In den ersten Stunden nach dem Start war es in dem überfüllten Schiff fast nicht zum Aushalten. Es stank nach Erbrochenem und Urin, und Menschen jeden Alters schwärmten schreiend und rangelnd durch die Kammer.
Rees führte das Problem nicht nur auf die Schwerelosigkeit zurück, sondern auch auf den Sturz des Schiffes selbst. Auf einmal damit konfrontiert zu werden, daß die Welt nun doch keine unbegrenzte Scheibe war — zu erkennen, daß das Floß im Grunde nicht mehr gewesen war als eine aus Eisen zusammengestückelte Motte in der Luft — schien einige Passagiere an den Rand des Wahnsinns getrieben zu haben.
Vielleicht hätte man die Fenster beim Start verdunkeln sollen.
Rees verbrachte lange Stunden damit, die Errichtung eines Netzes aus Seilen und Kabeln zu überwachen, das sich wie ein Spinnennetz durch das Observatorium spannte. »Wir werden das Innere mit dieser isotropischen Struktur ausfüllen«, hatte Hollerbach mit Nachdruck geraten. »Konstruiert es so, daß es nach allen Richtungen gleich aussieht. Dann wird es nicht ganz so schlimm werden, wenn wir den Kern erreichen und das ganze verdammte Universum sich auf den Kopf stellt…«
Bald wickelten die Passagiere Decken um die Seile und grenzten kleine Privatsphären ab. Das High-Tech-Ambiente der Brücke begann direkt heimelig zu wirken, als sich die provisorische Zeltstadt immer weiter ausdehnte; menschliche Gerüche, nach Essen und Ausscheidungen, durchdrangen die Luft. Rees gönnte sich eine Pause und bahnte sich einen Weg durch das zerstörte Interieur zu dem, was früher einmal das Dach des Observatoriums gewesen war. Die Hülle war noch immer transparent. Rees preßte das Gesicht gegen das warme Material und starrte hinaus. Unwiderstehlich überkam ihn die Erinnerung daran, wie er damals aus dem Bauch eines Wals hinausgeschaut hatte.
Nach dem Sturz vom Floß hatte die Brücke schnell an Geschwindigkeit gewonnen und ihre Fluglage so ausgerichtet, daß ihr kurzer, dicker Bug auf das Zentrum des Nebels wies. Jetzt raste sie abwärts durch die Luft, und der Nebel hatte sich in eine riesige, dreidimensionale Darstellung perspektivischer Bewegung verwandelt. In der Nähe befindliche Wolken schossen vorüber, und in mittlerer Entfernung stehende Sterne glitten ins Weltall und sogar am Ende des viele hundert Meilen weiten Blickfeldes drifteten blasse Sterne langsam nach oben.
Das Floß war schon lange zu einem Fleck geworden, der sich in der pinkfarbenen Unendlichkeit über ihnen verlor.
Ein kurzes Zittern lief durch die Hülle. Dann eruptierte lautlos eine Dampfwolke wenige Meter über Rees’ Kopf und wurde sofort weggewischt; ein Indiz dafür, daß Gords improvisiertes Höhensteuerungssystem funktionierte.
Die Außenwandung fühlte sich an seinem Gesicht jetzt wärmer an als sonst. Die Windgeschwindigkeit dort draußen mußte phänomenal sein, doch durch das reibungsarme Material der Brücke konnte die Luft harmlos vorbeiströmen, ohne die Außenwandung nennenswert zu erwärmen. Rees’ müder Geist begab sich auf spekulative Bahnen. Wenn man den Temperaturanstieg maß, überlegte er, konnte man vielleicht irgendwie einen Schätzwert des Reibungskoeffizienten der Hülle ermitteln. Allerdings würde man natürlich auch einige Angaben zu den Wärmeleiteigenschaften des Materials benötigen…
»Es ist schon erstaunlich, nicht wahr?«
Nead war an seine Seite getreten. Der jüngere Mann wiegte einen Sextanten in den Armen. Rees lächelte. »Was machst du hier?«
»Ich soll unsere Geschwindigkeit messen.«
»Und?«
»Unter den Schwerkraftverhältnissen hier draußen fliegen wir mit Grenzgeschwindigkeit. Ich schätze, daß wir den Kern in ungefähr zehn Schichten erreichen…«
Nead wirkte verträumt, als er seine Meldung machte; seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Ausblick. Aber seine Wort hatten eine elektrisierende Wirkung auf Rees. Zehn Schichten… in gerade zehn Schichten würde er den Kern sehen, und das Schicksal der Rasse würde sich entscheiden.
Er kehrte wieder in die Gegenwart zurück. »Wir sind bisher nicht dazu gekommen, unser Training abzuschließen, Gord. Oder?«
»Wir hatten andere Prioritäten«, erwiderte Gord trocken.
»Laß uns eine Heimat finden, wo wir immer Zeit haben, Leute auszubilden — sogar Zeit, aus dem Fenster zu schauen…«
Jaen fing schon an zu reden, bevor sie die beiden erreicht hatte. »Und wenn du diesem unerträglichen alten Narren nicht endlich sagst, daß er seinen Sinn für das Wesentliche offenbar auf dem Floß zurückgelassen hat, übernehme ich keine Verantwortung mehr für meine Aktionen, Rees!«
Rees stöhnte innerlich. Seine Pause war wohl vorbei. Er drehte sich um, und Jaen nahm ihn in Beschlag. Sie hatte Hollerbach im Schlepptau, der sich vorsichtig durch das Netz aus Seilen hangelte. »Ich glaube, so hat kein popeliger Wissenschaftler Zweiter Klasse mehr mit mir gesprochen seit… seit…«, murmelte der alte Wissenschaftler.
