Die Rotation des vertäuten Baumes wirkte friedlich und beruhigend. Pallis lehnte an dem warmen Baumstamm und kaute gemächlich an seiner Fliegerration.
Ein Kopf und die dazugehörigen Schultern brachen durch den dichten Blättervorhang. Es war ein junger Mann mit schmutzigem und ungekämmten Haar, und ein verschwitzter Bart klebte an seinem Hals. Er blickte sich unsicher um.
»Ich unterstelle mal, daß du einen guten Grund dafür hast, meinen Baum zu stören, Bursche«, sagte Pallis wohlwollend. »Was hast du hier zu suchen?«
Der Besucher schob sich durch die Blätter. Pallis registrierte, daß der Overall des Jungen die Spuren von kürzlich abgerissenen Schulterstücken aufwies. Er sollte sich schämen, dachte Pallis, daß er nicht auch den Overall selbst mit der gleichen Energie vom Körper gerissen — und gewaschen — hatte.
»Ich soll dich grüßen, Baum-Pilot. Mein Name ist Boon, von der Brüderschaft der Infrastruktur. Das Komitee hat mich beauftragt, dich zu suchen…«
»Von mir aus kann dir der Boss persönlich zu diesem Zweck in den Arsch getreten haben«, meinte Pallis unbeteiligt. »Ich frage dich noch mal: Was machst du in meinem Baum?«
Boons Grinsen erstarb. »Das Komitee will mit dir reden«, meldete er mit dünner Stimme. »Komm zur Plattform. Sofort!«
Pallis schnitt sich eine Scheibe Fleischsurrogat ab. »Ich will nichts mit deinem verdammten Komitee zu tun haben, Junge.«
Boon kratzte sich unsicher in der Armbeuge. »Aber du mußt. Das Komitee… es ist ein Befehl…«
»Gut, Bursche, du bist deinen Spruch losgeworden«, schnauzte Pallis ihn an. »Jetzt verschwinde aus meinem Baum!«
»Kann ich ihnen ausrichten, daß du kommst?«
Anstatt zu antworten, fuhr Pallis mit der Fingerspitze über die Klinge seines Messers.
Boon zog sich durch den Laubvorhang zurück.
Pallis versenkte die Spitze des Messers im Baumstamm, wischte sich die Hände an einem vertrockneten Blatt ab und schob sich zum Rand des Baumes. Er legte sich mit dem Gesicht nach unten mitten in die aromatischen Blätter und nutzte die gemessene Rotation des Baumes zu einem Rundblick über das Roß.
Unter seiner Kanzel aus Bäumen stellte sich ihm das Deck als ein düsterer Ort dar: Aus den Gebäuderuinen stiegen noch immer Rauchfäden, und Pallis bemerkte dunkle Abschnitte in den breiten, mit Kabeln gesäumten Straßen. Das war neu; sie demolierten jetzt also schon die Heliosstrahler. Was für ein Gefühl wäre es wohl, auch den letzten zu zerstören, fragte er sich. Den letzten Rest des alten Lichts auszulöschen — was für ein Gefühl wäre es, alt zu werden mit dem Wissen, daß die eigenen Hände so etwas getan hatten?
Beim Ausbruch der blutigen Revolution hatte sich Pallis einfach zu seinen Bäumen zurückgezogen. Mit einem Vorrat an Wasser und Lebensmitteln hatte er gehofft, hier zwischen den geliebten Ästen seine Ruhe zu haben, weitab von dem Schmerz und dem Zorn, der das Floß heimsuchte. Er hatte sogar erwogen abzulegen und einfach allein wegzufliegen. Er wußte, daß die Boneys keiner Partei in diesem absurden Kampf Loyalität schuldeten.
Allerdings, so entsann er sich, war er noch immer ein Mensch. Ebenso wie die rennenden Figuren auf dem Floß — sogar das selbsternannte Komitee — und diese verlorenen Seelen auf dem Belt. Und wenn das alles einmal zu Ende war, müßte wieder jemand da sein, der für die Leute Nahrungsmittel und Eisen transportierte.
So hatte er abseits der Revolte gehofft, sie aussitzen zu können…
Doch nun war dieses Intermezzo zu Ende.
Er seufzte. Gut, Pallis, du kannst dich wohl vor ihrer verdammten Revolution verstecken, aber es sieht so aus, daß sie sich nicht vor dir versteckt.
Natürlich mußte er gehen. Wenn nicht, würden sie ihm mit ihren Molotowcocktails auf den Leib rücken…
Er nahm einen kräftigen Schluck Wasser, steckte sein Messer in das Futteral und glitt geschmeidig durch die Blätter.
