5

Nach Rees’ Gespräch mit Hollerbach nahm Grye ihn mit zu einer Schlafbaracke. Das lange, flache Gebäude bot Platz für etwa fünfzig Menschen, und der plötzlich von Unsicherheit ergriffene Rees folgte dem schrulligen Wissenschaftler durch einen Korridor zwischen zwei Reihen von einfachen Pritschen. Neben jeder Pritsche befanden sich ein kleiner Schrank und ein Gestell, auf das man seine Kleider hängen konnte. Rees betrachtete neugierig die wenigen persönlichen Gegenstände, die auf dem Boden und oben auf den Schränken verstreut waren: Kämme und Rasierzeug, kleine Spiegel, einfaches Nähzeug und hier und da Fotografien von Familien oder jungen Frauen. Auf einer der Matratzen ruhte ein anderer junger Mann — nach den auf seinen Arbeitsanzug aufgenähten roten Streifen zu urteilen ebenfalls ein Nachwuchswissenschaftler. Beim Anblick von Rees’ unordentlicher Erscheinung zog er seine schmalen Augenbrauen hoch, nickte Rees aber immerhin recht freundlich zu. Mit hochrotem Kopf nickte Rees zurück und lief hinter Grye her.

Er machte sich Gedanken über diesen Ort. Pallis’ Kabine — in der er seit seiner Ankunft gewohnt hatte — war für seinen an den Maßstäben des Gürtels orientierten Geschmack unvorstellbar luxuriös gewesen; diese hier war zwar nicht so groß, bot aber immer noch gehobenen Komfort. Vielleicht sollte Rees hier mal putzen; möglicherweise würde man ihm eine Schlafgelegenheit irgendwo in der Nähe zuweisen.

Sie kamen an ein Bett ohne Decken und Bezüge; der Schrank daneben stand offen; er war leer. Grye machte eine verabschiedende Handbewegung. »Ich glaube, hier bist du gut aufgehoben.« Damit er wandte sich ab, um den Schlafsaal zu verlassen.

Rees folgte ihm verwirrt.

Grye wandte sich zu ihm um. »Bei den verdammten Boneys, was ist los mit dir, Junge? Verstehst du eine einfache Sprache nicht?«

»Tut mir leid, ich…«

»Hier.« Grye zeigte noch einmal auf die Matratze und sprach langsam und übertrieben deutlich, wie mit einem Kind, das schwer von Begriff ist. »Du wirst von jetzt an hier schlafen. Muß ich dir das noch aufschreiben?«

»Nein…«

»Leg deine persönlichen Sachen in den Schrank.«

»Ich habe keine…«

»Hol dir Decken aus dem Magazin«, sagte Grye. »Die anderen werden dir zeigen, wo du sie bekommst.« Und ohne auf Rees zu achten, der ihm hilflos nachstarrte, schlurfte Grye aus dem Gebäude, um seinem nächsten Auftrag nachzugehen.

Rees setzte sich auf die Matratze — sie war weich und sauber und fuhr mit einem Finger über die fein gearbeiteten Fugen des Schrankes. Seines Schrankes.

Er atmete tief durch und fühlte eine tiefe Wärme über sein Gesicht fluten. Ja, es war sein Schrank, seine Matratze; er hatte seinen Platz auf dem Floß gefunden.

Er hatte es wirklich geschafft!

Er saß einige Stunden lang auf der Matratze, ohne die amüsierten Blicke der anderen Bewohner des Schlafraums zu registrieren. Er hatte seine Ruhe, war in Sicherheit und konnte sich auf den morgigen Unterricht einstellen; das war fürs erste genug.

»Ich habe gehört, wie du den alten Hollerbach um den Finger gewickelt hast.«

Die Worte rissen Rees aus seiner Erstarrung; er sah auf und blickte in das grausame Aristokratengesicht des Offiziersanwärters, den er vor der Brücke gedemütigt hatte — er suchte nach dem Namen — Doav? »Nicht genug damit, daß wir in diesen Baracken leben müssen, jetzt müssen wir sie auch noch mit so einer Ratte teilen…«

Rees horchte in sich hinein und fand dort nur Ruhe und Zufriedenheit. Jetzt war nicht die Zeit für Kämpfe. Souverän sah er Doav in die Augen, grinste und winkte ab.

Doav schnaufte und wandte sich um. Er nahm seine Sachen von einer Matratze, die ein paar Plätze von Rees entfernt lag und legte sie an das andere Ende des Saales, wobei er sich bemühte, die Türen des Schrankes so laut wie möglich zuzuknallen und auch sonst möglichst viel Lärm zu machen.

Später kam der freundliche junge Mann, der Rees zuvor begrüßt hatte, an Rees’ Matratze vorbeigeschlendert. »Kümmer dich nicht um Doav. Wir sind hier nicht alle so schlechte Kerle.«

Rees dankte ihm; er wußte diese freundliche Geste zu schätzen. Aber er bemerkte auch, daß der andere sein Bett nicht näher an seines heranrückte, und als das Schichtende sich näherte und andere Assistenten zum Schlafen hereinkamen, wurde Rees schnell klar, daß seine Pritsche eine Art Insel war, umgeben von einem kleinen Sperrgebiet leerer Plätze.

Er legte sich auf sein ungemachtes Bett, machte es sich bequem und lächelte ganz unbeschwert.

Theoretisch, so stellte Rees fest, war das Floß eine klassenlose Gesellschaft. Jedermann konnte durch Leistung und Fortune Wissenschaftler, Offizier etc. werden, unabhängig von seiner Herkunft. Die ›Klassen‹ auf dem Floß waren von den Rollen abgeleitet, die die Vorfahren des jeweiligen Besatzungsmitgliedes auf dem halblegendären Schiff gespielt hatten; man erklärte ihm, daß diese Klassen Funktion und Nützlichkeit der jeweiligen Person definierten, nicht aber Machtfülle und Status. So seien zum Beispiel die Offiziere nicht die herrschende Klasse, sondern nur die Diener der übrigen Besatzung, die eine schwere Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Infrastruktur auf dem Floß trügen. Demzufolge sei der Kapitän die geringste Person, niedergedrückt von der schwersten Last.

Das sagte man ihm.

Zunächst einmal war Rees, dessen Erfahrung mit der menschlichen Gesellschaft bisher auf die rauhe Umwelt auf dem Gürtel beschränkt gewesen war, geneigt, all das, was man ihm so feierlich erklärte, zum Nennwert zu nehmen, und er tat den arroganten Sadismus von Doav und Konsorten als Zeichen von Unreife ab. Als sein Erfahrungshorizont sich jedoch erweiterte, als sein Verständnis — gespeist aus offiziellen und inoffiziellen Quellen — wuchs, begann sich bei ihm ein ganz anderes Bild zu formen.

