ERSTES BUCH DIE ABTEI

Erstes Kapitel

Zitternd vor Kälte und Erschöpfung, stand Jakob in der stürmischen Februarnacht und rang nach Atem, während der Himmel in wildem Zorn Blitze wie Speere aus gleißendem Licht nach ihm schleuderte. Ein böiger Wind schlug ihm den Regen, der halb Schnee und halb Hagel war, wie eine Peitsche aus messerscharfen Eisschnüren schmerzhaft ins Gesicht.

Sie würden beide elendig in dieser eisigen Sturmnacht zu Grunde gehen, wenn das Kloster nicht bald auftauchte! Jakob war am Ende seiner Kraft und konnte den einachsigen Eselskarren mit der Last des alten Mönches nicht länger ziehen! Er hatte in den Händen, die wie festgefroren um die Deichsel des Karrens und den ledernen Zuggurt lagen, kaum noch Gefühl.

Wieder erhellte ein Blitz für kurze Momente die Finsternis der Nacht, die ihm wie der schwarze, gierige Schlund des Verderbens vorkam. Jakob konnte erkennen, dass der schlammige Pfad vor ihm auf die Kuppe eines sanft ansteigenden Hügels führte. Ein mächtiger Eichenbaum mit ausladender Krone erhob sich auf der kleinen Anhöhe, die wie der Rest des Eifellandes unter einer knöcheltiefen Decke alten, harschen Schnees lag. Dahinter zeichnete sich ein Waldstück ab, schwarz wie ein Henkerstuch und abweisend wie eine Wand aus Festungspalisaden.

An jedem anderen Tag wäre es für Jakob ein Leichtes gewesen den Eselskarren mit dem eingefallenen, alten Mönch den Hügel hochzuziehen. In dieser Nachtstunde jedoch bewirkte der Anblick der Steigung, dass ihn ein Gefühl der Verzweiflung und des zornigen Aufbegehrens gegen ein allzu ungnädiges Schicksal überkam.

»Ich kann nicht mehr!«, schrie er in die Nacht hinaus, als dem Blitz nun ein scharfer Donner folgte, der wie das Krachen von Kanonen über das bergige Eifelland rollte. Er hatte Tränen der Erschöpfung in den Augen. »Ich will nicht mehr! Ich habe mich genug geplagt!« Und in Gedanken stieß er eine lästerliche Verwünschung aus. Verflucht sei der Morgen vor drei Tagen am Laacher See, als er sich hatte beschwatzen lassen dem alten Kuttenträger seine Dienste zu verkaufen!

Jakob wandte sich um und warf einen gehetzten Blick auf das gekrümmte Bündel, das unter zwei räudigen Pferdedecken auf den Brettern seines Wagens lag. Deichsel und Zuggurt entglitten seinen kraftlosen Händen und fielen in den Schlamm des aufgeweichten Weges.

Mit tauben Fingern zog er die nassen Decken über dem Kopf des alten Mannes zurück. Er konnte dessen ausgezehrtes Gesicht in der Öffnung der Kapuze nicht sehen, doch er spürte, dass die Augen des Klosterbruders ihn anblickten, und er hörte ihn etwas murmeln.

Jakob beugte sich zu ihm hinunter. »Ich kann nicht weiter. Es tut mir Leid, ich bin am Ende meiner Kräfte, Bruder Anselm«, sagte er keuchend und dachte an den versprochenen Lohn. Der Mönch hatte einen kleinen Beutel um den Hals hängen, in dem Jakob vor drei Tagen den verlockenden Klang von Münzen vernommen hatte.

»... heilige Jungfrau... an dem Busen der Gottesmutter...« Bruder Anselm stieß die Worte abgehackt hervor und war offensichtlich nicht mehr fähig einen ganzen Satz zu formulieren.». auch die grässlichste Schuld. barmherzige Aufnahme. Hort der Gnade und Sicherheit. mich ihr anvertrauen. Ihr Angesicht. dein Erbarmen. deine Huld.« Er versuchte sich aufzurichten, fiel jedoch mit einem schwachen Stöhnen sofort wieder auf die harten Bretter zurück.

»Schon gut, schon gut, der Herr wird sich Eurer gewiss erbarmen«, antwortete Jakob und berührte die Stirn des alten Mönches. Er zuckte zurück, als hätte er eine feuerrote Herdplatte berührt. Der Mann glühte vor Fieber!

Dem Mönch war nicht mehr zu helfen! Er war schon so gut wie tot. Es machte also keinen Sinn mehr, sich weiter mit ihm abzuplagen. Bruder Anselm würde ihn bloß noch mit sich ins Grab ziehen, wenn er sich seiner Last nicht endlich entledigte. Der kranke Mönch war für ihn zu einem lebensbedrohlichen Ballast geworden, denn wer weiß, wie weit es noch bis zu dieser Abtei Himmerod war. Wenn er sich verirrt hatte, konnte das Kloster im Salmtal noch viele Meilen entfernt sein.

Ich werde ihn dort oben unter der Eiche zurücklassen, beschloss Jakob. Bis dahin bringe ich ihn noch. Dann möge ihm der Herr gnädig sein!

Er zog den Ledergurt aus dem Schlamm, legte ihn sich wieder über die linke Schulter, packte mit der Rechten die Deichsel und setzte sich mühsam in Bewegung.

Das Gewitter tobte mit unverminderter Gewalt. Immer wieder rissen grelle Blitze die Nacht auf und tauchten das Land in ihren gespenstisch hellen Schein. Das Krachen des Donners, der nun fast gleichzeitig mit jedem Blitz erfolgte, war so ohrenbetäubend, als wollte das Himmelsgewölbe in tausend Stücke zerbersten und auf ihn niederstürzen.

Jakob quälte sich den Hügel hinauf. Bei jedem Schritt verfluchte er den maulfaulen Fuhrmann, der ihm am Nachmittag beim Hunnenkopf den Weg gewiesen hatte. Er hatte so geklungen, als läge das Kloster dieser Zisterziensermönche gleich hinter der nächsten Hügelkette. Die Landstraße war trocken und der Himmel sonnig gewesen und so hatte er die letzte, scheinbar kurze Wegstrecke guten Mutes in Angriff genommen. Und dann, noch vor Einbruch der Dunkelheit, hatte sich das Unwetter zusammengebraut und war über ihn hergefallen, kaum dass er den Manderscheider Wald hinter sich gebracht hatte. Die Pest und Krätze über den Fuhrmann, der ihn über die wahre Entfernung zur Abtei so getäuscht hatte!

Wenn er den falschen Weg eingeschlagen hatte, konnte er noch die ganze Nacht herumirren, ohne auf das Kloster oder sonst eine Behausung zu stoßen, wo man ihm ein Dach über dem Kopf und ein trockenes Lager gewähren konnte. Dann blieb ihm nichts anderes übrig als irgendwo im Wald Schutz zu suchen und unter seinen Karren zu kriechen.

Voller Bitterkeit dachte er daran, dass er gestern noch einen Esel besessen hatte. Das Tier war zwar mager, äußerst übellaunig und bissig gewesen, aber es hatte doch den Karren mit ihm und dem Mönch gezogen. Aber dann, beim Abstieg ins Tal von Manderscheid, hatte das störrische Biest auf dem verschneiten Berghang den Tritt verloren, war gestürzt und hatte sie mit sich gerissen. Dass der Mönch und er den Sturz überlebt hatten, ohne sich auch nur einen Knochen gebrochen zu haben, war ein kleines Wunder gewesen. Der Esel hatte weniger Glück gehabt. Er hatte sich das Genick gebrochen. Und so hatte dann er, Jakob Tillmann, der vom Pech verfolgte Bastard einer Bauernmagd und eines durchziehenden Landsknechtes, sich den Zuggurt über die Schulter legen müssen.

Jakob blieb stehen, als er sah, dass der Weg nicht direkt zu der Eiche auf dem Hügel führte, sondern ein gutes Stück unterhalb davon nach links abbog und Richtung Wald lief. Im Licht eines Blitzes entdeckte er rechts vom Weg eine Mulde, die von einem Dickicht halb überwachsen war. Er zögerte kurz und zuckte dann die Achseln.

»Dies ist ein ebenso guter Platz zum Sterben wie die Eiche. Besser liegt er da oben auch nicht«, murmelte er grimmig vor sich hin. Was nützte es denn dem alten Mönch, wenn er ihn noch bis unter den Baum schleppte, sich dabei völlig verausgabte und dadurch selbst dem Tod zum Opfer fiel? Gott oder Teufel, wer auch immer mehr Anspruch auf seine Seele hatte, er sollte die des alten Mönches nun endlich haben!

Sein Gewissen, das sich dennoch zu regen begann, beruhigte Jakob damit, dass er wahrhaftig alles getan hatte, was in seiner Macht stand, um den alten Mann nach Himmerod zu bringen. Er hatte seinen Esel dabei verloren und sich selbst nicht geschont. Mehr konnte keiner von ihm verlangen. Was die großzügige Belohnung anging, die ihm Bruder Anselm versprochen hatte, so musste er sich diese wohl selbst nehmen. Der fiebernde Mönch hatte gewiss nicht mehr die Kraft dazu, ihm seinen Lohn zu geben.

Jakob fragte sich, wie viel Geld wohl in dem kleinen Lederbeutel sein mochte. Wenn er es recht überlegte, hatte er eigentlich Anspruch darauf, auch für seinen Esel entschädigt zu werden.

Ich werde mir an Münzen nehmen, was er im Brustbeutel mit sich trägt! Wenn es nur ein paar lausige Heller sind, will ich mich damit zufrieden geben. Wenn es jedoch ein hübscher Batzen Geld ist, soll er mir als Belohnung ebenso recht sein, beschloss er und vergaß vor Aufregung einen Augenblick sogar die Kälte, die ihn quälte, und das Wüten des Unwetters. Gerechter kann ich es gar nicht machen als mein Glück ganz dem Zufall zu überlassen!

Jakob hatte seine Hand um den Lederbeutel gelegt, fühlte unter seinen Fingern den harten Widerstand von mindestens einem halben Dutzend Münzen und versuchte ihren Wert schon anhand ihres Gewichtes zu schätzen, als erneut ein Blitz aus dem Himmel zuckte.

Dieser gleißende Blitz übertraf mit seiner blendenden Helligkeit alle anderen um ein Mehrfaches, zumindest kam es Jakob so vor. Begleitet von einem unbeschreiblich lauten Donnern und Bersten, das Jakob durch Mark und Bein ging, fuhr der Blitz in die Eiche -und spaltete den Baum wie ein Henker mit seinem Richtschwert.

Jakob schrie zu Tode erschrocken auf, ließ den Lederbeutel mit den Münzen los und stürzte rücklings in den Schlamm. Mit entsetztem Blick starrte er zur Eiche hinüber, deren mächtigen Stamm der Blitz wie ein Bündel Stroh auseinander gerissen hatte. Ein Schauer, der diesmal von innen kam, durchfuhr ihn und ließ ihn erzittern. Hätte er den Mönch unter die Eiche geschleppt und dort von seinem Karren gezogen, hätte der Blitz sie beide erschlagen!

Waren der Blitz und die gespaltene Eiche direkt vor seinen Augen ein Zeichen? Eine letzte Warnung? Und wenn ja, galt sie dann nur dem irdischen Besitz des todkranken Mönches, den er gerade an sich hatte nehmen wollen? Oder wollte ihm dieses zeichenhafte Geschehen etwas anderes sagen?

