schon drüber weg.«
»Wollen wir heute abend zusammen essen gehen?«
»Danke, Shane. Aber ich - mir ist nicht danach zumute. Nächste Woche vielleicht.«
»Schön. Wenn ich irgendwas für dich tun kann -«
»Vielen Dank. Momentan kann mir niemand helfen.«
»Der kleinen Zimtzicke macht irgendwas zu schaffen«, sagte Toni zu Alette. »Na, die kann mich mal.«
»Sie tut mir leid. Sie ist sehr betrübt.«
»Pfeif drauf. Wir haben alle unser Bündel zu tragen, nicht wahr, meine Liebe?«
Als Ashley an diesem Nachmittag nach Hause gehen wollte, hielt Dennis Tibble sie auf. »Hallo, Schätzchen. Du könntest mir einen Gefallen tun.«
»Entschuldige, Dennis, aber ich -«
»Komm schon. Sei nicht so sauertöpfisch!« Er nahm Ashley am Arm. »Ich brauche ein bißchen Beratung aus weiblicher Sicht.«
»Dennis, ich bin nicht in der -«
»Ich habe mich in jemanden verliebt und möchte die Betreffende heiraten, aber es gibt da ein Problem. Willst du mir dabei helfen?«
Ashley zögerte. Eigentlich mochte sie Dennis Tibble nicht, aber was konnte es schon schaden, wenn sie ihm zu helfen versuchte? »Hat das nicht bis morgen -«
»Ich muß das auf der Stelle geregelt kriegen. Es ist echt dringend.«
Ashley atmete tief durch. »Na schön.«
»Können wir zu dir gehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Dort würde sie ihn nie und nimmer loswerden.
»Würdest du kurz mit zu mir kommen?«
Ashley zögerte einen Moment. »Von mir aus.« Dann kann ich wenigstens gehen, wenn ich will. Vielleicht läßt er mich ja endlich in Ruhe, wenn ich ihm in seinen Liebesdingen weiterhelfen kann.
»Jesses!« sagte Toni zu Alette. »Die tugendsame Unschuld vom Lande läßt sich zu diesem Lüstling in die Wohnung locken. Wie kann man nur so blöde sein? Ist die nicht mehr bei Trost?«
»Sie will ihm doch bloß helfen. Was ist denn schon dabei -«
»Ach, hör auf, Alette. Wo kommst du denn her? Der Macker will sie aufs Kreuz legen.«
»Non va. Non si fa cosi.«
»Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.«
Dennis Tibbles Wohnung war der reinste Alptraum in Neon. Die Wände hingen voller Poster. Hauptsächlich Plakate von alten Horrorfilmen, daneben Nacktmodelle und wilde Tiere beim Fressen. Auf den Tischen rundum standen allerlei erotische Schnitzereien.
So sieht die Wohnung eines Wahnsinnigen aus, dachte Ash-ley. Am liebsten wäre sie auf der Stelle wieder gegangen.
»Hey, schön, daß du mitgekommen bist, Schätzchen. Ich weiß das echt zu schätzen. Wenn du -«
»Ich kann nicht lang bleiben, Dennis«, wandte Ashley ein. »Erzähl mir von der Frau, in die du verliebt bist.«
»Die ist echt ‘ne Wucht.« Er hielt ihr die Zigarettenschachtel hin. »Willst du eine?«
»Ich rauche nicht.« Sie sah zu, wie er sich Feuer gab.
»Was zu trinken?«
»Ich trinke nicht.«
Er grinste. »Du rauchst nicht, du trinkst nicht. Damit bleibt ja bloß noch eins übrig, oder?«
»Dennis«, versetzte sie. »Wenn du nicht auf -«
»Hab ja nur Spaß gemacht.« Er ging zur Bar und goß sich ein Glas Wein ein. »Nimm doch ein Gläschen Wein. Schadet bestimmt nichts.« Er reichte ihr ein Glas.
Sie trank einen Schluck. »Also, was ist nun mit der Frau deines Lebens?«
Dennis Tibble ließ sich neben Ashley auf der Couch nieder. »So eine ist mir noch nie untergekommen. Sie sieht genauso scharf aus wie du, und -«
»Hör auf, oder ich gehe auf der Stelle.«
»Hey, das sollte ein Kompliment sein. Jedenfalls ist sie ganz verrückt nach mir, aber ihre Eltern sind ziemlich etepetete, und sie können mich nicht ausstehen.«
Ashley sagte nichts dazu.
»Die Sache sieht also folgendermaßen aus: Wenn ich darauf dränge, heiratet sie mich, aber damit sagt sie sich von ihrer Familie los. Sie hängt sehr an ihren Leuten, und wenn sie sich mit mir einläßt, wollen die garantiert nichts mehr von ihr wissen. Und eines Tages wirft sie es mir vielleicht vor. Verstehst du, worum es mir geht?«
Ashley trank einen Schluck Wein. »Ja. Ich ...«
Anschließend konnte sie sich an nichts mehr erinnern.
Langsam kam sie zu sich, und sie wußte sofort, daß irgend etwas scheußlich schiefgegangen war. Sie kam sich völlig benebelt vor, so als wäre sie unter Drogen gesetzt worden. Nur mit Mühe brachte sie die Augen auf. Ashley blickte sich um und bekam es mit der Angst zu tun. Sie lag splitternackt in einem fremden Bett, in einem billigen Hotelzimmer. Sie richtete sich auf und bekam prompt hämmernde Kopfschmerzen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wie sie hierhergekommen war. Auf dem Nachttisch stand eine Karte für den Zimmerservice. Sie streckte den Arm aus und zog sie zu sich. Chicago Loop Hotel stand dort. Fassungslos starrte sie darauf. Wie komme ich nach Chicago? Wie lange bin ich hier schon? Am Freitag bin ich mit Dennis Tibble nach Hause gegangen. Was für ein Tag ist heute? Bangen Herzens griff sie zum Telefon.
»Womit kann ich dienen?«
Ashley brachte kaum ein Wort heraus. »Was - was für einen Tag haben wir?«
»Heute ist der siebzehnte -«
»Nein. Ich meine, was für ein Wochentag heute ist.«
»Oh. Heute ist Montag. Kann ich -«
Wie benommen legte Ashley den Hörer auf. Montag. Mir fehlen zwei volle Tage. Sie setzte sich auf die Bettkante, versuchte sich zu erinnern. Sie war mit Dennis Tibble nach Hause gegangen ... Sie hatte ein Glas Wein getrunken ... Danach war da nur noch ein schwarzes Loch.
Er mußte ihr irgend etwas in den Wein getan haben. Sie hatte in der Zeitung gelesen, daß so etwas gelegentlich vorkam, wenn Männer sich jemanden gefügig machen wollten. K.O.-Tropfen nannte man so etwas. Genau das mußte er ihr gegeben haben. Das ganze Gerede von wegen, daß sie ihn beraten sollte, war nur eine Finte gewesen. Und ich bin darauf reingefallen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie zum Flughafen gelangt und nach Chicago gekommen war, geschweige denn, wie sie mit Tibble in diesem schäbigen Hotelzimmer gelandet war. Und sie wußte auch nicht mehr - und das war das allerschlimmste -, was in diesem Hotelzimmer passiert war.
Ich muß hier schleunigst weg, dachte Ashley verzweifelt. Sie kam sich schmutzig vor, mißbraucht. Was hatte er mit ihr angestellt? Sie wollte gar nicht daran denken. Sie stand auf, ging in das kleine Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Sie ließ das heiße Wasser über sich strömen und versuchte all den Schmutz wegzuspülen, der an ihr haftete. Und wenn er sie geschwängert hatte? Beim bloßen Gedanken daran wurde ihr übel. Ashley stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und ging zum Kleiderschrank. Ihre Sachen waren nicht da. In dem Schrank hing nur ein Minirock aus schwarzem Leder, dazu ein hautenges, nuttig wirkendes Oberteil und ein Paar hohe Stöckelschuhe. Sie ekelte sich vor diesem Zeug, doch etwas anderes hatte sie nicht. Sie zog sich rasch an und betrachtete sich kurz im Spiegel. Sie sah aus wie eine Prostituierte.
Ashley warf einen Blick in ihre Handtasche. Sie hatte nur vierzig Dollar dabei. Aber ihr Scheckheft und die Kreditkarte waren noch da. Gott sei Dank!
Sie trat hinaus auf den Flur. Weit und breit war niemand zu sehen. Sie fuhr mit dem Aufzug in das schäbige Foyer hinab und begab sich zur Rezeption. Sie reichte dem älteren Herrn, der offenbar für die Kasse zuständig war, ihre Kreditkarte.
»Wollen Sie uns schon verlassen?« Er verzog lüstern den Mund. »Na, Sie haben jedenfalls Ihren Spaß gehabt, was?«
Ashley starrte ihn an. Sie wollte gar nicht wissen, worauf er anspielte. Sie hätte ihn gern gefragt, wann Dennis Tibble abgereist war, entschied sich dann aber, daß es besser war, ihn nicht darauf anzusprechen.
Der Kassierer schob ihre Kreditkarte in den Apparat. Er runzelte die Stirn und versuchte es erneut. »Tut mir leid«, sagte er schließlich. »Die Karte geht nicht. Sie haben Ihr Konto überzogen.«
Ashley sperrte den Mund auf. »Das ist doch unmöglich! Da muß ein Irrtum vorliegen!«
Der Kassierer zuckte die Achseln. »Haben Sie eine andere Kreditkarte?«
»Nein. Habe ich - habe ich nicht. Nehmen Sie auch einen Scheck?«
Mißbilligend musterte er ihre Aufmachung. »Von mir aus. Wenn Sie einen Ausweis dabeihaben.«
»Ich müßte mal kurz telefonieren .«
»Das Münztelefon ist in der Ecke da hinten.«
»San Francisco Memorial.«
»Dr. Steven Patterson bitte.«
»Einen Moment bitte.«
»Büro Dr. Patterson.«
»Sarah? Hier ist Ashley. Ich müßte mal kurz meinen Vater sprechen.«
»Tut mir leid, Miss Patterson. Er ist gerade im OP und -«
Ashley umklammerte den Hörer. »Wissen Sie, wann er zurückkommt?«
»Schwer zu sagen. Ich weiß nur, daß danach noch eine andere Operation ansteht -«
Ashley konnte sich nur mehr mühsam beherrschen. »Ich muß mit ihm sprechen. Es ist dringend. Könnten Sie ihm bitte Bescheid sagen? Er soll mich anrufen, sobald er dazu kommt.« Sie suchte die Nummer des Münztelefons und gab sie der Empfangsdame ihres Vaters durch. »Ich warte hier, bis er sich meldet.«
»Ich sage ihm Bescheid.«
Sie saß fast eine Stunde lang im Foyer und wünschte sich sehnlichst, daß das Telefon endlich läuten möge. Die Leute, die vorbeikamen, starrten sie an oder begafften sie lüstern, so daß sie sich in ihrem billigen Fummel wie nackt vorkam. Sie schrak auf, als das Telefon endlich klingelte.
Sie eilte zum Münzapparat. »Hallo .«
»Ashley?« Es war ihr Vater.
»Vater, ich -«
»Was ist los?«
»Ich bin in Chicago und -«
»Was machst du denn in Chicago?«
»Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Ich brauche ein Flugticket nach San Jose. Ich habe kein Geld dabei. Kannst du mir helfen?«
»Selbstverständlich. Warte einen Moment.« Drei Minuten später meldete sich ihr Vater zurück. »Um zehn Uhr vierzig geht eine Maschine der American Airlines ab O’Hare. Flugnummer 407. Am Abfertigungsschalter liegt ein Ticket für dich bereit. Ich hole dich am Flughafen von San Jose ab und -«
»Nein!« In dieser Aufmachung konnte sie ihm nicht unter die Augen treten. »Ich - ich muß erst nach Hause und mich umziehen.«
»Na schön. Ich komme vorbei und hole dich zum Essen ab. Dann kannst du mir alles erzählen.«
»Danke, Vater. Vielen Dank.«
Auf dem Heimflug dachte Ashley darüber nach, was Dennis Tibble ihr angetan hatte. Es war unverzeihlich. Ich muß zur Polizei gehen, dachte sie. Das kann ich ihm nicht durchgehen lassen. Mit wie vielen Frauen hat er wohl schon das gleiche Ashley kam sich vor, als wäre sie in ihren Unterschlupf zurückgekehrt, als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschloß. Sie konnte es kaum erwarten, aus den nuttigen Sachen herauszukommen. Sie zog sie so schnell wie möglich aus. Sie hatte das Gefühl, daß sie noch einmal duschen sollte, bevor sie sich mit ihrem Vater traf. Sie wollte zum Kleiderschrank gehen, blieb dann aber wie angewurzelt stehen. Auf der Frisierkommode vor ihr lag eine Zigarettenkippe.
Sie saßen an einem Ecktisch in einem Restaurant namens The Oaks. Ihr Vater musterte sie besorgt: »Was hast du in Chicago gemacht?«
»Ich - ich weiß es nicht.«
Verdutzt blickte er sie an. »Du weißt es nicht?«
Ashley zögerte, überlegte sich, ob sie ihm erzählen sollte, was vorgefallen war. Vielleicht konnte er ihr einen Rat geben.
