ZWEITES BUCH

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Robert Crowther von der Immobilienmaklerfirma Bryant & Crowther riß schwungvoll die Tür auf. »Und das ist die Terrasse«, rief er. »Von dort aus haben Sie freien Blick auf den Coit Tower.«

Er musterte das junge Paar, das ihm nach draußen folgte und sich über die Brüstung beugte. Man hatte einen großartigen Ausblick auf ganz San Fransisco, das sich tief unten nach allen Seiten ausbreitete. Robert Crowther sah den kurzen Blick, den sich die beiden zuwarfen, und das verstohlene Lächeln, und er mußte insgeheim grinsen. Sie versuchten sich ihre Begeisterung nicht anmerken zu lassen. Es lief immer wieder aufs gleiche hinaus. Die Kunden meinten immer, sie trieben nur den Preis hoch, wenn sie allzu großes Interesse bekundeten.

Diese Penthouse-Maisonette, dachte Crowther verschmitzt, ist sowieso schon teuer genug. Er hatte eher Bedenken, ob sich das Pärchen so was überhaupt leisten konnte. Der Mann war Anwalt, und junge Anwälte verdienen nicht besonders gut.

Aber die beiden machten was her, und offensichtlich waren sie schwer ineinander verliebt. David Singer war Anfang Dreißig, blond, sah intelligent aus, und wirkte entwaffnend jungenhaft. Sandra, seine Frau, sah warmherzig und bezaubernd aus.

Robert Crowther hatte ihr Bäuchlein sehr wohl bemerkt und prompt auf das zweite Gästezimmer verwiesen, das sich sehr gut als Kinderzimmer eignen würde. »Außerdem gibt es eine Straße weiter einen Spielplatz, und ganz in der Nähe sind zwei Schulen.« Er sah, wie sie sich wieder verstohlen zulächelten.

Im oberen Geschoß der Penthouse-Maisonette befanden sich das Schlafzimmer, das Badezimmer und ein Gästezimmer, unten ein großes Wohnzimmer, ein Eßzimmer, Bibliothek und Küche, noch ein Gästezimmer und zwei Badezimmer. Von fast allen Räumen aus hatte man freien Blick auf die Stadt.

Robert beobachtete die beiden, als sie noch einmal durch die ganze Wohnung gingen. Sah, wie sie in der Ecke miteinander tuschelten.

»Sie ist hinreißend«, sagte Sandra zu David. »Und für unser Baby wäre sie ideal. Aber können wir uns das überhaupt leisten, Liebster? Sie kostet Sechshunderttausend Dollar!«

»Plus Nebenkosten«, wandte David ein. »Derzeit können wir’s uns eigentlich nicht leisten, soweit die schlechte Nachricht. Aber ab Donnerstag werden wir’s uns leisten können, weil dann nämlich die bezaubernde Jeannie aus der Flasche steigt und sich unser Leben von Grund auf ändern wird.«

»Ich weiß«, versetzte sie strahlend. »Ist es nicht wunderbar!«

»Sollen wir zugreifen?«

Sandra atmete tief durch. »Auf jeden Fall.«

David grinste und winkte ihr zu. »Willkommen daheim, Mrs. Singer.«

Arm in Arm gingen sie zu Robert Crowther. »Wir nehmen sie«, sagte David.

»Meinen Glückwunsch. Das ist eine der begehrtesten Wohnlagen von ganz San Francisco. Sie werden Ihre Freude daran haben.«

»Ganz bestimmt.«

»Sie haben Glück. Etliche andere Leute waren nämlich auch an dieser Wohnung interessiert.«

»Wieviel müssen wir anzahlen?«

»Zehntausend Dollar sollten vorerst reichen. Ich lasse dann den Vertrag aufsetzen. Bei Unterschrift werden weitere sechzigtausend Dollar fällig. Anschließend können Sie mit Ihrer Bank die weiteren monatlichen Zins- und Tilgungsraten für die nächsten zwanzig oder dreißig Jahre vereinbaren.«

David warf Sandra einen kurzen Blick zu. »Einverstanden.«

»Dann lasse ich die Unterlagen vorbereiten.«

»Dürfen wir uns noch einmal umsehen?« fragte Sandra.

Crowther lächelte wohlwollend. »Soviel Sie wollen, Mrs. Singer. Sie gehört Ihnen schließlich.«

»Mir kommt das alles vor wie ein Traum, David. Ich kann es kaum glauben.«

»Es ist aber so.« David nahm sie in die Arme. »Ich möchte alle deine Träume erfüllen.«

»Aber das tust du doch, Liebster.«

Bislang hatten sie in einer kleinen Dreizimmerwohnung im Hafenviertel gewohnt, aber für eine Familie mit Kind war die nicht groß genug. Nie und nimmer hätten sie sich ein Penthouse am Nob Hill leisten können, aber am Donnerstag stand die große Gesellschafterversammlung der international tätigen Anwaltskanzlei Kincaid, Turner, Rose & Ripley an, bei der David arbeitete. Und an diesem Tag sollten von den fünfundzwanzig Mitarbeitern sechs ausgewählt werden, die künftig als Gesellschafter in die Kanzlei aufgenommen werden, und alle waren der Meinung, daß David einer der aussichtsreichsten Kandidaten war. Kincaid, Turner, Rose & Ripley, mit Niederlassungen in San Francisco, New York, London, Paris und Tokio, war eine der angesehensten Anwaltskanzleien der Welt, und dementsprechend begehrt war sie bei allen angehenden Juristen, soweit sie die erforderlichen Eliteuniversitäten besucht hatten.

Die Kanzlei wählte ihre Kandidaten nach der Methode Zuk-kerbrot und Peitsche aus. Die jungen Anwälte wurden gnadenlos ausgenutzt, mußten endlose Überstunden schieben und bekamen all die Fälle aufgehalst, mit denen sich die alteingesessenen Juristen nicht herumplagen mochten. Es war eine aufreibende Arbeit, für die man rund um die Uhr zur Verfügung stehen mußte. Das war die Peitsche. Denjenigen, die durchhielten, winkte das Zuckerbrot, nämlich die Aussicht auf eine Teilhaberschaft an der Kanzlei. Wenn man Gesellschafter wurde, bekam man ein höheres Gehalt, einen Anteil am üppigen Gewinn, ein geräumiges Büro mit herrlichem Ausblick und einem eigenen Waschraum samt Toilette, Aufträge im Ausland und eine Menge weiterer Vergünstigungen.

David praktizierte seit sechs Jahren bei Kincaid, Turner, Rose & Ripley Wirtschaftsrecht, und es war ein durchaus gemischtes Vergnügen gewesen. Der Zeitaufwand war schrecklich und der Streß gewaltig, doch David hatte durchgehalten und hervorragende Arbeit geleistet, denn er hatte von Anfang an die Ernennung zum Gesellschafter angestrebt. Jetzt war es endlich soweit.

Nach der Wohnungsbesichtigung gingen David und Sandra einkaufen. Sie besorgten sich einen Babykorb, einen Kinderstuhl, einen Kinderwagen, einen Laufstall und Kleidung für das Baby, das sie für sich schon Jeffrey nannten.

»Wir sollten ihm noch ein paar Spielsachen kaufen«, sagte David.

»Das hat noch eine Weile Zeit.« Sandra lachte.

Nach dem Einkaufen spazierten sie eine Weile in der Stadt umher, bummelten vor dem Ghiradelli Square am Wasser entlang und an der Cannery vorbei zur Fisherman’s Warf. Schließlich aßen sie im American Bistro zu Mittag.

Es war Sonnabend, ein Tag, an dem in San Francisco Männer mit eleganten Aktentaschen aus Leder, vornehmen konservativen Krawatten, dunklen Anzügen und diskret mit Monogrammen bestickten Hemden unterwegs waren, ein Tag für ein Mittagessen mit Geschäftspartnern und für Penthousebesichtigungen. Kurzum, ein Tag für Anwälte.

David hatte Sandra vor drei Jahren bei einer kleinen Dinnerparty kennengelernt. David war mit der Tochter eines Mandanten der Kanzlei hingegangen. Sandra arbeitete als Kanzleigehilfin bei der Konkurrenz. Beim Essen war es zwischen ihnen zu einem Streitgespräch wegen einer Gerichtsentscheidung in einem politischen Fall in Washington gekommen. Unter den Blicken der anderen Gäste hatten sie sich immer mehr hineingesteigert. Doch mitten im heißen Disput war David und Sandra klargeworden, daß es ihnen gar nicht um den Richterspruch ging. Sie spielten sich voreinander auf, trugen sozusagen einen juristischen Balztanz aus.

Am nächsten Tag rief David Sandra an. »Ich möchte die Diskussion über diese Entscheidung gern zu Ende bringen«, schlug er vor. »Ich halte das für wichtig.«

»Ich auch«, entgegnete Sandra.

»Könnten wir uns heute abend beim Essen weiter darüber unterhalten?«

Sandra zögerte. »Ja«, sagte sie schließlich. »Heute abend paßt es mir bestens.«

Von diesem Abend an waren sie unzertrennlich, und ein Jahr darauf heirateten sie.

Joseph Kincaid, der Seniorchef der Kanzlei, gab David ausnahmsweise sogar übers Wochenende frei.

David verdiente bei Kincaid, Turner, Rose & Ripley fünfund-vierzigtausend Dollar im Jahr. Sandra behielt ihren Job als Kanzleigehilfin. Doch jetzt, da ein Baby unterwegs war, standen ihnen höhere Ausgaben bevor.

»In ein paar Monaten muß ich meinen Beruf aufgeben«, sagte Sandra. »Ich möchte nicht, daß unser Kleiner von einem Kindermädchen aufgezogen wird. Ich möchte für ihn dasein.« Die Ultraschalluntersuchung hatte gezeigt, daß das Baby ein Junge war.

»Wir werden es schon schaffen«, versicherte ihr David. Sobald er erst einmal Gesellschafter war, würde sich ihr Leben von Grund auf ändern.

Seit einiger Zeit machte David sogar noch mehr Überstunden. Er wollte dafür Sorge tragen, daß man ihn am Tag der Entscheidung auf keinen Fall überging.

Als David sich am Donnerstag anzog, schaltete er die Fernsehnachrichten ein.

»Wir haben eine aufsehenerregende Nachricht für Sie«, meldete der Ansager mit atemloser Stimme. »Ashley Patterson, die Tochter des bekannten Arztes Steven Patterson aus San Francisco, wurde als die mutmaßliche Serienmörderin festgenommen, nach der das FBI und andere Polizeidienststellen seit geraumer Zeit fahnden.«

David stand wie angewurzelt vor dem Fernseher.

»... wie Sheriff Matt Dowling aus dem Bezirk Santa Clara gestern abend mitteilte, wurde Ashley Patterson im Zusammenhang mit einer Reihe von Bluttaten festgenommen, bei denen die Opfer unter anderem kastriert wurden. >Es gibt keinerlei Zweifel, daß wir die verantwortliche Person dingfest gemacht habenc, teilte Sheriff Dowling der Presse mit.«

Dr. Steven Patterson. David ließ seine Gedanken schweifen, erinnerte sich .

Er war einundzwanzig Jahre alt gewesen und hatte gerade mit dem Jurastudium begonnen. Eines Tages war er von der Universität nach Hause gekommen und hatte seine Mutter im Schlafzimmer bewußtlos am Boden aufgefunden. Er hatte den Notruf gewählt, worauf seine Mutter von einem Krankenwagen ins San Francisco Memorial Hospital gebracht worden war. David hatte vor der Notaufnahme gewartet, bis ein Arzt herausgekommen war und mit ihm gesprochen hatte.

»Wird sie - wird sie wieder auf die Beine kommen?«

Der Arzt zögerte. »Einer unserer Kardiologen hat sie untersucht. Sie leidet an Mitralklappenvorfall.«

»Was heißt das?« wollte David wissen.

»Ich fürchte, daß wir nichts für sie tun können. Für eine Transplantation ist sie zu geschwächt, und ein mikrochirurgischer Eingriff ist zu riskant, da wir zu wenig Erfahrung damit haben.«

David kam sich mit einemmal klein und schwach vor. »Wie

- wie lange kann sie -?«

»Ein paar Tage, würde ich sagen, eine Woche vielleicht. Tut mir leid, mein Sohn.«

David war außer sich. »Kann ihr denn niemand helfen?«

»Ich fürchte, nein. Der einzige, der ihr womöglich helfen könnte, ist Steven Patterson, aber der ist sehr -«

»Wer ist Steven Patterson?«

»Dr. Patterson hat Pionierarbeit auf dem Gebiet der Mikrochirurgie am Herzen geleistet. Aber er ist derart gefragt und durch seine Forschungsarbeit so ausgelastet, daß keinerlei Aussicht -«

David war bereits weg.

Von einem Münztelefon im Krankenhaus rief er in Dr. Pattersons Praxis an. »Ich hätte gern einen Termin bei Dr. Patterson. Es geht um meine Mutter. Sie -«

»Tut mir leid. Wir nehmen derzeit keine neuen Patienten auf. Der frühestmögliche Termin wäre in sechs Monaten.«

»Ihr bleiben aber keine sechs Monate mehr«, rief David.

»Tut mir leid. Ich empfehle Ihnen, sich an -«

David knallte den Hörer auf.

Am nächsten Morgen ging er zu Dr. Pattersons Praxis. Das Wartezimmer war überfüllt. David ging zur Empfangsdame. »Ich hätte gern einen Termin bei Dr. Patterson. Meine Mutter ist schwer krank, und -«

Sie blickte auf. »Haben Sie nicht gestern schon angerufen?« »Ja.«

»Dann wissen Sie doch Bescheid. Wir haben keinen Termin frei, und wir vereinbaren derzeit auch keine.«

»Dann warte ich eben«, versetzte David starrsinnig.

»Sie können ruhig warten. Der Doktor ist -«

David nahm Platz. Er sah, wie die anderen Leute im Wartezimmer nach und nach ins Sprechzimmer gerufen wurden, bis er zu guter Letzt allein dasaß.

Um sechs Uhr kam die Empfangsdame zu ihm. »Es ist sinnlos, noch länger zu warten. Dr. Patterson ist nach Hause gegangen.«

An diesem Abend besuchte David seine Mutter auf der Intensivstation.

»Sie können nicht lange bleiben«, warnte ihn die Schwester. »Sie ist sehr schwach.«

David stiegen die Tränen in die Augen, sobald er das Zimmer betrat. Seine Mutter war an ein Beatmungsgerät angeschlossen und wurde über Kanülen am Arm intravenös versorgt. Sie wirkte weißer als das Bettzeug, auf dem sie lag. Ihre Augen waren geschlossen.

David ging zu ihr hin. »Ich bin’s, Mama«, sagte er. »Ich lasse dich nicht einfach sterben. Du wirst wieder gesund werden.« Tränen liefen ihm über die Wangen. »Hörst du mich? Wir müssen dagegen ankämpfen. Gegen uns beide kommt keiner an, nicht, solange wir zusammenhalten. Ich werde dir den besten Arzt auf der Welt besorgen. Halte du nur durch. Ich komme morgen wieder her.«

Wird sie morgen noch am Leben sein?

Am Nachmittag begab sich David in die Tiefgarage des Gebäudes, in dem sich Dr. Pattersons Praxis befand. Ein Parkwächter kam auf ihn zu.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich warte auf meine Frau«, sagte David. »Sie ist bei Dr. Patterson.«

Der Parkwächter lächelte. »Ein toller Typ.«

»Er hat uns von dem schicken Wagen erzählt, den er fährt.« David stockte, so als versuchte er sich zu erinnern. »War’s nicht ein Cadillac?«

Der Parkwächter schüttelte den Kopf. »Nee.« Er deutete auf einen Rolls-Royce, der eine Reihe weiter stand. »Der Rolls da drüben gehört ihm.«

»Stimmt«, versetzte David. »Aber ich glaube, er hat gesagt, daß er auch einen Cadillac hat.«

»Würde mich nicht wundern«, sagte der Wärter. Dann lief er raschen Schrittes zu einem neu ankommenden Wagen und parkte ihn ein.

David ging wie beiläufig zu dem Rolls-Royce. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß ihn niemand beobachtete, öffnete er die hintere Tür, rutschte auf den Rücksitz und ließ sich am Boden nieder. Zusammengekrümmt lag er in dem engen, unbequemen Versteck und hoffte inbrünstig, daß Dr. Patterson bald herauskommen möge.

Um Viertel nach sechs spürte David einen leichten Ruck, als die vordere Tür geöffnet wurde und sich jemand ans Lenkrad setzte. Er hörte, wie der Motor angelassen wurde. Dann fuhr der Wagen an.

»Guten Tag, Dr. Patterson.«

»Guten Abend, Marco.«

Der Wagen fuhr aus der Tiefgarage und bog um eine Kurve. David wartete noch zwei Minuten, holte dann tief Luft und setzte sich auf.

Dr. Patterson sah ihn im Rückspiegel. »Falls das ein Überfall sein soll - ich habe kein Bargeld bei mir.«

»Fahren Sie in eine Seitenstraße und halten Sie an.«

Dr. Patterson nickte. David ließ den Arzt nicht aus den Augen, als er mit dem Wagen in eine Seitenstraße abbog, an den Straßenrand steuerte und anhielt.

»Ich gebe Ihnen alle Wertsachen, die ich bei mir habe«, sagte Dr. Patterson. »Sie können den Wagen haben. Es geht auch ohne Gewalt. Wenn -«

David hatte sich inzwischen nach vorne gesetzt. »Das ist kein Überfall. Ich will den Wagen nicht.«

Dr. Patterson schaute ihn ärgerlich an. »Was zum Teufel wollen Sie denn?«

»Mein Name ist Singer. Meine Mutter liegt im Sterben. Ich möchte, daß Sie sie retten.«

Einen Moment lang wirkte Dr. Patterson erleichtert, dann wurde er ungehalten.

»Vereinbaren Sie einen Termin mit meiner -«

»Ich kann nicht so lange warten, bis ich von Ihnen einen Termin bekomme, verdammt noch mal.« David wurde jetzt laut. »Sie stirbt sonst, und das werde ich nicht zulassen.« Er konnte sich nur mühsam beherrschen. »Bitte. Die anderen Ärzte haben mir gesagt, daß Sie meine einzige Hoffnung sind.«

Dr. Patterson musterte ihn nach wie vor mißtrauisch. »Was fehlt ihr?«

»Sie - leidet an einem Mitralklappenvorfall. Die anderen Ärzte trauen sich nicht, sie zu operieren. Sie sagen, daß Sie der einzige sind, der ihr das Leben retten kann.«

Dr. Patterson schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Mein Terminkalender -«

»Ihr Terminkalender ist mir scheißegal! Hier geht’s um meine Mutter. Sie müssen Sie retten! Sie ist mein ein und alles ...«

Eine ganze Weile herrschte Stille. David saß mit zusammengekniffenen Augen da. Dann hörte er Dr. Pattersons Stimme.

»Ich kann nichts versprechen, aber ich werde sie mir ansehen. Wo ist sie?«

David wandte sich zu ihm um. »Sie liegt auf der Intensivstation des San Francisco Memorial Hospital.«

»Morgen früh um acht Uhr sprechen wir uns dort.«

David brachte kaum ein Wort heraus. »Ich weiß gar nicht, wie ich -«

»Ich verspreche gar nichts, bedenken Sie das. Und ich lasse mich auch nicht gern überrumpeln, junger Mann. Probieren Sie’s das nächstemal per Telefon.«

David saß stocksteif da.

Dr. Patterson schaute ihn an. »Was ist los?« »Es gibt da noch was.«

»Aha, und zwar?«

»Ich - ich habe kein Geld. Ich kann mit Mühe und Not mein Jurastudium finanzieren.« Dr. Patterson starrte ihn an.

»Ich schwöre Ihnen, daß ich mir irgendwas einfallen lasse. Sie werden zu Ihrem Geld kommen, und wenn ich mein Leben lang dafür schuften muß. Ich weiß, wie teuer Sie sind, und ich -«

»Das glaube ich nicht, junger Mann.«

»Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll, Dr. Patterson. Ich - ich flehe Sie an.«

Wieder herrschte eine Zeitlang Stille.

»Wie viele Semester Jura haben Sie schon hinter sich?« »Noch gar keins. Ich habe gerade angefangen.«

»Aber Sie gedenken Ihre Schuld zu begleichen?«

»Ich schwöre es.«

»Raus mit Ihnen.«

Als David nach Hause kam, war er darauf gefaßt, daß jeden Moment die Polizei an der Tür klingeln und ihn wegen Freiheitsberaubung und Nötigung festnehmen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Aber er fragte sich, ob Dr. Patterson sich in der Klinik sehen lassen würde.

Als David am nächsten Morgen auf die Intensivstation kam, war Dr. Patterson bereits da und untersuchte seine Mutter. David sah ihm beklommen und bangen Mutes zu.

Dann drehte sich Dr. Patterson zu den anderen Ärzten um, die um ihn herumstanden. »Lassen Sie sie in den OP bringen, A1. Sofort!«

»Wird sie -?« preßte David mit belegter Stimme heraus, als man seine Mutter auf eine Rollbahre bettete.

»Wir werden sehen.«

Sechs Stunden später kam Dr. Patterson in das Wartezimmer, in dem David ausgeharrt hatte.

David sprang auf. »Wie -?« Er hatte Angst davor, die Frage auszusprechen.

»Sie wird wieder genesen. Ihre Mutter hat eine robuste Natur.«

David war zutiefst erleichtert. Er sprach ein stilles Stoßgebet. Danke, lieber Gott.

Dr. Patterson musterte ihn. »Ich weiß nicht mal, wie Sie mit Vornamen heißen.«

»David, Sir.«

»Nun ja, mein lieber David-Sir, wissen Sie, weshalb ich mich dafür entschieden habe?«

»Nein .«

»Aus zweierlei Gründen. Erstens, weil der Zustand, in dem sich Ihre Mutter befand, eine Herausforderung darstellte. Und ich mag Herausforderungen. Der zweite Grund waren Sie.«

»Ich - das verstehe ich nicht.«

»Sie haben etwas getan, was ich in jüngeren Jahren vielleicht auch gemacht hätte. Und Sie haben sich etwas einfallen lassen. Nun« - er schlug einen anderen Tonfall an -, »Sie haben gesagt, Sie würden Ihre Schuld begleichen.«

David rutschte das Herz in die Hose. »Ja, Sir. Eines Tages, wenn -«

»Warum nicht gleich?«

David schluckte. »Gleich?«

»Ich mache Ihnen ein Angebot. Können Sie Auto fahren?«

»Ja, Sir .«

»Na schön. Ich habe es satt, diesen großen Wagen ständig selbst zu fahren. Bringen Sie mich ein Jahr lang täglich zur Arbeit und holen Sie mich jeden Abend um sechs oder sieben wieder ab. Danach ist von meiner Seite aus das Honorar beglichen .«

So lautete die Abmachung. David fuhr Dr. Patterson jeden Tag zu seiner Praxis und brachte ihn abends wieder nach Hause, und Dr. Patterson rettete dafür das Leben von Davids Mutter.

Im Laufe dieses Jahres bekam David immer mehr Hochachtung vor Dr. Patterson. Hier und da neigte er zwar zu Wutausbrüchen, aber er war der selbstloseste Mensch, den er je kennengelernt hatte. Er hatte ein ausgeprägtes soziales Gewissen und opferte einen Gutteil seiner Freizeit für ehrenamtliche Tätigkeiten in sogenannten freien Kliniken. Sie führten lange Gespräche miteinander, wenn David ihn zur Praxis, zur Klinik oder wieder nach Hause fuhr.

»Worauf wollen Sie sich spezialisieren, David?«

»Auf Strafrecht.«

»Warum? Damit die Gauner, die sich von Ihnen vertreten lassen, wieder auf freien Fuß kommen?«

»Nein, Sir. Aber heutzutage kommen auch allerhand anständige Menschen mit dem Gesetz in Konflikt. Denen möchte ich beistehen.«

Als das Pflichtjahr abgegolten war, schüttelte Dr. Patterson David die Hand und sagte: »Wir sind quitt .«

Seither hatte David Dr. Patterson nicht mehr gesehen, aber er war immer wieder auf seinen Namen gestoßen.

»Dr. Patterson gründet kostenlose Klinik für aidskranke Kinder .«

»Dr. Steve Patterson weiht die Patterson-Klinik in Kenia ein .«

»Dr. Patterson legte Grundstein für das PattersonObdachlosenasyl ...«

Er war allgegenwärtig, scheute offenbar weder Kosten noch Mühen, wenn es um die Notleidenden und Bedürftigen ging.

Sandras Stimme brachte David wieder zur Besinnung. »David. Hast du irgendwas?«

Er wandte sich vom Fernseher ab. »Steven Pattersons Tochter wurde soeben wegen dieser Serienmorde festgenommen.«

»Oh, wie schrecklich!« rief Sandra. »Das tut mir ja so leid, Liebster.«

»Er hat meiner Mutter das Leben gerettet. Sieben wunderbare Jahre, die sie in vollen Zügen genossen hat. Jemand wie er hat das einfach nicht verdient. Er ist der großzügigste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Das ist nicht gerecht. Wie kann ein Mann wie er so ein Ungeheuer zur Tochter haben?«

Er schaute auf seine Uhr. »Verdammt! Ich komme zu spät.«

»Du hast noch nicht mal gefrühstückt.«

»Mir hat’s den Appetit verschlagen.« Er warf einen Blick zum Fernsehapparat. »Deswegen - und weil heute der Tag der Entscheidung ist .«

»Du wirst es schaffen. Daran gibt es nichts zu zweifeln.«

»Zweifel bleiben immer, mein Schatz. Jedes Jahr guckt irgendwer, der die Beteiligung bereits in der Tasche zu haben glaubte, am Ende in die Röhre.«

Sie umarmte ihn. »Die können doch von Glück sagen, daß sie dich haben.«

Er beugte sich vor und küßte sie. »Danke, mein Schatz. Ich wüßte nicht, was ich ohne dich machen sollte.«

»Mußt du auch nicht. Ruf mich an, sobald du Bescheid weißt, ja, David?«

»Selbstverständlich. Wir gehen aus und feiern.« Und er erinnerte sich wieder, wie er vor vielen Jahren zu jemand anderem das gleiche gesagt hatte. Wir gehen aus und feiern.

Und dann hatte er sie umgebracht.

Die Kanzlei Kincaid, Turner, Rose & Ripley nahm insgesamt drei Stockwerke des TransAmerica Building im Zentrum von San Francisco ein. Als David Singer zur Arbeit kam, empfingen ihn alle mit einem wissenden Lächeln. Er hatte den Eindruck, daß selbst das »Guten Morgen«, das man ihm zurief, einen anderen Klang hatte. Offenbar wußte man, daß man es mit einem zukünftigen Gesellschafter der Kanzlei zu tun hatte.

Auf dem Weg zu seinem kleinen Büro kam David an dem frisch renovierten Raum vorbei, der für einen der auserkorenen Gesellschafter bestimmt war. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und warf einen kurzen Blick hinein. Es war ein großes, schmuckes Büro mit einem privaten Waschraum und einem Panoramafenster, das einen herrlichen Ausblick auf die Bucht von San Francisco bot. Er stand einen Moment lang da und ließ alles auf sich einwirken.

Als David in sein Büro kam, begrüßte ihn Holly, seine Sekretärin, mit einem munteren »Guten Morgen, Mr. Singer«. Sie sprach mit einem leichtem Singsang.

»Guten Morgen, Holly.«

»Ich habe eine Nachricht für Sie.«

»Ja?«

»Mr. Kincaid möchte Sie um fünf Uhr in seinem Büro sprechen.« Sie lächelte ihn strahlend an.

Dann ist es also wirklich soweit! »Großartig!«

Sie trat einen Schritt näher. »Und ich glaube, ich weiß noch mehr. Ich war nämlich heute morgen mit Dorothy, Mr. Kin-caids Sekretärin, Kaffee trinken. Sie sagt, daß Sie ganz oben auf der Liste stehen.«

David grinste. »Danke, Holly.«

»Möchten Sie Kaffee?«

»Aber gern.«

»Heiß und stark. Kommt sofort.«

David ging zu seinem Schreibtisch, auf dem sich allerlei Papierkram stapelte - Schriftsätze, Vertragsentwürfe und diverse Aktenordner.

Heute war der entscheidende Tag. Endlich. Mr. Kincaid möchte Sie um fünf Uhr in seinem Büro sprechen. Sie stehen ganz oben auf der Liste.

Am liebsten hätte er Sandra auf der Stelle angerufen und ihr die gute Nachricht mitgeteilt.

Doch irgend etwas hielt ihn davon ab. Ich warte lieber, bis es soweit ist, dachte er.

David vertiefte sich zwei Stunden lang in die Papiere, die auf seinem Schreibtisch lagen. Um elf Uhr kam Holly herein. »Ein Dr. Patterson möchte Sie sprechen. Er hat keinen Ter-« Er blickte verwundert auf. »Dr. Patterson ist hier im Haus?«

»Ja.«

David stand auf. »Schicken Sie ihn rein.«

David konnte seine Bestürzung nur mühsam verhehlen, als Dr. Patterson eintrat. Der berühmte Mediziner wirkte alt und abgespannt.

»Hallo, David.«

»Dr. Patterson, nehmen Sie Platz.« David musterte ihn, als er sich behutsam in den Sessel sinken ließ. »Ich habe die Morgennachrichten gehört. Ich - ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie betroffen ich bin.«

Dr. Patterson nickte matt. »Ja. Das war ein ganz schöner Schlag.« Er blickte auf. »Sie müssen mir helfen, David.«

»Selbstverständlich«, erwiderte David, ohne zu zögern. »Ich bin zu allem bereit, jederzeit.«

»Ich möchte, daß Sie Ashley vertreten.«

Es dauerte einen Moment, bis David begriff. »Ich - das kann ich nicht. Ich bin kein Strafverteidiger.«

Dr. Patterson schaute ihm in die Augen. »Und Ashley ist keine Straftäterin.«

»Ich - Sie verstehen das nicht, Dr. Patterson. Ich bin Wirtschaftsrechtler. Aber ich kann Ihnen einen hervorragenden -«

»Bei mir haben sich bereits ein Dutzend sogenannter Staranwälte gemeldet. Alle wollen sie verteidigen.« Er beugte sich vor. »Aber die wittern nur einen aufsehenerregenden Fall, der einen großen Auftritt verspricht. Meine Tochter kümmert die nicht einen Deut. Mich schon. Sie ist mein ein und alles.«

Sie müssen meiner Mutter das Leben retten. Sie ist mein ein und alles. »Ich bin jederzeit bereit, Ihnen zu helfen, aber -« setzte David an.

»Aber Sie waren doch direkt nach dem Jurastudium für einen Strafverteidiger tätig.«

Davids Herz schlug einen Takt schneller. »Ganz recht, aber ich -«

»Sie waren etliche Jahre lang Strafverteidiger.« David nickte. »Ja, aber ich - ich habe mich anderweitig orientiert. Das ist lange her, und -«

»So lange nun auch wieder nicht. Und Sie haben mir seinerzeit erklärt, wie sehr Sie Ihren Beruf lieben. Warum sind Sie eigentlich Wirtschaftsanwalt geworden?«

David schwieg einen Moment. »Das ist doch unwichtig.« Dr. Patterson zog einen von Hand geschriebenen Brief aus der Tasche und reichte ihn David. David kannte ihn auswendig.

»Lieber Dr. Patterson, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich für Ihre großzügige Hilfe bin und wie tief ich in Ihrer Schuld stehe. Wenn ich jemals etwas für Sie tun kann, brauchen Sie mich nur anzusprechen, und ich werde zu allem bereit sein.«

David starrte wie benommen auf den Brief.

»David, werden Sie mit Ashley sprechen?«

David nickte. »Ja, natürlich werde ich mit ihr sprechen, aber ich -«

Dr. Patterson stand auf. »Vielen Dank.«

David brachte ihn zur Tür.

Warum sind Sie eigentlich Wirtschaftsanwalt geworden? Weil ich einen Fehler begangen habe, der einer Frau, die ich geliebt habe, das Leben gekostet hat. Weil ich mir geschworen habe, daß ich nie mehr im Leben für das Leben eines anderen verantwortlich sein möchte. Niemals.

Ich kann Ashley Patterson nicht verteidigen.

David drückte den Knopf an seiner Gegensprechanlage. »Holly, würden Sie bitte Mr. Kincaid fragen, ob ich gleich bei ihm vorsprechen darf?«

»Ja, Sir.«

Eine halbe Stunde später betrat David das geschmackvoll eingerichtete Büro von Joseph Kincaid. Kincaid war Mitte Sechzig, ein stattlicher, grauhaariger Mann, den nichts auf der Welt erschüttern konnte.

»Na«, sagte er, als David durch die Tür kam, »Sie können sich wohl nicht gedulden, junger Mann? Sollten Sie nicht erst um fünf bei mir vorsprechen?«

David ging zum Schreibtisch. »Ich weiß. Aber ich wollte etwas anderes mit Ihnen besprechen, Joseph.«

Vor etlichen Jahren hatte David ihn einmal mit »Joe« angeredet, worauf der Alte ihn prompt zur Schnecke gemacht hatte. Unterstehen Sie sich, mich noch einmal mit Joe anzusprechen.

»Setzen Sie sich, David.«

David nahm Platz.

»Zigarre? Die stammen aus Kuba.«

»Nein, danke.«

»Worum geht es?«

»Dr. Patterson ist eben bei mir gewesen.«

»Es kam heute morgen in den Nachrichten«, sagte Kincaid. »Schöne Schweinerei. Was wollte er von Ihnen?«

»Ich soll seine Tochter verteidigen.«

Kincaid schaute David verwundert an. »Sie sind doch gar kein Strafverteidiger.«

»Das habe ich ihm auch gesagt.«

»Nun denn.« Kincaid dachte einen Moment lang nach. »Wissen Sie, einen Mandanten wie Dr. Patterson kann man sich nur wünschen. Er ist einflußreich. Er könnte unserer Kanzlei allerhand neue Aufträge verschaffen. Außerdem hat er beste Beziehungen zu etlichen Staatsorganisationen, die -«

»Das ist noch nicht alles.«

Kincaid schaute David fragend an. »Aha?«

»Ich habe ihm versprochen, daß ich mit seiner Tochter rede.«

»So, so. Nun ja, ich nehme an, das kann nichts schaden. Reden Sie mit ihr, und hinterher setzen wir uns zusammen und suchen einen guten Strafverteidiger für sie aus.«

»Genau das hatte ich vor.«

»Gut. Wir werden ihm Hilfestellung geben. Sie nehmen sich der Sache an.« Er lächelte. »Wir sprechen uns um fünf.«

»Schön. Vielen Dank, Joseph.«

Warum besteht Dr. Patterson unbedingt darauf, daß ich seine Tochter verteidige? dachte David, als er zu seinem Büro zurückging.