Am ganzen Leib wie Espenlaub zitternd und von beklemmenden Ängsten bedrängt, rappelte er sich auf, zog die Decken hastig wieder über den Fieberkranken und beeilte sich von diesem schauerlichen Ort fortzukommen. Die Furcht vor den dunklen Mächten, denen er weder einen Namen geben konnte noch wollte, weil sie ihm auch namenlos schon Angst genug machten, weckte Kräfte in ihm, die er nie in sich vermutet hätte.

Fast im Laufschritt hielt er mit seinem Karren auf den Wald zu. Vergessen war der Entschluss sich des Mönches zu entledigen. Er würde ihn in dieses vermaledeite Kloster Himmerod bringen, tot oder lebendig!

Zweites Kapitel

Wie viele Stunden waren seit dem Blitzschlag in die Eiche vergangen? War es schon Mitternacht oder erst um die zehnte Abendstunde? Jakob wusste es nicht zu sagen. Es wurde ihm auch mit jedem Schritt gleichgültiger. Er würde dem Weg folgen, bis er umfiel.

Wenigstens hatte sich das fürchterliche Unwetter verzogen. Zwar flammte am nächtlichen Horizont noch immer der Lichtschein gelegentlicher Blitze auf, allerdings flößte ihm dies keine Angst mehr ein. Wenn doch auch der eisige Schneeregen mit dem Gewitter fortgezogen wäre!

Jakob kam aus einem schmalen Waldstück und blieb einen Moment auf freiem Feld stehen, um Atem zu holen und sich über das Gesicht zu wischen. Als er den Blick hob, stellte er fest, dass er sich auf einer Anhöhe befand. Vor ihm erstreckte sich offenes Weide-und Ackerland, das in ein schmales Tal hinunterführte.

Das Salmtal!, fuhr es ihm durch den Kopf. Und als er angestrengt in die Dunkelheit spähte, glaubte er hinter dem Schleier des dichten Schneeregens sogar die Silhouette eines hoch aufragenden Gebäudes sowie andere schwarze Umrisse erkennen zu können, die zu kantig waren, um zur Natur zu gehören. Das musste die Klosterkirche von Himmerod sein!

Mit neu erwachter Hoffnung legte sich Jakob ins Zeug. Wenige Minuten später vermochte er sogar den schwachen Schimmer einer Lampe auszumachen. Er war auf dem richtigen Weg! Auch wenn das nicht die Abtei war, so würde er dort immerhin auf eine menschliche Behausung stoßen, wo er sicherlich Unterschlupf und vielleicht sogar ein wärmendes Feuer finden konnte.

Es war jedoch tatsächlich das Kloster der Zisterzienser, das wenig später am linken Ufer der Salm mit seiner hohen Mauer und der dahinter liegenden Kirche vor ihm aus der Dunkelheit wuchs. Deutlich hob sich das Kreuz auf der Turmspitze vor dem Nachthimmel ab.

Von grimmiger Genugtuung erfüllt, taumelte Jakob an mehreren dunklen Stallungen vorbei, die schon von weitem den penetranten Geruch von Schweinen ausströmten. Eine gute Meile dahinter sah er endlich den wuchtigen Torbau vor sich, der in die wehrhafte Umfriedung der Klosteranlage eingelassen war. Über dem hohen Torbogen, in dem eine Lampe brannte, lag unter einem Giebeldach noch ein Geschoss mit schmalen Fenstern. Das wuchtige, doppelflügelige Tor bestand aus mächtigen Bohlen, die mit hunderten von sicherlich fingerdicken, handgeschmiedeten Eisennägeln beschlagen waren, deren Köpfe Rosetten trugen. In den linken Torflügel war eine schmale Tür mit einem Fenster eingelassen, unter dem ein schwerer Eisenklopfer befestigt war. Von dem oberen Wulst des Torbogens hing eine Reihe von armlangen Eiszapfen herab.

Jakob ließ den Zuggurt von seiner schmerzenden Schulter gleiten, stellte das Deichselende auf einen kniehohen Markstein neben dem Torbogen und hämmerte mit dem Eisenklopfer gegen die schweren Bohlen.

»Macht auf!«, schrie er mit rauer Kehle. »Aufmachen!«

Endlich ging die Klappe hinter dem kleinen, vergitterten Fenster in der Tür auf. »Was macht Ihr für einen Lärm zu dieser nachtschlafenden Zeit?«, bellte eine ärgerliche Stimme hinter dem Gitter. »Wollt Ihr unseren Konvent vielleicht um die kurze Zeit der Nachtruhe bis zur Matutin bringen?

Wenn Ihr Almosen wollt, so kommt morgen wieder, wie es sich gehört. Das Armenbrot gibt es erst nach dem Hochamt! Also sucht Euch einen Platz drüben im Stall und.«

»Ich will keine Almosen!«, fuhr Jakob dem Pfortenbruder ungeduldig ins Wort. »Ich verlange Einlass!«

»Der Allmächtige möge Euch Eure hochmütige Rede verzeihen!«, wies ihn der Mönch zurecht.

»Ich bin nicht hochmütig, sondern nass bis auf die Haut, kalt wie ein Eisklotz und am Ende meiner Kräfte, weil ich einen von Euren Brüdern seit drei Tagen auf meinem Karren hinter mir herziehe!«, antwortete Jakob hitzig.

»Ihr habt einen von unseren Brüdern auf Eurem Wagen?«, stieß der Mönch hinter dem Fenstergitter ungläubig hervor. »Das kann nicht sein! Hütet Euch vor Lügen, Fremder, ganz besonders im Angesicht des Kreuzes! Habt mehr Gottesfurcht im Herzen, wenn Ihr an die Pforte eines Klosters klopft!«

Jakob unterdrückte den lästerlichen Fluch, der ihm schon auf der Zunge lag. »Ich lüge nicht! Seht selbst!«, rief er und schlug die Decken zurück. »Er nennt sich Bruder Anselm und trägt die Kutte eines Mönches! Ich traf am Laacher See auf ihn und er drängte mich unter dem Versprechen auf eine ansehnliche Belohnung ihn hierhin nach Himmerod zu bringen!«

»Bruder Anselm?« Die Stimme des Mönches bekam plötzlich einen überraschten, aufgeregten Klang.

»Ja, so ist sein Name. Ihn hat das Fieber niedergeworfen. Er konnte sich schon vor drei Tagen kaum noch auf den Beinen halten. Wer weiß, ob er überhaupt noch am Leben ist.«

»Barmherziger Gott, was redet Ihr da!«, stieß der Pfortenbruder erschrocken hervor. »Wartet, ich mache Euch auf!«

»Na, endlich!«, murmelte Jakob.

Die Fensterklappe fiel mit einem scharfen Knall zu, der wie ein Pistolenschuss über den Hof hallte. Jakob hörte, wie schwere Riegel zurückgestoßen wurden und ein Balken zu Boden polterte. Dann schwang der rechte Torflügel nach innen auf.

»Kommt schon, kommt!«, drängte der kleinwüchsige Mönch, der über seinem Habit aus weißem Unterkleid, der Tunika, und schwarzem Überkleid, dem Skapulier, einen dunklen Umhang aus grober Wolle trug. Die Tonsur des Ordensmannes kränzte seinen kugelrunden Kopf.

Aufgeregt winkte der Mönch ihn in den Hof, der hinter dem ersten Tor des Klosters, der so genannten porta prima lag. Jakob stellte zu seiner Verwunderung fest, dass sich dahinter noch eine weitere Mauer mit einer zweiten Pforte erhob. Dies war die eigentliche Klosterpforte, die porta secunda, wie Jakob später erfahren sollte.

Der Portarius warf im Licht der Torlampe einen raschen Blick auf den Kranken, der den Kopf unruhig hin und her warf. Bestürzung zeigte sich auf dem rundlichen Gesicht des Klosterbruders. »Heiliger Florian, er ist es wirklich! Pater Anselm von Picoll, der abgesetzte Abt aus dem Rheinland!« Fassungslos legte er seine Hand auf die Stirn des Kranken. »Muttergottes, steh ihm bei!«

Jakob stutzte. Diese klapperdürre, armselige Gestalt, der er am Laacher See seine Dienste verkauft hatte, sollte einmal ein Abt gewesen sein? Er konnte es kaum glauben. Was hatte ein Mann, der einst einem Kloster vorgestanden und damit doch wohl eine nicht geringe Macht ausgeübt hatte, allein und zu dieser Jahreszeit auf den verschneiten Wegen des unwirtlichen Eifellandes verloren? Und weshalb die große Eile, ausgerechnet in dieses abgelegene Kloster zu kommen, statt Ruhe und Genesung in der Benediktinerabtei Maria Laach oder einem guten Gasthof in deren Nähe zu suchen? Was mochte diesen schweigsamen, kranken Mönch, der offenbar einmal ein hohes Amt bekleidet hatte, bloß bewogen haben sein Leben so leichtfertig aufs Spiel zu setzen, um nach Himmerod zu gelangen?

Er kam nicht dazu, Fragen zu stellen oder sich weitere Gedanken darüber zu machen, denn kaum hatte der Pfortenbruder den kranken Mönch auf der Ladefläche des Eselskarrens erkannt, als er auch schon herumfuhr und mit erregter Stimme rief: »Liffard!. Lif-fard!. Liffard, wo steckst du? Wirst du dich wohl gefälligst sputen, in Gottes Namen?«

Ein kräftiger Bursche von vielleicht zwanzig Jahren, der seinem kahl rasierten Schädel und dem zotteligen Bart nach kein Mönch sein konnte, auch wenn er eine Art von brauner Kutte trug, tauchte aus einer Tür auf und kam mit einer Sturmlaterne in der erhobenen Rechten über den Hof gelaufen. Sein Oberkörper war leicht vornüber und nach rechts gekrümmt. Auf dem Rücken zeichnete sich unter seinem derben Gewand ein Buckel ab.

»Bin ja schon zur Stelle, Bruder Johannes!«, rief der Mann namens Liffard und lachte, obwohl es wahrlich nichts zu lachen gab. Der Eisregen war inzwischen in Schnee übergegangen, wurde dafür jedoch von einem scharfen Wind getrieben.

»Geh dem jungen Mann zur Hand, der Pater Anselm von Picoll auf seinem Karren hat! Er muss so schnell wie möglich in die Infirmaria. Jede Minute ist kostbar! Der Wille des Herrn geschehe, doch bete mit mir, dass uns wenigstens noch genug Zeit bleibt, um ihn mit den heiligen Sterbesakramenten zu versehen, bevor der Allmächtige seine Seele zu sich nimmt!«, wies der Pfortenbruder Johannes ihn aufgeregt an, nahm ihm die Laterne ab und schloss rasch das Tor. Dann eilte er ihnen voraus.

Nur zu bereitwillig Überließ Jakob seinen Karren mit dem Fieberkranken den kräftigen Händen von Liffard und ging nun neben ihm her. Augenblicke später passierten sie die zweite Pforte, die mit einem Kreuzgewölbe und einer Mittelnische versehen war, in der die Figur eines Heiligen stand. Nun hinderte keine Mauer mehr den Blick auf die innere Klosteranlage.