Er arbeitete sich zu einer Avenue vor und schlug dann die Richtung zum Rand des Floßes ein.
Die Straße war menschenleer.
Mit einem Schauder lauschte er nach Echos der Menge, die sich vor nicht allzu vielen Schichten hier entlanggewälzt hatte. Doch auf der breiten Durchgangsstraße herrschte nur tiefes, gespenstisches Schweigen. Der Gestank verbrannten Holzes dominierte die Szenerie, überlagert von einer gallertartigen, stickigen Atmosphäre. Er sah nach oben, zu der ruhigen Kuppel aus Bäumen und versuchte, seine Nase in den Strom der sanften, nach Holz duftenden Brise aus den Ästen zu halten.
Wie er vermutet hatte, hing ein großer Teil der Heliosstrahler in Trümmern an ihren Kabeln, was die Lichtverhältnisse auf der Avenue zu einem Zwielicht reduzierte. Das Floß war zu einer Stätte der düsteren Finsternis geworden, wo die Schatten nur vereinzelt wichen, um einen Blick auf diese schöne neue Welt freizugeben. Er sah, wie ein Kind an den Überresten einer schon lange leeren Lebensmittelpalette leckte. Dann bemerkte er eine Gestalt, die an einem an den Baumtrossen befestigten Seil hing; auf dem Deck darunter war etwas Braunes und Dickes zu einer Pfütze geronnen…
Pallis fühlte das Essen in seinem Bauch rumoren. Er machte sich wieder auf den Weg.
Eine Gruppe junger Männer näherte sich ihm aus der Richtung der Plattform, mit ostentativ abgerissenen Schulterstücken. Ihre Augen waren vor Freude geweitet, und trotz seiner Muskeln ging Pallis ihnen aus dem Weg.
Schließlich erreichte er das Ende des Kabelgewirrs und gelangte mit einiger Erleichterung an den freien Himmel. Er machte sich an den Aufstieg zum Rand und kletterte dann über die breiten, niedrigen Stufen zur Plattform hinauf. Zusammenhanglose Erinnerungen stiegen in ihm empor. Er war seit seinem ›Tau-send-Schichten-Tanz‹ nicht mehr hier gewesen. Er erinnerte sich an die glitzernden Kostüme, das Lachen, das Trinken, seine Schüchternheit.
Heute würde hier keine Party stattfinden.
Am oberen Ende der Treppe blockierten zwei junge Männer den Weg. Sie hatten ungefähr Pallis’ Größe, waren aber etwas jünger. Dumpfe Feindseligkeit spiegelte sich in ihren Gesichtern.
»Ich bin Pallis«, stellte er sich vor. »Waldläufer. Ich will zum Komitee.«
Sie musterten ihn mißtrauisch.
Pallis seufzte. »Und wenn ihr zwei Affenköpfe mir den Weg freigebt, kann ich meinen Auftrag erfüllen.«
Der kleinere der beiden, ein untersetzter Glatzkopf, machte einen Schritt auf ihn zu. Pallis sah, daß er einen Holzknüppel bei sich trug. »Hör zu…«, grinste Pallis und ließ seine Muskeln unter dem Hemd spielen.
»Ist okay, Seel«, wiegelte der größere Türsteher ab. »Er wird erwartet.«
Seel knurrte zuerst und zischte dann: »Wir sehen uns noch, du Witzbold.«
»Soll mir recht sein«, entgegnete Pallis mit einem noch breiteren Grinsen.
Er schob sich an den Wächtern vorbei und näherte sich dem Plattformaufbau, wobei er sich selbst über seine Handlungen wunderte. Warum, zum Beispiel, hatte er die beiden eben provoziert? War Gewalt, das Zuschlagen mit der Faust etwa eine so attraktive Form der Entspannung?
Eine passende Antwort in diesen unruhigen Zeiten, Pallis.
Er bewegte sich langsam auf den Mittelpunkt der Plattform zu. Der Ort hatte sich im Vergleich zu früher kaum verändert. Lebensmittelkartons, noch mindestens halb voll, lagen über das Deck verstreut. Beim Anblick des verfaulenden Zeugs dachte Pallis mit aufkeimendem Zorn an das verhungernde Kind keine fünfhundert Meter entfernt.
Die Plattform war mit Ausstellungstischen vollgestellt, auf denen sich Trophäen verschiedener Art befanden: Fotografien, Uniformen, jede Menge goldener Schulterstücke und ein Orbitalmodell, das er, wie Pallis sich erinnerte, mal in Hollerbachs Büro gesehen hatte. Außerdem gab es noch Exponate wie Bücher, Diagramme, Tabellen und stapelweise Papier. Ausweislich dieser Gegenstände war es klar, daß die noch existierende Regierung des Floßes hier ihren Sitz haben mußte.