12


Unterdessen saß Ashley Patterson teilnahmslos in ihrer Zelle im Bezirksgefängnis von Santa Clara und wußte nicht, wie ihr geschah. Einerseits war sie heilfroh, daß sie im Gefängnis saß, weil ihr hinter Gittern niemand etwas antun konnte. Sie verschanzte sich regelrecht in ihrer Zelle und versuchte all das Schreckliche und Unerklärliche, das ihr widerfahren war, zu verdrängen. Ihr Leben war zu einem einzigen Alptraum geworden. Ashley dachte über die rätselhaften Vorfälle in letzter Zeit nach - über den Einbruch in ihre Wohnung und die Streiche, die man ihr gespielt hatte ... das Wochenende in Chicago ... die Schmiererei auf ihrem Spiegel. Und jetzt bezichtigte die Polizei sie unsäglicher Taten, die sie nie und nimmer begangen hatte. Sie kam sich vor, als hätte sich alle Welt gegen sie verschworen, aber sie hatte keine Ahnung, wer oder was dahintersteckte.

Frühmorgens war eine Wärterin zu ihrer Zelle gekommen. »Besuch.«

Sie hatte Ashley zu einem Sprechzimmer gebracht, in dem ihr Vater sie erwartete.

Er hatte dagestanden und sie mit bedrückter Miene betrachtet. »Mein Schatz - ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Ich war’s nicht. So was Schreckliches brächte ich gar nicht fertig.«

»Das weiß ich doch. Hier handelt es sich um ein schreckliches Mißverständnis, aber wir werden das schon wieder bereinigen.«

Ashley schaute ihren Vater an und fragte sich, wie sie jemals auf die Idee hatte kommen können, daß er hinter den Mordtaten steckte.

»... keine Sorge«, sagte er gerade. »Das wird schon wieder. Ich habe einen Anwalt für dich. David Singer heißt er. Ein junger Mann, aber blitzgescheit. Er wird vorbeikommen und mit dir sprechen. Ich möchte, daß du ihm alles erzählst.«

Ashley blickte ihren Vater an. »Ich - ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll«, versetzte sie tonlos. »Ich weiß ja überhaupt nicht, was los ist.«

»Wir werden der Sache schon auf den Grund gehen, mein Schatz. Ich werde jedenfalls nicht zulassen, daß man dir etwas zuleide tut. Nie und nimmer! Du bedeutest mir zuviel. Du bist mein ein und alles.«

»Du auch«, flüsterte Ashley.

Ashleys Vater blieb über eine Stunde. Nachdem er gegangen war, wurde Ashley wieder in die kleine Zelle zurückgebracht, in der man sie verwahrte. Sie legte sich auf die Pritsche und zwang sich dazu, sich keinerlei Gedanken zu machen. Das wird bald vorüber sein, und dann werde ich feststellen, daß alles nur ein Traum war ... Nur ein Traum ... Nur ein Traum. Sie schlief ein.

Eine Wärterin weckte sie auf. »Besuch für Sie.«

Sie wurde in einen Besuchsraum gebracht, wo Shane Miller bereits auf sie wartete.

Er stand auf, als Ashley hereingeführt wurde. »Ashley ...« Sie hatte mit einemmal Herzklopfen. »O Shane!« Noch nie hatte sie sich so über einen Besuch gefreut. Irgendwie hatte sie gewußt, daß er vorbeikommen und sie herausholen würde, daß er dafür sorgen würde, daß man sie freiließ.

»Shane, ich bin ja so froh, daß du hier bist!«

»Ich freue mich auch«, erwiderte er verlegen. Er blickte sich in dem Besuchszimmer um. »Allerdings nicht unbedingt unter diesen Umständen. Ich - ich wollte es zunächst nicht glauben, als ich es erfahren habe. Wie konnte das passieren? Wieso hast du das getan, Ashley?«

Ihr Gesicht verlor jegliche Farbe. »Wieso ich das -? Meinst du etwa, daß ich -?«

»Ist ja egal«, sagte Shane rasch. »Sprechen wir nicht mehr davon. Darüber solltest du nur mit deinem Anwalt reden.«

Ashley stand da und starrte ihn an. Er hielt sie offenbar für schuldig. »Wieso bist du gekommen?«

»Nun ja, ich - mir ist dabei gar nicht wohl zumute, aber unter

- diesen Umständen, äh - sieht sich die Firma leider gezwungen, dich zu entlassen. Ich meine, wir - wir können es uns einfach nicht leisten, in so eine Sache hineingezogen zu werden. Schlimm genug, daß in den Zeitungen erwähnt wurde, daß du bei Global beschäftigt bist. Das verstehst du doch, nicht? Es ist nicht persönlich gemeint.«

Auf der Fahrt nach San Jose überlegte sich David Singer, wie er das Gespräch mit Ashley Patterson angehen sollte. Er wollte zusehen, daß er soviel aus ihr herausholen konnte wie nur möglich, und alles, was er erfuhr, an Jesse Quiller weiterleiten, einen der besten Strafverteidiger im ganzen Land. Wenn jemand Ashley helfen konnte, dann war es Jesse.

David wurde in Sheriff Dowlings Büro geführt. Er reichte dem Sheriff seine Karte. »Ich bin Rechtsanwalt. Ich möchte mit Ashley Patterson sprechen und -«

»Sie erwartet Sie bereits.«

David schaute ihn überrascht an. »Tatsächlich?«

»Ja.« Sheriff Dowling wandte sich an einen Deputy und nickte ihm zu.

»Hier lang«, sagte der Deputy zu David.

Er führte David in den Besuchsraum, und ein paar Minuten später wurde Ashley aus ihrer Zelle gebracht.

David war Ashley Patterson vor vielen Jahren einmal begegnet, als er noch Student gewesen war und ihren Vater in der Gegend herumchauffiert hatte. Er hatte das Mädchen seinerzeit intelligent und attraktiv gefunden. Jetzt hatte er eine schöne junge Frau mit angsterfüllten Augen vor sich. Sie setzte sich ihm gegenüber hin.

»Hallo, Ashley. Ich bin David Singer.«

»Mein Vater hat mir schon gesagt, daß Sie vorbeikommen«, erwiderte sie mit bebender Stimme.

»Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«

Sie nickte.

»Zuvor möchte ich Sie darauf hinweisen, daß alles, was Sie mir sagen, streng vertraulich behandelt wird. Das geht nur uns beide etwas an. Aber Sie müssen mir die Wahrheit sagen.« Er zögerte. So weit hatte er eigentlich gar nicht gehen wollen, aber andererseits wollte er Jesse Quiller möglichst viel Stoff liefern. Immerhin mußte er ihn erst noch dazu überreden, daß er den Fall übernahm. »Haben Sie diese Männer getötet?«

»Nein!« versetzte Ashley im Brustton der Überzeugung. »Ich bin unschuldig!«

David zog ein Blatt Papier aus der Tasche und warf einen Blick darauf. »Sind Sie mal mit einem gewissen Jim Cleary gegangen?«

»Ja. Wir - wir wollten heiraten. Wieso, um alles in der Welt, hätte ich Jim denn etwas zuleide tun sollen? Ich habe ihn geliebt.«

David musterte Ashley einen Moment lang und schaute dann wieder auf seine Notizen. »Was ist mit Dennis Tibble?«

»Dennis hat in der gleichen Firma gearbeitet wie ich. Ich war kurz vor seinem Tod bei ihm, aber ich habe nichts damit zu tun. Ich war in Chicago, als er ermordet wurde.«

David achtete auf ihre Mimik.

»Sie müssen mir glauben. Ich - ich hatte nicht den geringsten Grund, ihn umzubringen.«

»Na schön«, sagte David. Er warf einen zweiten Blick auf seine Unterlagen. »Welche Beziehung hatten Sie zu Jean Claude Parent?«

»Das hat mich die Polizei auch schon gefragt. Ich habe den Namen noch nie gehört. Wieso sollte ich jemanden umbringen, den ich nicht einmal kenne?« Sie schaute David mit flehendem Blick an. »Begreifen Sie denn nicht? Es handelt sich um ein Versehen. Ich habe mit diesen Morden nichts zu tun.« Sie fing an zu weinen. »Ich habe niemanden umgebracht.«

»Und Richard Melton?«

»Den kenne ich auch nicht.«

David wartete, bis Ashley sich wieder gefaßt hatte. »Was ist mit Deputy Blake?«

Ashley schüttelte den Kopf. »Deputy Blake blieb über Nacht bei mir, weil er auf mich aufpassen wollte. Jemand hatte mir nämlich nachgestellt und mich bedroht. Ich bin in mein Schlafzimmer gegangen, und er hat auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen. Am - am nächsten Morgen fand man seine Leiche in der Gasse hinter dem Haus.« Ihr Mund zuckte. »Wieso hätte ich ihn denn umbringen sollen? Er wollte mir doch helfen!«

David warf Ashley einen verdutzten Blick zu. Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er. Entweder sagt sie die Wahrheit, oder sie ist eine verteufelt gute Schauspielerin. Er stand auf. »Bin gleich wieder da. Ich muß kurz mit dem Sheriff sprechen.«

Zwei Minuten später war er im Büro des Sheriffs.

»Na, haben Sie mit ihr gesprochen?« fragte Sheriff Dowling.

»Ja. Und ich glaube, daß Sie einer fixen Idee aufgesessen sind, Sheriff.«

»Was soll das heißen, Herr Rechtsanwalt?«

»Daß Sie möglicherweise zu voreilig waren, weil Sie unbedingt jemanden festnehmen wollten. Ashley Patterson hat zwei der Männer, deren Tod Sie ihr zur Last legen, überhaupt nicht gekannt.«

Der Sheriff rang sich ein knappes Lächeln ab. »Sie sind also auch auf sie reingefallen, was? Ist uns ganz genauso gegangen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich zeig’ Ihnen mal was, Mister.« Er schlug einen Aktenordner auf, der auf seinem Schreibtisch lag, und reichte David einen Packen Papiere. »Das sind Kopien vom Autopsiebericht, dem Bericht des FBI über die DNS-Untersuchung und den Fingerabdruckvergleich, dazu ein Bericht von Interpol zur Auswertung der Spuren, die wir ihnen zugesandt haben. All diese Männer hatten kurz vor ihrem Tode Geschlechtsverkehr mit einer Frau. An allen fünf Opfern wurden Spuren von Vaginalsekret gefunden. Anfangs ging man davon aus, daß es sich um drei verschiedene Frauen handelt. Nun ja, und dann hat das FBI alle Spuren verglichen und ausgewertet. Und nun raten Sie mal, was dabei rausgekommen ist? Es handelt sich um ein und dieselbe Person - Ashley Patterson nämlich. Ihre Fingerabdrücke wurden an sämtlichen Tatorten gefunden, desgleichen Spuren von Körpersekreten, die allesamt ihr Erbgut aufweisen.«

David starrte ihn ungläubig an. »Sind - sind Sie sich da ganz sicher?«

»Ja. Es sei denn, Sie glauben, daß Interpol, das FBI und fünf verschiedene Polizeilabors Ihrer Mandantin etwas anhängen wollen. Es paßt alles, Mister. Einer der Männer, die sie umgebracht hat, war mein Schwager. Ashley Patterson wird wegen vorsätzlichen Mordes vor Gericht gestellt, und sie wird auch verurteilt werden. Sonst noch was?«

»Ja.« David atmete tief durch. »Ich möchte Ashley Patterson noch mal sprechen.«

Sie wurde wieder in den Besuchsraum gebracht. »Warum haben Sie mich angelogen?« herrschte David sie an, als sie hereinkam.

»Was? Ich habe Sie nicht angelogen. Ich bin unschuldig. Ich habe -«

»Das Beweismaterial, das gegen Sie vorliegt, ist erdrückend. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich die Wahrheit wissen will.«

Ashley schaute ihn eine ganze Weile lang an. »Ich habe Ihnen die Wahrheit erzählt«, sagte sie dann leise. »Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«

Sie ist wirklich davon überzeugt, dachte David, als er nach San Francisco zurückfuhr. Ich habe mit ihr geredet. Wenn sie wirklich meint, daß sie die Wahrheit sagt, ist sie verrückt. Ich überlasse sie Jesse. Der kann dann immer noch Unzurechnungsfähigkeit geltend machen. Und damit ist die Sache erledigt.

Er mußte an Steven Patterson denken.

Am San Francisco Memorial Hospital sprachen die Kollegen Dr. Steven Patterson ihr Mitgefühl aus.

»Eine verdammte Schande ist das, Steven. So was hast du nicht verdient .«

»Das muß eine schreckliche Belastung für Sie sein. Wenn ich irgend etwas tun kann .«

»Ich weiß nicht, was heutzutage mit den jungen Leuten los ist. Ashley ist mir immer so normal vorgekommen .«

Und hinter jedem tröstenden Wort stand der Gedanke: Gott sei Dank, daß es nicht mein Kind ist.

Als David in die Kanzlei zurückkehrte, begab er sich unverzüglich zu Joseph Kincaid.

Kincaid blickte auf. »Nun, es ist bereits nach sechs, David, aber ich habe auf Sie gewartet. Haben Sie mit Dr. Pattersons Tochter gesprochen?«

»Ja, das habe ich.«

»Haben Sie schon einen Anwalt gefunden, der sie verteidigt?«

David zögerte. »Noch nicht, Joseph. Ich besorge ihr erst einen Psychiater. Morgen früh fahre ich wieder hin und rede noch mal mit ihr.«

Joseph Kincaid schaute David verwundert an. »Ach ja? Offen gestanden überrascht es mich, daß Sie sich da so engagieren. Wir dürfen natürlich nicht zulassen, daß diese Kanzlei mit einer derart scheußlichen Sache in Verbindung gebracht wird.«

»Ich engagiere mich eigentlich gar nicht, Joseph. Ich habe ihrem Vater nur sehr viel zu verdanken. Ich habe ihm ein Versprechen gegeben.«

»Aber doch nichts Schriftliches, oder?«

»Nein.«

»Dann handelt es sich also nur um eine moralische Verpflichtung?«

David musterte ihn einen Moment lang, wollte etwas sagen und hielt dann inne. »Ja. Es handelt sich nur um eine moralische Verpflichtung.«

»Nun denn, melden Sie sich wieder bei mir, wenn Sie mit Miss Patterson fertig sind. Dann reden wir miteinander.«

Kein Wort über die Ernennung zum Gesellschafter.

Als David an diesem Abend nach Hause kam, lag die Wohnung im Dunkeln.

»Sandra?«

Keine Antwort. David wollte gerade das Flurlicht einschalten, als Sandra plötzlich aus der Küche kam. Sie hatte eine mit brennenden Kerzen geschmückte Torte in der Hand.

»Eine Überraschung! Es gibt was zu feiern -« Sie verstummte, als sie seine Miene sah. »Stimmt irgendwas nicht, Liebster? Hat man dich übergangen, David? Hat man jemanden anderen vorgezogen?«

»Nein, nein«, beruhigte er sie. »Alles in bester Ordnung.«

Sandra stellte die Torte ab und kam zu ihm. »Irgendwas stimmt doch nicht.«

»Es gibt nur eine ... kleine Verzögerung.«

»War heute nicht die Besprechung mit Joseph Kincaid angesetzt?«

»Ja. Setz dich, mein Schatz. Wir müssen miteinander reden.«

Sie nahmen auf der Couch Platz. »Etwas Unvorhergesehenes ist dazwischengekommen«, sagte David. »Steven Patterson hat mich heute morgen aufgesucht.«

»Aha? Weswegen?«

»Er möchte, daß ich seine Tochter verteidige.«

Sandra blickte ihn überrascht an. »Aber, David - du bist doch kein -«

»Ich weiß. Ich habe versucht, es ihm klarzumachen. Aber ich war Strafrechtler.«

»Du bist es aber nicht mehr. Hast du ihm nicht gesagt, daß du Gesellschafter in der Kanzlei werden sollst?«

»Nein. Er hat sich nicht davon abbringen lassen, daß ich der einzige wäre, der seine Tochter verteidigen könnte. Das ist natürlich Unsinn. Ich habe versucht, ihn an Jesse Quiller zu verweisen, aber er hat mir nicht mal zugehört.«

»Na ja, er muß sich aber jemand anderen suchen.«

»Natürlich. Ich habe ihm versprochen, daß ich mit seiner Tochter rede, und das habe ich getan.«

Sandra lehnte sich zurück. »Weiß Mr. Kincaid darüber Bescheid?«

»Ja. Ich habe es ihm gesagt. Er war nicht gerade begeistert.« Er ahmte Kincaids Tonfall nach. >»Wir dürfen natürlich nicht zulassen, daß diese Kanzlei mit einer derart scheußlichen Sache in Verbindung gebracht wird.<«

»Wie ist Dr. Pattersons Tochter?«

»Ein hoffnungsloser Fall, um es medizinisch auszudrücken.«

»Ich bin keine Medizinerin«, versetzte Sandra. »Was soll das heißen?«

»Es heißt, daß sie sich allen Ernstes für unschuldig hält.«

»Wäre das nicht möglich?«

»Der Sheriff von Cupertino hat mir Einsicht in die Akten gewährt. An sämtlichen Tatorten hat man massenweise Fingerabdrücke und serologische Spuren von ihr gefunden.«

»Was hast du jetzt vor?«

»Ich habe Royce Salem angerufen. Das ist der Psychiater, der für Jesse Quillers Kanzlei tätig ist. Er soll Ashley untersuchen und ihrem Vater Bericht erstatten. Dr. Patterson kann von mir aus einen weiteren Psychiater hinzuziehen oder den Bericht an den Anwalt weiterleiten, der den Fall übernimmt.«

»Aha.« Sandra musterte ihren Mann und sah, wie bedrückt er war. »Hat Mr. Kincaid etwas über die Ernennung zum Gesellschafter gesagt, David?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Das kommt schon noch«, versetzte Sandra munter. »Morgen ist auch noch ein Tag.«

Dr. Royce Salem war ein großer, schlanker Mann, der einen Bart wie Sigmund Freud trug.

Vielleicht ist es bloß ein Zufall, sagte sich David. Er versucht bestimmt nicht, wie Freud auszusehen.

»Jesse spricht oft von Ihnen«, sagte Dr. Salem. »Er mag Sie sehr.«

»Ich mag ihn auch, Dr. Salem.«

»Dieser Fall Patterson klingt ja interessant. Offensichtlich das Werk einer Psychopathin. Haben Sie vor, auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren?«

»Eigentlich«, erklärte ihm David, »übernehme ich den Fall gar nicht. Bevor ich ihr einen Anwalt besorge, möchte ich nur feststellen lassen, in was für einer geistigen Verfassung sie sich befindet.«

David teilte Dr. Salem die Fakten mit, soweit sie ihm bekannt waren. »Sie behauptet, unschuldig zu sein, aber laut vorliegendem Beweismaterial hat sie die Taten eindeutig begangen.«

»Nun, dann wollen wir mal einen Blick auf die Psyche der jungen Dame werfen, nicht?«

Die hypnotherapeutische Sitzung fand in einem Vernehmungszimmer des Bezirksgefängnisses von Santa Clara statt. In dem Raum befanden sich ein rechteckiger Holztisch und vier Holzstühle.

Ashley, die blaß und verhärmt wirkte, wurde von einer Wärterin hereingeführt.

»Ich warte draußen«, sagte die Wärterin und zog sich zurück.

»Ashley«, sagte David, »das ist Dr. Salem. Ashley Patterson.«

»Hallo, Ashley«, sagte Dr. Salem.

Sie stand wortlos da und blickte nervös von einem zum anderen. David hatte das Gefühl, das sie am liebsten davongelaufen wäre.

»Mr. Singer sagt, daß Sie mit einer Hypnose einverstanden sind.«

Schweigen.

Dr. Salem versuchte es erneut. »Würden Sie sich von mir hypnotisieren lassen, Ashley?«

Ashley schloß einen Moment lang die Augen und nickte. »Ja.«

»Dann sollten wir anfangen.«

»Nun, dann lasse ich Sie jetzt allein«, sagte David. »Wenn -«

»Einen Moment.« Dr. Salem ging zu David. »Ich möchte, daß Sie dableiben.«

David war frustriert. Er bedauerte jetzt, daß er so weit gegangen war. Ich lasse mich nicht noch tiefer hineinziehen, beschloß er. Danach ist endgültig Schluß.

»Na schön«, sagte er widerwillig. Er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen und in die Kanzlei zurückkehren. Die bevorstehende Besprechung mit Kincaid ging ihm nicht aus dem Kopf.

»Setzen Sie sich bitte auf diesen Stuhl«, sagte Dr. Salem zu Ashley.

Ashley nahm Platz.

»Sind Sie schon einmal hypnotisiert worden, Ashley?«

Sie zögerte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein.« »Da ist nichts weiter dabei. Sie müssen sich lediglich entspannen und auf meine Stimme achten. Sie brauchen sich keinerlei Sorgen zu machen. Niemand wird Ihnen etwas zuleide tun. Sie spüren, wie Ihre Muskeln sich lösen. Gut so. Seien Sie ganz entspannt und spüren Sie, wie Ihre Lider schwer werden. Sie haben allerhand durchgemacht. Sie sind müde, sehr müde. Sie möchten nur noch schlafen. Schließen Sie einfach die Augen und entspannen Sie sich. Sie werden müde ... sehr müde ...«

Fünf Minuten später war sie unter Hypnose. Dr. Salem trat neben Ashley. »Ashley, wissen Sie, wo Sie sich befinden?«

»Ja. Ich bin im Gefängnis.« Ihre Stimme klang dumpf, als käme sie aus weiter Ferne.

»Wissen Sie, weshalb Sie im Gefängnis sind?«

»Weil man meint, daß ich etwas Schlimmes getan habe.«

»Und trifft das zu? Haben Sie etwas Schlimmes getan?«

»Nein.«

»Ashley, haben Sie je einen Menschen getötet?«

»Nein.«

David schaute Dr. Salem verwundert an. Unter Hypnose sollte man doch angeblich die Wahrheit sagen.

»Haben Sie eine Ahnung, wer diese Morde begangen haben könnte?«

Plötzlich verzerrte sich Ashleys Gesicht, und ihr Atem ging schneller, kurz und gepreßt. Staunend verfolgten die beiden Männer die Verwandlung. Die Lippen strafften sich, und ihre Mimik schien sich zu verändern. Sie setzte sich kerzengerade auf und wirkte mit einemmal viel lebhafter als zuvor. Sie schlug die Augen auf und sah sich mit funkelndem Blick um. Die Veränderung war unglaublich. Dann begann sie mit kehliger Stimme und unverkennbar britischem Akzent zu singen.

»Will ich auf mein Boden gehen, will mein Hölzlein holen, steht ein bucklicht Männlein da, hat mir’s halb gestohlen.«

David hörte verdutzt zu. Wen will sie denn damit täuschen? Sie gibt vor, jemand anders zu sein.

»Ich möchte Ihnen noch ein paar Fragen stellen, Ashley.«

Sie warf den Kopf zurück. »Ich bin nicht Ashley«, erwiderte sie mit britischem Akzent.

Dr. Salem warf David einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder an Ashley. »Und wer sind Sie, wenn Sie nicht Ashley sind?«

»Ich bin Toni. Toni Prescott.«

Und Ashley zieht das völlig ungerührt durch, dachte David. Wie lange will sie denn diese dämliche Posse noch spielen? Das ist doch reine Zeitverschwendung.

»Ashley«, sagte Dr. Salem.

»Toni.«

Sie läßt sich nicht davon abbringen, dachte David.

»Na schön, Toni. Ich möchte, daß -«

»Ich will dir mal sagen, was ich möchte. Ich möchte aus diesem verdammten Loch raus. Könnt ihr uns da rausholen?«

»Kommt ganz darauf an«, erwiderte Dr. Salem. »Was wissen Sie über -?«

»Die Morde, wegen denen die kleine Zimtzicke hier einsitzt? Ich kann Ihnen Sachen erzählen, die -«

Plötzlich veränderte sich Ashleys Miene erneut. Sie schien in sich zusammenzusinken, und ihr Gesicht wurde weicher und machte erneut eine geradezu unglaubliche Wandlung durch, so als ob eine völlig andere Person vor ihnen säße.

»Toni, sag nichts mehr, per piacere«, sagte sie mit sanfter Stimme und leichtem italienischem Akzent.

David betrachtete sie verdutzt.

»Toni?« Dr. Salem trat ein Stück näher.

Wieder ertönte die sanfte Stimme. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Dr. Salem.«

»Wer sind Sie?« fragte Dr. Salem.

»Ich bin Alette. Alette Peters.«

Mein Gott, das ist nicht gespielt, dachte David. Es ist echt. Er wandte sich an Dr. Salem.

Der sagte leise: »Das sind Alter egos.«

David starrte ihn verständnislos an. »Was sind das?«

»Ich erkläre es Ihnen später.«

Dr. Salem wandte sich wieder an Ashley. »Ashley - ich meine, Alette ... Wie - zu wievielt seid ihr?«

»Außer Ashley gibt es nur Toni und mich«, antwortete Alette.

»Sie sprechen mit italienischem Akzent.«

»Ja. Ich bin in Rom geboren. Waren Sie schon mal in Rom?«

»Nein, ich war noch nie in Rom.«

Ich glaube, ich höre nicht recht, dachte David.

»E molto bello.«

»Bestimmt. Kennen Sie Toni?«

»Si, naturalmente.«

»Sie spricht mit britischem Akzent.«

»Toni ist in London geboren.«

»Richtig. Alette, ich möchte Sie zu diesen Morden befragen. Haben Sie eine Ahnung, wer -?«

Und wieder erlebten David und Dr. Salem, wie sich Ashley vor ihren Augen veränderte. Ohne daß sie ein Wort sagte, wußten sie, daß sie es mit Toni zu tun hatten.

»Mit der verplemperst du bloß deine Zeit, mein Lieber.«

Wieder der britische Akzent.

»Alette weiß gar nichts. Mit mir mußt du reden.«

»Na schön, Toni. Ich rede mit Ihnen. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Das kann ich mir denken, aber ich bin jetzt müde.« Sie gähnte. »Diese verklemmte Zicke hat uns die ganze Nacht über wach gehalten. Ich brauche dringend Schlaf.« »Jetzt nicht, Toni, hören Sie mir zu. Sie müssen uns dabei helfen -«

Ihr Gesicht wurde mit einemmal hart. »Wieso sollte ich euch helfen? Was hat denn die Zimtzicke für Alette oder mich getan? Gar nichts. Sie hindert uns nur daran, daß wir unseren Spaß haben. Tja, ich hab’s jedenfalls satt, und Sie habe ich auch satt. Habt ihr gehört?« Sie schrie jetzt aus vollem Halse, mit verzerrtem Gesicht.

»Ich werde sie wieder zurückholen«, sagte Dr. Salem.

David schwitzte. »Ja.«

Dr. Salem beugte sich zu Ashley. »Ashley ... Ashley ... Alles ist in bester Ordnung. Schließen Sie jetzt die Augen. Ihre Lider sind schwer, sehr schwer. Sie sind völlig entspannt. Ashley, Sie sind ausgeglichen und entspannt. Wenn ich bis fünf zähle, werden Sie aufwachen und sich völlig entspannt vorkommen. Eins .« Er warf David einen Bick zu und wandte sich dann wieder an Ashley. »Zwei ...«

Ashley regte sich. Sie sahen, wie sich ihre Miene erneut veränderte.

»Drei .«

Ihr Gesicht wurde weicher.

»Vier .«

Sie spürten, daß sie allmählich wieder zu sich kam, und ihnen war etwas unheimlich zumute.

»Fünf.«

Ashley schlug die Augen auf. Sie blickte sich um. »Ich komme mir vor als - habe ich geschlafen?«

David stand da und starrte sie fassungslos an.

»Ja«, sagte Dr. Salem.

Ashley wandte sich an David. »Habe ich irgend etwas gesagt? Ich meine - konnte ich Ihnen weiterhelfen?«

Mein Gott, dachte David. Sie weiß es nicht! Sie weiß es wirklich nicht! »Sie waren ganz hervorragend, Ashley. Jetzt möchte ich Dr. Salem unter vier Augen sprechen.«

»Von mir aus.«

»Wir sprechen uns später.«

Die Männer standen da und blickten Ashley nach, als sie von der Aufseherin weggeführt wurde.

David ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Was - was zum Teufel war da los?«

Dr. Salem holte tief Luft. »In all den Jahren, die ich nun schon praktiziere, habe ich noch nie einen Fall erlebt, der eindeutiger war.«

»Was für einen Fall? Worum geht es?«

»Haben Sie schon mal etwas von multipler Persönlichkeitsstörung gehört?«

»Was ist das?«

»Ein Krankheitsbild, bei dem sich die Psyche eines Menschen in mehrere völlig unterschiedliche Persönlichkeiten aufspaltet. Man bezeichnet es auch als dissoziative Identitätsstörung. In der psychiatrischen Literatur wird bereits seit über zweihundert Jahren darauf verwiesen. Es beginnt für gewöhnlich mit einen Kindheitstrauma. Der oder die Betroffene verdrängt dieses Trauma, indem er sich eine andere Identität zulegt. Mitunter kann es vorkommen, daß jemand ein Dutzend verschiedene Persönlichkeiten besitzt.«

»Und die wissen voneinander?«

»Manchmal ja. Manchmal auch nicht. Toni und Alette kennen einander. Ashley hingegen ist sich offensichtlich nicht bewußt, daß sie da sind. Die betroffene Person kreiert diese anderen Persönlichkeiten, weil sie den Schmerz, der mit dem Trauma verbunden ist, nicht aushalten kann. Es ist eine Art Flucht. Und bei jedem weiteren Schock kann eine neue Persönlichkeit entstehen. Laut der psychiatrischen Literatur, die über dieses Thema vorliegt, können diese Persönlichkeiten völlig verschieden voneinander sein. Manche sind dumm, andere überaus intelligent. Sie können verschiedene Sprachen sprechen. Sie haben unterschiedliche Geschmäcker und Eigenarten.«

»Wie - wie häufig kommt so was vor?«

»In manchen Untersuchungen wird angedeutet, daß etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung an multipler Persönlichkeitsstörung leidet und daß bis zu zwanzig Prozent der Patienten, die in psychiatrischen Kliniken betreut werden, davon betroffen sind.«

»Aber Ashley wirkt so normal und -« sagte David.

»Menschen, die an MPS leiden, sind normal ... bis eine andere Persönlichkeit durchbricht. Der oder die Betroffene kann einen Beruf ausüben, eine Familie haben und ein ganz normales Leben führen, aber jederzeit kann sich eine andere Persönlichkeit durchsetzen. Die kann dann eine Stunde, aber auch tage- und wochenlang vorbestimmend sein, ohne daß sich der oder die Betroffene hinterher daran erinnern kann, was in diesem Zeitraum vorgefallen ist.«

»Demnach hätte Ashley also keine Ahnung, was die andere Persönlichkeit macht?«

»Nicht die geringste.«

David hörte wie gebannt zu, als der Psychiater fortfuhr.

»Bekannt wurde die multiple Persönlichkeitsstörung vor allem durch den Fall Bridey Murphy. Damals wurde zum erstenmal eine breite Öffentlichkeit auf das Thema aufmerksam. Seither gab es zahllose weitere Fälle, aber keiner war so aufsehenerregend oder wurde so gut beschrieben.«

»Das - das ist kaum zu glauben.«

»Ich habe mich eine ganze Weile mit diesem Thema beschäftigt. Es gibt gewisse Grundmuster, die sich so gut wie nie ändern. Zum Beispiel, daß die anderen Persönlichkeiten häufig Namen verwenden, die mit den gleichen Initialen beginnen wie der Name des oder der Betroffenen - Ashley Patterson . Alette Peters ... Toni Prescott ...«

»Toni -?« wollte David fragen. Dann wurde es ihm klar. »Antoinette?« »Richtig. Sie kennen den Begriff >Alter ego

»Ja.«

»In gewisser Hinsicht besitzen wir alle Alter egos oder multiple Persönlichkeiten. Ein normalerweise gutmütiger Mensch kann Grausamkeiten begehen. Grausame Menschen wiederum sind durchaus zu guten Taten fähig. Die menschliche Psyche hat eine geradezu unglaubliche Bandbreite. Die Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde ist zwar reine Fiktion, aber sie beruht auf Tatsachen.«

Davids Gedanken überschlugen sich. »Wenn Ashley diese Morde begannen hat .«

»Wäre sie sich dessen nicht bewußt. Sie wurden von einer ihrer anderen Persönlichkeiten verübt.«

»Mein Gott! Und wie soll ich das vor Gericht erklären?«

Dr. Salem schaute David erstaunt an. »Sagten Sie nicht, daß Sie sie nicht vertreten werden?«

David schüttelte den Kopf. »Werde ich auch nicht. Das heißt, ich weiß es nicht. Ich - was das angeht, leide ich selbst an multipler Persönlichkeitsstörung.« David schwieg einen Moment. »Ist das heilbar?«

»Häufig ja.«

»Und was passiert, wenn es geheilt wird?«

Dr. Salem zögerte kurz. »Die Selbstmordrate ist ziemlich hoch.«

»Und Ashley weiß nichts von alldem?«

»Nein.«

»Würden Sie es ihr beibringen?«

»Ja, natürlich.«

»Nein!« Es war ein einziger Aufschrei. Sie drückte sich an die Zellenwand und schaute sie voller Entsetzen an. »Sie lügen! Das stimmt nicht!«

»Ashley«, sagte Dr. Salem, »Es ist so. Sie müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Ich habe Ihnen doch erklärt, daß Sie keinerlei Schuld trifft an dem, was vorgefallen ist. Ich -« »Kommen Sie mir nicht zu nahe!«

»Niemand will Ihnen etwas zuleide tun.«

»Ich möchte sterben. Helfen Sie mir dabei!« Sie begann hemmungslos zu schluchzen.

Dr. Salem wandte sich an die Wärterin. »Sie sollten ihr lieber ein Beruhigungsmittel geben. Und lassen Sie sie rund um die Uhr bewachen. Es besteht Selbstmordgefahr.«

David rief Dr. Patterson an. »Ich muß mit Ihnen reden.«

»Ich habe bereits auf Ihren Anruf gewartet, David. Haben Sie Ashley besucht?«

»Ja. Können wir uns irgendwo treffen?«

»Ich erwarte Sie in meiner Praxis.«

Ich kann diesen Fall nie und nimmer übernehmen, dachte David, als er nach San Francisco zurückfuhr. Ich habe zuviel zu verlieren.

Ich besorge ihr einen guten Strafverteidiger, und damit hat sich die Sache.