Flüchtig nahm Jakob die Torkapelle wahr, die gleich links neben der Durchfahrt lag, sowie ein Remisengebäude mit zwei breiten, rundbogigen Einfahrten. Rechter Hand bemerkte er Stallungen und den unverkennbaren Geruch von Pferden. Die Abteikirche und das sich rechts davon anschließende Konventsgebäude erkannte er an ihrer Silhouette. Schräg vor sich, dort, wo hinter den Klostermauern die Salm vorbeifließen musste, bemerkte er noch die Umrisse von mehreren anderen Ordensgebäuden.

Eines davon, das direkt an der Umfriedung lag, machte auf ihn den Eindruck einer Mühle.

Bruder Johannes hastete mit kurzen Trippelschritten auf das Konventshaus zu. Die Laterne pendelte hin und her und warf ihren gelblichen Lichtschein wie ein Irrlicht in die Nacht.

Sie kamen an einem kleinen, gedrungenen Bau vorbei, dessen Dachstuhl eingestürzt war, offenbar als Folge eines Brandes. Hier und da ragten verkohlte Balkenstummel auf und die Fassade rund um die leeren Fensterhöhlungen war rußgeschwärzt.

»Unser Gästehaus. Ist zwei Nächte nach Epiphanias abgebrannt. Oh, war das ein Feuer! Wie zu Walpurgis in Kyllburg«, sagte Liffard zu Jakob und kicherte. »Wart Ihr schon mal zum Walpurgisfeuer in Kyllburg?«

Jakob hatte den Namen des Ortes noch nie gehört. Bevor er jedoch etwas antworten konnte, wandte Bruder Johannes den Kopf und zischte verärgert: »Schwatz nicht so viel, Liffard! Die Seele wird durch das Ohr vergiftet wie der Leib durch den Mund!«

Liffard lachte mit einem leisen, glucksenden Geräusch und nickte Jakob fröhlich zu, als hätte er statt eines Rüffels eine Belobigung erhalten.

Sie erreichten das Konventsgebäude, in dem mittlerweile schon hinter mehreren Fenstern Lichter aufgeflammt waren. Als Bruder Johannes die drei Stufen zum Klosterportal hocheilte und die Tür öffnen wollte, wurde sie ihm von innen aus der Hand genommen. Ein schlanker Mönch von etwa dreißig Jahren und mit den ebenmäßigen Zügen einer klassischen Heldenstatue erschien in der Tür, umdrängt von mehreren nicht weniger neugierigen Mitbrüdern und einigen bärtigen Männern in braunen Kutten, deren Schädel ebenso gänzlich rasiert war wie der von Liffard.

»Was hat dieser Radau zu bedeuten, Bruder Johannes?«, verlangte er mit recht scharfer, gar nicht brüderlicher Stimme zu wissen. »Was geht hier mitten in der Nacht vor sich?«

Eilfertig und mit einem Anflug von Unterwürfigkeit sprudelte der Pfortenbruder hervor, wen sie da auf dem Karren hatten. »Die arme Seele brennt vor Fieber, Bruder Tarzisius!«

Ein Murmeln ging wie ein kurzes, scharfes Atemholen durch die Gruppe der Männer, die sich am Klosterportal eingefunden hatte und inzwischen auf über ein Dutzend angewachsen war.

Liffard stieß Jakob mit dem Ellbogen an. »Bruder Tarzisius ist unser Subprior«, raunte er ihm zu. »Er sorgt für die rechte Zucht bei den Mönchen und uns Konversen. Bruder Johannes sagt, er hat schon jetzt den frommen Eifer eines Heiligen und die strenge Zucht eines Jesuitenoberen! Man will schon Engel über seinem Haupt schweben gesehen haben.« Dabei stieß er ihn noch einmal heimlich in die Seite und kicherte hinter vorgehaltener Hand.

Jakob sah die Veränderung, die sich in den makellosen Zügen dieses schlanken Mannes vollzog, der den Habit des Zisterziensermönches trug, jedoch das Aussehen wie auch die selbstbewusste Haltung eines Edelmannes besaß. Als der Name Pater Anselm von Picoll fiel, verwandelte sich die Verärgerung auf Bruder Tarzisius’ Gesicht augenblicklich in hellwache Aufmerksamkeit. Mit zwei schnellen Schritten war er bei dem Fieberkranken und beugte sich über ihn.

»In der Tat, er ist es!« Er klang fast triumphierend. Doch schon im nächsten Moment zeigte sein ebenmäßiges Antlitz die gebotene Betroffenheit und seine Stimme bekam einen besorgten Klang, als er nun Anweisungen gab den ehemaligen Abt ins Haus zu tragen und zu versorgen.

Jemand rief nach dem Infirmarius, dem Krankenbruder. Doch der Subprior befahl: »Bringt ihn nicht in die Infirmaria, sondern in die freie Zelle neben der meinigen! Wer weiß, wie kurze Zeit ihm noch auf Erden vergönnt ist. Unser hochwürdiger Abt oder Prior Pinius werden ihm sicherlich unverzüglich die Lebensbeichte abnehmen, sofern Bruder Anselm noch bei Bewusstsein ist, und ihn mit den heiligen Sterbesakramenten versehen wollen.«

Als nun zwei kräftige Mönche an den Karren traten, um den Schwerkranken behutsam von seiner harten Lagerstatt zu heben, bemerkte Jakob unter den Umstehenden eine merkwürdige Gestalt, die so gar nicht zu den anderen Ordensleuten in ihrem einheitlichen, armseligen Habit zu passen schien.

Der Mann, dessen Alter Jakob auf Anfang bis Mitte vierzig schätzte, ragte mit seiner hoch gewachsenen, sehnigen Gestalt aus der Menge der Tonsurierten und Kahlgeschorenen heraus. Aber auch sonst wäre er kaum zu übersehen gewesen. Zahllose Pockennarben verunstalteten sein markantes Gesicht. Ein rotbrauner Bart, der einem auf dem Kopfstehenden Dreieck glich, zierte sein kantiges Kinn. Die Farbe seiner Augen, auf die das Licht der Sturmlaterne fiel, ähnelte der von poliertem Bernstein. Und eine blonde, zerzauste Lockenflut, die auf der hohen Stirn schon etwas licht war, reichte ihm bis auf die kräftigen Schultern. Bekleidet war er mit einem schäbigen, knöchellangen Umhang aus grobem, dunkelblauem Soldatentuch. Darunter kam ein ebenso abgenutztes, buntes Flickenwams zum Vorschein sowie pechschwarze Pluderhosen aus dickem, schwerem Stoff, die in klobigen Stiefeln steckten. An seinem handbreiten Ledergürtel mit eingeritzten Verzierungen hing ein Dolch, dessen Klinge eine kunstvoll gehämmerte, kupferne Scheide umschloss.

Diese seltsame Erscheinung stach unter den Mönchen hervor wie ein schillernder Paradiesvogel in einem Schwarm von grauen Tauben. Und Jakob fragte sich unwillkürlich, was dieser Mann bloß in einem Kloster zu suchen hatte.

»Fürwahr, Bruder Anselm steht der Tod schon im Gesicht geschrieben«, sagte einer der Krankenträger mit leiser Stimme.

»Die Toren und die Weisen müssen sterben, kein Kraut und Wissen schützt vorm Scheiden«, bemerkte da der Pockennarbige gedankenvoll, als er Jakobs Blick auffing, und schaute dann den beiden Mönchen nach, die den einstigen Abt ins Haus trugen. »Die letzte Stunde bringt die letzte Fehde und oft hat sie der Feind verloren.«

Aus einem unerklärlichen Grund reagierte der Subprior ausgesprochen ungehalten. »Gebt Acht, was Ihr sagt, Schwede!«, wies er ihn brüsk zurecht. »Eure lockere Zunge ist hier fehl am Platz!«

Das Gesicht des Schweden blieb ausdruckslos, als er ungerührt und noch rätselhafter antwortete: »Sah einen Frevler einst sich üppig spreizen, der Zeder gleich, die Platz für viele Raben. Kam dann zum andern Mal vorbei und fand nichts mehr als Wüstenei.«

Liffard, der mit dem Rücken zum Subprior stand, feixte Jakob an. »Oh, er kennt den Psalter wie kein anderer, der Schwede! Er hat die Psalme all hier oben drin gesammelt.« Dabei tippte er sich an die Stirn. »Da pickt er die klugen Zeilen so mühelos heraus wie Bruder Chrysostomus die Gründlinge aus unserem Fischteich!«

Sichtlich ergrimmt über die Antwort des Schweden, runzelte Bruder Tarzisius die Stirn und schien schon eine scharfe Erwiderung auf der Zunge zu haben, machte dann aber nur eine knappe Handbewegung, als wollte er die Worte dieses Mannes wie eine lästige Fliege wegwischen, und wandte sich Jakob zu.

»Wer seid Ihr, junger Mann?«, fragte er, die Stimme nun wieder sanft wie Öl. »Wem haben wir es zu verdanken, dass Bruder Anselm in solch einer stürmischen Nacht noch zu uns gefunden hat?«

Am liebsten hätte Jakob dem Subprior geantwortet, dass der alte Abt schon seit dem gestrigen Tag nicht mehr in der Lage gewesen sei auch nur vom Karren bis zum nächsten Baum zu finden. Das Finden dieser elendig abgelegenen Abtei bei Sturm und Nacht hatte er ganz allein besorgt, auf Kosten seiner Knochen, und er hoffe, so drängte es ihn zu sagen, dass sich seine Strapazen nun auch, wie hoch und heilig versprochen, in klingender Münze auszahlen würden.

Doch nichts davon kam ihm über die Lippen. Er zog nur den alten Filzhut mit der eingerissenen Krempe vom Kopf und sagte respektvoll: »Jakob ist mein Name, ehrwürdiger Bruder Jakob Tillmann. Freier Fuhrmann aus dem Rheinischen.« Was nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber eben auch nicht ganz gelogen war.

»Und was verbindet Euch mit Bruder Anselm von Picoll?«, wollte der Subprior wissen, während der Schwede im Dunkel des Türbogens verschwand.

Nun wallte Unmut in Jakob auf. Was sollten all diese Fragen? Hatte das nicht Zeit bis später? Und so platzte er in seinem Groll heraus: »Zuerst einmal, dass ich nass bis auf die Haut bin und in dieser Nacht lange genug Wind und Wetter über mich ergehen ließ!«

Bruder Tarzisius musterte ihn einen kurzen Moment lang mit scharfem Blick. Dann glättete sich seine Miene und ein nachsichtiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Natürlich, ich verstehe. Verzeiht meine Gedankenlosigkeit, junger Mann. Die tiefe Sorge um Bruder Anselm ließ mich das Nächstliegende einen Moment lang vergessen. Kommt, tretet ein und seid willkommen in unserem Haus, Jakob Tillmann aus dem Rheinischen.«

Jakob lächelte. Diesen Ton ließ er sich schon eher gefallen!

Der Subprior sah ihn mahnend an, als er über die Schwelle trat. Jakob wusste nicht, was er von ihm wollte, bis Bruder Tarzisius ungeduldig auf das Gefäß mit Weihwasser deutete, das gleich vorn im Vestibül an der Wand angebracht war.

»Vergesst nicht, Gottes Segen zu erbitten!«, sagte der Subprior streng, während sich die bärtigen Kahlköpfe zurückzogen und durch eine Seitentür verschwanden.