»Dennis Tibble hat mich zu sich nach Hause eingeladen«, sagte sie langsam. »Ich sollte ihm bei etwas helfen ...«
»Dennis Tibble? Diese Ratte?« Vor langer Zeit hatte Ashley ihrem Vater die Leute vorgestellt, mit denen sie zusammenarbeitete. »Wie konntest du dich nur mit dem einlassen?«
Ashley wußte sofort, daß sie einen Fehler begangen hatte. Ihr Vater reagierte immer allzu heftig, wenn sie irgendwelche Unannehmlichkeiten hatte. Vor allem, wenn ein Mann dahintersteckte.
Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, Cleary, breche ich Ihnen sämtliche Knochen.
»Das spielt doch keine Rolle.«
»Ich möchte es aber wissen.«
Ashley saß einen Moment lang reglos da. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. »Na ja, ich habe bei Dennis ein Glas Wein getrunken und .«
Sie sah, wie die Miene ihres Vaters immer finsterer wurde, während sie erzählte. Der Blick, den er ihr zuwarf, war geradezu zum Fürchten. Sie versuchte die Geschichte so kurz wie möglich zu halten.
»Nein«, beharrte ihr Vater. »Ich will alles hören .«
Ashley war viel zu erschöpft, um einschlafen zu können, als sie an diesem Abend zu Bett ging. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn bekannt wird, was Dennis mir angetan hat, bin ich blamiert. Jeder in der Firma weiß dann, was mir passiert ist. Aber ich kann nicht zulassen, daß er das auch mit anderen macht. Ich muß mich an die Polizei wenden.
Man hatte sie gewarnt, daß Dennis wie besessen von ihr sei, aber sie hatte es nicht beachtet. Jetzt, im nachhinein, erkannte sie all die kleinen Hinweise: Dennis konnte es nicht ausstehen, wenn sie mit jemand anderem redete; er wollte ständig mit ihr ausgehen, hatte sie ständig belauscht .
Wenigstens weiß ich jetzt, wer mir nachstellt, dachte Ashley.
Am nächsten Morgen um halb neun, als Ashley gerade zur Arbeit gehen wollte, klingelte das Telefon. Sie nahm den Hörer ab. »Hallo.«
»Ashley - Shane hier. Hast du die Nachricht schon gehört?«
»Was für eine Nachricht?«
»Es kam gerade im Fernsehen. Man hat Dennis Tibble tot aufgefunden.«
Einen Moment lang meinte Ashley den Boden unter den Füßen zu verlieren. »O mein Gott! Was ist passiert?«
»Nach Auskunft der Polizei hat ihn jemand erstochen und entmannt.«
Deputy-Sheriff Sam Blake hatte seinen Posten bei der Sheriffdienststelle von Cupertino auf die denkbar härteste Art erworben: Er hatte Serena Dowling geheiratet, die Schwester des Sheriffs, eine wahre Xanthippe, die wegen ihrer messerscharfen Zunge weithin berüchtigt war. Sam Blake war der einzige Mann in Serenas Leben, der mit ihr umgehen konnte. Er war ein kleiner, sanftmütiger Mensch, der eine Engelsgeduld hatte. Serena konnte sich noch so unmöglich aufführen - er wartete einfach, bis sie sich ausgetobt hatte, und redete dann in aller Ruhe mit ihr.
Sam Blake war bei der Sheriffdienststelle gelandet, weil Sheriff Matt Dowling sein bester Freund war. Sie waren zusammen aufgewachsen und gemeinsam zur Schule gegangen. Blake gefiel die Arbeit bei der Polizei, und er war ein hervorragender Polizist. Er war intelligent und scharfsinnig und konnte so hartnäckig sein, daß es fast schon an Starrsinn grenzte. Nicht umsonst galt er als der beste Ermittler der Dienststelle.
An diesem Morgen hatten Sam Blake und Sheriff Dowling zusammen Kaffee getrunken.
»Ich habe gehört, daß meine Schwester dir letzte Nacht wieder die Hölle heiß gemacht hat«, sagte Sheriff Dowling. »Wir haben etliche Anrufe von Nachbarn erhalten, die sich über den Lärm beschwert haben. Serena hat ein fürchterliches Organ.«
Sam zuckte die Schultern. »Ich habe sie schon wieder beruhigt, Matt.«
»Gott sei Dank, daß ich nicht mehr mit ihr zusammenleben muß. Ich weiß nicht, was manchmal in sie fährt. Ihre Tobsuchtsanfälle sind -«
Ihr Gespräch wurde jäh unterbrochen. »Sheriff - wir haben gerade einen Notruf erhalten. Drüben an der Sunnyvale Avenue ist jemand ermordet worden.«
Sheriff Dowling schaute Sam Blake an.
Blake nickte. »Ich übernehm’ das.«
Eine Viertelstunde später betrat Deputy Blake Dennis Tibbles Wohnung. Im Wohnzimmer redete ein Polizeibeamter mit dem Hauswart.
»Wo ist der Tote?« fragte Blake.
Der Polizeibeamte deutete mit dem Kopf zur Schlafzimmertür. »Da drin, Sir.« Er wirkte blaß.
Blake ging ins Schlafzimmer und blieb erschrocken stehen. Ein nackter Mann lag quer auf dem Bett, und der ganze Raum triefte förmlich vor Blut. Als er näher trat, sah er, woher das ganze Blut kam. Offenbar hatte ihm jemand immer wieder den scharfen Zackenrand einer zerschlagenen Flasche in den Rücken gerammt, denn in der Haut steckten Glassplitter. Außerdem waren dem Opfer die Hoden abgeschnitten worden.
Beim bloßen Anblick schmerzte Blake der Unterleib. »Wie bringt ein Mensch so was nur fertig?« sagte er laut. Die Waffe war nirgendwo zu sehen, aber sie würden noch gründlich danach suchen.
Deputy Blake ging wieder ins Wohnzimmer und wandte sich an den Hauswart. »Haben Sie den Toten gekannt?«
»Ja, Sir. Er hat hier gewohnt.«
»Wie heißt er?«
»Tibble. Dennis Tibble.«
Deputy Blake machte sich eine Notiz. »Seit wann wohnt er hier?«
»Seit fast drei Jahren.«
»Was können Sie mir sonst noch über ihn sagen?«
»Nicht allzuviel. Tibble hat ziemlich zurückgezogen gelebt, hat immer pünktlich die Miete bezahlt. Ab und zu hat er ‘ne Frau mit nach Hause gebracht. Meiner Meinung nach waren das meistens Huren.«
»Wissen Sie, wo er gearbeitet hat?«
»O ja. Bei der Global Computer Graphics Corporation. Er war einer von diesen Computerfreaks.«
Deputy Blake machte sich eine weitere Notiz. »Wer hat die Leiche gefunden?«
»Maria. Eine der Putzfrauen. Wir haben insgesamt sechs, die jeden -«
»Ich möchte mir ihr reden.«
»Ja, Sir. Ich hol’ sie.«
Es war eine dunkelhäutige Brasilianerin, etwa Mitte Vierzig, die nervös und verängstigt wirkte.
»Sie haben die Leiche entdeckt, Maria?«
»Ich hab’s nicht getan. Ich schwör’s Ihnen.« Sie sah aus, als ob sie jeden Moment einen hysterischen Anfall bekommen könnte. »Brauch’ ich einen Anwalt?«
»Nein. Sie brauchen keinen Anwalt. Sagen Sie mir einfach, was passiert ist.«
»Nichts ist passiert. Ich meine - ich bin heute morgen hier reingekommen, weil ich putzen wollte. So wie immer. Ich - ich hab’ gedacht, er wäre weg. Um sieben Uhr früh geht er normalerweise immer. Ich hab’ das Wohnzimmer aufgeräumt und -«
Mist! »Maria, wissen Sie noch, wie das Zimmer ausgesehen hat, bevor Sie aufgeräumt haben?«
»Was meinen Sie damit?«
»Haben Sie irgend etwas verändert? Irgendwas weggeräumt?«
»Tja, na ja. Eine zerbrochene Weinflasche hat am Boden gelegen. Sie war ganz klebrig. Und ich -«
»Was haben Sie damit gemacht?« fragte er aufgeregt.
»Ich hab’ sie in den Müllschlucker getan, der den Abfall zermahlt.«
»Was haben Sie denn sonst noch gemacht?« »Na ja, ich hab’ den Aschenbecher ausgeleert und -«
»Lagen irgendwelche Zigarettenkippen drin?«
Sie dachte einen Moment nach. »Eine. Ich hab’ sie in den Abfalleimer in der Küche gekippt.«
»Dann nehmen wir uns den doch mal vor.« Er folgte ihr in die Küche, und sie deutete auf die mit Lippenstift verschmierte Kippe, die im Mülleimer lag. Vorsichtig bugsierte Deputy Blake sie in die Plastiktüte.
Er geleitete sie wieder ins Wohnzimmer. »Maria, wissen Sie, ob irgendwas aus dieser Wohnung fehlt? Haben Sie den Eindruck, daß irgend etwas Wertvolles verschwunden ist?«
Sie blickte sich um. »Ich glaube nicht. Mr. Tibble hat so kleine Figürchen gesammelt. Hat einen Haufen Geld dafür ausgegeben. Anscheinend sind die alle noch da.«
Ein Raubmord war es also nicht. Drogen eventuell? Ein Racheakt? Eine Liebesbeziehung, die in die Binsen gegangen war?
»Was haben Sie gemacht, nachdem Sie aufgeräumt haben, Maria?«
»Ich hab’ hier drin gesaugt, wie immer. Und dann -« Sie stockte einen Moment lang. »Dann bin ich ins Schlafzimmer gegangen und ... da hab’ ich ihn gesehen.« Sie blickte Deputy Blake an. »Ich schwör’ Ihnen, daß ich’s nicht getan hab’.«
Kurz darauf trafen der Leichenbeschauer und seine Mitarbeiter ein. Sie hatten einen Plastiksack zum Abtransport des Opfers dabei.
Drei Stunden später war Deputy Sam Blake wieder im Büro des Sheriffs.
»Was hast du rausgekriegt, Sam?«
»Nicht viel.« Deputy Blake nahm gegenüber vom Sheriff Platz. »Das Opfer hat drüben bei Global Computer Graphics gearbeitet. Dennis Tibble war offenbar so eine Art Genie.«
»Aber anscheinend nicht genial genug, sonst hätte er sich nicht umbringen lassen.«
»Er wurde nicht einfach umgebracht, Matt. Er wurde regelrecht abgeschlachtet. Du hättest mal sehen sollen, wie die Leiche zugerichtet war. Das muß irgendein Irrer gewesen sein.«
»Keinerlei Anhaltspunkte?«
»Wir wissen nicht genau, was die Mordwaffe war. Dazu müssen wir erst noch die Laboruntersuchung abwarten. Aber möglicherweise war es eine zerbrochene Weinflasche. Die Putzfrau hat sie in den Müllschlucker geworfen. Sieht so aus, als wäre auf einer der Scherben in seinem Rücken ein Fingerabdruck. Ich habe mit den Nachbarn geredet. Die konnten mir aber auch nicht weiterhelfen. Keiner hat jemanden aus der Wohnung kommen sehen oder irgendwelche verdächtigen Geräusche gehört. Tibble hat sich offenbar ziemlich abgeschottet. War nicht besonders gesellig. Eins konnten wir feststellen: Tibble muß unmittelbar vor seinem Tod Geschlechtsverkehr gehabt haben. Wir haben Vaginalsekret gefunden, Schamhaare und andere Hinweise. Dazu eine Zigarettenkippe mit Lippenstiftspuren. Das Labor macht gerade einen DNS-Test.«
»Die Zeitungen werden das gewaltig ausschlachten, Sam. Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir - WAHNWITZIGER MÖRDER sucht SILICON VALLEY heim.« Sheriff Dowling seufzte. »Wir sollten die Sache so schnell wie möglich aufklären.«
»Ich fahre gleich rüber zu Global Computer Graphics.«
Ashley hatte eine Stunde lang überlegt, ob sie ins Büro gehen sollte. Sie war hin- und hergerissen. Alle werden mir auf Anhieb ansehen, daß irgend etwas nicht stimmt. Aber wenn ich mich nicht blicken lasse, wollen sie bestimmt wissen, warum. Vermutlich ist die Polizei dort und erkundigt sich. Wenn sie mich vernehmen, muß ich ihnen die Wahrheit sagen. Die werden mir nicht glauben. Sie werden mich des Mordes an Dennis Tibble bezichtigen. Und wenn sie mir glauben und ich erzähle ihnen, daß mein Vater weiß, was er mir angetan hat, werden sie ihn verdächtigen.
Sie mußte daran denken, wie Jim Cleary ums Leben gekommen war. Sie konnte Florences Stimme hören. Am Tag nach der Abschlußfeier sind Jims Eltern nach Hause gekommen und haben seine Leiche gefunden. Jemand hat ihn erstochen und ... entmannt.
Ashley kniff die Augen zusammen. Mein Gott, was geht hier vor? Was geht hier bloß vor?
Etliche Angestellte standen auf den Gängen herum und sprachen leise miteinander, als Deputy Blake in die Kreativabteilung von Global Computer Graphics kam. Blake konnte sich nur zu gut vorstellen, worüber sie sich unterhielten. Ashley beobachtete ihn ängstlich, als er sich zu Shane Millers Büro begab.