Dr. Patterson empfing David in seiner Praxis. »Haben Sie mit Ashley gesprochen?«

»Ja.«

»Geht es ihr einigermaßen gut?«

Was soll ich darauf nur antworten? David holte tief Luft. »Haben Sie schon mal etwas von einer multiplen Persönlichkeitsstörung gehört?«

Dr. Patterson runzelte die Stirn. »Andeutungsweise ...«

»Es handelt sich um eine psychische Störung, bei der jemand über mehrere Persönlichkeiten - oder Alter egos - verfügt, ohne daß sich der Betroffene dessen bewußt ist. Ihre Tochter leidet an einer multiplen Persönlichkeitsstörung.«

Dr. Patterson schaute ihn fassungslos an. »Was? Ich - das kann ich nicht glauben. Sind Sie sich dessen sicher?«

»Ich habe Ashley zugehört, als Dr. Salem sie unter Hypnose befragte. Sie besitzt zwei weitere Persönlichkeiten. Von Zeit zu Zeit zwingen sie ihr ihren Willen auf.« David sprach jetzt schneller. »Der Sheriff hat mir gezeigt, welches Beweismaterial gegen Ihre Tochter vorliegt. Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, daß sie die Morde begangen hat.«

»O mein Gott«, sagte Dr. Patterson. »Dann - dann ist sie also schuldig?«

»Nein. Ich glaube nämlich nicht, daß sie wußte, was sie tat, als sie die Morde begangen hat. Sie stand unter dem Einfluß einer anderen Persönlichkeit. Ashley hatte keinerlei Grund, die Taten zu begehen. Sie hatte kein Motiv, und sie war ihrer Sinne nicht mächtig. Meiner Meinung dürfte es der Staatsanwaltschaft sehr schwerfallen, ihr ein Motiv oder einen Vorsatz nachzuweisen.«

»Dann werden Sie die Verteidigung also darauf -«

David fiel ihm ins Wort. »Ich werde sie nicht verteidigen. Ich besorge Ihnen Jesse Quiller. Er ist ein hervorragender Strafverteidiger. Ich habe früher mit ihm zusammengearbeitet, und er ist der beste -«

»Nein«, versetzte Dr. Patterson mit schneidender Stimme. »Sie müssen Ashley verteidigen.«

»Sie verstehen das nicht«, hakte David geduldig nach. »Ich bin nicht der geeignete Verteidiger. Sie braucht -«

»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß Sie der einzige sind, dem ich vertraue. Meine Tochter ist mein ein und alles, David. Sie müssen ihr das Leben retten.«

»Ich kann nicht. Ich habe nicht die nötige Erfahrung -«

»Selbstverständlich. Sie waren doch Strafverteidiger.«

»Ja, aber ich -«

»Ich will keinen anderen.«

Das ist doch unsinnig, dachte David. Er versuchte es erneut. »Jesse Quiller ist der beste -«

Dr. Patterson beugte sich vor. »David, Sie haben sehr an Ihrer Mutter gehangen. Ich hänge sehr an Ashley. Sie haben mich einst um Hilfe gebeten und das Leben Ihrer Mutter in meine Hände gelegt. Jetzt bitte ich Sie um Hilfe, und ich lege Ashleys Leben in Ihre Hände. Ich möchte, daß Sie Ashley verteidigen. Das sind Sie mir schuldig.«

Er will überhaupt nicht zuhören, dachte David verzweifelt. Was ist nur los mit ihm? Ihm fielen zig Einwände ein, aber gegen diesen einen Satz wirkten sie allesamt wie kümmerliche Ausflüchte. Das sind Sie mir schuldig. David versuchte es ein letztes Mal. »Dr. Patterson -«

»Ja oder nein, David?«

13


Sandra empfing David in der Tür, als er nach Hause kam.

»Guten Abend, Liebster.«

Mein Gott, ist sie bezaubernd, dachte er, als er sie in die Arme schloß. Welcher Trottel hat bloß behauptet, schwangere Frauen wären nicht schön?

»Der Kleine hat heute wieder ausgekeilt«, sagte Sandra aufgeregt. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Spürst du ihn?«

»Nein«, sagte David nach einer Weile. »Das ist ein kleiner Sturkopf.«

»Mr. Crowther hat übrigens angerufen.«

»Crowther?«

»Der Immobilienmakler. Die Papiere liegen zur Unterschrift bereit.«

David hatte einen Moment lang ein flaues Gefühl im Magen. »Oh.«

»Ich muß dir was zeigen«, sagte sie eifrig. »Warte mal kurz.«

David schaute ihr nach, als sie ins Schlafzimmer stürmte. Was soll ich bloß machen? dachte er. Ich muß mich entscheiden.

Sandra kehrte mit etlichen Tapetenmusterbogen ins Wohnzimmer zurück. »Das Kinderzimmer tapezieren wir blau und das Wohnzimmer blau-weiß. Deine Lieblingsfarben. Welchen Farbton möchtest du, den helleren oder den dunkleren?«

David konnte sich nur mühsam konzentrieren. »Der hellere gefällt mir gut.«

»Mir auch. Das einzige Problem dabei ist, daß wir einen dunkelblauen Teppichboden bekommen. Meinst du, daß die Farben zusammenpassen?«

Ich kann auf die Ernennung zum Gesellschafter nicht verzichten. Ich habe zu hart dafür gearbeitet. Sie bedeutet mir zu viel. viel.

»David. Meinst du, sie werden zusammenpassen?«

Er blickte sie an. »Was? Oh. Ja. Wie du meinst, mein Schatz.«

»Ich bin ja so aufgeregt. Es wird bestimmt wunderbar.«

Wenn ich nicht zum Gesellschafter ernannt werde, können wir uns das nie im Leben leisten.

Sandra blickte sich in der kleinen Wohnung um. »Ein paar von den Möbeln hier können wir mitnehmen, aber ich fürchte, wir brauchen etliche neue Sachen.« Sie schaute ihn besorgt an. »Wir schaffen das doch, nicht wahr, Liebster? Ich möchte nicht, daß wir uns übernehmen.«

»Ganz recht«, erwiderte David geistesabwesend.

Sie kuschelte sich an seine Schulter. »Es wird ein ganz anderes Leben werden, nicht? Wir haben ein Baby, du bist Gesellschafter, und wir wohnen in einem Penthaus. Ich war heute noch mal dort. Ich wollte mir den Spielplatz und die Schule ansehen. Der Spielplatz ist wunderbar. Es gibt Rutschen und Schaukeln und Klettergerüste. Ich möchte, daß du Sonnabend mitkommst und ihn dir anschaust. Jeffrey wird begeistert sein.«

Vielleicht kann ich Kincaid davon überzeugen, daß die Kanzlei von dieser Sache profitieren könnte.

»Die Schule macht einen guten Eindruck. Sie ist nur zwei Straßen von unserer Wohnung entfernt, und sie ist nicht zu groß. Ich halte das für wichtig.«

Ich darf sie nicht enttäuschen, dachte David, während er ihr zuhörte. Ich darf ihr diesen Traum nicht kaputtmachen. Morgen früh erkläre ich Kincaid, daß ich den Fall Patterson nicht übernehmen werde. Patterson muß sich jemand anders suchen.

»Wir müssen uns fertig machen, Liebster. Wir sollen um acht bei den Quillers sein.«

Das war der Augenblick der Wahrheit. David spürte, wie er sich innerlich verkrampfte. »Ich muß etwas mit dir bereden.«

»Ja?« »Ich habe heute morgen Ashley Patterson besucht.«

»Ja? Erzähl schon. Ist sie schuldig? Hat sie diese schrecklichen Taten begangen?«

»Ja und nein.«

»Typisch Anwalt. Was soll das heißen?«

»Sie hat die Morde zwar begangen - aber sie ist nicht schuldig.«

»David -!«

»Ashley ist krank. Sie leidet an einer sogenannten multiplen Persönlichkeitsstörung. Das ist eine Art Bewußtseinsspaltung, die dazu führt, daß sie mitunter Dinge tut, ohne etwas davon zu wissen.«

Sandra starrte ihn an. »Wie furchtbar.«

»Es gibt noch zwei andere Persönlichkeiten. Ich habe beide gehört.«

»Du hast sie gehört

»Ja. Und es gibt sie wirklich. Ich meine, daß sie uns nichts vormacht.«

»Und sie hatte keine Ahnung, daß sie -?«

»Nicht die geringste.«

»Ist sie schuldig oder nicht?«

»Darüber muß das Gericht urteilen. Aber ihr Vater will nicht mit Jesse Quiller reden, folglich muß ich ihm einen anderen Anwalt besorgen.«

»Aber Jesse ist der Beste. Wieso will er nicht mit ihm reden?«

David zögerte. »Er möchte, daß ich sie verteidige.«

»Aber du hast ihm doch sicher erklärt, daß du das nicht kannst.«

»Natürlich.«

»Dann -?«

»Er will es nicht wahrhaben.«

»Was hat er gesagt, David?«

Er schüttelte den Kopf. »Ist doch egal.« »Was hat er gesagt?«

»Er hat gesagt«, erwiderte David langsam, »daß ich ihm seinerzeit vertraut hätte, als es um das Leben meiner Mutter ging. Und jetzt, wo es um das Leben seiner Tochter ginge, setzt er sein ganzes Vertrauen in mich, und er hat mich inständig gebeten, sie zu retten.«

Sandra schaute ihn prüfend an. »Meinst du, du kannst das?«

»Ich weiß es nicht. Kincaid will nicht, daß ich den Fall übernehme. Wenn ich ihn trotzdem annehme, werde ich womöglich kein Gesellschafter.«

»Oh.«

Eine ganze Weile schwiegen sie beide.

»Ich muß mich entscheiden«, sagte David schließlich. »Ich kann Dr. Patterson absagen und Gesellschafter in der Kanzlei werden. Oder aber ich verteidige seine Tochter, nehme unter Umständen unbezahlten Urlaub und sehe hinterher, wie es weitergeht.«

Sandra hörte ihm ruhig zu.

»Es gibt weitaus erfahrenere Anwälte, die Ashley vertreten könnten, aber aus irgendeinem Grund will ihr Vater nichts davon wissen. Ich habe keine Ahnung, weshalb er sich so stur stellt, aber er tut es nun mal. Wenn ich den Fall übernehme und nicht zum Gesellschafter ernannt werde, wird nichts aus dem Umzug. Dann können wir all unsere großartigen Pläne vergessen, Sandra.«

»Ich kann mich noch erinnern, wie du mir vor unserer Hochzeit von ihm erzählt hast«, sagte Sandra leise. »Er war einer der begehrtesten Ärzte auf der ganzen Welt, aber er hat sich die Zeit genommen und einem jungen Mann geholfen, der keinen Pfennig in der Tasche hatte. Du hast ihn verehrt, David. Du hast gesagt, wenn wir je einen Sohn bekommen sollten, möchtest du, daß er so wird wie Steven Patterson.«

David nickte.

»Bis wann mußt du dich entscheiden?«

»Ich habe morgen früh eine Besprechung mit Kincaid.«

Sandra ergriff seine Hand. »Soviel Zeit brauchst du gar nicht«, sagte sie. »Dr. Patterson hat deine Mutter gerettet. Jetzt wirst du seine Tochter retten.« Sie lächelte. »Außerdem können wir jederzeit auch diese Wohnung blau-weiß tapezieren.«

Jesse Quiller war einer der angesehensten Strafverteidiger im ganzen Land. Er war ein hochaufgeschossener, kernig wirkender Mann, der etwas Schlichtes ausstrahlte, das bei den Geschworenen gut ankam. Sie hatten das Gefühl, daß er einer von ihnen war, jemand, dem man helfen mußte. Das war einer der Gründe dafür, daß er nur selten einen Prozeß verlor. Außerdem hatte er ein geradezu fotografisches Gedächtnis, und er war ein brillanter Anwalt.

Statt in Urlaub zu fahren, lehrte Quiller während des Sommers Strafrecht, und vor einigen Jahren war David einer seiner Studenten gewesen. Als er sein Examen bestanden hatte, hatte Quiller ihm angeboten, daß er in seine Kanzlei eintreten könnte, und zwei Jahre später war David Sozius geworden. David war mit Leib und Seele Strafrechtler und ein ausgezeichneter Verteidiger obendrein. Außerdem achtete er darauf, daß er zehn Prozent seiner Fälle unentgeltlich vertrat. Drei Jahre nach der Ernennung zum Sozius war David plötzlich ausgeschieden und als Wirtschaftsanwalt in die Dienste von Kincaid, Turner, Rose & Ripley getreten.

David und Quiller waren über die Jahre hinweg gute Freunde geblieben. Einmal pro Woche trafen sie sich zusammen mit ihren Frauen zum Abendessen.

Jesse Quiller hatte immer eine Vorliebe für große, schlanke und elegante Blondinen gehabt. Dann hatte er Emily kennengelernt und sich prompt in sie verliebt. Emily, die von einer Farm in Iowa stammte, war eher ein Pummelchen und hatte frühzeitig graue Haare bekommen - das glatte Gegenteil von den Frauen, mit denen Quiller bis dahin gegangen war. Doch sie war fürsorglich, ganz der mütterliche Typ. Sie gaben ein ungleiches Paar ab, doch sie führten eine glückliche Ehe, weil sie sich von Herzen liebten.

Jeden Dienstag trafen sich die Singers und die Quillers zum Abendessen, und anschließend spielten sie Liverpool, ein kompliziertes Kartenspiel. Jesse empfing Sandra und David in der Tür, als sie vor dem schmucken Haus der Quillers in der Hayes Street eintrafen.

»Kommt rein«, sagte er und drückte Sandra an sich. »Der Sekt ist schon kalt gestellt. Ist ein großer Tag für euch, was? Das neue Penthaus, dazu die Ernennung zum Gesellschafter. Oder ist die Reihenfolge umgekehrt?«

David und Sandra blickten einander an.

»Emily ist in der Küche und bereitet das Festmahl zu.« Er schaute sie an. »Ich nehme doch an, daß es ein Festmahl ist. Oder ist mir irgendwas entgangen?«

»Nein, Jesse«, sagte David. »Es könnte nur sein, daß es ein -ein paar Komplikationen gibt.«

»Los, kommt rein. Darf ich dir was zu trinken anbieten?« Er blickte Sandra an.

»Nein, danke. Ich möchte nicht, daß der Kleine schlechte Angewohnheiten annimmt.«

»Der kann froh sein, daß er Eltern wie euch hat«, erwiderte Quiller herzlich. Er wandte sich an David. »Was darf ich dir bringen?«

»Vorerst nichts, danke.«

Sandra ging zur Küche. »Ich will mal sehen, ob ich Emily helfen kann.«

»Setz dich, David. Du wirkst so ernst.«

»Ich stecke in einer Zwickmühle«, räumte David ein.

»Laß mich mal raten. Geht’s um das Penthaus oder um den Gesellschaftervertrag?«

»Um beides.« »Beides?«

»Ja. Weißt du über den Fall Patterson Bescheid?«

»Ashley Patterson? Klar. Aber was hast du denn damit -?« Er stockte. »Moment mal. Du hast mir von Steven Patterson erzählt. Als du noch studiert hast. Er hat deiner Mutter das Leben gerettet.«

»Ja. Er möchte, daß ich seine Tochter verteidige. Ich habe versucht, die Sache auf dich abzuwälzen, aber er will nichts davon wissen.«

Quiller runzelte die Stirn. »Weiß er, daß du nicht mehr als Strafverteidiger tätig bist?«

»Ja. Genau das ist ja das Merkwürdige. Es gibt zig Anwälte, die viel mehr von der Sache verstehen als ich.«

»Weiß er, daß du Strafverteidiger warst?«

»Ja.«

»Welches Verhältnis hat er zu seiner Tochter?« erkundigte sich Quiller.

Eine seltsame Frage, dachte David. »Sie ist sein ein und alles.«

»Okay. Angenommen, du übernimmst den Fall. Der Haken dabei ist, daß -«

»Der Haken dabei ist, daß Kincaid es nicht will. Ich habe das Gefühl, daß ich den Gesellschafter vergessen kann, wenn ich den Fall übernehme.«

»Aha. Und damit wären wir beim Penthaus.«

»Damit wären wir bei allem, was ich mir für die Zukunft vorgenommen habe«, versetzte David aufgebracht. »Ich wäre doch dumm, wenn ich das täte, Jesse. Saudumm sogar!«

»Weshalb wirst du denn so sauer?«

David holte tief Luft. »Weil ich es trotzdem tun werde.«

Quiller lächelte. »Wieso überrascht mich das nicht im geringsten?«

David strich sich über die Stirn. »Wenn ich ablehne und seine Tochter wird verurteilt und hingerichtet, ohne daß ich einen Finger gerührt habe, könnte ich - damit könnte ich nicht leben.«

»Ist mir schon klar. Wie steht Sandra dazu?«

David rang sich ein Lächeln ab. »Du kennst doch Sandra.«

»Jawohl. Sie möchte, daß du es machst.«

»Ganz recht.«

Quiller beugte sich vor. »Ich unterstütze dich, so gut ich kann, David.«

David seufzte. »Nein. Das kommt erschwerend hinzu. Ich muß das allein erledigen.«

Quiller runzelte die Stirn. »Aber das ist doch unsinnig.«

»Ich weiß. Auch das habe ich Dr. Patterson zu erklären versucht, aber er wollte nicht hören.«

»Hast du Kincaid schon Bescheid gesagt?«

»Ich habe morgen früh eine Besprechung mit ihm.«

»Was meinst du, wie er reagiert?«

»Ich weiß genau, wie er reagiert. Er wird mir raten, den Fall nicht zu übernehmen, und wenn ich darauf bestehe, wird er mich auffordern, unbezahlten Urlaub zu nehmen.«

»Laß uns morgen mittag essen gehen. Um eins im Rubicon.«

David nickte. »Gut.«

Emily kam aus der Küche und wischte sich die Hände an einem Trockentuch ab. David und Quiller standen auf.

»Hallo, David.« Emily kam auf ihn zugestürmt, und er gab ihr einen Kuß auf die Wange.

»Ich hoffe, ihr seid hungrig. Das Essen ist gleich fertig. Sandra hilft mir in der Küche. Sie ist ein richtiger Schatz.« Sie schnappte sich ein Tablett und verschwand wieder in der Küche.

Quiller wandte sich wieder an David. »Emily und ich halten große Stücke auf dich. Ich will dir mal einen guten Rat geben. Du mußt loslassen.«

David saß da und sagte gar nichts.

»Es ist lange her, David. Und außerdem war es nicht deine Schuld. Das hätte jedem passieren können.«

David blickte Quiller an. »Aber es ist mir passiert, Jesse. Ich habe sie auf dem Gewissen.«

Er hatte alles wieder vor Augen. Wie so oft weilte er in der Vergangenheit, an einem anderen Ort.

Es ging um eine Pflichtverteidigung, und David hatte zu Quiller gesagt: »Das übernehme ich.«

Helen Woodman war eine gutaussehende junge Frau, die man des Mordes an ihrer reichen Stiefmutter beschuldigte. Die beiden hatten sich in aller Öffentlichkeit bis aufs Blut gestritten, doch die Beweise, die gegen Helen ins Feld geführt wurden, waren reine Indizien. Nachdem David sie im Gefängnis aufgesucht hatte, war er von ihrer Unschuld überzeugt. Je öfter er mit ihr sprach, desto sympathischer wurde sie ihm. Zu guter Letzt hatte er gegen eine der Grundregeln verstoßen: Verliebe dich nie in deine Mandantschaft.

Der Prozeß war gut gelaufen. David hatte die Argumente des Staatsanwalts Stück für Stück entkräftet, und am Ende der Beweisaufnahme war es ihm gelungen, die Geschworenen für seine Mandantin einzunehmen. Doch dann, als die Anklage wieder am Zuge war, kam es zur Katastrophe. Helen hatte angegeben, daß sie zum Zeitpunkt des Mordes mit einem Freund im Kino gewesen sei. Doch bei seiner Aussage vor Gericht gab der Freund zu, daß er ihr ein falsches Alibi verschafft hatte. Außerdem meldete sich eine Zeugin, die Helen zum Zeitpunkt des Mordes vor der Wohnung ihrer Stiefmutter gesehen hatte. Damit war Helens Glaubwürdigkeit erschüttert. Die Geschworenen sprachen sie schuldig, und der Richter verurteilte sie zum Tode. David war am Boden zerstört.

»Warum haben Sie mir das nur angetan?« herrschte er sie an. »Wieso haben Sie mich angelogen?«

»Ich habe meine Stiefmutter nicht umgebracht, David. Ich bin in ihrer Wohnung gewesen und habe sie tot aufgefunden.

Ich hatte Angst, Sie könnten mir nicht glauben, deshalb -deshalb habe ich mir die Geschichte mit dem Kinobesuch ausgedacht.«

Er stand da und hörte ihr mit spöttischer Miene zu.

»Das ist die Wahrheit, David.«

»Wirklich?« Er drehte sich um und stürmte hinaus.

In der gleichen Nacht beging Helen Selbstmord.

Eine Woche später gestand ein Ex-Sträfling, den man bei einem Einbruch ertappt hatte, den Mord an Helens Stiefmutter.

Am nächsten Tag schied David aus der Kanzlei aus. Jesse Quiller hatte bis zuletzt versucht, es ihm auszureden.

»Es war nicht deine Schuld, David. Sie hat dich angelogen, und -«

»Genau das ist es ja. Ich hab’ mich von ihr anlügen lassen. Ich habe meine Arbeit nicht gemacht. Ich habe nicht dafür gesorgt, daß sie mir die Wahrheit sagt. Ich wollte ihr glauben, und dadurch habe ich sie reingeritten.«

Zwei Wochen später trat David in die Dienste von Kincaid, Turner, Rose & Ripley.

»Ich will nie mehr für das Leben eines anderen Menschen verantwortlich sein«, hatte sich David geschworen.

Und jetzt sollte er Ashley Patterson verteidigen.

14


Am nächsten Morgen um zehn Uhr fand sich David in Joseph Kincaids Büro ein. Kincaid, der gerade etliche Papiere unterzeichnete, blickte kurz auf, als David eintrat.

»Ah. Nehmen Sie Platz, David. Ich bin gleich soweit.«

David setzte sich und wartete.

Kincaid lächelte ihn an, als er fertig war. »Nun denn? Sie überbringen mir doch bestimmt eine gute Nachricht, nicht wahr?«

Eine gute Nachricht schon, dachte David. Fragt sich nur, für wen.

»Sie haben hier hervorragende Aussichten, David, und ich bin davon überzeugt, daß Sie sich Ihre Zukunft nicht verbauen wollen. Wir haben noch viel vor mit Ihnen.«

David schwieg. Er überlegte sich, wie er es ihm beibringen sollte.

»Nun?« sagte Kincaid. »Haben Sie Dr. Patterson gesagt, daß Sie ihm einen anderen Anwalt beschaffen?«

»Nein. Ich habe beschlossen, daß ich sie verteidigen werde.«

Kincaids Lächeln verflog. »Haben Sie allen Ernstes vor, diese Frau zu verteidigen, David? Sie ist eine gemeine, kranke Mörderin. So etwas färbt auch auf den Verteidiger ab.«

»Ich habe mich nicht darum gerissen, Joseph. Aber ich stehe in der Pflicht. Ich habe Dr. Patterson sehr viel zu verdanken, und nur auf diese Weise kann ich es wiedergutmachen.«

Kincaid schwieg einen Moment. »Wenn Sie sich allen Ernstes dafür entschieden haben«, sagte er schließlich, »würde ich vorschlagen, daß Sie sich unbezahlt beurlauben lassen.«

Von wegen Gesellschafter. Nichts war’s damit.

»Wenn der Prozeß ausgestanden ist, erwarten wir Sie natürlich zurück. Mitsamt der fälligen Ernennung zum Gesellschafter.«

David nickte. »Natürlich.«

»Collins wird unterdessen Ihre Arbeit erledigen. Sie wollen sich doch sicherlich auf den Prozeß vorbereiten.«

Eine halbe Stunde später trafen sich die Gesellschafter von Kincaid, Turner, Rose & Ripley zu einer Besprechung.

»Wir können es uns nicht leisten, daß die Kanzlei in so ein Verfahren hineingezogen wird«, wandte Henry Turner ein.

»Wir werden doch gar nicht hineingezogen«, versetzte Joseph Kincaid. »Der junge Mann ist beurlaubt.«

»Meiner Meinung nach sollten wir uns von ihm trennen«, warf Albert Rose ein.

»Noch nicht. Das wäre kurzsichtig. Dr. Patterson könnte sich für uns noch durchaus als lohnend erweisen. Er kennt Gott und die Welt, und er ist uns garantiert dankbar dafür, daß wir ihm David zur Verfügung gestellt haben. Wir können davon nur profitieren, unabhängig davon, wie der Prozeß ausgeht. Läuft es gut, haben wir einen potenten Mandanten gewonnen und ernennen Singer zum Gesellschafter. Wenn die Sache schiefgeht, lassen wir Singer fallen und sehen zu, daß wir den Doktor trotzdem an uns binden können. Damit gehen wir keinerlei Risiko ein.«

Eine Zeitlang schwiegen alle, dann blickte John Ripley grinsend auf. »Du hast recht, Joseph.«

Nach der Unterredung mit Kincaid fuhr David zu Steven Patterson. Er hatte sich telefonisch angekündigt, und der Arzt erwartete ihn bereits.

»Nun, David?«

Ab jetzt wird sich mein ganzes Leben ändern, dachte David. Und nicht unbedingt zum Besseren. »Ich werde Ihre Tochter verteidigen, Dr. Patterson.«

Steven Patterson holte tief Luft. »Ich wußte es. Darauf hätte ich mein Leben gesetzt.« Er zögerte einen Moment. »Jetzt setze ich das Leben meiner Tochter darauf.«

»Meine Kanzlei hat mich beurlaubt. Außerdem hat mir einer der besten Strafverteidiger im ganzen Land seine Unter-«

Dr. Patterson hob die Hand. »David, ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Ich möchte nicht, daß jemand anders hinzugezogen wird. Sie werden sie vertreten, Sie allein.«

»Ich weiß«, sagte David. »Aber Jesse Quiller ist -«

Dr. Patterson erhob sich. »Ich möchte nichts mehr von einem Jesse Quiller oder irgendwem sonst hören. Ich kenne mich aus mit Strafverteidigern, David. Denen geht es nur um Geld und Ruhm. Hier geht es aber nicht um Geld und Ruhm. Hier geht es um Ashley.«

David wollte etwas sagen, unterließ es aber. Es gab nichts, was er hätte sagen können. Der Mann war völlig vernagelt. Dabei könnte ich jede Unterstützung gebrauchen, dachte David. Was hat er nur dagegen?

»Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

David nickte. »Ja.«

»Ich komme selbstverständlich für Ihr Honorar und die Unkosten auf.«

»Nein. Ich mache es umsonst.«

Dr. Patterson musterte ihn einen Moment lang, dann nickte er. »Eine Hand wäscht die andere, was?«

»Eine Hand wäscht die andere.« David rang sich ein Lächeln ab. »Haben Sie einen Führerschein?«

»David, wenn Sie sich beurlauben lassen, brauchen Sie zumindest eine Unkostenpauschale, damit Sie über die Runden kommen. Ich bestehe darauf.«

»Wie Sie wollen«, sagte David.

Damit haben wir wenigstens etwas zu beißen, solange der Prozeß läuft.

Jesse Quiller wartete im Rubicon bereits auf ihn.

»Wie ist es gelaufen?«

David seufzte. »Wie vorauszusehen war. Ich bin beurlaubt, ohne Gehalt.«

»Mistbagage. Was bilden die -«

David fiel ihm ins Wort. »Ich kann es ihnen nicht verübeln. Es ist eine sehr konservative Kanzlei.«

»Was hast du jetzt vor?«

»Was meinst du damit?«

»Was ich damit meine? Du hast den Prozeß des Jahrhunderts am Hals. Aber du hast keine Kanzlei, keinerlei Zugang zu irgendwelchen Akten oder Unterlagen, du hast weder die entsprechende Literatur noch ein Faxgerät, und den Steinzeitcomputer, der bei euch zu Hause rumsteht, kenne ich nur zu gut. Auf dem läuft ja nicht mal die Software, die du brauchst, und ins Internet kommst du mit dem auch nicht.«

»Ich komme schon klar«, sagte David.

»Selbstverständlich kommst du klar. In meiner Kanzlei ist ein Büro frei. Du kannst dich dort einnisten. Dort findest du alles, was du brauchst.«

David verschlug es einen Moment lang die Sprache. »Jesse, das kann ich nicht -«

»Kannst du wohl.« Quiller grinste. »Du wirst mir das schon irgendwie vergelten. Du revanchierst dich doch immer, nicht wahr, du heiliger David?« Er griff zur Speisekarte. »Mann, hab’ ich einen Hunger.« Er blickte auf. »Das Essen geht übrigens auf dich.«

Tags darauf fuhr David zum Bezirksgefängnis von Santa Clara und besuchte Ashley.

»Guten Morgen, Ashley.«

»Guten Morgen.« Sie wirkte noch blasser als sonst. »Mein Vater war heute morgen hier. Er hat gesagt, daß Sie mich rausholen werden.«

Ich wünschte, ich wäre da genauso zuversichtlich, dachte David. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, Ash-ley«, erwiderte er. »Wir müssen unser Augenmerk vor allem darauf richten, daß die meisten Menschen noch nie etwas von Ihrer Krankheit gehört haben. Das heißt, daß wir sie aufklären müssen. Wir werden die weltweit besten Sachverständigen aufbieten und sie zu Ihren Gunsten aussagen lassen.«

»Es macht mir solche angst«, flüsterte Ashley.:

»Was?«

»Es ist, als steckten zwei andere Menschen in mir, die ich überhaupt nicht kenne.« Ihre Stimme bebte. »Die können jederzeit wieder durchbrechen, ohne daß ich etwas dagegen tun kann. Ich fürchte mich so.« Tränen standen ihr in den Augen.

»Das sind keine anderen Menschen, Ashley«, sagte David leise. »Sie gehören zu Ihnen. Sie sind ein Teil Ihres Wesens. Und mit der entsprechenden Behandlung werden Sie auch wieder geheilt.«

Sandra umarmte ihn, als David an diesem Abend nach Hause kam. »Hab’ ich dir schon gesagt, wie stolz ich auf dich bin?«

»Weil ich mich um Lohn und Brot gebracht habe?« fragte David.

»Unter anderem. Mr. Crowther hat noch mal angerufen.«

»Crowther?«

»Der Immobilienmakler. Er wollte wissen, wann wir zur Unterschrift vorbeikommen. Außerdem sind die sechzigtausend Dollar Anzahlung fällig. Ich fürchte, wir müssen ihm mitteilen, daß wir uns das derzeit nicht leisten -«

»Moment! Soviel habe ich in etwa in meiner Rentenkasse. Wenn Dr. Patterson uns zwischendurch etwas zuschießt, könnten wir es vielleicht trotzdem schaffen.«

»Das ist doch nicht so wichtig, David. Wir wollen doch sowieso kein verzogenes Balg, das in einem Penthaus aufwächst.«

»Na ja, es gibt auch was Gutes zu berichten. Jesse will mir ein -« »Ich weiß. Ich habe mit Emily gesprochen. Wir mieten uns in Jesses Kanzlei ein.«

»Wir?«

»Denk dran, daß du mit einer Kanzleigehilfin verheiratet bist. Ich mein’s ernst, Liebster. Ich kann mich nützlich machen. Ich geh’ dir zur Hand, bis -«, sie legte die Hand auf ihren Bauch -»bis Jeffrey zur Welt kommt. Danach sehen wir weiter.«

»Mrs. Singer, wissen Sie überhaupt, wie sehr ich Sie liebe?«

»Nein. Aber laß dir Zeit. Das Abendessen ist erst in einer Stunde fertig.«

»Eine Stunde reicht nicht«, erwiderte David.

Sie legte ihm den Arm um die Schulter. »Wieso ziehst du dich nicht aus, Liebster?«

»Was?« Er zuckte zurück und schaute sie besorgt an. »Was ist mit - was meint Dr. Bailey dazu?«

»Der Doktor sagt, wenn du dich nicht sofort ausziehst, soll ich über dich herfallen.«

David grinste. »Sein Wort ist mir Befehl.«

Am nächsten Morgen zog David in sein Zimmer in Jesse Quillers Kanzlei ein. Es war ein zweckmäßig eingerichteter Raum im hinteren Teil einer Büroetage.

»Wir haben ein bißchen expandiert, seit du das letztemal hiergewesen bist«, erklärte ihm Jesse. »Aber du findest dich bestimmt zurecht. Die Bibliothek ist gleich nebenan, außerdem stehen dir sämtliche Faxgeräte und Computer zur Verfügung. Alles, was du brauchst. Wenn du dich nicht zurechtfindest, mußt du nur Bescheid sagen.«

»Danke«, sagte David. »Ich - ich weiß gar nicht, wie ich dir dafür danken soll.«

Jesse lächelte. »Du wirst dich schon revanchieren - wie wir gesagt haben.«

Kurz darauf kam Sandra hinzu. »Ich bin soweit«, sagte sie. »Womit wollen wir anfangen?«

»Zunächst mal klären wir die Rechtslage. Dazu müssen wir uns sämtliche andere Fälle vornehmen, bei denen Menschen mit multipler Persönlichkeitsstörung vor Gericht standen. Im Internet finden wir dazu vermutlich tonnenweise Material, zum Beispiel bei den darüber zugängigen Publikationen, den gerichtsspezifischen Websites und den juristischen Anlaufstellen, und dann wollen wir doch mal sehen, was dabei rausspringt. Anschließend nehmen wir uns die Psychologen vor, die sich auf so etwas spezialisiert haben, und sehen zu, daß wir sie als Sachverständige gewinnen. Wir müssen sie befragen und feststellen, ob ihre Aussagen unsere Argumente untermauern können. Außerdem muß ich mich wieder in die Strafprozeßordnung einlesen und mich aufs Kreuzverhör vorbereiten. Und wir müssen feststellen, welche Zeugen die Anklage aufbietet und was sie aussagen werden. Wir müssen über alles Bescheid wissen.«

»Wir müssen uns aber auch offenbaren. Hast du vor, Ashley in den Zeugenstand zu rufen?«

David schüttelte den Kopf. »Das möchte ich ihr nicht zumuten. Der Staatsanwalt würde ihr zu sehr zusetzen.« Er blickte zu Sandra auf. »Das wird alles andere als leicht.«

Sandra lächelte. »Aber du wirst den Prozeß gewinnen. Das weiß ich doch.«

David rief Harvey Udell an, den kaufmännischen Leiter von Kincaid, Turner, Rose & Ripley. »Harvey, David Singer hier.«

»Hallo, David. Ich habe gehört, daß Sie uns eine Weile verlassen wollen.«

»Ja.«

»Sie übernehmen da einen interessanten Fall. Die Zeitungen berichten ständig davon. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe doch sechzigtausend Dollar in meiner Rentenkasse, Harvey. Eigentlich wollte ich die ja nicht so früh in Anspruch nehmen, aber Sandra und ich haben uns gerade ein Penthaus gekauft, und ich brauche das Geld für die Anzahlung.«

»Ein Penthaus. Na denn, meinen Glückwunsch.«

»Danke. Wir rasch kann ich an das Geld rankommen?«

Udell zögerte einen Moment. »Kann ich Sie zurückrufen?«

»Natürlich.« David nannte ihm die Telefonnummer.