Beinahe hätte Jakob gleichgültig mit den Achseln gezuckt, vermochte diese Regung jedoch noch im letzten Moment zu unterdrücken. Dies war nicht der Gutshof von Quirin Schlehenbusch, der es nicht mit der heiligen Mutter Kirche gehabt und Gott für einen fernen Herrscher gehalten hatte, der seiner Schöpfung längst überdrüssig geworden war und sie den dunklen Mächten dieser Welt willig überlassen hatte. Und hatte Quirin, der kauzige Alchimist und Besitzer zweier Pulvermühlen, ihn nicht mehr als einmal grob zurechtgestaucht und ermahnt: »Wer aus fremden Krügen trinkt, hat seine Klage über den verpanschten Wein gefälligst mit hinunterzuschlucken!« Und so tauchte nun Jakob seinen Mittelfinger in das eisige Wasser und schlug das Kreuz. Es war befremdend, dieses alte Ritual nach so vielen Jahren wieder zu vollziehen, und zugleich doch auch seltsam vertraut.

Bruder Tarzisius nickte zufrieden, fasste ihn am Arm und führte ihn weiter. Von einem halben Dutzend Mönchen begleitet, gingen sie im Licht flackernder Kerzen einen kurzen, dunklen Gang hinunter, um bald darauf einen großen Raum zu betreten, bei dem es sich zweifellos um die Küche der Abtei handelte. Schon der Geruch von kalter Asche und gebratenem Fisch verriet Jakob die Nutzung dieses Gewölbes, noch bevor eine zweite Lampe entzündet war und genug Licht verbreitete, dass er sich umsehen konnte.

»Macht ein Feuer und tischt dem guten Mann etwas Warmes auf, Bruder Isenbard!«, trug der Subprior einem kleinen, kahlköpfigen Mönch auf, der mit einer dicken Knollennase und lebhaften Augen sowie überaus üppigem Haarwuchs in Nase und Ohren gestraft war. Jakob bedeutete er, sich an den schweren Küchentisch zu setzen, der so groß und massiv gebaut war, dass man einen Ochsen auf ihm zerlegen konnte. »Lasst es Euch schmecken, Jakob Tillmann. Wir reden später miteinander. Jetzt muss ich erst sehen, wie es dem armen Bruder Anselm geht. Möge uns der Herr die große Huld erweisen ihn nicht schon in dieser Nacht zu sich zu rufen!« Damit eilte er aus der Küche.

Von wegen »Lasst es Euch schmecken!«, dachte Jakob voller Ingrimm, als ihm Bruder Isenbard wenig später eine tiefe Holzschüssel mit pampiger Haferschleimsuppe vorsetzte und einen gerade mal zwei Finger breiten Kanten altbackenes Brot dazulegte. Das Feuer, dass der Mönch in der Herdstelle entfacht hatte, war von so armseliger Natur, dass die müden Flammen noch nicht einmal den Topf mit der Suppe richtig erhitzt, geschweige denn einen Hauch von Wärme in den kalten Küchenraum gebracht hatten. Die Kleider klebten ihm nass und so kalt am Leib, dass er meinte für den Rest seines Lebens nicht wieder richtig warm zu werden. Warum konnte der Ordensmann nicht mehr Barmherzigkeit zeigen und einen ganzen Arm voll Holzscheite aus dem großen Feuerkasten nehmen und auf die Glut aufschichten? Wie sehr verlangte es ihn nach einem prasselnden Feuer, dessen Hitze ihm die Haut versengte und die Eiseskälte aus seinem Körper trieb!

Wenn doch wenigstens die Suppe richtig heiß gewesen wäre!

Aber die letzten Monate hatten ihn nicht eben verwöhnt und er war viel zu ausgehungert, um das lauwarme Essen zu verschmähen. So griff er denn zum klobigen Holzlöffel und schlang den Brei in sich hinein, während er zwischendurch immer wieder ein Stück vom harten Kanten abbiss. Er kümmerte sich dabei nicht um die neugierigen Blicke der Mönche, die neben der Feuerstelle standen und so leise miteinander flüsterten, dass er nicht ein einziges Wort verstehen konnte. Sollten sie doch denken und reden, was ihnen beliebte! Jakob wischte gerade mit dem Rest Brot die Schüssel aus, als ein Mönch mit einer grauen Stoffklappe über dem linken Auge im Küchengewölbe erschien.

Der Mönch war von mittelgroßer Gestalt, hielt sich aufrecht und besaß die klaren Gesichtszüge eines Ordensmannes, der die Askese mit Sicherheit nicht über die Lebensfreude stellte. Allein die lange Narbe auf seiner rechten Wange störte diesen Eindruck. Sie gab seinem Gesicht zusammen mit der Augenklappe etwas Geheimnisvolles, ja Beunruhigendes. Das Haar seiner silbrig schimmernden Tonsur stand noch dicht, obwohl er bestimmt schon nahe an die sechzig Jahre heranging. An einer einfachen Lederschnur trug er ein merkwürdiges Kreuz auf der Brust, das von einem Ring umschlossen war.

Zielstrebig ging er auf Jakob zu, die Hand am Rosenkranz, der an seinem breiten Leibgurt herabhing und aus alabasterweißen Perlen bestand. »Ihr habt Bruder Anselm gebracht?«, fragte er ohne Umschweife. Seine Stimme war kräftig und wohlklingend, wie geschaffen zur Predigt, jedoch auch nicht ohne Härte.

Jakob hatte den Mund noch voll Haferschleim und hartem Brot und nickte deshalb nur.

»Und Euer Name ist Jakob Tillmann?«

Wieder begnügte sich Jakob mit einem wortlosen Nicken.

»Wo und wann seid Ihr Bruder Anselm begegnet?«

»Etwa zwei, drei Meilen westlich vom Laacher See. Er war schon krank und schwach auf den Beinen, als ich am Wegkreuz auf ihn traf. Ich hatte andere Pläne, wollte mich in Mendig oder Andernach verdingen, habe mich dann aber überreden lassen ihn nach Himmerod zu bringen. Er hat versprochen mich für meine Dienste großzügig zu entlohnen. Das war am Morgen vor drei Tagen«, gab Jakob Auskunft. »Da hatte ich noch meinen guten Esel Theode-rich.« Das Tier hatte in Wirklichkeit nie einen Namen gehabt, jedenfalls nicht dass er wüsste. Aber bestimmt machte das einen besseren Eindruck und half dabei, seinen Anspruch auf eine ansehnliche Entschädigung zu untermauern. »Theoderich war mir ein lieber, tapferer Freund, der sich dann bei Manderscheid an einem verschneiten Hang den Hals gebrochen hat. Es war ein kräftiges Tier, gut im Futter und makellos im Fell, wie ich es wohl nie wieder finden werde. Bruder Anselm versprach.«

»Wo habt Ihr sein Gepäck gelassen?«, fiel der Mönch ihm ins Wort, völlig unbeeindruckt vom Verlust des Esels und ohne auf die versprochene Belohnung einzugehen. Statt Mitgefühl zu zeigen nahm er ihn vielmehr scharf ins Visier, als wollte der Blick seines gesunden, rechten Auges bis auf den Grund von Jakobs Seele vordringen.

»Er hatte kein Gepäck, nur seinen Wanderstab, der Herr ist mein Zeuge!«, beteuerte Jakob, plötzlich von der Angst befallen des Diebstahls verdächtigt zu werden. »Ich wusste auch nicht, dass er einmal Abt gewesen ist.«

»Die wenigsten Menschen gleichen ihrer äußeren Erscheinung«, erwiderte der Ordensbruder trocken. »Sonst sähen viele Fürsten wie aussätzige Strolche aus und so manch einfacher Mann käme als König daher.«

»Ich hielt ihn für einen gewöhnlichen Bettelmönch! Nicht einmal einen Brotbeutel hatte er bei sich!«, versicherte Jakob noch einmal mit allem Nachdruck. Eisige Schauer der Angst durchfuhren ihn. Es herrschten grausame Sitten in dieser Zeit, die noch immer in den Nachwehen des fürchterlichen Dreißigjährigen Krieges lag. Weltliche Richter waren da schnell mit einem Urteil zur Hand, das einen Dieb unter das Brandeisen oder das Messer brachte, das ihn verstümmelte und auf ewig als Dieb zeichnete. Und dann konnte man sogar noch von Glück reden nicht vor den Toren der Stadt auf dem Richtplatz sein Leben gelassen zu haben! »Er trug weder Tornister noch Seitentasche bei sich. Ich habe sogar das wenige, was ich an Brot und Speck noch hatte, mit ihm geteilt. Das ist die reine Wahrheit!«

Einen Augenblick herrschte angespannte Stille. Das müde Feuer hinter den Mönchen bei der Herdstelle warf dunkle Schatten an das rußgeschwärzte Deckengewölbe.

»Gut«, sagte der Mönch mit der Augenklappe nach einem letzten durchdringenden Blick. »Ich glaube dir.«

Jakob gab innerlich einen Stoßseufzer der Erlösung von sich. Zugleich aber drängte sich ihm der Eindruck auf bei diesem seltsamen Mönch eine regelrechte Erleichterung darüber feststellen zu können, dass der alte Abt nichts an Gepäck bei sich gehabt hatte. Doch wieso war das überhaupt von so großem Interesse? Auch der Subprior hatte ihn ja schon mit derlei läppischen Fragen gepiesackt als gäbe es in dieser Stunde nichts Wichtigeres zu bedenken. Was konnte ein Ordensmann, der doch das Gelübde der Armut abgelegt hatte, schon Wertvolles bei sich tragen? Nein, diese Fragen ergaben wahrlich keinen Sinn.

Abrupt wandte sich der Mann nun von ihm ab, als wäre sein Wissensdurst schlagartig erloschen, und sagte in Richtung der anderen Mönche, ohne jedoch einen von ihnen im Besonderen anzusprechen: »Unser junger Samariter wird sich noch den Tod holen, wenn er nicht rasch aus den nassen Sachen rauskommt! Er braucht trockene Kleidung auf dem Leib. Und weist ihm eine Lagerstatt zu, es springt ihm die Müdigkeit doch schon aus den Augen.« Weder erhielt er darauf eine Antwort noch schien er eine zu erwarten, denn schon beim Sprechen wandte er sich zur Tür.

»War das Euer Abt?«, fragte Jakob verstört, als der Mönch mit der Augenklappe das Küchengewölbe verlassen hatte.

»Unser hochwürdiger Abt Ambrosius?« Einer der Mönche schüttelte mit fast gekränkter Miene den Kopf. »Nein, das war Bruder Basilius. Er und sein wunderlicher Begleiter, dieser Schwede Henrik Wassmo, gehören nicht zu unserem Konvent. Sie kommen aus dem Frankenland, so heißt es, und sind nur zu Gast bei uns.«

Das klang nicht gerade so, als würden sich die beiden Männer besonderer Wertschätzung unter den Ordensleuten dieser Abtei erfreuen!

»Aber Bruder Basilius hat Recht«, sagte nun Bruder Isenbard, »der junge Mann hier muss schnellstens trockene Sachen auf den Leib bekommen und er braucht eine Schlafstatt, wo er sein müdes Haupt betten kann.«

»Er ist jung und kräftig und kaum mit einem Silberlöffel im Mund zur Welt gekommen«, brummte daraufhin eine dritte, verdrossene Stimme. »Eine der Büßerzellen dürfte seinen Ansprüchen vollauf genügen. Ich werde Bruder Simon und Bruder Tarzisius Bescheid sagen.« Sprachs und ging hinaus.