Shane stand auf, als er eintrat. »Deputy Blake?«
»Jawohl.« Die beiden gaben sich die Hand.
»Nehmen Sie Platz, Deputy.«
Sam Blake setzte sich. »Soweit ich weiß, hat Dennis Tibble hier gearbeitet.«
»Ganz recht. Er war einer unserer besten Mitarbeiter. Ein schrecklicher Verlust.«
»Und er war hier seit etwa drei Jahren beschäftigt?«
»Ja. Er war unser Genie. Am Computer brachte er einfach alles zustande.«
»Was wissen Sie über sein Privatleben?«
Shane Miller schüttelte den Kopf. »Da bin ich leider überfragt. Tibble war eher ein Einzelgänger.«
»Wissen Sie, ob er Drogen genommen hat?«
»Dennis? Nie und nimmer. Er war ein Gesundheitsfanatiker.«
»Hat er gespielt? Wäre es möglich, daß er jemandem Geld geschuldet hat?« »Nein. Er hat hier ein verdammt gutes Gehalt kassiert, aber meiner Meinung nach war er eher knauserig.«
»Was ist mit Frauen? Hatte er eine feste Freundin?«
»Die Frauen sind nicht gerade auf Tibble geflogen.« Er dachte einen Moment lang nach. »Aber in letzter Zeit hat er allen Leuten erzählt, daß er womöglich heiraten will.«
»Hat er gesagt, wen er dabei im Sinn hatte?«
Miller schüttelte den Kopf. »Nein. Mir jedenfalls nicht.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mit ein paar Angestellten von Ihnen rede?«
»Ganz und gar nicht. Nur zu. Aber sie sind alle ziemlich betroffen.«
Die wären noch betroffener, wenn sie seine Leiche gesehen hätten, dachte Blake.
Die beiden Männer begaben sich in den Arbeitsbereich.
»Hört bitte mal alle zu«, rief Shane Miller. »Das ist Deputy Blake. Er möchte euch ein paar Fragen stellen.«
Die Angestellten ließen ihre Arbeit liegen und horchten auf.
»Ich gehe mal davon aus, daß Sie alle gehört haben, was mit Mr. Tibble passiert ist«, sagte Deputy Blake. »Wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen, wenn wir den Mörder finden wollen. Weiß irgend jemand von Ihnen, ob er Feinde hatte? Ob ihn irgend jemand so gehaßt hat, daß er ihn womöglich umgebracht hat?« Niemand antwortete. Blake fuhr fort. »Angeblich hatte er eine Frau kennengelernt, die er heiraten wollte. Hat er mit jemandem darüber gesprochen?«
Ashley bekam kaum noch Luft. Jetzt müßte sie sich eigentlich zu Wort melden. Jetzt müßte sie dem Polizisten berichten, was Tibble ihr angetan hatte. Aber Ashley mußte an die Miene ihres Vaters denken, als sie ihm erzählt hatte, was vorgefallen war. Man würde ihn des Mordes verdächtigen.
Ihr Vater konnte niemanden umbringen.
Er war Arzt.
Er war Chirurg.
Dennis Tibble war entmannt worden.
». und keiner von Ihnen hat ihn also noch einmal zu Gesicht bekommen, nachdem er am Freitag hier Feierabend gemacht hat?« sagte Deputy Blake.
Na komm schon, du Landei, dachte Toni Prescott. Sag ihm, daß du mit zu ihm nach Hause gegangen bist. Warum rückst du nicht damit raus?
Deputy Blake stand einen Moment lang da und versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Nun ja, falls jemandem noch was einfällt, was vielleicht von Nutzen sein könnte, wäre ich dankbar, wenn er oder sie mich anrufen würde. Mr. Miller hat meine Nummer. Besten Dank.«
Sie schauten ihm nach, als er sich mit Shane in Richtung Ausgang entfernte.
Ashley wurde fast schwindlig vor Erleichterung.
Deputy Blake wandte sich an Shane. »Gibt es hier im Hause jemanden, dem er nahestand?«
»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Shane. »Ich glaube nicht, daß Dennis irgend jemandem nahestand. Eine unserer Computergraphikerinnen hatte es ihm offenbar angetan, aber daraus ist nichts geworden.«
Deputy Blake blieb stehen. »Ist sie hier?«
»Ja, aber -«
»Ich möchte mit ihr reden.«
»Na schön. Sie können in mein Büro gehen.«
Ashley sah, wie sie umkehrten und auf ihr Kabuff zukamen. Sie spürte, daß sie rot anlief.
»Ashley, Deputy Blake würde dich gern sprechen.«
Er wußte also Bescheid. Er wollte sie wegen ihres Besuchs bei Dennis Tibble fragen. Ich muß vorsichtig sein, dachte Ashley.
Der Polizist schaute sie an. »Macht es Ihnen etwas aus, Miss Patterson?«
Sie nahm sich zusammen. »Nein, ganz und gar nicht«, versetzte sie. Sie folgte ihm in Shane Millers Büro.
»Nehmen Sie Platz.« Sie setzten sich beide hin. »Meines Wissens hatte Dennis Tibble ein Auge auf Sie geworfen?«
»Ich - ich nehme es ...« Aufpassen. »Ja.«
»Sind Sie mit ihm ausgegangen?«
Mit ihm nach Hause zu gehen ist nicht das gleiche, wie mit ihm auszugehen. »Nein.«
»Hat er mit Ihnen über diese Frau gesprochen, die er angeblich heiraten wollte?«
Sie geriet immer tiefer hinein. Nahm er ihr Gespräch womöglich auf Band auf? Vielleicht wußte er bereits, daß sie in Tibbles Wohnung gewesen war. Möglicherweise hatten sie ihre Fingerabdrücke gefunden. Jetzt sollte sie dem Kriminalpolizisten erzählen, was Tibble ihr angetan hatte. Aber wenn ich das mache, dachte Ashley verzweifelt, stoßen sie auf meinen Vater, und dann bringen sie es mit dem Mord an Jim Cleary in Verbindung. Wußten sie darüber ebenfalls Bescheid? Aber die Polizei in Bedford hatte keinerlei Anlaß, die Behörden in Cupertino von diesem Vorfall zu verständigen. Oder vielleicht doch?
Deputy Blake betrachtete sie, während er auf eine Antwort wartete. »Miss Patterson?«
»Was? Oh, tut mir leid. Diese Sache hat mich so aus der Fassung .«
»Das kann ich verstehen. Hat Tibble jemals diese Frau erwähnt, die er heiraten wollte?«
»Ja . aber er hat mir gegenüber keinen Namen genannt.« Wenigstens das stimmte.
»Waren Sie jemals in Tibbles Wohnung?«
Ashley holte tief Luft. Wenn sie nein sagte, war die Vernehmung vermutlich vorüber. Aber wenn man ihre Fingerabdrücke gefunden hatte . »Ja.«
»Sie waren in seiner Wohnung?«
»Ja.«
Er schaute sie jetzt eindringlicher an. »Aber Sie haben doch gesagt, daß Sie nie mit ihm ausgegangen sind.«
Ashleys Gedanken überschlugen sich. »Ganz recht. Nicht privat, nein. Ich habe ihm ein paar Unterlagen vorbeigebracht, die er vergessen hatte.«
»Wann war das?«
Sie fühlte sich in die Enge getrieben. »Vor ... vor etwa einer Woche.«
»Und das war das einzige Mal, daß Sie in seiner Wohnung waren?«
»Ganz recht.«
Selbst wenn sie ihre Fingerabdrücke hatten, war sie jetzt fein heraus.
Er saß da, musterte sie, und sie hatte Gewissensbisse. Am liebsten hätte sie ihm die Wahrheit gesagt. Vielleicht war irgendein Einbrecher bei ihm eingedrungen und hatte ihn umgebracht - der gleiche Einbrecher, der zehn Jahre zuvor und rund fünftausend Kilometer entfernt Jim Cleary umgebracht hatte. Wenn man an solche Zufälle glaubte. Wenn man an den Weihnachtsmann glaubte. Oder an die gute Fee.
Zum Teufel mit dir, Vater.
»Hier liegt ein schreckliches Verbrechen vor. Und anscheinend gibt es keinerlei Motiv. Aber wissen Sie, in all den Jahren, die ich nun schon bei der Polizei bin, ist mir noch nie ein Verbrechen untergekommen, für das es nicht irgendein Motiv gab.« Sie ging nicht darauf ein. »Wissen Sie, ob Dennis Tibble Drogen genommen hat?«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Und womit haben wir es dann zu tun? Keine Drogen. Beraubt wurde er auch nicht. Und er hat niemandem Geld geschuldet. Bleiben also nur noch Gefühle übrig, nicht wahr? Eine verschmähte Geliebte, jemand, der eifersüchtig auf ihn war.«
Oder ein Vater, der seine Tochter beschützen wollte.
»Für mich ist das Ganze genauso rätselhaft wie für Sie, De-puty.«
Er musterte sie einen Moment lang, und sie hatte den Eindruck, daß er ihr kein Wort glaubte.
Deputy Blake stand auf. Er zückte eine Visitenkarte und reichte sie Ashley. »Wenn Ihnen noch irgendwas einfällt, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich anrufen würden.«
»Aber gern.«
»Guten Tag.«
Sie schaute ihm nach, als er ging. Es ist vorbei, dachte sie. Vater ist noch mal davongekommen.
Als Ashley an diesem Abend nach Hause kam, fand sie eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter vor. »Du hast mich letzte Nacht echt scharf gemacht, Schätzchen. Auch wenn sich nichts getan hat. Aber heute abend wirst du für mich dasein, so wie du’s versprochen hast. Zur selben Zeit am selben Ort.«
Ashley stand da und meinte nicht recht zu hören. Allmählich schnappe ich über, dachte sie. Es hat nichts mit Vater zu tun. Jemand anders muß hinter dem Ganzen stecken. Aber wer? Und warum?
Fünf Tage später erhielt Ashley eine Abrechung von ihrer Kreditkartengesellschaft. Es waren vor allem drei Posten, die ihr ins Auge stachen:
Eine Rechnung über 450 Dollar vom Mod Dress Shop.
Eine Rechnung über 300 Dollar vom Circus Club.
Eine Rechnung über 250 Dollar von Louie’s Restaurant.
Sie kannte weder das Modegeschäft noch den Club, noch das Restaurant.
Ashley Patterson verfolgte Tag für Tag in der Zeitung und im Fernsehen den Stand der Ermittlungen im Mordfall Dennis Tibble. Offenbar kam die Polizei keinen Schritt voran.
Es ist vorbei, dachte Ashley. Ich brauche mir keine Sorgen mehr zu machen.
An jenem Abend klingelte Deputy Sam Blake an ihrer Wohnungstür. Ashley schaute ihn sprachlos an, als er mit einemmal vor ihr stand.
»Hoffentlich störe ich nicht«, sagte Blake. »Ich war gerade auf dem Heimweg und dachte, ich schau’ mal kurz vorbei.«
Ashley schluckte. »Nein. Kommen Sie rein.«
Deputy Blake ging in ihre Wohnung. »Hübsch haben Sie’s hier.«
»Danke.«
»Ich würde wetten, daß Dennis Tibble die Einrichtung nicht gefallen hat.«
Ashley schlug das Herz im Halse. »Keine Ahnung. Er war nie hier.«
»Ach. Wissen Sie, ich dachte nur, es hat sich vielleicht so ergeben.«
»Nein, ich wüßte nicht, wieso. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich mich nicht mit ihm eingelassen habe.«
»Richtig. Darf ich mich setzen?«
»Bitte sehr.«
»Wissen Sie, Miss Patterson, ich habe mit diesem Fall meine liebe Not. Er paßt einfach in keine Kategorie. Normalerweise gibt es, wie ich schon sagte, immer ein Motiv. Ich habe mit einigen Leuten bei Global Computer Graphics gesprochen, aber anscheinend hat keiner Tibble näher gekannt. Er hat sich ziemlich abgekapselt.«
Ashley hörte zu und wartete auf den unvermeidlichen Schlag.
»Nach allem, was ich erfahren habe, sind Sie eigentlich die einzige Person, für die er sich wirklich interessiert hat.«
Hatte er irgend etwas herausgefunden, oder fischte er nur im trüben?
»Mag schon sein, daß er sich für mich interessiert hat, Depu-ty«, sagte Ashley vorsichtig, »aber ich hatte keinerlei Interesse an ihm. Und das habe ich ihm auch deutlich zu verstehen gegeben.«
Er nickte. »Nun ja, meiner Meinung nach war es trotzdem eine nette Geste, daß Sie ihm die Unterlagen nach Hause gebracht haben.«
»Welche Unterlagen?« hätte Ashley beinahe gefragt. Doch dann erinnerte sie sich. »Da - da war nichts weiter dabei. Es lag auf meiner Strecke.«
»Tja, irgend jemand muß jedenfalls einen gewaltigen Zorn auf Tibble gehabt haben. Sonst hätte er ihn nicht so zugerichtet.«
Ashley saß angespannt da, ohne ein Wort zu sagen.