Rees hielt die Hände hoch. »Kühlt euch ab, ihr beiden. Fang noch mal von vorne an, Jaen. Wo liegt das Problem?«
»Das Problem«, fauchte Jaen und riß an ihrem Daumen, »ist dieser dumme alte Furz, der…«
»Was, du unverschämtes…«
»Haltet die Klappe!« fuhr Rees dazwischen.
Jaen kochte vor Zorn, zwang sich aber sichtlich zur Ruhe. »Rees. Bin ich für das Teleskop verantwortlich oder nicht?«
»Bist du.«
»Und mein Auftrag lautet, daß die Navigatoren — und die Boneys, ihre sogenannten Assistenten — all die Daten erhalten, die sie für die Festlegung unserer Flugbahn um den Kern benötigen. Und das muß unsere erste Priorität sein. Richtig?«
Rees nibbelte zweifelnd seine Nase. »Ich kann dazu nichts sagen…«
»Dann sag Hollerbach, daß er seine verdammten Finger von meiner Ausrüstung lassen soll!«
Mit unterdrücktem Grinsen wandte Rees sich an Hollerbach. »Was hast du vor, Chef-Wissenschaftler?«
»Rees…« Der alte Mann verschränkte seine langen Finger ineinander und zupfte an dem lockeren Fleisch. »Wir haben jetzt nur noch ein brauchbares wissenschaftliches Instrument. Ich möchte auch nicht die Kriterien für die Besatzung dieses Schiffes nachkarten. Natürlich geht es zunächst um die Größe des Genpools…« Er schlug mit der Faust auf die Handfläche. »Trotzdem nähern wir uns genau in diesem Augenblick der Blindheit dem größten wissenschaftlichen Wunder des Kosmos: dem Kern selbst…«
»Er will das Teleskop auf den Kern richten«, beklagte sich Jaen. »Kannst du dir das vorstellen?«
»Die Erkenntnisse, die selbst durch eine nur oberflächliche Untersuchung gewonnen werden können, wären unbezahlbar.«
»Hollerbach, wenn wir dieses verdammte Teleskop nicht zum Navigieren einsetzen, könnten wir den Kern gründlicher untersuchen, als wir es uns je vorgestellt haben!« Jaen sah Rees an. »Also?«
»Also was?«
Hollerbach blickte Rees traurig an. »Na gut, Kumpel, ich glaube, daß diese kleine lokale Auseinandersetzung nur der erste unmögliche Streit ist, den du zu schlichten hast.«
Rees fühlte sich verwirrt und isoliert. »Aber? warum ich?«
»Weil Decker noch auf dem Floß ist«, fauchte Jaen. »Und wen hätten wir sonst hier?«
»Richtig, wen sonst?« murmelte Hollerbach. »Tut mir leid, Rees; ich glaube nicht, daß du eine große Wahl hast…«
»Wie dem auch sei; was ist jetzt mit dem verdammten Teleskop?«
Rees versuchte sich zu konzentrieren. »Gut. Schau, Hollerbach, ich muß Jaen recht geben, daß ihre Arbeit im Moment Vorrang hat…«
Jaen stieß einen Freudenschrei aus und gestikulierte wild herum.
»Du mußt deine Untersuchungen also im Rahmen dieser Arbeiten durchführen. Alles klar? Aber…«, beeilte er sich, »wenn wir nahe genug am Kern sind, werden die Dampfdüsen ohnehin überflüssig; damit würde Navigation zur Zeitverschwendung… und das Teleskop kann für Hollerbachs Studien freigegeben werden. Vielleicht wird Jaen dir sogar helfen.« Er blies die Luft aus den Wangen. »Wäre das ein Kompromiß?«
Jaen grinste und schlug ihm auf die Schulter. »Wir machen dich noch zu einem Mitglied des Komitees.« Sie drehte sich um und ging zurück ins Innere der Kammer.
Rees’ Schultern fielen herab. »Hollerbach, ich bin noch zu jung, um Kapitän zu sein. Und ich will den Job auch gar nicht.«
Hollerbach lächelte milde. »Allein dadurch bist du genauso qualifiziert wie jeder andere. Rees, ich befürchte, daß du dich der Sache stellen mußt; du bist der einzige an Bord, der Erfahrungen sowohl auf dem Gürtel, dem Floß und der Knochenwelt gesammelt hat… und so bist du die einzige Führungspersönlichkeit, die noch am ehesten von allen verschiedenen Parteien auf dem Schiff akzeptiert werden könnte. Und schließlich sind es dein Einsatz und deine Entschlossenheit gewesen, die uns so weit gebracht haben. Ich fürchte, daß du jetzt diese Verantwortung tragen mußt.
Und es stehen einige schwierige Entscheidungen an. Vorausgesetzt, wir umrunden den Kern erfolgreich, werden wir mit Lebensmittelrationierungen und extremen Temperaturen in den unbekannten Regionen außerhalb des Nebels konfrontiert werden. Sogar Langeweile kann lebensbedrohend werden! Du wirst dafür sorgen müssen, daß wir unter den widrigsten Umständen funktionieren. Ich werde dich natürlich in jeder Hinsicht unterstützen.«
»Danke. Diese Vorstellung gefällt mir zwar nicht, aber du hast sicher recht. Und du kannst anfangen, mir zu helfen«, sagte er scharf, »indem du deine Differenzen mit Jaen selbst beilegst.«
Hollerbach grinste reumütig. »Diese junge Frau ist ziemlich energisch.«
»Hollerbach, was erwartest du überhaupt dort unten zu sehen? Ich glaube, daß eine Nahbetrachtung des Schwarzen Lochs spektakulär genug sein wird…«
Hollerbachs pergamentartige Wangen röteten sich vor Eifer. »Weit mehr als das. Habe ich dir jemals meine Theorien zur Gravitationschemie dargelegt? Habe ich das?« Hollerbach schaute enttäuscht drein ob der Kürze seiner Vorlesung, aber Rees ließ ihn weitermachen; er war dankbar für die paar Minuten, in denen er wieder Student sein konnte wie damals, als Hollerbach und die anderen Dozenten ihnen in jeder Schicht die Mysterien der vielen Universen nahegebracht hatten.
