DRITTES BUCH

22


Das Connecticut Psychiatric Hospital, knapp fünfundzwanzig Kilometer außerhalb von Westport gelegen, war ursprünglich der Landsitz eines reichen Holländers namens Wim Boeker gewesen, der hier, auf einem gut und gerne zwanzig Hektar großen Stück Land, im Jahre 1910 ein riesiges Herrenhaus errichtet hatte. Auf dem Grundstück befanden sich zudem eine Werkstatt, Stallungen und ein Swimmingpool. Im Jahr 1925 hatte der Staat das Anwesen gekauft und das Herrenhaus zu einer psychiatrischen Anstalt für insgesamt einhundert Patienten umgebaut. Das Gelände war von einem hohen Maschendrahtzaun umgeben, am Tor stand ein Wachmann, und sämtliche Fenster waren vergittert. Zudem hatte man in einem Teil des Hauses einen festungsartigen Sicherheitstrakt für die gemeingefährlichen Insassen eingerichtet.

Im Büro des Chefs der psychiatrischen Klinik fand gerade eine Besprechung statt. Dr. Otto Lewison, Dr. Gilbert Keller und Dr. Craig Poster redeten über eine Patientin, die demnächst eintreffen sollte.

Gilbert Keller war um die Vierzig, mittelgroß, blond, mit strahlenden grauen Augen. Er war ein angesehener Fachmann für multiple Persönlichkeitsstörungen.

Otto Lewison, der Leiter des Connecticut Psychiatric Hospitals, war um die Siebzig, ein schmucker, gepflegter kleiner Mann mit Vollbart und einem Kneifer auf der Nase.

Dr. Poster, der seit Jahren mit Dr. Keller zusammenarbeitete, verfaßte gerade ein Buch über multiple Persönlichkeitsstörungen. Sie waren in Ashley Pattersons Akte vertieft.

»Die Gute hat sich ganz schön rangehalten«, sagte Otto Le-wison. »Erst achtundzwanzig, und schon fünf Männer ermordet.« Er warf einen weiteren Blick in die Unterlagen. »Außerdem hat sie versucht, ihren Anwalt umzubringen.«

»Der reinste Traum«, versetzte Gilbert Keller trocken.

»Wir verwahren sie im Sicherheitstrakt A«, sagte Otto Lewi-son. »Jedenfalls so lange, bis wir uns ein Urteil über sie gebildet haben.«

»Wann soll sie eintreffen?« fragte Dr. Keller.

Dr. Lewisons Sekretärin meldete sich über die Gegensprechanlage. »Dr. Lewison, Ashley Patterson wird soeben eingeliefert. Soll ich sie in Ihr Büro bringen lassen?«

»Ja, bitte.« Lewison blickte auf. »Ist Ihre Frage damit beantwortet?«

Die Überführung war der reinste Alptraum gewesen. Als der Prozeß vorüber war, hatte man Ashley wieder in ihre Zelle gebracht und sie dort drei Tage lang festgehalten. Unterdessen liefen die Vorbereitungen für ihre Überstellung an die Ostküste auf Hochtouren.

Sie war mit einem Häftlingsbus zum Flughafen von Oakland gebracht worden, wo ein Flugzeug bereitstand. Es war eine eigens für Häftlingstransporte umgebaute DC-6 in Diensten des U.S. Marshals’ Service. An Bord befanden sich insgesamt vierundzwanzig Häftlinge, alle in Handschellen und Fußeisen.

Man legte Ashley die Handschellen an, und sobald sie sich hingesetzt hatte, wurden ihre Füße am Boden angekettet.

Wieso tut man mir so was an? Ich bin keine gemeine Verbrecherin. Ich bin eine ganz normale Frau. Doch eine innere Stimme sagte: Die fünf unschuldige Menschen ermordet hat.

Die Häftlinge, die mit ihr im Flugzeug saßen, waren abgebrühte Kriminelle, Männer, die wegen Mordes, Vergewaltigung, bewaffneten Raubüberfalls und diverser anderer Straftaten verurteilt worden waren und zu den besten Hochsicherheitsgefängnissen im ganzen Land gebracht wurden. Ashley war die einzige Frau an Bord.

Einer der Sträflinge schaute sie an und grinste breit. »He, Süße. Komm doch mal rüber und munter mich ein bißchen auf.«

»Ruhe da«, rief ein Wärter.

»Hey! Hast du denn keinen Funken Gefühl im Leib! Die Braut hier kriegt’s die nächsten - wie lange hat man dich verknackt, Schätzchen?«

»Juckt dir die Hummel, Süße?« sagte ein anderer Sträfling. »Wie wär’s, wenn ich einfach rüberrutsche und dir dein -?«

»Moment mal!« warf ein Dritter ein. Er starrte Ashley an. »Das is’ doch die Braut, die fünf Macker umgebracht und kastriert hat.«

Alle schauten Ashley an.

Danach wurde sie nicht mehr belästigt.

Die Maschine legte unterwegs zwei Zwischenlandungen ein, bei denen etliche Insassen weggebracht wurden und neue hinzukamen. Es war ein langer Flug, unterwegs gerieten sie in heftige Turbulenzen, und als sie endlich auf dem La Guardia Airport in New York landeten, war Ashley luftkrank.

Zwei Polizisten in Uniform nahmen sie, kaum daß die Maschine ausgerollt war, auf dem Vorfeld in Empfang. Sie schlossen ihre Fußfesseln auf, brachten sie zu einem Polizeibus und legten sie erneut in Eisen. Etwas derart Demütigendes war ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht widerfahren. Daß sie selbst sich völlig normal vorkam, machte die Sache nur noch schlimmer. Meinten die etwa, sie wollte flüchten und wieder jemanden umbringen? Das war doch vorbei, ausgestanden. Wußten die das etwa nicht? Sie war fest davon überzeugt, daß so etwas nie mehr vorkommen würde. Sie wollte hier nur noch raus. Egal wohin.

Irgendwann döste sie auf der langen, eintönigen Fahrt nach Connecticut ein. Eine schroffe Polizistenstimme weckte sie auf.

»Wir sind da.« Sie standen an der Pforte des Connecticut Psychiatric Hospitals.

Als Ashley in Dr. Lewisons Büro gebracht wurde, begrüßte dieser sie: »Herzlich willkommen in unserer Klinik, Miss Patterson.«

Ashley stand schweigend und mit fahlem Gesicht da.

Dr. Lewison stellte sie einander vor und rückte ihr einen Stuhl zurecht. »Nehmen Sie bitte Platz.« Er warf dem Aufseher einen kurzen Blick zu. »Nehmen Sie ihr die Handschellen und die Fußeisen ab.«

Die Fesseln wurden aufgeschlossen, und Ashley nahm Platz.

»Ich weiß, daß das sehr schwierig für Sie sein muß«, sagte Dr. Foster. »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um es Ihnen so leicht wie möglich zu machen. Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, daß Sie dieses Haus eines Tages geheilt verlassen können.«

Ashley gab zum erstenmal einen Ton von sich. »Wie - wie lange dauert das?«

»Das läßt sich so früh noch nicht sagen«, erwiderte Otto Lewison. »Vielleicht fünf bis sechs Jahre, falls Sie geheilt werden können.«

Jedes einzelne Wort traf Ashley wie ein Blitzschlag. Vielleichtfünf bis sechs Jahre, falls Sie geheilt werden können ...

»Wir werden eine sanfte Therapie anwenden. Sie wird aus einer Reihe von Sitzungen mit Dr. Keller bestehen, der mehrere Therapiemethoden anwenden wird - Hypnose, Gruppentherapie, Maltherapie. Vor allem aber, und das ist wichtig, müssen Sie immer daran denken, daß wir auf Ihrer Seite stehen.«

Gilbert Keller musterte ihr Gesicht. »Wir haben uns vorgenommen, Ihnen zu helfen, und wir möchten, daß auch Sie uns dabei helfen.«

Dazu gab es nichts mehr zu sagen.

Otto Lewison nickte dem Aufseher zu, worauf dieser zu Ashley ging und sie am Arm nahm.

»Man wird Sie jetzt in Ihre Unterkunft bringen«, sagte Craig Poster. »Wir reden später wieder miteinander.«

Als Ashley das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Otto Lewison an Gilbert Keller. »Was halten Sie davon?«

»Tja, einen Vorteil hat die Sache. Wir haben es nur mit zwei anderen Persönlichkeiten zu tun.«

Keller dachte nach. »Wieviel hatten wir bei dem bisher schlimmsten Fall?«

»Insgesamt neunzig - bei der Beltrand.«

Ashley hatte nicht gewußt, was sie erwartete, aber irgendwie hatte sie sich einen düsteren, trostlosen Kerker vorgestellt. Das Connecticut Psychiatric Hospital hingegen wirkte eher wie ein gemütlicher Club - allerdings mit vergitterten Fenstern.

Als der Pfleger Ashley durch die langen, hellen Korridore geleitete, sah sie zahlreiche Insassen, die sich offenbar frei bewegen konnten. Es waren Menschen jeden Alters, und alle wirkten völlig normal. Wieso sind die hier? Einige lächelten sie an und wünschten ihr einen guten Morgen, doch Ashley war zu verwirrt, als daß sie hätte antworten können. Alles kam ihr so unwirklich vor. Sie war in einer Irrenanstalt. Bin ich irre?

Dann kamen sie zu einer schweren Stahltür, die einen Teil des Gebäudes abriegelte. Dort wartete ein weiterer Pfleger. Er drückte auf einen roten Knopf, worauf die mächtige Tür aufging.

»Das ist Ashley Patterson.«

»Guten Morgen, Miss Patterson«, sagte der andere Pfleger. Sie taten so, als wäre das alles ganz normal. Aber nichts ist mehr normal, dachte Ashley. Die ganze Welt ist zusammengebrochen.

»Hier entlang, Miss Patterson.« Der Pfleger brachte sie zu einer weiteren Tür und öffnete sie. Ashley trat ein und blickte sich um. Sie befand sich nicht etwa in einer Zelle, sondern in einem freundlichen, mittelgroßen Zimmer mit pastellblauen Wänden, einer kleinen Couch und einem bequem aussehenden Bett.

»Hier werden Sie wohnen. In ein paar Minuten bringt man Ihnen Ihre Sachen.«

Ashley blickte dem Pfleger nach, als er wegging und die Tür schloß. Hier werden Sie wohnen.

Sie spürte, wie sie Platzangst bekam. Was ist, wenn ich nicht hier wohnen möchte? Was ist, wenn ich raus will?

Sie ging zur Tür. Sie war verschlossen. Ashley setzte sich auf die Couch und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Sie versuchte sich auf etwas Angenehmes zu konzentrieren. Wir werden versuchen, Sie zu heilen.

Wir werden versuchen, Sie zu heilen.

Wir werden Sie heilen.

23


Dr. Gilbert Keller war für Ashleys Therapie zuständig. Sein Spezialgebiet war die Behandlung multipler Persönlichkeitsstörungen, und obwohl es gelegentlich Fehlschläge gegeben hatte, konnte er eine hohe Erfolgsquote vorweisen. Bei derartigen Fällen gab es keine raschen Fortschritte. Zunächst mußte er das Vertrauen des Patienten gewinnen, damit er sich in seiner Gegenwart wohl fühlte, dann nach und nach die anderen Persönlichkeiten herauslocken, so daß sie miteinander Kontakt aufnehmen und verstehen konnten, weshalb sie überhaupt da waren, und schließlich einsahen, weshalb sie nicht mehr benötigt wurden. Das war der Augenblick der Heilung, der Moment, in dem die verschiedenen Persönlichkeitsebenen wieder zu einer Einheit verschmolzen.

Aber bis dahin ist es ein weiter Weg, dachte Dr. Keller.

Am nächsten Morgen ließ Dr. Keller Ashley in sein Büro bringen. »Guten Morgen, Ashley.«

»Guten Morgen, Dr. Keller.«

»Ich möchte, daß Sie mich Gilbert nennen. Wir werden gute Freunde werden. Wie fühlen Sie sich?«

Sie schaute ihn an. »Man hat mir gesagt, daß ich fünf Männer ermordet habe. Wie soll ich mich da wohl fühlen?«

»Können Sie sich an irgendeinen Mord erinnern?«

»Nein.«

»Ich habe das Protokoll der Gerichtsverhandlung gelesen, Ashley. Sie haben niemanden ermordet. Das war eine Ihrer anderen Persönlichkeiten. Wir werden uns mit Ihren anderen Persönlichkeiten vertraut machen, und im Laufe der Zeit, und mit Ihrer Hilfe, werden wir dafür sorgen, daß sie verschwinden.«

»Ich - ich hoffe, Sie können -«

»Ich kann. Ich bin dazu da, Ihnen zu helfen, und genau das habe ich auch vor. Ihr Unterbewußtsein hat diese anderen Persönlichkeiten geschaffen, um Sie vor unerträglichem Leid zu schützen. Wir müssen herausfinden, was dieses Leid verursacht hat. Dazu muß ich erfahren, wann diese anderen Persönlichkeiten entstanden sind und warum.«

»Wie - wie wollen Sie das schaffen?«

»Wir werden miteinander reden. Dabei wird Ihnen allerlei einfallen. Von Zeit zu Zeit werden wir auch Hypnose oder Natriumamytal anwenden. Sie sind doch bereits hypnotisiert worden, nicht wahr?«

»Ja.«

»Niemand wird Sie drängen. Wir werden uns viel Zeit lassen. Und wenn wir fertig sind«, fügte er beruhigend hinzu, »werden Sie wieder gesund werden.«

Sie unterhielten sich fast eine Stunde lang. Hinterher war Ashley viel ruhiger und gelöster. Ich glaube, er schafft es wirklich, dachte sie, als sie wieder in ihrem Zimmer war. Und sie sprach ein kurzes Gebet.

Dr. Keller besprach sich mit Otto Lewison. »Wir haben uns heute morgen miteinander unterhalten«, sagte er. »Ashley sieht ein, daß sie krank ist, das wird uns sicherlich zugute kommen. Und sie ist bereit, sich helfen zu lassen.«

»Das ist schon mal ein Anfang. Halten Sie mich auf dem laufenden.«

»Ganz bestimmt, Otto.«

Dr. Keller freute sich auf die Herausforderung, die ihm bevorstand. Ashley Patterson strahlte etwas Besonderes aus. Er war fest entschlossen, ihr zu helfen.

Sie unterhielten sich jeden Tag miteinander, bis Dr. Keller eine Woche nach Ashleys Einlieferung sagte: »Ich möchte, daß Sie es sich bequem machen und sich entspannen. Ich werde Sie jetzt hypnotisieren.« Er ging auf sie zu.