»Wissen Sie, was ich auf den Tod nicht ausstehen kann?« sagte Deputy Blake. »Ungelöste Mordfälle. So was verbittert mich. Weil es meiner Meinung nach nämlich nichts damit zu tun hat, daß der Täter es so schlau angestellt hat. Für mich heißt das nichts anderes, als daß die Polizei nicht schlau genug war. Nun ja, bislang hatte ich immer Glück. Ich habe sämtliche Verbrechen aufgeklärt, mit denen ich zu tun hatte.« Er stand auf. »Und ich habe auch diesmal nicht vor, klein beizugeben. Sie rufen mich doch an, wenn Ihnen irgendwas einfällt, das mir weiterhelfen könnte, nicht wahr, Miss Patterson?«
»Ja, natürlich.«
Sollte das eine Warnung sein? dachte Ashley, als er ging. Weiß er etwa mehr, als er verrät?
Toni surfte mehr denn je im Internet. Sie genoß die Plaudereien mit Jean Claude, doch das hielt sie nicht davon ab, sich auch mit anderen Ansprechpartnern im Chat-Raum auszutauschen. Bei jeder Gelegenheit saß sie daheim vor ihrem Computer, tippte ihre Mitteilungen ein und schaute wie gebannt auf den Bildschirm, wenn sich jemand bei ihr meldete.
»Toni? Wo hast du gesteckt? Ich hab’ die ganze Zeit auf dich gewartet.«
»Das lohnt sich auch, mein Lieber. Erzähl mir was von dir. Was machst du?«
»Ich arbeite in einer Apotheke. Ich kann dir was zukommen lassen. Nimmst du Drogen?«
»Verpiß dich.«
»Bist du das, Toni?«
»Dein Traum wird wahr. Ist da Mark dran?«
»Ja?«
»Du warst in letzter Zeit nicht im Netz.«
»Ich hatte zu tun. Ich würde dich gern näher kennenlernen, Toni.«
»Sag mal, Mark, was machst du so?«
»Ich bin Bibliothekar.«
»Wie aufregend! All die Bücher und so ...«
»Wann können wir uns treffen?«
»Schlag mal bei Nostradamus nach.«
»Hallo, Toni. Wendy hier.«
»Hallo, Wendy.«
»Du scheinst ja toll draufzusein.«
»Ich genieße das Leben.«
»Vielleicht kann ich dir noch ein paar mehr Genüsse verschaffen.«
»Was meinst du damit?«
»Tja, ich hoffe, daß du keine von den Engstirnigen bist, die Angst davor haben, mal was Neues und Aufregendes auszuprobieren. Ich würde dir gern mal was richtig Tolles zeigen.«
»Danke, Wendy. Aber du kannst mir nicht das bieten, was ich brauche.«
Und dann meldete sich Jean Claude Parent wieder.
»Bonne nuit. Comment ga va? Wie geht es dir?«
»Bestens. Und dir?«
»Du hast mir gefehlt. Ich möchte dich unbedingt persönlich kennenlernen.«
»Ganz meinerseits. Danke, daß du mir ein Bild von dir geschickt hast. Du bist ein hübscher Kerl.«
»Und du bist wunderschön. Ich glaube, wir sollten uns unbedingt näher kennenlernen. Nimmt deine Firma an dem großen Computerkongreß in Quebec teil?«
»Was? Nicht daß ich wüßte. Wann findet der statt?«
»In drei Wochen. Viele große Firmen kommen hierher. Ich hoffe doch, du bist auch da.«
»Ich auch.«
»Wollen wir uns morgen um die gleiche Zeit wieder im ChatRaum treffen?«
»Na klar. Bis morgen.«
»A demain.«
Am nächsten Morgen kam Shane Miller an Ashleys Arbeitsplatz. »Ashley, hast du schon von dem großen Computerkongreß gehört, der demnächst in Quebec stattfinden soll?«
Sie nickte. »Ja. Klingt ziemlich interessant.«
»Ich habe gerade mit der Geschäftsleitung darüber gesprochen, ob wir nicht auch ein paar Leute hinschicken sollten.«
»Alle großen Firmen fahren hin«, sagte Ashley. »Symantec, Microsoft, Apple. In Quebec wird offenbar richtig was geboten. So eine Reise wäre ein schönes Weihnachtsgeschenk.«
Shane Miller lächelte, als er ihre Begeisterung sah. »Ich sehe zu, daß es klappt.«
Am nächsten Tag bat Shane Miller Ashley in sein Büro. »Hättest du Lust, Weihnachten in Quebec zu verbringen?«
»Wir fahren also hin? Große Klasse«, sagte Ashley begeistert. Bislang hatte sie das Weihnachtsfest immer mit ihrem Vater verbracht, doch dieses Jahr graute ihr davor.
»Du solltest dich lieber warm anziehen.«
»Keine Sorge, wird gemacht. Ich freue mich wirklich darauf, Shane.«
Toni hatte sich wieder ins Internet eingeklinkt. »Jean Claude, die Firma schickt eine Delegation nach Quebec!«
»Formidable! Ich freue mich. Wann triffst du ein?«
»In zwei Wochen. Wir sind insgesamt fünfzehn Leute.« »Merveilleux! Ich habe das Gefühl, daß etwas Wichtiges passieren wird.«
»Ich auch.« Etwas sehr Wichtiges sogar.
Bangen Mutes verfolgte Ashley jeden Abend die Nachrichten, aber offenbar gab es im Mordfall Dennis Tibble keinerlei neue Erkenntnisse. Allmählich wurde sie wieder gelassener. Wenn die Polizei sie in Ruhe ließ, konnte es auch keinerlei Verdachtsmomente gegen ihren Vater geben. Sie wollte ihn mehrmals darauf ansprechen, doch letzten Endes machte sie immer wieder einen Rückzieher. Angenommen, er war unschuldig? Würde er ihr jemals verzeihen, daß sie ihn des Mordes bezichtigte? Und wenn er schuldig ist, will ich es nicht wissen, dachte Ashley. Ich könnte es nicht ertragen. Denn auch wenn er all diese schrecklichen Sachen getan haben sollte, hätte er sie seiner Meinung nach doch nur getan, um mich zu beschützen. Wenigstens brauche ich ihn Weihnachten nicht zu sehen.
Ashley rief ihren Vater in San Francisco an. »Dieses Jahr kann ich an Weihnachten leider nicht bei dir sein, Vater«, sagte sie ohne große Umschweife. »Die Firma schickt mich zu einem Kongreß nach Kanada.«
Einen Moment lang herrschte Stille. »Das paßt mir ganz und gar nicht, Ashley. Wir beide haben das Weihnachtsfest immer zusammen verbracht.«
»Ich kann’s nicht ändern -«
»Du bist mein ein und alles, weißt du.«
»Ja Vater, und ... du auch.«
»Das ist es doch, was zählt.«
So sehr, daß man deswegen jemanden umbringt?
»Wo findet dieser Kongreß statt?«
»In Quebec. Es ist -«
»Ah. Eine zauberhafte Stadt. Ich bin seit Jahren nicht mehr dortgewesen. Ich will dir mal was sagen. Um diese Zeit ist in der Klinik sowieso nicht viel los. Ich fliege rauf, dann können wir Weihnachten wenigstens zusammen essen gehen.«
»Ich glaube nicht, daß ich -«, sagte Ashley rasch.
»Reserviere mir einfach ein Zimmer in dem Hotel, in dem du absteigst. Wir wollen doch nicht mit der alten Familientradition brechen, nicht wahr?«
Sie zögerte einen Moment. »Nein, Vater«, sagte sie zaghaft.
Wie soll ich meinem Vater bloß unter die Augen treten?
Alette war aufgeregt. »Ich bin noch nie in Quebec gewesen«, sagte sie zu Toni. »Gibt’s dort Museen?«
»Selbstverständlich gibt’s dort Museen«, erwiderte Toni. »Dort gibt’s alles mögliche. Jede Menge Wintersportmöglichkeiten vor allem. Man kann Ski fahren, Schlittschuh laufen ...«
Alette schüttelte sich. »Kälte kann ich nicht ausstehen. Sport kommt nicht in Frage. Ich hab’ dann immer steifgefrorene Finger, selbst mit Handschuhen. Ich halte mich lieber an die Museen .«
Am 21. Dezember traf die Delegation der Global Computer Graphics am Jean-Lesage International Airport in Sainte-Foy ein und wurde per Bus zum berühmten Chateau Frontenac in Quebec gebracht. Draußen herrschten Minusgrade, und auf den Straßen lag eine geschlossene Schneedecke.
Jean Claude hatte Toni seine Privatnummer gegeben. Sie meldete sich bei ihm, sobald sie in ihrem Hotelzimmer war. »Ich hoffe, ich rufe nicht zu spät an.«
»Mais non! Ich kann kaum glauben, daß du hier bist. Wann können wir uns sehen?«
»Na ja, morgen früh gehen wir alle gemeinsam zur Kongreßhalle, aber ich könnte mich abseilen und mit dir zu Mittag essen.«
»Bon! Es gibt da ein Restaurant an der Grande-Allee Est. Le Paris-Brest heißt es. Wollen wir uns dort um ein Uhr treffen?«
»In Ordnung.«
Das Centre de Congres de Quebec am Rene Levesque Boulevard ist ein hochmodernes Gebäude aus Glas und Stahl, in dem Tausende Kongreßteilnehmer Platz finden. Um neun Uhr morgens tummelten sich Computerexperten aus aller Welt in den weitläufigen Fluren und Foyers, den Multimediaräumen, Ausstellungshallen und Videokonferenzzentren und tauschten Erkenntnisse über die neuesten Entwicklungen aus. Etwa ein halbes Dutzend Seminare fanden gleichzeitig statt. Toni langweilte sich. Lauter Gequassel und nichts geboten, dachte sie. Um Viertel vor eins stahl sie sich aus der Kongreßhalle und fuhr mit einem Taxi zu dem Restaurant.
Jean Claude erwartete sie bereits. »Toni, ich freue mich ja so, daß du kommen konntest«, sagte er freundlich und ergriff ihre Hand.
»Ich auch.«
»Ich werde dafür sorgen, daß du hier eine angenehme Zeit verbringst. In dieser Stadt kann man wunderbare Sachen unternehmen.«
Toni lächelte ihn an. »Ich weiß genau, daß ich es genießen werde.«
»Ich möchte soviel wie möglich mit dir Zusammensein.«
»Kannst du dir denn die ganze Zeit freinehmen? Was ist mit dem Juweliergeschäft?«
Jean Claude lächelte. »Es wird ohne mich zurechtkommen müssen.«
Der Oberkellner brachte ihnen die Speisekarte.
»Hast du Lust, ein paar frankokanadische Speisen zu probieren?«
»Aber gern.«
»Dann laß mich für dich bestellen«, sagte er und wandte sich an den Ober. »Nous voudrions le Brome Lake Duckling.« Er erklärte es Toni. »Das ist ein einheimisches Gericht. Mit Äpfeln gefüllte Jungente in Calvados.«
»Klingt ja köstlich.«
Und das war es auch.
Im Laufe der Mahlzeit erzählten sie einander aus ihrem Leben.
»Du warst also nie verheiratet?« fragte Toni.
»Nein. Und du?«
»Auch nicht.«
»Du hast eben nicht den Richtigen gefunden.«
O Gott, wäre ja herrlich, wenn es so einfach wäre. »Nein.«
Sie unterhielten sich über Quebec und was man hier alles unternehmen konnte.
»Fährst du Ski?«
Toni nickte. »Gern sogar.«
»Ah, bon. Moi aussi. Außerdem kann man mit dem Schneemobil durch die Gegend fahren, Schlittschuh laufen, wunderbar einkaufen gehen .«
Seine Begeisterung hatte beinahe etwas Jungenhaftes an sich. Noch nie hatte sich Toni bei jemandem so wohl gefühlt.
Shane Miller hatte dafür gesorgt, daß seine Mitarbeiter morgens am Kongreß teilnahmen und nachmittags frei hatten.
»Ich weiß nicht, was ich hier machen soll«, beklagte sich Alette bei Toni. »Es ist eiskalt. Was hast du denn vor?«
»Alles mögliche.« Toni grinste.
»A tantot.«
Toni und Jean Claude speisten jeden Mittag zusammen, und nachmittags gingen sie beide auf Erkundungstour. Eine Stadt wie Quebec hatte sie noch nie gesehen. Sie kam sich vor, als entdeckte sie mitten in Nordamerika ein malerisches französisches Dorf, das sich seit der Jahrhundertwende kaum verändert hatte. Die alten Straßen trugen vielsagende Namen wie An der Zitadelle oder Matrosensprung. Die ganze verschneite Stadt wirkte wie aus dem Bilderbuch.
Sie besuchten die Zitadelle, deren Mauern über der Altstadt aufragten, und sahen bei der berühmten Wachablösung zu. Sie erkundeten die Einkaufsstraßen, Saint Jean, Cartier, Cöte de la Fabrique, und spazierten durch das Quartier Petit Champlain.
»Das ist das älteste Geschäftsviertel von Nordamerika«, erklärte ihr Jean Claude.
»Einfach super.«
Überall standen funkelnde Weihnachtsbäume und Krippen, und allerlei Musikanten spielten zur Freude der Passanten auf.
Einmal fuhr Jean Claude mit Toni in einem Schneemobil ins Umland. Als sie einen schmalen Berg hinunterrasten, ergriff er ihre Hand. »Gefällt es dir hier?« fragte er.
Toni spürte, daß er sie nicht nur aus Höflichkeit fragte. Sie nickte. »Es ist ganz wunderbar«, sagte sie.