»Ich melde mich gleich zurück.«

»Danke.«

Harvey Udell legte den Hörer auf. Dann griff er erneut zum Telefon. »Bestellen Sie Mr. Kincaid, daß ich ihn sprechen möchte.«

Eine halbe Stunde später saß er in Joseph Kincaids Büro. »Worum geht’s, Harvey?«

»David Singer hat gerade bei mir angerufen, Mr. Kincaid. Er hat sich ein Penthaus gekauft, und er benötigt die sechzigtausend Dollar, die er in seine Altersversorgung eingezahlt hat, für die Anzahlung. Meiner Ansicht nach sind wir nicht dazu verpflichtet, ihm das Geld jetzt auszuhändigen. Er ist beurlaubt und hat keinen -«

»Ob er sich wohl darüber im klaren ist, wie hoch die laufenden Kosten für so ein Penthaus sind?«

»Vermutlich nicht. Ich teile ihm einfach mit, daß wir nicht dazu -«

»Geben Sie ihm das Geld.«

Harvey schaute ihn erstaunt an. »Aber wir sind nicht dazu -«

Kincaid beugte sich vor. »Wir wollen ihm doch dabei helfen, wenn er sich unbedingt eine Grube graben will. Sobald er eine Anzahlung für das Penthaus geleistet hat, haben wir ihn in der Hand.«

Harvey Udell rief David zurück. »Ich habe eine gute Nachricht für Sie, David. Sie wollen das Geld, das Sie in Ihre Altersversorgung eingezahlt haben, zwar ein bißchen früh abheben, aber das sollte keine Schwierigkeiten bereiten. Mr. Kincaid sagt, Sie können soviel haben, wie Sie wollen.«

»Mr. Crowther. David Singer hier.«

»Ich habe schon auf Ihren Anruf gewartet, Mr. Singer.«

»Die Anzahlung für das Penthaus ist unterwegs. Morgen müßten Sie sie vorliegen haben.«

»Wunderbar. Es gibt, wie gesagt, noch andere Leute, die scharf darauf sind, aber ich habe das Gefühl, daß Sie und Ihre Frau Gemahlin genau die Richtigen sind. Sie werden dort bestimmt sehr glücklich werden.«

Dazu müssen nur noch ein paar Dutzend Wunder geschehen, dachte David.

Ashley Pattersons Haftprüfungstermin fand vor dem Gericht des Bezirks Santa Clara in der North First Street in San Jose statt. Zuvor hatte es ein wochenlanges juristisches Gerangel um die Frage der Zuständigkeit gegeben. Die Entscheidung wurde vor allem dadurch erschwert, daß die Morde in zwei Ländern und zwei Bundesstaaten verübt worden waren. Schließlich wurde in San Francisco eine Besprechung anberaumt, an der Detective Guy Fontaine vom Polizeipräsidium Quebec, Sheriff Dowling vom Bezirk Santa Clara, Detective Eagan aus Bed-ford, Pennsylvania, Captain Rudford vom San Francisco Police Department und Roger Toland, der Polizeichef von San Jose, teilnahmen.

»Wir würden gern in Quebec gegen sie verhandeln«, sagte Detective Fontaine, »weil wir eindeutige Beweise dafür haben, daß sie schuldig ist. Dort kann sie den Prozeß auf keinen Fall gewinnen.«

»Das gilt für uns ganz genauso, Detective Fontaine«, wandte Detective Eagan ein. »Außerdem war Jim Cleary das erste Opfer, und das sollte meiner Meinung nach Vorrang vor allem anderen haben.«

»Meine Herren«, entgegnete Captain Rudford von der Polizei in San Francisco, »es besteht doch wohl kein Zweifel daran, daß wir alle ihre Schuld beweisen können. Aber drei der Morde fanden in Kalifornien statt, und daher sollten wir alle Fälle bündeln und den Prozeß hier führen. Dadurch bekommt die Sache viel mehr Gewicht.«

»Einverstanden«, sagte Sheriff Dowling. »Und da zwei davon im Bezirk Santa Clara verübt wurden, sollte auch die dortige Gerichtsbarkeit dafür zuständig sein.«

Die nächsten zwei Stunden diskutierten sie das Für und Wider ihrer jeweiligen Standpunkte, und zu guter Letzt beschlossen sie, daß der Prozeß wegen der Morde an Dennis Tibble, Richard Melton und Deputy Sam Blake in der Hall of Justice, dem altehrwürdigen Gerichtsgebäude von San Jose, stattfinden sollte. Ferner kamen sie überein, daß wegen der beiden anderen Fälle in Bedford und Quebec später verhandelt werden sollte.

David stand neben Ashley, als der Haftprüfungstermin eröffnet wurde.

»Worauf plädieren Sie?« fragte der Richter.

»Nicht schuldig aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Taten.«

Der Richter nickte. »Na schön.«

»Euer Ehren, wir beantragen eine Freilassung auf Kaution.«

Der Vertreter der Anklagebehörde meldete sich zu Wort. »Euer Ehren, wir widersprechen dem mit allem Nachdruck. Der Beschuldigten werden drei brutale Morde zur Last gelegt, und sie muß mit der Todesstrafe rechnen. Sie würde außer Landes fliehen, wenn man ihr die Gelegenheit dazu gibt.«

»Das ist nicht wahr«, erwiderte David. »Es besteht kein -«

Der Richter unterbrach ihn. »Ich habe mir die Akte angesehen und die Erklärung gelesen, mit der sich die Staatsanwaltschaft gegen eine Haftverschonung ausspricht. Eine Freilassung auf Kaution wird abgelehnt. Mit der Verhandlungsführung in diesem Fall wird Richterin Williams betraut. Die Beschuldigte bleibt bis zum Prozeß im Bezirksgefängnis von Santa Clara in Haft.«

David seufzte. »Ja, Euer Ehren.« Er wandte sich an Ashley. »Keine Sorge. Es wird schon alles gut. Denken Sie daran - Sie sind nicht schuldig.«

»Hast du die Schlagzeilen gesehen?« fragte Sandra, als David in die Kanzlei zurückkehrte. »Die Boulevardpresse bezeichnet Ashley als die >Blutjungfer<. Sämtliche Fernsehsender berichten über den Fall.«

»Wir haben doch gewußt, daß es hart hergehen würde«, sagte David. »Und das ist erst der Anfang. Machen wir uns an die Arbeit.«

In acht Wochen sollte der Prozeß beginnen.

David und Sandra stürzten sich mit Feuereifer auf ihre Aufgabe. Sie arbeiteten den ganzen Tag und manchmal bis tief in die Nacht, besorgten sich Protokolle von Prozessen, in denen ebenfalls gegen Angeklagte mit multipler Persönlichkeitsstörung verhandelt worden war. Es gab zig Fälle dieser Art. Die Beschuldigten hatten sich wegen Mordes, Vergewaltigung, wegen Raubes, Drogenhandels und Brandstiftung verantworten müssen. Einige waren verurteilt worden, andere hatte man freigesprochen.

»Wir werden für Ashley einen Freispruch erwirken«, versicherte David Sandra.

Sandra listete die in Frage kommenden Zeugen auf und rief sie an.

»Dr. Nakamoto, ich bin für David Singer tätig. Soweit ich weiß, haben Sie als sachverständiger Zeuge im Verfahren gegen Bohannan in Oregon ausgesagt. Mr. Singer vertritt Ashley Patterson ... Oh, haben Sie? Ja. Nun, wir möchten, daß Sie nach San Jose kommen und zu ihren Gunsten aussagen ...«

»Dr. Booth, ich rufe im Auftrag von David Singer an. Er verteidigt Ashley Patterson. Sie haben doch im Fall Dickerson ausgesagt. Wir hätten Sie gern als sachverständigen Zeugen ... Wir möchten, daß Sie nach San Jose kommen und für Miss Patterson aussagen. Wir benötigen Ihre Sachkenntnis ...«

»Dr. Jameson, Sandra Singer am Apparat. Wir brauchten Sie hier in .«

Und so ging es immerfort, von morgens bis Mitternacht. Schließlich hatte sie ein Dutzend Sachverständige aufgelistet. David warf einen Blick darauf. »Ziemlich eindrucksvoll. Mediziner, Psychiater, ein Dekan . die Leiter juristischer Fakultäten.« Er blickte zu Sandra auf und lächelte. »Ich glaube, wir stehen nicht schlecht da.«

Von Zeit zu Zeit kam Jesse Quiller in das Büro, in dem David arbeitete. »Wie kommst du voran?« fragte er. »Kann ich dir bei irgendwas helfen?«

»Alles bestens.«

Quiller blickte sich um. »Hast du alles, was du brauchst?« David lächelte. »Alles da, einschließlich meines besten Freundes.«

An einem Montag morgen erhielt David ein Paket von der Anklagevertretung, in dem diese ihre Aussagen und Argumente offenlegte. Als David die Unterlagen las, verließ ihn der Mut. Sandra betrachtete ihn besorgt. »Was ist los?«

»Schau dir das an. Die führen allerhand gewichtige medizinische Sachverständige ins Feld, die der Meinung sind, daß keine MPS vorliegt.«

»Und wie willst du die Sache angehen?« fragte Sandra.

»Wir werden zugeben, daß Ashley am Tatort war, als sich die Morde ereigneten, aber darauf verweisen, daß sie von einem Alter ego begangen wurden.« Kann ich die Geschworenen Fünf Tage vor Prozeßbeginn wurde David telefonisch davon benachrichtigt, daß Richterin Williams mit ihm sprechen wollte.

David ging in Jesse Quillers Büro. »Jesse, was kannst du mir über Richterin Williams sagen?«

Jesse Quiller lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Tessa Williams ... Warst du bei den Pfadfindern, David?«

»Ja .«

»Kannst du dich noch an das alte Pfadfindermotto erinnern -allzeit bereit?«

»Klar.«

»Wenn du vor Gericht mit Tessa Williams zu tun hast, mußt du allzeit bereit sein. Sie ist brillant. Mußte sich alles selbst erkämpfen. Ihre Angehörigen waren arme Pachtbauern drunten in Mississippi. Sie konnte durch ein Begabtenstipendium das College besuchen, und die Leute in ihrer Heimatstadt waren so stolz auf sie, daß sie Geld gesammelt haben, damit sie anschließend Jura studieren konnte. Es geht das Gerücht, daß sie einen hohen Posten in Washington abgelehnt hat, weil sie lieber bleiben wollte, wo sie ist. Sie hat einen sagenhaften Ruf.«

»Interessant«, sagte David.

»Der Prozeß findet doch im Bezirk Santa Clara statt?«

»Ja.«

»Dann wird wohl mein alter Freund Mickey Brennan die Anklage vertreten.«

»Erzähl mir etwas über ihn.«

»Der typische Ire, lebhaft, rauhe Schale, harter Kern. Bren-nan stammt aus einer Familie von Erfolgsmenschen: Sein Vater leitet ein großes Verlagshaus, die Mutter ist Ärztin, seine Schwester College-Professorin. Brennan war auf dem College Footballstar, und er hat das Jurastudium als Bester seines Semesters abgeschlossen.« Er beugte sich vor. »Er ist tüchtig, David. Sei vorsichtig. Er lullt die Zeugen gern ein und packt sie dann von einer Seite, von der sie es nicht erwarten. Weshalb möchte Richterin Williams dich sprechen?«

»Keine Ahnung. Es hieß nur, daß sie den Fall Patterson mit mir bereden möchte.«

Jesse Quiller runzelte die Stirn. »Das ist ungewöhnlich. Wann triffst du dich mit ihr?«

»Mittwoch vormittag.«

»Paß bloß auf.«

»Danke, Jesse. Mach’ ich.«

Das Gericht des Bezirks Santa Clara ist in einem dreistöckigen weißen Gebäude an der North First Street untergebracht. Im Eingangsbereich befinden sich der Empfangsschalter, an dem ein Wachmann in Uniform sitzt, ein Metalldetektor, gesäumt von einem Absperrgitter, und der Fahrstuhl. Das Gebäude verfügt über insgesamt sieben Gerichtssäle, für die jeweils ein Richter samt Personal zuständig ist.

Mittwoch vormittag um zehn wurde David Singer in das Amtszimmer von Richterin Tessa Williams geleitet. Mickey Brennan war bereits anwesend. Der oberste Ankläger der Bezirksstaatsanwaltschaft war Mitte Fünfzig, stämmig und gedrungen und sprach mit einem leichten irischen Zungenschlag. Tessa Williams war Ende Vierzig, eine schlanke, attraktive Afroamerikanerin, die ebenso energisch wie selbstbewußt wirkte.

»Guten Morgen, Mr. Singer. Ich bin Richterin Williams. Das ist Mr. Brennan.«

Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.

»Nehmen Sie Platz, Mr. Singer. Ich möchte mit Ihnen über den Fall Patterson sprechen. Laut meinen Unterlagen haben Sie auf unschuldig aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Taten plädiert.«

»Ja, Euer Ehren.«

»Ich habe Sie beide hergebeten«, sagte Richterin Williams, »weil ich glaube, daß wir uns dadurch viel Zeit und dem Staat erhebliche Steuergelder sparen können. Für gewöhnlich bin ich gegen vorherige Absprachen bezüglich Schuldbekenntnis und Strafmilderung, aber in diesem Fall halte ich das für gerechtfertigt.«

David hörte verdutzt zu.

Die Richterin wandte sich an Brennan. »Ich habe das Protokoll des Prüfungsverfahrens gelesen, und meiner Ansicht nach besteht in diesem Fall kein Anlaß zu einer Hauptverhandlung. Mir wäre es lieber, wenn die Staatsanwaltschaft nicht mit der Todesstrafe droht, sondern sich mit einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe ohne eine Chance auf vorzeitige Freilassung zufriedengibt, falls sich die Angeklagte schuldig bekennt.«

»Moment mal«, versetzte David. »Das kommt nicht in Frage.«

Beide schauten ihn an.

»Mr. Singer -«

»Meine Mandantin ist nicht schuldig. Ashley Patterson hat sich einem Lügendetektortest unterzogen, bei dem eindeutig bewiesen -«

»Das will gar nichts heißen. Außerdem ist das vor Gericht nicht als Beweismittel zugelassen, wie Sie sehr wohl wissen. Der Fall hat so viel Aufsehen erregt, daß es garantiert ein langer, schmutziger Prozeß werden wird.«

»Ich bin davon überzeugt, daß -«

»Ich bin schon eine ganze Weile Richterin, Mr. Singer, und ich habe mir schon alle möglichen Einlassungen anhören müssen. Manche schützen Notwehr vor - das ist akzeptabel. Manche vorübergehende geistige Umnachtung - das ist nachvollziehbar. Andere verminderte Schuldfähigkeit ... Aber ich will Ihnen mal sagen, wovon ich gar nichts halte, Herr Rechtsanwalt. >Nicht schuldig, weil nicht ich, sondern mein Alter ego die Tat begangen hat.< Um es mit einem Begriff auszudrücken, der in keinem Rechtskommentar vorkommt - so was ist Bockmist. Ihre Mandantin hat die Straftaten entweder begangen oder nicht. Wenn sie sich zu einem Schuldeingeständnis bereit erklärt, können wir eine Menge Zeit und -«

»Nein, Euer Ehren. Nicht mit mir.«

Richterin Williams musterte David einen Moment lang. »Sie sind ziemlich stur. Manche Menschen mögen das bewundernswert finden.« Sie beugte sich nach vorn. »Ich nicht.«

»Euer Ehren -«

»Sie zwingen uns, in ein Verfahren einzutreten, das mindestens drei Monate in Anspruch nehmen wird - wenn nicht mehr.«

Brennan nickte. »Ganz meine Meinung.«

»Tut mir leid, wenn Sie den Eindruck haben -«

»Mr. Singer, ich bin nur Ihnen zuliebe hier. Wenn wir Ihrer Mandantin den Prozeß machen, wird sie sterben.«

»Moment! Sie urteilen hier im voraus, ohne daß der Fall überhaupt -«

»Ich urteile im voraus? Haben Sie das Beweismaterial gesehen?«

»Ja, ich -«

»Himmel noch mal! An sämtlichen Tatorten wurden Ashley Pattersons Fingerabdrücke und Spuren mit ihrer DNS sichergestellt. Mir ist bislang noch kein Fall untergekommen, der eindeutiger gewesen wäre. Wenn Sie an Ihrer Vorgehensweise festhalten wollen, könnte die Sache leicht zu einem Affentheater werden. Nun, das werde ich nicht zulassen. Ich dulde kein Affentheater in meinem Gerichtssaal. Erledigen wir die Sache hier und jetzt. Ich frage Sie noch einmal - werden Sie auf schuldig plädieren, wenn Ihre Mandantin dafür mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne vorzeitige Entlassung davonkommt?« »Nein«, erwiderte David halsstarrig.

Sie funkelte ihn an. »Na schön. Wir sehen uns nächste Woche.«

Er hatte sie sich zur Feindin gemacht.

15


In San Jose ging es zu wie auf dem Jahrmarkt. Pressevertreter aus aller Welt fielen in der Stadt ein. Binnen kürzester Zeit waren sämtliche Hotels ausgebucht, und etliche Journalisten waren gezwungen, sich in den umliegenden Städten Santa Clara, Sunnyvale und Palo Alto einzumieten. David wurde auf Schritt und Tritt von Reportern belagert.

»Mr. Singer, berichten Sie uns etwas über den Fall. Haben Sie vor, Ihre Mandantin für nicht schuldig zu erklären ...?«

»Werden Sie Ashley Patterson in den Zeugenstand rufen ...?«

»Stimmt es, daß die Staatsanwaltschaft für den Fall eines Schuldeingeständnisses zu einem Entgegenkommen beim Strafantrag bereit war?«

»Wird Dr. Patterson zugunsten seiner Tochter aussagen ...?« »Meine Illustrierte bietet fünfzigtausend Dollar für ein Interview mit Ihrer Mandantin .«

Mickey Brennan wurde ebenfalls von Journalisten verfolgt.

»Mr. Brennan, würden Sie uns ein paar Worte zu dem bevorstehenden Prozeß sagen?«

Brennan drehte sich um und lächelte in die Fernsehkameras. »Ja. Ich kann das Ganze in drei Worten zusammenfassen. >Wir werden gewinnend Kein weiterer Kommentar.«

»Moment! Glauben Sie, daß sie geisteskrank ist ...?«

»Hat die Staatsanwaltschaft vor, die Todesstrafe zu beantragen ...?«

»Haben Sie tatsächlich von einem glasklaren Fall gesprochen

...?«

David mietete sich in unmittelbarer Nähe des Gerichtsgebäudes von San Jose ein Büro, in dem er mit seinen Zeugen sprechen und sie auf die Verhandlung vorbereiten konnte. Er hatte beschlossen, daß Sandra bis zum Prozeßbeginn weiterhin in Quillers Kanzlei in San Francisco arbeiten sollte. Unterdessen war Dr. Salem in San Jose eingetroffen.

»Ich möchte, daß Sie Ashley noch einmal in Hypnose versetzen«, sagte David. »Wir sollten zusehen, daß wir von ihr und den anderen Persönlichkeiten soviel wie möglich erfahren, bevor der Prozeß beginnt.«

Sie trafen sich mit Ashley in einer Arrestzelle der Bezirksstrafanstalt. Sie war sichtlich darum bemüht, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Dennoch kam sie David vor wie ein Reh, daß unverhofft vom Scheinwerferlicht eines Lastwagens erfaßt wird.

»Guten Morgen, Ashley. Sie kennen doch Dr. Salem?«

Ashley nickte.

»Er wird Sie noch einmal hypnotisieren. Ist Ihnen das recht?«

»Will er wieder mit den . den anderen sprechen?« fragte Ashley.

»Ja. Haben Sie etwas dagegen?«

»Nein. Aber ich - ich möchte nicht mit ihnen reden.«

»Ist schon gut. Das müssen Sie auch nicht.«

»Ich hasse das!« stieß Ashley ungehalten aus.

»Ich weiß«, sagte David besänftigend. »Keine Sorge. Es wird nicht lange dauern.« Er nickte Dr. Salem zu.

»Machen Sie es sich bequem, Ashley. Denken Sie dran, wie leicht es beim letztenmal ging. Versuchen Sie an nichts zu denken. Entspannen Sie sich. Hören Sie auf meine Stimme. Lösen Sie sich von allem. Sie werden müde. Ihre Augen werden schwer. Sie möchten nur noch schlafen ... Schlafen Sie ein .«

Nach zehn Minuten war sie soweit. Dr. Salem gab David ein Zeichen, worauf er sich neben Ashley stellte.

»Ich möchte mit Alette sprechen. Sind Sie da, Alette?«

Und wieder sahen sie, wie sich Ashleys Züge veränderten, weicher wurden, wie sie es schon einmal erlebt hatten. Dann ertönte wieder die zarte Stimme mit dem melodiösen italienischen Singsang.

»Buon giorno.«

»Guten Morgen, Alette. Wie geht es Ihnen?«

»Male. Es sind schwere Zeiten.«

»Leicht fällt uns das allen nicht«, versicherte ihr David, »aber alles wird wieder gut.«

»Hoffentlich.«

»Alette, ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Si...«

»Haben Sie Jim Cleary gekannt?«

»Nein.«

»Haben Sie Richard Melton gekannt?«

»Ja.« Ihre Stimme war voll Trauer. »Was ihm - was ihm da zugestoßen ist -, das war einfach schrecklich.«

David warf Dr. Salem einen kurzen Blick zu. »Ja, es war schrecklich. Wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?«

»Ich habe ihn in San Francisco besucht. Wir sind ins Museum gegangen und haben hinterher gemeinsam zu Abend gegessen. Als ich aufbrechen wollte, hat er mich zu sich nach Hause eingeladen.«

»Sind Sie mitgegangen?«

»Nein. Ich wünschte, ich hätte es getan«, erwiderte Alette reumütig. »Vielleicht hätte ich ihm das Leben retten können.« Sie schwieg einen Moment. »Wir haben uns voneinander verabschiedet, dann bin ich nach Cupertino zurückgefahren.«

»Und das war das letztemal, daß Sie ihn gesehen haben?«

»Ja.«

»Vielen Dank, Alette.«

David beugte sich zu Ashley hinab. »Toni?« sagte er. »Sind Sie da, Toni? Ich möchte mit Ihnen reden.«

Und wieder veränderte sich Ashleys Gesicht. Einmal mehr verwandelte sie sich vor ihren Augen in eine andere Person. Sie wirkte mit einemmal selbstsicher, körperbewußt, aufreizend. Mit ihrer kehligen, aber durchaus tonsicheren Stimme begann sie zu singen.

»Will ich in mein Keller gehn, will mein Weinlein zapfen, steht ein bucklicht Männlein da, tut mir ‘n Krug wegschnappen.«

Sie blickte David an. »Weißt du, warum ich so auf das Lied stehe, mein Guter?«

»Nein.«

»Weil meine Mutter es nicht ausstehen konnte. Mich konnte sie auch nicht ausstehen.«

»Warum konnte sie Sie nicht ausstehen?«

»Tja, jetzt können wir sie nicht mehr danach fragen, was?« Toni lachte. »Jetzt isse weg. Ich konnte ihr halt nichts recht machen. Wie war denn deine Mutter, David?«

»Meine Mutter war ein wunderbarer Mensch.«

»Dann hast du aber Glück gehabt, was? Das ist doch die reinste Lotterie. Der liebe Gott läßt einfach die Lostrommel laufen, nicht wahr?«

»Glauben Sie an Gott? Sind Sie religiös, Toni?«

»Weiß ich nicht. Vielleicht gibt’s ja ‘nen Gott. Wenn ja, hat er jedenfalls einen seltsamen Sinn für Humor, stimmt’s? Alette ist ziemlich gläubig. Die geht regelmäßig zur Kirche.«

»Und Sie?«

Toni lachte kurz auf. »Tja, wenn sie geht, bin ich auch dabei.«

»Toni, glauben Sie, daß es richtig ist, einen anderen Menschen zu töten?«

»Nein, selbstverständlich nicht.«

»Dann -« »Es sei denn, man ist dazu gezwungen.«

David und Dr. Salem warfen sich einen kurzen Blick zu.

»Wie meinen Sie das?«

Sie schlug einen anderen Tonfall an, klang mit einemmal abweisend. »Tja, weißt du, manchmal muß man sich zur Wehr setzen. Wenn einem jemand weh tun will.« Sie wurde zusehends aufgeregter. »Wenn einem irgendein Idiot mit dreckigen Sachen kommen will.« Sie geriet außer sich.

»Toni -«

Sie fing an zu weinen. »Wieso können die mich nicht in Ruhe lassen? Wieso mußten sie -?« Sie schrie jetzt.

»Toni -«

Schweigen.

»Toni .«

Keine Reaktion.

»Sie ist weg«, sagte Dr. Salem. »Ich wecke Ashley jetzt lieber auf.«

David seufzte. »Von mir aus.«

Ein paar Minuten später schlug Ashley die Augen auf.

»Wie ist Ihnen zumute?« fragte David.

»Ich bin müde. Habe ich - hat es geklappt?«

»Ja. Wir haben mit Alette und Toni gesprochen. Sie -«

»Ich will es nicht wissen.«

»Na schön. Sie sollten sich jetzt lieber ausruhen, Ashley. Ich komme Sie heute nachmittag noch mal besuchen.«

Sie blickten ihr hinterher, als sie von einer Gefängniswärterin weggeführt wurde.

»Sie müssen sie in den Zeugenstand rufen, David«, sagte Dr. Salem. »Das wird sämtliche Geschworenen davon überzeugen, daß -«

»Ich habe es mir hin und her überlegt«, erwiderte David. »Ich glaube, ich bringe das nicht fertig.«

Dr. Salem schaute ihn einen Moment lang an. »Warum nicht?«

»Weil Brennan, der Staatsanwalt, keine Gnade kennt. Der nimmt sie auseinander. Das Risiko kann ich nicht eingehen.«

Zwei Tage vor Beginn des Verfahrens aßen Sandra und David mit den Quillers zu Abend.

»Wir sind im Wyndham Hotel abgestiegen«, sagte David. »Der Geschäftsführer hat mir einen Riesengefallen getan. Sandra kommt ebenfalls dort unter. Die Stadt ist völlig überlaufen.«

»Wenn es jetzt schon so zugeht«, sagte Emily, »dann stell dir mal vor, was los sein wird, wenn der Prozeß beginnt.«

Quiller warf David einen kurzen Blick zu. »Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«

David schüttelte den Kopf. »Ich muß nur eine Entscheidung treffen. Soll ich Ashley in den Zeugenstand rufen oder nicht?«

»Schwer zu sagen«, erwiderte Jesse Quiller. »Kommt ganz darauf an, aber dumm stehst du in jedem Fall da. Brennan wird Ashley Patterson vermutlich als kaltschnäuzige, blutrünstige Bestie hinstellen. Und mit diesem Eindruck werden sich die Geschworenen zur Beratung zurückziehen, wenn du sie nicht aufrufst und ihnen das Gegenteil beweist. Andererseits besteht, wie ich deinen Worten entnehme, die Gefahr, daß Brennan sie im Zeugenstand fertigmacht.«

»Brennan bietet sämtliche medizinischen Sachverständigen auf, die wie er der Meinung sind, daß es keine multiple Persönlichkeitsstörung gibt.«

»Dann mußt du die Geschworenen eben vom Gegenteil überzeugen.«

»Genau das habe ich auch vor«, sagte David. »Weißt du, was mir zu schaffen macht, Jesse? Die Witze, die neuerdings kursieren. Neulich hat sich wer darüber ausgelassen, daß es mir lieber wäre, wenn die Verhandlung woanders stattfinden würde, was aber nicht möglich sei, weil sie praktisch überall jemanden umgebracht habe. Kannst du dich noch an Johnny Carson erinnern? Der konnte sich über etwas lustig machen und dabei den Anstand wahren. Heutzutage zielen die Talkmaster nur noch unter die Gürtellinie. Wie die sich auf Kosten anderer lustig machen, das ist einfach hundsgemein.«

»David?«

»Ja?«

»Es wird noch schlimmer werden«, sagte Jesse Quiller leise.

David Singer fand in der Nacht vor dem ersten Gerichtstermin keinen Schlaf. Tausend düstere Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Als er schließlich doch einschlief, vernahm er eine Stimme. Du hast deine letzte Mandantin sterben lassen. Was ist, wenn diese ebenfalls stirbt?

Schweißgebadet setzte sich David auf.

Sandra öffnete die Augen. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja. Nein. Was, zum Teufel, mache ich hier eigentlich? Ich hätte doch nur nein zu Dr. Patterson sagen müssen.«

Sandra drückte seinen Arm und sagte leise: »Und wieso hast du es nicht getan?«

»Du hast recht«, brummte er. »Ich konnte es nicht.«

»Na also. Und jetzt sieh zu, daß du ein bißchen schläfst, damit du morgen früh frisch und munter bist.«

»Großartige Idee.«

Er lag die ganze Nacht wach.

Richterin Williams hatte recht gehabt, was das Aufsehen anging. Die Reporter waren unerbittlich. Journalisten aus aller Welt fielen in San Jose ein, begierig, von dem Prozeß gegen die schöne Frau zu berichten, die mehrere Morde begangen und ihre Opfer verstümmelt hatte.

Mickey Brennan war zunächst verbittert gewesen, weil er in dem bevorstehenden Verfahren die Morde an Jim Cleary und Jean Claude Parent nicht zur Sprache bringen durfte, doch die Medien hatten ihm die Sache abgenommen. Ob in FernsehTalk-Shows, in Illustrierten oder Tageszeitungen, überall wurden die fünf Morde in allen grausigen Einzelheiten geschildert, einschließlich der Tatsache, daß sämtliche Opfer entmannt worden waren. Mickey Brennan war zufrieden.

Die Presse war bereits in voller Stärke angerückt, als David im Gerichtssaal eintraf. Sofort war er von Reportern umlagert.

»Mr. Singer, sind Sie noch bei Kincaid, Turner, Rose & Ripley beschäftigt ...?«

»Schauen Sie mal hierher, Mr. Singer ...«

»Stimmt es, daß man Sie wegen dieses Falls entlassen hat?« »Können Sie uns etwas über Helen Woodman sagen? Sie haben sie doch bei dem Mordprozeß seinerzeit vertreten?«

»Hat Ashley Patterson gesagt, warum sie es getan hat ...?« »Haben Sie vor, Ihre Mandantin in den Zeugenstand zu rufen ...?«

»Kein Kommentar«, versetzte David kurz und knapp.

Auch Mickey Brennan wurde sofort von Pressevertretern umringt, als er vor dem Gerichtsgebäude vorfuhr.

»Mr. Brennan, wie wird der Prozeß Ihrer Meinung nach ausgehen ...?«

»Haben Sie schon einmal ein Verfahren erlebt, in dem die Verteidigung behauptet, nicht die Angeklagte, sondern deren Alter ego sei verantwortlich ...?«

Brennan lächelte leutselig. »Nein. Aber ich kann es kaum erwarten, mir sämtliche Angeklagten vorzunehmen.« Er erntete allgemeines Gelächter, genau wie er gehofft hatte. »Vielleicht sind ja so viele da, daß es für eine Baseballmannschaft reicht.« Wieder Gelächter. »Ich muß jetzt reingehen. Ich möchte keine der Angeklagten warten lassen.«

Die Auswahl der Geschworenen begann damit, daß Richterin Williams den Kandidaten allgemeine Fragen stellte. Anschließend war die Verteidigung an der Reihe und danach die Staatsanwaltschaft.

Für den Laien mag sich die Auswahl der Geschworenen leicht darstellen: Man nehme den Geschworenen, der einem wohlgesonnen scheint, und lehne die anderen ab. Tatsächlich aber handelt es sich bei der Auswahl um ein sorgfältig vorbereitetes Ritual. Geschickte Anwälte stellen keine direkten Fragen, die sich mit einem simplen »Ja« oder »Nein« beantworten lassen. Sie erkundigen sich nach diesem und jenem, ermunterten die Kandidaten dazu, zu plaudern und etwas über sich und ihre wahre Einstellung preiszugeben.

Mickey Brennan und David Singer verfolgten unterschiedliche Ziele. Brennan ging es in diesem Fall darum, daß die männlichen Geschworenen in der Überzahl waren, denn Männer würde die Vorstellung, daß eine Frau ihre Opfer erstochen und entmannt hatte, erschrecken und anwidern. Mit seinen Fragen wollte er feststellen, welche Kandidaten eine eher konservative Haltung vertraten und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht an Geister und Unholde glaubten, sich also nicht von einer Frau hinters Licht führen ließen, die behauptete, von anderen Persönlichkeiten besessen zu sein.

David bezweckte das genaue Gegenteil.

»Mr. Harris, nicht wahr? Ich bin David Singer. Ich vertrete die Angeklagte. Haben Sie schon einmal als Geschworener gedient, Mr. Harris?«

»Nein.«

»Zunächst herzlichen Dank, daß Sie bereit sind, den Aufwand und die Mühe auf sich zu nehmen.«

»So ein großer Mordprozeß könnte doch ganz interessant werden.«

»Ja. Ich glaube, das wird er auch.«

»Genaugenommen habe ich mich darauf gefreut.«

»Tatsächlich?«

»Ja.«

»Wo arbeiten Sie, Mr. Harris?«

»Bei der United Steel.«

»Ich kann mir vorstellen, daß Sie und Ihre Kollegen sich über den Fall Patterson unterhalten haben.«

»Ja. Ganz recht, das haben wir.«

»Durchaus verständlich«, sagte David. »Anscheinend unterhält sich alle Welt darüber. Wie war die allgemeine Einstellung? Sind Ihre Kollegen der Meinung, daß Ashley Patterson schuldig ist?«

»Ja. Das muß man so sagen.«

»Und Sie, sind Sie ebenfalls dieser Meinung?«

»Na ja, es sieht ganz danach aus.«

»Aber Sie sind bereit, die Beweisaufnahme zu verfolgen, ehe Sie sich ein Urteil bilden.«

»Ja. Ich will mir alles anhören.«

»Was lesen Sie am liebsten, Mr. Harris?«

»Ich lese gar nicht viel. Ich gehe lieber campen, jagen und angeln.«

»Ein Naturfreund. Wenn Sie nachts draußen campen und zu den Sternen aufblicken, fragen Sie sich da manchmal, ob es da oben noch andere Zivilisationen gibt?«

»Meinen Sie damit dieses verrückte UFO-Zeug? An den Unsinn glaube ich nicht.«

David wandte sich an Richterin Williams. »Für geeignet befunden, Euer Ehren.«

Ein weiterer Kandidat wurde befragt.

»Was machen Sie in Ihrer Freizeit, Mr. Allen?«

»Na ja, am liebsten lese ich oder sehe fern.«

»Das mache ich auch am liebsten. Was sehen Sie sich an?«

»Donnerstagabend gibt’s ein paar klasse Sendungen. Da kann man sich immer schwer entscheiden. Die verdammten Sender bringen die guten Sachen alle zur gleichen Zeit.« »Da haben Sie recht. Ein Jammer ist das. Haben Sie sich schon einmal Akte X angesehen?«

»Ja. Meine Kinder stehen darauf.«

»Was ist mit Sabrina - Total verhext!?«

»Ja. Das sehen wir uns auch an. Eine gute Serie.«

»Und was lesen Sie?«

»Anne Rice, Stephen King ...«

Ja.