Natürlich konnte theoretisch jeder junge Mann Offizier werden, auch wenn er nicht aus einer Offiziersfamilie stammte. In der Praxis geschah das jedoch seltsamerweise nie. Die anderen Klassen, die durch die Erblichkeit des Offiziersranges von dieser Laufbahn ausgeschlossen waren, reagierten darauf, indem sie sich nach Kräften ihre eigene Machtbasis schufen. So hatte das für die Infrastruktur zuständige Personal die Konstruktionsdetails des Floßes in ein geheimnisvolles Mysterium verwandelt, das nur Eingeweihten bekannt war; und wenn sie nicht von ihren Anführern — Männern wie Decker, der Bekannte von Pallis — in Schach gehalten worden wären, hätten sie ihre Macht dazu mißbraucht, die Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln zu kontrollieren, die Abwasserkanäle zu blockieren oder auf hundert anderen Arten das Floß zu sabotieren.

Sogar die Wissenschaftler, deren eigentlicher Lebenszweck darin bestand, den Dingen auf den Grund zu gehen, waren gegen diese Machtkämpfe nicht immun.

Die Wissenschaftler waren für das Überleben des Floßes die entscheidenden Leute. Bei Dingen wie der Steuerung des Flosses, der Bekämpfung von Krankheiten und der Neukonstruktion von einzelnen Sektionen des Floßes waren ihr Wissen und ihre strukturierte Denkweise unentbehrlich. Und ohne das von den Wissenschaftlern überlieferte Wissen — das erklärte, wie das Universum funktionierte und wie die Menschen in ihm überleben konnten — würde das fragile soziale und technische Gefüge des Floßes innerhalb einiger Tausend Schichten zerbrechen. Rees sagte sich, daß es nicht die Umlaufbahn um den Kern des Nebels war, die den Bestand des Floßes garantierte, sondern die Kontinuität des menschlichen Verstandes.

So trugen die Wissenschaftler eine lebenswichtige, fast heilige Verantwortung. Das aber, so überlegte Rees, hinderte sie nicht daran, noch den letzten Rest ihres kostbaren Wissens genauso skrupellos zu ihrem Vorteil auszunutzen wie irgendeiner von Deckers Arbeitern, der einen Abwasserkanal aufstaute. Die Wissenschaftler hatten die erklärte Verpflichtung, jeden Anwärter mit zukünftiger Vorgesetztenfunktion auszubilden, unabhängig von der Klasse, zu der er gehörte; und das taten sie auch — bis zu einem gewissen Grad. Aber nur die wissenschaftlichen Assistenten wie Rees durften ihre Erkenntnisse über den reinen Vorlesungsstoff hinaus erweitern und wirklich einen Blick auf die alten Instrumente und Bücher werfen.

Wissen wurde gehortet. Und so hatte niemand in etwa eine realistische Vorstellung davon, wo die Menschen herkamen, ja nicht einmal von der Beschaffenheit des Floßes und des Nebels mit Ausnahme der Besatzungsmitglieder, die in der Nähe der Wissenschaftler arbeiteten. Den Unterhaltungen in den Kantinen und in den Schlangen vor den Versorgungsmaschinen hatte Rees entnommen, daß die meisten Menschen mehr an der Größe der schichtweise ausgegebenen Proviantrationen und an den Ergebnissen irgendwelcher Sportwettbewerbe interessiert waren als an den weiterreichenden Fragen des Überlebens ihrer Rasse. Sie taten so, als ob der Nebel ewig bestehen würde, als ob das Floß selbst auf einem Stahlpfeiler ruhen würde, sicher bis an das Ende der Zeiten.

Die Masse der Menschen war unwissend, getrieben von Moden, Launen und den Einflüsterungen von Agitatoren — sogar auf dem Floß. Was die menschlichen Kolonien außerhalb des Floßes betraf — das Bergwerk auf dem Gürtel und (vielleicht) die legendären, verlorenen Boney-Welten, so wußte Rees aus Erfahrung, daß dort das Verständnis der Geschichte der Menschheit und der Struktur des Universums fast ausschließlich auf Legenden reduziert war.

Zum Glück für die Wissenschaftler waren die meisten Auszubildenden der anderen Klassen mit diesem Stand der Dinge ganz zufrieden. Insbesondere die Offiziersschüler saßen ihre Unterrichtstunden mit allen Anzeichen der Langeweile ab, und es war offensichtlich, daß sie diesen trockenen Stoff schnell hinter sich bringen wollten, um möglichst bald ins richtige Leben einzutreten und Macht auszuüben.

So hatten die Wissenschaftler zwar keine Konkurrenz, aber Rees war von der Weisheit ihres Handelns dennoch nicht überzeugt. Das Floß selbst, obwohl immer noch komfortabel und im Vergleich zum Gürtel gut versorgt, wurde nun von Versorgungsengpässen heimgesucht. Unzufriedenheit war weit verbreitet, und da die Leute nicht über genug Wissen verfügten, um den (mehr oder weniger) substantiellen Beitrag der privilegierteren Klassen zu ihrem Wohlergehen richtig einzuschätzen, wurden diese Klassen immer häufiger zur Zielscheibe von diffusem Zorn.

Es war eine explosive Stimmungslage.

Und das Unter-Verschluß-Halten von Wissen hatte, wie Rees feststellte, zudem einen kontraproduktiven Effekt. Indem man nüchterne Tatsachen mystifizierte, verlieh man ihnen den Anschein des Heiligen, Unantastbaren; und so konnte er die Wissenschaftler dabei beobachten, wie sie sich in alte Bücher vertieften und Litaneien von Weisheiten intonierten, die über das Schiff und seine Besatzung auf das Floß gelangt waren. Die Hypothese zuzulassen, daß es vielleicht Fakten geben könnte, die über das, was auf diesen alten Seiten niedergeschrieben war, hinausgingen, oder daß die alten Bücher gar — man wagte es kaum zu sagen — Ungenauigkeiten oder Fehler enthalten könnten — dazu waren sie entweder nicht bereit oder nicht fähig.

Trotz all seiner Zweifel und Fragen waren die Schichten, die seiner Aufnahme auf dem Floß folgten, für Rees die glücklichsten seines Lebens. Als vollwertiger Assistent war er zu mehr berechtigt als nur dazu, sich Gryes lustlose Vorträge auf infantilem Niveau anzuhören; nun saß er mit den anderen Assistenten in einer Vorlesung und lernte auf eine strukturierte und konsistente Weise. Außerhalb der Unterrichtszeit vertiefte er sich stundenlang in Bücher und Fotografien — und niemals würde er ein altes Bild vergessen, auf das er in einem abgegriffenen Heft gestoßen war: Ein Foto von der Peripherie des Nebels, als er noch blau war.

Blau!

Die magische Farbe erschien vor seinen Augen, genauso klar und kühl, wie er es sich immer vorgestellt hatte.