Alette trieb sich ständig in den Museen herum. Sie besuchte die Basilica Notre-Dame, die Good Shepherd Chapel und das Augustinermuseum, doch ansonsten interessierte sie sich kaum für Quebec. Es gab zahllose Feinschmeckerrestaurants, aber sie ging allenfalls im Le Commensal essen, einer vegetarischen Cafeteria, wenn sie nicht im Hotel speiste.
Ab und zu dachte Alette an Richard Melton, den Künstler aus San Francisco, und fragte sich, was er wohl gerade machte und ob er sich noch an sie erinnerte.
Ashley graute vor Weihnachten. Am liebsten hätte sie ihren Vater angerufen und ihn gebeten, er möge nicht herkommen. Aber was soll ich ihm sagen? Du bist ein Mörder. Ich will dich nicht sehen?
Und mit jedem weiteren Tag rückte das Weihnachtsfest näher.
»Ich möchte dir mein Juweliergeschäft zeigen«, sagte Jean Claude zu Toni. »Hast du Lust dazu?«
Toni nickte. »Aber gern.«
Parent Bijoux, so der Name des Geschäfts, lag an der Rue Notre-Dame im Herzen von Quebec. Toni war fassungslos, als sie darauf zugingen. Ich habe ein kleines Juwelier ge schäft, hatte er im Internet erklärt. Doch das hier war ein riesiger, geschmackvoll eingerichteter Laden. Ein halbes Dutzend Verkäufer kümmerten sich um die Kunden.
Toni blickte sich um. »Das - das ist ja große Klasse«, sagte sie.
Er lächelte. »Merci. Ich möchte dir ein cadeau geben - ein Geschenk, zu Weihnachten.«
»Nein. Das ist doch nicht nötig. Ich -«
»Bitte gönne mir diese Freude.« Jean Claude führte Toni zu einer Vitrine voller Ringe. »Sag mir, welchen du möchtest.«
Toni schüttelte den Kopf. »Die sind viel zu kostbar. Ich kann doch nicht -«
»Bitte.«
Toni betrachtete ihn einen Moment lang, dann nickte sie. »Na schön.« Wieder musterte sie die Vitrine. In der Mitte befand sich ein großer, mit Diamanten besetzter Smaragdring.
Jean Claude folgte ihrem Blick. »Gefällt dir der Smaragdring?«
»Er ist herrlich, aber viel zu -«
»Er gehört dir.« Jean Claude zückte einen kleinen Schlüssel, öffnete die Vitrine und holte den Ring heraus.
»Nein, Jean Claude -«
»Pour moi.« Er steckte ihn an Tonis Finger. Er paßte genau.
»Voila! Wenn das kein Zeichen ist.«
Toni drückte seine Hand. »Ich - ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Ich kann dir gar nicht erklären, wieviel Freude du mir damit machst. Hier in der Nähe gibt es ein wunderbares Restaurant namens Pavillon. Hast du Lust, mit mir heute abend dort essen zu gehen?«
»Von mir aus gern.«
»Ich hole dich um acht Uhr ab.«
Um sechs Uhr abends rief Ashleys Vater an. »Ich muß dich leider enttäuschen, Ashley. Ich kann doch nicht zum Weihnachtsfest kommen. Ich muß nach Südamerika. Ein wichtiger Patient von mir hat einen Schlaganfall erlitten. Ich fliege noch heute abend nach Argentinien.«
»Ich - das tut mir leid«, sagte Ashley. Sie versuchte so überzeugend wie möglich zu klingen.
»Wir holen es nach, nicht wahr, mein Schatz?«
»Ja, Vater. Ich wünsche dir einen angenehmen Flug.«
Toni freute sich auf das Essen mit Jean Claude. Es würde bestimmt ein zauberhafter Abend werden. Sie sang leise vor sich hin, während sie sich anzog.
»Will ich in mein Stüblein gehen, will mein Müslein essen, steht ein bucklicht Männlein da, hat’s schon selbst gegessen.«
Ich glaube, Jean Claude ist in mich verliebt, Mutter.
Das Pavillon befand sich in den riesigen Gewölben des Gare du Palais, dem alten Bahnhof von Quebec. Es war ein großes Restaurant mit einer Bar im Eingangsbereich und langen Tischreihen, die sich nach hinten erstreckten. Jede Nacht um elf Uhr wurden ein gutes Dutzend Tische beiseite geschoben, damit die Gäste Platz zum Tanzen hatten, und ein Diskjockey legte allerlei flotte Musik auf, von Reggae über Jazz bis zum Blues.
Toni und Jean Claude trafen gegen neun Uhr abends dort ein und wurden vom Besitzer herzlich begrüßt. »Monsieur Parent. Schön, Sie zu sehen.«
»Danke, Andre. Das ist Miss Toni Prescott. Mr. Nicholas.« »Freut mich sehr, Miss Prescott. Ihr Tisch steht bereit.«
»Das Essen hier ist ausgezeichnet«, versicherte Jean Claude Toni, als sie Platz genommen hatten. »Laß uns mit einem Champagner anfangen.«
Sie bestellten paillarde de veau und torpille mit Salat, dazu eine Flasche Valpolicella.
Toni betrachtete ein ums andere Mal den Smaragdring, den Jean Claude ihr geschenkt hatte. »Er ist wunderschön«, rief sie.
Jean Claude beugte sich über den Tisch. »Tu aussi. Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, daß wir uns endlich persönlich kennengelernt haben.«
»Ich auch«, sagte Toni leise.
Die Musik setzte ein. Jean Claude blickte Toni an. »Hast du Lust zu tanzen?«
»Aber gern.«
Toni war eine leidenschaftliche Tänzerin, und sobald sie auf der Tanzfläche stand, vergaß sie alles andere. Als kleines Mädchen hatte sie mit ihrem Vater getanzt, und ihre Muter hatte gesagt: »Das Kind ist ein Trampel.«
Jean Claude hielt sie eng an sich geschmiegt. »Du bist eine wunderbare Tänzerin.«
»Danke.« Hast du das gehört, Mutter?
Ich wünschte, es würde ewig so weitergehen, dachte Toni.
Auf dem Rückweg zum Hotel sagte Jean Claude: »Cherie -hast du Lust, auf einen kurzen Schlummertrunk mit zu mir nach Hause zu kommen?«
Toni zögerte. »Nicht heute abend, Jean Claude.«
»Morgen, peut-etre?«
Sie drückte seine Hand. »Morgen.«
Als Rene Picard um drei Uhr morgens mit seinem Streifenwagen die Grande-Allee im Quartier Montcalm entlangfuhr, bemerkte er, daß die Tür eines einstöckigen roten Ziegelhauses weit offenstand. Er hielt an, stieg aus und ging zu der Haustür, um nachzusehen, was da los war. »Bonsoir. Y a-t-il, quel-qu’un?« rief er.
Keine Antwort. Er trat in den Vorsaal und ging dann zu dem großen Salon. »C’est la police. Y a-t-il, quelqu’un?«
Wieder meldete sich niemand. Es war verdächtig still in dem Haus. Streifenpolizist Picard knöpfte seine Pistolentasche auf und ging durch sämtliche Zimmer im Erdgeschoß, wobei er ein ums andere Mal laut nach den Bewohnern rief. Die Stille war geradezu unheimlich. Er kehrte in die Eingangshalle zurück. Von hier aus führte eine elegant geschwungene Treppe ins Obergeschoß. »Allo?« Wieder keine Antwort.
Picard stieg die Treppe hinauf. Oben angelangt, zog er die Pistole. Wieder rief er laut nach den Bewohnern, ehe er den langen Flur entlangging. Vor ihm stand eine Schlafzimmertür einen Spaltbreit offen. Er ging hin, riß sie weit auf und wurde kreidebleich. »Mon Dieu!«
Um fünf Uhr morgens saß Inspektor Paul Cayer in seinem Büro in der Centrale de Police am Story Boulevard, dem aus grauen Steinen und gelben Ziegeln gebauten Polizeipräsidium von Quebec. »Was haben wir vorliegen?« fragte er seinen Mitarbeiter.
»Beim Opfer handelt es sich um einen gewissen Jean Claude Parent«, erwiderte Detective Guy Fontaine. »Die Leiche weist ein gutes Dutzend Stichverletzungen auf. Außerdem wurde er entmannt. Der Coroner meint, daß der Mord vor etwa drei, vier Stunden stattgefunden haben muß. In Parents Jackentasche haben wir eine Rechnung vom Pavillon gefunden. Er hat dort zu Abend gegessen. Wir haben den Besitzer des Restaurants aus dem Bett geklingelt.«
»Und?«
»Monsieur Parent war mit einer gewissen Toni Prescott dort, einer brünetten, sehr attraktiven Frau, die mit englischem Akzent sprach. Der Geschäftsführer von Monsieur Parents Juwelierladen sagt, daß er im Laufe des Tages mit einer Frau, die er als Toni Prescott vorstellte und auf die diese Beschreibung zutrifft, im Geschäft gewesen sei. Er hat ihr einen kostbaren Smaragdring geschenkt. Außerdem glauben wir, daß Monsieur Parent kurz vor seinem Tod mit jemandem Geschlechtsverkehr hatte. Bei der Tatwaffe handelt es sich allem Anschein nach um einen Brieföffner mit stählerner Schneide. Wir haben Fingerabdrücke darauf gefunden. Wir haben sie an unser Labor gegeben und ans FBI geschickt. Im Augenblick warten wir noch auf eine Antwort.«
»Hat man diese Toni Prescott aufgegriffen?«
»Non.«
»Und warum nicht?«
»Wir konnten sie noch nicht ausfindig machen. Wir haben sämtliche Hotels in der Stadt überprüft. Wir haben unsere Akten und die Unterlagen des FBI zu Rate gezogen. Es liegt keine Geburtsurkunde von ihr vor, keine Sozialversicherungsnummer, kein Führerschein.«
»Das ist doch unmöglich! Könnte sie die Stadt verlassen haben?«
Fontaine schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Inspektor. Der Flughafen schließt um Mitternacht. Der letzte Zug ist gestern um siebzehn Uhr fünfunddreißig abgefahren. Der nächste fährt erst heute morgen um sechs Uhr neununddreißig. Wir haben die Personenbeschreibung an den Busbahnhof, die beiden Taxiunternehmen und die Mietwagenfirma weitergegeben.«
»Herrgott noch mal, wir wissen, wie sie heißt, wie sie aussieht, und wir haben ihre Fingerabdrücke. Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«
Eine Stunde später traf der Bericht des FBI ein. Man hatte die Fingerabdrücke nicht zuordnen können. Außerdem gab es keinerlei Unterlagen über eine Toni Prescott.
Fünf Tage nach ihrer Rückkehr aus Quebec bekam Ashley einen Anruf von ihrem Vater. »Ich bin wieder da.«
»Da?« Es dauerte einen Moment, bis Ashley sich erinnerte. »Oh. Dein Patient in Argentinien. Wie geht’s ihm?«
»Er wird überleben.«
»Das freut mich.«
»Kannst du morgen zum Abendessen nach San Francisco hochkommen?«
Ihr graute beim bloßen Gedanken daran, ihn sehen zu müssen, aber ihr fiel keine Ausrede ein. »Von mir aus.«
»Wir treffen uns im Restaurant Lulu. Um acht Uhr.«
Ashley wartete bereits, als ihr Vater in das Restaurant kam. Wieder sah sie die bewundernden Blicke, die ihm die Leute zuwarfen, als sie ihn erkannten. Ihr Vater war ein berühmter Mann. Würde er alles, was er geleistet hatte, aufs Spiel setzen, nur damit —?
Dann war er an ihrem Tisch.
»Schön, dich zu sehen, mein Schatz. Tut mir leid, daß wir das Weihnachtsessen ausfallen lassen mußten.«
»Mir auch«, erwiderte sie. Sie mußte sich regelrecht dazu zwingen.
Sie starrte auf die Speisekarte, ohne sie wahrzunehmen, und versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
»Was möchtest du denn?«
»Ich - ich bin eigentlich gar nicht hungrig«, sagte sie.
»Du mußt aber etwas essen. Du wirst zu schmal.«
»Ich nehme das Hühnchen.«
Sie betrachtete ihren Vater, als er das Essen bestellte, und fragte sich, ob sie es wagen sollte, das Thema anzuschneiden.
»Wie war’s in Quebec?«
»Sehr interessant«, erwiderte Ashley. »Es ist eine wunderschöne Stadt.«
»Irgendwann müssen wir mal zusammen dorthin fahren.«
»Ja«, sagte sie und faßte einen Entschluß. Sie versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen. »Übrigens - ich war letzten Juni zum zehnjährigen Klassentreffen in Bedford.«
Er nickte. »Hat es dir gefallen?«
»Nein.« Sie sprach langsam, wählte sorgfältig ihre Worte. »Ich - ich habe erfahren, daß man einen Tag, nachdem du und ich nach London abgereist sind, Jim Clearys Leiche gefunden hat. Er wurde erstochen ... und entmannt.« Sie saß da und beobachtete ihn, wartete auf eine Reaktion.
Dr. Patterson runzelte die Stirn. »Cleary? Ach ja. Dieser Junge, der hinter dir her war. Vor dem habe ich dich bewahrt, nicht wahr?«
Was meinte er damit? War das ein Geständnis? Hatte er Jim Cleary umgebracht, weil er sie vor ihm bewahren wollte?