Ein weiterer Kandidat war an der Reihe.

»Welche Sendungen bevorzugen Sie im Fernsehen, Mr. Mayer?«

»Magazine, Nachrichtenjournal, Dokumentationen .«

»Was lesen Sie am liebsten?«

»Hauptsächlich Sachbücher über historische oder politische Themen.«

»Vielen Dank.«

Nein.

Richterin Tessa Williams saß auf der Bank und hörte sich mit unbewegter Miene die Befragung an. Doch David spürte ihre Mißbilligung bei jedem Blick, den sie ihm zuwarf.

Am Ende, als schließlich der letzte Geschworene ausgewählt war, bestand das Gremium aus sieben Männern und fünf Frauen. Brennan warf David einen triumphierenden Blick zu. Das würde ein Schlachtfest werden.

16


An dem Tag, an dem der eigentliche Prozeß begann, begab sich David frühmorgens zu Ashley ins Gefängnis. Sie war das reinste Nervenbündel. »Ich stehe das nicht durch. Ich kann nicht. Sagen Sie denen, daß Sie mich in Ruhe lassen sollen.«

»Ashley - es wird alles wieder gut. Wir werden uns dem Verfahren stellen, und wir werden gewinnen.«

»Sie - Sie wissen ja nicht, wie das ist. Ich komme mir vor, als wäre ich in der Hölle.«

»Wir werden Sie da rausholen. Dies ist der erste Schritt.«

Sie zitterte am ganzen Leib. »Ich habe Angst, daß - daß man mir irgend etwas Schreckliches antut.«

»Das werde ich nicht zulassen«, sagte David entschieden. »Sie müssen an mich glauben. Denken Sie daran - Sie sind nicht verantwortlich für das, was geschehen ist. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Man erwartet uns.«

Sie holte tief Luft. »Na gut. Ich werde es überstehen. Ich werde es überstehen. Ich werde es überstehen.«

Dr. Patterson hatte im Zuschauerraum Platz genommen. Auf die Fragen, mit denen ihn die Reporter vor dem Gerichtssaal bombardiert hatten, hatte er nur erwidert: »Meine Tochter ist unschuldig.«

Etliche Reihen weiter weg saßen Jesse und Emily Quiller, die zur moralischen Unterstützung angereist waren.

Am Tisch der Anklagevertretung warteten Mickey Brennan und seine beiden Assistentinnen, Susan Freeman und Eleanor Tucker, auf die Eröffnung des Verfahrens.

David saß zwischen Sandra und Ashley am Verteidigungstisch. Die beiden Frauen hatten sich eine Woche zuvor kennengelernt.

»David - man braucht sich Ashley doch nur anzugucken, und schon wird einem klar, daß sie unschuldig ist.«

»Sandra, wenn man sich die Beweise ansieht und die Spuren, die sie hinterlassen hat, wird einem aber auch klar, daß sie die Männer umgebracht hat. Aber zwischen dem Tatbestand an sich und der Schuldfrage besteht ein großer Unterschied. Davon muß ich jetzt nur noch die Geschworenen überzeugen.«

Richterin Williams betrat den Gerichtssaal und begab sich zum Richterstuhl. »Alles aufstehen«, rief der Gerichtsdiener. »Das Gericht tritt zusammen. Den Vorsitz hat die ehrenwerte Richterin Tessa Williams.«

»Sie dürfen sich wieder hinsetzen«, sagte Richterin Williams. »Zur Verhandlung steht die Strafsache des Staates Kalifornien gegen Ashley Patterson. Fangen wir an.« Sie blickte zu Bren-nan. »Möchte der Anklagevertreter eine einleitende Erklärung abgeben?«

Mickey Brennan erhob sich. »Ja, Euer Ehren.« Er wandte sich an die Geschworenen und ging auf sie zu. »Guten Morgen. Wie Sie wissen, meine Damen und Herren, wird die Angeklagte, über die hier verhandelt wird, dreier blutiger Morde beschuldigt. Mörder verstehen sich zu tarnen.« Er nickte zu Ashley hin. »Ihre Tarnung besteht darin, daß sie eine unschuldige, wehrlose junge Frau spielt. Doch die Staatsanwaltschaft wird beweisen, daß die Angeklagte willentlich und wissentlich drei unschuldige Männer ermordet und verstümmelt hat.

Sie hat bei einer dieser Taten einen falschen Namen benutzt, wohl weil sie hoffte, daß man ihr dadurch nicht auf die Schliche kommen würde. Sie wußte genau, was sie tat. Wir haben es hier mit vorsätzlichem kaltblütigem Mord zu tun. Im Laufe dieses Verfahrens werde ich Ihnen nach und nach all die Beweise vorlegen, mit denen wir die Angeklagte, die hier vor uns sitzt, überführen werden. Ich danke Ihnen.«

Er kehrte zu seinem Platz zurück.

Richterin Williams blickte zu David. »Möchte sich die Verteidigung ebenfalls erklären?«

»Ja, Euer Ehren.« David stand auf und schaute zu den Geschworenen. Er atmete tief durch. »Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Laufe dieser Verhandlung werde ich nachweisen, daß Ashley Patterson nicht verantwortlich für die Taten ist, um die es hier geht. Sie hatte weder ein Motiv, noch war ihr bewußt, daß sie diese Morde beging. Meine Mandantin ist ein Opfer. Das Opfer eines Leidens, das man als MPS bezeichnet - als multiple Persönlichkeitsstörung, eine psychische Erkrankung, die ich Ihnen im Laufe des Verfahrens noch näher erläutern werde.«

Er warf einen Blick zu Richterin Williams und fuhr entschieden fort: »In der Medizin ist dieses Krankheitsbild wohlbekannt. Es äußert sich darin, daß der oder die Betroffene von anderen Persönlichkeiten beherrscht wird, die sein oder ihr Verhalten bestimmen. Man weiß schon seit langem um dieses Phänomen. Benjamin Rush, ein Arzt und einer der Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, hat sich in seinen Vorlesungen mit Fallstudien von MPS-Kranken befaßt. Es gibt sowohl aus dem letzten als auch aus diesem Jahrhundert zahlreiche Berichte über MPS-Fälle, Fälle, in denen Menschen von anderen Persönlichkeiten gesteuert wurden.«

Brennan hörte Davids Ausführungen mit einem spöttischen Grinsen zu.

»Wir werden beweisen, daß es eine andere Persönlichkeit war, die die Initiative übernahm und die Morde beging, die man Ashley Patterson zur Last legt, Morde, die zu begehen sie keinerlei Grund hatte. Nicht den geringsten. Sie hatte keinen Einfluß auf das Geschehen und ist daher auch nicht verantwortlich für das, was geschehen ist. Im Laufe dieses Prozesses werde ich angesehene Ärzte aufrufen, die diese Krankheit näher erläutern werden. Glücklicherweise ist sie heilbar.«

Er sah die Geschworenen an. »Ashley Patterson hatte keinerlei Einfluß auf ihr Verhalten, daher bitten wir um der Gerechtigkeit willen, daß Ashley Patterson nicht wegen Straftaten verurteilt wird, für die sie nicht verantwortlich ist.«

David nahm Platz.

Richterin Williams blickte zu Brennan. »Ist die Staatsanwaltschaft bereit fortzufahren?«

Brennan erhob sich. »Ja, Euer Ehren.« Er lächelte seine Assistentinnen an und baute sich vor der Geschworenenbank auf. Er blieb einen Moment lang stehen und rülpste laut. Die Geschworenen starrten ihn verdutzt an.

Brennan schaute sie einen Moment lang verwundert an, dann tat er so, als begreife er. »Oh, ich verstehe. Sie erwarten, daß ich mich entschuldige. Nun ja, ich habe es nicht getan, weil ich das nicht gewesen bin. Das war Pete, mein Alter ego.«

David sprang wutentbrannt auf. »Einspruch, Euer Ehren. Das ist die unverschämteste .«

»Stattgegeben.«

Doch der Schaden war bereits angerichtet.

Brennan lächelte David gönnerhaft an und wandte sich dann wieder an die Geschworenen. »Nun ja, ich glaube, eine derartige Verteidigungsstrategie hat es seit den Hexenprozessen von Salem vor dreihundert Jahren nicht mehr gegeben.« Er warf einen Blick auf Ashley. »Ich bin’s nicht gewesen. Nein, Sir. Der Teufel hat mich dazu angestiftet.«

David war wieder aufgesprungen. »Einspruch. Der -«

»Abgelehnt.«

David ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen.

Brennan trat noch näher an die Geschworenenbank. »Ich habe Ihnen versprochen, daß ich beweisen werde, daß die Angeklagte vorsätzlich und kaltblütig drei Männer ermordet und verstümmelt hat - Dennis Tibble, Richard Melton und Deputy Sam Blake. Drei Männer! Allen Behauptungen der Verteidigung zum Trotz« - er wandte sich um und deutete wieder auf Ashley - »sitzt dort nur eine Angeklagte, und zwar die Person, die diese Morde begangen hat. Wie hat Mr. Singer das bezeichnet? Als multiple Persönlichkeitsstörung? Nun, ich werde eine Reihe berühmter Ärzte aufrufen, die Ihnen unter Eid erklären werden, daß es so etwas nicht gibt! Doch zunächst wollen wir ein paar Fachleute hören, die Ihnen darlegen werden, daß die Angeklagte, und nur sie, diese Straftaten begangen haben kann.«

Brennan wandte sich an Richterin Williams. »Ich rufe meinen ersten Zeugen auf, Special Agent Vincent Jordan.«

Ein kleiner, kahlköpfiger Mann stand auf und trat in den Zeugenstand.

»Nennen Sie bitte Ihren vollen Namen und buchstabieren Sie ihn für das Protokoll«, sagte der Gerichtsdiener.

»Special Agent Vincent Jordan, J-o-r-d-a-n.«

Brennan setzte sich und wartete, bis er vereidigt war. »Sie sind beim Federal Bureau of Investigation in Washington, D.C., tätig, nicht wahr?«

»Ja, Sir.«

»Und was machen Sie beim FBI, Special Agent Jordan?«

»Ich bin Leiter der Abteilung Fingerabdrücke.«

»Wie lange haben Sie diese Position schon inne?«

»Fünfzehn Jahre.«

»Fünfzehn Jahre. Ist es in dieser langen Zeit schon einmal vorgekommen, daß unterschiedliche Personen die gleichen Fingerabdrücke hatten?«

»Nein, Sir.«

»Wie viele Menschen sind beim FBI per Fingerabdruck erfaßt?«

»Bei der letzten Zählung waren es knapp über zweihundertfünfzig Millionen, aber bei uns gehen Tag für Tag über vier-unddreißigtausend Zehnfingerabdruckkarten ein.«

»Und keiner dieser Abdrücke gleicht dem anderen?«

»Nein, Sir.«

»Wie ordnen Sie Fingerabdrücke zu?«

»Zur Identifizierung halten wir uns an sieben verschiedene Muster. Fingerabdrücke sind einzigartig. Sie werden vor der Geburt ausgebildet, und sie bleiben das ganze Leben lang unverändert. Wenn man von gewissen äußeren Einflüssen einmal absieht, sei es durch einen Unfall oder auch absichtlich, gleicht kein Fingerabdruck dem anderen.«

»Special Agent Jordan, hat man Ihnen die Fingerabdrücke zugesandt, die man an den Tatorten dieser drei Morde sicherstellte, die der Angeklagten zur Last gelegt werden?«

»Ja, Sir. So ist es.«

»Und hat man Ihnen auch die Fingerabdrücke der Angeklagten zukommen lassen, die Abdrücke von Ashley Patterson?«

»Ja, Sir.«

»Haben Sie diese Abdrücke persönlich verglichen?«

»Jawohl.«

»Und was haben Sie dabei festgestellt?«

»Daß die Abdrücke, die am Tatort sichergestellt wurden, mit denen übereinstimmen, die man Ashley Patterson abgenommen hat.«

Im Zuschauerraum wurde es laut.

»Ruhe bitte!«

Brennan wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. »Sie stimmten also überein? Gibt es Ihrer Meinung nach auch nur den geringsten Zweifel, daß sie identisch sind, Agent Jordan? Könnte vielleicht ein Versehen vorliegen?«

»Nein, Sir. Sämtliche Abdrücke waren klar und deutlich zu erkennen.«

»Nur zur Klarstellung - wir reden hier von den Fingerabdrücken, die man an den Tatorten sichergestellt hat, an denen Dennis Tibble, Richard Melton und Deputy Sam Blake ermordet wurden?«

»Ja, Sir.«

»Und an allen Tatorten fand man die Fingerabdrücke der Angeklagten, die Abdrücke von Ashley Patterson?«

»Ganz recht.«

»Wäre es Ihrer Meinung nach möglich, daß Ihnen ein Fehler unterlaufen ist?«

»Niemals.«

»Ich danke Ihnen, Agent Jordan.« Brennan wandte sich an David. »Ihr Zeuge.«

David blieb einen Moment lang sitzen, dann erhob er sich und begab sich zum Zeugenstand. »Agent Jordan, stellen Sie bei Ihren Untersuchungen mitunter fest, daß Fingerabdrücke absichtlich verschmiert oder verwischt wurden, weil der Täter seine Spuren beseitigen wollte?«

»Ja, aber für gewöhnlich können wir sie mit hochmoderner Lasertechnologie sichtbar machen.«

»Mußten Sie darauf auch in Ashley Pattersons Fall zurückgreifen?«

»Nein, Sir.«

»Warum nicht?«

»Na ja, wie schon gesagt - die Fingerabdrücke waren klar und deutlich.«

David warf den Geschworenen einen Blick zu. »Sie wollen damit also sagen, daß die Angeklagte keinerlei Versuch unternahm, ihre Fingerabdrücke unkenntlich zu machen oder zu entfernen?«

»Ganz recht.«

»Vielen Dank. Keine weiteren Fragen.« Er wandte sich an die Geschworenen. »Ashley Patterson unternahm keinerlei Versuch, ihre Fingerabdrücke zu verwischen, weil sie unschuldig ist und -«

Richterin Williams ging dazwischen. »Das reicht, Herr Rechtsanwalt. Heben Sie sich das für Ihr Plädoyer auf.«

David nahm wieder Platz.

Brennan wandte sich an Special Agent Jordan. »Sie sind entlassen.« Der FBI-Agent verließ den Zeugenstand.

»Ich möchte meinen nächsten Zeugen aufrufen«, sagte Bren-nan. »Mr. Stanley Clarke.«

Ein junger Mann mit langen Haaren wurde in den Gerichtssaal geleitet. Er ging zum Zeugenstand. Im Saal herrschte gespanntes Schweigen, als er vereidigt wurde.

»Was sind Sie von Beruf, Mr. Clarke?« fragte Brennan.

»Ich bin beim Bundeslaboratorium für Biotechnologie beschäftigt. Ich befasse mich mit der Erforschung der Desoxyribonukleinsäure.«

»Für uns, die wir nicht vom Fach sind, besser bekannt unter der Bezeichnung DNS?«

»Ja, Sir.«

»Seit wann sind Sie beim Bundeslaboratorium für Biotechnologie beschäftigt?«

»Seit sieben Jahren.«

»Und welche Stellung haben Sie inne?«

»Ich bin Abteilungsleiter.«

»Und in diesen sieben Jahren haben Sie sicher allerhand Erfahrung in der DNS-Untersuchung gewonnen?«

»Klar. Ich mach’ das tagtäglich.«

Brennan warf den Geschworenen einen kurzen Blick zu. »Ich glaube, wir wissen alle um die Bedeutung der DNS-Analyse.« Er deutete auf die Zuschauer. »Würden Sie sagen, daß etwa eine Handvoll Menschen in diesem Gerichtssaal eine identische DNS besitzen?«

»Nein, Sir. Die Wahrscheinlichkeit, daß Menschen, die nicht miteinander verwandt sind, das gleiche DNS-Muster aufweisen, beträgt, wie wir aufgrund vergleichender Studien anhand des in Datenbanken gesammelten Erbgutmaterials feststellen können, eins zu fünfhundert Milliarden.«

Brennan wirkte tief beeindruckt. »Eins zu fünfhundert Milliarden. Mr. Clarke, anhand welcher am Tatort sichergestellten Spuren bestimmen Sie die DNS?«

»Die DNS läßt sich anhand von Speichelresten, Samenflüssigkeit oder Vaginalsekret bestimmen, aber auch anhand von Blutspuren, Haaren, Zähnen, Knochenmark .«

»Und anhand jeder dieser Spuren können Sie feststellen, von welcher Person sie stammen?«

»Ganz recht.«

»Haben Sie die Spuren, die man im Zusammenhang mit den Morden an Dennis Tibble, Richard Melton und Samuel Black sicherstellte, persönlich ausgewertet und die DNS-Muster verglichen?«

»Jawohl.«

»Und hat man Ihnen später mehrere Haarsträhnen der Angeklagten Ashley Patterson übergeben?«

»So ist es.«

»Und was haben Sie festgestellt, als Sie die DNS-Muster verglichen, die Sie anhand der Haare der Angeklagten wie auch aufgrund der an den Tatorten sichergestellten Spuren bestimmen konnten?«

»Sie waren identisch.«

Diesmal fiel die Reaktion im Zuschauerraum noch lauter aus.

Richterin Williams schlug mit dem Hammer auf ihr Pult. »Ruhe! Seien Sie still, oder ich lasse den Gerichtssaal räumen.«

Brennan wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. »Mr. Clarke - haben Sie soeben gesagt, daß die DNS-Muster, die Sie von den Spuren an den drei Tatorten gewinnen konnten, mit der DNS der Angeklagten übereinstimmten?« Auf das letzte Wort legte Brennan besonderen Nachdruck.

»Ja, Sir.«

Brennan warf einen Blick zu dem Tisch, an dem Ashley saß, und wandte sich dann wieder an den Zeugen. »Und wie steht’s mit Verunreinigungen? Wir erinnern uns alle an einen bekannten Strafprozeß, bei dem die für die DNS-Analyse verwendeten Spuren angeblich verunreinigt waren. Wäre es möglich, daß das Beweismaterial auch in diesem Fall unsachgemäß behandelt wurde, so daß es nicht mehr verwertbar oder -?«

»Nein, Sir. Sämtliche Spuren, anhand derer wir bei diesen drei Mordfällen eine DNS-Analyse vorgenommen haben, wurden mit großer Sorgfalt behandelt und befanden sich stets unter Verschluß.«

»Dann besteht also keinerlei Zweifel. Die Angeklagte hat die drei Männer ermordet und -?«

David sprang auf. »Einspruch, Euer Ehren. Der Staatsanwalt beeinflußt den Zeugen durch Suggestivfragen und -«

»Stattgegeben.«

David nahm wieder Platz.

»Ich danke Ihnen, Mr. Clarke.« Brennan wandte sich an David. »Ich bin fertig.«

»Ihr Zeuge, Mr. Singer«, sagte Richterin Williams.

»Keine Fragen.«

Die Geschworenen starrten David an.

Brennan tat überrascht. »Keine Fragen?« Er wandte sich an den Zeugen. »Sie sind entlassen.«

Dann schaute Brennan zu den Geschworenen und sagte: »Ich bin erstaunt, daß die Verteidigung keine Fragen an den Zeugen hat, denn seine Aussage beweist eindeutig, daß die Angeklagte drei unschuldige Männer ermordet und kastriert -«

Wieder sprang David auf. »Euer Ehren -«

»Stattgegeben. Sie gehen zu weit, Mr. Brennan!«

»Entschuldigung, Euer Ehren. Keine weiteren Fragen.«

Ashley schaute David verängstigt an.

»Keine Sorge«, flüsterte er ihr zu. »Bald sind wir an der Reihe.«

Am Nachmittag rief die Anklage weitere Zeugen auf, und deren Aussagen waren niederschmetternd.

»Hat Sie der Hauswart zu Dennis Tibbles Wohnung gerufen, Detective Lightman?«

»Ja.«

»Würden Sie uns schildern, was Sie dort vorgefunden haben?«

»Es war das reinste Schlachtfeld. Die Wohnung war von oben bis unten voller Blut.«

»In welchem Zustand haben Sie das Opfer vorgefunden?«

»Er war erstochen und entmannt worden.«

Brennan warf einen Blick zu den Geschworenen und verzog entsetzt das Gesicht. »Erstochen und entmannt. Haben Sie am Tatort irgendwelche Spuren gefunden?«

»O ja. Das Opfer hatte vor seinem Tod Geschlechtsverkehr. Wir haben Vaginalsekret und Fingerabdrücke gefunden.« »Warum haben Sie nicht gleich jemanden festgenommen?« »Weil die Fingerabdrücke, die wir gefunden hatten, nirgendwo registriert waren. Es hat eine Weile gedauert, bis wir eine Vergleichsmöglichkeit hatten.«

»Aber als Sie schließlich Ashley Pattersons Fingerabdrücke und die Auswertung der DNS-Untersuchung vorliegen hatten, paßte alles zusammen?«

»Genauso war es. Es hat alles zusammengepaßt.«

Dr. Steven Patterson verfolgte den Prozeß Tag für Tag. Er saß im Zuschauerraum, unmittelbar hinter dem Verteidigertisch. Immer war er von Reportern umlagert.

»Dr. Patterson, wie verläuft der Prozeß Ihrer Meinung nach?«

»Bisher verläuft er sehr gut.«

»Wie wird er Ihrer Meinung nach ausgehen?«

»Man wird meine Tochter für unschuldig befinden.«

Als David und Sandra eines späten Nachmittags ins Hotel zurückkamen, lag eine Nachricht für sie vor. »Rufen Sie bitte Mr. Kwong bei Ihrer Bank an.«

David und Sandra schauten sich an. »Ist bereits ein Monat um?« fragte Sandra.

»Ja. Wenn man sich amüsiert, vergeht die Zeit wie im Fluge«, erwiderte er ironisch. David war einen Moment lang nachdenklich. »Der Prozeß wird bald vorüber sein, mein Schatz. Wir haben noch genügend Geld auf dem Konto, um die Rate für diesen Monat zu bezahlen.«

Sandra schaute ihn besorgt an. »David, wenn wir nicht alle Raten bezahlen können - verlieren wir dann alles, was wir bereits reingesteckt haben?«

»Ja. Aber keine Sorge. Guten Menschen wird auch Gutes zuteil.«

Und er dachte an Helen Woodman.

Brian Hill saß auf dem Zeugenstuhl, nachdem er vereidigt worden war. Mickey Brennan schenkte ihm ein freundliches Lächeln.

»Würden Sie uns mitteilen, was Sie beruflich machen, Mr. Hill?«

»Ja, Sir. Ich bin Aufseher im De Young Museum in San Francisco.«

»Das muß eine interessante Tätigkeit sein.«

»Ist es auch, wenn man Kunst mag. Ich bin ein verkrachter Maler.«

»Wie lange arbeiten Sie schon dort?«

»Vier Jahre.«

»Besuchen häufig die gleichen Menschen das Museum? Das heißt, kommen die Leute immer wieder dorthin?«

»O ja. Manche schon.«

»Dann nehme ich an, daß Sie sie nach einiger Zeit kennen oder daß Ihnen zumindest die Gesichter bekannt vorkommen?«

»Das stimmt.«

»Und wie ich erfahren habe, dürfen auch Künstler hinkommen, um einige der im Museum ausgestellten Bilder zu kopieren.«

»O ja. Zu uns kommen viele Künstler.«

»Haben Sie welche kennengelernt, Mr. Hill?«

»Ja, wir - nach einer Weile freundet man sich sozusagen miteinander an.« »Haben Sie einen gewissen Richard Melton kennengelernt?«

Brian Hill seufzte. »Ja. Er war sehr begabt.«

»So begabt, daß Sie ihn gebeten haben, Ihnen Malunterricht zu geben?«

»So ist es.«

David stand auf. »Euer Ehren, das mag zwar spannend sein, aber ich wüßte nicht, was es mit diesem Prozeß zu tun hat. Wenn Mr. Brennan -«

»Es ist durchaus relevant, Euer Ehren. Ich möchte damit klarstellen, daß Mr. Hill das Opfer vom Sehen und auch namentlich kannte und uns daher mitteilen kann, mit wem es verkehrt ist.«

»Einspruch abgelehnt. Sie dürfen fortfahren.«

»Und hat er Ihnen Malunterricht erteilt?«

»Ja, wenn er Zeit dazu hatte.«

»Haben Sie Mr. Melton jemals in Begleitung junger Damen im Museum gesehen?«

»Na ja, anfangs nicht. Aber dann hat er eine kennengelernt, die ihn interessiert hat, und ich habe ihn ein paarmal mit ihr gesehen.«

»Wie hieß die Dame?«

»Alette Peters.«

Brennan wirkte verdutzt. »Alette Peters? Sind Sie sicher, daß Sie den Namen richtig verstanden haben?«

»Ja, Sir. So hat er sie mir vorgestellt.«

»Sie befindet sich nicht zufällig in diesem Gerichtssaal, oder, Mr. Hill?«

»Doch, Sir.« Er deutete auf Ashley. »Da drüben sitzt sie.«

»Aber das ist nicht Alette Peters«, sagte Brennan. »Das ist Ashley Patterson, die Angeklagte.«

David sprang auf. »Euer Ehren, wir haben bereits darauf hingewiesen, daß auch Alette Peters Gegenstand dieser Verhandlung ist. Sie ist eine der anderen Persönlichkeiten, unter deren Einfluß Ashley Patterson -« »Sie greifen zu weit vor, Mr. Singer. Mr. Brennan, fahren Sie bitte fort.«

»Nun, Mr. Hill, sind Sie sicher, daß die Angeklagte, die sich hier unter dem Namen Ashley Patterson verantworten muß, Richard Melton als Alette Peters bekannt war?«

»So ist es.«

»Und es handelt sich ohne jeden Zweifel um dieselbe Frau?«

Brian Hill zögerte. »Na ja ... Ja, es ist dieselbe Frau.«

»Und Sie haben sie an dem Tag, an dem Richard Melton ermordet wurde, mit ihm zusammen gesehen?«

»Ja, Sir.«

»Ich danke Ihnen.« Brennan wandte sich an David. »Ihr Zeuge.«

David stand auf und ging langsam zum Zeugenstand. »Mr. Hill, ich würde meinen, daß man als Aufseher in einem Museum, in dem Kunstwerke im Wert von etlichen hundert Millionen Dollar ausgestellt werden, eine große Verantwortung trägt.«

»Ja, Sir. So ist es.«

»Und ein guter Aufseher muß ständig wachsam sein.«

»Das stimmt.«

»Man muß ständig aufpassen, was um einen herum vor sich geht.«

»Na klar.«

»Würden Sie sagen, daß Sie ein guter Beobachter sind, Mr. Hill?«

»Ja, durchaus.«

»Ich frage Sie deswegen, weil mir auffiel, daß Sie kurz gezögert haben, als Mr. Brennan von Ihnen wissen wollte, ob Sie nicht den geringsten Zweifel daran hätten, daß Ashley Patterson die Frau sei, mit der Richard Melton zusammen war. Waren Sie sich nicht ganz sicher?«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Na ja, sie sieht fast genauso aus, aber irgendwie kommt sie mir anders vor.« »In welcher Hinsicht, Mr. Hill?«

»Alette Peters wirkte südländischer, und sie hat mit italienischem Akzent gesprochen . außerdem kam sie mir jünger vor als die Angeklagte.«

»Ganz richtig, Mr. Hill. Die Person, die Sie in San Francisco gesehen haben, war ein Alter ego von Ashley Patterson. Sie ist in Rom geboren, sie ist acht Jahre jünger -«

Brennan sprang fuchsteufelswild auf. »Einspruch.«

David wandte sich an Richterin Williams. »Euer Ehren, ich wollte -«

»Würden beide Parteien bitte vortreten?« David und Brennan begaben sich zur Richterin. »Ich möchte Sie nicht noch einmal darauf hinweisen müssen, Mr. Singer. Die Verteidigung kommt zum Zug, wenn die Beweisaufnahme der Staatsanwaltschaft abgeschlossen ist. Verkneifen Sie sich bis dahin alle weiteren Plädoyers.«

Bernice Jenkins trat in den Zeugenstand.

»Was sind Sie von Beruf, Miss Jenkins?«

»Ich bin Kellnerin.«

»Und wo arbeiten Sie?«

»In der Cafeteria des De Young Museum.«

»Welche Beziehung hatten Sie zu Richard Melton?«

»Wir waren gute Freunde.«

»Könnten Sie das etwas näher erläutern?«

»Na ja, wir hatten mal ein ziemlich inniges Verhältnis, aber das hat sich dann irgendwie abgekühlt. So was kommt vor.«

»Natürlich. Und danach?«

»Dann wurde daraus so ‘ne Art Bruder-Schwester-Beziehung. Ich meine damit, daß ich - daß ich ihm von meinen Problemen erzählt hab’ und er mir von seinen.«

»Hat er jemals mit Ihnen über die Angeklagte gesprochen?«

»Na ja, schon, aber er hat sie anders genannt.«

»Und wie hat er sie genannt?« »Alette Peters.«

»Aber er wußte, daß sie eigentlich Ashley Patterson hieß?«

»Nein. Er hat gedacht, sie heißt Alette Peters.«

»Meinen Sie damit, daß sie ihn getäuscht hat?«

David sprang wütend auf. »Einspruch.«

»Stattgegeben. Stellen Sie der Zeugin keine Suggestivfragen, Mr. Brennan.«

»Entschuldigung, Euer Ehren.« Brennan wandte sich wieder dem Zeugenstand zu. »Er hat also mit Ihnen über diese Alette Peters gesprochen. Aber haben Sie ihn auch in ihrer Gesellschaft gesehen?«

»Er hat sie eines Tages in die Cafeteria mitgebracht und uns einander vorgestellt.«

»Und Sie meinen damit die Angeklagte, Ashley Patterson?«

»Ja. Nur daß sie sich seinerzeit Alette Peters genannt hat.«

Gary King hatte im Zeugenstand Platz genommen.

»Sie haben mit Richard Melton zusammengewohnt?« fragte Brennan.

»Ja.«

»Waren Sie auch mit ihm befreundet? Sind Sie zusammen ausgegangen?«

»Klar. Wir haben uns sogar gemeinsam verabredet.«

»Hat Mr. Melton an einer jungen Dame ganz besonderes Interesse bekundet?«

»Ja.«

»Wissen Sie, wie sie heißt?«

»Sie nannte sich Alette Peters.«

»Befindet sie sich hier in diesem Gerichtssaal?«

»Ja. Sie sitzt da drüben.«

»Fürs Protokoll: Sie deuten auf die Angeklagte, auf Ashley Patterson?«

»Genau.«

»Sie haben Richard Meltons Leiche gefunden, als Sie in der Mordnacht nach Hause kamen?«

»Aber klar.«

»Wie sah die Leiche aus?«

»Blutig.«

»War sie entmannt?«

Ein Schaudern. »Ja. Mann, war das scheußlich.«

Brennan schaute zu den Geschworenen. Sie reagierten genauso, wie er erhofft hatte.

»Was haben Sie danach gemacht?«

»Ich hab’ die Polizei gerufen.«

»Ich danke Ihnen.« Brennan wandte sich an David. »Ihr Zeuge.«

David erhob sich und ging zu Gary King.

»Erzählen Sie uns etwas über Richard Melton. Was für ein Mensch war er?«

»Er war großartig.«

»War er streitlustig? Hat er sich gern mit anderen Leuten angelegt?«

»Richard? Nein. Ganz im Gegenteil. Der war eher ruhig, ausgeglichen.«

»Aber er verkehrte gern mit Frauen, die eher derb und ruppig waren?«

Gary warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Überhaupt nicht. Richard stand eher auf nette, ruhige Frauen.«

»Hat er sich häufig mit Alette gestritten? Hat sie ihn des öfteren angebrüllt?«

Gary war sichtlich verdutzt. »Da liegen Sie aber gründlich daneben. Die haben sich niemals angebrüllt. Sie sind prima miteinander klargekommen.«

»Ist Ihnen jemals etwas aufgefallen, was Ihrer Meinung nach darauf hingedeutet hätte, daß Alette Peters Ihrem Wohnungsgenossen etwas zuleide -?«

»Einspruch. Er beeinflußt den Zeugen.«

»Stattgegeben.« »Keine weiteren Fragen«, sagte David.

»Keine Sorge«, sagte David zu Ashley, als er wieder Platz nahm. »Deren Beweisführung kommt uns nur entgegen.« Er klang zuversichtlicher, als er war.

David und Sandra saßen gerade im San Fresco, dem Restaurant des Wyndham Hotels, beim Abendessen, als der Oberkellner an ihren Tisch kam. »Ein dringendes Telefongespräch für Sie, Mr. Singer.«

»Vielen Dank«, sagte David und wandte sich an Sandra. »Bin gleich wieder da.«

Der Oberkellner geleitete ihn zum nächsten Telefon. »David Singer hier.«

»David - Jesse. Geh auf dein Zimmer und ruf zurück. Es brennt an allen Ecken und Enden.«

17


»Jesse -?«

»David, ich weiß, daß ich mich nicht einmischen soll, aber meiner Meinung nach solltest du einen Verfahrensfehler wegen Befangenheit beanstanden.«

»Weswegen?«

»Warst du in den letzten Tagen mal im Internet?«

»Nein. Ich hatte einiges um die Ohren.«

»Tja, der ganze Prozeß wird im Internet groß und breit ausgewalzt. In sämtlichen Chat-Räumen ist nur noch davon die Rede.«

»Das war doch anzunehmen«, sagte David. »Aber was ist denn daran so -?«

»Alle sind gegen dich, David. Sie sind der Meinung, daß Ashley schuldig ist und hingerichtet werden sollte. Und sie drücken sich sehr drastisch aus. Du kannst gar nicht glauben, wie gemein die sind.«

David wurde mit einemmal klar, worum es ging. »O mein Gott! Wenn auch nur einer der Geschworenen ins Internet -«

»Was bei dem einen oder anderen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit der Fall sein dürfte. Und sie werden dadurch auch beeinflußt werden. Ich würde einen Befangenheitsantrag stellen oder zumindest darauf drängen, daß die Geschworenen in Klausur genommen werden.«

»Danke, Jesse. Wird gemacht.« David legte den Hörer auf.

»Schlimm?« fragte Sandra, als er zu ihrem Tisch zurückkehrte.

»Sehr schlimm.«

Bevor das Gericht am nächsten Morgen zusammentrat, bat David um eine Unterredung mit Richterin Williams. Er und Mickey Brennan wurden in ihr Dienstzimmer geleitet.