Zunächst saß Rees inmitten von Assistenten, die einige tausend Schichten jünger waren als er, und fühlte sich ziemlich unwohl dabei; aber er lernte schnell, zur widerwilligen Bewunderung seiner Dozenten, und bald hatte er aufgeholt und durfte die Vorlesungen belegen, die von Hollerbach selbst gehalten wurden.

Hollerbachs Unterrichtsstil war genauso schwungvoll und fesselnd wie der Mann selbst. Der alte Wissenschaftler klammerte sich nicht an vergilbte Texte und alte Fotografien, sondern ermutigte seine Studenten zu selbständigem Denken; die Konzepte, die er entwickelte, unterlegte er mit Worten und Gesten.

In einer Schicht ließ er jeden Studenten seines Kurses ein einfaches Pendel konstruieren — ein schweres, an einer Schnur befestigtes metallenes Anhängsel — und seine Schwingungsdauer vor dem Hintergrund einer brennenden Kerze messen. Rees fertigte sein Pendel an, reduzierte so, wie Hollerbach es ihnen gesagt hatte, den Schwingungswinkel auf ein paar Grad und zählte sorgfältig die Anzahl der Schwingungen. Aus dem Augenwinkel registrierte Rees, wie ein paar Reihen vor ihm Doav lustlos den Ablauf des Experiments verfolgte; immer wenn Hollerbach seinen kritischen Blick von ihm abwandte, stieß Doav betont gelangweilt das vor ihm schwingende Pendel mit einem Finger an.

Die Studenten brauchten nicht lange, um herauszufinden, daß die Schwingungsdauer des Pendels ausschließlich von der Länge der Schnur abhing, keinesfalls aber von der Masse des Pendelgewichts.

Rees war von diesem einfachen Sachverhalt fasziniert (um so mehr, weil er selbst darauf gekommen war); nach dem Ende der Vorlesung blieb er noch viele Stunden in dem kleinen Übungslabor und führte das Experiment fort, indem er unterschiedlich schwere Pendelgewichte und größere Schwingungswinkel ausprobierte.

Die nächste Unterrichtsstunde war eine Überraschung. Hollerbach trat gemessenen Schrittes ein, musterte die Studenten und forderte sie auf, die Ständer, an denen ihre Pendel immer noch hingen, zu nehmen und winkte sie hinter sich her. Dann wandte er sich um und marschierte aus dem Labor.

Die Studenten folgten ihm nervös und umklammerten ihre Versuchsanordnungen; Doav verdrehte aus Überdruß an der ganzen Sache die Augen.

Hollerbach führte sie auf eine ordentliche Wanderung, die auf einer breiten Straße unter dem Baldachin von sich drehenden Bäumen entlang führte. Der Himmel war wolkenlos, und das Sternenlicht sprenkelte die Platten des Decks. Trotz seines Alters hatte Hollerbach einen ganz schönen Schritt drauf, und als er unter freiem Himmel einige Meter jenseits vom Rand des fliegenden Waldes eine Marschpause einlegte, hatte Rees den Eindruck, daß seine Beine nicht die einzigen jungen Beine waren, die etwas schmerzten. Er schaute sich neugierig um und blinzelte in das direkte Sternenlicht; seit Beginn des Unterrichts hatte er kaum eine Gelegenheit gehabt, hierher zu kommen, und die scheinbare Schieflage des genieteten Decks unter seinen Füßen fühlte sich merkwürdig an.

Feierlich ließ sich Hollerbach mit untergeschlagenen Beinen auf die Decksplatten nieder und ersuchte seine Studenten, es ihm nachzutun. Er stellte eine Reihe von Kerzen auf die Platten. »Nun, meine Damen und Herren«, sagte er bedeutungsvoll, »möchte ich Sie bitten, die Experimente der letzten Stunde zu wiederholen. Stellen Sie Ihre Pendel auf.«

Es gab hier und da ein unterdrücktes Stöhnen in der Klasse, für Hollerbach wahrscheinlich unhörbar. Die Studenten begannen zu arbeiten, und Hollerbach stand ruhelos auf und ging zwischen ihnen umher. »Sie sind Wissenschaftler, vergessen Sie das nicht«, sagte er zu ihnen. »Sie sind hier, um zu beobachten, nicht, um zu urteilen; Sie sind hier, um Messungen vorzunehmen und Erkenntnisse zu gewinnen…«

Rees’ Ergebnisse waren… irgendwie merkwürdig.

Während Hollerbachs Kerzenvorrat herunterbrannte, ging er sorgfältig seine Resultate durch, wiederholte Versuche und machte Proben.

Schließlich unterbrach Hollerbach. »Ergebnisse, bitte. Doav.«

Rees hörte das tiefe Stöhnen des Offiziersschülers. »Kein Unterschied«, sagte er lustlos. »Dasselbe Resultat wie beim letzten Mal.«

Rees runzelte die Stirn. Das war falsch; die Perioden, die er gemessen hatte, waren länger gewesen als die gestrigen — nur wenig länger, zugegeben, aber doch so, daß es auffallen mußte.

Stille breitete sich aus. Doav rutschte unbehaglich hin und her.

Dann machte Hollerbach ihn fertig. Rees mußte ein Grinsen unterdrücken, als der alte Wissenschaftler über die nachlässige Methodik des Offiziersschülers, sein Desinteresse, seine Faulheit und seine Unwürdigkeit, die goldenen Schulterstücke zu tragen, herzog. Am Ende waren Doavs Wangen knallrot.

»Jetzt will ich die richtige Lösung hören«, murmelte Hollerbach schwer atmend. »Baert…«

Der nächste Assistent gab eine Antwort, die mit der von Rees übereinstimmte. Hollerbach fragte: »Was also ist geschehen? In welcher Weise haben sich die Bedingungen, unter denen das Experiment durchgeführt wurde, geändert?«

Die Studenten stellten Spekulationen an, sprachen von der Wirkung des Sternenlichts auf die Pendelgewichte, vom ungenaueren Meßverfahren — Hollerbachs Kerzen flackerten hier draußen viel stärker als im Labor — und vielen anderen Dingen. Hollerbach hörte aufmerksam zu und nickte gelegentlich.

Nichts von alledem, was die anderen sagten, überzeugte Rees. Er starrte die einfache Konstruktion an, als wolle er sie auffordern, ihr Geheimnis preiszugeben.

»Was ist mit der Schwerkraft?« fragte Baert schließlich zögernd.