»Nein! Warten Sie!«

Überrascht schaute er sie an. »Was ist los?«

Zig schreckliche Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Er wollte ihre anderen Persönlichkeiten herauslocken. Bei der bloßen Vorstellung packte sie das blanke Entsetzen. »Bitte«, sagte sie. »Ich - ich möchte ihnen nicht begegnen.«

»Das werden Sie auch nicht«, beruhigte sie Dr. Keller. »Noch nicht.«

Sie schluckte. »Na schön.«

»Sind Sie bereit?«

Sie nickte. »Ja.«

»Gut. Dann fangen wir an.«

Es dauerte fünfzehn Minuten. Als sie unter Hypnose war, warf Gilbert Keller einen Blick auf das Blatt Papier, das auf seinem Schreibtisch lag. Toni Prescott und Alette Peters. Der Zeitpunkt für das Umschalten war gekommen, das Wechseln von einer dominanten Persönlichkeitsebene zur anderen.

Er blickte auf Ashley, die mit geschlossenen Augen im Sessel saß, dann beugte er sich vor. »Guten Morgen, Toni. Können Sie mich hören?«

Er sah, wie sich Ashleys Miene veränderte, als sie unter den Einfluß einer völlig anderen Persönlichkeit geriet. Ihr Gesicht wirkte mit einemmal lebhafter. Sie stimmte ein Lied an.

»Will ich in mein Stüblein gehen, will mein Müslein essen, steht ein bucklicht Männlein da, hat’s schon selbst gegessen ...«

»Das war sehr hübsch, Toni. Ich bin Gilbert Keller.«

»Ich weiß, wer du bist«, entgegnete Toni.

»Freut mich, Sie kennenzulernen. Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß Sie eine wunderbare Gesangsstimme haben?« »Pfeif drauf.«

»Ich meine es ernst. Haben Sie mal Gesangsunterricht genommen? Ich wette, ja.«

»Nein, hab’ ich nicht. Ich hätte schon gewollt, aber meine ...« - Um Himmels willen, hör auf mit dem schrecklichen Lärm! Wer hat dir bloß gesagt, daß du singen kannst? - »Ist ja egal.«

»Toni, ich möchte Ihnen helfen.«

»Nein, willst du nicht, Doktorchen. Du willst mit mir bumsen.«

»Wie kommen Sie denn darauf, Toni?«

»Ihr verdammten Macker wollt doch immer nur das eine. Besten Dank.«

»Toni .? Toni ...?«

Schweigen.

Gilbert Keller musterte Ashleys Gesicht. Sie wirkte heiter und friedlich. Dr. Keller beugte sich vor. »Alette?«

Ashleys Miene veränderte sich nicht.

»Alette ...?«

Keine Reaktion.

»Ich möchte mit Ihnen sprechen, Alette.«

Ashley regte sich, wurde unruhig.

»Kommen Sie, Alette.«

Ashley holte tief Luft, und dann stieß sie plötzlich einen Schwall italienischer Worte aus.

»C’e qualcuno che parla Italiano?«

»Alette -«

»Non so dove mi travo.«

»Alette, hören Sie mir zu. Sie sind hier in Sicherheit. Ich möchte, daß Sie sich entspannen.«

»Mi sento stanca ... Ich bin müde.«

»Sie haben Schreckliches durchgemacht, aber all das haben Sie jetzt hinter sich. Fortan werden Sie in Frieden leben. Wissen Sie, wo Sie sich befinden?«

Seine Stimme war weiß.

»Si. In einer Art Anstalt für Leute, die pazzo sind.« Deswegen bist du ja hier, Doktor. Du bist der Verrückte.

»In einer Anstalt, in der man Sie heilen wird. Alette, wenn Sie die Augen schließen und sich das Haus hier vorstellen, was fällt Ihnen dann ein?«

»Hogarth. Er hat Irrenanstalten gemalt, schreckliche Szenen.« Vermutlich bist du so ungebildet, daß du noch nie etwas von ihm gehört hast.

»Ich möchte nicht, daß Sie dieses Haus als Ort des Schrek-kens empfinden. Erzählen Sie mir etwas von sich, Alette. Wozu haben Sie Lust? Möchten Sie irgend etwas tun, solange Sie hier sind?«

»Ich male gern.«

»Dann werde ich Ihnen Farben besorgen.«

»Nein!«

»Warum nicht?«

»Ich will nicht.« Was soll denn das sein, Kind? Das sieht ja aus wie ein einziger scheußlicher Farbklecks.

Laß mich in Ruhe.

»Alette?« Gilbert Keller sah, wie sich Ashleys Miene erneut veränderte.

Alette war weg. Dr. Keller weckte Ashley auf.

Sie schlug die Augen auf und blinzelte. »Haben Sie schon angefangen?«

»Wir sind fertig.«

»Wie ist es gelaufen?«

»Toni und Alette haben mit mir gesprochen. Für den Anfang ist das schon mal gut, Ashley.«

Sie erhielt einen Brief von David Singer.

Liebe Ashley,

ich wollte mich nur kurz melden und Ihnen mitteilen, daß ich an Sie denke und hoffe, daß Ihre Behandlung Fortschritte macht. Genaugenommen denke ich sogar oft an Sie. Ich habe das Gefühl, als wären wir zusammen im Krieg gewesen. Es war ein harter Kampf, aber wir haben gewonnen. Und ich habe gute Nachrichten für Sie. Man hat mir versichert, daß die Anklagen wegen Mordes, die in Bedford und Quebec gegen Sie anhängig sind, fallengelassen werden. Sagen Sie mir Bescheid, wenn ich irgend etwas für Sie tun kann.

Mit den besten Wünschen David

Am nächsten Morgen sprach Gilbert Keller unter Hypnose mit Toni.

»Was gibt’s denn jetzt schon wieder, Doktorchen?«

»Ich möchte nur ein bißchen mit Ihnen plaudern. Ich würde Ihnen gern helfen.«

»Ich brauche keine Hilfe, verdammt noch mal. Mir geht’s prima.«

»Tja, aber ich brauche Ihre Hilfe, Toni. Ich möchte Sie etwas fragen. Was halten Sie von Ashley?«

»Von der verklemmten Zicke? Bring mich bloß nicht auf die Palme.«

»Mögen Sie sie etwa nicht?«

»Überhaupt nicht.«

»Was mögen Sie denn nicht an ihr?«

Es dauerte einen Moment. »Sie versucht ständig, jedem den Spaß zu verderben. Wenn ich nicht ab und zu eingreifen würde, würden wir uns langweilen. Zu Tode langweilen. Sie geht nicht gern auf Partys, sie verreist nicht, sie unternimmt nichts, was Spaß macht.«

»Aber Sie schon?«

»Na klar. Darum dreht sich doch das ganze Leben, stimmt’s, mein Guter?« »Sie sind in London geboren, nicht wahr, Toni? Möchten Sie mir etwas darüber erzählen?«

»Ich sag dir nur eins. Ich wünschte, ich wäre jetzt dort.«

Stille.

»Toni ...? Toni ...?«

Sie war weg.

»Ich möchte mit Alette sprechen«, sagte Dr. Keller zu Ashley. Er sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. »Alette«, sagte er leise und beugte sich vor.

»Si.«

»Haben Sie mein Gespräch mit Toni gehört?«

»Ja.«

»Kennen Sie und Toni einander?«

»Ja.« Selbstverständlich, du Dummkopf.

»Aber Ashley kennt keine von Ihnen beiden?«

»Nein.«

»Mögen Sie Ashley?«

»Sie ist ganz in Ordnung.« Was sollen diese dämlichen Fragen?

»Warum sprechen Sie nicht mit ihr?«

»Weil Toni es nicht will.«

»Schreibt Ihnen Toni immer vor, wie Sie sich verhalten sollen?«

»Toni ist meine Freundin.« Das geht dich gar nichts an.

»Ich möchte auch Ihr Freund sein, Alette. Erzählen Sie mir etwas von sich. Wo sind Sie geboren?«

»Ich bin in Rom geboren.«

»Hat Ihnen Rom gefallen?«

Gilbert Keller sah, wie sich Ashleys Miene erneut veränderte. Dann fing sie an zu weinen.

Warum? Dr. Keller redete besänftigend auf sie ein. »Ist schon gut. Ich werde Sie jetzt aufwecken, Ashley ...«

Sie schlug die Augen auf.

»Ich habe mit Toni und Alette gesprochen. Sie sind Freundinnen. Ich möchte, daß ihr euch alle miteinander anfreundet.«

Ashley war beim Mittagessen, als ein Pfleger in ihr Zimmer ging und ein Gemälde am Boden stehen sah, eine Landschaft. Er betrachtete es einen Moment lang und brachte es dann in Dr. Kellers Büro.

In Dr. Lewisons Büro fand eine Besprechung statt.

»Wie läuft es, Gilbert?«

»Ich habe mit den beiden anderen Persönlichkeiten gesprochen«, sagte Dr. Keller nachdenklich. »Toni ist die Dominante. Sie stammt aus England, will sich aber nicht weiter dazu äußern. Die andere, Alette, ist in Rom geboren, und auch sie will nicht darüber reden. Folglich werde ich mich genau darauf konzentrieren. Denn da rühren die Traumata womöglich her. Toni ist die aggressivere. Alette ist eher sensibel und reserviert. Sie interessiert sich für Malerei, hat aber Angst, selbst zu malen. Ich muß den Grund dafür herausfinden.«

»Ihrer Meinung nach wird Ashley also von Toni beherrscht?« »Ja. Toni ergreift die Initiative. Ashley wußte nichts von ihrer Existenz, auch nicht von Alettes. Aber Toni und Alette kennen einander. Es ist interessant. Toni hat eine hinreißende Stimme, und Alette kann malen.« Er hielt das Bild hoch, das ihm der Pfleger gebracht hatte. »Ich glaube, ihre künstlerische Begabung könnte der Schlüssel sein, mit dem wir zu ihnen durchdringen können.«

Einmal pro Woche bekam Ashley einen Brief von ihrem Vater. Hinterher saß sie immer reglos in ihrem Zimmer und wollte mit niemandem reden.

»Sie stellen ihre einzige Verbindung mit zu Hause dar«, sagte Dr. Keller zu Otto Lewison. »Ich glaube, sie verstärken bei ihr den Wunsch, wieder herauszukommen und ein normales Leben zu führen. Wir sind auf jede noch so geringe Hilfe angewiesen .«

Allmählich gewöhnte sich Ashley an ihre Umgebung. Die Patienten durften sich anscheinend frei bewegen, auch wenn auf den Korridoren und an allen Türen Aufpasser standen und das Tor an der Zufahrt zum Grundstück stets verschlossen war. Im Haus gab es einen Aufenthaltsraum, in dem die Insassen beisammensitzen und fernsehen konnten, eine Turnhalle, in der sie sich fit hielten, und einen Speisesaal. Die Leute hier gehörten allen möglichen Nationalitäten an: Japaner, Chinesen, Franzosen, Amerikaner . Man war darum bemüht, den Anschein zu erwecken, daß es sich um eine ganz gewöhnliche Klinik handelte, doch sobald sich Ashley in ihr Zimmer begab, wurden sämtliche Türen hinter ihr abgeschlossen.

»Das ist keine Klinik«, beschwerte sich Toni bei Alette. »Das ist ein elender Knast.«

»Aber Dr. Keller meint, er könnte Ashley heilen. Dann kommen wir doch hier raus.«

»Sei doch nicht so dämlich, Alette. Blickst du das denn nicht? Ashley kann nur geheilt werden, wenn sie uns los wird, wenn wir verschwinden. Was nichts anderes heißt, als daß wir sterben müssen, damit sie geheilt wird. Na, und das werde ich nicht zulassen.«

»Was hast du vor?«

»Ich werde eine Möglichkeit finden, wie wir von hier wegkommen.«

24


Am nächsten Morgen wurde Ashley von einem Pfleger auf ihr Zimmer zurückgebracht. »Irgendwie kommen Sie mir heute verändert vor«, sagte er.

»Ehrlich, Bill?«

»Ja. Fast wie ein anderer Mensch.«

»Das muß an dir liegen, Bill«, versetzte Toni schmeichelnd.

»Was meinen Sie damit?«

»Daß mir in deiner Gegenwart immer ganz anders wird.« Sie faßte ihn am Arm und schaute ihm in die Augen. »Ein wunderbares Gefühl.«

»Ach, kommen Sie.«

»Ich mein’s ernst. Du bist ein scharfer Typ. Weißt du das?«

»Nein.«

»Tja, ist aber so. Bist du verheiratet, Bill?«

»Ich war’s mal.«

»Die Frau hat sie nicht alle, wenn sie jemand wie dich ziehen läßt. Seit wann arbeitest du schon hier, Bill?«

»Seit fünf Jahren.«

»Ganz schön lange. Möchte man da nicht manchmal einfach alles hinschmeißen und abhauen?«

»Ab und zu, klar.«

Toni senkte die Stimme. »Weißt du, mir fehlt eigentlich gar nichts. Ich geb’ ja zu, daß ich eine kleine Störung hatte, als ich hierhergekommen bin, aber jetzt bin ich geheilt. Ich will auch weg. Ich wette, du kannst mir dabei helfen. Wir könnten zum Beispiel alle beide abhauen. Wär bestimmt ein Riesenspaß.«

Er musterte sie einen Moment lang. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«

»Doch, doch. Schau, das ist ganz einfach. Du mußt mich nur eines Nachts rauslassen, wenn alle andern schon schlafen, und dann nichts wie weg.« Sie schaute ihm in die Augen. »Du wirst es nicht bereuen«, gurrte sie.

Er nickte. »Ich muß darüber nachdenken.«

»Mach das«, versetzte Toni zuversichtlich.

»Wir kommen hier raus«, sagte Toni zu Alette, sobald sie wieder im Zimmer waren.

Am Morgen darauf wurde Ashley in Dr. Kellers Büro geleitet.

»Guten Morgen, Ashley.«

»Guten Morgen, Gilbert.«

»Heute morgen wollen wir es mal mit Natriumamytal versuchen. Hat man Ihnen das schon einmal gegeben?«

»Nein.«

»Nun, Sie werden feststellen, daß man dadurch sehr gelöst wird.«

Ashley nickte. »Na schön. Ich bin bereit.«

Fünf Minuten später redete Dr. Keller mit Toni. »Guten Morgen, Toni.«

»Hi, Doktorchen.«

»Fühlen Sie sich hier wohl, Toni?«

»Komisch, daß Sie mich danach fragen. Ehrlich gesagt, ge-fällt’s mir hier immer besser. Ich fühle mich wie zu Hause.«

»Und warum wollten Sie dann ausbrechen?«

Tonis Stimme wurde eine Idee schroffer. »Was?«

»Bill sagt, Sie hätten ihn darum gebeten, Ihnen zur Flucht zu verhelfen.«

»Der Dreckskerl«, fauchte sie. Sie sprang auf, stürmte zum Schreibtisch, ergriff einen Briefbeschwerer und warf ihn nach Dr. Kellers Kopf.

Er duckte sich.

»Ich bring’ dich um, und ihn auch.«

Dr. Keller packte sie. »Toni -«

Er sah, wie sich Ashleys Gesichtsausdruck veränderte. Toni war weg. Er stellte fest, daß ihm das Herz bis zum Halse schlug.