Pallis grinste säuerlich. Kein Zweifel, es war eine große symbolische Geste gewesen, dem korrupten Zentrum des Floßes die Kontrolle zu entziehen und sie hierher, zu diesem spektakulären Fluchtpunkt, zu verlegen… Doch was, wenn es mal auf diesen ganzen Papierkram regnen würde?
Allerdings schienen solche Nebensächlichkeiten im Moment für niemanden allzu relevant zu sein, und das galt auch für den Regierungsapparat überhaupt. Außer einer Gruppe verschüchterter, ungepflegter Wissenschaftler, die sich im Mittelpunkt des Decks zusammengedrängt hatte, konzentrierte sich die Besatzung der Plattform in einem engen Bereich an der dem Nebel zugewandten Wand. Pallis kam langsam näher. Die neuen Herrscher des Floßes, überwiegend junge Männer, ließen lachend Schnapsflaschen herumgehen, wobei sie auf irgendeine Attraktion dicht an der Wand starrten.
»Hallo, Baumpilot.« Die Stimme klang überheblich und kam ihm unangenehm bekannt vor. Pallis drehte sich um. Da stand Gover, die Hände in die Seiten gestemmt und ein Grinsen auf seinem hageren Gesicht.
»Gover. Welche Überraschung. Ich hätte wissen müssen, daß du hier bist. Du weißt, was sie über dich sagen, eh?«
Govers Grinsen verschwand.
»Scheiße schwimmt immer oben.«
Govers Unterlippe zitterte. »Du solltest aufpassen, Pallis«, sagte er schrill. »Die Dinge auf dem Floß haben sich geändert.«
»Willst du mir drohen, Gover?« fragte Pallis amüsiert.
Lange Sekunden hielt der jüngere Mann seinem Blick stand und ließ ihn dann sinken — nur für einen Sekundenbruchteil, aber lange genug für Pallis, um zu wissen, daß er gewonnen hatte.
Seine Muskeln entspannten sich, und das Leuchten seines winzigen Triumphes verschwand schnell wieder. Zwei potentielle Faustkämpfe in ebenso vielen Minuten?
Ein unglaublicher Vorgang.
»Du hast reichlich lange gebraucht, um herzukommen«, monierte Gover.
Pallis ließ seinen Blick schweifen. »Ich rede nicht mit der Marionette, wenn ich ihren Meister kenne. Sag Decker, daß ich hier bin.«
Die Frustration ließ Gover rot werden. »Decker hat nicht das Kommando. Wir arbeiten nicht auf diese Art…«
»Natürlich nicht«, erwiderte Pallis gelangweilt. »Hol ihn einfach. Alles klar?« Dann wandte er seine ungeteilte Aufmerksamkeit der lebhaften Gruppe an der Wand zu.
Gover trollte sich.
Dank seiner Körpergröße konnte Pallis die wimmelnde Menge gut überblicken, die sich um eine Bresche in der Glaswand der Plattform drängte. Eine kühle Brise wehte über die Kante des Decks, und trotz seiner Flugerfahrung verkrampfte sich Pallis’ Magen, als er reflektierte, wie er sich dieser Abbruchkante in die Unendlichkeit näherte. Ein mehrere Meter langer Metallträger war durch die Lücke und über die Kante hinaus geschoben worden. Ein junger Mann stand bei dem Träger, mit zerrissener und schmuddeliger Uniform, an der aber immer noch Offiziersschulterstücke befestigt waren. Sein erhobener Kopf war so voller Blut, daß Pallis ihn nicht erkannte. Die Menge lachte und verspottete den Offizier und traktierte seinen Rücken mit Fäusten und Knüppeln, wodurch sie ihn zwangen, Schritt für Schritt auf dem Metallträger Richtung Abgrund zu gehen.
»Du wolltest mich sehen, Baum-Pilot?«
Pallis drehte sich um. »Decker. Lange nicht gesehen.« Decker nickte. Seine spindeldürre Gestalt konnte auch durch die mit sorgfältigen schwarzen Stickereien verzierte Montur nicht kaschiert werden, und sein Gesicht war eine breite und starre Maske, die durch alte Narben konturiert wurde.
Pallis deutete auf den jungen Offizier auf dem Träger. »Warum machst du dem nicht ein Ende?«
Decker grinste. »Ich habe hier keine Autorität.«
»Red keinen Unsinn!«
Decker warf lachend den Kopf zurück.