»Sie wollten mich sprechen?«

»Ja, Euer Ehren. Ich habe gestern abend erfahren, daß der Prozeß derzeit im Internet das Gesprächsthema Nummer eins ist. In sämtlichen Chat-Räumen ist davon die Rede, und dort hat man die Angeklagte bereits abgeurteilt. Dies könnte zu Vorurteilen führen. Und da ich davon ausgehe, daß einige Geschworene Computer mit Internetanschluß zu Hause stehen haben oder sich mit Freunden und Bekannten unterhalten, die Zugang zum Internet haben, könnte der Verteidigung dadurch ein schwerer Nachteil entstehen. Daher stelle ich den Antrag, den Prozeß aufgrund eines Verfahrensfehlers einzustellen.«

Sie dachte einen Moment lang nach. »Antrag abgelehnt.«

David saß da und versuchte sich mühsam zu beherrschen. »Dann beantrage ich, die Geschworenen in Klausur zu nehmen, damit es -«

»Mr. Singer, jeden Tag findet sich in diesem Gerichtssaal die Presse aus aller Welt ein. Dieser Prozeß ist überall Thema Nummer eins, ob im Fernsehen, im Radio oder in den Printmedien. Ich habe Sie darauf hingewiesen, daß es ein Affentheater geben würde, aber Sie wollten ja nicht auf mich hören.« Sie beugte sich vor. »Nun denn, jetzt haben Sie Ihr Affentheater. Wenn Sie die Geschworenen in Klausur nehmen wollten, hätten Sie das vor dem Prozeß kundtun müssen. Und ich hätte wahrscheinlich abgelehnt. Gibt es sonst noch was?«

David stieg die Galle hoch. »Nein, Euer Ehren.«

»Dann sollten wir uns in den Gerichtssaal begeben.«

Mickey Brennan rief Sheriff Dowling in den Zeugenstand.

»Hat Deputy Blake angerufen und Ihnen mitgeteilt, daß er über Nacht in der Wohnung der Angeklagten bleiben und sie beschützen wollte? Daß sie ihm erklärt hatte, jemand trachte ihr nach dem Leben?«

»Ganz recht.«

»Wann haben Sie wieder von Deputy Blake gehört?« »Ich - gar nicht. Am nächsten Morgen hat man mich telefonisch davon verständigt, daß man - daß man seine Leiche in der Gasse hinter Miss Pattersons Mietshaus gefunden hätte.«

»Und Sie haben sich natürlich unverzüglich dort hinbegeben?«

»Selbstverständlich.«

»Und was haben Sie vorgefunden?«

Er schluckte. »Sams Leiche war in ein blutiges Laken gewik-kelt. Er war erstochen und entmannt worden, genau wie die anderen beiden Opfer.«

»Wie die anderen beiden Opfer. Dann wurden also sämtliche Morde auf die gleiche Art begangen?«

»Ja, Sir.«

»So, als wären sie von der gleichen Person begangen worden?«

David sprang auf. »Einspruch.«

»Stattgegeben.«

»Ich nehme die Frage zurück. Was haben Sie danach gemacht, Sheriff?«

»Nun ja, bis zu dem Zeitpunkt hatten wir Ashley Patterson nicht in Verdacht. Aber danach schon. Deswegen haben wir sie auf die Dienststelle gebracht und ihre Fingerabdrücke genommen.«

»Und dann?«

»Wir haben sie ans FBI weitergeleitet und von dort eine Bestätigung bekommen.«

»Würden Sie den Geschworenen erklären, was genau Sie unter einer Bestätigung verstehen?«

Sheriff Dowling wandte sich den Geschworenen zu. »Ihre Fingerabdrücke stimmten mit denen überein, die man an den anderen Tatorten gefunden hatte, aber bislang nicht hatte zuordnen können.«

»Ich danke Ihnen, Sheriff.« Brennan wandte sich an David. »Ihr Zeuge.«

David stand auf und begab sich zum Zeugenstand. »Sheriff, hier im Gerichtssaal wurde ausgesagt, daß man in Miss Pattersons Küche ein blutbeflecktes Messer gefunden habe.«

»Ganz recht.«

»Wo war es versteckt? War es in irgend etwas eingewik-kelt?«

»Nein. Es hat einfach dagelegen.«

»Es hat also einfach dagelegen. So als hätte es da jemand liegenlassen, der nichts zu verbergen hat. Jemand, der unschuldig ist, weil -«

»Einspruch!«

»Stattgegeben.«

»Ich habe keine weiteren Fragen.«

»Der Zeuge ist entlassen.«

»Wenn das Gericht gestattet«, sagte Brennan und winkte jemandem am anderen Ende des Saales zu, worauf ein Mann im Arbeitsanzug eintrat und den Spiegel von Ashleys Toilettenschrank hereinbrachte. Den Spiegel, auf den mit rotem Lippenstift Du wirst sterben geschmiert war.

David stand auf. »Was ist das?«

Richterin Williams wandte sich an Mickey Brennan. »Mr. Brennan?«

»Das ist der Köder, mit dem die Angeklagte Deputy Blake in ihre Wohnung gelockt hat, damit sie ihn ermorden konnte. Ich möchte es als Beweisstück D vorlegen. Es stammt vom Toilettenschränkchen der Angeklagten.«

»Einspruch, Euer Ehren. Das steht in keinerlei Bezug zu -«

»Ich werde nachweisen, daß es da sehr wohl einen Bezug gibt.«

»Warten wir’s ab. Aber vorerst dürfen Sie fortfahren.«

Brennan stellte den Spiegel so hin, daß ihn sämtliche Geschworenen sehen konnten. »Dieser Spiegel stammt aus dem Badezimmer der Angeklagten.« Er blickte zu den Geschworenen. »Wie Sie sehen, hat jemand >DU WIRST STERBEN< darauf geschmiert. Das war der Vorwand, unter dem die Angeklagte Deputy Blake in jener Nacht in ihre Wohnung gelockt hat, damit er sie beschützt.« Er wandte sich an Richterin Williams. »Ich würde gern meine nächste Zeugin aufrufen, Miss Laura Niven.«

Eine Frau mittleren Alters, die am Stock ging, begab sich in den Zeugenstand und wurde vereidigt.

»Wo sind Sie beschäftigt, Miss Niven?«

»Ich bin als Beraterin für den Bezirk San Jose tätig.«

»Und was ist Ihre Aufgabe?«

»Ich bin Schriftsachverständige.«

»Wie lange stehen Sie schon in Diensten des Bezirks, Miss Niven?«

»Zweiundzwanzig Jahre.«

Brennan deutete mit dem Kopf auf den Spiegel. »Haben Sie diesen Spiegel schon einmal gesehen?«

»Ja.«

»Und Sie haben ihn untersucht?«

»Jawohl.«

»Und hat man Ihnen auch eine Schriftprobe der Angeklagten vorgelegt?«

»Ja.«

»Und die haben Sie ebenfalls untersucht?«

»Ja.«

»Haben Sie beide Handschriften miteinander verglichen?«

»Jawohl.«

»Und zu welchem Schluß sind Sie dabei gekommen?«

»Sie wurden von ein und derselben Person geschrieben.«

Aus dem Zuschauerraum ertönte ein allgemeines Aufkeuchen.

»Sie wollen damit also sagen, daß Ashley Patterson diese Drohung selbst geschrieben hat?«

»Ganz recht.«

Mickey Brennan schaute zu David. »Ihre Zeugin.«

David zögerte einen Moment. Er warf Ashley einen Blick zu. Sie starrte kopfschüttelnd auf die Tischplatte. »Keine Fragen.«

Richterin Williams musterte David. »Keine Fragen, Mr. Singer?«

David erhob sich. »Nein. Diese Aussagen sind völlig bedeutungslos.« Er wandte sich an die Geschworenen. »Die Staatsanwaltschaft muß nachweisen, daß Ashley Patterson die Opfer kannte und ein Motiv hatte, sie -«

»Ich habe Sie vorgewarnt«, versetzte Richterin Williams aufgebracht. »Es ist nicht Ihre Aufgabe, die Geschworenen rechtlich zu belehren. Wenn -«

»Jemand muß es doch tun«, platzte David heraus. »Sie lassen ihm ja alles durchgehen -«

»Das reicht, Mr. Singer. Treten Sie vor.«

David begab sich zum Richterstuhl.

»Ich tadle Sie wegen Mißachtung des Gerichts und verurteile Sie zu einer Nacht in unserem hübschen Gefängnis hier, sobald die Verhandlung vorüber ist.«

»Moment, Euer Ehren. Sie können doch nicht -«

»Ich habe Sie zu einer Nacht verurteilt«, erwiderte sie grimmig. »Wollen Sie es auf zwei anlegen?«

David stand da und atmete tief durch, während er sie mit Blicken durchbohrte. »Meiner Mandantin zuliebe werde ich -werde ich meine Meinung für mich behalten.«

»Ein weiser Entschluß«, sagte Richterin Williams kurz angebunden. »Das Gericht vertagt sich.« Sie wandte sich an den Gerichtsdiener. »Ich möchte, daß Mr. Singer in Gewahrsam genommen wird, sobald der Prozeß zu Ende ist.«

»Ja, Euer Ehren.«

Ashley wandte sich an Sandra. »O mein Gott! Was geht da eigentlich vor?«

Sandra drückte ihren Arm. »Keine Sorge. Sie müssen David vertrauen.«

Sie telefonierte mit Jesse Quiller.

»Ich hab’s schon gehört«, sagte er. »Es kam in sämtlichen Nachrichten, Sandra. Ich kann’s David nicht verübeln, daß er die Beherrschung verloren hat. Sie hat ihn von Anfang an getriezt. Womit hat David sich nur ihren Unmut eingehandelt?«

»Ich weiß es nicht, Jesse. Es war furchtbar. Du hättest die Mienen der Geschworenen sehen sollen. Sie hassen Ashley. Sie können es kaum abwarten, sie zu verurteilen. Na ja, demnächst ist die Verteidigung am Zug. David wird sie schon umstimmen.«

»Du mußt nur daran glauben.«

»Richterin Williams kann mich nicht ausstehen, Sandra, und Ashley muß darunter leiden. Wenn ich nichts dagegen unternehme, wird Ashley sterben. Das darf ich nicht zulassen.«

»Was kannst du denn dagegen tun?« fragte Sandra.

Er holte tief Luft. »Den Fall abgeben.«

Beide wußten, was das bedeutete. Sämtliche Zeitungen würden über sein Versagen berichten.

»Ich hätte mich von Anfang an nicht auf den Prozeß einlassen dürfen«, sagte David bitter. »Dr. Patterson hat darauf vertraut, daß ich das Leben seiner Tochter rette, und ich -« Er konnte nicht weitersprechen.

Sandra legte den Arm um ihn und zog ihn an sich. »Es ist nicht deine Schuld, mein Schatz. Alles wird wieder gut.«

Ich habe alle hängenlassen, dachte David. Ashley, Sandra ... Ich werde aus der Kanzlei fliegen. Ich werde arbeitslos, und der Kleine ist bald fällig. »Alles wird wieder gut.«

Genau.

Am nächsten Morgen bat David Richterin Williams um eine Aussprache. Mickey Brennan befand sich ebenfalls im Dienstzimmer.

»Sie wollten mich sprechen, Mr. Singer?« sagte Richterin Williams.

»Ja, Euer Ehren. Ich möchte die Verteidigung niederlegen.«

»Aha?« versetzte Richterin Williams. »Mit welcher Begründung?«

David wählte seine Worte sorgfältig. »Ich glaube, ich bin nicht der richtige Anwalt für diesen Prozeß. Ich glaube, ich schade meiner Mandantin. Ich möchte, daß man jemand anderen mit der Verteidigung betraut.«

»Mr. Singer«, entgegnete Richterin Williams ruhig, »wenn Sie meinen, ich ließe Sie jetzt einfach ziehen, was zur Folge hätte, daß man den Prozeß von neuem aufwickeln und noch mehr Zeit und Geld verschwenden müßte, irren Sie sich gewaltig. Die Antwort lautet nein. Haben Sie mich verstanden?«

David schloß einen Moment lang die Augen und zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Dann blickte er auf. »Ja, Euer Ehren. Ich habe verstanden.«

Er saß in der Falle.

18


Über drei Monate waren seit Beginn des Prozesses verstrichen, und David konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er zum letztenmal eine Nacht durchgeschlafen hatte.

»David«, sagte Sandra, als sie eines Nachmittags vom Gericht ins Hotel gingen, »ich glaube, ich sollte allmählich nach San Francisco zurückkehren.«

David schaute sie überrascht an. »Warum? Wir stecken mitten in - o mein Gott.« Er nahm sie in die Arme. »Der Kleine. Kommt er schon?«

Sandra lächelte. »Es kann jeden Moment soweit sein. Mir wäre wohler zumute, wenn ich wieder dort wäre, in der Nähe von Dr. Bailey. Mutter hat gesagt, sie will vorbeikommen und bei mir bleiben.«

»Natürlich. Du mußt zurück«, sagte David. »Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. In drei Wochen ist er fällig, nicht wahr?«

»Ja.«

Er verzog das Gesicht. »Und ich kann nicht einmal bei dir sein.«

Sandra nahm seine Hand. »Reg dich nicht auf, mein Schatz. Der Prozeß wird bald vorüber sein.«

»Dieser gottverdammte Prozeß ruiniert uns das ganze Leben.«

»David, wir werden schon zurechtkommen. Meine alte Stelle steht mir jederzeit offen. Wenn das Baby da ist, kann ich -«

»Es tut mir so leid, Sandra«, sagte David. »Ich wünschte -«

»David, entschuldige dich nicht für etwas, was du für richtig hältst.«

»Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«

Er streichelte ihren Bauch. »Ich liebe euch beide.« Er seufzte. »Na schön. Ich helfe dir beim Packen, und ich fahre dich heute abend nach San Francisco und -«

»Nein«, erwiderte Sandra entschieden. »Du kannst hier nicht weg. Ich bitte Emily, daß sie runterkommt und mich abholt.«

»Frag sie doch, ob sie heute abend mit uns essen gehen kann.«

»Gut.«

Emily war sofort Feuer und Flamme gewesen. »Selbstverständlich komm’ ich runter und hol dich ab.« Und zwei Stunden später war sie in San Jose gewesen.

Sie aßen alle drei im Chai Jane zu Abend.

»Das ist ja ein schreckliches Durcheinander«, sagte Emily. »Ich finde das gar nicht gut, daß ihr zwei ausgerechnet jetzt nicht beisammensein könnt.«

»Der Prozeß dauert nicht mehr allzulange«, sagte David hoffnungsvoll. »Vielleicht ist er zu Ende, bevor der Kleine kommt.«

Emily lächelte. »Dann haben wir doppelten Grund zum Feiern.«

Dann mußten sie aufbrechen. David nahm Sandra in die Arme. »Ich rufe dich jeden Abend an«, sagte er.

»Mach dir bitte um mich keine Sorgen. Ich komme schon zurecht. Ich liebe dich sehr.« Sandra schaute ihn an. »Paß auf dich auf, David. Du siehst müde aus.«

Erst als Sandra weg war, wurde David klar, wie einsam und verlassen er sich vorkam.

Das Gericht trat wieder zusammen.

Mickey Brennan erhob sich und wandte sich an die Vorsitzende. »Ich würde gern Dr. Lawrence Larkin als nächsten Zeugen aufrufen.«

Ein vornehm wirkender Mann mit grauen Haaren wurde vereidigt und trat in den Zeugenstand.

»Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, Dr. Larkin, daß Sie hergekommen sind. Ich weiß, wie kostbar Ihre Zeit ist. Würden Sie uns kurz erklären, wer Sie sind und was Sie machen?«

»Ich habe eine gutgehende Praxis in Chicago. Außerdem war ich ehemals Präsident der Psychiatrischen Gesellschaft von Chicago.«

»Wie viele Jahre praktizieren Sie schon, Doktor?«

»Ungefähr dreißig Jahre.«

»Und als Psychiater, kann ich mir vorstellen, haben Sie schon viele Fälle von multipler Persönlichkeitsstörung erlebt?«

»Nein.«

Brennan runzelte die Stirn. »Soll dieses Nein bedeuten, daß Sie noch nicht allzu viele Fälle erlebt haben? Eine Handvoll vielleicht?«

»Mir ist noch kein Fall von multipler Persönlichkeitsstörung begegnet.«

Brennan tat bestürzt, als er die Geschworenen anschaute. Dann wandte er sich wieder an den Psychiater. »In den ganzen dreißig Jahren, in denen Sie mit geistig gestörten Patienten zu tun hatten, ist Ihnen noch kein einziger Fall von multipler Persönlichkeitsstörung begegnet?«

»Ganz recht.«

»Das erstaunt mich. Wie erklären Sie das?«

»Ganz einfach. Meiner Meinung nach gibt es die multiple Persönlichkeitsstörung nicht.«

»Na, jetzt bin ich verwirrt, Doktor. Liegen denn keine Fallstudien über multiple Persönlichkeitsstörungen vor?«

Dr. Larkin schnaubte verächtlich. »Fallstudien haben gar nichts zu bedeuten. Wissen Sie, es handelt sich hier um ein großes Mißverständnis. Was manche Psychiater für eine multiple Persönlichkeitsstörung halten, ist nichts anderes als eine Schizophrenie, eine manische Depression oder irgendeine andere Art von Angstneurose.« »Das ist ja hochinteressant. Dann sind Sie als psychiatrischer Sachverständiger also der Meinung, daß es eine multiple Persönlichkeitsstörung überhaupt nicht gibt?«

»Ganz recht.«

»Ich danke Ihnen, Doktor.« Mickey Brennan wandte sich an David. »Ihr Zeuge.«

David stand auf und begab sich zum Zeugenstand. »Sie sind also ehemaliger Präsident der Psychiatrischen Gesellschaft von Chicago, Dr. Larkin?«

»Ja.«

»Dann haben Sie doch bestimmt zahlreiche Kollegen kennengelernt.«

»Ja. Und ich bin stolz darauf, daß ich die Ehre hatte.«

»Kennen Sie Dr. Royce Salem?«

»Ja. Sehr gut sogar.«

»Ist er ein guter Psychiater?«

»Ein ausgezeichneter sogar. Einer der besten.«

»Haben Sie sich schon mal mit Dr. Clyde Donovan getroffen?«

»Ja. Mehrmals sogar.«

»Würden Sie sagen, daß auch er ein guter Psychiater ist?«

»Ich würde ihn nehmen« - ein kurzes Auflachen -, »wenn ich einen brauchte.«

»Und was ist mit Dr. Ingram? Kennen Sie den?«

»Ray Ingram? Aber gewiß doch. Ein erstklassiger Mann.«

»Ein fähiger Psychiater?«

»O ja.«

»Sagen Sie mal, gibt es, was Geisteskrankheiten anbetrifft, eigentlich eine einhellige Meinung unter Psychiatern?«

»Nein. Natürlich sind wir immer wieder unterschiedlicher Ansicht. Die Psychiatrie ist keine exakte Wissenschaft.«

»Das ist ja interessant, Doktor. Dr. Salem, Dr. Donovan und Dr. Ingram werden nämlich hier aussagen, daß sie Fälle von multipler Persönlichkeitsstörung behandelt haben. Aber vielleicht ist ja keiner von ihnen so kompetent wie Sie. Das ist alles. Sie können gehen.«

Richterin Williams wandte sich an Brennan. »Noch Fragen?«

Brennan stand auf und ging zum Zeugenstand.

»Dr. Larkin, glauben Sie, Sie befinden sich im Irrtum, weil Ihre Kollegen eine andere Meinung zu MPS vertreten als Sie selbst?«

»Nein. Ich könnte Ihnen zahlreiche Psychiater nennen, die nicht daran glauben, daß es eine multiple Persönlichkeitsstörung gibt.«

»Ich danke Ihnen, Doktor. Keine weiteren Fragen.«

»Dr. Upton«, sagte Mickey Brennan, »wir haben uns von einem Sachverständigen sagen lassen, daß eine vermeintliche multiple Persönlichkeitsstörung häufig mit anderen seelischen Erkrankungen verwechselt wird. Durch welche Untersuchungsmethoden läßt sich nachweisen, daß man es mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung zu tun hat und nicht mit irgendeiner anderen Neurose?«

»Eine solche Methode gibt es nicht.«

Brennan sperrte überrascht den Mund auf, als er sich den Geschworenen zuwandte. »Es gibt keine Methode? Wollen Sie damit sagen, daß man nicht feststellen kann, ob jemand, der behauptet, an MPS zu leiden, lügt, simuliert oder es im Falle einer Straftat als Vorwand benutzt, damit er oder sie nicht zur Verantwortung gezogen werden kann?«

»Wie gesagt, es gibt keine Untersuchungsmethode.«

»Dann ist es also lediglich Ansichtssache? Manche Psychiater glauben daran, andere nicht?«

»Ganz recht.«

»Ich möchte Sie etwas fragen, Doktor. Wenn man jemanden hypnotisiert, dann läßt sich doch sicherlich feststellen, ob er wirklich an MPS leidet oder es nur vorschützt?«

Dr. Upton schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein. Selbst unter Hypnose oder mit Hilfe von Natriumamytal gibt es keine Möglichkeit festzustellen, ob einem jemand etwas vormacht.«

»Das ist ja hochinteressant. Ich danke Ihnen, Doktor. Keine weiteren Fragen.« Brennan wandte sich an David. »Ihr Zeuge.«

David erhob sich und ging zum Zeugenstand. »Dr. Upton, hatten Sie schon einmal mit Patienten zu tun, bei denen andere Psychiater eine MPS diagnostiziert hatten?«

»Ja. Mehrmals.«

»Und haben Sie diese Patienten behandelt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich kann niemanden wegen einer Krankheit behandeln, die es nicht gibt. In einem Fall handelte es sich um einen Patienten, der einer Unterschlagung bezichtigt wurde und dem ich bescheinigen sollte, daß er strafrechtlich nicht verantwortlich sei, weil die Tat von einem Alter ego begangen wurde. In einem anderen Fall ging es um eine Hausfrau, die man wegen Kindesmißhandlung festgenommen hatte. Sie behauptete, daß irgend jemand oder irgend etwas in sie gefahren wäre und sie dazu getrieben hätte. Es gab noch ein paar mehr Fälle dieser Art, mit den unterschiedlichsten Ausflüchten, aber immer versuchten die Betroffenen, irgend etwas zu entgehen. Mit anderen Worten, sie haben es vorgetäuscht.«

»Sie scheinen da ja eine sehr entschiedene Einstellung zu haben, Doktor.«

»Jawohl. Und ich weiß, daß ich recht habe.«

»Sie wissen, daß Sie recht haben?« sagte David.

»Nun ja, ich meine -«

»- daß alle anderen sich irren? Sämtliche Psychiater, die davon überzeugt sind, daß es MPS gibt, haben also keine Ahnung?«

»Das habe ich nicht gemeint -«

»Und Sie sind der einzige, der recht hat. Vielen Dank, Doktor. Das ist alles.«

Dr. Simon Raleigh trat in den Zeugenstand. Er war ein kleiner, kahlköpfiger Mittsechziger.

Brennan begann: »Danke, daß Sie gekommen sind, Doktor. Sie können auf eine lange und erfolgreiche Laufbahn zurückblicken. Sie sind Psychiater, Sie sind Professor, Sie haben eine Ausbildung an -«

David stand auf. »Die Verteidigung bezweifelt nicht, daß der Zeuge eine ausgezeichnete berufliche Laufbahn vorweisen kann.«

»Besten Dank.« Brennan wandte sich wieder an den Zeugen. »Dr. Raleigh, was bedeutet der Begriff iatrogen?«

»Das heißt, daß ein vorhandenes Leiden durch medizinische Behandlung oder Psychotherapie verschlimmert wird.«

»Würden Sie das etwas näher erläutern, Doktor?«

»Nun ja, in der Psychotherapie kommt es häufig vor, daß der Therapeut den Patienten durch seine Fragestellung oder seine Haltung beeinflußt. Er könnte dem Patienten das Gefühl vermitteln, daß er den Erwartungen des Therapeuten entsprechen muß.«

»Inwieweit trifft das bei MPS zu?«

»Wenn der Psychiater den Patienten gezielt nach anderen Persönlichkeiten befragt, könnte es sein, daß der Patient etwas erfindet, um den Therapeuten zufriedenzustellen. Das ist ein äußerst heikles Gebiet. Amytal und Hypnose können unter Umständen dazu führen, daß bei Patienten, die ansonsten normal sind, vermeintliche MPS-Symptome auftreten.«

»Damit wollen Sie also sagen, daß der Psychiater den Zustand des Patienten unter Hypnose dahingehend beeinflussen kann, daß dieser sich etwas einbildet, was gar nicht vorhanden ist?«

»Das ist schon vorgekommen, ja.«

»Ich danke Ihnen, Doktor.« Er blickte zu David. »Ihr Zeuge.«

»Vielen Dank.« David erhob sich und ging zum Zeugenstand. »Ihre Referenzen sind sehr beeindruckend«, sagte er freundlich. »Sie sind nicht nur Psychiater, sondern unterrichten auch an der Universität.«

»Ja.«

»Wie lange lehren Sie schon, Doktor?«

»Seit über fünfzehn Jahren.«

»Wunderbar. Und wie regeln Sie das zeitlich? Ich meine damit, lehren Sie einen halben Tag lang und praktizieren die andere Hälfte als Psychiater?«

»Nein, ich lehre ausschließlich.«

»Oh? Wie lange ist es her, daß Sie praktiziert haben?«

»Etwa acht Jahre. Aber ich halte mich ständig anhand der neuesten Fachliteratur auf dem laufenden.«

»Ich muß schon sagen, ich finde das bewundernswert. Sie halten sich also anhand Ihrer Lektüre auf dem laufenden. Wissen Sie dadurch so gut über den Begriff iatrogen Bescheid?«

»Ja.«

»Aber früher hatten Sie mit vielen Patienten zu tun, die behaupteten, unter MPS zu leiden?«

»Nun, nein ...«

»Nicht so viele? Würden Sie sagen, daß Ihnen in der Zeit, in der Sie als Psychiater praktiziert haben, etwa ein Dutzend solcher Fälle untergekommen sind?«

»Nein.«

»Halb so viele?«

Dr. Raleigh schüttelte den Kopf.

»Vier?«

Keine Antwort.

»Doktor, hatten Sie jemals einen Patienten, der sich wegen MPS an Sie gewandt hat?«

»Nun ja, das ist schwer zu -«

»Ja oder nein, Doktor?«

»Nein.«

»Dann haben Sie sich also alles, was Sie über MPS wissen, angelesen? Keine weiteren Fragen.«

Die Staatsanwaltschaft rief weitere sechs Zeugen auf, deren Aussagen in die gleiche Richtung gingen. Mickey Brennan hatte neun renommierte Psychiater aus dem ganzen Land aufgeboten, die sich alle darin einig waren, daß es keine multiple Persönlichkeitsstörung gab.

Die Beweisaufnahme seitens der Staatsanwaltschaft neigte sich dem Ende zu.

Als der letzte Zeuge der Anklage entlassen war, wandte sich Richterin Williams an Brennan. »Wollen Sie noch weitere Zeugen aufrufen, Mr. Brennan?«

»Nein, Euer Ehren. Aber ich würde den Geschworenen gern die Polizeifotos von den Tatorten und den Opfern der -«

»Auf keinen Fall«, versetzte David wütend.

Richterin Williams wandte sich an ihn. »Was haben Sie gesagt, Mr. Singer?«

»Ich habe gesagt -« David nahm sich zusammen. »Einspruch. Die Staatsanwaltschaft versucht die Geschworenen unnötig aufzubringen, indem -«

»Einspruch abgelehnt. Der entsprechende Antrag wurde vor Beginn der Hauptverhandlung gestellt.« Richterin Williams wandte sich an Brennan. »Sie dürfen die Fotos vorlegen.«

Aufgebracht nahm David Platz.

Brennan kehrte zu seinem Tisch zurück, ergriff ein gutes Dutzend Fotos und reichte sie den Geschworenen. »Das ist kein angenehmer Anblick, meine Damen und Herren, aber genau darum geht es in diesem Prozeß. Nicht um Behauptungen, Theorien oder Ausflüchte. Auch nicht um rätselhafte Alter egos, die andere Leute umbringen. Es geht um drei Menschen, die grausam und brutal ermordet wurden. Unsere Gesetzgebung besagt, daß jemand für diese Morde büßen muß. Und nun liegt es an Ihnen allen, dafür zu sorgen, daß der Gerechtigkeit Genüge getan wird.«

Brennan sah die entsetzten Mienen der Geschworenen, als sie sich die Fotos anschauten.

Er wandte sich an Richterin Williams. »Von Seiten der Staatsanwaltschaft ist die Beweisaufnahme abgeschlossen.«

Richterin Williams blickte auf ihre Uhr. »Vier Uhr nachmittags. Das Gericht vertagt sich für heute und tritt am Montag morgen um zehn Uhr wieder zusammen. Die Sitzung ist geschlossen.«

19


Ashley Patterson stand unter dem Galgen und sollte gehängt werden, als ein Polizist angestürmt kam und rief: »Moment mal. Sie soll doch auf dem elektrischen Stuhl sterben.«

Dann ein Szenenwechsel. Diesmal saß sie auf dem elektrischen Stuhl, und ein Wachmann wollte gerade den Hebel betätigen, als Richterin Williams laut schreiend hinzukam. »Nein. Wir wollen Sie doch mit der Todesspritze ins Jenseits befördern.«

David erwachte und setzte sich im Bett auf. Er hatte Herzklopfen, und sein Schlafanzug war schweißgetränkt. Als er aufstehen wollte, wurde ihm mit einemmal schwindelig. Er hatte hämmernde Kopfschmerzen und kam sich vor, als ob er Fieber hätte. Er legte die Hand an die Stirn. Sie war heiß.

»O nein«, stöhnte er. »Nicht heute. Nicht jetzt.«

Es war der Tag, auf den er gewartet hatte, der Tag, an dem die Verteidigung ihre Argumente ins Feld führen wollte. David torkelte ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Er warf einen Blick in den Spiegel. »Du siehst völlig fertig aus.«

Richterin Williams hatte die Sitzung bereits eröffnet, als David im Gerichtssaal eintraf. Alle warteten nur auf ihn.

»Ich bitte die Verspätung zu entschuldigen«, sagte David mit heiserer Stimme. »Darf ich vortreten?«

»Ja.«

David begab sich zum Richterpodium. Mickey Brennan folgte ihm auf dem Fuß. »Euer Ehren«, sagte David, »ich möchte um einen eintägigen Aufschub bitten.«

»Mit welcher Begründung?«

»Ich - ich fühle mich nicht besonders wohl, Euer Ehren. Aber ich bin davon überzeugt, daß mir ein Arzt irgendwas verschreiben kann, damit ich morgen wieder gesund bin.«

»Wieso überlassen Sie das Feld nicht Ihrem Assistenten?«

David schaute sie überrascht an. »Ich habe keinen Assistenten.«

»Und warum nicht?«

»Weil ...«

Richterin Williams beugte sich vor. »So etwas habe ich in einem Mordprozeß noch nie erlebt. Sie wollen wohl sämtlichen Ruhm für sich allein einheimsen, was? Nun denn, vor diesem Gericht werden Sie keine Gelegenheit dazu bekommen. Und ich will Ihnen noch etwas sagen. Sie sind vermutlich der Meinung, daß ich mich für befangen erklären sollte, weil ich Ihre Verteidigungsstrategie für Humbug halte, aber den Gefallen werde ich Ihnen nicht tun. Wir werden die Geschworenen darüber entscheiden lassen, ob sie Ihre Mandantin für schuldig oder unschuldig halten. Sonst noch was, Mr. Singer?«

David stand da und schaute sie an, während sich der ganze Saal ringsum drehte. Er wollte ihr den Marsch blasen. Er wollte auf die Knie sinken und sie um Fairneß bitten. Er wollte nach Hause gehen und sich ins Bett legen. »Nein. Vielen Dank, Euer Ehren.«

Richterin Williams nickte. »Mr. Singer, Sie sind dran. Und sehen Sie zu, daß Sie dem Gericht nicht noch mehr Zeit stehlen.«

David ging zur Geschworenenbank und versuchte seine Kopfschmerzen zu vergessen. Langsam ergriff er das Wort.

»Meine Damen und Herren, Sie haben vernommen, wie die Anklage ein Krankheitsbild, das man allgemein als multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet, der Lächerlichkeit preisgegeben hat. Ich bin davon überzeugt, daß Mr. Brennan dabei nichts Übles im Sinn hatte. Seine Bemerkungen zeugen nur von Unwissenheit. Offensichtlich hat er keine Ahnung von multiplen Persönlichkeitsstörungen, und das gleiche gilt auch für die Zeugen, die er uns vorgeführt hat. Ich indessen werde Ihnen ein paar Zeugen präsentieren, die sich damit auskennen.

Angesehene Psychiater, die allesamt Erfahrung auf diesem Gebiet haben. Wenn Sie deren Stellungnahme hören, davon bin ich überzeugt, werden Sie die Ausführungen der Anklage in einem anderen Licht sehen.

Mr. Brennan hat die Schuld angesprochen, die meine Mandantin mit diesen drei schrecklichen Straftaten auf sich geladen habe. Womit wir bei einem wichtigen Punkt angelangt wären: der Schuldfrage. Um jemandem einen vorsätzlichen Mord nachzuweisen, genügt es nicht, ihm die Tat an sich nachzuweisen, man muß auch beweisen, daß sie in schuldhafter Absicht begangen wurde. Ich werde Ihnen beweisen, daß meine Mandantin keinerlei schuldhafte Absicht zeigte, weil sie zu dem Zeitpunkt, da diese Straftaten verübt wurden, nicht Herrin ihrer selbst war. Sie nahm nicht einmal wahr, was da vor sich ging. Einige hochangesehene Sachverständige werden bestätigen, daß Ashley Patterson an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet und daß wir es mit drei Persönlichkeiten zu tun haben, darunter eine >sehr dominantec.«

David schaute die Geschworenen an, doch deren Gesichter tanzten hin und her. Er kniff kurz die Augen zusammen. »Die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft hat die multiple Persönlichkeitsstörung als psychische Erkrankung anerkannt. Desgleichen zahlreiche berühmte Psychiater in aller Welt, die davon betroffene Patienten behandelt haben. Eine von Ashley Pattersons Persönlichkeiten hat diese Morde begangen, aber es handelt sich um ein Alter ego, um eine andere Persönlichkeit, auf die sie keinerlei Einfluß hat.« Seine Stimme klang allmählich wieder etwas kräftiger. »Damit Sie sich über das Problem ganz klarwerden, denken Sie bitte daran, daß von Rechts wegen niemand bestraft werden darf, der unschuldig ist. Wir stehen also vor einem Paradoxon. Stellen Sie sich siamesische Zwillinge vor, die wegen Mordes vor Gericht stehen. Von Rechts wegen kann der Schuldige nicht bestraft werden, weil auch der unschuldige Teil davon betroffen wäre.«

Die Geschworenen hörten genau zu.