Ashley holte tief Luft und fuhr fort: »Dennis Tibble wurde auf die gleiche Art ermordet. Er wurde erstochen und entmannt.« Sie sah, wie ihr Vater ein Brötchen nahm und es sorgfältig mit Butter bestrich.
»Das überrascht mich nicht, Ashley«, sagte er schließlich. »Mit schlechten Menschen nimmt es meist ein böses Ende.«
Und das sagte ein Arzt, ein Mann, der eigentlich anderen Menschen das Leben retten sollte. Ich werde ihn nie verstehen, dachte Ashley. Ich glaube, ich will es gar nicht.
Als sie gegessen hatten, war Ashley der Wahrheit keinen Schritt nähergekommen.
»Quebec hat mir echt gefallen, Alette«, sagte Toni. »Eines Tages möchte ich mal wieder hin. Hat’s dir auch Spaß gemacht?«
»Die Museen haben mir gefallen«, erwiderte Alette schüchtern.
»Hast du deinen Freund in San Francisco schon angerufen?« sagte Toni neckend.
»Er ist nicht mein Freund.«
»Aber ich wette, das möchtet du gern, nicht?«
»Forse. Vielleicht.«
»Wieso rufst du ihn dann nicht an?«
»Ich finde, es gehört sich nicht, daß -«
»Ruf ihn an.«
Sie verabredeten sich im De Young Museum.
»Ich habe Sie vermißt«, sagte Richard Melton. »Wie war’s in Quebec?«
»Va bene.«
»Ich wünschte, ich hätte Sie begleiten können.«
Eines Tages vielleicht, dachte Alette hoffnungsvoll. »Wie kommen Sie mit Ihrer Malerei voran?«
»Nicht schlecht. Ich habe gerade eins meiner Bilder an einen bekannten Kunstsammler verkauft.«
»Phantastisch!« Sie freute sich aufrichtig. Und unwillkürlich dachte sie: Wenn ich mit ihm zusammen bin, ist alles so anders. Bei jemand anderem wäre mir dazu nur irgend etwas Abschätziges eingefallen. »Wer leidet denn derart an Geschmacksverirrung, daß er Geld für deine Bilder ausgibt« zum Beispiel, oder »Gib bloß deinen Brotberuf nicht auf« oder hundert andere bissige Bemerkungen. Aber nicht bei Richard.
Alette konnte es kaum glauben. Sie fühlte sich wie befreit, so als wäre sie von einer auszehrenden Krankheit genesen.
Sie aßen in der Cafeteria des Museums zu Mittag.
»Was möchten Sie?« fragte Richard. »Das Roastbeef hier ist ausgezeichnet.«
»Danke, aber ich bin Vegetarierin. Ich nehme bloß einen Salat.«
»Na gut.«
Eine junge, attraktive Bedienung kam an ihren Tisch. »Hallo, Richard.«
Alette spürte mit einemmal einen Stich Eifersucht. Sie wunderte sich über ihre Reaktion.
»Hallo, Bernice.«
»Wißt ihr schon, was ihr bestellen wollt?«
»Ja. Miss Peters nimmt einen Salat und ich ein Roastbeefsandwich.«
Die Kellnerin musterte Alette. Ist sie etwa eifersüchtig auf mich? fragte sich Alette. »Sie ist ziemlich hübsch«, sagte Alette, als die Bedienung wieder weg war. »Kennen Sie sie näher?« Sie errötete augenblicklich. Ich wünschte, ich hätte nicht danach gefragt.
Richard lächelte. »Ich komme ziemlich oft hierher. Anfangs hatte ich nicht viel Geld. Wenn ich mir ein Sandwich bestellt habe, hat Bernice mir ein richtiges Festmahl aufgetischt. Sie ist klasse.«
»Sie macht einen sehr netten Eindruck«, sagte Alette. Und dachte: Hat ziemlich fette Schenkel.
Anschließend unterhielten sie sich über Malerei.
»Eines Tages möchte ich mal nach Giverny fahren«, sagte Alette. »Wo Monet gemalt hat.«
»Haben Sie gewußt, daß Monet ursprünglich Karikaturist war?«
»Nein.«
»Ist aber so. Dann ist er Boudin begegnet, der ihn zu sich in die Lehre genommen und dazu überredet hat, draußen in der Natur zu malen. Es gibt eine großartige Geschichte darüber. Monet war schließlich so auf die Arbeit unter freiem Himmel versessen, daß er einmal, als er eine Frau im Garten malen wollte, einen Graben ausheben ließ, damit er die rund zweieinhalb Meter hohe Leinwand mittels Flaschenzügen je nach Bedarf versenken und wieder hochfahren konnte. Das Bild hängt heute im Musee d’Orsay in Paris.«
Die Zeit verging wie im Flug.
Nach dem Essen streiften Alette und Richard durch die Räume und schauten sich die diversen Ausstellungsstücke an. Das Museum besaß über vierzigtausend Exponate aus sämtlichen Epochen, von altägyptischer Kunst bis zu zeitgenössischer amerikanischer Malerei.
Alette konnte es noch immer kaum fassen, daß sie von keinerlei düsteren Gedanken heimgesucht wurde, wenn sie mit Richard zusammen war. Che cosa significa?
Ein Wächter in Uniform kam auf sie zu. »Guten Tag, Richard.«
»Hallo, Brian. Das ist Alette Peters, eine Freundin. Brian Hill.«
»Gefällt’s Ihnen hier im Museum?« fragte Brian, an Alette gewandt.
»O ja. Es ist wunderbar.«
»Richard bringt mir das Malen bei.«
Alette schaute Richard an. »Wirklich?«
»Ach, ich gehe ihm doch nur ein bißchen zur Hand.«
»Das ist stark untertrieben, Miss. Ich wollte schon immer Maler werden. Deshalb hab’ ich den Job hier im Museum angenommen. Weil ich Kunst mag. Jedenfalls ist Richard ziemlich oft hergekommen und hat gemalt. Als ich seine Arbeiten gesehen habe, hab’ ich gedacht: >Genau das will ich auch machenc. Also hab’ ich ihn gefragt, ob er mir Unterricht gibt. Und er ist einfach großartig. Haben Sie mal Bilder von ihm gesehen?«
»Jawohl«, sagte Alette. »Sie sind wunderbar.«
»Ich finde das ganz reizend von Ihnen, Richard«, sagte Alet-te, als sie weitergingen.
»Ich bin gern für andere da.« Und er blickte Alette an.
»Mein Wohnungsgenosse ist heute abend auf einer Party«, sagte Richard, als sie das Museum verließen. »Wollen wir nicht zu mir gehen?« Er lächelte. »Ich möchte Ihnen ein paar Bilder zeigen.«
Alette drückte seine Hand. »Noch nicht, Richard.«
»Ganz wie Sie wollen. Sehen wir uns nächstes Wochenende wieder?«
»Ja.«
Er hatte ja keine Ahnung, wie sehr sie sich darauf freute.
Richard brachte Alette zu ihrem Wagen, der auf dem Parkplatz stand. Sie winkte ihm zu, als sie wegfuhr.
Es ist das reinste Wunder, dachte Alette, als sie an diesem Abend schlafen ging. Richard hat mich befreit. In dieser Nacht träumte sie von ihm.
Um zwei Uhr morgens kam Gary, Richards Wohnungsgenosse, von einer Geburtstagsfeier nach Hause. Die Wohnung war dunkel. Er schaltete das Licht im Wohnzimmer ein. »Richard?«
Er ging nach hinten, zum Schlafzimmer. Er warf einen Blick durch die offene Tür, dann wurde ihm übel.
»Beruhigen Sie sich.« Detective Whittier musterte den zitternden jungen Mann, der vor ihm im Sessel saß. »Fangen wir noch mal von vorn an. Hatte er irgendwelche Feinde? Wer könnte einen solchen Haß auf ihn gehabt haben, daß er ihm so was antut?«
Gary schluckte. »Nein. Jeder - alle haben Richard gemocht.«
»Irgend jemand anscheinend nicht. Wie lange wohnen Sie schon zusammen?«
»Seit zwei Jahren.«
»Waren Sie ein Paar?«
»Um Himmels willen, nein«, sagte Gary indigniert. »Wir waren miteinander befreundet. Wir haben zusammengewohnt, weil’s zu zweit billiger ist.«
Detective Whittier sah sich in der kleinen Wohnung um. »Ein Einbruch war’s garantiert nicht«, sagte er. »Hier gibt’s nichts zu holen. Hatte Ihr Mitbewohner eine engere Beziehung zu jemandem?«
»Nein - das heißt, ja. Er hat ein Mädchen kennengelernt. Ich glaube, er war dabei, sich in sie zu verlieben.«
»Wissen Sie, wie sie heißt?«
»Ja. Alette. Alette Peters. Sie wohnt in Cupertino.« Detective Whittier und Detective Reynolds schauten sich an.
»In Cupertino?«
»Herrgott«, sagte Reynolds.
Eine halbe Stunde später telefonierte Detective Whittier mit Sheriff Dowling. »Sheriff, ich dachte, es interessiert Sie vielleicht, daß wir hier einen Mordfall vorliegen haben, bei dem der Täter nach dem gleichen Muster vorgegangen ist wie drunten bei euch in Cupertino - das Opfer weist zahlreiche Stichwunden auf und wurde entmannt.«
»Mein Gott!«
»Ich habe gerade mit dem FBI gesprochen. Die haben ihren Computer befragt und sind auf drei ähnlich gelagerte Mordfälle gestoßen. Immer wurde das Opfer entmannt. Der erste geschah vor rund zehn Jahren in Bedford, Pennsylvania. Das nächste Opfer war ein gewisser Dennis Tibble - das ist der Fall, an dem Sie dran sind. Danach, an Weihnachten, gab’s einen ähnlichen Mord droben in Quebec, und jetzt den hier.«
»Ich kapiere das nicht. Pennsylvania . Cupertino . Quebec ... San Francisco ... soll da irgendein Zusammenhang bestehen?«
»Das versuchen wir gerade herauszufinden. Bei der Einreise nach Kanada muß man einen Paß vorlegen. Aufgrund dessen versucht das FBI gerade festzustellen, ob jemand, der um die Weihnachtszeit in Quebec gewesen ist, sich auch in den anderen Städten aufgehalten hat, als dort die Morde geschahen ...«
Als die Presse Wind von der Sache bekam, sorgte der Fall weltweit für Schlagzeilen.
Opfer kastriert - Ganz Amerika auf der Jagd nach einem Serienmörder ...
Quatre hommes brutalement tues et castres ...
Serial killer loose ...
Im Fernsehen ließen sich allerlei selbsternannte Kriminalpsychologen über die Morde aus.
». und bei allen Opfern handelt es sich um Männer. Da sie alle erstochen und entmannt wurden, haben wir es bei dem Täter ohne jeden Zweifel mit einem Homosexuellen zu tun, der .«
». und wenn die Polizei herausfindet, was all diese Männer miteinander gemein hatten, wird man vermutlich feststellen, daß dies das Werk eines verschmähten Liebhabers ist .«
». ich würde eher meinen, daß die Opfer ihrem Mörder rein zufällig über den Weg gelaufen sind und daß es sich bei dem Täter um jemanden handelt, der unter einer dominanten Mutter gelitten hat .«
Am Samstag morgen rief Detective Whittier von San Francisco bei Deputy Blake an.
»Sheriff, ich hab’ was Neues für Sie.«
»Schießen Sie los.«
»Das FBI hat grade bei mir angerufen. In Cupertino wohnt jemand, der sich zu der Zeit, als dieser Parent ermordet wurde, in Quebec aufgehalten hat.«
»Ist ja interessant. Wie heißt er?«
»Es ist eine Sie. Patterson. Ashley Patterson.«
Um sechs Uhr abends klingelte Deputy Sam Blake an Ashley Pattersons Wohnung. »Wer ist da?« hörte er sie durch die geschlossene Tür rufen.
»Deputy Blake. Ich möchte gern ein paar Worte mit Ihnen reden, Miss Patterson.«
Zunächst rührte sich lange nichts, dann wurde die Tür geöffnet. Ashley stand da und blickte ihn mißtrauisch an.
»Darf ich reinkommen?«
»Ja, natürlich.« Geht es um Vater? Ich muß vorsichtig sein. Ashley ging zur Couch. »Was kann ich für Sie tun, Deputy?«
»Haben Sie was dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«
Ashley rutschte unbehaglich hin und her. »Ich - ich weiß nicht recht. Habe ich mir irgend etwas zuschulden kommen lassen?«
Er lächelte beruhigend. »Ganz und gar nicht, Miss Patterson. Das hier ist reine Routine. Wir untersuchen einige Mordfälle.« »Davon habe ich keine Ahnung«, erwiderte sie rasch. Zu rasch?