»Du wirst dich an meine Überlegungen zu einer neuen Art ›Atom‹ erinnern«, begann Hollerbach. »Seine Subpartikel vielleicht selbst schon Singularitäten — werden eher durch die Gravitation als durch die anderen Fundamentalkräfte zusammengehalten. Unter den entsprechenden Bedingungen, der erforderlichen Temperatur und Druck sowie den richtigen Gravitationsgradienten wäre eine neue ›Gravitations-Chemie‹ denkbar.«
»Im Kern«, erkannte Rees.
»Ja!« bestätigte Hollerbach. »Bei unserem Vorbeiflug am Kern werden wir ein neues Universum beobachten, mein Freund, eine neue Phase der Schöpfung, in der…«
Über Hollerbachs Schulter hing ein breites, blutiges Gesicht. Rees runzelte die Stirn. »Was willst du, Roch?«
Der große Mineur grinste. »Ich wollte nur darauf hinweisen, daß euch noch etwas fehlt. Seht her.« Er zeigte mit dem Finger.
Rees drehte sich um. Zunächst konnte er nichts Ungewöhnliches erkennen — als er dann aber die Augen zusammenkniff, ortete er einen bräunlichen Fleck im nach oben wegstrebenden Regen der Sterne. Er war zu weit entfernt, um Details auszumachen, aber die Erinnerung ergänzte den Rest; und wieder sah er eine Oberfläche aus Haut, die sich über Knochen spannte, weiße Gesichter, die auf einen entfernten Fleck in der Luft gerichtet waren…
»Die Boneys«, meinte er.
Roch öffnete seinen zerschlagenen Mund und lachte; Hollerbach wich angewidert zurück. »Deine Heimat, Rees«, sagte Roch heiser. »Willst du nicht mal vorbeischauen und alte Freunde begrüßen?«
»Roch, geh zurück an deine Arbeit.«
Roch lachte erneut auf und folgte der Anweisung.
Rees starrte einige Minuten lang auf die Hülle, bis die Miniaturwelt der Boneys im Dunst weit oben verschwunden war. Noch ein Teil seines Lebens unwiederbringlich verloren…
Erschauernd wandte er sich vom Fenster ab und tauchte wieder mit Hollerbach in das Gewimmel und die Wärme der Brücke ein.
Fast antriebslos stürzte das havarierte alte Schiff mit seiner verletzlichen menschlichen Fracht, die in seinem Innern umherwuselte, dem Schwarzen Loch entgegen.
Der Himmel draußen wurde dunkel und füllte sich mit den phantastischen, gewundenen Sternskulpturen, die Rees schon auf seiner ersten Reise in diese Tiefen bewundert hatte. Die Wissenschaftler ließen die Hülle im durchsichtigen Zustand; Rees hoffte, daß dies die hilflosen Passagiere von den zunehmenden Beschwernissen der Fahrt ablenken würde. Und so kam es auch; im Verlauf der Schichten verbrachten immer mehr Leute ihre Zeit an den großen Fenstern, und auf dem Schiff breitete sich eine Stimmung der Ruhe, ja der Ehrfurcht aus.
Jetzt, als die dichteste Annäherung an den Kern in knapp einer Schicht bevorstand, näherte sich die Brücke einer Walschule; und die Fenster waren mit menschlichen Gesichtern übersät. Vorsichtig machte Rees Platz für Hollerbach, und Seite an Seite schauten sie nach draußen.
Auf diese Entfernung wirkte jeder Wal wie eine dünne Rakete, wobei ihr geschrumpftes Fleisch eine aerodynamische Hülle um die inneren Organe bildete.
Sogar die großen Augen waren geschlossen, so daß die Wale blind dem Kern entgegenfielen — und sie waren in so vielen Reihen über, unter und um die Brücke herum gestaffelt, so viele, daß sie einen Horizont aus blassem Fleisch bildeten.
»Wenn ich gewußt hätte, daß es so spektakulär werden würde, wäre ich damals bei ihnen geblieben«, murmelte Rees.