Decker war im gleichen Alter wie Pallis; sie hatten ihre Kindheit in einer ständigen Rivalität verbracht, wobei Pallis dem anderen immer überlegene Fähigkeiten konzediert hatte. Als Erwachsene hatten sich ihre Wege dann schnell getrennt. Decker hatte nie die Disziplin für eine Ausbildung aufbringen können und sich deshalb frustriert der Infrastruktur zugewandt. Mit der Zeit hatten die Bäume Pallis’ Gesicht zu einer narbigen Maske entstellt, wohingegen Deckers Gesicht durch die Narben Dutzender Fäuste, Stiefel und Messer gezeichnet war…
Aber er hatte immer mehr gegeben, als er genommen hatte. Und langsam hatte er eine inoffizielle Machtstellung erlangt: wenn man etwas schnell erledigt haben wollte, ging man zu Decker… Damit war Pallis klar, wer am Ende der lachende Gewinner dieser Revolte sein würde, auch wenn er sie nicht selbst inszeniert hatte.
»Okay, Pallis, warum wolltest du mich sehen?« fragte Decker.
»Ich will wissen, warum du und deine Bande blutrünstiger Gehilfen mich von meinem Baum weggeholt haben.«
Decker kratzte sich an seinem ergrauenden Bart. »Ich handele natürlich nur in meiner Eigenschaft als Sprecher für das Übergangskomitee…«
»Natürlich.«
»Wir haben ein paar Lieferungen für den Gürtel, und wir brauchen dich als Transportführer.«
»Lieferungen? Was für Lieferungen?«
Decker nickte in Richtung der Ansammlung von Wissenschaftlern. »Die machen den Anfang. Arbeitskräfte für die Mine. Die meisten von ihnen jedenfalls; wir behalten die Jungen und Gesunden.«
»Sehr anständig.«
»Und du wirst eine Versorgungsmaschine mitnehmen.«
Pallis runzelte die Stirn. »Du willst dem Gürtel eine von unseren Maschinen geben?«
»Wenn du eure Geschichte nachliest, wirst du feststellen, daß sie ein Recht darauf haben.«
»Komm mir nicht mit der Geschichte, Decker. Wo ist der Haken?« Decker schürzte die Lippen. »Der Tatsache, daß die Bevölkerung dieses Floßes unseren Brüdern im Gürtel ein zunehmendes Maß an Sympathie entgegenbringt, sollte sich, sagen wir es mal so, ein kluger Mann zum jetzigen Zeitpunkt nicht entgegenstellen.«
»Du willst also die Masse befriedigen. Wenn aber das Floß seinen wirtschaftlichen Vorsprung gegenüber dem Gürtel einbüßt, wirst du auch verlieren.«
Decker grinste. »Ich werde mich damit befassen, wenn es aktuell wird. Es ist ein langer Flug zum Gürtel, Pallis; das weißt du so gut wie irgend jemand sonst. Und auf der Reise kann so einiges passieren.«
»Du würdest vorsätzlich eine unserer Maschinen opfern? Zum Teufel, Decker…«
»Das habe ich nicht gesagt, alter Freund. Ich habe nur zum Ausdruck bringen wollen, daß der Transport einer Maschine durch einen Baum — oder eine Flotte von Bäumen — eine enorme technische Herausforderung für deine Waldmänner darstellen wird.«
Pallis nickte. Decker hatte natürlich recht; man würde einen Verbund aus sechs oder sieben Bäumen zusammenstellen müssen und die Maschine zwischen ihnen aufhängen. Er würde seine besten Piloten brauchen, um die Formation über die ganze Strecke bis zum Gürtel aufrecht zu erhalten… Namen und Gesichter gingen ihm durch den Kopf…
Und Decker grinste ihn an. Verärgert runzelte Pallis die Stirn. Alles, was ein Mann wie Decker tun mußte, war, ihn mit einem interessanten Problem zu ködern; mit dem Rest hatte er dann nichts mehr zu tun.
Decker drehte sich um, um die Aktivitäten seiner Co-Revolutionäre zu beobachten.
Der junge Offizier befand sich bereits einen guten Meter hinter der Glaswand. Tränen vermischten sich mit dem geronnenen Blut auf seinen Wangen, und Pallis bemerkte, wie sich die Blase des Delinquenten entleerte. Der auf seiner Hose erscheinende Fleck ließ den Mob vor Lachen aufbrüllen.