»Sie waren doch in Quebec, nicht wahr?«
»Ja.«
»Kennen Sie einen gewissen Jean Claude Parent?«
»Jean Claude Parent?« Sie dachte einen Moment lang nach. »Nein. Nie gehört. Wer soll das sein?«
»Ein Juwelier aus Quebec.«
Ashley schüttelte den Kopf. »Ich war in Quebec bei keinem Juwelier.«
»Sie haben doch mit Dennis Tibble zusammengearbeitet?« Allmählich bekam es Ashley wieder mit der Angst zu tun. Es ging also doch um ihren Vater. »Wir haben nicht zusammengearbeitet. Er war nur bei der gleichen Firma beschäftigt wie ich.«
»Natürlich. Sie fahren doch gelegentlich nach San Francisco, nicht wahr, Miss Patterson?«
Ashley fragte sich, worauf er jetzt hinauswollte. Vorsicht. »Ja, ab und zu.«
»Kennen Sie einen gewissen Richard Melton, einen Künstler, der dort lebt?«
»Nein. Den Namen höre ich zum ersten Mal.«
Deputy Blake saß da und musterte Ashley frustriert. »Hätten Sie was dagegen, mit aufs Revier zu kommen und sich einem Lügendetektortest zu unterziehen? Wenn Sie wollen, können Sie Ihren Anwalt anrufen und -«
»Ich brauche keinen Anwalt. Sie können mich gern auf die Probe stellen.«
Keith Rosson war ein ausgewiesener Experte für Lügendetektorbefragungen, einer der besten seines Fachs. Er mußte eigens eine Verabredung zum Abendessen absagen, aber wenn Sam Blake ihn um einen Gefallen bat, konnte er nicht nein sagen.
Ashley nahm in einem Sessel Platz und ließ sich die Elektroden ankleben. Rosson hatte sich bereits eine gute Dreiviertelstunde mit ihr unterhalten, sich nach ihrem Werdegang und ihrem Privatleben erkundigt, und dabei festzustellen versucht, in welchem Gemütszustand sie sich befand. Jetzt war er bereit.
»Fühlen Sie sich wohl?«
»Ja.«
»Gut. Fangen wir an.« Er drückte auf einen Knopf. »Wie heißen Sie?«
»Ashley Patterson.«
Rosson schaute Ashley an und warf dann einen kurzen Blick auf den Ausdruck.
»Wie alt sind Sie, Miss Patterson?«
»Achtundzwanzig.«
»Wo wohnen Sie?«
»Am Via Camino Court 10964 in Cupertino.«
»Sind Sie berufstätig?«
»Ja.«
»Mögen Sie klassische Musik?«
»Ja.«
»Kennen Sie Richard Melton?« »Nein.«
Auf dem Polygraph war nichts Ungewöhnliches festzustellen.
»Wo arbeiten Sie?«
»Bei der Global Computer Graphics Corporation.«
»Macht Ihnen Ihr Beruf Spaß?«
»Ja.«
»Sind Sie als Vollzeitkraft beschäftigt?«
»Ja.«
»Kennen Sie Jean Claude Parent?«
»Nein.«
Nach wie vor kein Ausschlag.
»Haben Sie heute morgen gefrühstückt?«
»Ja.«
»Haben Sie Dennis Tibble ermordet?«
»Nein.«
So ging es eine gute halbe Stunde lang weiter. Er erkundigte sich nach Belanglosigkeiten, stellte ihr dann unverhofft Fangfragen und wiederholte das Ganze dreimal in veränderter Reihenfolge.
Anschließend ging Keith Rosson in Sam Blakes Büro und reichte ihm den Ausdruck. »So sauber wie nur was. Eins zu hundert, daß die gelogen hat. Die war’s garantiert nicht.«
Ashley war fast schwindlig vor Erleichterung, als sie das Polizeirevier verließ. Gott sei Dank, das ist vorbei. Sie hatte Angst gehabt, daß man sie nach ihrem Vater fragen würde, doch das war nicht geschehen. Jetzt gibt es keinerlei Verbindung mehr zu meinem Vater, dachte Ashley. Ich muß mir keine Sorgen mehr machen.
Sie stellte ihren Wagen in der Tiefgarage ab und fuhr mit dem Aufzug hoch zu ihrer Wohnung. Sie schloß die Tür auf, ging hinein und schloß sämtliche Riegel hinter sich. Sie war todmüde und gleichzeitig bester Stimmung. Ein heißes Bad würde mir jetzt guttun, dachte Ashley. Sie ging ins Badezimmer und wurde kreidebleich. Du wirst sterben, hatte jemand mit hellrotem Lippenstift auf den Spiegel geschmiert.
Sie war schier außer sich. Ihre Hände zitterten derart, daß sie sich dreimal verwählte. Sie atmete tief durch und versuchte es ein weiteres Mal. Zwei ... neun ... neun ... zwei ... eins ... null . eins . Endlich bekam sie eine Verbindung.
»Sheriffdienststelle.«
»Deputy Blake, bitte. Es eilt!«
»Deputy Blake ist bereits nach Hause gegangen. Kann vielleicht jemand anders -?«
»Nein! Ich - könnten Sie ihn darum bitten, daß er mich zurückrufen soll? Mein Name ist Ashley Patterson. Ich muß ihn dringend sprechen.«
»Warten Sie bitte einen Moment. Mal sehen, ob ich ihn erreichen kann.«
Deputy Blake ließ das Geschrei seiner Frau seelenruhig über sich ergehen. »Mein Bruder läßt dich Tag und Nacht schuften wie einen Kuli, und das Gehalt, das er dafür zahlt, reicht hinten und vorne nicht. Wieso verlangst du nicht endlich eine Lohnerhöhung? Warum?«
Sie saßen beim Abendessen. »Würdest du mir bitte die Kartoffeln reichen, meine Liebe?«
Serena nahm die Schüssel und knallte sie vor ihm hin. »Die wissen überhaupt nicht, was du leistest.«
»Ganz recht. Dürfte ich mal die Soße haben?«
»Hörst du mir überhaupt zu?« brüllte sie.
»Ganz genau, meine Liebe. Das Essen ist köstlich. Du bist eine prima Köchin.«
»Du Mistkerl. Wie soll ich mich denn mit dir streiten, wenn du dich nicht wehrst?«
Er kostete einen Bissen Kalbfleisch. »Das liegt daran, daß ich dich liebe, mein Schatz.«
Das Telefon klingelte. »Entschuldige bitte.« Er stand auf und nahm den Hörer ab.
»Hallo ... Ja ... Stellen Sie sie durch ... Miss Patterson.« Er hörte sie schluchzen.
»Jemand - hier ist etwas Schreckliches passiert. Sie müssen sofort vorbeikommen.«
»Bin schon unterwegs.«
Serena sprang auf. »Was? Willst du etwa schon wieder gehen? Mitten beim Abendessen?«
»Es handelt sich um einen Notfall, mein Schatz. Ich sehe zu, daß ich so schnell wie möglich wieder zurück bin.«
Sie musterte ihn argwöhnisch, als er seine Waffe umschnallte. Er beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen Kuß. »Das Essen war wunderbar.«
Ashley öffnete ihm sofort die Tür. Ihre Wangen waren tränennaß. Sie zitterte am ganzen Leib.
Sam Blake ging in die Wohnung und blickte sich argwöhnisch um.
»Ist irgend jemand hier?«
»Je-jemand war hier.« Sie konnte sich nur mühsam beherrschen. »Se-sehen Sie ...« Sie führte ihn ins Badezimmer.
Deputy Blake las laut vor, was auf dem Badezimmerspiegel stand. »Du wirst sterben.«
Er wandte sich an Ashley. »Haben Sie eine Ahnung, wer das geschrieben haben könnte?«
»Nein«, sagte Ashley. »Das ist meine Wohnung. Niemand anders hat einen Schlüssel . Aber irgend jemand dringt hier ein ... Jemand, der mir nachstellt. Jemand will mich umbringen.« Sie brach in Tränen aus. »Ich - ich halte das nicht mehr aus.«
Sie weinte hemmungslos. Deputy Blake legte den Arm um sie und tätschelte ihr die Schulter. »Kommen Sie. Alles wird wieder gut. Wir geben Ihnen Personenschutz. Und wir werden herausfinden, wer dahintersteckt.«
Ashley holte tief Luft. »Entschuldigen Sie. Ich - ich führe mich normalerweise nicht so auf. Aber es - es war einfach schrecklich.«
»Unterhalten wir uns«, sagte Sam Blake.
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Von mir aus.«
»Wie wär’s mit einer Tasse Tee?«
Sie saßen da und redeten bei etlichen Tassen heißem Tee miteinander. »Wann hat das Ganze angefangen, Miss Patterson?«
»Vor - vor etwa einem halben Jahr. Ich hatte das Gefühl, daß mir jemand folgt. Zuerst war es nur eine leise Ahnung, aber dann wurde es immer stärker. Ich wußte, daß mir jemand nachstellt, aber ich habe niemanden bemerkt. Dann ist jemand in meinen Computer in der Firma eingedrungen und hat ein Bild hinterlassen. Eine Hand mit einem Messer, die auf mich -auf mich einsticht.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«
»Nein.«
»Sie sagten, daß schon früher jemand in Ihre Wohnung eingedrungen ist?«
»Ja. Einmal hat jemand sämtliche Lichter eingeschaltet, als ich nicht da war. Und ein andermal habe ich eine Zigarettenkippe auf meiner Frisierkommode gefunden. Ich rauche aber nicht.« Sie atmete tief durch. »Und jetzt ... das hier.«
»Gibt es irgendwelche Männer, die sich von Ihnen zurückgewiesen vorkommen könnten?«
Ashley schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Haben Sie geschäftlich mit jemandem zu tun, der durch Sie Geld verloren hat?«
»Nein.«
»Hat Sie jemand bedroht?« »Nein.« Sie überlegte sich, ob sie ihm von dem Wochenende erzählen sollte, das sie unfreiwillig in Chicago verbracht hatte, aber dann müßte sie ihren Vater erwähnen. Sie beschloß, es lieber zu unterlassen.
»Ich möchte heute nacht nicht allein sein«, sagte Ashley.
»Na schön. Ich rufe in der Dienststelle an und lasse jemanden vorbeischicken, der -«
»Nein! Bitte! Ich traue niemandem. Könnten Sie nicht bis morgen früh bei mir bleiben?«
»Ich glaube nicht, daß ich -«
»Bitte.« Sie zitterte am ganzen Leib.
Er schaute ihr in die Augen. Noch nie hatte er jemanden gesehen, der derart panisch wirkte.
»Könnten Sie heute nacht nicht irgendwo anders unterkommen? Haben Sie keine Freunde, bei -?«
»Was ist, wenn einer meiner Freunde dahintersteckt?«
Er nickte. »Stimmt. Ich bleibe hier. Morgen früh sorge ich dafür, daß man Sie rund um die Uhr bewacht.«
»Vielen Dank.« Man hörte ihr an, wie erleichtert sie war.
Er tätschelte Ashleys Hand. »Keine Sorge. Ich verspreche Ihnen, daß wir der Sache auf den Grund gehen. Ich rufe kurz bei Sheriff Dowling an und sage ihm Bescheid.«
Er telefonierte etwa fünf Minuten und legte dann auf. »Ich rufe jetzt lieber meine Frau an.«
»Natürlich.«
Deputy Blake griff wieder zum Telefon und wählte. »Hallo, meine Liebe. Ich komme heute nacht nicht nach Hause, aber du kannst ja ein bißchen fern -«
»Was machst du? Wo steckst du? Wieder bei einer von deinen billigen Huren?«
Ashley hörte ihr lautes Geschrei am Telefon.
»Serena -«
»Mir machst du nichts weis.«
»Serena -« »Euch Männern geht’s doch immer nur um das eine - die Bumserei.«
»Serena -«
»Ich laß mir das jedenfalls nicht mehr bieten.«
»Serena -«
»Das ist also der Dank dafür, daß ich immer für dich dagewesen bin .«
Die einseitige Unterhaltung zog sich noch weitere zehn Minuten hin. Schließlich legte Deputy Blake den Hörer auf und wandte sich sichtlich betreten an Ashley.
»Entschuldigen Sie bitte. Eigentlich ist sie ganz anders.«
Ashley schaute ihn an. »Ich verstehe«, sagte sie.
»Nein - ich mein’s ernst. Serena benimmt sich nur so, weil sie Angst hat.«
Ashley schaute ihn verwundert an. »Angst?«
Er schwieg einen Moment. »Serena ist todkrank. Sie hat Krebs. Eine Zeitlang schien es ihr wieder besserzugehen. Es fing vor etwa sieben Jahren an. Wir haben vor fünf Jahren geheiratet.«
»Dann wußten Sie also ...?«
»Ja. Es war egal. Ich liebe sie.« Er stockte. »In letzter Zeit ist es wieder schlimmer geworden. Sie fürchtet sich vor dem Tod, und sie hat Angst, ich könnte sie verlassen. Mit der ganzen Schreierei will sie nur ihre Angst verbergen.«
»Ich, äh - das tut mir leid.«
»Sie ist ein wunderbarer Mensch. Im Grunde ihres Herzens ist sie sanftmütig, fürsorglich und liebevoll.«
»Tut mir leid, wenn ich Ihnen -«
»Ganz und gar nicht.« Er blickte sich um.
»Es gibt nur ein Schlafzimmer«, sagte Ashley. »Sie können das Bett haben, und ich schlafe auf der Couch.«
Deputy Blake schüttelte den Kopf. »Für mich tut’s auch die Couch.«
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin«, sagte Ashley.
»Keine Ursache, Miss Patterson.« Er betrachtete sie, als sie an einen Wäscheschrank trat und Laken und Zudecke herausholte.