»Dann würdest du nicht überlebt haben«, sagte Hollerbach. »Schau gut hin.« Er deutete auf den nächsten Wal. »Siehst du, wie er glüht?«
Rees bemerkte ein rosafarbenes Glühen am Kopf des Wals. »Der Luftwiderstand?«
»Offensichtlich«, bestätigte Hollerbach ungeduldig. »In diesen Tiefen ist die Atmosphäre viskos wie Suppe. Aber sieh weiter hin.«
Rees hielt den Blick auf den Kopf des Wals gerichtet — und wurde mit dem Anblick eines sich entflammenden, zwei Meter großen Stücks Walhaut belohnt, das von dem beschleunigenden Tier weggewirbelt wurde. Rees beobachtete die Schule jetzt wesentlich aufmerksamer; durch die wirbelnde Bewegung konnte er ähnliche winzige Flammen brennenden Fleisches und Funken der abgestoßenen Masse erkennen. »Es sieht so aus, als ob die Wale sich auflösten, als ob ihr Luftwiderstand zu groß wäre… Vielleicht haben sie eine falsche Bahn um den Kern eingeschlagen, oder unsere Anwesenheit irritiert sie…«
Hollerbach schnaufte ungehalten. »Sentimentaler Quatsch. Rees, diese Wale wissen viel besser, was sie tun, als wir.«
»Aber warum brennen sie dann?«
»Ich muß mich über dich wundern, Junge; du hättest es sofort sehen müssen, als du auf den Wal geklettert bist und seine schwammartige Außenhaut untersucht hast.«
»Damals war ich mehr daran interessiert, herauszufinden, ob ich sie essen konnte«, kommentierte Rees trocken. »Aber…« Er ging es in Gedanken durch. »Du meinst, daß die Außenhülle den Zweck hat, abgestoßen zu werden?«
»Genau! Die äußerste Schicht verbrennt und fällt ab. Eine der einfachsten und gleichzeitig wirkungsvollsten Arten der Abstrahlung der Wärme, die durch extremen Luftwiderstand verursacht wird… diese Methode hat auch in den Anfängen der bemannten Raumfahrt auf der Erde Verwendung gefunden, wie ich den Aufzeichnungen des Schiffes entnommen habe… Aufzeichnungen, die jetzt natürlich für immer verloren sind.«
Plötzlich war die Außenwand der Brücke in einen Feuerball gehüllt, und die aus den Fenstern schauenden Passagiere wichen vor den Flammen zurück, die gerade ein paar Zentimeter vor ihren Gesichtern aufloderten.
Es war so schnell vorbei, wie es gekommen war.
»Das war allerdings eine ungeplante Ablösung«, sagte Rees grimmig. »Das war eine unserer Dampfdüsen. Soviel zur Höhensteuerung.«
»Ah.« Hollerbach nickte bedächtig und runzelte die Stirn. »Das kam früher, als ich erwartet hatte. Ich hatte eigentlich die Hoffnung gehegt, sogar bei der dichtesten Annäherung noch bis zu einem gewissen Grad manövrieren zu können — an diesem Punkt kann der Kurs des Schiffes aber ohnehin am leichtesten korrigiert werden.«
»Ich befürchte, daß wir uns von jetzt an mit dem behelfen müssen, was wir haben. Wir fliegen nun ohne Dampf, wie Pallis sich ausdrücken würde… Wir können nur hoffen, daß unser Kurs halbwegs richtig ist. Komm, wir sprechen mit den Navigatoren. Aber halte dich zurück. Wie die Situation auch immer aussieht, es besteht kein Grund zur Panik.«
Die Mitglieder des Navigationsteams beantworteten Rees’ Fragen je nach ihrem Ausbildungs- und Tätigkeitsschwerpunkt. Die ehemaligen Floß-Wissenschaftler brüteten über Diagrammen mit Bahnkurven, die wie wirres Haar vom Kern abstanden, während die Boneys kleine Metallstücke in die Luft warfen, um ihre Flugeigenschaften zu testen.
»Nun?« fragte Rees ungeduldig, nachdem er sich das einige Minuten lang angesehen hatte.
Quid drehte sich zu ihm um und zuckte freudig die Achseln. »Wir sind noch zu weit draußen. Wer weiß? Wir müssen abwarten und Serien, was kommt.«
Jaen kratzte sich am Kopf. Sie hatte sich einen Stift hinter das Ohr geklemmt. »Rees, wir befinden uns hier in einer fast chaotischen Situation. Weil wir schon weit vom Startpunkt entfernt waren, als wir die Kontrolle über das Schiff verloren haben, können wir nicht sagen, in welchem Ausmaß der letzte Abschnitt unserer Flugbahn noch von den Ausgangsbedingungen bestimmt wird…«
»In anderen Worten«, folgerte Rees gereizt, »wir müssen abwarten. Großartig.«
Jaen wollte protestieren, besann sich dann aber anders.
Quid hieb ihm auf die Schulter. »Schau, es gibt rein gar nichts, was wir tun könnten. Du hast dein Bestes getan… und wenn schon nichts anderes, so hast du dem alten Quid wenigstens einen verdammt interessanten Ausflug beschert.«
»Und mit dieser Beurteilung stehst du nicht allein, mein Boney-Freund«, ließ sich Hollerbach lauthals vernehmen. »Jaen! Ich vermute, daß du das Teleskop jetzt nicht mehr brauchst?«
Jaen grinste.
Es dauerte eine halbe Stunde, das Instrument neu auszurichten und zu fokussieren. Dann drängten sich Rees, Jaen, Hollerbach und Nead um den kleinen Monitor.
Zuerst war Rees enttäuscht; der Bildschirm wurde von der dichten schwarzen Wolke aus Sternentrümmern ausgefüllt, die den eigentlichen Kern umgab. Ähnliche Bilder hatte man auch schon vom Floß aus beobachtet. Doch als die Minuten verstrichen und die Brücke in die Randzone der Hülle eindrang, teilte sich die eintönige Wolke vor ihnen, und die Trümmer begannen eine perspektivische Struktur anzunehmen. Blaßrosa Licht drang zu ihnen empor. Bald zogen sich Schleier zermahlener Sternenmaterie bogenförmig über das Schiff und schlossen die Brücke wie einen zerbrechlichen Behälter ein.
Dann verzogen sich die Wolken plötzlich — und sie hingen direkt über dem Kern.