Die anderen Ordensmänner folgten ihm. Nur Bruder Isenbard blieb zurück. Er legte noch drei Stück Reisig, jeder Stock kaum mehr als fingerdick, in das heruntergebrannte Feuer. Dabei machte er ein Gesicht, als hätte er soeben aus Mitleid mit Jakob eine ungeheure Verschwendung begangen.

»Eine Büßerzelle? Das hat mir zu meinem Glück gerade noch gefehlt!«, brummte Jakob mürrisch. Er war jedoch zu erschöpft, um energischer zu protestieren. Zudem war es nicht ratsam sein Glück an einem Tag zu oft auf die Probe zu stellen.

»Bruder Simon ist unser Camerarius, ein frommer Mann mit rauer Schale und weichem Kern«, erklärte Bruder Isenbard eilfertig und mit einem aufmunternden Lächeln, so als wollte er den ungehobelten Ton seines Klosterbruders schnell wieder vergessen machen. »Ich hole Euch jetzt trockene Sachen. Dann werdet Ihr Euch gleich zehnmal besser fühlen!«

Wenige Augenblicke später kehrte er mit langen, kratzigen Wollstrümpfen, ebenso rauer Leibwäsche, einer derben Hose und einer dunkelbraunen Kutte, wie sie der Bursche Liffard getragen hatte, zurück. »Das ist die Kleidung unserer Konversen. Sie wird Euch sicherlich passen.«

»Und was sind Konversen?«, fragte Jakob, der das Wort nun schon zum wiederholten Male gehört hatte. Und ihm dämmerte, dass er in den Jahren bei Quirin Schlehenbusch zwar bedeutend mehr gelernt hatte, als ihm seiner niederen Herkunft nach zugestanden hätte, aber doch auch einiges weniger, als er bisher angenommen hatte. Was machte allerdings ein Rätsel mehr oder weniger, ja gar eine volle Hundertschaft von ihnen aus, wo doch die ganze Welt ein einziges, dunkles Labyrinth aus ungezählten Geheimnissen und Abgründen war?

Sichtlich verwundert, dass Jakob etwas so scheinbar Selbstverständliches nicht wusste, sah Bruder Isenbard ihn an. Dann erklärte er nachsichtig: »Fratres conversi, Konversen oder wegen ihrer Bärte auch viri barbati, was bärtige Männer heißt, nennt man die Laienbrüder, die auf den Höfen und in den Werkstätten einer Abtei arbeiten, ohne die Priesterweihe empfangen oder die strengen Gelübde eines Mönches abgelegt zu haben.«

»Jetzt verstehe ich«, sagte Jakob spöttisch. »Konversen sind also die Knechte eines Klosters, die die groben Arbeiten verrichten.«

Bruder Isenbard zog es vor diese spitze Bemerkung zu ignorieren. »Am besten zieht Ihr jetzt Eure nassen Kleider aus, damit ich sie gleich aufhängen kann. Dann können sie morgen gut trocknen, wenn hier das Küchenfeuer lodert!«

Jakob nickte.

»Tut mir nur den Gefallen Euch ein wenig zu beeilen, junger Mann!«, drängte der Mönch, während er ihm nun den Rücken zukehrte. »Mitternacht kann nicht mehr weit sein. Und dann wird Bruder Nicolaus, unser Sakristan, zur Matutin läuten. Lasst uns also sputen, wenn Ihr nicht wollt, dass ich zu spät im Chorgestühl erscheine!«

Jakob zog sich hastig aus. Die nassen Kleider warf er Bruder I-senbard zu, der die Sachen rasch und mit abgewendetem Blick aufhob und über einem Gitter im steinernen Boden auswrang, bevor er sie über eine Leine seitlich von der Feuerstelle warf.

Jakob fuhr in Strümpfe, Leibwäsche und Hose, die ihm reichlich groß war und eines Gürtels dringend bedurfte, um sie auf seinen schmalen Hüften zu halten, und zog dann das kuttenähnliche Gewand aus derber, brauner Wolle über den Kopf. Es war eine Wohltat nun wieder in trockener, wenn auch recht kratziger Kleidung zu stecken. Seine rissigen Halbstiefel, die dringend der kundigen Hand eines Schusters bedurften, tauschte er gegen das klobige, aber dichte und wetterfeste Schuhwerk der Himmeroder Konversen ein. Zu seiner freudigen Überraschung waren ihm die Schuhe sogar weder zu weit, noch drückten sie. Zum ersten Mal seit gut anderthalb Tagen kehrte ein Gefühl von Wärme in seinen erschöpften und geschundenen Körper zurück.

»Prächtig, prächtig!«, freute sich Bruder Isenbard und brachte ein geradezu schelmisches Lächeln zu Stande, als er sich umdrehte und Jakob im Konversenaufzug sah. »Bruder Pinius, unser gichtgeplagter Prior, wird bestimmt versucht sein Euch eine sinnvolle Aufgabe zuzuteilen, wenn er Euch so sieht. Am besten trägt er Euch auf ein scharfes Auge auf den einfältigen Liffard zu halten.«

»Ihr meint diesen Burschen, dessen Geist so helle ist wie ein tiefer Brunnenschacht?«, fragte Jakob spöttisch.

Der Mönch nickte mit einem vergnügten Schmunzeln. »Ja, bei Liffard kann der Geist mit seinem löblichen Eifer und seiner Muskelkraft leider nicht Schritt halten. Erst gestern scheuerte der arme Tropf das Chorkleid von Bruder Tarzisius so lange mit Bürste und Essigwasser, bis das gute Gewand voller Löcher war! Und Bruder Tarzisius hatte keine Zeit mehr sich vor der Komplet noch ein anderes Gewand aus der Kleiderkammer zu holen. Gottes Lobpreis fiel ihm reichlich schwer, als er da in seinem löchrigen Kleid im Chorgestühl stand.« Er lachte auf, presste dann aber schnell die Hand auf den Mund, während er sich gleichzeitig erschrocken umsah, als hätte er sich bei etwas höchst Ungehörigem ertappt und fürchtete dabei belauscht worden zu sein.

Jakob begann sich für Bruder Knollennase, wie er ihn bei sich nannte, ein wenig zu erwärmen. Unter der Kutte dieses kleinen Mannes verbarg sich offenbar eine gehörige Portion Schalk - und wohl auch eine geduldige, mitteilsame Seele.

»Vergesst, was ich Euch erzählt habe. Und sprecht unseren Subprior besser nicht darauf an«, riet Bruder Isenbard. »Und jetzt kommt, ich zeige Euch Eure Unterkunft!«

Jakob seufzte schwer. »Und Ihr habt wirklich keine andere Unterkunft für mich als eine Büßerzelle, Bruder Isenbard? Verzeiht mir, aber nach Buße steht mir derzeitig wahrlich nicht der Sinn.«

Der Mönch schüttelte den Kopf. »Zu traurig, dass unser Gästehaus vor einigen Wochen völlig ausgebrannt ist. Und die beiden freien Kammern bei uns im Konventshaus, von denen Euch eine jede wohl gut gefallen hätte, sind seit heute Nachmittag von drei gelehrten Stiftsherren auf Durchreise belegt. Die Herrn Scholaren sind auf dem Weg nach Koblenz. Doch wenn das schlechte Wetter anhält, wird ihre Rast, so ist zu fürchten, bei uns länger als geplant ausfallen. Aber grämt Euch nicht. Eine Büßerzelle ist der rechte Ort für eine genügsame Seele und ein von Gottesfurcht erfülltes Herz«, sagte Bruder Isenbard tröstend.

»Dann bin ich da ja goldrichtig«, murmelte Jakob selbstironisch vor sich hin.

Bruder Isenbard bedeckte die Glut in der Feuerstelle mit zwei Schaufeln Asche und hatte es nun offenbar eilig aus dem Küchengewölbe zu kommen. Er führte ihn über einen breiten, steinernen Treppenaufgang ins Obergeschoss. Als sie an zwei hohen Bogenfenstern vorbeikamen, sah Jakob, dass dieser Trakt des Konventsgebäudes zum Hof hinausging.

»Da kommen Abt und Prior!«, raunte Bruder Isenbard.

Jakob wandte den Kopf schnell wieder nach vorn und musterte die beiden Männer, die ihnen entgegenkamen. Wer von den beiden der Himmeroder Abt Ambrosius war, verriet ihm sein Instinkt auf Anhieb: Es konnte nur dieser hoch gewachsene, asketische Mann sein, dessen Gesicht wie auch jede seiner gemessenen Bewegungen eine ganz besondere innere Ruhe und feierliche Würde ausstrahlte. Auf diesem Gesicht lag zudem ein feines Lächeln, das von Milde und einer gewissen weltlichen Entrücktheit kündete, aber auch von einer großen Müdigkeit. Bei dem stämmigen, untersetzten Mann an seiner Seite, dessen Miene von tiefer Besorgnis geprägt war und der unablässig seine Hände knetete und rieb, konnte es sich nur um den von Gicht befallenen Prior Pinius handeln. Und so verhielt es sich auch.

Der Abt blieb nur kurz bei ihnen stehen. »Ihr seid der tapfere junge Mann, der Bruder Anselm auf seinem Karren bei diesem fürchterlichen Wetter zu uns über die verschneiten Höhen geschleppt hat?«, vergewisserte er sich mit einer milden Stimme, die seiner ganzen Erscheinung gerecht wurde.

»Ja, hochwürdiger Abt«, bestätigte Jakob.

»Wir stehen tief in Eurer Schuld, mein Sohn«, sagte Abt Ambrosius schlicht. »Der Allmächtige segne Euch für Eure edle Tat und erhelle Eure Wege auch weiterhin mit dem Licht seiner unendlichen Gnade.« Dabei zeichnete er ihm mit dem Daumen das Kreuz auf die Stirn und ging weiter.

Bruder Pinius, der Prior, nickte Jakob nur mit abwesendem Blick zu, um dann wieder neben seinem Abt den Schritt aufzunehmen.

Verwundert und sich nicht ganz sicher, was er von den Worten des Abtes halten sollte, schaute Jakob den beiden nach. Nichts gegen nette Worte des Dankes und segensreiche Zeichen, aber einen Beutel mit harten Münzen, für die er sich einen neuen Esel kaufen und mit denen er dem Rest des Winters sorgenlos entgegensehen konnte, vermochten sie auf keinen Fall zu ersetzen! Und das würde er ihnen auch zu gegebener Zeit deutlich zu verstehen geben, notfalls dem Abt persönlich. Gottesdank allein brachte ihn nämlich nicht über den Winter!

Bruder Isenbard zupfte am Ärmel seiner Kutte. »Lasst uns gehen, Jakob! Die Matutin!«, erinnerte er ihn.

Augenblicke später stand Jakob in der Büßerzelle, die man ihm als Unterkunft zugewiesen hatte. Hell erklang eine Glocke in einem anderen Trakt des Konventes. Bruder Isenbard wünschte ihm hastig einen gesegneten Schlaf und eilte davon, bevor Jakob auch nur ein einziges Wort der Klage über die Armseligkeit der schmalen Zelle und die erschreckende Kargheit der Lagerstatt äußern konnte.