»Ashley!«

Ashley schlug die Augen auf. Als sie wieder zu sich kam, blickte sie sich verwirrt um und sagte dann: »Ist alles in Ordnung?«

»Toni hat mich angegriffen. Sie war wütend, weil ich erfahren habe, daß sie flüchten wollte.«

»Ich - ich bitte um Entschuldigung. Ich hatte das Gefühl, daß irgendwas Schlimmes passiert.«

»Schon gut. Ich möchte Sie, Toni und Alette miteinander bekannt machen.«

»Nein!«

»Warum nicht?«

»Ich habe Angst davor. Ich - ich will sie nicht kennenlernen. Verstehen Sie das denn nicht? Eigentlich gibt es sie doch gar nicht. Ich bilde mir sie nur ein.«

»Früher oder später werden Sie sich mit ihnen auseinandersetzen müssen, Ashley. Sie müssen sich kennenlernen. Nur so können wir Sie heilen.«

Ashley stand auf. »Ich möchte jetzt in mein Zimmer.«

Ashley schaute dem Pfleger hinterher, der sie zurückgebracht hatte. Sie war zutiefst verzweifelt. Hier komme ich nie mehr raus, dachte sie. Die lügen mich alle an. Die können mich nicht heilen. Sie mochte sich einfach nicht damit abfinden, daß da diese anderen Persönlichkeiten waren, die in ihr hausten . Ihretwegen waren Menschen ermordet und Familien zerstört worden. Wieso ausgerechnet ich, lieber Gott? Sie fing an zu weinen. Was habe ich dir denn getan? Sie setzte sich auf das Bett. So kann das nicht weitergehen. Ich muß einen Schlußstrich ziehen. Und zwar gleich.

Sie stand auf und ging auf der Suche nach einem scharfen Gegenstand in ihrem Zimmer auf und ab. Sie fand nichts. Bei der Ausstattung des Zimmers hatte man wohlweislich darauf geachtet, daß es keinerlei gefährliche Gegenstände gab, mit denen sich die Patienten verletzen konnten.

Verzweifelt blickte sie sich um. Dann sah sie die Farben, die Leinwand und die Pinsel. Die Pinselstiele waren aus Holz. Ashley nahm einen, brach ihn durch und betrachtete die scharfen, ausgesplitterten Zacken. Langsam drückte sie ihn auf ihr Handgelenk und stieß dann mit aller Kraft zu in die Pulsader, bis das Blut herausschoß. Anschließend setzte sie den Pinselstiel an ihrem anderen Handgelenk an und wiederholte das Ganze. Sie stand da und sah zu, wie sich ihr Blut auf den Teppichboden ergoß. Sie fröstelte, ließ sich zu Boden sinken und rollte sich ein wie ein Embryo im Mutterleib.

Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Dr. Gilbert Keller war außer sich, als er davon erfuhr. Er suchte Ashley in der Krankenstation auf. Sie trug dicke Verbände an beiden Handgelenken. Er sah sie da liegen und betrachtete sie. Dazu darf es nie wieder kommen, dachte er.

»Wir hätten Sie beinahe verloren«, sagte er. »Da hätte ich aber ziemlich dumm dagestanden.«

Ashley rang sich ein Lächeln ab. »Tut mir leid. Aber mir kam alles so - so aussichtslos vor.«

»Da täuschen Sie sich«, versicherte ihr Dr. Keller. »Möchten Sie, daß man Ihnen hilft, Ashley?«

»Ja.«

»Dann müssen Sie an mich glauben. Sie müssen mitarbeiten. Allein schaffe ich das nicht. Was meinen Sie dazu?«

Sie schwieg eine ganze Weile. »Was muß ich dazu tun?« »Zunächst müssen Sie mir versprechen, daß Sie sich niemals etwas zuleide tun werden.«

»Na schön. Ich verspreche es.«

»Ich möchte, daß mir auch Toni und Alette das versprechen. Daher werde ich Sie jetzt unter Hypnose setzen.«

Ein paar Minuten später sprach Dr. Keller mit Toni.

»Diese selbstsüchtige Zicke hat versucht, uns umzubringen.

Sie denkt nur an sich. Siehst du das nicht ein?«

»Toni -«

»Also, ich laß mir das jedenfalls nicht bieten. Ich -«

»Würden Sie einen Moment still sein und mir zuhören?«

»Ich höre.«

»Sie müssen mir versprechen, daß Sie Ashley nichts zuleide tun.«

»Wieso sollte ich so was versprechen?«

»Das will ich Ihnen sagen: Weil Sie ein Teil von ihr sind. Sie sind eine Ausgeburt ihres Leids. Ich weiß noch nicht, was Sie durchmachen mußten, Toni, aber ich weiß, daß es etwas ganz Schreckliches gewesen sein muß. Aber Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß auch sie das durchlitten hat und daß Alette aus demselben Grund geboren wurde wie Sie. Ihr drei habt viel gemein. Ihr solltet euch lieber gegenseitig helfen, statt euch gegenseitig zu bekämpfen. Geben Sie mir Ihr Wort darauf?«

Keine Reaktion.

»Toni?«

»Von mir aus«, versetzte sie unwillig.

»Vielen Dank. Möchten Sie jetzt mit mir über England sprechen?«

»Nein.«

»Alette. Sind Sie das?«

»Ja.« Was denkst du denn, du Blödmann?

»Ich möchte, daß Sie mir das gleiche versprechen wie Toni. Daß Sie Ashley niemals etwas zuleide tun werden.«

Dir geht’s wohl bloß um sie, was? Ashley, Ashley, Ashley. Und was ist mit uns?

»Alette?«

»Ja. Ich verspreche es.«

Die Monate verstrichen, ohne daß auch nur der geringste Fortschritt zu erkennen war. Dr. Keller saß an seinem Schreibtisch, ging seine Aufzeichnungen durch, ließ all die Sitzungen Revue passieren und versuchte herauszufinden, woran es liegen mochte. Er betreute ein halbes Dutzend weiterer Patienten, mußte aber feststellen, daß ihn keiner so sehr beschäftigte wie Ashley. Da war diese unglaubliche Kluft in ihrem Wesen -einerseits unschuldig und verletzlich, andererseits von finsteren Mächten besessen, die jederzeit die Oberhand gewinnen konnten. Jedesmal wenn er mit Ashley sprach, überkam ihn ein geradezu übermächtiges Bedürfnis, sie zu beschützen. Als wäre sie meine Tochter, dachte er. Ach, was soll der Quatsch? Ich bin dabei, mich in sie zu verlieben.

Dr. Keller sprach bei Otto Lewison vor. »Ich habe ein Problem, Otto.«

»Ich dachte, das wäre unseren Patienten vorbehalten.«

»Es geht auch um eine unserer Patientinnen. Ashley Patterson.«

»Aha?«

»Ich habe festgestellt, daß ich - daß ich mich zu ihr hingezogen fühle.«

»Eine Gegenübertragung etwa?«

»Ja.«

»Das könnte für Sie beide sehr gefährlich werden, Gilbert.«

»Ich weiß.«

»Nun, solange Sie sich dessen bewußt sind ... Seien Sie vorsichtig.«

»Das habe ich vor.«

November:

Heute morgen habe ich Ashley ein Tagebuch gegeben.

»Ich möchte, daß Sie, Toni und Alette das führen, Ashley. Sie können es in Ihrem Zimmer aufbewahren. Wenn Ihnen irgend etwas einfällt, was Sie lieber schriftlich festhalten wollen, statt mit mir darüber zu reden, dann notieren Sie es einfach.«

»In Ordnung, Gilbert.«

Einen Monat später notierte Dr. Keller in sein Tagebuch:

Dezember:

Die Behandlung ist an einem toten Punkt angelangt. Toni und Alette weigern sich, über die Vergangenheit zu sprechen. Außerdem wird es zusehends schwieriger, Ashley dazu zu überreden, daß sie sich einer Hypnose unterzieht.

März:

Das Tagebuch ist immer noch leer. Ich bin mir nicht sicher, wer mehr Widerstand leistet, Ashley oder Toni. Wenn ich Ashley hypnotisiere, kommen Toni und Alette für kurze Zeit zum Vorschein. Sie weigern sich beharrlich, über die Vergangenheit zu sprechen.

Juni:

Ich spreche regelmäßig mit Ashley, aber ich habe das Gefühl, daß es keinerlei Fortschritt zu verzeichnen gibt. Das Tagebuch ist nach wie vor unberührt. Ich habe Alette eine Staffelei und Farben besorgt. Ich erhoffe mir einen Durchbruch, wenn sie anfängt zu malen.

Juli:

Irgend etwas ist geschehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es ein Anzeichen für einen Fortschritt ist. Alette hat ein wunderschönes Bild vom Klinikgelände gemalt. Sie schien sich zu freuen, als ich sie dazu beglückwünschte. An diesem Abend war das Bild zerfetzt.

Dr. Keller und Otto Lewison tranken zusammen Kaffee.

»Ich glaube, ich versuche es einmal mit Gruppentherapie«, sagte Dr. Keller. »Alles andere scheint nicht anzusprechen.«

»Wie viele andere Patienten wollen Sie hinzuziehen?«

»Allenfalls ein halbes Dutzend. Ich möchte, daß sie allmählich mit anderen Menschen interagiert. Derzeit lebt sie in ihrer eigenen Welt. Ich möchte sie da herausholen.«

Dr. Keller führte Ashley in das kleine Sitzungszimmer, in dem bereits eine Handvoll anderer Leute saßen.

»Ich möchte Sie mit ein paar Freunden bekannt machen«, sagte Dr. Keller.

Er führte Ashley herum und stellte sie vor, doch sie war zu sehr mit sich beschäftigt, um auf die Namen zu achten. Die Namen verschwammen alle miteinander. Da war die Fette, der Knochige, die Kahle, der Lahme, die Chinesin und der Sanftmütige. Alle wirkten ausgesprochen freundlich.

»Setz dich«, sagte die Kahle. »Möchtest du einen Kaffee?«

Ashley nahm Platz. »Vielen Dank.«

»Wir haben schon von dir gehört«, sagte der Sanftmütige. »Du hast allerhand durchgemacht.«

Ashley nickte.

»Ich glaube, wir haben alle eine Menge durchgemacht«, sagte der Knochige. »Aber man hat uns geholfen. Diese Klinik hier wirkt wahre Wunder.«

»Hier arbeiten die besten Ärzte, die es gibt«, sagte die Chinesin.

Sie wirken alle so normal, dachte Ashley.

Dr. Keller saß an der Stirnseite und moderierte die Unterhaltung. Nach einer Dreiviertelstunde stand er auf. »Ich glaube, das reicht vorerst, Ashley.«

Ashley erhob sich. »Es war nett, Sie alle kennenzulernen.«

Der Lahme trat zu ihr und flüsterte: »Trink hier kein Wasser. Es ist vergiftet. Die wollen uns umbringen und weiter das Geld vom Staat kassieren.«

Ashley schluckte. »Danke. Ich - ich werde daran denken.« »Woran leiden sie?« fragte Ashley, als sie mit Dr. Keller den Korridor entlangging.

»An Paranoia, Schizophrenie, MPS, Zwangsneurosen. Aber sie haben teilweise bemerkenswerte Fortschritte gemacht, seit sie hier sind, Ashley. Möchten Sie regelmäßig mit ihnen plaudern?«

»Nein.«

Dr. Keller kam in Otto Lewisons Büro.

»Ich komme nicht mehr weiter«, bekannte er. »Die Gruppentherapie hat nichts gebracht, und bei den Hypnosesitzungen kommt überhaupt nichts mehr heraus. Ich möchte etwas anderes versuchen.«

»Und zwar?«

»Wenn Sie es erlauben, würde ich Ashley gern zum Essen ausführen.«

»Das halte ich für keine gute Idee, Gilbert. Es könnte gefährlich werden. Sie hat bereits -«

»Ich weiß. Aber im Augenblick sieht sie in mir den Feind. Ich möchte, daß sie mich als Freund betrachtet.«

»Ihr Alter ego, diese Toni, wollte Sie schon einmal töten. Was ist, wenn sie es wieder versucht?«

»Damit kann ich umgehen.«

Dr. Lewison dachte darüber nach. »Na schön. Soll Sie jemand begleiten?«

»Nein. Ich komme allein zurecht, Otto.«

»Wann wollen Sie damit anfangen?«

»Heute abend.«

»Sie möchten mich zum Essen ausführen?«

»Ja. Ich glaube, es wird Ihnen guttun, wenn Sie mal eine Weile von hier wegkommen, Ashley. Was sagen Sie dazu?«

»Ja.«

Ashley war überrascht, wie aufgeregt sie beim bloßen Gedanken daran war, daß sie mit Dr. Keller zum Essen ausgehen sollte. Es macht bestimmt Spaß, mal einen Abend lang von hier wegzukommen, dachte sie. Doch sie wußte, daß es um mehr ging. Die Vorstellung, daß sie mit Gilbert Keller verabredet war, versetzte sie geradezu in Hochstimmung.

Sie aßen in einem acht Kilometer entfernten japanischen Restaurant namens Otani Gardens zu Abend. Dr. Keller wußte, daß er ein Risiko einging. Jeden Moment konnte Toni oder Alette die Oberhand gewinnen. Man hatte ihn gewarnt. Für mich ist es wichtiger, daß Ashley Vertrauen zu mir gewinnt, damit ich ihr helfen kann.

»Es ist schon komisch, Gilbert«, sagte Ashley, als sie sich in dem gut besuchten Restaurant umblickte.

»Was?«

»Die Menschen hier wirken überhaupt nicht anders als die Leute in der Klinik.«

»Im Grunde genommen sind sie auch nicht anders, Ashley. Ich bin davon überzeugt, daß auch sie alle ihre Probleme haben. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die Menschen in der Klinik nicht so gut damit zurechtkommen. Daher müssen wir ihnen dabei helfen.«

»Ich wußte nicht, daß ich irgendwelche Probleme hatte, bis -na ja, Sie wissen schon.«

»Wissen Sie auch, warum, Ashley? Weil Sie sie verdrängt haben. Ihnen ist irgend etwas Schreckliches widerfahren, das Sie nicht ertragen konnten, und daher haben Sie unterbewußt einen Schutzwall errichtet und sich vor dem Bösen abgeschottet. Bis zu einem gewissen Grad tun das viele Menschen.«

Er wechselte bewußt das Thema. »Wie ist der Fisch?«

»Köstlich, vielen Dank.«

Fortan gingen Ashley und Dr. Keller einmal pro Woche zum Essen aus. Mittags speisten sie zumeist in einem ausgezeichneten kleinen italienischen Restaurant namens Banducci’s und abends entweder in The Palm, bei Eveleene’s oder im Gumbo Pot. Weder Toni noch Alette traten in Erscheinung.

Eines Abends führte Dr. Keller Ashley in einen kleinen Nachtklub aus, in dem eine großartige Band zum Tanz aufspielte.

»Unterhalten Sie sich?« fragte er.