»Mein Gott.« Jaen holte tief Luft. »Wie… wie ein Planet…«
Der Kern war eine kompakte, um sein Schwarzes Loch zentrierte Masse, eine fast hundert Kilometer durchmessende, abgeplattete Kugel. Und tatsächlich war er eine Welt, die in rotes und rosa Licht getaucht war. Seine Oberflächenschichten — auf denen nach Rees’ Einschätzung eine Schwerkraft von mehreren hundert Gravos lastete — waren klar definiert und wiesen fast topographische Merkmale auf. Es gab Ozeane aus einer zähflüssigen Materie, dick und rot wie Blut, die gegen Festland schwappten, das sich über die mathematisch definierte Oberfläche der Kugel erhob. Es existierten sogar kleine Bergketten, wie Falten in der Schale einer zusammengeschrumpelten Frucht, und rauchartige Wolken, die sich schnell über die Ozeane bewegten. Es gab auch tektonische Bewegungen: die Meere warfen kilometerlange Wellen, ständig schienen sich neue Gebirge aufzufalten, und sogar die Küstenlinien der fremdartigen Kontinente veränderten permanent ihre Konturen. Es war, als ob irgendeine große Wärmequelle die Kruste des Kerns zu konstanter Falten- und Blasenbildung anregte.
Wie in der Hölle, dachte Rees.
Hollerbach befand sich in Ekstase. Er linste so angestrengt in den Monitor, als ob er hineinkriechen wollte. »Gravitationschemie!« krächzte er. »Hier habe ich die Bestätigung. Die Struktur dieser phantastischen Oberfläche kann nur durch den Einfluß von Gravitationschemie aufrechterhalten werden; nur Schwerkraftfesseln können den Kern vor dem Sturz ins Schwarze Loch bewahren.«
»Aber es verändert sich alles so schnell«, sagte Rees. »Metamorphosen auf einer Fläche von wenigen Quadratkilometern, und das in Sekunden.«
Hollerbach nickte hektisch. »Eine solche Geschwindigkeit ist charakteristisch für die dort herrschenden Schwerkraftbedingungen. Wenn du bedenkst, daß wechselnde Gravitationsfelder bei Lichtgeschwindigkeit gedehnt werden, und…«
Jaen schrie auf und zeigte auf den Bildschirm.
Im Zentrum eines der amorphen Kontinente, in die Oberfläche geätzt wie ein kilometerlanges Schachbrett, befand sich ein rechteckiges Gitter aus weiß-rosa Licht.
Spekulationen wallten in Rees auf. »Leben«, flüsterte er.
»Und dazu intelligentes«, ergänzte Hollerbach. »Zwei phantastische Entdeckungen auf einen Blick…«
»Aber wie ist das möglich?« fragte Jaen.
»Die Frage müßte eher lauten, warum es nicht möglich sein sollte«, erwiderte Hollerbach. »Die Grundvoraussetzung für Leben ist die Existenz steiler Energiegradienten… Die Gravitation ist eines der sich schnell entwickelnden Muster; die Universalprinzipien der Selbstorganisation wie zum Beispiel die Feigenbaum-Reihe, die für das Entstehen von Strukturen aus dem Chaos verantwortlich sind, fordern beinahe das Entstehen von Organisationsformen.«
Jetzt erkannten sie noch mehr Gitter. Einige überzogen ganze Kontinente und schienen das ›Land‹ vor den großen Wellen abzuschirmen. Lichtbahnen, die an Straßennetze erinnerten, umspannten die Kugel. Und — bei maximaler Vergrößerung — konnte Rees sogar einzelne Strukturen orten: Pyramiden, Tetraeder und Würfel.
»Und warum sollte sich kein intelligentes Leben entwickeln?« spann Hollerbach den Faden verträumt weiter. »Auf einer Welt mit solch radikalen Veränderungen wäre eine Selektion auf der Basis der Organisationsprinzipien eine höchst plausible Annahme. Bedenkt nur, wie die Gravitationswesen sich bemühen, ihre geordneten Umwelten vor dem Chaos zu bewahren!«
Hollerbach schwieg, aber Rees’ Gedanken jagten weiter. Vielleicht waren diese Wesen in der Lage, selbst Schiffe zu bauen, mit denen sie über Einstein-Rosen-Brücken andere, auch an einem Schwarzen Loch positionierte ›Planeten‹ erreichen und sich dort mit ihren wie auch immer gearteten Verwandten treffen konnten. Noch wurde diese fremdartige Biosphäre von der aus der nebularen Trümmerwolke einströmenden Materie gespeist einem kontinuierlichen Strom von Sternenbruchstücken, die sich auf hyperbolischen Flugbahnen auf den Kern zubewegten — und von innen durch die Gammastrahlung der sich um das Schwarze Loch spannenden Akkretionsscheibe, die sich tief im Innern des Kerns befand. Aber irgendwann würde der Nebel seine Energie abgegeben haben, und die Gravitationswelt würde schutzlos im Raum stehen, nur noch von der Wärmeenergie des Kerns am Leben erhalten, und ganz zum Schluß von dem langsam seine Energie abgebenden Schwarzen Loch selbst.
Er realisierte, daß die Gravitationswesen ihre rotierenden Welten auch dann noch bevölkern würden, wenn der Nebel schon längst vergangen war. Mit einem Gefühl der Vergänglichkeit wurde ihm bewußt, daß diese Wesen die eigentlichen Bewohner dieses Kosmos waren; die Menschen dagegen, weich, schmutzig und schwach, waren nur ein Intermezzo.
Sie näherten sich dem ›planeten‹-nächsten Punkt.