Das Bett bestand aus einer roh gezimmerten Bretterpritsche, auf der ein Sack lag, mehr mit Reisig gefüllt als mit Laub und Stroh. Und als Kopfkissen sollte ihm, wie er fassungslos feststellte, doch tatsächlich ein nackter, kantiger Stein dienen! Das einzige Zugeständnis, das man ihm wohl gemacht hatte, waren die beiden groben Decken, die auf dem dreibeinigen Holzschemel lagen. Dieser stand vor einem kleinen Buchpult mit schrägem Deckel und einer fingerdicken Halteleiste an seinem unteren Ende. Das Lesepult war gerade groß genug für Bibel oder Brevier und mit einem Kerzenhalter versehen, in dem ein Wachsstummel von nicht einmal halber Daumenlänge steckte. Darüber befand sich das schmale Fenster.

Eine Büßerzelle, in der Tat!

Jakob vernahm den an- und abschwellenden Gesang der Mönche, der wie aus einem tiefen, fernen Gewölbe zu ihm drang. War das der gregorianische Mönchsgesang, von dem Kaplan Bierbach, mit dem Quirin sich so häufig beim Wein in die Haare geraten war, ihm einmal auf Gut Schlehenbusch so begeistert erzählt hatte? Es war ein fürwahr wundersamer Klang, der von ganz eigenartigen Melodien getragen wurde. Und immer wieder erhob sich die klare Stimme eines Kantors über den Chor, der ihm dann mit kraftvoller Freude zu antworten schien.

Einen Augenblick stand Jakob still in der Zelle und lauschte versonnen dem nächtlichen Chorgesang der Himmeroder Mönche. Dann überfielen ihn gleichermaßen Müdigkeit und Bedrückung. Und er fragte sich, womit er all dies, was ihm seit dem tödlichen Sturz seines Esels widerfahren war, bloß verdient hatte.

Auf einmal erinnerte er sich mit Bitterkeit daran, dass dies ja die Nacht vom Freitag auf den Samstag war und dass er vor nicht ganz siebzehn Jahren in dieser verfluchten Mitternachtsstunde zur Welt gekommen war. Und wer beim Glockenschlag vom Freitag auf den Samstag geboren wurde, der sollte, wie jedermann wusste, besser nicht allzu viel vom Leben erwarten. Kein Wunder also, dass das Unglück wie Pech an ihm klebte!

Plötzlich stutzte er, meinte er doch das Geräusch von Pferdehufen vernommen zu haben. Er trat ans Fenster, öffnete die hölzernen Läden und schaute auf den Hof hinaus, in der festen Annahme sich verhört zu haben.

Er hatte sich jedoch nicht getäuscht. Gerade noch erhaschte er einen Blick auf den Reiter, der im Torbogen der inneren Klosterpforte verschwand und noch ein zweites Pferd am Zügel hinter sich herführte.

Verwundert stand Jakob am Fenster und schaute in die noch immer stürmische Nacht hinaus. Was, in Gottes Namen, trieb einen Klosterbewohner zu dieser Mitternachtsstunde und bei diesem entsetzlichen Wetter bloß dazu, ein Pferd zu satteln und den Schutz der sicheren Abtei zu verlassen? Was gab es nur so ungeheuer Wichtiges, dass es keinen Aufschub bis wenigstens zum Anbruch des Tages erlaubte und das enorme Risiko rechtfertigte, welches der Reiter bei diesen Wetterverhältnissen einging? Hatte sein Aufbruch vielleicht mit Bruder Anselm, dem einstigen Abt, zu tun? Und war dieser überhaupt noch am Leben?

Drittes Kapitel

Ein eisiger Windhauch holte Jakob schon früh am Morgen, gerade als die Glocke die Zisterziensermönche zur Prim rief, aus dem Schlaf. Es war noch dunkel über der Abtei.

Doch das Erste, was er bewusst wahrnahm, war sein schmerzender Nacken. Der harte Feldstein als Kopfkissen war ihm schlecht bekommen. Und seine restlichen Glieder fühlten sich kaum weniger zerschunden an. Sein Körper meldete ihm mit einem scharfen Stechen hier und einem peinigenden Ziehen da, dass Jakob ihm die letzten Tage reichlich viel abverlangt hatte. Und womit hatte man ihn für seinen selbstlosen Einsatz belohnt? Mit einer Büßerzelle, deren Schlafstelle mehr Ähnlichkeit mit einer Folterpritsche besaß als mit einem Ort, wo man seine verdiente Erholung finden konnte!

Jakob zog die Decken bis zum Kinn hoch und versuchte auf dem Sack voll Reisig eine Lage zu finden, die einigermaßen bequem war und seinen schmerzenden Gliedern ein wenig Linderung verschaffte. Als ihm das nicht gelang, stieß er einen unterdrückten Fluch aus.

»Hütet Eure Zunge vor dem gottlosen Frevel der Unzucht im Wort!«, kam es da aus der Dunkelheit.

Die Stimme und mit ihr die Erkenntnis, dass er nicht allein in der Zelle war, trafen Jakob wie ein unerwarteter Schlag. Zu Tode erschrocken und mit einem erstickten Aufschrei schnellte er hoch. Eine Gestalt in einem langen, grauweißen Gewand mit hochgeschlagener Kapuze, dem Chorkleid der »weißen Mönche«, wie die Zisterzienser im Volksmund hießen, saß auf dem Schemel unter dem Fenster. Mehr als diese schemenhaften Umrisse vermochte er im Dunkel jedoch nicht zu erkennen.

»Wer seid Ihr?«, stieß er hervor und erinnerte sich auf einmal wilder Alpträume, die ihn im Schlaf verfolgt hatten. An einen vermochte er sich noch vage zu entsinnen: Er hatte im Schneesturm verzweifelt das verlorene Gepäck des fieberkranken Altabtes gesucht, verfolgt von einem Henkersgesellen, der eine Sanduhr bei sich trug und den Auftrag hatte ihn zur Brandmarkung auf den Marktplatz zu schleppen, sowie der Sand aus dem oberen Stundenglas durchgelaufen war. »Und was wollt Ihr?«

»Nur gemach, junger Freund! Beruhigt Euch und fasst Vertrauen. Niemand will Euch etwas zu Leide tun«, lautete die beruhigende Antwort des Mönches, als spürte er Jakobs wilden Herzschlag. »Eure Tür stand halb offen. So glaubte ich Euch schon wach und hoffte noch vor der Prim ein Wort mit Euch wechseln zu können. Dabei vergaß ich wohl, dass die Gebetszeiten unseres geheiligten Horari-ums in Eurem Tagesablauf nicht dieselbe Wertschätzung genießen, wie wir Ordensbrüder sie ihnen zum Lobe des Allmächtigen erweisen.«

Jakob erkannte die Stimme nun als die des Subpriors und der letzte Rest schläfriger Benommenheit fiel von ihm ab. »Meine Zellentür soll halb offen gestanden haben? Das kann schlechterdings sein. Ich bin mir sicher, dass ich die Tür fest ins Schloss gezogen habe, Bruder Tarzisius!«, antwortete er verwundert. Dass der Subprior das Chorgebet mit seinen Mitbrüdern versäumte, nur um mit ihm »ein Wort zu wechseln«, weckte in ihm Wachsamkeit und Misstrauen.

»Wohl aber nicht fest genug und so wird sie dann eben aufgesprungen sein, als Ihr in tiefem Schlaf lagt«, erwiderte der Subprior. »Aber lasst uns zu den Dingen von wichtigerer Bedeutung kommen und.«

»Wie geht es Bruder Anselm?«, fiel Jakob ihm ins Wort und empfand auf einmal Beklommenheit, als er daran dachte, dass der alte Mönch sein Leben vielleicht schon ausgehaucht hatte. »Lebt er noch?«

Die grauweiße Kapuze bewegte sich in der Dunkelheit, was Jakob als ein Nicken deutete. »Bruder Anselm hat die Nacht überstanden, doch niemand vermag zu sagen, wann ihn der Herrgott zu sich ruft. Das Fieber tobt in ihm wie ein lodernder Scheiterhaufen unter einer Teufelsanbeterin.«

Der Vergleich bewirkte eine Gänsehaut bei Jakob und schnürte ihm in Erinnerung an den Scheiterhaufen, den er einst auflodern gesehen hatte, die Kehle zu.

». und raubt ihm das Bewusstsein, sodass es ihm noch nicht vergönnt gewesen ist die Lebensbeichte abzulegen«, fuhr der Subprior fort. »Die Sterbesakramente sind ihm zu seinem Seelenheil schon zuteil geworden. Ich hoffe jedoch, dass er noch einmal zu sich kommt, um zu beichten und hernach wirklich im vollen Zustand der Gnade diese Welt verlassen zu können.«

Jakob konnte sich nicht vorstellen, was ein alter Mönch wie Bruder Anselm vor seinem Tod noch zu beichten haben sollte. Bei all seiner Beharrlichkeit, unbedingt und ohne Rücksicht auf seine angegriffene Gesundheit nach Himmerod zu gelangen, hatte dieser Mann einen sehr sanftmütigen und leidensgeduldigen Eindruck auf ihn gemacht. Zu jenen feisten Pfaffen, die hinter ihrer frömmelnden Fassade der Genusssucht, Machtgier und tyrannischen Selbstherrlichkeit frönten und das einfache Volk ausbluteten, hatte Bruder Anselm ganz sicher nicht gehört. Aber Jakob hütete sich dies zu äußern, wusste er doch nicht, zu welcher Sorte Kirchenmann er den Subprior zuordnen sollte. Jedenfalls hatte dieser wortgewandte Mönch mit der Ausstrahlung eines Hochgeborenen wenig Ähnlichkeit mit Bruder Anselm oder seinem Abt Ambrosius!

»Der Herrgott wird schon wissen, was er auf Erden an ihm gehabt hat«, sagte Jakob trocken.

»Euch schmückt die Sorglosigkeit und Naivität der Jugend Jakob Tillmann«, erwiderte der Subprior mit einem halb bissigen, halb herablassenden Tonfall. »Mein Alter und meine Gelübde sowie die Sorge um das Seelenheil von Bruder Anselm verbieten es mir jedoch denselben Irrweg einzuschlagen.«

»Das will ich Euch gern glauben, Bruder Tarzisius. Nur wie kommt es dann, dass Euer Weg Euch ausgerechnet zu dieser frühen Morgenstunde in meine Zelle geführt hat, wo doch Euer Platz jetzt bei Euren Brüdern im Chorgestühl wäre?« Jakob konnte sich diese spitze Frage einfach nicht verkneifen. Denn dass der Subprior etwas von ihm wollte, sprang doch so offensichtlich ins Auge wie ein dampfender Kuhfladen auf frisch gefallenem Schnee!

Fast meinte Jakob ihn im schwarzen Halbrund der Kapuze lächeln zu sehen, was bei der Dunkelheit natürlich nur eine Einbildung sein konnte.

»Ihr habt einen hellen Geist und seid wahrlich nicht auf den Mund gefallen, Jakob Tillmann.«

»Wenn’s anders wäre, läge ich jetzt wohl schon längst einige Fuß unter der Erde!«, warf Jakob grimmig ein und verdrängte die aufsteigenden Erinnerungen an die Landsknechte und das Blutbad, das sie vor seinen Augen angerichtet hatten.