»Sehr sogar. Vielen Dank.« Sie blickte ihn an. »Sie sind ganz anders als andere Doktoren.«

»Können die etwa nicht tanzen?«

»Sie wissen genau, was ich meine.«

Er hielt sie eng umfaßt, und beide empfanden ein tiefes Bedürfnis füreinander.

Das könnte für Sie beide sehr gefährlich werden, Gilbert ...

25


»Ich weiß genau, was für krumme Touren du fährst, Doktor-chen. Du willst Ashley weismachen, daß du ihr Freund bist.«

»Aber das bin ich doch, Toni, und Ihrer auch.«

»Nein, bist du nicht. Sie findest du toll, aber ich bin für dich bloß Luft.«

»Da irren Sie sich. Ich achte Sie und Alette ebensosehr wie Ashley. Ihr seid für mich alle gleich wichtig.«

»Ist das wahr?«

»Ja. Toni, als ich Ihnen sagte, daß Sie eine wunderbare Stimme hätten, habe ich das ernst gemeint. Spielen Sie ein Instrument?«

»Klavier.«

»Ich könnte dafür sorgen, daß Sie das Klavier im Aufenthaltsraum benutzen dürfen. Hätten Sie Lust dazu, ein bißchen darauf zu spielen und zu singen?«

»Könnte schön sein.« Es klang so, als könnte sie es kaum erwarten.

Dr. Keller lächelte. »Dann kümmere ich mich darum. Es wird Ihnen zur Verfügung gestellt.«

»Danke.«

Dr. Keller sorgte dafür, daß Toni jeden Nachmittag eine Stunde lang ungestört im Aufenthaltsraum musizieren konnte. Zunächst nur hinter verschlossenen Türen, doch als die anderen Insassen das Klavierspiel und den Gesang hörten, öffneten sie die Tür, um zu lauschen. Und nach kurzer Zeit spielte sie vor vollem Haus.

Dr. Keller ging gemeinsam mit Dr. Lewison seine Aufzeichnungen durch.

»Was ist mit der anderen?« sagte Dr. Lewison. »Dieser Alette?«

»Ich habe ihr vorgeschlagen, daß sie jeden Nachmittag im Garten ein bißchen malen darf. Unter Aufsicht natürlich. Ich glaube, da könnte etwas dabei herauskommen.«

Doch Alette weigerte sich. »Warum rühren Sie die Farben, die ich Ihnen gegeben habe, nicht an?« fragte Dr. Keller Alette bei einer der Hypnosesitzungen. »Das ist doch ein Jammer. Sie sind so begabt.«

Woher willst du das denn wissen?

»Haben Sie etwa keine Lust dazu?«

»Doch.«

»Warum tun Sie’s dann nicht?«

»Weil ich es nicht kann.« Geh mir nicht auf den Geist.

»Wer hat denn das gesagt?«

»Meine - meine Mutter.«

»Über Ihre Mutter haben wir noch gar nicht geredet. Möchten Sie mir etwas darüber erzählen?«

»Da gibt’s nichts zu erzählen.«

»Sie ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, nicht wahr?«

Sie schwieg eine ganze Weile. »Ja. Sie ist bei einem Unfall ums Leben gekommen.«

Tags darauf fing Alette an zu malen. Sie hatte sichtlich Spaß daran, draußen im Garten an ihrer Staffelei zu sitzen. Wenn sie malte, war sie so in sich versunken, daß sie alles um sich herum vergaß. Manchmal gesellten sich einige andere Insassen zu ihr und sahen ihr zu. Sie nahm nur ihre Klangfarben wahr.

»Deine Bilder gehören in eine Galerie.« Schwarz.

»Du bist ja richtig gut.« Gelb.

»Wo hast du das gelernt?« Schwarz.

»Kannst du irgendwann mal ein Bild von mir malen?« Orange.

»Ich wünschte, ich könnte so was auch.« Schwarz.

Es fiel ihr immer schwer, sich loszureißen, wenn die Zeit vorüber war und sie wieder in das große Haus zurückkehren mußte.

»Ich möchte Ihnen jemand vorstellen, Ashley. Das ist Lisa Garrett.« Sie war um die Fünfzig, ziemlich klein und wirkte wie eine Geistererscheinung. »Lisa darf heute nach Hause.«

Die Frau strahlte sie an. »Ist das nicht wunderbar? Und das habe ich nur Dr. Keller zu verdanken.«

Gilbert Keller schaute Ashley an. »Lisa hat ebenfalls an MPS gelitten. Sie hatte dreißig andere Persönlichkeiten.«

»Ganz recht, meine Liebe. Und sie sind alle weg.«

»Sie ist die dritte MPS-Patientin«, sagte Dr. Keller mit Nachdruck, »die uns dieses Jahr verläßt.«

Und Ashley faßte neue Hoffnung.

»Dr. Keller ist sehr verständnisvoll«, sagte Alette. »Er mag uns anscheinend.«

»Du bist vielleicht dämlich«, meinte Toni abfällig. »Kapierst du denn nicht, was der vorhat? Ich hab’s dir doch schon mal gesagt. Der tut nur so, als ob er uns mag, damit wir nach seiner Pfeife tanzen. Und weißt du, was er vorhat? Er will uns alle drei zusammenbringen, Süße, damit er Ashley davon überzeugen kann, daß sie uns nicht braucht. Und weißt du, was dann passiert? Wir beide sterben. Willst du dich darauf etwa einlassen? Ich jedenfalls nicht.«

»Na ja, nein«, sagte Alette zögernd.

»Dann hör mir mal gut zu. Wir tun so, als ob wir mitspielen. Der gute Doktor soll ruhig glauben, daß wir ihm helfen wollen. Wir führen ihn an der Nase rum. Wir haben’s nicht eilig. Aber eines Tages, das versprech’ ich dir, kommen wir hier raus.«

»Ganz wie du meinst, Toni.«

»Gut. Dann wollen wir doch mal zusehen, daß sich das olle Doktorchen richtig klasse vorkommt.«

Sie erhielt einen Brief von David, dem ein Foto von einem etwa zweijährigen Jungen beigelegt war.

Liebe Ashley,

Ich hoffe, daß Sie sich einigermaßen wohl fühlen und Ihr Heilungsprozeß allmählich voranschreitet. Bei uns läuft alles bestens. Ich bin schwer beschäftigt, aber die Arbeit macht Spaß. Ich lege Ihnen ein Foto von Jeffrey bei. Wenn er so weiterwächst, ist er verheiratet, ehe wir uns versehen. Ansonsten gibt es nichts Neues zu berichten. Wir denken nach wie vor an Sie.

Sandra läßt Ihnen beste Grüße und Wünsche bestellen.

Auch von mir alles Gute.

David

Ashley betrachtete das Foto. Ein bezaubernder kleiner Junge, dachte sie. Hoffentlich hat er ein glückliches Leben.

Ashley ging zum Mittagessen in den Speisesaal. Als sie zurückkehrte, lag das Foto in tausend Fetzen zerrissen am Boden.

15. Juni, 13.30 Uhr:

Patientin: Ashley Patterson. Einzeltherapie unter Anwendung von Natriumamytal. Alter ego: Alette Peters.

»Erzählen Sie mir von Rom, Alette.«

»Es ist die schönste Stadt auf der ganzen Welt. Dort gibt’s lauter tolle Museen. Ich bin in allen gewesen.« Was verstehst du denn schon von Museen?

»Und deshalb wollten Sie Malerin werden?«

»Ja.« Was denn sonst? Feuerwehrmann vielleicht?

»Haben Sie Kunst studiert?«

»Nein, ging nicht.« Laß mich doch in Frieden.

»Warum nicht? Weil Ihre Mutter es nicht wollte?«

»O nein. Ich habe bloß festgestellt, daß ich nicht das nötige Talent hatte.« Toni - schaff ihn mir vom Leibe!

»Hatten Sie damals irgendein traumatisches Erlebnis? Können Sie sich erinnern, ob seinerzeit irgend etwas Schreckliches vorgefallen ist?«

»Nein, ich war sehr glücklich.« Toni!

15. August, 9.00 Uhr:

Patientin: Ashley Patterson. Hypnotherapeutische Sitzung mit Alter ego Toni Prescott.

»Wollen wir uns über London unterhalten, Toni?«

»Ja. Mir hat’s dort unheimlich gut gefallen. London ist einfach weltoffen. Da ist jede Menge geboten.«

»Hatten Sie in London irgendwelche unangenehmen Erlebnisse?«

»Unangenehm? Nein. Ich hab’ mich in London pudelwohl gefühlt.«

»Und Ihres Wissens nach ist Ihnen dort auch nichts Unangenehmes widerfahren?«

»Selbstverständlich nicht.« Und jetzt sieh zu, was du damit anfängst, du Pfeife.

Mit jeder Sitzung fielen Ashley mehr Erinnerungen ein. Als sie eines Abends zu Bett ging, träumte sie, sie sei wieder bei Global Computer Graphics. Shane Miller beglückwünschte sie zu einem gelungenen Werk. Wir kamen ohne dich nicht zurecht, Ashley. Dich werden wir nie mehr fortlassen. Dann saß sie in einer Zelle, und wieder stand Shane Miller vor ihr. Mir ist dabei gar nicht wohl zumute, aber unter diesen Umständen sieht sich die Firma leider gezwungen, dich zu entlassen. Wir können es uns einfach nicht leisten, in so eine Sache hineingezogen zu werden. Das verstehst du doch, nicht? Es ist nicht persönlich gemeint.

Als Ashley am nächsten Morgen aufwachte, war ihr Kissen naßgeweint.

Alette war nach diesen Sitzungen immer zutiefst niedergeschlagen. Ihr wurde dabei bewußt, wie sehr sie sich nach Rom sehnte und wie glücklich sie gewesen war, als sie Richard Melton kennengelernt hatte. Wir hätten so gut zueinander gepaßt, dachte sie. Aber das ist vorbei. Längst vorbei.

Toni konnte die Therapiestunden nicht ausstehen, weil dabei zu viele schlimme Erinnerungen wieder hochkamen. Sie hatte Ashley und Alette doch nur beschützen wollen. Aber dankte ihr das jemand? Nein. Sie wurde hinter Schloß und Riegel gehalten wie eine ganz gemeine Kriminelle. Aber ich komme hier raus, schwor sich Toni. Irgendwie komm’ ich hier raus.

Die Tage und Wochen vergingen, und ein neues Jahr brach an, ohne daß sich auch nur der geringste Erfolg einstellte. Dr. Keller war mit seinem Latein am Ende.

»Ich habe Ihren letzten Bericht gelesen«, sagte Dr. Lewison zu Gilbert Keller. »Meinen Sie, es handelt sich tatsächlich um eine Gedächtnislücke, oder machen sie uns nur etwas vor?«

»Sie machen uns etwas vor, Otto. Es ist, als wüßten sie, was ich vorhabe, und wollten es verhindern. Ich glaube, Ashley möchte wirklich, daß man ihr hilft, aber die anderen lassen es nicht zu. Unter Hypnose kann man für gewöhnlich zu ihnen durchdringen, aber Toni ist eine sehr starke Persönlichkeit. Sie beherrscht alle anderen, und sie ist gefährlich.«

»Gefährlich?«

»Ja. Stellen Sie sich doch einmal vor, wieviel Haß jemand empfinden muß, der fünf Männer ermordet und kastriert.«

Bis Jahresende stellte sich keine Besserung ein.

Bei anderen Patienten konnte Dr. Keller Erfolge verzeichnen, doch Ashley, die ihm am meisten am Herzen lag, machte keinerlei Fortschritte. Dr. Keller hatte das Gefühl, daß Toni sich einen Spaß daraus machte, mit ihm zu spielen. Sie war fest entschlossen, ihm den Erfolg zu verwehren. Und dann, als niemand damit rechnete, gab es den Durchbruch.

Es begann mit einem Brief von Dr. Patterson.

5. Juni

Liebe Ashley,

ich habe geschäftlich in New York zu tun und würde gern vorbeikommen und Dich besuchen. Ich werde Dr. Lewison anrufen, und wenn er nichts dagegen hat, kannst Du um den 25. des Monats mit meinem Besuch rechnen.

In Liebe Vater

Drei Wochen später traf Dr. Patterson in Begleitung einer attraktiven, dunkelhaarigen Frau Anfang Vierzig und ihrer dreijährigen Tochter Katrina ein.

Sie wurden in Dr. Lewisons Büro geführt. Er erhob sich, als sie eintraten. »Dr. Patterson, freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Besten Dank. Das sind Victoria Aniston und ihre Tochter Katrina.«

»Wie geht es Ihnen, Miss Aniston? Katrina.«

»Ich habe sie mitgebracht, damit sie Ashley kennenlernen.« »Wunderbar. Sie ist im Augenblick bei Dr. Keller, aber sie müßten bald fertig sein.«

»Wie macht sich Ashley?« sagte Dr. Patterson.

Otto Lewison zögerte einen Moment. »Könnte ich Sie ein paar Minuten allein sprechen?«

»Selbstverständlich.«

Dr. Patterson wandte sich an Miss Aniston und Katrina. »Soweit ich gesehen habe, ist da draußen ein herrlicher Garten. Ihr könnt ja da draußen warten, und ich komme mit Ashley nach.«

Victoria Aniston lächelte. »Gut.« Sie blickte zu Otto Lewison. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Doktor.«

»Vielen Dank, Miss Aniston.«

Dr. Patterson wartete, bis die beiden weg waren. Dann wandte er sich an Otto Lewison. »Gibt es Komplikationen?«

»Ich will ganz offen sein, Dr. Patterson. Wir kommen nicht so gut voran, wie wir gehofft hatten. Ashley sagt, sie möchte, daß man ihr hilft, aber sie trägt nichts dazu bei. Genauer gesagt, sie wehrt sich gegen die Behandlung.«

Dr. Patterson musterte ihn verdutzt.

»Das ist nichts Ungewöhnliches. In einem gewissen Stadium haben MPS-Patienten Angst davor, sich mit ihren anderen Persönlichkeiten auseinanderzusetzen. Es erschreckt sie. Allein der Gedanke daran, daß es in ihrem Bewußtsein noch andere Charaktere gibt, die jederzeit das Heft in die Hand nehmen können - nun ja, Sie können sich sicher vorstellen, wie verheerend sich das auswirken kann.«

Dr. Patterson nickte. »Natürlich.«

»In Ashleys Fall bereitet uns noch etwas anderes Kopfzerbrechen. Der Ursprung eines derartigen Leidens läßt sich so gut wie immer auf einen sexuellen Mißbrauch zurückführen, der dem Patienten in jungen Jahren widerfahren ist. In Ashleys Unterlagen ist aber nichts dergleichen vermerkt, so daß wir keine Ahnung haben, wie und weshalb es zu der traumatischen Erfahrung kam.«

Dr. Patterson saß einen Moment lang schweigend da. »Da kann ich Ihnen weiterhelfen«, versetzte er dann gepreßt. Er atmete tief durch. »Ich mache mir deswegen schwere Vorwürfe.«

Otto Lewison betrachtete ihn gespannt.