Sie ging zur Couch und breitete das Laken aus. »Ich hoffe, daß Sie -«
»Bestens. Außerdem habe ich sowieso nicht vor, viel zu schlafen.« Er überprüfte die Fenster und versicherte sich, daß sie verriegelt waren, ging dann zur Tür und drehte den Schlüssel zweimal um. »In Ordnung.« Er legte seine Dienstwaffe auf den Couchtisch. »Schlafen Sie gut. Morgen früh werden wir alles weitere veranlassen.«
Ashley nickte. Sie ging zu ihm und küßte ihn auf die Wange. »Vielen Dank.«
Deputy Blake schaute ihr nach, als sie sich ins Schlafzimmer begab und die Tür hinter sich zuzog. Er ging wieder zu den Fenstern und überprüfte sie noch einmal. Es würde eine lange Nacht werden.
In der FBI-Zentrale in Washington unterhielt sich Agent Ramirez mit Roland Kingsley, seinem Abteilungsleiter.
»Wir haben die Auswertung der Fingerabdrücke und die DNS-Analyse der Spuren vorliegen, die an den Tatorten in Bedford, Cupertino, Quebec und San Francisco gefunden wurden. Der letzte Laborbericht ist soeben eingetroffen. Die Fingerabdrücke an sämtlichen Tatorten stimmen überein, und laut DNS-Untersuchung handelt es sich um ein und denselben Täter.«
Kingsley nickte. »Wir haben es also eindeutig mit einem Serienmörder zu tun.«
»Ohne jeden Zweifel.«
»Dann sollten wir den Mistkerl schleunigst dingfest machen.«
Um sechs Uhr morgens fand die Frau des Hausmeisters in der Gasse hinter dem Haus, in dem Ashley Patterson wohnte, die nackte Leiche von Deputy Sam Blake.
Jemand hatte ihn erstochen und entmannt.
Sie waren zu fünft - Sheriff Dowling, zwei Kriminalpolizisten in Zivil und zwei Polizisten in Uniform. Sie standen im Wohnzimmer und betrachteten Ashley, die in einem Sessel saß und hemmungslos weinte.
»Sie sind die einzige, die uns helfen kann, Miss Patterson«, sagte Sheriff Dowling.
Ashley blickte auf und nickte. Sie atmete ein paarmal tief durch. »Ich - will’s versuchen.«
»Fangen wir von vorne an. Deputy Blake ist also über Nacht hiergeblieben?«
»J-ja. Ich habe ihn darum gebeten. Ich - ich hatte fürchterliche Angst.«
»In dieser Wohnung gibt es nur ein Schlafzimmer.«
»Ganz recht.«
»Wo hat Deputy Blake geschlafen?«
Ashley deutete auf die Couch, auf der ein Laken und ein Kissen lagen. »Er hat die Nacht dort verbracht.«
»Wann sind Sie zu Bett gegangen?«
Ashley dachte einen Moment lang nach. »Es - muß gegen Mitternacht gewesen sein. Ich war nervös. Wir haben eine Weile zusammengesessen und Tee getrunken, bis ich mich etwas beruhigt hatte. Dann habe ich Bettwäsche und ein Kissen für ihn geholt und bin in mein Schlafzimmer gegangen.« Sie konnte sich nur mühsam beherrschen.
»Und das war das letzte Mal, daß Sie ihn gesehen haben?«
»Ja.«
»Und dann haben Sie geschlafen?«
»Nicht gleich. Ich habe dann eine Schlaftablette genommen. Ich weiß nur, daß ich durch das Geschrei einer Frau drunten in der Gasse aufgewacht bin.« Sie fing an zu zittern.
»Glauben Sie, daß jemand in Ihre Wohnung gekommen ist und Deputy Blake umgebracht hat?«
»Ich - ich weiß es nicht«, sagte Ashley verzweifelt. »Irgend jemand ist vorher schon mal hier eingedrungen. Man hat sogar eine Todesdrohung auf meinen Badezimmerspiegel geschmiert.«
»Davon hat er mir am Telefon berichtet.«
»Vielleicht hat er irgendwas gehört und - und ist hinausgegangen, um nachzusehen«, sagte Ashley.
Sheriff Dowling schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß er nackt rausgegangen ist.«
Ashley weinte wieder. »Ich weiß es nicht! Ich weiß überhaupt nichts! Das ist ein Alptraum.« Sie schlug die Hände vor die Augen.
»Ich möchte mich mal in der Wohnung umsehen. Brauche ich dazu einen Durchsuchungsbefehl?« fragte Sheriff Dowling.
»Natürlich nicht. N-nur zu.«
Sheriff Dowling nickte den beiden Kriminalpolizisten zu. Einer von ihnen ging ins Schlafzimmer, der andere in die Küche.
»Worüber haben Sie und Deputy Blake sich unterhalten?«
Ashley holte tief Luft. »Ich - ich habe ihm von - von den Sachen erzählt, die mir passiert sind. Er war sehr -« Sie blickte zum Sheriff auf. »Warum sollte ihn jemand umbringen? Wieso?«
»Ich weiß es nicht, Miss Patterson. Aber wir werden es herausfinden.«
»Kann ich Sie kurz sprechen, Sheriff?« Lieutenant Elton, der Kriminalpolizist, der sich die Küche vorgenommen hatte, stand unter der Tür.
»Entschuldigen Sie mich einen Moment.«
Sheriff Dowling ging in die Küche.
»Was gibt’s?«
»Das hier habe ich in der Spüle gefunden«, sagte Lieutenant Elton. Er hielt ein blutbeflecktes Schlachtermesser hoch, das er mit den Fingern an der Klinge gefaßt hatte. »Es ist nicht abgewaschen worden. Darauf finden wir bestimmt Fingerabdrücke.«
Kostoff, der zweite Kriminalpolizist, kam aus dem Schlafzimmer und ging raschen Schrittes in die Küche. Er hatte einen mit Diamanten besetzten Smaragdring in der Hand. »Den habe ich im Schmuckkästchen im Schlafzimmer gefunden. Anhand der Beschreibung, die wir aus Quebec erhalten haben, könnte es sich um den Ring handeln, den Jean Claude Parent dieser Toni Prescott geschenkt hat.«
Die drei Männer blickten einander an.
»Jetzt versteh’ ich überhaupt nichts mehr«, sagte der Sheriff. Vorsichtig nahm er das Schlachtermesser und den Ring und ging ins Wohnzimmer. »Miss Patterson«, sagte er und hielt ihr das Messer hin, »gehört Ihnen dieses Messer?«
Ashley betrachtete es. »Ich -ja. Schon möglich. Wieso?«
Sheriff Dowling hielt ihr den Ring hin. »Haben Sie diesen Ring schon mal gesehen?«
Ashley schaute ihn an und schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Wir haben ihn in Ihrem Schmuckkasten gefunden.«
Sie achteten auf ihre Miene. Sie wirkte völlig verdutzt.
»Ich - jemand muß ihn da hineingelegt haben ...«, flüsterte sie.
»Wer sollte denn so etwas tun?«
Sie war kreidebleich. »Ich weiß es nicht.«
Ein Kriminalpolizist kam zur Wohnungstür herein. »Sheriff?«
»Ja, Baker?« Er winkte den Sheriff in die andere Ecke. »Was haben Sie entdeckt?«
»Wir haben Blutflecken auf dem Läufer im Flur und im Fahrstuhl gefunden. Sieht so aus, als ob die Leiche auf ein Laken gelegt, in den Fahrstuhl geschleppt und in die Gasse geschafft wurde.«
»Verfluchte Scheiße!« Sheriff Dowling wandte sich an Ash-ley. »Miss Patterson, Sie sind verhaftet. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen oder tun, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, sich einen Anwalt zu nehmen. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird das Gericht einen für Sie bestellen.«
»Nehmt ihre Fingerabdrücke und buchtet sie ein«, sagte Sheriff Dowling, als sie in die Dienststelle kamen.
Ashley ließ alles wie versteinert über sich ergehen. Als die Prozdeur erledigt war, sagte Sheriff Dowling: »Sie haben das Recht, einen Anruf zu tätigen.«
Ashley blickte zu ihm auf. »Es gibt niemanden, den ich anrufen könnte«, sagte sie tonlos. Meinen Vater kann ich nicht anrufen.
Sheriff Dowling blickte Ashley nach, als man sie in eine Zelle führte. »Verdammt noch mal, das kapiere ich nicht. Haben Sie den Lügendetektortest gesehen? Ich würde schwören, daß sie unschuldig ist.«
Detective Kostoff kam herein. »Sam hatte kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr. Wir haben seine Leiche und das Laken, in das er gewickelt war, mit ultraviolettem Licht untersucht und eindeutig Samenspuren und Vaginalsekret gefunden. Wir -«
Sheriff Dowling stöhnte auf. »Moment mal!« Bislang hatte er sich darum gedrückt, seiner Schwester die traurige Nachricht zu überbringen. Aber jetzt konnte er es nicht länger aufschieben. Er seufzte. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er.
Eine halbe Stunde später war er in Sams Haus und redete mit Serena.
»Na, wenn das keine Überraschung ist«, sagte Serena. »Ist Sam auch dabei?«
»Nein, Serena. Aber ich muß dich etwas fragen.« Leicht würde das bestimmt nicht werden.
Sie schaute ihn neugierig an. »Und zwar?«
»Hast - hast du innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden mit Sam geschlafen?«
Ihre Stimmung schlug um. »Nein. Wieso willst du das -? Sam kommt nicht zurück, was?«
»Es ist mir furchtbar, dir das zu erzählen, aber er -«
»Er hat mich sitzengelassen, was? Ich hab’ gewußt, daß es dazu kommt. Ich kann’s ihm nicht verübeln. Ich hab’ mich ihm gegenüber fürchterlich aufgeführt. Ich -«
»Serena, Sam ist tot.«
»Ich hab ihn ständig angebrüllt. Ich hab’s wirklich nicht gewollt. Ich weiß noch -«
Er ergriff ihre Arme. »Serena, Sam ist tot.«
»Wir sind mal raus zum Strand gefahren und -«
Er schüttelte sie. »Hör mir zu. Sam ist tot.«
»- und wollten dort picknicken.«
Als er ihr in die Augen schaute, stellte er fest, daß sie ihn sehr wohl verstanden hatte.
»Und wir sitzen also am Strand, und ein Mann kommt daher und sagt: >Raus mit eurem Geld.< Und Sam sagt: >Zeig mir erst mal deine Waffe.<«
Sheriff Dowling ließ sie weiterreden. Sie stand unter Schock und sperrte sich einfach dagegen.
»... so einer war Sam. Erzähl mir was über die Frau, mit der er abgehauen ist. Ist sie wenigstens hübsch? Sam sagt mir ständig, wie hübsch ich wäre, aber ich weiß, daß ich es nicht bin. Er sagt das bloß, damit ich mir wer weiß wie vorkomme, weil er mich nämlich liebt. Der würde mich nie verlassen. Der kommt wieder. Er liebt mich nämlich.« Sie redete immer weiter.
Sheriff Dowling ging zum Telefon und wählte eine Nummer. »Schicken Sie eine Pflegerin vorbei.« Dann kehrte er zu seiner Schwester zurück und nahm sie in die Arme. »Alles wird wieder gut.« »Hab ich dir schon mal erzählt, wie Sam und ich -?«
Eine Viertelstunde später traf die Pflegerin ein.
»Passen Sie gut auf sie auf«, sagte Sheriff Dowling.
In Sheriff Dowlings Büro fand gerade eine Besprechung statt, als sich die Telefonzentrale meldete. »Ein Anruf für Sie. Auf Apparat eins.«
Sheriff Dowling nahm den Hörer ab. »Ja?«
»Sheriff, hier spricht Special Agent Ramirez von der FBI-Zentrale in Washington. Wir haben neue Erkenntnisse zu diesen Mordfällen vorliegen. Wir konnten die Fingerabdrücke nicht vergleichen, weil wir kein Vorstrafenregister über eine Ashley Patterson vorliegen haben, und weil die kalifornische Verkehrszulassungsbehörde erst seit 1988 einen Daumenabdruck verlangt, wenn man einen Führerschein erwerben will.«
»Fahren Sie fort.«
»Zunächst dachten wir, der Computer spinnt, aber dann haben wir es überprüft und .«
Fünf Minuten lang saß Sheriff Dowling da und hörte mit ungläubiger Miene zu. »Sind Sie sicher, daß kein Irrtum vorliegt?« sagte er schließlich. »Das kommt mir ... Alle fünf .? Verstehe ... Herzlichen Dank.«
Er legte den Hörer auf und saß eine ganze Weile schweigend da. Dann blickte er auf. »Das war jemand vom FBI-Labor in Washington. Die haben gerade den Vergleich der Fingerabdrücke und der DNS-Codes abgeschlossen. Jean Claude Parent aus Quebec wurde kurz vor seinem Tod mit einer Engländerin namens Toni Prescott gesehen.«
»Ja.«
»Richard Melton aus San Francisco traf sich, kurz bevor er ermordet wurde, mit einer Italienerin namens Alette Peters.«
Die anderen nickten.
»Und letzte Nacht war Sam Blake bei Ashley Patterson.«
»Richtig.«
Sheriff Dowling atmete tief durch. »Ashley Patterson ...« »Ja?«
»Toni Prescott .«
»Ja?«
»Alette Peters ...«
»Ja?«
»Das ist ein und dieselbe Person.«