Hollerbach hob die Augenbrauen: »Ja, was ist damit?«

Baert war ein großer dünner junger Mann; nun rieb er sich unsicher die schmale Nase. »Wir sind hier etwas weiter vom Schwerkraftzentrum des Floßes entfernt, richtig? Also wird die Einwirkung der Gravitation auf das Pendel wahrscheinlich etwas geringer sein…«

Hollerbach sah ihn intensiv an und sagte nichts. Baert wurde rot und fuhr fort: »Die Schwerkraft bringt das Pendel zum Schwingen, indem sie an ihm zieht. Wenn also die Schwerkraft abnimmt, nimmt die Schwingungsdauer zu… Ergibt das irgendeinen Sinn?«

Hollerbach wiegte den Kopf. »Das ist wenigstens nicht ganz so abwegig wie einige der anderen Vorschläge, die ich bisher gehört habe. Aber wenn es so sein sollte, wie könnte man dann die Beziehung zwischen der Stärke der Schwerkraft und der Schwingungsdauer genauer beschreiben?«

»Wir können es nicht sagen«, platzte Rees heraus. »Nicht ohne weitere Angaben.«

»Das«, kommentierte Hollerbach, »ist die erste intelligente Bemerkung, die ich heute in dieser Schicht von dieser Klasse zu hören bekommen habe. Also, meine Damen und Herren, ich schlage vor, daß Sie weitere Beobachtungen anstellen. Lassen Sie mich dann wissen, was Sie herausgefunden haben.« Er stand ungelenk auf und ging weg.

Die Studenten machten sich mit unterschiedlichem Enthusiasmus an ihre Aufgabe. Rees nahm sie mit großem Engagement in Angriff und streifte während der nächsten paar Schichten über das Deck, bewaffnet mit seinem Pendel, einem Notizblock und einem Vorrat an Kerzen. Er hielt die jeweiligen Perioden des Pendels fest, machte sich genaue Notizen, erstellte logarithmische Diagramme und vieles mehr. Er registrierte genau die verschiedenen Winkel, in denen die Ebene des Pendelausschlags zur Oberfläche des Decks stand. Dabei stellte er fest, daß sich die Senkrechte je nach seinem Standort auf dem Floß änderte. Und er beobachtete die langsamen, unsteten Schwingungen des Pendels am Rand des Floßes.

Schließlich teilte er Hollerbach die Ergebnisse mit. »Ich glaube, ich hab’s«, sagte er zögernd. »Die Periode des Pendels ist proportional zur Quadratwurzel seiner Länge… und deshalb umgekehrt proportional zur Quadratwurzel der Schwerebeschleunigung.«

Hollerbach sagte nichts; er faltete nur die altersfleckigen Hände vor seinem Gesicht und sah Rees nachdenklich an.

Schließlich platzte es aus Rees heraus: »Liege ich richtig?«

Hollerbach sah ihn mit einem enttäuschten Blick an. »Du mußt noch lernen, Junge, daß es in diesem Bereich keine richtigen Antworten gibt. Du hast eine empirische Vorhersage gemacht; so weit, so gut. Nun mußt du diese Aussage anhand der Theorie überprüfen, die du gelernt hast.«

Rees murrte innerlich. Aber er ging und führte Hollerbachs Anweisung aus.

Später zeigte er Hollerbach, was er über Stärke und Vektorierung des Schwerkraftfeldes auf dem Floß herausgefunden hatte. »Die Art und Weise, in der das Feld sich ändert, ist ziemlich komplex«, berichtete er. »Zuerst habe ich gedacht, daß die Feldstärke mit dem Quadrat der Entfernung vom Schwerpunkt des Floßes abnimmt; aber das hat sich als unzutreffend erwiesen…«

»Dieses Gesetz gilt nur für in einem Punkt konzentrierte Massen oder für vollkommen kugelförmige Objekte, nicht aber für Gegenstände wie das Floß mit der Form eines Tellers.«

»Aber wie sonst… ?«

Hollerbach sah ihn nur unbewegt an.

»Ich weiß«, seufzte Rees, »ich sollte gehen und an dem Problem arbeiten. Stimmt’s?«

Er brauchte dafür länger als für das Pendel-Problem. Er mußte lernen, dreidimensionale Integralrechnung anzuwenden… mit Vektoren und Äquipotential-Oberflächen umzugehen… und plausible Näherungswerte zu erstellen.

Aber er schaffte es. Und als er damit fertig war, tat sich ein neues Problem auf. Und noch eins, und noch eins…

Sein Leben bestand aber nicht nur aus Arbeit.

In einer Schicht bot Baert, zu dem Rees ansatzweise eine Freundschaft entwickelt hatte, ihm eine übriggebliebene Eintrittskarte in das sogenannte ›Theater des Lichts‹ an. »Ich will dir gar nicht erst vormachen, daß du als Begleiter für mich erste Wahl wärst«, grinste Baert. »Sie sah ein bißchen besser aus als du… Aber ich möchte nicht die Vorstellung verpassen oder eine Eintrittskarte verschwenden.«

Rees dankte ihm und wendete den Papierstreifen in den Händen. »Das Theater des Lichts? Was ist das? Was spielt sich da ab?«

»Auf dem Gürtel gibt’s nicht allzu viele Theater, was? Nun, wenn du noch nicht da warst, laß dich überraschen…«

Das Theater befand sich hinter dem vertäuten Wald, ungefähr drei Viertel des Weges zum Rand. Es gab einen Bus, der von der Mitte des Floßes aus dorthin fuhr, aber Baert und Rees entschieden sich, zu Fuß zu gehen. Als sie den mannshohen Zaun erreicht hatten, der das Theater umgab, schien das Deck ziemlich steil anzusteigen, und der Rest des Weges wurde zu einer ordentlichen Klettertour. Dort draußen auf dem offenen Deck, weit entfernt vom schützenden Dach des Waldes, war die Hitze des Sterns über dem Floß schier mit Händen zu greifen, und beide kamen mit schweißnassen Gesichtern dort an.

Baert wandte sich unbeholfen um, seine in Schlappen steckenden Füße suchten Halt an dem genieteten Abhang, und er grinste zu Rees herunter: »Ganz schön anstrengend«, befand er. »Aber es lohnt sich. Hast du deine Eintrittskarte?«

Rees fummelte in seinen Taschen herum, bis er das kostbare Stück Papier gefunden hatte. Verwirrt sah er zu, wie Baert einem Kontrolleur die Eintrittskarten zeigte und folgte ihm dann durch ein schmales Tor.

Das Theater des Lichts war ein ovaler Raum mit einer Längsachse von etwa fünfzig Metern, die dem scheinbaren Gefälle des Decks folgte. Im höher gelegenen Teil des Theaters waren Bänke angebracht. Rees und Baert nahmen ihre Plätze ein, und Rees blickte auf eine kleine, auf Pfosten ruhende Bühne, so daß sie eine horizontale Lage einnahm — also gegenüber dem ›schrägen‹ Deck geneigt war — und hinter der Bühne konnte er als riesige Kulisse das Floß zum Zentrum hin abkippen sehen, ein breiter Abhang aus Metall, bestanden mit schachtelartigen Gebäuden und wirbelnden, rauschenden Bäumen.

Das Theater war im Nu voll. Rees schätzte, daß ungefähr hundert Leute in dem Raum Platz fanden, und es fröstelte ihn ein wenig vor Unbehagen bei dem Gedanken, daß so viele Menschen an einem Platz zusammen waren.