»Es geschah, als Ashley sechs war. Ich mußte nach England, aber meine Frau konnte nicht mitkommen. Ich habe Ashley mitgenommen. Meine Frau hatte dort einen älteren Cousin namens John. Mir war das seinerzeit nicht klar, aber John war ... psychisch gestört. Eines Tages mußte ich einen Vortrag halten, und John bot mir an, daß er auf sie aufpassen wollte. Als ich an diesem Abend zurückkehrte, war er weg. Ashley war völlig aufgelöst. Es dauerte eine Weile, bis ich sie wieder beruhigen konnte.

Danach wollte sie niemanden an sich heranlassen, wurde ängstlich und verschlossen. Eine Woche später wurde John wegen Unzucht mit Kindern festgenommen.« Dr. Pattersons Miene war schmerzerfüllt. »Ich habe mir das nie verziehen. Danach habe ich Ashley nie mehr mit jemandem allein gelassen.«

Lange Zeit herrschte Schweigen. Schließlich sagt Otto Lewi-son:

»Das tut mir schrecklich leid. Aber ich glaube, Sie haben uns den Ansatzpunkt geliefert, den wir gesucht haben, Dr. Patterson. Jetzt kann Dr. Keller gezielt zu Werke gehen.«

»Für mich war diese Erfahrung so schmerzlich, daß ich bisher nicht einmal darüber sprechen konnte.«

»Das kann ich verstehen.« Otto Lewison schaute auf seine Uhr. »Ashley wird noch eine Weile brauchen. Sie können ja unterdessen mit Miss Aniston draußen im Garten warten. Ich schicke Ashley hinaus, wenn sie soweit ist.«

Dr. Patterson erhob sich. »Besten Dank. Das mache ich.«

Otto Lewison blickte ihm hinterher. Er konnte es kaum abwarten, Dr. Keller davon zu berichten, was er soeben erfahren hatte.

Victoria Aniston und Katrina erwarteten ihn. »Hast du Ashley gesehen?« fragte Victoria Aniston.

»Sie wird in ein paar Minuten herausgeschickt«, erwiderte Dr. Patterson. Er blickte sich auf dem weitläufigen Gelände um. »Es ist zauberhaft hier, nicht wahr?«

Katrina rannte zu ihm. »Noch mal Flieger spielen.«

Er lächelte. »Von mir aus.« Er hob sie hoch, warf sie in die Luft und fing sie wieder auf.

»Höher!«

»Moment. Und los geht’s.« Er warf sie erneut hoch, fing sie auf, und sie kreischte dabei vor Vergnügen.

»Noch mal!«

Dr. Patterson stand mit dem Rücken zum Haus, so daß er nicht sah, wie Ashley und Dr. Keller herauskamen.

»Höher!« kreischte Katrina.

Ashley blieb wie erstarrt in der Tür stehen. Sie sah, wie ihr Vater mit dem kleinen Mädchen spielte, und mit einemmal kam es ihr vor, als ob die Welt in tausend Stücke zerbarst. Danach lief alles wie in Zeitlupe ab.

Da waren Bilder, Bilder von einem kleinen Mädchen, das in die Luft geworfen wurde ... Höher, Papa!

»Moment. Und los geht’s.«

Jemand sagte: »Das wird dir gefallen ...«

Dann legte sich ein Mann neben sie ins Bett. Das kleine Mädchen schrie: »Hör auf. Nein. Bitte nicht.«

Der Mann war in Dunkelheit gehüllt.

Er drückte sie nach unten, und er streichelte sie. »Ist das nicht schön?«

Und plötzlich schwand die Dunkelheit, und Ashley konnte das Gesicht des Mannes erkennen. Es war ihr Vater.

Als Ashley ihn jetzt im Garten mit dem kleinen Mädchen spielen sah, riß sie den Mund auf und schrie und konnte nicht mehr damit aufhören.

Dr. Patterson, Victoria Aniston und Katrina drehten sich erschrocken um.

»Tut mir schrecklich leid«, sagte Dr. Keller rasch. »Heute ist ein schlechter Tag. Könnten Sie ein andermal wiederkommen?« Und er trug Ashley ins Haus.

Man hatte sie in einen der Notfallräume gebracht.

»Ihr Puls ist ungewöhnlich hoch«, sagte Dr. Keller. »Sie befindet sich in einem Dämmerzustand.« Er trat neben sie und sagte: »Ashley, Sie haben nichts zu befürchten. Sie sind hier in Sicherheit. Niemand wird Ihnen etwas zuleide tun. Achten Sie einfach auf meine Stimme und entspannen Sie sich ... entspannen Sie sich ... entspannen Sie sich ...«

Es dauerte eine halbe Stunde. »Ashley, erzählen Sie mir, was vorgefallen ist. Worüber haben Sie sich so aufgeregt?«

»Vater und das kleine Mädchen .«

»Was ist mit ihnen?«

Die Antwort kam von Toni. »Sie verkraftet es nicht. Sie hat Angst, daß er mit der Kleinen das gleiche macht wie mit ihr.«

Dr. Keller starrte sie einen Moment lang an. »Was - was hat er mit ihr gemacht?«

Es geschah in London. Sie war im Bett. Er setzte sich zu ihr und sagte: »Ich werde dich glücklich machen, mein Schatz.« Zunächst kitzelte er sie, und sie mußte lachen. Dann zog er ihr den Schlafanzug aus und spielte an ihr herum, »fühlt sich das nicht gut an?« Ashley fing an zu schreien: »Hör auf. Laß das.« Doch er hörte nicht auf. Er hielt sie fest und machte immer weiter.

»War es das erstemal, daß so etwas vorgekommen ist, Toni?« »Ja.«

»Wie alt war Ashley?«

»Sie war sechs.«

»Und damals wurden Sie geboren.«

»Ja. Ashley war so verstört. Sie konnte es nicht verkraften.« »Was ist danach geschehen?«

»Vater kam jede Nacht und stieg zu ihr ins Bett.« Die Worte sprudelten förmlich aus ihr heraus. »Sie konnte ihn nicht daran hindern. Als sie wieder nach Hause kamen, erzählte Ashley ihrer Mutter, was vorgefallen war, und Mutter nannte sie ein verlogenes Luder.

Ashley hatte Angst, schlafen zu gehen, weil sie wußte, daß Papa in ihr Zimmer kommen würde. Sie mußte ihn immer anfassen und an ihm rumspielen. Und er sagte zu ihr: >Verrate niemandem was davon, sonst hab’ ich dich nicht mehr lieb.< Sie konnte es niemandem erzählen. Mama und Papa haben sich ständig angebrüllt, und Ashley dachte, sie wäre daran schuld. Sie wußte, das sie etwas Unrechtes getan hatte, aber sie wußte nicht was. Mama haßte sie.«

»Wie lange ging das?« fragte Dr. Keller.

»Als ich acht war .« Toni stockte.

»Fahren Sie fort, Toni.«

Ashleys Miene veränderte sich, und dann meldete sich Alette zu Wort. »Wir sind nach Roma gezogen«, sagte sie, »wo er am Policlinico Umberto Primo einen Forschungsauftrag bekam.«

»Und dort wurden dann Sie geboren?«

»Ja. Ashley konnte es eines Nachts nicht mehr aushalten, und da bin ich ihr zu Hilfe gekommen.«

»Was war geschehen, Alette?«

»Papa kam in ihr Zimmer, als sie geschlafen hat. Er war nackt, und er kroch in ihr Bett und drang gewaltsam in sie ein. Sie versuchte ihn daran zu hindern, konnte es aber nicht. Sie hat ihn angebettelt, es nie wieder zu tun, aber er kam jede Nacht zu ihr. Und immer hat er gesagt: >So zeigt man als Mann einer Frau, daß man sie liebt. Du bist meine Frau, und ich liebe dich. Aber du darfst niemandem etwas davon verraten. < Und Ashley konnte es keinem erzählen.«

Ashley schluchzte leise vor sich hin. Ihr Gesicht war tränen-überströmt.

Gilbert Keller mußte sich beherrschen, damit er sie nicht in die Arme schloß, sie festhielt, ihr erklärte, daß er sie liebte und daß alles gut werden würde. Doch das war natürlich unmöglich. Ich bin ihr Therapeut.

Als Dr. Keller in Dr. Lewisons Büro zurückkehrte, waren Dr. Patterson, Victoria Aniston und Katrina bereits gegangen.

»Nun, darauf haben wir die ganze Zeit gewartet«, erklärte er Otto Lewison. »Endlich haben wir einen Durchbruch erreicht. Ich weiß jetzt, wann und weshalb Toni und Alette entstanden sind. Ab jetzt dürfte sich ein deutlicher Umschwung abzeichnen.«

Dr. Keller hatte recht. Es tat sich etwas.

26


Die hypnotherapeutische Sitzung hatte begonnen. »Ashley, erzählen Sie mir etwas von Jim Cleary«, sagte Dr. Keller, als Ashley soweit war.

»Ich habe Jim geliebt. Wir wollten gemeinsam davonlaufen und heiraten.«

»Ja ...?«

»Auf der Abschlußfeier hat Jim mich gefragt, ob ich Lust hätte, mit zu ihm zu kommen, und ich . ich habe nein gesagt. Als er mich nach Hause brachte, hat Vater auf uns gewartet. Er war wütend. Er hat zu Jim gesagt, er soll verschwinden und sich nie wieder blicken lassen.«

»Was ist dann passiert?«

»Ich habe beschlossen, zu Jim zu gehen. Ich habe eine Reisetasche gepackt und wollte zu ihm gehen.« Sie zögerte. »Unterwegs habe ich es mir anders überlegt und bin wieder nach Hause gegangen. Ich -«

Ashleys Miene veränderte sich. Sie wurde sichtlich gelöster und fläzte im Sessel. Dann meldete sich Toni zu Wort.

»Den Teufel hat sie getan. Sie ist sehr wohl zu ihm nach Hause gegangen, Doktorchen.«

Als sie zu Jim Clearys Haus kam, war alles dunkel. »Meine Eltern sind übers Wochende weggefahren.« Ashley klingelte. Jim Cleary öffnete die Tür. Er war im Schlafanzug.

»Ashley.« Er grinste sie strahlend an. »Du bist also doch gekommen.« Er zog sie hinein.

»Ich bin hergekommen, weil ich -«

»Mir ist egal, warum du gekommen bist. Hauptsache, du bist hier.« Er nahm sie in die Arme und küßte sie. »Etwas zu trinken?«

»Nein. Einen Schluck Wasser vielleicht.« Plötzlich war ihr bang ums Herz.

»Klar. Komm rein.« Er nahm sie an der Hand und führte sie in die Küche. Er goß ihr ein Glas Wasser ein und betrachtete sie, während sie trank. »Du wirkst nervös.«

»Ich - das bin ich auch.«

»Du brauchst nicht nervös zu sein. Meine Eltern kommen auf keinen Fall zurück. Komm, wir gehen nach oben.«

»Jim, das sollten wir lieber sein lassen.«

Er trat hinter sie, griff nach ihren Brüsten. Sie drehte sich um. »Jim ...«

Sie spürte seine Lippen auf ihrem Mund, und dann drängte er sie gegen die Arbeitsplatte.

»Ich werde dich glücklich machen, mein Schatz.« Sie hörte ihren Vater sagen: »Ich werde dich glücklich machen, mein Schatz.«

Sie erstarrte. Sie spürte, wie er sie auszog und in sie eindrang, als sie nackt dastand, und schrie innerlich auf.

Und dann verfiel sie in wilde Raserei.

Sie sah das Schlachtermesser, das in einem Holzblock steckte. Sie ergriff es und stach schreiend auf seine Brust ein. »Hör auf, Vater . Hör auf . Hör auf . Hör auf .«

Sie blickte zu Jim hinab, der blutüberströmt am Boden lag.

»Du Tier«, schrie sie. »Das wirst du niemand mehr antun.« Und sie bückte sich und stieß ihm das Messer in die Hoden.

Um halb sechs Uhr morgens ging Ashley zum Bahnhof und wartete auf Jim. Er ließ sich nicht blicken.

Allmählich bekam sie es mit der Angst zu tun. Was konnte nur dazwischengekommen sein? Ashley hörte von fern den Zug pfeifen und schaute auf ihre Uhr. Eine Minute vor sieben. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Sie stand auf und blickte sich hektisch um. Irgendwas Schreckliches muß ihm zugestoßen sein. Ein paar Minuten später stand Ashley da und sah zu, wie all ihre Träume zerstoben, als der Zug abfuhr.

Sie wartete noch eine halbe Stunde und ging dann langsam nach Hause. Mittags saß Ashley mit ihrem Vater in einem Flugzeug nach London .

Die Sitzung war zu Ende.

». vier . fünf«, zählte Dr. Keller. »Sie werden jetzt wieder aufwachen.«

Ashley schlug die Augen auf. »Was ist passiert?«

»Toni hat mir erzählt, wie sie Jim Cleary umgebracht hat. Er ist über sie hergefallen.«

Ashley wurde kreidebleich. »Ich möchte jetzt auf mein Zimmer.«

Dr. Keller berichtete Otto Lewison von der jüngsten Entwicklung. »Allmählich kommen wir wirklich voran, Otto. Bislang hatte jede von ihnen Angst davor, den ersten Schritt zu tun. Daher diese Blockade. Aber sie werden jetzt gelöster. Die Richtung, die wir eingeschlagen haben, stimmt, aber Ashley sperrt sich nach wie vor dagegen, sich der Wahrheit zu stellen.«

»Sie hatte keine Ahnung, wie es zu diesen Morden kam?« sagte Dr. Lewison.

»Nicht die geringste. Ihr Bewußtsein war völlig ausgeschaltet. Toni hat alles gesteuert.«

Zwei Tage später.

»Sitzen Sie bequem, Ashley?«

»Ja.« Ihre Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne.

»Ich möchte mit Ihnen über Dennis Tibble sprechen. War er ein Freund von Ihnen?«

»Dennis und ich haben bei der gleichen Firma gearbeitet. Aber Freunde waren wir eigentlich nicht.«

»Im Polizeibericht steht, daß man Ihre Fingerabdrücke in seiner Wohnung gefunden hat.« »Das stimmt. Ich bin hingegangen, weil er von mir einen Rat wollte.«

»Und wie ging es weiter?«

»Wir haben ein paar Minuten miteinander geredet, und er hat mir ein Glas Wein gegeben, das mit irgendeiner Droge versetzt war.«

»Und woran können Sie sich danach erinnern?«

»Ich - ich bin in Chicago aufgewacht.«

Ashleys Miene veränderte sich.

Im nächsten Moment ergriff Toni das Wort. »Willst du wissen, wie es wirklich gewesen war .«

»Erzählen Sie es mir, Toni.«

Dennis Tibble nahm die Weinflasche und sagte: »Machen wir’s uns gemütlich.« Er wollte sie ins Schlafzimmer führen.

»Dennis - ich möchte nicht -«

Und dann waren sie im Schlafzimmer, und er zog sie aus.