»Ich weiß einen klugen Kopf zu schätzen und ich vermute mal, dass Ihr es Euch in diesen unruhigen, gottlosen Zeiten zur löblichen Gewohnheit gemacht habt Augen und Ohren stets offen zu halten, besonders in der Fremde«, sagte der Subprior mit einschmeichelndem Tonfall.

»Mhm«, antwortete Jakob nur, was ebenso Zustimmung wie auch Skepsis bedeuten konnte. Ihm schien Vorsicht geboten, wusste er doch nicht, worauf der Mönch hinauswollte.

»Ihr habt gute drei Tage mit Bruder Anselm verbracht und das ist eine lange Zeit, wenn man zu dieser Jahreszeit gemeinsam über die einsamen Wege und Straßen der Eifel zieht«, fuhr Bruder Tarzisius nun fast im Plauderton fort. »Da werdet Ihr gewiss manch munteres Gespräch geführt haben, um Euch von der Eintönigkeit des Weges abzulenken und die langen Stunden rascher vergehen zu lassen. Zumal Bruder Anselm für seine geistreiche Geselligkeit bekannt ist.«

»Ein Urteil über Euren früheren Abt steht mir nicht zu.«, begann Jakob.

»Anselm von Picoll ist niemals Abt von Himmerod gewesen! Und er hat auch nie zu diesem Konvent gehört!«, stellte der Subprior mit einem Nachdruck fest, der Jakob erstaunte. Klang es doch fast so, als hätte Bruder Tarzisius in Gedanken noch ein »Gott sei gedankt!« hinzugefügt.

»Nein? Welcher Abtei stand er dann vor?«

Bruder Tarzisius machte eine herrische Handbewegung. »Das tut nichts zur Sache!«, beschied er ihn schroff. »Kommen wir auf Eure Tage mit Bruder Anselm zurück!«

Jakob zuckte die Achseln. »Nun, wie ich schon sagte, ein Urteil vermag ich mir nicht über ihn herauszunehmen. Aber dass Schwatzhaftigkeit nicht zu seinen Charaktereigenschaften zählt, kann ich wohl guten Gewissens sagen. Zudem war er schon krank, als er zu mir auf den Karren kletterte. Und jeden Tag ging es ihm schlechter. Mit der geistreichen Geselligkeit war es daher nicht weit her.«

»Aber Ihr werdet doch miteinander geredet haben!«, rief der Subprior mit einem Anflug von ärgerlicher Ungeduld.

Jakob zuckte erneut die Achseln. »Ja, hier und da ist natürlich ein Wort gefallen.«

Der Subprior beugte sich vor und fragte mit unverhohlen erwartungsvoller Stimme: »Und worüber? Sprecht, mein Freund! Lasst Euch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!«

»Na, was man eben so redet, wenn man sich nicht kennt und doch zusammenbleiben muss«, antwortete Jakob lustlos, weil er in diesen Fragen einfach keinen Sinn erblickte. Glaubte der Subprior vielleicht, der alte Mönch hätte vor ihm seine Lebensbeichte abgelegt?

»In Gottes Namen, da muss mehr gewesen sein! Bemüht Euren Verstand und forscht in Eurer Erinnerung, was Bruder Anselm Euch berichtet hat!«, forderte ihn Bruder Tarzisius ungehalten auf, um dann fast beschwörend zu fragen: »Hat er Euch zum Beispiel erzählt, welche Kloster er auf seiner Reise besucht hat? Und hat er irgendwann einmal etwas von wichtigen Aufzeichnungen erwähnt, die er während der vergangenen Monate gemacht hat?«

Jakob überlegte und schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann mich an nichts dergleichen erinnern.«

»Denkt gut nach! Macht rechten Gebrauch von Euren Geistesgaben, mit denen der Herrgott Euch gesegnet hat. Meine Fragen haben ihren tiefen Sinn!«

»Wenn ich Euch doch sage, dass mir nichts dergleichen zu Ohren gekommen ist, dann verhält es sich auch so!«, sagte Jakob verdrossen. »Bruder Anselm hat viel gebetet und er hat oft mit sich selbst Zwiesprache gehalten!«

»Sieh da!«, rief Bruder Tarzisius.

»Aber ich habe nicht darauf Acht gegeben, was er da gemurmelt hat!«, stellte Jakob sofort klar. »Es mag Euch enttäuschen, aber von den Dingen, die Ihr zu wissen verlangt, weiß ich nichts!«

Einen Augenblick saß der Subprior schweigend auf dem dreibei-nigen Schemel und Jakob hatte das unangenehme Gefühl das Ziel bohrender Blicke zu sein. Das angespannte Schweigen zerrte zusätzlich an seinen Nerven.

»Was ist denn daran überhaupt so wichtig?«, brach Jakob schließlich die unangenehme Stille in der Zelle.

»Interne Ordensbelange. Wichtig für unsere Arbeit, die dem Opus Dei in bedingungsloser Hingabe gewidmet ist, aber nichts, was Euch interessieren könnte oder gar beunruhigen sollte«, antwortete der Subprior ebenso ausweichend wie geheimnisvoll, um sich im nächsten Moment mit einem Ruck zu erheben, als wollte er mit seinem Aufbruch weiteren Fragen zuvorkommen. »Vergesst, was ich gefragt habe und ruht Euch nur aus. Es wird Euch gut tun bei uns ein paar Tage zu bleiben und wieder zu Kräften zu kommen. Das Wetter lädt zudem nicht dazu ein, sich auf die Landstraße zu begeben.«

Auch Jakob erhob sich nun. Nach diesem merkwürdigen Gespräch mit Bruder Tarzisius war an Schlaf nicht länger zu denken. Er wollte sich ein wenig in der Abtei umsehen, wobei ihn sein erster Gang hinunter ins Kellergewölbe führen würde.

Der Subprior blieb in der Tür stehen und benetzte eine Fingerspitze im kleinen, irdenen Weihwasserkessel, der gleich am Eingang an der Wand hing. Er drehte sich zu Jakob um und sagte mit mahnender Stimme, während sein auf Kopfhöhe erhobener, feuchter Finger wie eine zusätzliche Ermahnung in der Luft verharrte: »Jede Wohnung ist auch Wohnstatt unseres Herrn Jesu. In dieser Gesinnung der Ehrfurcht und Hingabe solltet auch Ihr Eure Unterkunft unter unserem Dach ehren.«

»Ich werde es an Ehre schon nicht mangeln lassen«, versicherte Jakob und hatte Mühe sich seine Verdrossenheit nicht anmerken zu lassen.

»Dazu ist es ganz hilfreich«, fuhr der Subprior belehrend fort, als hätte er Jakobs Bemerkung überhaupt nicht gehört, »wenn wir beim Kommen und Gehen ein kurzes Gebet sprechen, damit unser Ausgehen und Heimkehren nicht profan und zerstreut ist, sondern fromm und gesammelt, ernsthaft und nutzbringend für die Reinheit der Seele.«

Jakob hielt es für klüger diesmal keinen Kommentar abzugeben, sondern nur pflichtschuldig zu nicken. Ein Gebet bei jedem Kommen und Gehen! Kein Wunder, dass auf jeden Heiligen tausend Teufel kamen, wie Gretel Minde, die alte Magd auf Schlehenbusch, immer gesagt hatte. Aber das war gewesen, bevor die Landsknechte gekommen waren und sie den Verstand verloren hatte. Heute würde sie vielleicht die Zahl der Teufel für jeden Heiligen noch um einiges höher schätzen. Wenn es sie denn überhaupt gab, die Heiligen. Vielleicht waren sie ja bloß eine Erfindung - ganz im Gegensatz zu den Teufeln. Denn dass diese existierten, wusste Jakob nur zu gut. Er hatte sie gesehen, mehr als einmal, und sogar am eigenen Leib erfahren!

Viertes Kapitel

Der nächtliche Sturm mit seinem Schneeregen hatte sich zwar verzogen, geblieben war jedoch ein schneidender Wind, der um die Gebäude pfiff und über die freien Flächen der Klosteranlage fegte. Kein Wetter, um sich draußen aufzuhalten, wenn es sich nicht irgendwie vermeiden ließ. Und so wenig Jakob davon angetan war, ausgerechnet in einem Kloster eingeschlossen zu sein und sich seinen strengen Regeln unterwerfen zu müssen, so beruhigend war es andererseits zu wissen, dass er hinter dicken Mauern Schutz gefunden hatte und sich um seine leiblichen Bedürfnisse vorerst keine Sorgen zu machen brauchte. Büßerzelle und Haferschleimsuppe nahmen zwar auf der Liste seiner Wünsche wahrlich keinen hohen Stellenwert ein, kamen aber gewiss ellenweit vor einem leeren Brotbeutel und einer feuchten Erdhöhle in irgendeinem Wald. Zudem stand seine Belohnung ja noch aus. Er baute fest darauf, dass auch für die frommen Brüder von Himmerod ein gegebenes Versprechen galt und von ihnen geehrt wurde. Und allein das war schon ein Gedanke, der ihn über manches hinwegtröstete, etwa über den vermaledeiten Feldstein als Kopfkissen.

Während der neue Tag über der Abtei im Salmtal heraufdämmerte und die Finsternis der Nacht sich in immer heller werdende Grautöne aufzulösen begann, streifte Jakob durch das Konventsgebäude. Er fand sich plötzlich im Kreuzgang wieder. Das Spitzbogengewölbe, das zum Innenhof mit Maßwerkfenstern ausgestattet war, beeindruckte ihn mit seiner schlichten Formschönheit und der tiefen Stille, die dieser Ort ausstrahlte. Ihm war, als hätte die Zeit hier ihre Gültigkeit als das buchstäbliche Maß aller menschlichen Dinge verloren. Schwach drang der Gesang der Mönche aus der Abteikirche zu ihm in das Gewölbe. Und in ihm rührte sich eine schwache Ahnung von dem, was Menschen seit vielen Jahrhunderten bewegte der Welt zu entsagen und hinter Klostermauern ein gottgeweihtes Leben zu führen.

Ehrfürchtig schlich er auf Zehenspitzen durch den Kreuzgang, vorbei an tiefen Nischen mit Heiligenstatuen und reich verzierten Schlusssteinen in barocker Kartuschenform. Bei den eigenartigen Wappen und lateinischen Inschriften, die er im Dämmerlicht nicht näher zu entziffern vermochte, handelte es sich wohl um die Gedenktafeln ehemaliger Himmeroder Äbte.

Dass der Gesang der Ordensleute verstummt war, wurde ihm erst bewusst, als er um die südöstliche Ecke des Kreuzganges bog - und sich am Ende des Gewölbes eine Tür öffnete.

Die Mönche kehrten in geschlossener Prozession von der Prim zurück!

Geistesgegenwärtig trat er in den Schatten eines schmalen Torbogens, der sich gleich zu seiner rechten Hand befand und hinter dem ein Treppenaufgang lag. Neugierig spähte er um die Kante des Torbogens.

In Doppelreihen kamen die Mönche in ihren weiten, bodenlangen Chorgewändern aus grauweißem Habitstoff den Kreuzgang hinunter. Dabei hielten sie sich ganz nahe an der Wand zu ihrer Linken. Fast lautlos und wie geisterhafte Gestalten, denn unter den Kapuzen waren keine Gesichter zu erkennen, bewegte sich die Prozession der Zisterzienser den Gang entlang.