»Decker…«
»Ich kann ihn nicht retten«, sagte Decker unbeirrbar. »Er will seine Rangabzeichen nicht entfernen.«
»Spricht für ihn.«
»Er ist ein selbstmörderischer Idiot.«
Da löste sich eine Gestalt aus dem Haufen der kauernden Wissenschaftler. Es war ein junger, dunkelhaariger Mann. Er rief »Nein« und stürzte sich mit einem Wirbel seiner narbigen Fäuste von hinten auf die Menge. Der Wissenschaftler verschwand bald unter einem Hagel aus Fäusten und Stiefeln; schließlich wurde auch er, blutig und mit zerrissener Kleidung, auf den Träger gestoßen. Und trotz der frischen Quetschungen, des Schmutzes und des Bartwuchses erkannte Pallis urplötzlich den ungestümen jungen Mann.
»Rees«, keuchte er.
Als Rees auf die nach oben starrenden Gesichter sah, spürte er seinen von den Schlägen schmerzenden Kopf. Über die Köpfe der Menge hinweg konnte er die kleine Schar der Wissenschaftler und Offiziere sehen, die so dicht zusammengedrängt waren, daß sie nicht einmal seinen Tod hätten mitansehen können.
Der Offizier beugte sich vor und schrie durch den Lärm: »Ich habe dir zu danken, Minenratte!«
»Keine Ursache, Doav. Ich bin wohl noch nicht so weit, daß ich einen Mann allein sterben sehen kann. Nicht mal dich.«
Jetzt brandeten Fäuste und Knüppel auf sie zu. Rees machte einen vorsichtigen Schritt zurück. War er so weit gereist, hatte er so viel gelernt… nur um jetzt so zu enden?
…Er dachte an die Zeit der Revolution zurück, an den Moment, als er Gover außerhalb der Brücke gegenübergestanden hatte. Als er inmitten der Wissenschaftler gesessen und damit deutlich gemacht hatte, auf welcher Seite er stand, hatte Gover auf das Deck gespuckt und ihm den Rücken zugewandt.
»Du verdammter blöder Grünschnabel. Was, zum Teufel, glaubst du wohl, was du da tust?« hatte Hollerbach gezischt. »Es geht nur ums Überleben… Wenn wir die Arbeit nicht wieder aufnehmen, können wir gleich nach jeder Schicht eine Revolution anzetteln.«
Rees schüttelte den Kopf. Was Hollerbach gesagt hatte, klang wohl logisch — aber es gab sicher noch Wichtigeres als das reine Überleben. Vielleicht würde er die Dinge jedoch auch anders sehen, wenn er erst einmal so alt war wie Hollerbach…
Während der Schichtarbeit hatte er permanent zu wenig Nahrung, Wasser und Schlaf gehabt und mußte fast ständig im Freien leben, wo er mit primitivsten Hilfsmitteln niedere Wartungsarbeiten auf dem Deck zu verrichten hatte. Er hatte die ständigen Demütigungen ruhig hingenommen und darauf gewartet, daß diese düstere Zeit auf dem Floß einmal zu Ende gehen würde.
Doch die Revolution war nicht niedergeschlagen worden. Zumindest seine Gruppe war hierher gebracht worden; er vermutete, daß einige oder alle von ihnen jetzt für eine neue Gerichtsverhandlung selektiert worden waren. Er war darauf vorbereitet, sein Schicksal zu akzeptieren…
… bis der Anblick des einsam sterbenden jungen Offiziers seine mühsam aufrechterhaltene Geduld überstrapaziert hatte.
Doav wirkte jetzt ruhig und gefaßt und beantwortete Rees’ Blick mit einem Nicken. Rees streckte eine Hand aus, die der Offizier fest ergriff.
Die beiden wandten sich dem Mob zu.
Mittlerweile waren einige junge Männer unter Anfeuerungsrufen ihrer Kumpane auf den Balken geklettert. Rees wehrte ihre Knüppel mit dem Unterarm ab, mußte sich aber trotzdem Zentimeter für Zentimeter zurückziehen.
Unter seinem bloßen Fuß spürte er eine metallische Kante, die Kühle des Abgrunds.
Doch da schob sich jemand durch die Menge.
Pallis war Decker durch den Pöbel gefolgt und registrierte mit gewisser Belustigung die Ehrerbietung, die man dem großen Mann entgegenbrachte. »Haben wir jetzt also zwei Helden, eh?« höhnte Decker an der Wandung.
Gelächter kam auf.
»Glaubst du nicht auch, daß das Verschwendung wäre?« sinnierte Decker laut. »Du — Rees, du bist das doch? — wir wollten dich hier behalten. Wir brauchen kräftige Kerle; Arbeit gibt’s genug. Jetzt haben wir durch deine Blödheit zu wenig Leute… Ich sag dir was: Du. Der Offizier.« Decker winkte ihn zu sich. »Komm runter und geh zu den anderen Feiglingen dort drüben.« Ein mißbilligendes Grummeln erhob sich; Decker wartete, bis es abgeflaut war und meinte dann sanft: »Das ist natürlich nur mein persönlicher Vorschlag. Möchte sich jemand dem Willen des Komitees widersetzen?«
Natürlich nicht. Pallis grinste.