»Ich weiß genau, was du möchtest, Kleines. Du möchtest mit mir vögeln. Deswegen bist du doch hergekommen.«

Sie versuchte sich loszureißen. »Hör auf, Dennis.«

»Erst wenn ich dir ’s besorgt habe, denn deswegen bist du doch hier. Das wird dir gefallen, Kleines.«

Er stieß sie aufs Bett, hielt sie fest und schob ihr die Hand zwischen die Beine. Es war die Stimme ihres Vaters. »Das wird dir gefallen, Kleines.« Und dann drang er in sie ein, immer wieder, und sie schrie innerlich auf. »Nein, Vater. Hör auf!« Und dann packte sie eine unsägliche Wut. Sie sah die Weinflasche. Sie griff danach, zerschlug sie an der Nachttischkante und rammte ihm die spitzen Zacken in den Rücken. Er schrie und bäumte sich auf, doch sie hielt ihn fest und stieß ihm den abgebrochenen Flaschenhals in den Leib. Sie sah zu, wie er zu Boden rollte.

»Hör auf«, wimmerte er.

»Versprichst du, daß du so was nie wieder machst? Tja, gehen wir lieber auf Nummer Sicher.« Sie packte die zerbrochene Flasche und nahm sich seinen Unterleib vor.

Dr. Keller schwieg einen Moment. »Was haben Sie danach getan, Toni?«

»Ich wollte lieber abhauen, bevor die Polizei anrückt. Ich muß zugeben, daß ich ziemlich aufgekratzt war. Ich wollte raus aus diesem langweiligen Leben, das Ashley geführt hat, und weil ich in Chicago einen Freund hatte, hab’ ich beschlossen, einfach dorthin zu fahren. Leider war er nicht daheim, deshalb hab’ ich einen kleinen Einkaufsbummel gemacht, ein paar Bars aufgesucht und mich prächtig amüsiert.«

»Was ist danach geschehen?«

»Ich hab’ mir ein Hotel gesucht und bin eingeschlafen.« Sie zuckte die Achseln. »Danach war Ashley wieder am Zug.«

Langsam kam sie zu sich, und sie wußte sofort, daß irgend etwas scheußlich schiefgegangen war. Sie kam sich völlig benebelt vor, so als wäre sie unter Drogen gesetzt worden. Ashley blickte sich um und bekam es mit der Angst zu tun. Sie lag splitternackt in einem fremden Bett, in einem billigen Hotelzimmer. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wie sie hierhergekommen war. Sie richtete sich auf und bekam prompt hämmernde Kopfschmerzen.

Sie stand auf, ging in das kleine Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Sie ließ das heiße Wasser über sich strömen und versuchte all den Schmutz wegzuspülen, der an ihr haftete. Und wenn er sie geschwängert hatte? Beim bloßen Gedanken daran wurde ihr übel. Ashley stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und ging zum Kleiderschrank. In dem Schrank hing nur ein Minirock aus schwarzem Leder, dazu ein hautenges, nuttig wirkendes Oberteil und ein Paar hohe Stöckelschuhe. Sie ekelte sich vor diesem Zeug, doch etwas anderes hatte sie nicht. Sie zog sich rasch an und betrachtete sich kurz im Spiegel. Sie sah aus wie eine Prostituierte.

»Vater, ich -«

»Was ist los?«

»Ich bin in Chicago und -«

»Was machst du denn in Chicago?«

»Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Ich brauche ein Flugticket nach San Jose. Ich habe kein Geld dabei. Kannst du mir helfen?«

»Selbstverständlich. Warte einen Moment. Um zehn Uhr vierzig geht eine Maschine der American Airlines ab O ’Hare. Flugnummer 407. Am Abfertigungsschalter liegt ein Ticket für dich bereit.«

»Alette, hören Sie mich? Alette.«

»Schon da, Dr. Keller.«

»Ich möchte mit Ihnen über Richard Melton sprechen. Sie waren doch mit ihm befreundet, nicht wahr?«

»Ja. Er war sehr . simpatico. Ich war in ihn verliebt.«

»War er auch in Sie verliebt?«

»Ja, ich glaube schon. Er war Künstler. Wir sind zusammen in die Museen gegangen und haben uns all die wunderbaren Bilder angesehen. Wenn ich mit Richard zusammen war, bin ich mir so . so lebendig vorgekommen. Ich glaube, wir hätten eines Tages geheiratet, wenn ihn nicht jemand umgebracht hätte.«

»Erzählen Sie mir von Ihrem letzten Beisammensein.«

»Als wir aus dem Museum kamen, sagte Richard: >Mein Wohnungsgenosse ist heute abend auf einer Party. Wollen wir nicht zu mir gehen? Ich möchte Ihnen ein paar Bilder zeigen.<«

»Noch nicht, Richard.«

»Ganz wie Sie wollen. Sehen wir uns nächstes Wochenende wieder?«

»Ja.«

»Anschließend bin ich weggefahren«, sagte Alette. »Und das war das letzte Mal, daß ich -«

Dr. Keller sah, wie ihr Gesicht auf einmal lebhafter wurde. »Das bildet sie sich ein«, sagte Toni. »Aber so war es nicht.« »Wie war es denn?« fragte Dr. Keller.

Sie kam mit zu seiner Wohnung in der Fell Street. Sie war klein, aber wunderschön, vor allem durch Richards Bilder. »Dadurch wird das Zimmer richtig lebendig, Richard.« »Vielen Dank, Alette.« Er nahm sie in die Arme. »Ich möchte mit dir schlafen. Du bist so schön.«

Du bist so schön, sagte ihr Vater. Und sie erstarrte. Weil sie wußte, daß jetzt etwas Schreckliches geschehen würde. Sie lag nackt auf dem Bett, und spürte wieder den nur zu vertrauten Schmerz, als er in sie eindrang, sie entzweiriß.

»Nein!« schrie sie. »Hör auf, Vater! Hör auf!« Und dann überkam sie wiederum eine aberwitzige Raserei. Sie wußte nicht mehr, woher sie das Messer hatte, doch sie stach immer wieder auf ihn ein und brüllte ihn an: »Ich habe gesagt, du sollst aufhören! Hör auf!«

Ashley wand sich schreiend im Sessel.

»Ist ja gut, Ashley«, sagte Dr. Keller. »Sie sind in Sicherheit. Wenn ich bis fünf gezählt habe, werden Sie aufwachen.«

Ashley kam zu sich. Sie zitterte am ganzen Körper. »Ist alles in Ordnung?«

»Toni hat mir von Richard Melton erzählt. Er wollte mit Ihnen schlafen. Sie dachten, es wäre Ihr Vater, und deshalb -« Sie schlug die Hände über die Ohren. »Ich will es nicht mehr hören!«

Dr. Keller suchte Otto Lewison auf.

»Ich glaube, wir haben endlich den Durchbruch geschafft. Für Ashley ist das sehr schmerzlich, aber wir sind fast durch. Wir müssen nur noch zwei Mordfälle rekonstruieren.«

»Und dann?«

»Dann werde ich Ashley, Toni und Alette miteinander bekannt machen.«

27


»Toni? Toni, hören Sie mich?« Dr. Keller sah, wie sich Ash-leys Gesichtsausdruck veränderte.

»Ich höre dich, Doktorchen.«

»Wir sollten uns über Jean Claude Parent unterhalten.«

»Mir hätte von vornherein klar sein müssen, daß der viel zu gut war, um echt zu sein.«

»Was soll das heißen?«

»Am Anfang ist er mir vorgekommen wie ein richtiger Gentleman. Er ist jeden Tag mit mir ausgegangen, und es hat einen Riesenspaß gemacht. Ich dachte, er wäre anders als die andern. Aber er wollte auch bloß Sex.«

»Aha.«

»Er hat mir einen herrlichen Ring geschenkt, und vermutlich dachte er, damit hätte er mich am Wickel. Ich bin mit ihm nach Hause gegangen.«

Es war ein wunderschönes Haus, einstöckig, aus roten Ziegeln gebaut, mit lauter Antiquitäten eingerichtet.

»Das ist ja hinreißend.«

»Ich möchte dir noch etwas Besonderes zeigen. Oben, im Schlafzimmer.« Und wie ohnmächtig ließ sie sich nach oben führen. Dann waren sie im Schlafzimmer, und er nahm sie in die Arme und flüsterte: »Zieh dich aus.«

»Ich will nicht -«

»Doch, du willst. Wir wollen es alle beide.« Er zog sie rasch aus, bettete sie hin und legte sich auf sie. »Nein«, stöhnte sie. »Bitte nicht, Vater!«

Doch er kümmerte sich nicht darum. Immer wieder stieß er in sie hinein, bis er plötzlich aufkeuchte und liegenblieb. »Du bist wunderbar«, sagte er.

Und dann brach der Haß wieder aus ihr heraus. Sie schnappte sich den scharfen Brieföffner, der auf dem Schreibtisch lag, und stieß ihn in seine Brust, holte aus und stach zu, immer wieder.

»So was tust du keiner mehr an.« Sie nahm sich seinen Unterleib vor.

Hinterher duschte sie in aller Ruhe, zog sich an und begab sich in ihr Hotel.

»Ashley ...« Ashleys Gesicht veränderte sich. »Wachen Sie auf.«

Ashley kam langsam zu sich. Sie schaute Dr. Keller an und sagte: »Schon wieder Toni?«

»Ja. Sie hat Jean Claude über das Internet kennengelernt. Als Sie in Quebec waren, Ashley, ist Ihnen da mitunter das Zeitgefühl abhanden gekommen? Könnte es sein, daß manchmal etliche Stunden oder gar Tage vergangen waren, ohne daß Sie wußten, was Sie in dieser Zeit getan haben?«

Sie nickte nachdenklich. »Ja. Das - das ist öfter passiert.«

»Genau da hat Toni sich durchgesetzt.«

»Und dann hat sie - dann hat sie auch -?«

»Ja.«

Die nächsten paar Monate verliefen mehr oder weniger ereignislos. Nachmittags hörte Dr. Keller zu, wenn Toni Klavier spielte und sang, oder er ging in den Garten und schaute Alette beim Malen über die Schulter. Über einen Mordfall mußten sie noch sprechen, aber er wollte, daß Ashley so gelöst wie möglich war, bevor er damit anfing.

Fünf Jahre waren jetzt vergangen, seit sie in die Klinik gekommen war. Sie ist beinahe geheilt, dachte Dr. Keller.

An einem Montag morgen ließ er Ashley zu sich kommen. Sie war blaß im Gesicht, als sie in sein Büro kam, so als wüßte sie, was ihr bevorstand.

»Guten Morgen, Ashley.«

»Guten Morgen, Gilbert.«

»Wie fühlen Sie sich?«

»Ich bin ein bißchen nervös. Das ist der letzte Fall, nicht?«

»Ja. Sprechen wir über Deputy Sam Blake. Weshalb ist er in Ihrer Wohnung gewesen?«

»Ich hatte ihn gebeten, zu mir zu kommen. Jemand hatte auf meinen Badezimmerspiegel geschrieben: DU WIRST STERBEN. Ich wußte nicht, was ich machen soll. Ich dachte, jemand will mich umbringen. Ich habe bei der Polizei angerufen, und Deputy Blake kam vorbei. Er war sehr verständnisvoll.«

»Haben Sie ihn gebeten, bei Ihnen zu bleiben?«

»Ja. Ich hatte Angst davor, allein zu sein. Er hat sich bereit erklärt, über Nacht dazubleiben. Und am nächsten Morgen wollte er dafür sorgen, daß ich rund um die Uhr bewacht werde. Ich wollte auf der Couch schlafen und habe ihm angeboten, in meinem Schlafzimmer zu übernachten. Aber er wollte sich lieber auf der Couch hinlegen. Ich weiß noch, daß er die Fenster überprüft und sich davon überzeugt hat, daß sie verschlossen waren, und daß er den Schlüssel in der Wohnungstür zweimal umgedreht hat. Seine Waffe lag auf dem Tisch neben der Couch. Dann habe ich gute Nacht gesagt, bin ins Schlafzimmer gegangen und habe die Tür geschlossen.«

»Und was ist dann geschehen?«

»Ich - ich weiß nur, daß ich aufgewacht bin, weil unten in der Gasse jemand geschrien hat. Dann kam der Sheriff und hat mir berichtet, daß man Deputy Blake tot aufgefunden hatte.« Sie stockte. Ihr Gesicht war bleich.

»Na schön. Ich werde Sie jetzt hypnotisieren. Entspannen Sie sich einfach. Schließen Sie die Augen und entspannen Sie sich ...« Es dauerte zehn Minuten. »Toni ...«, sagte Dr. Keller.

»Schon da. Du willst wissen, was tatsächlich passiert ist, was? Ashley war einfach blöde, als sie ihn aufgefordert hat, über Nacht bei ihr zu bleiben. Ich hätte ihr gleich sagen können, was der macht.«

Er hörte einen Schrei, der offenbar aus dem Schlafzimmer kam, fuhr von der Couch hoch und griff nach seiner Waffe. Raschen Schrittes ging er zur Schlafzimmertür und lauschte. Alles still. Er hatte es sich nur eingebildet. Als er sich umdrehte und weggehen wollte, hörte er es wieder. Er stieß die Tür auf und hob die Waffe. Ashley lag nackt auf dem Bett und schlief. Außer ihr war niemand im Zimmer. Sie stöhnte leise vor sich hin. Er trat neben das Bett. Sie sah hinreißend aus, wie sie dalag, eingerollt wie ein Fötus. Wieder stöhnte sie, gefangen in einem schrecklichen Alptraum. Er wollte sie nur trösten, sie in die Arme nehmen und festhalten. Er legte sich neben sie und zog sie sanft an sich, und dann spürte er die Hitze, die ihr Leib ausstrahlte, und wurde erregt.

Sie wachte auf, als sie seine Stimme hörte. »Ist ja schon gut. Sie sind in Sicherheit.« Und dann war sein Mund über ihr, und er schob ihre Beine auseinander und drang in sie ein.

Und sie schrie auf: »Nein, Vater!«

Doch er bewegte sich immer schneller, wie von einem Ur-trieb gepackt, und da überkam sie unbändiger Rachedurst. Sie ergriff das Messer, das in der Schublade ihres Nachtkästchens lag, und hieb auf ihn ein.

»Was haben Sie getan, nachdem Sie ihn getötet hatten?«

»Ich habe ihn in die Bettlaken gewickelt, zum Fahrstuhl gezerrt und durch die Tiefgarage zu der Gasse hinter dem Haus geschleift.«

». und dann«, erklärte Dr. Keller Ashley, »hat Toni die Leiche in die Bettlaken gewickelt, zum Fahrstuhl gezerrt und durch die Tiefgarage zu der Gasse hinter dem Haus geschleift.«

Ashley saß mit totenblasser Miene da. »Sie ist eine - ich bin eine Bestie.«

»Nein, Ashley«, versetzte Gilbert Keller. »Sie müssen immer bedenken, daß Toni eine Ausgeburt Ihrer Qualen ist, jemand, der Sie beschützt. Das gleiche gilt für Alette. Es wird Zeit, daß wir die Sache zu einem Abschluß bringen. Ich möchte Sie mit ihnen bekannt machen. Das ist der nächste Schritt auf dem Weg zu Ihrer Genesung.«

Ashley hatte die Augen zusammengekniffen. »Na schön. Wann wollen - wann wollen wir damit anfangen?«

»Morgen früh.«

Ashley war unter Hypnose. Dr. Keller fing mit Toni an.