David deutete mit dem Kopf auf Ashley. »Und in diesem Fall haben wir es nicht nur mit zwei, sondern mit drei Persönlichkeiten zu tun.«

Er wandte sich an Richterin Williams. »Ich möchte meinen ersten Zeugen aufrufen. Dr. Joel Ashanti.«

»Dr. Ashanti, wo praktizieren Sie?«

»Am Madison Hospital in New York.«

»Sind Sie auf meine Bitte hin hergekommen?«

»Nein, ich habe aus der Zeitung von dem Fall erfahren und wollte mich dazu äußern. Ich habe mit Patienten gearbeitet, die unter multipler Persönlichkeitsstörung litten, und wollte helfen. Eine MPS kommt weitaus häufiger vor, als man gemeinhin annimmt, und ich wollte gewisse Mißverständnisse ausräumen, die es diesbezüglich gibt.«

»Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Doktor. Kommt es bei derartigen Fällen häufiger vor, daß ein Patient gleich über zwei weitere Persönlichkeiten verfügt?«

»Ich habe die Erfahrung gemacht, daß MPS-Patienten meist weitaus mehr andere Persönlichkeiten haben, bis zu einhundert.«

Eleanor Tucker flüsterte Mickey Brennan etwas zu. Brennan lächelte.

»Seit wann beschäftigen Sie sich mit multipler Persönlichkeitsstörung, Dr. Ashanti?«

»Seit fünfzehn Jahren.«

»Und daß es bei MPS-Patienten eine Persönlichkeit gibt, die alle anderen dominiert - ist das auch typisch?«

»Ja.«

Einige Geschworene machten sich Notizen.

»Und der Betroffene, derjenige, der an dieser Störung leidet - ist er sich der anderen Persönlichkeiten bewußt?«

»Das ist ganz unterschiedlich. Mitunter wissen die anderen Persönlichkeiten voneinander, manchmal kennen sich auch nur ein paar wenige. Aber der betroffene Patient ist sich ihrer für gewöhnlich nicht bewußt, jedenfalls nicht ohne entsprechende Behandlung.«

»Das ist ja hochinteressant. Ist eine MPS heilbar?«

»Häufig ja. Allerdings bedarf es dazu einer langen, intensiven psychiatrischen Behandlung. Es kann mitunter bis zu sechs, sieben Jahre in Anspruch nehmen.«

»Haben Sie schon einmal MPS-Patienten geheilt?«

»O ja.«

»Vielen Dank, Doktor.«

David musterte einen Moment lang die Geschworenen. Aufmerksam, aber noch nicht überzeugt, dachte er.

Er warf einen Blick zu Mickey Brennan. »Ihr Zeuge.«

Brennan erhob sich und ging zum Zeugenstand. »Dr. Ashan-ti, Sie haben ausgesagt, daß Sie eigens von New York hierher geflogen sind, weil Sie helfen wollten.«

»Ganz recht.«

»Ihre Anwesenheit hat also nichts damit zu tun, daß es sich um einen aufsehenerregenden Fall handelt, der Ihnen gewisse Publicity -?«

David sprang auf. »Einspruch. Das ist eine Unterstellung.«

»Abgelehnt.«

»Ich habe erklärt, weshalb ich hier bin«, versetzte Dr. Ashan-ti ungerührt.

»Richtig. Wie viele Patienten haben Sie, seit Sie als Psychiater praktizieren, aufgrund seelischer Störungen behandelt?«

»Nun, etwa zweihundert.«

»Und wie viele davon litten unter multipler Persönlichkeitsstörung?«

»Ein Dutzend vielleicht .«

Brennan tat verwundert, als er ihn anschaute. »Von rund zweihundert Patienten?«

»Nun ja. Wissen Sie -« »Mir will nicht recht einleuchten, Dr. Ashanti, mit welchem Recht Sie sich als Sachverständiger bezeichnen, wenn Sie nur mit ein paar wenigen Fällen zu tun hatten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns einen handfesten Beweis dafür vorlegen könnten, daß es so etwas wie multiple Persönlichkeitsstörung tatsächlich gibt.«

»Wenn Sie von Beweisen sprechen -«

»Wir befinden uns hier vor Gericht, Doktor. Die Geschworenen können ihre Entscheidungen nicht aufgrund grauer Theorien und Behauptungen fällen. Apropos Behauptungen. Könnte es nicht sein, daß die Angeklagte die Männer, die sie ermordete, schlicht und einfach gehaßt hat, und hinterher auf die Idee verfiel, ein Alter ego vorzuschieben, damit man sie -?«

David sprang auf. »Einspruch! Das ist sowohl eine Unterstellung als auch eine Suggestivfrage.«

»Abgelehnt.«

»Euer Ehren -«

»Setzen Sie sich, Mr. Singer.«

David warf Richterin Williams einen wütenden Blick zu und nahm wieder Platz.

»Sie sagen also, Doktor, daß es keinerlei Beweise dafür gibt, ob jemand an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet oder nicht?«

»Äh, nein. Aber -«

Brennan nickte. »Mehr wollte ich gar nicht wissen.«

Dr. Royce Salem trat in den Zeugenstand.

»Dr. Salem«, sagte David. »Sie haben Ashley Patterson untersucht?«

»Jawohl.«

»Und was haben Sie dabei festgestellt?«

»Daß Miss Patterson eindeutig an MPS leidet. Sie hat zwei andere Persönlichkeiten, die sich Toni Prescott und Alette Peters nennen.« »Hat sie Einfluß auf die beiden?«

»Nein. Wenn sie die Oberhand erringen, versinkt sie in eine Art Amnesie.«

»Würden Sie das bitte genauer erklären, Doktor Salem?«

»Von einer Amnesie spricht man, wenn sich die Betroffene weder bewußt ist, wer sie ist, noch, was sie tut. Das kann zwanzig Minuten andauern, mitunter aber auch mehrere Wochen lang.«

»Und ist die betroffene Person in diesem Zeitraum Ihrer Meinung nach für ihr Verhalten verantwortlich?«

»Nein.«

»Vielen Dank, Doktor.« David wandte sich an Brennan. »Ihr Zeuge.«

»Dr. Salem«, hob Brennan an. »Sie sind in beratender Funktion für etliche Kliniken tätig und halten auf der ganzen Welt Vorträge?«

»Ja, Sir.«

»Ihre Kollegen, nehme ich an, sind begabte und tüchtige Psychiater?«

»Ja, das würde ich meinen.«

»Und sie sind, was diese multiple Persönlichkeitsstörung angeht, alle der gleichen Ansicht?«

»Nein.«

»Was meinen Sie damit?«

»Einige sind anderer Ansicht.«

»Meinen Sie damit, daß sie nicht an die Existenz dieser Krankheit glauben?«

»Ja.«

»Aber Sie haben recht, und die anderen irren sich?«

»Ich habe betroffene Patienten behandelt, und ich weiß, daß es so etwas gibt. Als -«

»Ich möchte Sie etwas fragen. Wenn es so etwas wie eine multiple Persönlichkeitsstörung gäbe, würde dann eines der Alter egos dem Betroffenen ständig diktieren, was er tun soll?

Würde diese andere Persönlichkeit befehlen: >Morde<, und der Betroffene tut es?«

»Das kommt darauf an. Die Einflußnahme, die andere Persönlichkeiten ausüben, kann durchaus unterschiedlich ausfallen.«

»Dann könnte es also sein, daß der Betroffene noch Herr der Lage ist?«

»Natürlich, manchmal.«

»Meistens?«

»Nein.«

»Doktor, wodurch läßt sich beweisen, daß es eine MPS gibt?«

»Ich habe mit eigenen Augen erlebt, wie sich Patienten unter Hypnose physisch völlig veränderten, und ich weiß -«

»Und darauf beruht Ihre Überzeugung?«

»Ja.«

»Dr. Salem, wenn ich Sie in einem warmen Zimmer hypnotisieren und Ihnen einreden würde, daß Sie am Nordpol sind und sich durch einen Schneesturm kämpfen, würde dann Ihre Körpertemperatur sinken?«

»Nun, ja, aber -«

»Das ist alles.«

David ging in den Zeugenstand. »Dr. Salem, besteht Ihrer Meinung nach auch nur der geringste Zweifel daran, daß die anderen Persönlichkeiten in Ashley Patterson existieren?«

»Nein. Und sie sind eindeutig in der Lage, sich durchzusetzen und sie zu dominieren.«

»Und sie wäre sich dessen nicht bewußt?«

»Sie wäre sich dessen nicht bewußt.«

»Vielen Dank.« »Ich möchte Shane Miller in den Zeugenstand rufen.« David wartete, bis er vereidigt war. »Was sind Sie von Beruf, Mr. Miller?«

»Ich bin Abteilungsleiter bei der Global Computer Graphics Corporation.«

»Wie lange sind Sie dort schon tätig?«

»Etwa sieben Jahre.«

»Und Ashley Patterson war ebenfalls dort angestellt?«

»Ja.«

»Und sie war Ihnen unterstellt?«

»So ist es.«

»Sie haben sie also recht gut gekannt?«

»Das stimmt.«

»Mr. Miller, Sie haben die Aussagen der Sachverständigen gehört, wonach die Symptome einer multiplen Persönlichkeitsstörung auf Paranoia, nervliche Überreizung oder Erschöpfung zurückzuführen seien. Haben Sie bei Miss Patterson jemals derartige Symptome bemerkt?«

»Na ja, ich -«

»Hat Ihnen Miss Patterson nicht mitgeteilt, daß sie das Gefühl habe, jemand stelle ihr nach?«

»Doch, das hat sie.«

»Und daß sie keine Ahnung hätte, wer es sei und warum jemand so etwas tun sollte?«

»Das stimmt.«

»Hat sie nicht einmal gesagt, daß jemand ihren Computer manipuliert und ihr eine Todesdrohung übermittelt hat?«

»Ja.«

»Und ist es schließlich so schlimm geworden, daß Sie sie zu dem Psychologen geschickt haben, der in Ihrer Firma beschäftigt ist, einem gewissen Dr. Speakman?«

»Ja.«

»Dann wies Ashley Patterson also die gewissen Symptome auf, die ich vorhin angesprochen habe?« »Das stimmt.«

»Vielen Dank, Mr. Miller.« David wandte sich an Mickey Brennan. »Ihr Zeuge.«

»Wie viele Mitarbeiter sind Ihnen unmittelbar unterstellt, Mr. Miller?«

»Dreißig.«

»Und Ashley Patterson ist die einzige, die Sie unter diesen dreißig Mitarbeitern jemals verstört erlebt haben?«

»Na ja, nein .«

»Aha?«

»Irgendwann verliert jeder mal die Fassung.«

»Meinen Sie damit, daß auch andere Mitarbeiter den Betriebspsychologen aufsuchen mußten?«

»Oh, na klar. Die halten ihn ziemlich auf Trab.«

Brennan schien beeindruckt. »Wirklich?«

»Ja. Viele von ihnen haben Probleme. He, das sind alles nur Menschen.«

»Keine weiteren Fragen.«

»Die Verteidigung ist wieder am Zuge.«

David trat neben den Zeugenstand. »Mr. Miller, Sie haben gesagt, daß einige Ihrer Untergebenen Probleme hätten. Um welche Probleme handelt es sich dabei?«

»Na ja, die einen haben sich mit ihrem Freund oder ihrem Mann gestritten .«

»Ja?«

»Oder sie haben sich finanziell übernommen .«

»Ja?«

»Oder ihre Kinder haben sie genervt .«

»Es ging also, mit anderen Worten, um ganz gewöhnliche Alltagsnöte, gegen die keiner von uns gefeit ist?«

»Ja.«

»Aber niemand suchte Dr. Speakman auf, weil er glaubte, jemand stellte ihm nach oder drohte ihm mit dem Tod?« »Nein.«

»Vielen Dank.«

Danach zog sich das Gericht zur Mittagspause zurück.

David war bedrückt, als er in seinen Wagen stieg und durch den Park fuhr. Der Prozeß lief nicht gut. Die Sachverständigen konnten sich nicht entscheiden, ob es eine MPS gab oder nicht. Wenn die sich schon nicht einig sind, dachte David, wie soll ich dann die Geschworenen überzeugen? Ich darf nicht zulassen, daß Ashley ein Leid geschieht. Er näherte sich Harold’s Cafe, einem unweit des Gerichtsgebäudes gelegenen Restaurant. Er parkte seinen Wagen und ging hinein. Die Bedienung lächelte ihn an.

»Guten Tag, Mr. Singer.«

Er war berühmt. Berüchtigt?

»Hier lang, bitte.« Er folgte ihr zu einer Sitznische und nahm Platz. Die Bedienung reichte ihm die Speisekarte, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und entfernte sich mit aufreizendem Hüftschwung. Der Lohn des Ruhms, dachte David spöttisch.

Eigentlich war er gar nicht hungrig, aber er konnte Sandras Stimme förmlich hören: »Du mußt etwas essen, damit du bei Kräften bleibst.«

In der Nische nebenan saßen zwei Männer und zwei Frauen. »Die ist viel schlimmer als Lizzie Borden«, sagte einer der Männer. »Borden hat nur zwei Menschen umgebracht.«

»Und sie hat sie nicht kastriert«, fügte der andere hinzu.

»Was meinst du, was sie kriegt?«

»Soll das ein Witz sein? Sie wird zum Tode verurteilt.«

»Zu schade, daß man die Blutjungfer nicht dreimal zum Tode verurteilen kann.«

Die Stimme des Volkes, dachte David überrascht. Er hatte das dumpfe Gefühl, daß er an den anderen Tischen mehr oder weniger das gleiche zu hören bekäme. Brennan hatte sie als mordgierige Bestie hingestellt, sie zum Monster abgestempelt.

Er hatte Jesse Quillers Worte im Ohr. Und mit diesem Eindruck werden sich die Geschworenen zur Beratung zurückziehen, wenn du sie nicht aufrufst und ihnen das Gegenteil beweist.

Ich muß das Risiko eingehen, dachte David. Die Geschworenen müssen sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß Ashley die Wahrheit sagt.

Die Bedienung kam an seinen Tisch. »Sind Sie soweit, Mr. Singer?«

»Ich hab’s mir anders überlegt«, erwiderte David. »Ich bin nicht hungrig.« Er spürte die finsteren Blicke, die man ihm hinterherwarf, als er aufstand und das Restaurant verließ. Hoffentlich ist keiner bewaffnet, dachte David.

20


David kehrte zum Gerichtsgebäude zurück und suchte Ashley in ihrer Zelle auf. Sie saß auf der kleinen Pritsche und starrte zu Boden.

»Ashley.«

Sie hob den Kopf und blickte voller Verzweiflung auf.

David setzte sich zu ihr. »Wir müssen etwas bereden.«

Sie betrachtete ihn schweigend.

»Man hat allerlei schreckliche Sachen über Sie gesagt - und kein Wort davon ist wahr. Aber die Geschworenen wissen das nicht. Die kennen Sie nicht. Wir müssen ihnen zeigen, wie Sie in Wirklichkeit sind.«

Ashley sah ihn an und fragte matt: »Wie bin ich denn in Wirklichkeit?«

»Sie sind ein anständiger Mensch, der an einer Krankheit leidet. Die Geschworenen werden das begreifen.«

»Was soll ich dazu tun?«

»Ich möchte, daß Sie in den Zeugenstand treten und aussagen.«

Sie starrte ihn erschrocken an. »Ich - das kann ich nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich kann doch gar nichts dazu sagen.«

»Überlassen Sie das mir. Sie brauchen nur meine Fragen zu beantworten.«

Eine Wärterin kam. »Das Gericht tritt wieder zusammen.«

David stand auf und drückte Ashley die Hand. »Es wird schon klappen. Warten Sie’s ab.«

»Alles aufstehen. Das Gericht tritt zusammen. Unter dem Vorsitz der ehrenwerten Richterin Williams wird über die Strafsache des Staates Kalifornien gegen Ashley Patterson verhandelt.«

Richterin Williams nahm Platz.

»Darf ich vortreten?« sagte David.

»Sie dürfen.«

Mickey Brennan begab sich ebenfalls zum Richterpodium.

»Worum geht es, Mr. Singer?«

»Ich möchte eine Zeugin aufrufen, die ich bislang nicht benannt habe.«

»Für die Benennung neuer Zeugen ist es reichlich spät«, versetzte Brennan.

»Ich möchte Ashley Patterson in den Zeugenstand rufen.«

»Ich weiß nicht -«, begann Richterin Williams.

»Die Staatsanwaltschaft hat keine Einwände, Euer Ehren«, warf Mickey Brennan rasch ein.

Richterin Williams schaute die beiden Anwälte ein. »Na schön. Sie dürfen Ihre Zeugin aufrufen, Mr. Singer.«

»Vielen Dank, Euer Ehren.« Er ging zu Ashley und bot ihr die Hand. »Ashley .«

Sie saß da, von panischer Angst ergriffen.

»Es muß sein.«

Das Herz schlug ihr bis zum Halse, als sie aufstand und sich langsam zum Zeugenstand begab.

»Ich habe insgeheim darum gebetet, daß er sie aufruft«, flüsterte Mickey Brennan Eleanor Tucker zu.

Eleanor nickte. »Damit ist es gelaufen.«

Ashley Patterson wurde vom Gerichtsdiener vereidigt. »Schwören Sie feierlich, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr Ihnen Gott helfe?«

»Ich schwöre es.« Sie brachte nur ein Flüstern zustande. Dann nahm Ashley auf dem Zeugenstuhl Platz.

David ging zu ihr. »Ich weiß, wie schwer das alles für Sie ist«, sagte er mit sanfter Stimme. »Man hat Sie schrecklicher Straftaten bezichtigt, die Sie nicht begangen haben. Mir geht es lediglich darum, daß die Geschworenen die Wahrheit erfahren.

Können Sie sich auch nur im geringsten daran erinnern, eines dieser Verbrechen begangen zu haben?«

Ashley schüttelte den Kopf. »Nein.«

David warf einen kurzen Blick zu den Geschworenen und fuhr dann fort. »Haben Sie Dennis Tibble gekannt?«

»Ja. Wir haben beide bei der Global Computer Graphics Corporation gearbeitet.«

»Hatten Sie irgendeinen Grund, Dennis Tibble zu töten?«

»Nein.« Sie brachte kaum ein Wort heraus. »Ich - ich bin mit ihm nach Hause gegangen, weil er mich um einen Rat gebeten hatte. Das war das letztemal, daß ich ihn gesehen habe.«

»Haben Sie Richard Melton gekannt?«

»Nein ...«

»Ein Künstler. Er wurde in San Francisco ermordet. Die Polizei fand Ihre Fingerabdrücke am Tatort und stellte Spuren sicher, die laut DNS-Analyse von Ihnen stammen.«

Ashley schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich - ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich habe ihn nicht gekannt!«

»Kannten Sie Deputy Sam Blake?«

»Ja. Er wollte mir beistehen. Ich habe ihn nicht umgebracht!«

»Sind Sie sich bewußt, daß in Ihnen zwei weitere Persönlichkeiten oder Alter egos stecken, Ashley?«

»Ja.« Sie klang abgespannt.

»Wann haben Sie davon erfahren?«

»Kurz vor dem Prozeß. Dr. Salem hat es mir mitgeteilt. Ich wollte es nicht glauben. Ich - ich mag es immer noch nicht glauben. Es - es ist so gräßlich.«

»Sie hatten vorher keine Ahnung von diesen anderen Persönlichkeiten?«

»Nein.«

»Haben Sie schon einmal von einer Toni Prescott oder Alette Peters gehört?«

»Nein!«

»Glauben Sie jetzt, daß die beiden in Ihnen stecken?« »Ja ... Ich muß es ja glauben. Sie müssen all die - diese schrecklichen Sachen begangen haben .«

»Sie können sich also nicht daran erinnern, jemals einen Richard Melton kennengelernt zu haben, und Sie hatten nicht das geringste Motiv, Dennis Tibble zu ermorden, geschweige denn Deputy Sam Blake, der nur zu Ihrem Schutz bei Ihnen geblieben war?«

»So ist es.« Sie ließ den Blick über den vollbesetzten Zuschauerraum schweifen und spürte, wie die Panik zurückkehrte.

»Eine letzte Frage«, sagte David. »Sind Sie jemals mit dem Gesetz in Konflikt gekommen?«

»Noch nie.«

David ergriff ihre Hand. »Das war’s vorerst.« Er wandte sich an Mickey Brennan. »Ihre Zeugin.«

Brennan strahlte über das ganze Gesicht, als er sich erhob. »Nun, Miss Patterson, endlich können wir uns mit Ihnen allen unterhalten. Hatten Sie jemals mit Dennis Tibble Geschlechtsverkehr?«

»Nein.«

»Sind Sie mit Richard Melton geschlechtlich verkehrt?«

»Nein.«

»Hatten Sie jemals Geschlechtsverkehr mit Deputy Sam Blake?«

»Nein.«

»Höchst interessant.« Brennan warf den Geschworenen einen kurzen Blick zu. »Man hat nämlich an den Leichen aller drei Männer Spuren von Vaginalsekret sichergestellt. Und aufgrund der DNS-Analyse kann das nur von Ihnen stammen.«

»Darüber ... darüber weiß ich nichts.«

»Vielleicht will man Ihnen etwas anhängen. Vielleicht hat sich ja irgendein Feind Ihrer Körpersäfte bemächtigt und -«

»Einspruch! Das ist reine Polemik.«

»Abgelehnt.« »- und sie auf die drei verstümmelten Leichen praktiziert. Haben Sie irgendwelche Feinde, denen Sie so etwas zutrauen würden?«

»Ich ... weiß nicht.«

»Das FBI hat die Fingerabdrücke überprüft, die man an sämtlichen Tatorten sichergestellt hat. Und es wird Sie sicher überraschen, wenn -«

»Einspruch.«

»Stattgegeben. Hüten Sie sich, Mr. Brennan.«

»Ja, Euer Ehren.«

Zufrieden nahm David wieder Platz.

Ashley war schier außer sich. »Die anderen müssen -«

»Die Fingerabdrücke, die man an den Tatorten sichergestellt hat, stammen von Ihnen, von niemandem sonst.«

Ashley saß schweigend da.

Brennan ging zum Tisch der Staatsanwaltschaft, ergriff ein in Cellophan gewickeltes Schlachtermesser und hielt es hoch. »Erkennen Sie das?«

»Es - es könnte ... eins von -«

»Eins von Ihren Messern sein? Ganz recht. Ich habe es bereits als Beweismittel vorgelegt. Die Blutflecken, die daran haften, stammen von Deputy Sam Blake. Außerdem befinden sich Ihre Fingerabdrücke an der Mordwaffe.«

Ashley schüttelte nur immer wieder verständnislos den Kopf.

»Ich habe noch nie einen Fall erlebt, bei dem so eindeutig feststand, daß es sich um kaltblütigen Mord handelte, und noch nie eine so schwache Verteidigung. Sich hinter zwei nicht vorhandenen Persönlichkeiten zu verschanzen, die auf reiner Einbildung beruhen, ist der Gipfel -«

David war bereits aufgesprungen. »Einspruch.«

»Stattgegeben. Ich habe Sie gewarnt, Mr. Brennan.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Euer Ehren.«

Brennan fuhr fort: »Ich glaube, die Geschworenen würden gern die anderen Persönlichkeiten kennenlernen, von denen ständig die Rede ist. Sie sind doch Ashley Patterson, stimmt’s?«

»Ja .«

»Na schön. Dann möchte ich jetzt mit Toni Prescott sprechen.«

»Ich . das geht nicht .«

Brennan schaute sie überrascht an. »Das geht nicht? Wirklich nicht? Nun denn, was ist mit Alette Peters?«

Ashley schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich . ich habe darauf keinen Einfluß.«

»Miss Patterson, ich versuche Ihnen doch nur zu helfen«, sagte Brennan. »Ich möchte den Geschworenen klarmachen, daß es Ihre anderen Persönlichkeiten waren, die drei unschuldige Männer ermordet und verstümmelt haben. Zeigen Sie uns, daß es so ist!«

»Ich ... ich kann es nicht.« Sie schluchzte laut auf.

»Sie können es nicht, weil es sie nicht gibt. Sie verschanzen sich hinter Phantasiegebilden. Sie und niemand anders sitzt hier im Zeugenstand, und nur Sie sind verantwortlich für diese Straftaten. Diese anderen Persönlichkeiten gibt es nicht, Sie hingegen sehr wohl, und ich will Ihnen mal sagen, was es sonst noch gibt - eindeutige, unwiderlegbare Beweise dafür, daß Sie diese drei Männer kaltblütig ermordet und entmannt haben.« Er wandte sich an Richterin Williams. »Euer Ehren, die Staatsanwaltschaft hat nichts mehr vorzubringen.«

David wandte sich an die Geschworenen. Sie starrten allesamt auf Ashley, und in ihren Mienen spiegelte sich Abscheu.

Richterin Williams wandte sich an ihn. »Mr. Singer?«

David stand auf. »Euer Ehren, ich bitte um die Erlaubnis, die Angeklagte hypnotisieren zu lassen, damit -«

»Mr. Singer«, versetzte Richterin Williams unwirsch, »ich habe Sie darauf hingewiesen, daß ich kein Affentheater dulde. In meinem Gerichtssaal wird niemand hypnotisiert. Die Antwort lautet nein.« »Sie müssen es zulassen«, versetzte David wutentbrannt. »Sie haben keine Ahnung, wie wichtig -«

»Das reicht, Mr. Singer.« Sie klang eiskalt. »Ich werde Sie ein weiteres Mal wegen Mißachtung des Gerichts belangen. Wollen Sie die Zeugin noch einmal befragen oder nicht?«

David kochte innerlich vor Wut. »Ja, Euer Ehren.« Er begab sich zum Zeugenstand. »Ashley, Sie wissen doch, daß Sie unter Eid stehen?«

»Ja.« Sie atmete tief durch und versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen.

»Und Sie haben nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit gesagt?«

»Ja.«

»Wissen Sie, daß Sie geistig, seelisch und auch körperlich von zwei anderen Persönlichkeiten beherrscht werden?«

»Ja.«

»Von Toni und Alette?«

»Ja.«

»Sie haben diese schrecklichen Morde nicht begangen?«

»Nein.«

»Aber eine von den beiden ist es gewesen, ohne daß Sie etwas dafür können.«

Eleanor Tucker warf Brennan einen fragenden Blick zu, doch der lächelte nur und schüttelte den Kopf. »Der schaufelt sich sein eigenes Grab«, flüsterte er.

»Helen« - David stockte und wurde kreidebleich, als er sich seines Ausrutschers bewußt wurde -, »ich meine, Ashley . ich möchte, daß Toni sich meldet.«

Ashley schaute David an und schüttelte hilflos den Kopf. »Ich - ich kann nicht«, flüsterte sie.

»Doch, Sie können es. Toni hört uns genau zu. Sie amüsiert sich, und warum auch nicht? Sie hat drei Morde begangen und ist trotz allem fein heraus.« Er hob die Stimme. »Sie sind sehr schlau, Toni. Kommen Sie heraus und stellen Sie sich. Niemand kann Ihnen etwas anhaben. Man kann Sie nicht bestrafen, weil Ashley unschuldig ist und man sie bestrafen müßte, um Sie zu treffen.«

Aller Augen waren auf David gerichtet. Ashley saß da wie erstarrt.

David trat neben sie. »Toni, Toni, hören Sie mich? Melden Sie sich endlich, Toni. Auf der Stelle!«

Er wartete einen Moment lang. Nichts tat sich. Er hob die Stimme. »Toni! Alette! Kommen Sie raus. Wir wissen alle, daß Sie da drin sind.«

Im Gerichtssaal war kein Laut zu vernehmen.

David verlor die Selbstbeherrschung. »Kommt raus«, brüllte er. »Zeigt euch endlich . Verdammt noch mal! Los! Auf der Stelle

Ashley brach in Tränen aus.

»Treten Sie vor, Mr. Singer«, sagte Richterin Williams wutentbrannt.

Langsam begab sich David zum Richterpodium.

»Haben Sie Ihrer Zeugin nun genug zugesetzt, Mr. Singer? Ich werde der Anwaltskammer von Ihrem Verhalten berichten. Sie sind eine Schande für Ihren ganzen Berufsstand, und ich werde den Antrag stellen, daß man Ihnen die Zulassung entzieht.«

David fiel dazu nichts mehr ein.

»Wollen Sie weitere Zeugen aufrufen?«

David schüttelte den Kopf. »Nein, Euer Ehren.« Es war vorbei. Er hatte verloren. Ashley würde sterben. »Die Beweisaufnahme von Seiten der Verteidigung ist abgeschlossen.«

Joseph Kincaid saß in der hintersten Reihe des Zuschauerraums und verfolgte das Geschehen mit grimmiger Miene. Schließlich wandte er sich an Harvey Udell. »Werden Sie ihn los.« Kincaid stand auf und ging.

Udell hielt David kurz an, als dieser den Gerichtssaal verlassen wollte.

»David .«

»Hallo, Harvey.«

»Schade, daß die Sache so ausgegangen ist.«

»Sie ist nicht -«

»Mr. Kincaid bedauert die Entwicklung sehr, aber er ist der Meinung, daß es besser wäre, wenn Sie nicht in die Kanzlei zurückkehren würden. Viel Glück.«

Sobald David den Gerichtssaal verließ, wurde er von Fernsehkameras und Reportern umringt, die lauthals auf ihn einschrien.

»Haben Sie eine Erklärung abzugeben, Mr. Singer ...?«

»Wir haben gehört, daß Richterin Williams dafür sorgen will, daß man Ihnen die Zulassung entzieht .«

»Richterin Williams hat verfügt, daß Sie wegen Mißachtung des Gerichts in Gewahrsam genommen werden sollen. Glauben Sie, daß ...?«

»Unsere Beobachter gehen davon aus, daß Sie den Prozeß verloren haben. Planen Sie, in die Berufung ...?«

»Die Rechtsexperten unseres Senders sind der Meinung, daß man Ihre Mandantin zum Tode verurteilen wird .«

»Haben Sie schon irgendwelche Zukunftspläne ...?«

David stieg wortlos in seinen Wagen und fuhr weg.

21


Immer wieder spielte er die Szenen mit neuem Verlauf in Gedanken durch.

Ich habe die Morgennachrichten gesehen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie betroffen ich bin.

Ja. Es war ein ganz schöner Schlag. Sie müssen mir helfen, David.

Selbstverständlich. Ich bin zu allem bereit.

Ich möchte, daß Sie Ashley vertreten.

Das kann ich nicht. Ich bin kein Strafverteidiger. Aber ich kann Ihnen einen hervorragenden Anwalt empfehlen, Jesse Quiller.

Das ist ausgezeichnet. Besten Dank, David ...

Sie können sich wohl nicht gedulden, junger Mann? Sollten Sie nicht erst um fünf bei mir vorsprechen? Nun, ich habe gute Nachrichten für Sie. Wir ernennen Sie zum Gesellschafter.

Sie wollten mich sprechen?

Ja, Euer Ehren. Ich habe erfahren, daß der Prozeß derzeit im Internet das Gesprächsthema Nummer eins ist, und dort hat man die Angeklagte bereits abgeurteilt. Dadurch könnte der Verteidigung ein schwerer Nachteil entstehen. Daher stelle ich den Antrag, den Prozeß aufgrund eines Verfahrensfehlers einzustellen.

Meiner Meinung nach ist dieser Antrag durchaus begründet, Mr. Singer. Ich werde ihm stattgeben .

Lauter müßige Spekulationen, die nichts als einen bitteren Nachgeschmack hinterließen .

Am nächsten Morgen trat das Gericht wieder zusammen.

»Ist die Staatsanwaltschaft bereit, das Schlußplädoyer zu halten?« Brennan stand auf. »Ja, Euer Ehren.« Er ging zur Geschworenenbank und schaute die Geschworenen einen nach dem anderen an.

»Sie sind hier und heute in der Lage, Geschichte zu schreiben. Wenn Sie glauben, daß die Angeklagte tatsächlich mehrere verschiedene Persönlichkeiten verkörpert und nicht verantwortlich für ihre Taten ist, für die schrecklichen Straftaten, die sie begangen hat, dann drücken Sie damit aus, daß jeder einen Mord begehen und ungeschoren davonkommen kann, indem er einfach behauptet, daß er es nicht gewesen sei, daß irgendein geheimnisvolles Alter ego es getan hat. Man kann also rauben, schänden, morden, aber ist man deswegen schuldig? Nein. >Ich war’s nicht. Mein Alter ego war es.< Ken und Joe oder Suzy, oder wie immer sie auch heißen mögen. Nun, ich halte Sie für zu intelligent, als daß Sie auf derlei Phantastereien hereinfallen. Die Tatsachen sind auf den Fotos festgehalten, die Sie gesehen haben. Diese Menschen wurden nicht von irgendwelchen Alter egos ermordet. Sie wurden vorsätzlich, grausam und mit Bedacht ermordet, und zwar von der Angeklagten, die dort am Tisch sitzt. Von Ashley Patterson. Meine Damen und Herren Geschworenen, was die Verteidigung in diesem Verfahren versucht hat, ist keineswegs neu. In der Strafsache Mann gegen Teller befand das Gericht, daß eine eindeutig festgestellte MPS nicht per se zu einem Freispruch führen müsse. In der Strafsache Vereinigte Staaten gegen Whirley behauptete eine Krankenschwester, die einen Säugling ermordet hatte, sie leide an MPS. Das Gericht sprach sie schuldig.

Wissen Sie, ich habe beinahe Mitleid mit der Angeklagten. Immerhin muß die arme Frau mit all diesen Leuten leben. Sicherlich möchte keiner von uns, daß ein Haufen verrückter Fremder in ihm herumwuselt, nicht wahr? Fremde, die einfach hergehen und Männer ermorden und kastrieren. Ich jedenfalls hätte Angst.«

Er drehte sich um und blickte zu Ashley. »Die Angeklagte wirkt aber nicht ängstlich, oder? Jedenfalls nicht so ängstlich, daß sie nicht in der Lage wäre, ein hübsches Kleid anzuziehen, sich ordentlich zu frisieren und zu schminken. Sie wirkt ganz und gar nicht ängstlich. Sie glaubt nämlich, daß Sie ihr die Geschichte abnehmen und sie davonkommen lassen. Niemand kann beweisen, ob es diese sogenannte multiple Persönlichkeitsstörung gibt, daher müssen wir uns selbst ein Urteil darüber bilden.

Die Verteidigung behauptet, daß diese anderen Charaktere gelegentlich durchbrechen und das Kommando übernehmen. Wollen wir doch mal sehen - da wäre erstens Toni, geboren in England. Dann Alette, in Italien geboren. Sie sind ein und dieselbe Person. Sie sind nur in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeitpunkten geboren. Irritiert Sie das? Mich ganz bestimmt. Ich habe der Angeklagten die Gelegenheit geboten, uns ihre anderen Persönlichkeiten vorzuführen, aber sie ist nicht darauf eingegangen. Warum wohl? Möglicherweise deshalb, weil es sie nicht gibt ...? Wird MPS in Kalifornien von Gesetz wegen als Geisteskrankheit anerkannt? Nein. In Colorado? Nein. In Mississippi? Nein. Vielmehr ist festzustellen, daß kein Staat MPS von Gesetzes wegen als Grund für verminderte Schuldfähigkeit oder gar Schuldunfähigkeit anerkennt. Und warum nicht? Weil es keine Rechtfertigung für eine Straftat darstellt. Meine Damen und Herren, es ist lediglich ein Vorwand, um sich der gerechten Strafe zu entziehen ...