»Was zu trinken?«

Erschreckt drehte er sich um. Ein bildschönes Mädchen stand mit einem Tablett voller Gläser neben ihm. Er versuchte, ihr Lächeln zu erwidern und eine Antwort zu formulieren, aber irgend etwas irritierte ihn an der Art, wie sie dastand…

Ohne ein Anzeichen von Anstrengung oder Unbequemlichkeit hielt sie sich senkrecht zum Deck, wobei sie die virtuelle Schieflage ignorierte und so selbstverständlich dastand, als ob es eben wäre. Rees fühlte, wie ihm der Unterkiefer herunterklappte, und all seine sorgfältig konstruierten Überlegungen darüber, daß die Schieflage des Decks nur eine optische Täuschung sei, lösten sich in Luft auf. Denn wenn sie senkrecht stand, dann bedeutete das, daß er ohne einen Halt auf einer schiefen Ebene saß…

Mit einem erstickten Schrei taumelte er rückwärts.

Baert half ihm lachend auf die Füße, und das Mädchen hielt ihm mit einem entschuldigenden Lächeln einen Schwenker mit einem hellen, süßen Getränk hin. Rees fühlte, daß seine Wangen wie Feuer brannten.

»Was war das?«

Baert unterdrückte ein Lachen. »Tut mir leid. Das passiert jedem, der zum erstenmal herkommt. Ich hätte dich warnen sollen…«

»Aber wie bringt sie es fertig, so zu gehen?«

Baert hob seine schmalen Schultern. »Wenn ich es wüßte, wäre der Spaß verdorben. Vielleicht hat sie magnetische Sohlen an den Schuhen? Das Komische dabei ist, es ist nicht das Mädchen, das dich umhaut… Es ist die Tatsache, daß du etwas siehst, was mit deinen Vorstellungen unvereinbar ist und deinen Gleichgewichtssinn durcheinanderbringt.«

»Ja, echt stark.« Rees saugte lustlos an seinem Getränk und beobachtete, wie das Mädchen durch die Menge ging. Ihr Gang wirkte leicht und natürlich, aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte nicht herausfinden, wie sie die Balance hielt. Aber bald gab es noch spektakulärere Vorgänge zu beobachten. Da waren zum Beispiel Gaukler mit Keulen, die in den unmöglichsten Konstellationen durch die Luft flogen, aber mit absoluter Sicherheit wieder in den Händen ihrer Besitzer landeten.

Während des Applauses sagte Rees zu Baert: »Es ist wie Magie.«

»Keine Magie«, korrigierte der andere. »Einfache Physik; mehr steckt nicht dahinter. Da sperrst du wohl deine Bergmannsaugen auf, was?«

Rees runzelte die Stirn. Auf dem Gürtel hatte man nur wenig Zeit für Gauklerkunststückchen… und ohne Zweifel würden die Bergleute mit ihrer harten Arbeit all dies auf irgendeine indirekte Weise subventionieren müssen. Unauffällig ließ er seinen Blick über die anderen Zuschauer gleiten. Jede Menge goldener und roter Borten, aber nicht allzu viel Schwarz oder andere Farben. Nur die oberen Klassen? Er unterdrückte einen Anflug von Ressentiment und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Show zu.

Bald mußte die Hauptvorstellung anfangen. Ein Trampolin wurde aufgestellt und verdeckte die Sicht auf die Bühne. Die Menge wurde still. Ein Blasinstrument spielte eine sentimentale Melodie, und ein Mann und eine Frau, beide in einfachen Bodies, betraten die Bühne. Sie verneigten sich vor dem Publikum, stiegen auf das Trampolin und begannen, zusammen hoch in den sternenerleuchteten Himmel zu hüpfen. Zuerst führten sie einfache Figuren vor — langsame, graziöse Saltos und Drehungen schön anzusehen, aber nicht besonders spektakulär.

Dann berührten die Füße der beiden gleichzeitig das Trampolin, sie sprangen hoch, trafen sich im Scheitelpunkt ihrer Flugbahnen und drehten sich in weiten Kreisen umeinander, ohne sich zu berühren.

Baert schnappte nach Luft. »Wie haben sie denn das gemacht?«

»Schwerkraft«, wisperte Rees. »Nur für eine Sekunde haben sie sich um ihren gemeinsamen Schwerpunkt gedreht.«

Der Tanz ging weiter. Die Partner drehten sich umeinander und beschrieben mit ihren geschmeidigen Körpern ausgefeilte Parabeln; Rees sah mit halb geschlossenen Augen hingerissen zu. Der Physiker in ihm analysierte die perfekten Bewegungen der Tänzer. Die irgendwo im Hüftbereich gelegenen Schwerpunkte folgten den variierenden Schwerefeldern des Floßes, der Bühne und des jeweils anderen Tänzers in hyperbolischen Flugbahnen, so daß jedesmal, wenn sich die Tänzer vom Trampolin abstießen, ihre Bahnen eigentlich schon mehr oder weniger definiert waren. Aber die Tänzer verfälschten diese Pfade mit den Bewegungen ihrer schlanken Körper derart geschickt, daß es aussah, als ob die beiden nach Belieben durch die Luft flogen, unbeeinflußt von der Schwerkraft. Wie paradox, dachte Rees, daß in diesem Universum mit einer Gravitation von einer Milliarde Gravos Menschen sich so frei bewegen konnten.

Nun formierten sich die Tänzer zu einer letzten, eleganten Kurve, wobei ihre Körper sich drehten und ihre Gesichter wie in Konjunktion stehende Planeten aufeinander wiesen. Dann war es vorbei; die Tänzer standen Hand in Hand auf dem Trampolin, und Rees applaudierte und trampelte wie alle anderen. Man konnte mit einer Schwerkraft von einer Milliarde Gravos also noch mehr anstellen, als sie nur zu messen und sich unter ihr zu behaupten.

Ein Blitz, eine leichte Druckwelle, ein plötzlicher Rauchschleier. Das von unten in die Luft gejagte Trampolin verwandelte sich sogleich in ein flatterndes, vogelähnliches Wesen, wurde selbst zum Tänzer; die menschlichen Tänzer wirbelten schreiend durch die Luft. Dann versank das Trampolin in den zersplitterten Trümmern der Bühne, und die Tänzer hinterher.

Das schockierte Publikum wurde still. Das einzige Geräusch war ein leises, sporadisches Weinen, das aus den Trümmern der Bühne kam, und Rees traute seinen Augen nicht, als er sah, wie rotbraune Flecken die Überreste des Trampolins überzogen.

Ein stämmiger Mann mit orangefarbenen Schulterstücken betrat den Saal und baute sich in Kommandopose vor dem Publikum auf. »Hinsetzen!« befahl er. »Niemand verläßt den Raum!« Er behielt diese Positur bei, während die Zuschauer schweigend seine Anweisungen befolgten. Rees blickte sich um und ortete an den Eingängen des Theaters weitere orangefarbene Schulterstücke, und im Hintergrund noch mehr, die sich durch die Ruinen der Bühne vorkämpften.