»Toni, ich möchte, daß Sie und Alette mit Ashley sprechen.« »Glaubst du ehrlich, daß sie mit uns klarkommt?«

»Ich glaube schon.«

»Na schön, Doktorchen. Wenn du meinst.«

»Alette, sind Sie bereit, Ashley kennenzulernen?«

»Wenn Toni einverstanden ist.«

»Klar doch, Alette. Wird ja auch Zeit.«

Dr. Keller atmete tief durch. »Ashley«, sagte er dann, »ich möchte, daß Sie Toni begrüßen.«

Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann kam ein zaghaftes »Hallo, Toni .«

»Hallo.«

»Ashley, sagen Sie hallo zu Alette.«

»Hallo, Alette ...«

»Hallo, Ashley ...«

Dr. Keller seufzte erleichtert auf. »Ich möchte, daß ihr euch miteinander bekannt macht. Ihr habt die gleichen Traumata erlitten. Dadurch seid ihr voneinander getrennt worden. Doch es gibt keinen Grund mehr für diese Trennung. Ihr werdet wieder eins werden, eine gesunde Person. Es ist ein weiter Weg, aber ihr habt bereits einen Teil hinter euch. Ich versichere euch, das Schwierigste ist vorüber.«

Von da an kamen sie mit der Behandlung rasch voran. Ashley und ihre beiden anderen Persönlichkeiten unterhielten sich jeden Tag miteinander.

»Ich mußte dich doch beschützen«, erklärte Toni. »Ich nehme an, ich habe diese Männer umgebracht, weil ich jedesmal Vater vor mir gesehen habe und was er dir angetan hat.«

»Ich wollte dich auch beschützen«, sagte Alette.

»Ich - ich weiß das zu schätzen. Ich bin euch beiden dankbar.«

Ashley wandte sich an Dr. Keller. »Eigentlich bin das nur ich, nicht wahr?« meinte sie trocken. »Ich führe Selbstgespräche.«

»Sie sprechen mit zwei anderen Wesen, die ein Teil Ihrer Persönlichkeit sind«, stellte er behutsam richtig. »Es wird Zeit, daß ihr drei zueinanderfindet und wieder eine Einheit werdet.«

Ashley blickte ihn an und lächelte. »Ich bin bereit.«

An diesem Nachmittag suchte Dr. Keller Otto Lewison auf.

»Die Berichte klingen ja sehr erfreulich, Gilbert«, sagte Dr. Lewison.

Dr. Keller nickte. »Ashley hat bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Ich glaube, in ein paar Monaten können wir sie in ambulante Behandlung entlassen.«

»Das ist ja hervorragend. Meinen Glückwunsch.«

Ich werde sie vermissen, dachte Dr. Keller. Ich werde sie schrecklich vermissen.

Als Ashley an diesem Nachmittag in den Aufenthaltsraum kam, fiel ihr Blick auf die Westport News, die jemand dort liegengelassen hatte. Auf der Titelseite befand sich ein Foto ihres Vaters zusammen mit Victoria Aniston und Katrina. Der Artikel darunter begann mit den Zeilen: »Dr. Steven Patterson und die aus einer alteingesessenen Familie stammende Victoria Aniston haben ihre bevorstehende Vermählung bekanntgegeben. Wie in diesem Zusammenhang zu erfahren war, wird Dr. Patterson demnächst am St. Johns Hospital in Manhattan tätig sein. Er und seine zukünftige Gemahlin haben ein Haus auf Long Island gekauft, in dem sie mit Miss Anistons dreijähriger Tochter aus erster Ehe .«

Ashley konnte nicht mehr weiterlesen. Mit wutverzerrtem Gesicht blickte sie auf. »Ich bring’ den Dreckskerl um«, schrie Toni. »Ich bringe ihn um!«

Sie war völlig außer sich. Sie mußten sie in eine Gummizelle bringen und ihr Hand- und Fußfesseln anlegen, damit sie sich nichts antun konnte. Doch die Pfleger, die sie füttern wollten, mußten dennoch aufpassen, daß sie ihr nicht zu nahe kamen. Sie hatte sich Ashley jetzt völlig unterworfen.

»Dr. Salem möchte Sie am Telefon sprechen, Mr. Singer.«

»Gut.« Verdutzt griff David nach dem Hörer. Wieso Dr. Salem ihn wohl anrief? Es war Jahre her, seit sie zum letztenmal miteinander zu tun hatten. »Royce.«

»Guten Morgen, David. Ich habe eine interessante Neuigkeit für Sie. Es geht um Ashley Patterson.«

David empfand plötzlich Unruhe. »Was ist mit ihr?«

»Erinnern Sie sich, wie wir uns bemüht haben herauszubekommen, welches Trauma ihren Zustand verursachte, und nichts finden konnten?«

David erinnerte sich nur zu gut daran. Schließlich war das eine der Schwächen ihrer Verteidigung gewesen. »Ja.«

»Nun, ich habe gerade erfahren, was es war. Mein Freund Dr. Lewison, der Leiter des Conneticut Psychiatrie Hospital, hat mich angerufen. Das fehlende Puzzlestück heißt Dr. Steven Patterson. Er war es, der Ashley als Kind sexuell mißbraucht hat.«

»Was?« fragte David ungläubig.

»Dr. Lewison hat es soeben erfahren.«

David saß da, während Dr. Salem weitersprach, doch in Gedanken war er ganz woanders. Er erinnerte sich an Dr. Pattersons Worte: »Sie sind der einzige, dem ich vertraue, David. Meine Tochter ist mein ein und alles. Sie müssen ihr das Leben retten ... Ich möchte, daß Sie Ashley verteidigen, und ich möchte nicht, daß jemand, anders hinzugezogen wird.«

Nun war David auch klar, wieso Dr. Patterson darauf bestanden hatte, daß er Ashley allein vertrat. Der Arzt war sich sicher gewesen, daß David ihn decken würde, wenn er herausbekäme, was er getan hatte. Dr. Patterson hatte sich zwischen seiner Tochter und seinem Ruf entscheiden müssen, und er hatte seinen Ruf gewählt. So ein Mistkerl!

»Danke, Royce.«

»Laß mich hier raus, du Mistkerl«, schrie sie, als sie Dr. Keller sah. »Auf der Stelle.«

»Wir lassen Sie wieder heraus«, sagte Dr. Keller besänftigend. »Aber erst müssen Sie sich beruhigen.«

»Ich bin völlig ruhig«, brüllte Toni. »Laß mich raus!«

Dr. Keller ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder. »Toni«, sagte er, »als Sie das Foto von Ihrem Vater sahen, sagten Sie, Sie wollten ihm etwas zuleide tun und -«

»Du lügst ja! Ich habe gesagt, ich bring’ ihn um.«

»Es hat schon genug Tote gegeben. Sie wollen niemanden mehr erstechen.«

»Ich will ihn ja gar nicht erstechen. Hast du schon mal was von Salzsäure gehört? Die frißt sich überall durch, auch durch die Haut. Wart’s mal ab, bis ich -«

»An so etwas dürfen Sie gar nicht denken.«

»Recht hast du. Feuer! Feuer ist viel besser. Dann muß er nicht warten, bis er in der Hölle schmort. Irgendwie krieg’ ich schon hin, daß ich nicht geschnappt werde, wenn -«

»Toni, vergessen Sie es.«

»Na schön. Ich kann mir ja noch was Besseres einfallen lassen.«

Er musterte sie einen Moment lang verbittert. »Ich dachte, das hätten wir hinter uns. Warum sind Sie so wütend?«

»Weißt du das denn nicht? Du bist doch angeblich so ein toller Doktor. Er heiratet eine Frau, die eine dreijährige Tochter hat. Was meinst du wohl, was er mit der Kleinen macht, mein hochgerühmtes Doktorchen? Ich sag’s dir. Das gleiche wie mit uns. Und das werde ich verhindern.«

»Ich dachte, all diesen Haß wären wir los.«

»Willst du mal wissen, was Haß ist?«

Es goß in Strömen. Unentwegt pladderten die Regentropfen auf das Autodach. Sie blicke zu ihrer Mutter, die am Lenkrad saß und mit verkniffenen Augen nach vorn, auf die Straße schaute, und sie lächelte gut gelaunt und stimmte ein Lied an.

»Will ich in mein Gärtlein gehn, will mein Zwiebel gießen -«

Ihre Mutter drehte sich um und schrie: »Halt den Mund. Ich habe dir doch gesagt, daß ich das Lied nicht ausstehen kann. Du reizt mich bis aufs Blut, du kleine -«

Danach lief alles wie in Zeitlupe ab. Die Kurve, die plötzlich vor ihnen auftauchte, der ausbrechende Wagen, der von der Straße abkam, auf den Baum zuraste. Sie wurde beim Aufprall aus dem Auto geschleudert. Sie war benommen, aber nicht weiter verletzt. Sie rappelte sich auf. Sie hörte die Schreie ihrer Mutter, die im Wagen eingeklemmt war. »Hol mich hier raus! Hilf mir! Hilf mir!«

Und sie stand da und wartete, bis der Wagen in Flammen aufging.

»Von wegen Haß. Willst du noch mehr hören?«

»Wir müssen einen einstimmigen Beschluß fassen«, sagte Walter Manning. »Meine Tochter ist Künstlerin von Beruf, keine Hobbymalerin. Meine Tochter wollte uns damit einen Gefallen tun. Wir können ihr Bild nicht ablehnen.«

Sie saß in ihrem Wagen, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand. Sie beobachtete, wie Walter Manning die Straße überqueren und zu der Garage gehen wollte, in der er immer sein Auto abstellte. Sie legte den Gang ein und trat das Gaspedal durch. Im letzten Moment hörte er den aufheulenden Motor und drehte sich um. Sie sah seinen Gesichtsausdruck, als ihn der Wagen erfaßte und zur Seite schleuderte. Danach fuhr sie einfach weiter, als ob nichts geschehen wäre. Es gab keinerlei Zeugen. Gott war auf ihrer Seite.

»Das ist Haß, Doktorchen! Echter Haß!«

Gilbert Keller hörte sich ihre Geschichte an. Er war entsetzt und völlig verstört über die kaltblütige Bosheit, die aus ihren Worten sprach. Er sagte alle weiteren Termine an diesem Tag ab. Er wollte von niemandem behelligt werden.

Als Dr. Keller am nächsten Morgen in die Gummizelle kam, hatte er es mit Alette zu tun.

»Weshalb tun Sie mir so was an, Dr. Keller?« fragte sie. »Lassen Sie mich hier raus.«

»Gewiß doch«, versicherte ihr Dr. Keller. »Erzählen Sie mir etwas über Toni. Was hat sie Ihnen gesagt?«

»Sie hat gesagt, daß wir zusehen müssen, wie wir von hier wegkommen, damit wir Vater umbringen können.«

Toni schaltete sich ein. »Morgen, Doktorchen. Uns geht’s wieder bestens. Wieso läßt du uns nicht raus?«

Dr. Keller sah sie an. In ihren Augen stand die blanke Mordlust.

Dr. Otto Lewison seufzte. »Tut mir furchtbar leid, Gilbert. Zumal sich alles so gut angelassen hat.«

»Derzeit komme ich überhaupt nicht an Ashley ran.«

»Was vermutlich heißt, daß wir wieder von vorne anfangen können.«

Dr. Keller dachte einen Moment lang nach. »Nicht unbedingt, Otto. Wir waren schon so weit, daß sich alle drei miteinander bekannt gemacht haben. Das war der entscheidende Schritt. Jetzt müssen wir sie wieder zusammenführen. Dazu wird mir schon noch etwas einfallen.«

»Diese verdammte Zeitung -«

»Eigentlich sollten wir froh sein, daß Toni den Artikel gelesen hat.«

Otto Lewison schaute ihn verdutzt an. »Froh?«

»Ja. Weil noch tief verwurzelte Haßgefühle in ihr stecken. Jetzt wissen wir darüber Bescheid und können dementsprechend daran arbeiten. Ich möchte etwas ausprobieren. Wenn es klappt, stehen wir gut da. Wenn nicht« - er stockte einen Moment, ehe er leise fortfuhr -, »dann muß Ashley wohl bis an ihr Lebensende in einer geschlossenen Anstalt verwahrt werden.«

»Was haben Sie vor?«

»Meiner Meinung nach sollte sie ihren Vater in nächster Zeit nicht zu Gesicht bekommen. Aber ich möchte, daß wir einen Ausschnittdienst engagieren, der uns sämtliche Artikel zukommen läßt, die über Dr. Patterson erscheinen.«

Otto Lewison schaute ihn blinzelnd an. »Was bezwecken Sie damit?«

»Ich möchte sie Toni vorlegen. Irgendwann muß sich ihr Haß doch selbst verzehren. Und auf die Art kann ich es überwachen und jederzeit eingreifen.«

»Das könnte eine ganze Weile dauern, Gilbert.«

»Mindestens ein Jahr, wenn nicht länger. Aber es ist die einzige Chance, die Ashley hat.«

Fünf Tage später kam Ashley wieder zu sich.

»Guten Morgen, Gilbert«, sagte sie, als Dr. Keller in die Gummizelle kam. »Tut mir leid, daß all das passiert ist.«

»Ich bin froh darum, Ashley. Wir wollten doch offen sein, was unsere Gefühle angeht.« Er nickte einem Pfleger zu, der ihr daraufhin die Fesseln abnahm.

Ashley stand auf und rieb sich die Handgelenke. »Angenehm war das nicht gerade«, sagte sie. Sie gingen hinaus auf den Korridor. »Toni ist ziemlich sauer.«

»Ja, aber sie wird darüber hinwegkommen. Ich habe nämlich folgendes vor .«

Jeden Monat erschienen drei, vier Artikel über Dr. Patterson. Einmal hieß es: »Allem Vernehmen nach steht eine große Hochzeitsfeier ins Haus, wenn Dr. Steven Patterson am kommenden Freitag Victoria Aniston heiratet. Zahlreiche Kollegen von Dr. Patterson werden sich einfinden, um an den Feierlichkeiten .«

Toni geriet außer sich, als Dr. Keller ihr den Artikel zeigte. »Der wird seine Ehe nicht lange genießen.«

»Wie kommen Sie darauf, Toni?«

»Weil er bald tot ist.«

»Wie bekannt wurde, hat Dr. Steven Patterson im St. Johns Hospital gekündigt. Er wird künftig Chefarzt für Herzchirurgie am Manhattan Methodist Hospital .«

»Damit er die kleinen Mädchen dort vergewaltigen kann«, schrie Toni.