Die Verteidigung will Ihnen einreden, daß in der Angeklagten noch zwei Leute stecken, so daß niemand die Verantwortung für die Straftaten trägt. Doch in diesem Gerichtssaal sitzt nur eine Angeklagte - Ashley Patterson. Wir haben eindeutig nachgewiesen, daß sie eine Mörderin ist. Sie aber behauptet, sie habe die Taten nicht begangen. Jemand anders sei das gewesen, jemand, der sich ihres Körpers bedient habe, um unschuldige Menschen zu töten - ihre Alter egos. Wäre es nicht wunderbar, wenn wir alle Alter egos hätten, die all das tun, was wir uns insgeheim wünschen, aber nicht tun dürfen, weil es die Gesellschaft nicht duldet? Vielleicht aber auch nicht. Möchten Sie in einer Welt leben, in der Menschen andere umbringen und hinterher sagen können: >Ihr könnt mir nichts anhaben, weil es mein Alter ego war< und >Ihr könnt mein Alter ego nicht bestrafen, weil es sich dabei in Wirklichkeit um mich handelt

Doch in diesem Verfahren geht es nicht um geheimnisvolle fremde Charaktere, die es nicht gibt. Ashley Patterson steht wegen dreier brutaler, kaltblütiger Morde vor Gericht, und die Staatsanwaltschaft beantragt die Todesstrafe. Ich danke Ihnen.«

Mickey Brennan kehrte an seinen Platz zurück.

»Ist die Verteidigung bereit für ihr Schlußplädoyer?«

David erhob sich. Er ging zur Geschworenenbank und schaute die Geschworenen an. Was er sah, war alles andere als ermutigend. »Ich weiß, daß dies für uns alle ein sehr schwieriger Fall ist. Sie haben die Aussagen von Sachverständigen gehört, die multiple Persönlichkeitsstörungen behandelt haben, und Sie haben andere Sachverständige gehört, die ausgesagt haben, daß es so etwas nicht gibt. Sie sind weder Ärzte noch Psychiater, daher erwartet niemand, daß Sie sich aufgrund medizinischer Fachkenntnisse ein Urteil bilden. Ich möchte mich bei Ihnen allen entschuldigen, falls Sie mein Benehmen gestern als rüpelhaft empfunden haben sollten. Ich habe Ashley Patterson nur deshalb angebrüllt, weil ich ihre anderen Persönlichkeiten herauslocken wollte. Ich habe mit diesen anderen Persönlichkeiten gesprochen. Ich weiß, daß es sie gibt. Es gibt tatsächlich eine Alette und eine Toni, und sie können Ashley jederzeit beherrschen. Sie weiß nichts von den Morden, die sie begangen haben soll.

Ich habe Ihnen zu Beginn dieses Verfahrens erklärt, daß handfeste Beweise und schuldhafte Absicht, also ein Motiv, vorliegen müssen, damit man jemanden wegen vorsätzlichen Mordes verurteilen kann. In diesem Fall aber liegt kein Motiv vor, meine Damen und Herren. Nicht das geringste. Außerdem muß die Staatsanwaltschaft laut unserer Rechtsordnung eindeutig und zweifelsfrei nachweisen, daß ein Angeklagter schuldig ist. Sie werden mir sicherlich beipflichten, daß es in diesem Fall durchaus berechtigte Zweifel gibt.

Nicht, was die Beweislast angeht - die stellt die Verteidigung auch gar nicht in Frage. An jedem der drei Tatorte befanden sich Ashley Pattersons Fingerabdrücke sowie Körperspuren mit ihrem Erbgut. Doch allein die Tatsache, daß sie sich dort befanden, sollte uns zu denken geben. Ashley Patterson ist eine intelligente junge Frau. Wenn sie einen Mord begangen hätte und sich nicht ertappen lassen wollte, wäre sie dann so dumm gewesen und hätte an sämtlichen Tatorten ihre Fingerabdrücke hinterlassen? Die Antwort lautet: Nein.«

David redete noch eine halbe Stunde weiter. Als er geendet hatte, musterte er die Geschworenen und war alles andere als beruhigt. Er nahm wieder Platz.

Richterin Williams wandte sich an die Geschworenen. »Ich möchte Sie jetzt auf die in diesem Fall in Frage kommenden Gesetze hinweisen. Hören Sie gut zu.« Sie redete zwanzig Minuten lang und führte genau aus, was von Gesetzes wegen zulässig und erlaubt war.

»Wenn Sie Fragen haben oder möchten, daß man Ihnen die eine oder andere Aussage noch mal vorliest, dann wenden Sie sich bitte an den Protokollführer. Die Geschworenen dürfen sich zur Beratung zurückziehen. Das Gericht vertagt sich, bis sie mit Ihrem Urteilsspruch zurückkehren.«

David sah zu, wie die Geschworenen in das Beratungszimmer gingen. Je länger die Geschworenen brauchen, desto größer sind unsere Chancen, dachte er.

Die Geschworenen kehrten nach einer Dreiviertelstunde zurück.

Ashley saß mit versteinerter Miene da, als die Geschworenen wieder ihre Plätze einnahmen. David stellte fest, daß er schwitzte.

Richterin Williams wandte sich an den Sprecher. »Sind die Geschworenen zu einem Urteilsspruch gelangt?«

»Jawohl, Euer Ehren.«

»Würden Sie ihn bitte dem Gerichtsdiener aushändigen.«

Der Gerichtsdiener brachte den Zettel der Richterin. Richterin Williams faltete ihn auf. Im Gerichtssaal herrschte gespannte Stille.

Der Gerichtsdiener brachte den Zettel zum Sprecher der Geschworenen zurück.

»Würden Sie das Urteil bitte vorlesen?«

Langsam und bedächtig las er vor: »In der Strafsache des Staates Kalifornien gegen Ashley Patterson befinden wir, die zu diesem Zweck bestellten Geschworenen, die Angeklagte Ashley Patterson im Sinne des Strafgesetzbuches, Paragraph einhundertsiebenundachtzig, des Mordes an Dennis Tipple für schuldig.«

Die Zuschauer keuchten laut auf. Ashley schloß die Augen.

»In der Strafsache des Staates Kalifornien gegen Ashley Patterson befinden wir, die zu diesem Zweck bestellten Geschworenen, die Angeklagte Ashley Patterson im Sinne des Strafgesetzbuches, Paragraph einhundertsiebenundachtzig, des Mordes an Deputy Samuel Blake für schuldig.

In der Strafsache des Staates Kalifornien gegen Ashley Patterson befinden wir, die zu diesem Zweck bestellten Geschworenen, die Angeklagte Ashley Patterson im Sinne des Strafgesetzbuches, Paragraph einhundertsiebenundachtzig, des Mordes an Richard Melton für schuldig. Wir, die Geschworenen, stellen ferner fest, daß es sich in allen drei Fällen um vorsätzlichen Mord handelte.«

David bekam kaum noch Luft. Er wandte sich an Ashley, doch er fand keine Worte. Er beugte sich zu ihr und schlang die Arme um sie.

»Ich möchte feststellen, wie die Geschworenen abgestimmt haben«, sagte Richterin Williams. Sie standen einer nach dem anderen auf.

»Haben Sie den soeben verlesenen Urteilsspruch mitgetragen?«

Und als es jeder einzelne bestätigt hatte, sagte sie: »Der Urteilsspruch wird niedergeschrieben und ins Protokoll aufgenommen. Ich möchte den Geschworenen für ihre Zeit und die Mühe danken, die sie für diesen Fall aufgewendet haben. Sie sind entlassen. Morgen werden wir uns der Frage der geistigen Zurechnungsfähigkeit und des Strafmaßes annehmen.«

David saß hilflos da und sah zu, wie Ashley abgeführt wurde.

Richterin Williams stand auf und begab sich in ihr Dienstzimmer, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Ihre Haltung verriet David mehr als alle Worte, wie ihre Entscheidung am nächsten Morgen ausfallen würde. Ashley würde zum Tode verurteilt werden.

Sandra rief aus San Francisco an. »Ist bei dir alles in Ordnung, David?«

Er versuchte so unbeschwert wie möglich zu klingen. »Ja, alles bestens. Und wie geht’s dir?«

»Mir geht’s prima. Ich hab’s in den Fernsehnachrichten gesehen. Die Richterin war gegen dich eingenommen. Sie kann dich nicht aus der Anwaltskammer ausschließen lassen. Du wolltest deiner Mandantin doch nur helfen.«

Er wußte nicht, was er darauf antworten sollte.

»Es tut mir so leid, David. Ich wünschte, ich wäre bei dir. Ich könnte runterfahren und -«

»Nein«, versetzte David. »Wir dürfen keinerlei Risiko eingehen. Bist du heute beim Arzt gewesen?«

»Ja.«

»Was hat er gesagt?« »Es kann jetzt jeden Tag soweit sein.«

Herzlich willkommen, Jeffrey.

Jesse Quiller rief an.

»Ich hab’s verhunzt«, sagte David.

»Den Teufel hast du. Du hast nur die falsche Richterin erwischt. Womit hast du dir eigentlich ihren Unmut zugezogen?«

»Sie wollte, daß ich auf schuldig plädiere und mit der Staatsanwaltschaft das Strafmaß aushandle«, sagte David. »Sie wollte nicht, daß es zu einem Prozeß kommt. Vielleicht hätte ich auf sie hören sollen.«

Sämtliche Fernsehsender ließen sich über seine blamable Vorstellung aus. Gerade in diesem Augenblick äußerte sich wieder irgendein Strafrechtsexperte zu dem Fall.

»Ich habe noch nie erlebt, daß ein Strafverteidiger die eigene Mandantin anschreit. Ich muß schon sagen, im Gerichtssaal waren alle fassungslos. Es war einer der unerhörtesten -«

David schaltete das Gerät ab. Was habe ich bloß falsch gemacht? fragte er sich. Angeblich geht doch im Leben immer alles gut aus. Aber ich habe alles verhunzt, und deswegen wird Ashley sterben, und ich werde aus der Anwaltskammer ausgeschlossen, und der Kleine kommt zur Welt, und ich bin arbeitslos.

Er saß mitten in der Nacht in seinem Hotelzimmer und starrte in die Dunkelheit. Es waren die schrecklichsten Stunden seines Lebens, immer wieder ging ihm die entscheidende Szene vor Gericht durch den Kopf. »In meinem Gerichtssaal wird niemand hypnotisiert. Die Antwort lautet Nein.«

Wenn sie nur zugelassen hätte, daß Ashley im Zeugenstand hypnotisiert wird. Ich weiß genau, daß die Geschworenen danach überzeugt gewesen wären. Jetzt war alles gelaufen.

Doch eine leise, hartnäckige innere Stimme flüsterte ihm zu: Wer sagt denn, daß die Sache gelaufen ist? Noch ist nicht aller Tage Abend.

Ich kann nichts mehr unternehmen.

Deine Mandantin ist unschuldig. Willst du sie etwa dem Tod überantworten?

Laß mich in Ruhe.

Immerzu gingen ihm die Worte von Richterin Williams durch den Kopf: In meinem Gerichtssaal wird niemand hypnotisiert.

Und dann waren da nur noch drei Worte, die immer wiederkehrten: In meinem Gerichtssaal.

Um fünf Uhr morgens führte David zwei kurze, dringende Telefongespräche. Als er den Hörer auflegte, ging gerade die Sonne auf. Wenn das kein Omen ist, dachte David. Wir werden gewinnen.

Ein Weilchen später stürmte David in einen Antiquitätenladen.

Der Verkäufer kam auf ihn zu. »Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?« Dann erkannte er David. »Mr. Singer.«

»Ich suche einen zusammenklappbaren chinesischen Paravent. Haben Sie so etwas da?«

»Ja doch. Wir führen momentan zwar keine allzu alten Paravents, aber -«

»Zeigen Sie mir mal, was Sie da haben.«

»Gewiß doch.« Er führte David in einen Nebenraum, in dem mehrere chinesische Paravents standen. Der Verkäufer deutete auf den ersten. »Das hier ist -«

»Der gefällt mir«, sagte David.

»Ja, Sir. Wohin darf ich ihn senden?«

»Ich nehme ihn gleich mit.«

Danach suchte David eine Eisenwarenhandlung auf, in der er ein Schweizer Offiziersmesser kaufte. Eine Viertelstunde später trat er, den Paravent unter den Arm geklemmt, in das Foyer des Gerichtsgebäudes. »Ich habe einen Gesprächstermin mit Ashley Patterson«, sagte er zu dem Wachmann am Eingang. »Richter Goldberg hat mir sein Dienstzimmer überlassen. Er ist heute nicht da.«

»Ja, Sir«, erwiderte der Wachmann. »Es ist alles bereit. Ich lasse die Angeklagte hochbringen. Dr. Salem und sein Begleiter erwarten Sie bereits.«

»Vielen Dank.«

Der Wachmann schaute David nach, als er mit dem chinesischen Paravent zum Fahrstuhl ging. So ein verrückter Hund, dachte er.

Richter Goldbergs Dienstzimmer wirkte geradezu anheimelnd. Am Fenster stand ein wuchtiger Schreibtisch, davor ein Drehstuhl und an der einen Wand eine Sitzgruppe mit einem Sofa und mehreren Sesseln. Dr. Salem und ein anderer Mann, den David nicht kannte, erwarteten ihn bereits, als er eintrat.

»Entschuldigen Sie, daß ich mich etwas verspätet habe«, sagte David.

»Das ist Hugh Iverson«, sagte Dr. Salem. »Der Spezialist, um den Sie gebeten haben.«

Sie schüttelten sich die Hand. »Wir sollten uns ranhalten«, sagte David. »Ashley wird bereits heraufgebracht.«

Er wandte sich an Hugh Iverson und deutete in eine Ecke des Raumes. »Wie wär’s damit?«

»Bestens.«

Er sah zu, wie Iverson sich ans Werk machte. Ein paar Minuten später ging die Tür auf, und Ashley wurde von einem Wärter hereingeführt.

»Ich muß im Zimmer bleiben«, sagte der Wärter.

David nickte. »Ist schon gut.« Er wandte sich an Ashley. »Setzen Sie sich bitte.«

Er wartete, bis sie Platz genommen hatte. »Zunächst einmal möchte ich Ihnen sagen, daß es mir furchtbar leid tut, wie die Sache ausgegangen ist.«

Sie nickte wie benommen.

»Aber noch ist es nicht vorbei. Wir haben noch eine Chance.«

Sie schaute ihn ungläubig an.

»Ashley, ich möchte, daß Sie sich noch einmal von Dr. Salem hypnotisieren lassen.«

»Nein. Was soll denn das noch -?«

»Tun Sie mir den Gefallen, ja?«

Sie zuckte die Achseln.

David nickte Dr. Salem zu.

»Wir haben das ja schon mehrmals gemacht«, sagte Dr. Sa-lem, »und Sie wissen, wie einfach es ist. Sie müssen lediglich die Augen schließen und sich entspannen. Einfach lockerlassen. Bis Sie völlig gelöst sind. Sie möchten nur noch schlafen. Sie sind sehr müde.«

Zehn Minuten später sah Dr. Salem zu David und sagte. »Sie ist soweit.«

David schlug das Herz bis zum Halse, als er neben Ashley trat. »Ich möchte mit Toni reden.«

Keine Reaktion.

David hob die Stimme. »Toni. Ich möchte Sie sprechen. Hören Sie mich? Alette ... ich möchte mit Ihnen beiden reden.«

Schweigen.

David wurde lauter. »Was ist los? Fürchtet ihr euch etwa? Genauso war’s vor Gericht, nicht wahr? Habt ihr gehört, was die Geschworenen gesagt haben? Ashley ist schuldig. Nur weil ihr euch verkrochen habt. Sie sind feige, Toni!«

Er musterte Ashley. Keine Reaktion. Dann blickte er verzweifelt zu Dr. Salem. Es ging nicht.

»Das Gericht tritt wieder zusammen. Den Vorsitz hat die ehrenwerte Richterin Williams.«

Ashley saß neben David am Verteidigertisch. David trug an der einen Hand einen dicken Verband.

Er erhob sich. »Darf ich vortreten, Euer Ehren?«

»Sie dürfen.«

David begab sich zum Richterstuhl. Brennan folgte ihm auf dem Fuß.

»Ich bitte darum, neue Beweise beibringen zu dürfen«, sagte David.

»Auf keinen Fall«, versetzte Brennan.

Richterin Williams drehte sich zu ihm und sagte: »Würden Sie diese Entscheidung bitte mir überlassen, Mr. Brennan.« Dann wandte sie sich wieder an David. »Die Verhandlung ist vorüber. Ihre Mandantin wurde für schuldig befunden und -«

»Es geht um die Frage der Zurechnungsfähigkeit«, sagte David. »Ich möchte Sie lediglich um zehn Minuten Zeit bitten, damit ich Ihnen etwas zeigen kann.«

»Zeit scheint für Sie ja keine Rolle zu spielen, nicht wahr, Mr. Singer?« erwiderte Richterin Williams unwirsch. »Jedenfalls haben Sie uns alle schon genügend Zeit gekostet.« Sie dachte kurz nach. »Na schön. Ich kann nur hoffen, daß es sich um den letzten Antrag handelt, den Sie vor einem ordentlichen Gericht stellen dürfen. Die Sitzung ist für zehn Minuten unterbrochen.«

David und Brennan begaben sich in das Dienstzimmer der Richterin. Sie wandte sich an David. »Ich gewähre Ihnen zehn Minuten. Worum geht es?«

»Ich möchte Ihnen einen kurzen Film vorführen, Euer Ehren.«

»Ich wüßte nicht, was das mit -«, wandte Brennan ein.

»Ich auch nicht«, versetzte Richterin Williams. Sie wandte sich an David. »Sie haben jetzt noch genau neun Minuten Zeit.«

David stürmte zu der Tür, die auf den Flur führte, und öffnete sie. »Kommen Sie rein.«

Hugh Iverson, der eine tragbare Leinwand und eine 16-mm-Kamera dabeihatte, trat ein. »Wo soll ich sie hinstellen?«

David deutete in die andere Ecke. »Da drüben.«

Sie warteten, bis er die Leinwand aufgebaut und den Projektor angeschlossen hatte.

»Darf ich die Jalousien herunterlassen?« fragte David.

Richterin Williams konnte ihren Unmut kaum bezähmen. »Ja, nur zu, Mr. Singer.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Noch sieben Minuten.«

Der Film lief an. Zunächst sah man Richter Goldbergs Dienstzimmer. Dann David und Dr. Salem, die Ashley betrachteten, die vor ihnen auf einem Stuhl saß.

»Sie ist soweit«, ertönte Dr. Salems Stimme aus den Lautsprechern.

David trat neben Ashley. »Ich möchte mit Toni reden. Toni. Ich möchte Sie sprechen. Hören Sie mich? Alette ... ich möchte mit euch beiden reden.«

Schweigen.

Richterin Williams saß mit verkniffener Miene da und sah zu.

David wurde lauter. »Was ist los? Fürchtet ihr euch etwa? Genauso war’s vor Gericht, nicht wahr? Habt ihr gehört, was die Geschworenen gesagt haben? Ashley ist schuldig. Nur weil ihr euch verkrochen habt. Sie sind feige, Toni.«

Richterin Williams stand auf. »Das reicht! Diese Widerwärtigkeiten will ich mir nicht noch einmal antun. Ihre Zeit ist abgelaufen, Mr. Singer.«

»Moment«, sagte David. »Sie haben noch nicht -«

»Aus und Ende«, versetzte Richterin Williams und wollte zur Tür gehen.

Mit einemmal ertönte ein Lied.

»Will ich in mein Küchel gehn, will mein Süpplein kochen, steht ein bucklicht Männlein da, hat mein Töpflein brochen.«

Richterin Williams stutzte und drehte sich wieder um. Sie schaute auf die Leinwand.

Ashley wirkte völlig verändert. Sie war jetzt Toni.

»Ich soll mich vor Gericht gefürchtet haben?« versetzte sie aufgebracht. »Meinst du etwa, ich zeige mich, bloß weil du es befiehlst? Glaubst du etwa, ich tanz’ nach deiner Pfeife?«

Richterin Williams ging langsam zurück, ohne den Blick von der Leinwand zu wenden.

»Ich habe sehr wohl gehört, was diese dämlichen Typen für Schwachsinn abgelassen haben.« Sie imitierte den Tonfall. »>Ich glaube nicht, daß es so etwas wie eine multiple Persönlichkeitsstörung gibt.< Lauter Idioten. Ich hab’ noch nie soviel Dann veränderte sich Ashleys Miene erneut. Sie schien in sich zusammenzusinken, wirkte mit einemmal schüchtern. Alette meldete sich mit ihrem italienischen Akzent zu Wort. »Mr. Singer, ich weiß, daß Sie vor Gericht Ihr Bestes gegeben haben. Ich wollte Ihnen ja beistehen, aber Toni hat mich nicht gelassen.«

Richterin Williams starrte mit ausdrucksloser Miene auf die Leinwand.

Wieder änderten sich die Mimik und der Tonfall. »Natürlich hab’ ich dich nicht gelassen«, versetzte Toni.

»Toni, was glauben Sie, wie es mit Ihnen weitergeht, wenn Ashley zum Tode verurteilt wird?« sagte David.

»Die wird nicht zum Tode verurteilt. Immerhin hat sie zwei der Männer, die sie umgebracht hat, überhaupt nicht gekannt. Kapiert?«

»Aber Alette kannte sie«, entgegnete David. »Sie haben die Morde begangen, Alette. Sie haben sich mit diesen Männern eingelassen, und anschließend haben Sie sie erstochen und entmannt .«

»Du raffst wohl überhaupt nichts«, versetzte Toni. »Alette hätte so was doch nie und nimmer fertiggebracht. Ich war’s. Und jeder von denen hat es verdient. Die waren alle nur auf Sex aus.« Sie atmete schwer. »Aber ich hab’ es ihnen heimgezahlt. Und keiner kann mir auch nur das geringste nachweisen. Weil nämlich die kleine Unschuld vom Lande den Kopf hinhält. Und dann kommen wir alle in eine nette, gemütliche Heilanstalt, wo es -«

Im Hintergrund ertönte ein lautes Klicken.

Toni fuhr herum. »Was war das?«

»Gar nichts«, erwiderte David rasch. »Das war bloß -«

Toni stand auf und stürmte auf die Kamera zu, bis ihr Gesicht die ganze Leinwand ausfüllte. Sie stieß gegen etwas, und die Szene kippte. Plötzlich geriet der chinesische Paravent ins Bild. In der Mitte war ein kleines Loch herausgeschnitten.

»Verdammt, du hast da hinten eine Kamera aufgestellt«, kreischte Toni. Sie drehte sich zu David um. »Du Dreckskerl, du hast wohl gedacht, du kannst mich austricksen?«

Toni ergriff den Brieföffner, der auf dem Schreibtisch lag, und stürzte sich auf David. »Ich bring’ dich um«, schrie sie. »Ich bring’ dich um.«

David versuchte sie festzuhalten, aber er kam nicht gegen sie an. Der Brieföffner bohrte sich in seine Hand.

Toni riß den Arm hoch und wollte erneut zustechen, worauf der Wärter zu ihr rannte und sie zu ergreifen versuchte. Toni stieß ihn zu Boden. Die Tür ging auf, und ein Wachmann in Uniform kam hereingerannt. Als er sah, was da vor sich ging, stürzte er sich auf Toni. Sie trat ihm in den Unterleib, und er ging zu Boden. Zwei weitere Wachmänner kamen hinzu, und erst mit vereinten Kräften gelang es ihnen, Toni, die die ganze Zeit über brüllte und auf sie einschrie, auf den Stuhl zu drücken und festzuhalten.

Blut tropfte aus Davids Wunde. Er sagte zu Dr. Salem: »Um Himmels willen, wecken Sie sie auf!«

»Ashley!« sagte Dr. Salem, »Ashley - hören Sie mir zu. Sie werden jetzt wieder zu sich kommen. Toni ist weg. Sie können ruhig wieder zu sich kommen, Ashley. Ich zähle jetzt bis drei.«

Sie sahen gespannt zu, wie Ashley wieder ruhig und gelöst wurde.

»Können Sie mich hören?«

»Ja.« Es war Ashleys Stimme, aber sie klang, als käme sie aus weiter Ferne.

»Wenn ich bis drei gezählt habe, werden Sie aufwachen. Eins ... zwei ... drei ... Wie fühlen Sie sich?«

Sie schlug die Augen auf. »Ich bin so müde. Habe ich irgendwas gesagt?«

Die Leinwand in Richterin Williams Dienstzimmer wurde dunkel. David ging zur Tür und schaltete das Licht ein.

»Nun denn!« sagte Brennan. »Was für ein Auftritt. Wenn es einen Oscar für die beste -«

Richterin Williams wandte sich ihm zu. »Halten Sie den Mund.«

Brennan schaute sie schockiert an.

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann wandte sich Richterin Williams an David. »Herr Rechtsanwalt.«

»Ja?«

Sie zögerte kurz. »Ich möchte mich entschuldigen.«

»Beide Parteien«, sagte Richterin Williams, als sie im Gerichtssaal Platz genommen hatte, »sind übereingekommen, sich der Meinung des Psychiaters anzuschließen, der die Angeklagte bereits untersucht hat, Dr. Salem. Das Gericht beschließt, daß die Angeklagte aufgrund einer Geisteskrankheit nicht schuldig ist. Sie wird in einer Anstalt untergebracht, wo man sie behandeln kann. Die Sitzung ist geschlossen.«

Erschöpft und ausgelaugt stand David auf. Es ist vorbei, dachte er. Endlich ist es vorbei. Jetzt konnten er und Sarah sich wieder ihrem Leben widmen.

Er blickte zu Richterin Williams. »Wir bekommen ein Kind«, sagte er glücklich.

»Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen«, sagte Dr. Salem zu David. »Ich weiß nicht, ob es möglich ist, aber ich glaube, es würde Ashley sehr helfen, wenn Sie es einrichten könnten.«

»Worum geht es?«

»Im Connecticut Psychiatrie Hospital drüben an der Ostküste hat man mehr MPS-Fälle behandelt als in jeder anderen Anstalt im ganzen Land. Dr. Otto Lewison, ein Freund von mir, ist der Leiter. Wenn Sie vor Gericht durchsetzen könnten, daß man Ashley dorthin bringt, wäre das meiner Meinung nach sehr gut.«

»Danke«, sagte David. »Ich will sehen, was ich tun kann.«

»Ich - ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Dr. Steven Patterson zu David.

David lächelte. »Keine Ursache. Eine Hand wäscht die andere. Wissen Sie noch?«

»Sie haben Ihre Sache hervorragend gemacht. Eine Zeitlang hatte ich Angst -«

»Ich auch.«

»Aber die Gerechtigkeit hat gesiegt. Meine Tochter wird wieder geheilt werden.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte David. »Dr. Salem hat übrigens eine psychiatrische Klinik in Connecticut vorgeschlagen. Die Ärzte dort haben Erfahrung im Umgang mit MPS.«

Dr. Patterson schwieg einen Moment. »Wissen Sie, Ashley hat das alles nicht verdient. Sie ist so ein wunderbarer Mensch.«

»Ganz meine Meinung. Ich rede mit Richterin Williams und sehe zu, daß man sie verlegt.«

Richterin Williams saß in ihrem Dienstzimmer. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Singer?«

»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.«

Sie lächelte. »Ich hoffe, ich kann ihn erfüllen. Worum geht es?«

David erklärte der Richterin, was Dr. Salem ihm mitgeteilt hatte.

»Nun ja, das ist eine ziemlich ungewöhnliche Bitte. Hier bei uns in Kalifornien gibt es ebenfalls einige ausgezeichnete psychiatrische Anstalten.«

»Na gut«, sagte David. »Vielen Dank, Euer Ehren.« Enttäuscht wandte er sich zum Gehen.

»Ich habe nicht nein gesagt, Mr. Singer.« David blieb stehen. »Es ist ein ungewöhnliches Ersuchen, aber schließlich handelt es sich auch um einen ungewöhnlichen Fall.«

David wartete.

»Ich glaube, ich kann veranlassen, daß man sie verlegt.«

»Vielen Dank, Euer Ehren. Ich weiß das zu schätzen.«

Man hat mich zum Tode verurteilt, dachte Ashley unterdessen in ihrer Zelle. Zu einem langsamen Tod in einer Anstalt voller Irrer. Es wäre gnädiger gewesen, wenn man mich gleich getötet hätte. Sie dachte an die langen, trostlosen Jahre, die vor ihr lagen, und begann zu weinen.

Die Zellentür wurde aufgeschlossen, und ihr Vater kam herein. Er stand einen Moment lang da und schaute sie mit schmerzerfüllter Miene an.

»Mein Schatz ...« Er setzte sich ihr gegenüber. »Du wirst leben«, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht mehr leben.«

»So was darfst du nicht sagen. Du leidest an einer Krankheit, aber sie läßt sich heilen. Und das wird auch geschehen. Wenn es dir wieder bessergeht, kannst du bei mir wohnen, und ich werde für dich sorgen. Egal, was geschieht, wir werden immer füreinander dasein. Das kann uns keiner nehmen.«

Ashley saß wortlos da.

»Ich weiß, wie dir im Augenblick zumute ist, aber das wird sich ändern. Mein Mädchen wird wieder zu mir nach Hause kommen, und zwar gesund.« Er erhob sich langsam. »Ich muß leider zurück nach San Francisco.« Er wartete darauf, daß Ashley etwas sagte.

Sie schwieg.

»David hat mit mir gesprochen. Er glaubt, daß man dich in einer der besten psychiatrischen Kliniken der Welt unterbringen wird. Ich komme dann vorbei und besuche dich. Möchtest du das?«

Sie nickte teilnahmslos. »Ja.«

»Na schön, mein Schatz.« Er küßte sie auf die Wange und schloß sie in die Arme. »Ich werde dafür sorgen, daß alles Menschenmögliche für dich getan wird. Ich möchte mein kleines Mädchen wiederhaben.«

Ashley blickte ihrem Vater hinterher. Wieso kann ich nicht auf der Stelle sterben? dachte sie. Wieso läßt man mich nicht sterben?

Eine Stunde später kam David sie besuchen.

»Tja, wir haben es geschafft«, sagte er. Er musterte sie besorgt. »Ist alles in Ordnung?«

»Ich möchte nicht in eine Irrenanstalt. Ich will sterben. Ich halte so ein Leben nicht aus. Helfen Sie mir, David. Bitte helfen Sie mir.«

»Ashley, man wird Ihnen dort helfen. Was bisher war, zählt nicht mehr. Sie haben ein neues Leben vor sich. Der Alptraum wird bald vorüber sein.« Er ergriff ihre Hand. »Schauen Sie -Sie haben mir bislang vertraut. Vertrauen Sie mir weiter. Sie werden wieder ein völlig normales Leben führen können.« Sie saß schweigend da.

»Sprechen Sie mir nach. >Ich glaube Ihnen, David.c« Sie atmete tief durch. »Ich - ich glaube Ihnen, David.«

Er grinste. »Braves Mädchen. Damit ist schon ein erster Anfang gemacht.«

Die Presse überschlug sich förmlich, sobald der Richterspruch bekannt wurde. Über Nacht war David ein Held. Er hatte einen aussichtslosen Fall angenommen und den Prozeß gewonnen.

Er rief Sandra an. »Schatz, ich -«

»Ich weiß, Liebster. Ich weiß Bescheid. Ich hab’s gerade im Fernsehen gesehen. Es ist einfach wunderbar! Ich bin ja so stolz auf dich.«

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß es vorüber ist. Ich komme heute abend zurück. Ich kann es kaum abwarten -«

»David ...?«

»Ja?«

»David . oooh .«

»Ja? Was ist los, mein Schatz?«

». oooh . unser Baby kommt .«

»Warte auf mich!« rief David.

Jeffrey Singer wog knapp acht Pfund, und er war das schönste Baby, das David je gesehen hatte.

»Er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagte Sandra. »Das stimmt, nicht wahr?« David strahlte.

»Ich bin so froh, daß sich noch alles zum Guten gewendet hat«, sagte Sandra.

David seufzte. »Eine Zeitlang war ich mir da gar nicht so sicher.«

»Ich habe nie an dir gezweifelt.«

David schloß sie in die Arme. »Ich komme wieder, mein Schatz. Ich muß nur kurz meine Sachen aus der Kanzlei holen.«

In der Kanzlei Kincaid, Turner, Rose & Ripley wurde David mit aller Herzlichkeit empfangen.

»Glückwünsche, David .«

»Gute Arbeit .«

»Denen hast du es aber gezeigt .«

David ging in sein Büro. Holly war nicht mehr da. David fing an, seinen Schreibtisch auszuräumen.

»David -«

David drehte sich um. Joseph Kincaid stand in der Tür.

»Was machen Sie da?« fragte er und trat ein.

»Ich räume mein Büro. Ich wurde entlassen.«

Kincaid lächelte. »Entlassen? Selbstverständlich nicht. Nein, nein, nein. Da muß ein Mißverständnis vorliegen.« Er strahlte ihn an. »Wir ernennen Sie zum Gesellschafter, mein Junge. Genauer gesagt, wir haben bereits für heute nachmittag um drei eine Pressekonferenz mit Ihnen anberaumt.«

David schaute ihn an. »Tatsächlich?«

Kincaid nickte. »Hundertprozentig.«

»Dann sollten Sie sie lieber absagen«, erwiderte David. »Ich habe nämlich beschlossen, mich wieder auf Strafrecht zu verlegen. Jesse Quiller hat mir angeboten, als Sozius in seine Kanzlei einzutreten. Wenn man sich auf dem Gebiet betätigt, weiß man wenigstens, wer die wirklichen Verbrecher sind. Und Sie, mein guter Joey, können Ihren Gesellschaftervertrag nehmen und ihn sich sonstwohin schieben.«

Er nahm seine Siebensachen und verließ die Kanzlei.

Jesse Quiller schaute sich in dem Penthaus um. »Das ist ja große Klasse«, sagte er. »Steht euch gut zu Gesicht.«

»Danke«, sagte Sandra. Sie hörte einen Laut aus dem Kinderzimmer. »Ich schau’ lieber mal nach Jeffrey.« Und schon eilte sie nach nebenan.

Jesse Quiller blieb vor einem wunderschönen Bilderrahmen aus Sterlingsilber stehen, in dem bereits das erste Foto von Jeffrey steckte. »Der ist ja hinreißend. Wo kommt der denn her?« »Richterin Williams hat ihn geschickt.«

»Ich freue mich, daß du wieder bei mir bist«, sagte Jesse.

»Ich mich auch, Jesse.«

»Vermutlich willst du erst eine Weile ausspannen. Ruh dich ein bißchen .«

»Ja. Sandra und ich wollten mit Jeffrey rauf nach Oregon fahren und meine Eltern besuchen -«

»Heute morgen ist übrigens ein interessanter Fall bei uns gelandet, David. Eine Frau wird beschuldigt, ihre zwei Kinder ermordet zu haben. Ich halte sie für unschuldig. Leider hab’ ich droben in Washington einen anderen Fall laufen, aber ich dachte, du könntest vielleicht mal mit ihr reden und zusehen, was du davon hältst.«

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