Der Kern verwandelte sich in eine gegliederte Landschaft, und die Passagiere schrien auf oder seufzten, als die Brücke in einer Höhe von wenigen Dutzend Kilometern über einem brodelnden Ozean dahinraste. Wale schwebten über den Meeren, bleich und unerschütterlich wie Geister.
Rees spürte einen Zug an seinem Fuß. Irritiert ergriff er eine Verstrebung des Teleskops und zog sich zum Monitor zurück; doch der Zug ließ nicht nach und wurde schließlich unangenehm…
Er begann sich Sorgen zu machen. Die Brücke sollte sich eigentlich im freien Fall befinden. Wurde sie irgendwie daran gehindert? Er sah durch die durchsichtige Hülle und erwartete fast — was? Daß die Brücke in irgendeine klebrige Wolke gestürzt war, in die Gischt des fremdartigen Meeres dort unten?
Aber da war nichts.
Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Teleskop — und bemerkte, daß Hollerbach jetzt auf dem Kopf stand. Mit ausgestreckten Armen hielt er sich am Bildschirm fest und versuchte energisch, sein Gesicht mit dem Bild auf dem Monitor auf gleiche Höhe zu bringen. Bizarrerweise schienen er und Rees zu den entgegengesetzten Enden des Schiffes hingezogen zu werden. Nead und Jaen waren in ähnlicher Weise um die Basis des Teleskops konfiguriert und versuchten, in diesem seltsamen neuen Feld einen Halt zu finden.
Schreie ertönten in der Kammer. Die instabile Struktur aus Seilen und Planen begann sich aufzulösen; Kleidungsstücke, Haushaltswaren und Menschen glitten auf die Wandung zu.
»Was, zum Teufel, geht da vor sich, Hollerbach?«
Der alte Wissenschaftler ballte rhythmisch die Hände. »Verdammt, das bekommt meiner Arthritis nicht…«
»Hollerbach…!«
»Es ist die Flut!« ächzte Hollerbach. »Bei den Boneys, Junge, hast du denn gar nichts in meinen Orbitalvorlesungen gelernt? Wir stehen jetzt so nahe am Kern, daß sein Gravitationsfeld in einem Bereich von mehreren Metern schwankt.
»Zum Teufel, Hollerbach, wenn du das alles schon gewußt hast, warum hast du uns dann nicht gewarnt?«
Hollerbach ließ diesen Vorwurf an sich abprallen. »Weil es klar war, Junge…! Und gleich wird es erst richtig interessant. Sobald der Gravitationsgradient das Luftwiderstandsmoment übersteigt — ah, da haben wir es schon…«
Das Bild auf dem Monitor verschwamm, als sich die Teleskopverankerung löste. Der mahlende Ozean wirbelte über Rees’ Kopf. Jetzt kollabierte die provisorische Konstruktion völlig und schleuderte die bestürzten Passagiere umher. Blutspritzer erschienen auf Haut, Kleidung und Wänden.
Das Schiff drehte sich.
»Mit dem Bug voran!« Hollerbach, der sich noch immer am Teleskop festklammerte, mußte schreien, um sich Gehör zu verschaffen. Das Schiff wird sich gleich mit dem Bug voran zum Kern stabilisieren…«
Das Vorderschiff schwang zum Kern herum, raste an ihm vorbei und wurde wieder herumgerissen, als ob die Brücke eine große Magnetnadel wäre, die dicht an einen Eisenbrocken gehalten wurde. Mit jedem Schwung vergrößerte sich die Verwüstung in der Kammer; jetzt sah Rees erschlaffte Körper zwischen den herumwirbelnden Passagieren. Die Szenerie erinnerte ihn auf eine absurde Art an den Tanz, den er im Theater des Lichts gesehen hatte; Brücke und Kern schwebten wie Tänzer in einem Luftballett, und das Schiff tanzte Walzer in den Schwerkraftarmen des Schwarzen Lochs.
Schließlich stabilisierte sich das Schiff und wies mit seiner Längsachse auf den Kern. Die Passagiere und ihre Habseligkeiten waren in die Enden der zylindrischen Kammer gepreßt worden, wo die Gravitationswirkung am stärksten war. Rees und die anderen Wissenschaftler, die sich noch immer an die Teleskopbefestigung klammerten, befanden sich nahe am Schwerpunkt des Schiffes und waren, wie Rees feststellte, noch relativ glimpflich davongekommen.
Blutrote Ozeane zogen vor den Fenstern vorbei.
»Wir müssen gleich den Wendepunkt erreicht haben«, rief Rees. »Wenn wir noch die nächsten fünf Minuten durchhalten und das Schiff im Schwerkraft-Gezeitenstrudel nicht auseinanderbricht…«
Nead hatte die Arme um das Rohr des Teleskops geschlungen und starrte auf den Ozean des Kerns. »Ich glaube, daß wir mehr als das überstehen müssen«, unkte er.
»Was?«
»Sieh doch!« Nead deutete hinaus — und er verlor seinen Halt und trieb vom Teleskop ab. Er rutschte auf der glatten Oberfläche des Instruments herum und versuchte, sich erneut festzuklammern. Dann verlor er völlig den Halt. Mit weiter auf das Fenster gerichteten Augen stürzte er dreißig Meter tief in die wimmelnde Menschenmenge, die in das eine Ende der zylindrischen Kammer geknäult war.
Er traf mit einem krachenden Geräusch und einem vielstimmigen Schmerzensschrei auf. Rees schloß die Augen.
»Rees. Sieh dir an, was er uns sagen wollte«, schrie Hollerbach alarmiert.
Rees drehte sich um.