»Komm, Bursche.«
Doav drehte sich unsicher zu Rees herum. Der nickte und schob ihn behutsam zur Plattform. Der Offizier balancierte unbeholfen über den Balken und stieg auf das Deck hinab. Als er sich durch die Menge zu den Wissenschaftlern vorarbeitete, mußte er ein Spießrutenlaufen mit leichten Schlägen und Tritten über sich ergehen lassen.
Rees war nun allein.
»Was die Minenratte angeht…« Der Pöbel grölte in froher Erwartung. Mit einer Handbewegung sorgte Decker für Ruhe. »Was ihn betrifft, so kann ich mir ein viel härteres Schicksal vorstellen, als ihn von dieser Plattform springen zu lassen. Wir schicken ihn zum Gürtel zurück! Wenn er es mit den Mineuren zu tun bekommt, die er im Stich gelassen hat, wird er seinen ganzen Heldenmut brau…«
Seine Worte gingen in einem Beifallssturm unter; Hände wurden ausgestreckt und rissen Rees von dem Balken.
»Decker, wenn es dir etwas bedeuten sollte: Ich danke dir«, murmelte Pallis.
Decker ignorierte seine Worte. »Gut, Pilot; wirst du mit deinem Baum den vom Komitee angewiesenen Kurs nehmen?«
Pallis verschränkte die Arme. »Ich bin Pilot, Decker. Und kein Gefängniswärter.«
Decker hob die Augenbrauen, wodurch sich die Narben auf seinen Wangen weißlich dehnten. »Natürlich ist es deine Sache; du bist ein Bürger des Freien Floßes. Doch wenn du diese aufwieglerischen Wissenschaftler nicht mitnimmst, weiß ich nicht, wie wir sie ernähren sollen.« Er seufzte mit gespielter Besorgnis. »Im Gürtel haben sie zumindest eine Chance. Aber hier die Zeiten sind hart, weißt du. Am humansten wäre es noch, sie gleich jetzt über diese Kante gehen zu lassen.« Er sah Pallis mit ausdruckslosen schwarzen Augen an. »Was meinst du, Pilot. Sollen meine jungen Freunde mal ein wenig Sport treiben?«
Pallis spürte, wie er zitterte. »Du bist ein Bastard, Decker.« Decker lachte leise.
Es wurde Zeit für die Wissenschaftler, an Bord zu gehen. Pallis inspizierte noch einmal den Baum und kontrollierte die an das konturierte Holz angeflanschten Versorgungsmodule.
Zwei Männer vom Komitee zwängten sich ganz unvornehm durch die Blätter, wobei sie ein Seil hinter sich herzogen. Der eine, jung, groß und schon mit Glatze, nickte ihm zu. »Guten Flug, Pilot.«
Pallis schaute nur kalt und würdigte ihn keiner Antwort.
Die beiden Männer suchten auf den Ästen festen Tritt, spuckten in die Hände und begannen am Seil zu ziehen. Schließlich kam durch das Laub ein Bündel aus schmutzigem Tuch zum Vorschein. Die zwei kippten das Bündel auf eine Seite, lösten das Seil und schickten es durch die Blätter zurück.
Langsam wickelte sich das Bündel auf. Pallis ging zu ihm hinüber.
Das Bündel war ein Mensch, ein an Händen und Füßen gefesselter Mann: ein Wissenschaftler, wie aus den Überresten der purpurroten Abzeichen an der zerschlissenen Kleidung geschlossen werden konnte. Er versuchte sich aufzusetzen und ruckte dabei mit seinen gefesselten Armen. Pallis bückte sich, nahm den Mann am Kragen und riß ihn in die Höhe. Der Wissenschaftler schaute ihn mit einem Anflug von Dankbarkeit an; durch die Schmutzschicht auf seinem Gesicht konnte Pallis Cipse identifizieren, den früheren Chefnavigator.
Die Männer vom Komitee lehnten derweil am Baumstamm, warteten offensichtlich darauf, daß der nächste ›Passagier‹ an ihr Seil geknüpft wurde. Pallis ließ Cipse stehen und ging zu ihnen hinüber. Er packte den Glatzkopf an der Schulter und drehte ihn mit einem kräftigen Ruck zu sich herum.