Baerts Gesicht war blaß. »Sicherheitsdienst«, flüsterte er. »Dem Captain direkt unterstellt. Man sieht sie hier zwar nicht allzu oft, aber sie sind immer präsent… ob in Zivil oder uniformiert.« Er setzte sich zurück und verschränkte die Arme. »Was für ein Chaos. Sie werden uns alle verhören, bevor sie uns hier rauslassen; es wird Stunden dauern.«

»Baert, ich verstehe überhaupt nichts mehr. Was ist denn geschehen?«

Baert zuckte die Achseln. »Dreimal darfst du raten. Eine Bombe natürlich.«

Rees war genauso verwirrt wie bei dem Mädchen mit den Getränken. »Hat das jemand mit Absicht getan?«

Baert sah ihn nur düster an und antwortete nicht.

»Warum?«

»Keine Ahnung. Ich kann die Aktionen dieser Leute nicht billigen.« Baert kratzte sich an der Nase. »Aber es hat schon einige solcher Anschläge gegeben, meistens auf Offiziere oder auf Orte, an denen sie sich oft aufhalten. Wie dieser hier.«

»Siehst du, mein Freund, nicht jeder ist glücklich hier«, fuhr er fort. »Sehr viele Leute glauben, daß die Offiziere mehr bekommen, als sie verdienen.«

»Und deshalb tun Leute Dinge wie das hier?« Rees wandte sich ab. Die schlanken Körper der Schwerkrafttänzer wurden in die rotbefleckte Plane des Trampolins eingewickelt; Rees konnte einfach nicht glauben, daß sich dies alles wirklich vor seinen Augen abspielte. Er erinnerte sich an den Groll gegen Baert, der eine knappe Stunde vor dem Attentat in ihm aufgestiegen war. Vielleicht könnte er die Motive der Leute, die hinter dieser Untat standen, ja noch verstehen — warum sollte eine kleine Gruppe die Früchte der Arbeit anderer Leute ernten? —, aber deswegen töten?

Die Sicherheitsleute mit den orangefarbenen Schulterstücken begannen unter den Zuschauern Leibesvisitationen vorzunehmen. Resigniert und schweigend lehnten sich Rees und Baert zurück und warteten, bis sie an der Reihe waren.

Ungeachtet vereinzelter Zwischenfälle wie das Attentat im Theater fand Rees sein neues Leben faszinierend und lohnend, und die Schichten gingen unglaublich schnell vorbei. Allzu schnell, so schien es ihm, waren seine ersten tausend Schichten, der erste Abschnitt seines beruflichen Werdegangs, vorübergegangen, und jetzt war es soweit, daß seine Leistungen honoriert wurden.

Und so fand er sich eines Tages in einem geschmückten Bus wieder, betrachtete die roten Streifen eines Wissenschaftlers dritter Klasse, die gerade auf die Schulter seines Arbeitsanzugs gestickt worden waren und erschauerte unter einem Gefühl der Irrealität. Der Bus bahnte sich seinen Weg durch die Vorstädte des Floßes. Seine etwa ein Dutzend jungen Insassen, die in denselben Rang befördert worden waren wie Rees, waren in eine Wolke aus Lachen und Unterhaltung gehüllt.

Jaen betrachtete ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Besorgnis, wobei eine deutliche Falte über ihrer breiten Nase stand; ihre Hände ruhten im Schoß ihrer Ausgehuniform. »Hast du was auf dem Herzen?«

Er zuckte die Achseln. »Mir geht’s gut. Du kennst mich doch. Ich bin eben ein ernster Typ.«

»Verdammt richtig. Hier.« Jaen winkte dem Jungen, der Rees gegenüber saß und ergriff eine Flasche mit einem schmalen Hals. »Trink. Du bist befördert worden. Das ist deine tausendste Schicht, und du hast das Recht, sie zu feiern.«

»Also, so ganz stimmt das ja nicht. Denk dran, ich war ein Spätzünder. Für mich ist es eher wie tausend und eine…«

»Oh, du langweiliger Kerl, trink was von dem Zeug, bevor ich dich vom Bus schmeiße.«

Rees lachte, gab nach und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche.

In der Bar des Quartiermeisters hatte er schon einige hochprozentige Schnäpse probiert, und die meisten von ihnen waren stärker gewesen als dieser prickelnde Synthosekt; aber keiner von ihnen hatte auch nur annähernd diese Wirkung gehabt. Bald hatte er den Eindruck, daß die an den Kabeln hängenden kugelförmigen Strahler ein freundlicheres Licht verströmten als zuvor. Jaens Schwerkraftanziehung vereinigte sich mit seiner zu einer Quelle der Wärme und Ruhe; und die seichte Unterhaltung seiner Begleiter schien lebhafter und amüsanter zu werden.

Seine Stimmung hielt an, als sie unter dem Baldachin der fliegenden Bäume heraustraten und den Schatten der Plattform erreichten. Die große Metallfläche war ein vom Rand in das Floß hineinragender Vorsprung, der sich als schwarzes Rechteck gegen den roten Himmel abhob. Seine Stützpfeiler wirkten wie dünne Gliedmaßen. An einer breiten Treppe kam der Bus schnaufend zum Stehen. Rees, Jaen und die anderen stiegen tapsig aus dem Bus und kletterten die Stufen zur Plattform hoch.

Die Tausend-Schichten-Feier war schon in vollem Gange; ungefähr hundert Beförderte aus verschiedenen Klassen des Flosses tummelten sich dort. Eine aus Klapptischen aufgebaute Bar sorgte für das leibliche Wohl, eine zusammengewürfelte Band gab rhythmische Klänge von sich, und zu Füßen der Band tanzten sogar eng umschlungen einige Paare. Rees und Jaen, die sich von ihm mitziehen ließ, begaben sich auf einen Rundgang entlang der Begrenzung der Plattform.

Die Plattform war elegant konzipiert: Eine einhundert Meter lange, quadratische Platte war in einem solchen Winkel zum Rand angebracht worden, daß sie sich in der Horizontalen befand; dann hatte man sie mit einer Glaswand umgeben und so eine Aussicht ins Universum geschaffen. Am inneren Rand war das Floß selbst, das aus Rees’ Position wie ein großes, achtlos hingeworfenes Spielzeug wirkte. Wie im Theater verlieh das Gefühl, auf einer sicheren, flachen Oberfläche zu stehen, der Nähe des weiten Abhanges einen gewissen schwindelerregenden Nervenkitzel.