Das Meer aus Blut wogte immer noch, aber jetzt machte Rees einen einzelnen ›Whirlpool‹ aus, der sich als kleiner Knoten unter der Brücke manifestierte. In diesem Mahlstrom bewegten sich zielstrebig große Schatten. Und — der ›Whirlpool‹ bewegte sich synchron mit dem stürzenden Schiff, verfolgte seinen Kurs…
Dann zerplatzte er wie eine Blase, und eine hundert Meter durchmessende Scheibe stieg aus dem Ozean. Seine tiefschwarze Oberfläche zuckte, und mit verblüffender Geschwindigkeit bildeten sich große, pulsierende Extremitäten aus, als ob eine Gummidecke von unten mit Fäusten bearbeitet würde. Lange Sekunden hing die Scheibe in der Luft; dann fiel sie mit sich verlangsamender Rotation in den kochenden Ozean zurück.
Fast sofort nahm der ›Whirlpool‹ seine Aktivitäten wieder auf.
Das Gesicht des alten Wissenschaftlers war grau. »Das ist die zweite derartige Eruption. Offensichtlich ist nicht jede Lebensform hier so zivilisiert wie wir.«
»Es lebt? Aber was will es?«
»Verdammt, Junge, darauf mußt du von selbst kommen!«
Rees versuchte, sich in diesem Höllenlärm zu konzentrieren. »Wie nimmt es uns wahr? Verglichen mit Gravitationswesen sind wir wie Quallen, fast ohne Substanz. Warum sollte es sich überhaupt für uns interessieren…?«
»Die Versorgungsmaschinen!« rief Jaen.
»Was?«
»Sie beziehen ihre Energie aus miniaturisierten Schwarzen Löchern… Gravitationssubstanz. Vielleicht reagieren die Gravitationswesen ausschließlich darauf, so als wären wir ein Geisterschiff auf einer Kreisbahn um Brocken von…«
»Nahrung«, beendete Hollerbach erschöpft.
Erneut brach die Kreatur aus ihrem Ozean und wirbelte die Wale wie Streichhölzer durcheinander. Diesmal kam eine Extremität, ein Kabel mit Rees’ Hüftumfang, dem Schiff so nahe, daß es in seinem Flug erzitterte. Rees konnte Einzelheiten auf der Oberfläche des Wesens erkennen; es wirkte wie eine tiefschwarze Skulptur. Winzige Formen — eigenständige Entitäten, vielleicht Parasiten? — rasten so schnell über die pulsierende Oberfläche, daß das Auge kaum zu folgen vermochte; sie kollidierten, verschmolzen miteinander und lösten sich wieder voneinander.
Erneut stürzte die Scheibe zurück und tauchte, wie in Zeitlupe, mit einem formvollendeten Platscher in ihren Ozean mit seinen vielen Lebensformen ein. Und wieder machte sich der ›Whirlpool‹ bereit.
»Hunger«, erklärte Hollerbach. »Der universale Imperativ. Das verdammte Ding wird es so lange versuchen, bis es uns am Stück geschluckt hat. Und wir können nichts dagegen tun.« Er schloß seine wäßrigen Augen.
»Noch sind wir nicht tot«, murmelte Rees. »Wenn Baby gefüttert werden will, füttern wir es eben.« Er wurde von einer wütenden Entschlossenheit gepackt. Er war nicht so weit geflogen, hatte nicht so viel geleistet, nur um alles von einem namenlosen Monster auslöschen zu lassen… selbst wenn jedes einzelne seiner Atome aus einem Schwarzen Loch bestehen sollte.
Er ließ den Blick durch die Kammer schweifen. Weil die Netzkonstruktion aus Seilen zerrissen war, befanden sich keine Menschen mehr im Innern der Kammer; doch einige Seile hingen noch dort an den Wänden und Decken, wo sie ursprünglich angebracht worden waren. Ein solches führte vom Teleskopsockel direkt zum Ausgang auf die Brückengalerie. Rees folgte seinem Verlauf mit den Augen. Es verlief fast auf ganzer Länge in einem Meter Abstand zur Horizontalachse des Schiffes. Wenn er ihm folgte, konnte er also im Bereich der Schwerelosigkeit bleiben.
Vorsichtig nahm er erst die eine und dann die andere Hand vom Sockel des Teleskops. Als er das Seil ergriff, driftete seine Masse langsam auf das eine Ende der Kammer zu… aber zu langsam, um sich störend für ihn auszuwirken. Schnell hangelte er sich am Seil entlang.
Als das Schleusenschott kaum noch mehr als einen Meter entfernt war, löste sich das Seil von seiner Befestigung und begann sich durch die Luft zu schlängeln.
Mit den Handflächen arbeitete er sich an der Wand entlang und stieß sich dann zur Schleuse hin ab. Als er mit schmerzenden Händen und Füßen bei der soliden Konstruktion in Sicherheit war, genehmigte er sich eine Pause von mehreren Atemzügen.
Schon wieder eruptierte das Tier aus seinem Ozean, und erneut hing sein verzerrtes Gesicht drohend über der Brücke.
Mit seinem Schreien übertönte Rees das Stöhnen der Passagiere. »Roch! Roch, kannst du mich hören? Bergmann Roch…!«
Schließlich stieß Rochs breites und zerschlagenes Gesicht am einen Ende des Zylinders aus der Masse der geschundenen Menschen hervor.