Der Kahle beäugte ihn unsicher. »Was gibt’s, Pilot?«
Mit zusammengebissenen Zähnen sagte Pallis: »Es interessiert mich nicht im geringsten, was dort unten passiert; aber auf meinen Bäumen bin ich der Kommandant, und deshalb sage ich, daß diese Leute meinen Baum mit Würde betreten.« Er grub seine Finger in das Fleisch des anderen, bis ein Knorpel knackte.
Der Kahlköpfige schraubte sich aus seinem Griff. »Alles klar, verdammt; wir erledigen nur unseren Job. Wir wollen keinen Ärger.«
Pallis drehte sich um und ging zu Cipse zurück. »Willkommen an Bord, Navigator«, sagte er formell. »Es wäre eine Ehre für mich, wenn du mein Essen mit mir teilst.«
Cipses Augen waren geschlossen, und sein schmächtiger Körper wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.
Langsam näherte sich der Geleitzug aus Bäumen dem Innern des kosmischen Nebels. Dann dauerte es nicht mehr lange, und der Gürtel tauchte vor ihnen auf. Düster schweifte Rees’ Blick über die Kette von ramponierten Boxen und Rohrleitungen, die sich um den rostigen Punkt wickelte, der den Kern des Sterns darstellte. Da und dort bewegten sich Menschen insektengleich zwischen den Containern, und zwei Gießereien emittierten eine gelbliche Rauchwolke, die wie ein Fleck in der Atmosphäre über dem Gürtel hing.
Benommen machte er sich an den Feuerkesseln zu schaffen. Es war ein Alptraum: eine grausame Parodie seiner hoffnungsvollen Reise zum Floß vor so vielen Schichten. Während seiner Ruhezeiten mied er die Gesellschaft der anderen Wissenschaftler. Sie hatten sich in einem engen Kreis um Grye und Cipse versammelt, sprachen kaum und taten nur das, was ihnen gesagt wurde.
Und das sollten nun Männer mit Intelligenz und Kreativität sein, dachte Rees bitter. Doch dann sagte er sich, daß ihre Zukunft auch nicht unbedingt den Einsatz von Kreativität verlangen würde und konnte sie deshalb nicht dafür verurteilen, daß sie sich von der Welt abgewandt hatten.
Sein einziges, bescheidenes Vergnügen bestand darin, sich stundenlang am Stamm des Baums aufzuhalten und die Formation zu beobachten, die einige hundert Meter über ihm hing. Sechs Bäume markierten die Ecken eines unsichtbaren Hexagons; sie flogen in einer Ebene, und das so dicht beieinander, daß ihre Blätter sich hätten berühren können. Doch das Können der Piloten war so ausgeprägt, daß bei dem meilenweiten Sinkflug kaum ein Zweig geknickt wurde. Und aufgehängt unter den Bäumen, in einem durch sechs dicke Taue fixierten Netz, befand sich die kastenförmige Versorgungsmaschine. Rees konnte die Fragmente von Decksplatten des Floßes sehen, die noch immer an der Grundfläche der Maschine hingen.
Selbst jetzt bot der Flug einen erhebenden Anblick. Daß die Menschen zu solcher Schönheit, zu solchen Leistungen fähig waren…
Der Gürtel verwandelte sich in eine Schnur von Unterkünften und Fabriken. Rees sah, wie stecknadelkopfgroße, halbbekannte Gesichter ihren Landeanflug beobachteten.
Pallis kam zu ihm ans Ende des Baumes. »Mußte es also ein solches Ende nehmen, junger Bergmann«, sagte er rauh. »Es tut mir leid.«
Rees blickte ihn leicht verwundert an; das Gesicht des Piloten, in dem die Narben leuchteten, war auf den näherkommenden Gürtel gerichtet. »Pallis, es gibt nichts, was dir leid tun müßte.«
»Ich hätte dir wirklich einen Gefallen getan, wenn ich dich schon über Bord geworfen hätte, als sie dich bei mir ablieferten. Sie werden dir da unten eine schwere Zeit bereiten, Kumpel.«
Rees zuckte die Achseln. »Aber es wird nicht so schwer wie für die anderen«, meinte er und zeigte auf die Wissenschaftler. »Und außerdem hatte ich die Wahl. Ich hätte mich der Revolution anschließen und auf dem Floß bleiben können.«
Pallis kratzte sich am Bart. »Ich verstehe eh nicht, warum du es nicht gemacht hast. Die Boneys wissen, daß ich keine Sympathie für das alte System hege, und die Art, wie deine Leute am Boden gehalten wurden, kann dich doch nicht kalt gelassen haben.«
»Natürlich hat es das nicht. Aber… ich bin nicht auf das Floß gegangen, um Brandbomben zu werfen, Baum-Pilot. Ich wollte nur herausfinden, was mit der Welt nicht stimmte.« Er grinste. »Wirklich bescheiden, was?«
Pallis hob den Kopf noch höher. »Du hattest verdammt recht damit, Junge. Die Probleme, die du erkannt hast, bestehen nämlich nach wie vor.«
Rees ließ den Blick über den rötlichen Himmel schweifen. »Ja, das ist leider wahr.«
»Verlier nicht die Hoffnung«, sagte Pallis mit Nachdruck. »Der alte Hollerbach ist noch immer in Aktion.«
Rees lachte. »Hollerbach? Den werden sie nicht versetzen. Sie brauchen noch immer jemanden, der die Sache hier drin am Laufen hält. Jemand, der weiß, wo die Wartungshandbücher für die Versorgungsmaschinen sind, der vielleicht sogar das Floß vor einer Kollision mit einem anderen Himmelskörper bewahren kann… und außerdem glaube ich, daß sogar Decker vor ihm Angst hat…«
Jetzt lachten sie beide. Sie blieben noch für lange Minuten am Baumstamm und beobachteten, wie der Gürtel näherkam.