Die dem Weltraum zugewandte Seite der Plattform ragte über den Rand des Floßes hinaus, und in einen Teil des Bodens waren Glasplatten eingelassen. Rees stand über dem Abgrund des Nebels und hatte das Gefühl, durch die Luft zu fliegen. Er konnte Hunderte von Sternen sehen, die großräumig in einer dreidimensionalen Konstellation angeordnet waren und die Luft wie kilometerbreite Heliosstrahler erleuchteten; und in der Mitte des Panoramas, in Richtung des verborgenen Kerns des Nebels, standen die Sterne so dicht beisammen, daß Rees in einen breiten Schacht zu sehen glaubte, dessen Wände mit Sternen ausgekleidet waren.

»Meinen Glückwunsch, Rees.« Rees wandte sich um. Hollerbach, hager, ernst und völlig deplaziert inmitten der ganzen Fröhlichkeit, stand neben ihm.

»Danke, Sir.«

Der alte Wissenschaftler beugte sich mit Verschwörermiene zu ihm hinüber. »Natürlich hatte ich von Anfang an nicht den geringsten Zweifel daran, daß du deine Sache gut machen würdest.«

Rees lachte. »Ich selbst habe aber mehr als einmal daran gezweifelt, kann ich Ihnen sagen.«

»Tausend Schichten, he?« Hollerbach kratzte sich am Kinn. Nun, ich bin mir absolut sicher, daß du es noch viel weiter bringen wirst… Übrigens habe ich inzwischen eine Aufgabe für dich gefunden, Junge. Unsere Vorfahren, die erste Besatzung, haben die Zeit nicht nur in Schichten gemessen. Das wissen wir aus ihren Aufzeichnungen. Sie verwendeten zwar auch den Begriff ›Schichten‹, aber sie hatten noch andere Einheiten: Einen ›Tag‹, was ungefähr drei Schichten bedeutete, und ein ›Jahr‹, was ungefähr tausend Schichten waren. Wie alt bist du jetzt?«

»Ich glaube, ungefähr siebzehntausend Schichten, Sir.«

»Also ungefähr siebzehn ›Jahre‹ alt, was? Also, was glaubst du, worauf beziehen sich diese Einheiten, ›Tag‹ und ›Jahr‹?« Aber bevor Rees antworten konnte, hob Hollerbach die Hand und ging weg. »Baert! Also hat man dich doch so weit kommen lassen, obwohl ich es eigentlich verhindern wollte…«

Schalen mit Süßigkeiten waren entlang der Wände aufgestellt. Jaen nippte an irgendeiner schaumigen Substanz und packte Rees geistesabwesend an der Hand. »Komm mit. Hast du noch immer nicht genug von Besichtigungstouren und der Wissenschaft?«

Rees sah sie an, ziemlich benebelt von der Kombination aus Synthowein und Sternen. »Hm? Weißt du, Jaen, trotz aller Erzählungen von dem Universum, aus dem unsere Vorfahren kamen, scheint mir das Floß manchmal doch ein sehr schöner Ort zu sein.« Er grinste. »Und du selbst siehst auch nicht gerade schlecht aus.«

Sie knuffte ihn auf den Solarplexus. »Du auch nicht. Komm, laß uns tanzen.«

»Was?« Seine Euphorie verflog. Er schaute über ihre Schulter hinweg auf die herumwirbelnden, tanzenden Paare. »Schau, Jaen, ich habe noch nie im Leben getanzt.«

Sie schnalzte mit der Zunge. »Sei nicht so ein Feigling, du Minenratte. Hier sind nur ehemalige Assistenten wie du und ich, und ich kann dir eines versichern: Man wird dich nicht beobachten.«

»Nun…« hob er an, aber es war zu spät; entschlossen packte sie ihn am Arm und zog ihn in die Mitte der Plattform.

Er dachte ständig an die unglücklichen Schwerkrafttänzer im Theater des Lichts und an ihr wirbelndes, spektakuläres Ballett. Selbst wenn er fünfzigtausend Schichten leben sollte, würde er niemals so graziös tanzen können.

Glücklicherweise wurde hier ein anderer Tanzstil gepflegt.

Junge Männer beobachteten Mädchen, die ein paar Meter von ihnen entfernt standen. Die Leute, die tanzten, waren enthusiastische, aber keine sehr guten Tänzer; Rees sah ein paar Sekunden zu, dann begann er, ihr rhythmisches Schwingen zu imitieren.

Jaen machte ein langes Gesicht. »Du bist ein wirklich lausiger Tänzer. Aber wen stört’s?«

Unter den Bedingungen stark verminderter Schwerkraft — sie war hier nur halb so hoch wie bei den Laboratorien — hatte der Tanz eine verträumte Langsamkeit. Nach einer Weile war Rees schon nicht mehr so verkrampft; und schließlich begann es ihm sogar Spaß zu machen…

…bis seine Beine unter ihm nachgaben; mit einem leichten Stoß sackte er auf die Tanzfläche. Jaen schlug eine Hand vors Gesicht und unterdrückte ein Kichern; für kurze Zeit war er von lachenden Leuten umringt. Er stand auf. »Tut mir leid…«

Jemand tippte ihn auf die Schulter. »Das sollte es auch.«

Rees wandte sich um; vor ihm stand, mit einem breiten, strahlenden Grinsen, ein großer junger Mann mit den Schulterstücken eines Fähnrichs. »Doav«, fragte Rees langsam. »Hast du mir ein Bein gestellt?«

Doav brach in Gelächter aus.

Rees fühlte, wie sich die Muskeln seines Unterarms anspannten. »Doav, du gehst mir schon seit letztem Jahr auf die Nerven…«

Doav schaute verblüfft drein.

»…ich meine, die letzten tausend Schichten.« Und das stimmte; Rees konnte die ständigen Sticheleien, Witze und Sadismen, mit denen Doav und seinesgleichen ihn während der Arbeitszeit ärgerten, durchaus ertragen… aber trotzdem wäre er liebend gerne davon verschont geblieben. Und seit dem Zwischenfall im Theater war ihm bewußt, daß ein Verhalten, wie Doav es an den Tag legte, viel Schmerz und Leiden auf dem Floß verursachte; und vielleicht noch viel mehr verursachen würde.

Der Synthowein war jetzt wie Blut, der ihm zu Kopf stieg.

»Kadett, wenn wir etwas zu regeln haben…«

Doav fixierte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Nicht hier. Aber bald. O ja, sehr bald sogar.« Er wandte sich ab und verschwand in der Menge.

Jaen packte Rees’ Arm, so hart, daß er zurückzuckte. »Mußt du aus jedem kleinen Zwischenfall einen großen Auftritt machen? Komm, laß uns einen trinken.« Sie stapfte auf die Bar zu.

»Hallo, Rees.«

Rees blieb stehen und ließ Jaen vor sich in die Menge eintauchen, die die Bar belagerte. Ein schlaksiger junger Mann mit pomadigen Haaren stand vor ihm. Er trug die schwarzen Schulterstücke eines Mitarbeiters des Infrastrukturbereichs und sah Rees mit kalter Abschätzigkeit an.