»Roch, schaffst du es hier herauf?«
Roch schaute sich um und überprüfte die an den Wänden hängenden Seile. Dann grinste er. Er kroch über die um ihn herumliegenden Leute, wobei er Köpfe und Gliedmaßen noch tiefer in das Durcheinander schob; schließlich kletterte er mit affenartiger Gewandtheit an den Seilen empor, die an den großen Fenstern klebten. Immer wenn ein Seil nachgab und abfiel, schwang er sich zum nächsten, dann wieder zu einem anderen, bis er endlich bei Rees an der Schleuse ankam. »Siehst du«, sagte er zu ihm. »Hat sich die ganze harte Arbeit unter fünf Gravos doch noch bezahlt gemacht…« »Roch, ich brauche deine Hilfe. Hör mir zu…«
Eine der Versorgungsmaschinen war direkt innerhalb der Brückenschleuse aufgestellt, und Rees beglückwünschte sich selbst zu der Enge der Brückenzugänge. Ein bißchen mehr Platz, und das Ding wäre hinunter in eine der hinteren Kammern der Brücke gebracht worden — und Rees bezweifelte, daß selbst Roch stark genug gewesen wäre, eine solche Tonnenlast durch eine Multigravo-Zone in den mittleren Abschnitt des Schiffes zu transportieren.
Wieder lief eine Erschütterung durch das Schiff.
Als Rees seinen Plan entwickelte, grinste Roch dämonisch aus großen Augen — verdammt, der Mann hatte sogar noch Spaß daran —, und bevor Rees ihn zurückhalten konnte, klatschte er mit der Handfläche auf die Schalttafel des Schotts.
Das Schott schob sich zur Seite. Die Luft draußen war heiß, stickig und brauste mit einer enormen Geschwindigkeit vorbei; der Druckunterschied zerrte an Rees wie eine unsichtbare Hand und schleuderte ihn gegen die Versorgungsmaschine.
Die offene Schleuse war ein quadratmetergroßer Ausschnitt des Chaos, vollständig ausgefüllt von dem zuckenden Gesicht des Schwerkrafttieres. Ein kilometerlanger Tentakel peitschte durch die Luft, und Rees spürte, wie die Brücke bei seiner Annäherung erbebte. Eine Berührung von diesem Ding, und das alte Schiff würde wie ein zerquetschter Skitter implodieren…
Roch kroch von der Schleuse weg und um die Versorgungsmaschine herum, so daß er sich zwischen ihr und der Außenwand des Observatoriums befand.
Rees betrachtete die Basis der Maschine, die mit grob bearbeiteten, faustgroßen Eisennieten auf dem Brückendeck befestigt war. »Verdammt«, schrie er durch das Toben des Windes, »Roch, hilf mir, Werkzeuge zu finden; wir brauchen etwas als Hebel…«
»Keine Zeit dafür, Floß-Mann.« In Rees’ Erinnerung klang Rochs Stimme wieder so gepreßt wie damals, als der große Mann unter der Fünf-Gravo-Last des Sternenkerns auf die Füße kommen mußte. Rees blickte hoch und erschrak.
Roch hatte sich mit dem Rücken gegen die Versorgungsmaschine und mit den Füßen gegen die Wand des Observatoriums gestemmt und versuchte, die Maschine wegzuschieben. Seine Beinmuskeln schwollen an, und Schweiß perlte auf Stirn und Brust.
»Roch, du bist verrückt! Das ist unmöglich…«
Eine der Nieten knirschte, und rostige Eisensplitter flogen durch die turbulente Luft.
Roch hielt seine hervorquellenden Augen auf Rees gerichtet. Die Halsmuskeln schienen sein breiter werdendes Grinsen einzurahmen, und zwischen den aufgeplatzten Lippen trat seine Zunge hervor.
Es klang wie eine kleine Explosion, als eine zweite Niete nachgab.
Mit etlicher Verspätung legte auch Rees an der Maschine Hand an, stemmte die Füße in den Winkel zwischen Boden und Wand und schob zusammen mit Roch, bis die Adern seiner Arme wie Seile hervortraten.
Eine weitere Niete brach, und die Maschine neigte sich merklich. Roch korrigierte seine Position und schob weiter. Das Gesicht des Mineurs war knallrot, und seine blutunterlaufenen Augen schauten auf Rees. Leise platzende Geräusche drangen aus dem großen Körper, und Rees stellte sich vor, wie entlang Rochs Wirbelsäule Bandscheiben und Wirbel splitterten und sich ineinander schoben.
Schließlich gaben die restlichen Nieten in einer Reihe kleiner Explosionen nach, und die Maschine taumelte durch die Schleusenöffnung. Rees fiel zwischen den Nietenköpfen auf den Bauch, und seine Lungen sogen Sauerstoff aus der verbrauchten Luft. Er hob den Kopf. »Roch…?«
Der Bergmann war verschwunden.
Rees erhob sich mühselig vom Deck und ergriff den Rahmen des Schotts. Das Schwerkrafttier bedeckte den Himmel und bot dabei ein großes, häßliches bewegtes Panorama — und vor ihm hing der zerklüftete Kasten der Versorgungsmaschine. Roch lag breitbeinig auf der Maschine, mit dem Rücken auf der demolierten Metallfläche. Über eine Distanz von ein paar Metern starrte der Bergmann in Rees’ Augen.
Nun holte das Tier mit einer kabelähnlichen Extremität aus und ließ sie gegen die Versorgungsmaschine klatschen. Das ramponierte Gerät wirbelte auf die zuckende schwarze Masse zu. Dann verschlang der Räuber den Happen und versank, offensichtlich gesättigt, im dunklen Ozean.
Mit letzter Kraft legte Rees eine Hand auf die Schaltfläche der Schleusenverriegelung und ließ das Schott zuknallen.