»Dr. Steven Patterson wurde aufgrund seiner medizinischen Forschungen der Lasker-Preis zuerkannt. Die Verleihung findet anläßlich eines Empfangs im Weißen Haus statt .«

»Der Dreckskerl gehört aufgehängt!« schrie Toni.

Gilbert Keller sorgte dafür, daß Toni sämtliche Pressemitteilungen über ihren Vater zu lesen bekam. Und im Laufe der Zeit konnte sie immer besser damit umgehen. Tonis unbändiger Haß schien allmählich nachzulassen. Die grenzenlose Wut schlug mit der Zeit in bloßen Unmut um, und am Ende hatte sie sich resigniert damit abgefunden.

Es war nur eine kurze Mitteilung im Immobilienteil der Zeitung. »Dr. Steven Patterson und seine frisch angetraute Gemahlin haben sich in Manhattan häuslich niedergelassen, doch sie wollen sich ein Häuschen in den Hamptons zulegen, in dem sie im Sommer gemeinsam mit ihrer Tochter Katrina den Urlaub verbringen können.«

Toni schluchzte laut auf. »Wie kann er uns das bloß antun?« »Haben Sie das Gefühl, daß das kleine Mädchen Ihren Platz eingenommen hat, Toni?«

»Ich weiß es nicht. Ich - ich bin ein bißchen durcheinander.«

Ein weiteres Jahr verging. Ashley ging dreimal pro Woche zur Therapie. Alette saß fast jeden Nachmittag im Garten und malte, aber Toni wollte weder Klavier spielen noch singen.

Kurz vor Weihnachten legte Dr. Keller Toni einen weiteren Zeitungsausschnitt vor. Auf dem Foto waren ihr Vater, Victoria und Katrina abgebildet. Darunter stand: »Die Pattersons feiern das Weihnachtsfest in ihrem Häuschen in den Hamptons.«

»Wir haben Weihnachten immer zusammen gefeiert«, sagte Toni wehmütig. »Er hat mir immer wunderbare Sachen geschenkt.« Sie schaute Dr. Keller an. »Er war nicht nur schlecht. Bis auf - du weißt schon - war er ein guter Vater. Ich glaube, er hat mich wirklich geliebt.«

Es war ein erster Hoffnungsschimmer.

Eines Tages kam Dr. Keller am Aufenthaltsraum vorbei, als Toni gerade am Klavier saß und vor sich hin sang. Überrascht trat er ein und sah ihr zu. Sie ging völlig in der Musik auf.

Am nächsten Tag sprach Dr. Keller Toni darauf an.

»Ihr Vater ist nicht mehr der Jüngste. Was glauben Sie, wie Ihnen zumute wäre, wenn er stirbt?«

»Ich - ich möchte nicht, daß er stirbt. Ich weiß, daß ich allerlei Unsinn erzählt habe, aber das hab’ ich doch bloß gesagt, weil ich so wütend war.«

»Aber jetzt sind Sie nicht mehr wütend?«

Sie dachte kurz nach. »Ich bin nicht wütend, ich bin verletzt. Ich glaube, Sie haben recht. Ich hatte das Gefühl, daß die Kleine unseren Platz eingenommen hat.« Sie blickte auf und schaute Dr. Keller an. »Ich war durcheinander. Aber mein Vater hat ein Recht darauf, sein eigenes Leben zu führen, und Ashley ebenso.«

Dr. Keller lächelte. Damit wären wir wieder im Lot.

Die drei unterhielten sich jetzt immer offener miteinander.

»Ashley«, sagte Dr. Keller, »Sie haben Toni und Alette gebraucht, weil Sie den Schmerz nicht ertragen konnten. Was empfinden Sie nun für Ihren Vater?«

Sie schwieg einen Moment. »Ich kann nie vergessen, was er mir angetan hat«, sagte sie dann langsam, »aber ich kann ihm vergeben. Ich möchte die Vergangenheit hinter mir lassen und mich ganz der Zukunft zuwenden.«

»Dazu müssen wir Sie alle wieder zu einer Einheit zusammenfügen. Wie stehen Sie dazu, Alette?«

»Wenn ich Ashley bin«, sagte Alette, »kann ich dann trotzdem noch malen?«

»Natürlich können Sie das.«

»Nun denn - von mir aus.«

»Toni?«

»Kann ich hinterher noch singen und Klavier spielen?«

»Ja«, sagte er.

»Na dann - wieso nicht?«

»Ashley?«

»Ich bin dazu bereit, daß wir eine Einheit werden. Ich - ich möchte ihnen danken, daß sie mir geholfen haben, als ich sie brauchte.«

»War mir ein Vergnügen, Süße.« »Miniera, anche«, sagte Alette.

Es war soweit. Jetzt kam der letzte Schritt: die Integration.

»In Ordnung. Ich werde Sie jetzt hypnotisieren, Ashley. Ich möchte, daß Sie sich von Toni und Alette verabschieden.«

Ashley atmete tief durch. »Leb wohl Toni. Leb wohl, Alette.«

»Leb wohl, Ashley.«

»Paß auf dich auf, Ashley.«

Zehn Minuten später befand sich Ashley in tiefer Hypnose. »Ashley, Sie brauchen sich vor nichts mehr zu fürchten. Sie haben Ihr Leiden hinter sich. Sie brauchen niemanden mehr, der sie beschützt. Sie sind in der Lage, allein zurechtzukommen, ohne fremde Hilfe, und Sie brauchen sich nicht mehr gegen schlechte Erfahrungen abzuschotten. Was auch passiert, Sie können es verkraften. Pflichten Sie mir bei?«

»Ja. Ich bin bereit, mich der Zukunft zu stellen.«

»Gut. Toni?«

Keine Antwort.

»Toni?«

Keine Antwort.

»Alette?«

Schweigen.

»Alette?«

Schweigen.

»Sie sind weg, Ashley. Sie sind jetzt wieder eine Einheit. Damit sind Sie geheilt.«

Er sah, wie Ashley aufstrahlte.

»Wenn ich bis drei zähle, werden Sie aufwachen. Eins ... zwei . drei .«

Ashley schlug die Augen auf und lächelte ihn glückselig an. »Es - es ist soweit, nicht?«

Er nickte. »Ja.«

Sie war begeistert. »Ich bin frei. Oh, ich danke Ihnen, Gilbert! Ich - ich habe das Gefühl, als ob ein schwarzer Schleier von mir genommen wäre.«

Dr. Keller ergriff ihre Hand. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue. In den nächsten Monaten werden wir noch ein paar Untersuchungen vornehmen, aber wenn sie so verlaufen, wie ich glaube, nun, dann werden wir Sie nach Hause schicken. Ich werde dafür sorgen, daß Sie ambulant weiterbehandelt werden, wo immer Sie sich niederlassen wollen.«

Ashley nickte. Sie war so aufgewühlt, daß sie kein einziges Wort hervorbrachte.

28


Im Laufe der nächsten Monate ließ Otto Lewison Ashley von drei Psychiatern untersuchen. Sie wandten sowohl Hypnothe-rapie als auch Natriumamytal an.

»Hallo, Ashley, ich bin Dr. Montfort. Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen. Wie fühlen Sie sich?«

»Ich fühle mich wunderbar, Doktor. Es ist, als hätte ich gerade eine lange Krankheit hinter mir.«

»Halten Sie sich für einen schlechten Menschen?«

»Nein. Ich weiß, daß einige schlimme Sachen passiert sind, aber ich glaube nicht, daß ich dafür verantwortlich bin.«

»Hassen Sie jemanden?«

»Nein.«

»Was ist mit Ihrem Vater? Hassen Sie den?«

»Ich habe ihn gehaßt. Aber jetzt nicht mehr. Ich glaube, er konnte sich nicht anders verhalten. Ich hoffe nur, daß es ihm jetzt gutgeht.«

»Möchten Sie ihn wiedersehen?«

»Ich glaube, das sollte ich lieber bleibenlassen. Er führt sein eigenes Leben. Und ich möchte ein neues Leben anfangen.«

»Ashley?«

»Ja.«

»Ich bin Dr. Vaughn. Ich möchte ein bißchen mit Ihnen plaudern.«

»Von mir aus.«

»Erinnern Sie sich an Toni und Alette?«

»Natürlich. Aber sie sind weg.«

»Wie stehen Sie zu ihnen?«

»Am Anfang war ich entsetzt, aber jetzt weiß ich, daß ich sie gebraucht habe. Ich bin ihnen dankbar.«

»Schlafen Sie nachts gut?«

»Ja, jetzt schon.«

»Erzählen Sie mir, was Sie träumen.«

»Früher hatte ich schreckliche Träume. Ständig hat mich irgend etwas verfolgt. Ich dachte, ich würde ermordet werden.«

»Haben Sie diese Träume immer noch?«

»Nein. Ich habe jetzt ganz friedliche Träume. Ich sehe leuchtende Farben und fröhliche Menschen. Letzte Nacht habe ich geträumt, ich wäre im Skiurlaub und würde eine Abfahrt hinunterrasen. Es war wunderbar. Die Kälte macht mir überhaupt nichts mehr aus.«

»Wie stehen Sie zu Ihrem Vater?«

»Ich möchte, daß er glücklich ist. Genauso glücklich wie ich.«

»Ashley.«

»Ja.«

»Ich bin Dr. Hoelterhoff.«

»Wie geht es Ihnen, Doktor?«

»Man hat mir nicht gesagt, was für eine Schönheit Sie sind. Halten Sie sich für schön?«

»Ich glaube, ich bin ganz attraktiv .«

»Ich habe gehört, daß Sie eine hinreißende Stimme haben. Glauben Sie das auch?«

»Ich habe keine geschulte Stimme, aber ja -«, sie lachte -, »ich glaube schon, daß ich die richtigen Töne treffen kann.«

»Und man hat mir gesagt, daß Sie malen. Sind Sie gut?«

»Ja. Ich glaube, für eine Hobbymalerin bin ich ganz gut.«

Er musterte sie nachdenklich. »Haben Sie irgendwelche Probleme, über die Sie sprechen möchten?«

»Mir fällt nichts ein. Ich werde hier sehr gut behandelt.«

»Wie ist Ihnen bei dem Gedanken zumute, daß Sie die Klinik verlassen und wieder hinaus in die Welt kommen?«

»Ich habe viel darüber nachgedacht. Es macht mir ein bißchen angst, aber gleichzeitig ist es aufregend.«

»Glauben Sie, Sie hätten draußen Angst?« »Nein. Ich möchte mir eine neue Existenz aufbauen. Ich kenne mich mit Computern aus. Bei der Firma, bei der ich gearbeitet habe, komme ich nicht mehr unter, aber ich bin davon überzeugt, daß ich bei einer anderen Firma Arbeit finde.«

Dr. Hoelterhoff nickte. »Besten Dank, Ashley. Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen.«

Dr. Montfort, Dr. Vaughn, Dr. Hoelterhoff und Dr. Keller waren in Otto Lewisons Büro versammelt. Er studierte gerade ihre Berichte. Als er fertig war, blickte er zu Dr. Keller auf und lächelte.

»Meinen Glückwunsch«, sagte er. »Sämtliche Berichte sind positiv. Sie haben wunderbare Arbeit geleistet.«

»Sie ist eine wunderbare Frau. Etwas ganz Besonderes, Otto. Ich bin froh, daß sie wieder ein normales Leben führen kann.«

»Ist sie bereit, sich ambulant weiterbehandeln zu lassen, wenn sie von hier weg ist?«

»Unbedingt.«

Otto Lewison nickte. »Sehr gut. Dann werde ich die Entlassungspapiere in Auftrag geben.« Er wandte sich an die anderen Psychiater. »Ich danke Ihnen, meine Herren. Sie haben uns sehr geholfen.«

29


Zwei Tage später wurde Ashley in Dr. Lewisons Büro gerufen. Neben dem Leiter der Klinik war auch Dr. Keller anwesend. Ashley war jetzt frei und wollte nach Cupertino zurückkehren, wo inzwischen alles Notwendige in die Wege geleitet worden war, damit sie weiterhin regelmäßig zur Therapie und zu Untersuchungen gehen konnte.

»Nun, heute ist es soweit«, sagte Dr. Lewison. »Sind Sie aufgeregt?«

»Ich bin aufgeregt«, erwiderte Ashley, »ich habe Angst, ich -ich weiß es nicht. Ich komme mir vor wie ein Vogel, der gerade freigelassen wurde. Ich habe das Gefühl, ich kann fliegen.« Ihr Gesicht glühte.

»Ich freue mich, daß Sie uns verlassen, aber - Sie werden mir fehlen«, sagte Dr. Keller.

Ashley nahm seine Hand. »Sie werden mir ebenfalls fehlen. Ich weiß nicht, wie ich - wie ich Ihnen jemals danken soll.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Sie haben mir mein Leben wiedergeschenkt.«

Sie wandte sich an Dr. Lewison. »Sobald ich wieder in Kalifornien bin, besorge ich mir einen Job bei einer Computerfirma. Ich sage Ihnen Bescheid, wie es weitergeht und wie ich mit der ambulanten Therapie zurechtkomme. Ich möchte sichergehen, daß mir so etwas nicht noch mal passiert.«

»Ich glaube, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, beruhigte sie Dr. Lewison.

Als sie gegangen war, wandte sich Dr. Lewison an Gilbert Keller. »Das entschädigt einen doch für viele Fälle, bei denen uns kein Erfolg vergönnt war, nicht wahr, Gilbert?«

Es war ein sonniger Junitag. Sie ging die Madison Avenue in New York entlang und betrachtete ihre Umgebung mit einem derart strahlenden Lächeln, daß sich die anderen Passanten nach ihr umdrehten. Noch nie war sie so glücklich gewesen. Sie dachte an das herrliche Leben, das vor ihr lag, und an all das, was sie zu tun gedachte. Es hätte ein schlimmes Ende mit mir nehmen können, dachte sie, aber jetzt war alles gut ausgegangen, genauso, wie sie es sich in ihren Gebeten immer gewünscht hatte.

Sie ging in die Pennsylvania Station. Es war der belebteste Bahnhof von ganz Amerika, ein reizloses Labyrinth aus stickigen Räumen und endlosen Gängen, durch die sich die Menschenmassen drängten. Und jeder einzelne hat seine eigene Geschichte, dachte sie. Jeder will zu einem anderen Ziel, führt sein eigenes Leben, und jetzt werde auch ich mein eigenes Leben führen.

Sie besorgte sich einen Fahrschein aus dem Automaten. Ihr Zug fuhr gerade ein. So ein Glück, dachte sie.

Sie stieg ein und setzte sich ans Fenster. Sie war ziemlich aufgeregt, wenn sie nur daran dachte, was vor ihr lag. Mit einem leichten Ruck fuhr der Zug an und wurde dann allmählich schneller. Endlich bin ich auf dem Weg. Und als der Zug Kurs auf die Hamptons nahm, stimmte sie ein leises Lied an.

»Will ich in mein Gärtlein gehn, will mein Zwieblein gießen, steht ein bucklicht Männlein da, fängt gleich an zu niesen ...«

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