Rees stöhnte. »Gover, ich glaube, diese Schicht ist wirklich nicht eine von meinen besten.«

»Was?«

»Schon gut. Ich hatte dich zuletzt kurz nach meiner Ankunft gesehen.«

»Ja, das ist aber auch nicht sehr verwunderlich.« Gover schlug mit der Hand leicht auf Rees’ Schulterstücke. »Wir verkehren nämlich in verschiedenen Kreisen, nicht wahr?«

Rees, der noch durch den Zwischenfall mit Doav auf hundertachtzig war, betrachtete Gover so gelassen wie eben möglich. Da waren immer noch dieselben scharfen Züge, der verdrossene, grimmige Blick — aber Gover wirkte jetzt gefestigter und selbstsicherer als früher.

»Machst du also noch immer den Knecht für diese alten Knacker in den Labors, was?«

»Auf so etwas antworte ich nicht, Gover.«

»Ach nein?« Gover rieb mit dem Handrücken über die Nasenlöcher. »Als ich dich in dieser Spielzeuguniform gesehen habe, habe ich mich gefragt, wie du dich jetzt wohl fühlst. Ich wette, du hast per Saldo nicht einmal eine Schicht gearbeitet — richtig gearbeitet —, seit du hergekommen bist. Es würde mich interessieren, was die anderen Ratten jetzt von dir halten würden. Was meinst du?«

Rees fühlte wieder, wie ihm das Blut in die Wangen stieg; der Synthowein schien zu Essig zu werden. Verwirrung keimte in ihm auf. Wollte er mit seinem Zorn gegen Gover nur vermeiden, der Wahrheit ins Auge sehen zu müssen, daß er zum Verräter an seiner Heimat geworden war…?

»Was willst du, Gover?«

Gover trat näher zu Rees heran. Sein Mundgeruch stieg zusammen mit dem Bukett des Weins in Rees’ Nase. »Hör zu, Minenratte, ob du es glaubst oder nicht, aber ich will dir einen Gefallen tun.«

»Was für einen Gefallen?«

»Die Verhältnisse hier beginnen sich zu ändern«, orakelte Gover. »Verstehst du, was ich damit sagen will? Die Dinge hier werden nicht immer so bleiben, wie sie sind.« Er blickte Rees an und wollte offenbar nicht weiterreden.

Rees runzelte die Stirn. »Wovon sprichst du? Von den Unzufriedenen?«

»So werden sie von einigen genannt. Andere nennen sie die Gerechtigkeitssucher.«

Der Lärm der Feiernden schien vor Rees zurückzuweichen; es war, als ob Gover und er auf einem eigenen Floß irgendwo in der Luft schwebten. »Gover, ich war in jener Schicht im Theater des Lichts. War das etwa Gerechtigkeit?«

Govers Augen verengten sich. »Rees, du siehst selbst, wie die Elite des Floßes den Rest von uns niederhält — und wie ihr obszönes Wirtschaftssystem den Rest der menschlichen Bevölkerung des Nebels verelenden läßt. Die Zeit ist nahe, wo sie dafür werden büßen müssen.«

Rees starrte ihn an. »Du gehörst doch selbst zur Elite, oder?«

Gover biß sich auf die Lippe. »Ja, schon. Schau, Rees, ich gehe ein Risiko damit ein, daß ich so offen mit dir spreche. Und wenn du mich verrätst, werde ich bestreiten, daß dieses Gespräch jemals stattgefunden hat.«

»Was willst du von mir?«

»Gute Männer setzen sich für unsere Sache ein. Zum Beispiel Decker, Pallis…«

Rees lachte schallend. Decker — der hünenhafte Infrastrukturmitarbeiter, dem er bei seiner ersten Ankunft auf dem Floß begegnet war — das konnte er noch glauben. Aber Pallis? »Komm schon, Gover.«

Gover blieb ungerührt. »Verdammt, Rees, du weißt, was ich von dir halte. Du bist eine Minenratte. Du gehörst eigentlich nicht hierher, unter anständige Menschen. Aber dein Werdegang macht dich zu einem von uns. Alles, was ich will, ist, daß du kommst und dir anhörst, was sie zu sagen haben. Mit deinem Zugang zu den wissenschaftlichen Gebäuden könntest du… von Nutzen sein.«

Rees versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Gover war ein bösartiger, verbitterter junger Mann, und seine Argumente — die widersprüchliche Mischung aus Verachtung und Appell an kameradschaftliche Gefühle gegenüber Rees — waren primitiv und wirr. Aber was Govers Worten ihre Kraft gab, war ihre furchtbare Wahrheit. Ein Teil von Rees war darüber erschrocken, daß ein Mensch wie Gover ihn so schnell verwirren konnte — aber als Antwort auf dieses Gefühl brandete eine Woge des Zorns in ihm hoch.

Aber wenn es eine Revolution geben sollte — wenn die Labors zerstört, die Offiziere eingekerkert wurden — was dann?

»Gover, sieh mir in die Augen.«

Gover hob den Kopf.

»Siehst du den Stern da oben? Wenn wir das Roß nicht in Bewegung halten, wird dieser Stern uns schlucken. Und dann werden wir gebraten. Und selbst wenn wir das überleben sollten schau dich mal weiter um.« Er machte mit einem Arm eine ausladende Bewegung in Richtung des rotgefleckten Himmels. »Der Nebel stirbt, und wir werden mit ihm sterben. Gover, nur die Wissenschaftler, unterstützt vom gesamten Floß, können uns vor solchen Gefahren bewahren.«

Gover machte ein finsteres Gesicht und spuckte auf das Deck. »Glaubst du das wirklich? Komm, Rees. Ich werde dir etwas sagen. Der Nebel könnte uns noch für lange Zeit ernähren — wenn seine Ressourcen gleichmäßig verteilt würden. Mehr wollen wir nicht.« Er machte eine Pause. »Nun?«

Rees schloß die Augen. Würden dann etwa die Himmelswölfe, die nach einer Zerstörung des Floßes kommen und die Knochen seiner Kinder abnagen würden, Govers Theorien diskutieren? »Hau ab, Gover«, sagte er müde.

Gover lächelte spöttisch. »Wie du willst. Ich kann nicht behaupten, daß es mir leid täte…« Er grinste Rees mit einem an pure Verachtung grenzenden Gesichtsausdruck an. Dann machte er sich durch die Menge davon.

Der Lärm schien um Rees herumzutoben, ohne ihn zu berühren. Er drängelte sich durch die Menge vor der Bar, bestellte einen Whisky und kippte die Flüssigkeit in einem Zug hinunter.

Jaen kam zu ihm und packte ihn am Arm. »Ich habe dich gesucht. Wo…?« Dann fühlte sie die angespannten Muskeln unter Rees’ Jacke; und als er ihr sein Gesicht zuwandte, schrak sie vor seinem Zorn zurück.

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