»Pallis, du mußt etwas für mich tun.«
»Was?«
»Sag Jaen, daß ich nach ihr gefragt habe.«
Der Baum-Pilot legte seine schwere Hand auf Rees’ Schulter. »Gut, Kumpel. Für den Augenblick ist sie sicher. Hollerbach hat sie in sein Assistenten-Team aufgenommen, und ich werde alles tun, damit sie da auch bleibt.«
»Danke. Ich…«
»Und ich werde ihr sagen, daß du dich nach ihr erkundigt hast.«
Ein Seil wickelte sich vom Baumstamm ab und schabte über die Dächer des Gürtels. Rees machte sich als erster an den Abstieg. Ein Bergmann, dessen eine Gesichtshälfte von einer schweren roten Brandwunde entstellt war, beobachtete ihn neugierig. Die Rotation des Gürtels trieb ihn vom Baum ab. Rees zog das tänzelnde Seil zu sich heran und half einem zweiten Wissenschaftler beim Abstieg zu den Dächern.
Bald schon versuchte eine ganze, um den Gürtel verteilte Schar von Wissenschaftlern mit unbeholfenen Manövern an das baumelnde Seil zu gelangen. Ein Haufen schmalgesichtiger Kinder vom Gürtel verfolgte ihre Aktivitäten mit großen Augen.
Dann erblickte Rees Sheen. Seine ehemalige Vorgesetzte hing an einer Hütte, wobei sie ein Seil um einen ihrer braunen Füße gewickelt hatte, und beobachtete die Prozession mit einem breiten Grinsen.
Rees ließ die seltsame Parade vorbeidefilieren und kämpfte sich zu Sheen durch. Er befestigte einen Fuß an ihrem Seil, richtete sich auf und fixierte sie.
»Na so was«, meinte er leise. »Wir dachten schon, du wärst tot.«
Dabei nahm er sie gründlich in Augenschein. Der energische Zug ihrer langen Gliedmaßen war ihm noch in unangenehmer Erinnerung; ihr Gesicht jedoch war hager, und ihre Augen lagen tief in den Höhlen. »Du hast dich verändert, Sheen.«
Sie stieß ein Lachen hervor. »Genauso wie der Gürtel, Rees. Wir haben hier harte Zeiten durchgemacht.«
Seine Augen verengten sich. Ihre Stimme klang fast brutal, mit einem Unterton der Verzweiflung. »Wenn du so intelligent bist, wie ich dir früher immer unterstellt habe«, erwiderte er, »läßt du dir von mir helfen. Laß mich dir etwas von dem vermitteln, was ich in der Zwischenzeit gelernt habe.«
Sie schüttelte den Kopf. »Dies ist nicht die Zeit für akademische Studien, mein Junge. Hier geht es nur noch ums Überleben.« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Und glaube mir, für dich und deine schlaffen Kollegen wird das hart genug werden.«
Die absurde, schleppende Prozession, die noch immer dem vom Baum nachgeführten Seil folgte, hatte bereits fast einen ganzen Umlauf um den Gürtel vollführt.
Rees schloß die Augen. Wenn nur dieses ganze Chaos ein Ende hätte, wenn er nur wieder an seine Arbeit gehen dürfte…
»Rees!« erklang Cipses dünne Stimme. »Du mußt uns helfen, Mann. Sag diesen Leuten, wer wir sind…«
Rees schüttelte die Verzweiflung von sich ab und zog sich über die Dächer hinweg.