Jakob zog sich tiefer in die Dunkelheit des Treppenaufgangs zurück und hielt den Atem an, als die Mönche am Torbogen vorbeizogen. Eine Doppelreihe nach der anderen glitt an seinem Versteck vorbei und nicht einer der Mönche wandte den Kopf. Irgendwo knarrte eine Tür. Dann schlug Metall an Metall und dieses Geräusch, das Jakob mit einem Schloss oder Riegel in Verbindung brachte, wirkte in der Stille des Kreuzgangs beinahe schmerzhaft laut.

Angestrengt horchend wartete er noch einen Augenblick, bis er sich aus dem Torbogen wagte. Er wollte nicht dabei erwischt werden, wie er sich im Kreuzgang herumtrieb, der für die Mönche zu den heiligsten Orten ihres Klosters zählte und zu dem bestimmt nur Ordensleute Zutritt hatten.

Überzeugt davon, den Kreuzgang wieder verlassen vorzufinden, wollte er denselben Weg, den er gekommen war, zurückgehen. Doch als er um die Ecke kam, fuhr er erschrocken zusammen, denn vor einem der Fenster zum Innenhof sah er zwei Mönche stehen. Einer von ihnen war der Mönch mit der Augenklappe, der Bruder Basilius hieß, wie Jakob sich erinnerte. Die andere, schmächtige Gestalt vermochte er nicht zu erkennen, wies diese ihm doch den Rücken zu.

Statt sich schnell zurückzuziehen und einen anderen Weg aus dem Kreuzgang zu suchen presste Jakob sich an den kalten Stein des Gemäuers und lugte um die Ecke. Kein Wort von dem, was da zehn, zwölf Schritte von ihm geflüstert wurde, drang an sein Ohr. Er beobachtete jedoch, dass Bruder Basilius mit knappen, aber eindringlichen Gesten auf seinen Mitbruder einredete. Ihm war, als schüttelte der andere Mönch den Kopf. Daraufhin packte ihn Bruder Basilius an den Schultern, als wollte er ihn aufrütteln - oder ihm drohen. Der schmächtige Klosterbruder schien davon alles andere als angetan zu sein, denn mit einer unwilligen Geste machte er sich los und hastete dann den Gang hinunter, um Augenblicke später in einem Durchgang zu verschwinden. Bruder Basilius stand noch eine Weile reglos und mit geballten Fäusten da. Dann folgte er dem schmächtigen Klosterbruder.

Was war zwischen den beiden Mönchen bloß vorgefallen? Worüber mochten sie sich gestritten haben? Und hatte der Mönch mit der Augenklappe wirklich eine Drohung ausgesprochen?

Diese Fragen beschäftigten Jakob noch, als er zehn Minuten später einen Blick in die Küche warf. Seine Hoffnung, dort den umgänglichen Bruder Isenbard anzutreffen, erfüllte sich. Und jener rückte dann sogar einen großen Becher Milch, eine Scheibe Brot sowie zwei gekochte, kalte Kartoffeln vom Vortag heraus.

»Frühstück gibt es in einem Kloster nicht junger Mann«, belehrte er ihn, während er die Holzscheite, die er in einer großen geflochtenen Kiepe hereingetragen hatte, in dem großen Feuerholzkasten aufschichtete. »Wie ich eigentlich auch nicht mit Euch sprechen dürfte.«

»Wieso nicht, Bruder Isenbard? Seid Ihr Euch vielleicht zu fein mit einem einfachen Fuhrmann zu sprechen?«, spottete Jakob und kniete sich neben ihn, um ihm bei der Arbeit zur Hand zu gehen.

Bruder Isenbard reagierte mit einem Schmunzeln. »Ihr seid so wenig ein einfacher Fuhrmann wie unser hochwürdiger Abt!«, erwiderte er trocken. »Nein, es ist das Schweigegebot, zu dem wir uns verpflichtet haben. Gewöhnlich dürfen wir dieses Schweigen nur bei unseren Zusammenkünften im Kapitelsaal, während der Rekreation und bei der Arbeit brechen, wenn es unumgänglich ist.«

»Aber gestern habt Ihr doch auch mit mir gesprochen, ebenso Euer Pfortenbruder, der Subprior und einige andere, ja sogar Euer Abt hat mit mir geredet«, wandte Jakob ein.

»Das war eine Ausnahmesituation.«

»Dann sind Gespräche im Kreuzgang wohl auch verboten«, sagte Jakob und dachte an die merkwürdige Szene, die er dort vor kurzem beobachtet hatte.

»Selbstverständlich! Besonders dort ist Reden strengstens untersagt!«, bekräftigte der Mönch. »Wie auch bei den Mahlzeiten im Refektorium sowie im Scriptorium.«

»Nun, ich glaube nicht, dass der Herrgott etwas dagegen hat, wenn Ihr mir Eure Hilfe erweist, ist es doch das erste Mal, dass ich mich in einem Kloster befinde. Er wird es Euch gewiss vergelten, dass Ihr Barmherzigkeit und Nächstenliebe über die gestrenge Regel gestellt habt«, sagte Jakob einschmeichelnd. »Zumal Euch sicherlich noch viele Stunden am Tag für Euer frommes Schweigen bleiben.«

Er schien damit den richtigen Ton getroffen zu haben. Bruder I-senbard nickte zustimmend und murmelte etwas in der Art, dass man alle Gäste gleich zu behandeln und das Schweigen nicht allein für gelehrte Stiftsherren zu brechen habe.

Jakob biss in eine Kartoffel - und spuckte die Hälfte angeekelt wieder aus, weil sie voll schwarzer Fäule war. »Und ich dachte, Mönche hätten zumindest immer gute und reichhaltige Kost auf ihrem Tisch!«

Bruder Isenbard machte eine bedrückte Miene. »Bona culina, bona disciplina - Eine gute Küche bringt gute Disziplin! Dies ist stets der Leitspruch unseres hochwürdigen Abtes gewesen. Aber Himmerod hat schlechte Zeiten hinter sich. Die Kriegswirren des Dreißigjährigen Krieges sind nicht spurlos an uns vorbeigegangen. Ach, wie oft sind plündernde Soldatenhorden über unsere Abtei hergefallen!«, klagte er, um mit Bitterkeit fortzufahren. »Nicht allein die protestantischen Heere haben sich den Grundsatz der schwedischen Herrscher zu Eigen gemacht, demnach fremde Heere sich ihren Sold und ihre Verpflegung nach wallensteinschem Muster in Deutschland selbst einzutreiben hätten. Auch die Armeen der katholischen Liga sind so verfahren und haben das eigene Land bis zum letzten ausgepresst.« Er machte eine Pause und fragte dann: »Habt Ihr schon mal von dem >Kometen mit dem langen Schweif< gehört?«

Jakob schüttelte den Kopf.

»Er erschien vor Ausbruch des Krieges, an einem Novembertag im Jahre des Herrn 1618, und verbreitete am Himmel ein gespenstisches Rotlicht. Genau dreißig Tage und Nächte konnte man ihn sehen und jedermann, der Augen im Kopf hatte und derlei Zeichen zu deuten vermochte, wusste, dass dieser Komet düstere Ereignisse verhieß«, berichtete Bruder Isenbard mit leiser, gedankenschwerer Stimme. »Viele Eltern versprachen in jener Zeit einen ihrer Söhne einem Bettelorden, um drohendes Unheil abzuhalten. Auch meine Eltern legten den heiligen Schwur ab, dass mein Leben einem gottgefälligen Dasein im Kloster gewidmet sein sollte. Und so kam ich schon mit zwölf Jahren nach Himmerod. Nicht, dass ich es bereut hätte von meinen Eltern zu diesem Leben vorbestimmt worden zu sein. Aber das schreckliche Unheil, das dann über das Land gekommen ist, haben diese vielen heiligen Gelübde nicht aufhalten können.«

»Für jeden Tag dieser Kometenerscheinung mit seinem roten Licht ist also ein blutrünstiges Kriegsjahr gekommen«, stellte Jakob fest.

Bruder Isenbard nickte. »Auch Himmerod hat in dieser grausamen Zeit schwer zu leiden gehabt. Immer wieder wurden wir geplündert, mit drückenden Abgaben belegt und mussten Zwangseinquartierungen hinnehmen. Wie oft fielen lothringische Truppen über uns her, aber auch Truppen unserer eigenen Liga! Allein 1650 wurden wir dreimal hintereinander geplündert. Wir litten derart unter Hunger, dass wir bei den Bauern, die sich in den Wäldern versteckt hatten, betteln mussten. Unser Abt musste sogar zehn Mönche in andere Klöster schicken, weil einfach nicht genügend zu essen für alle da war. Ein Jahr später suchte uns der Herzog von Lothringen, trotz des Westfälischen Friedens vom Oktober 1648, wieder heim und ließ weder einen Tropfen Wein noch eine einzige Brotkrume zurück. Auch alle Kleider und aller Hausrat gingen wieder einmal verloren. Wir Mönche versteckten uns zwei Tage und zwei Nächte auf dem Speicher der Abtei und über dem Kirchengewölbe, während die Soldaten in unserem Kloster wie die Vandalen wüteten. Oh, es war eine entsetzliche Zeit, die mich heute noch erschauern lässt, wenn ich daran denke, welches Elend dieser Krieg über das Land gebracht hat.«

Jakob schwieg. Er hatte seine eigenen Erinnerungen, die um einiges schlimmer waren als ein vor Hunger knurrender Magen und die Angst diesen blindwütigen, blutdürstigen Landsknechten in die Quere zu kommen und kurzerhand abgestochen zu werden. Es waren Erinnerungen, über die er nicht sprechen wollte, sondern die er tief in seinem Innern vergraben hatte, wo sie hoffentlich zu seinen Lebzeiten so wenig auferstehen würden wie die Toten in ihren Gräbern.

Eine zweite, große Kiepe mit Feuerholz stand draußen vor der Tür zum Küchengewölbe und Jakob nahm Bruder Isenbard die Arbeit ab sie die Treppe hinunterzutragen. Gemeinsam schichteten sie das Holz auf, während der Mönch ihm bereitwillig erklärte, welche Räume welchem Zweck dienten, wann die Mahlzeiten in Verbindung mit der Tischlesung im Refektorium eingenommen wurden und dass man im Parlatorium, in das sich gerade die drei Stiftsherren begeben hatten, nach Herzenslust reden konnte. Er erfuhr allerlei interessante Dinge von dem kleinen Ordensbruder, dem die grauen Haarbüschel aus Ohren und Nase wucherten.

Ihr munteres Gespräch fand ein jähes Ende, als ein breitschultriger Mönch mit einem Schädel so kantig wie ein Hauklotz erschien.

»Bruder Anton, unser Refektorearius, der Speisebruder!«, stieß Bruder Isenbard leise hervor und warnte ihn: »Macht besser, dass Ihr verschwindet. Bruder Anton neigt zu Unleidlichkeit und duldet keine Fremden in den Küchenräumen!«

Jakob machte, dass er dem Refektorearius, der ihm einen erbosten Blick zuwarf, so schnell wie möglich aus den Augen kam. Er huschte durch eine offen stehende Tür, die ihn in das Refektorium führte, einen lang gezogenen Speisesaal mit harten Holzbänken und -tischen längs der Wände sowie einer kleinen Kanzel, die in eine Nische eingefügt war und von der aus einer der Mönche während der schweigend eingenommenen Mahlzeiten aus der Ordensregel des heiligen Benedikt sowie aus Bibel und Heiligengeschichte vorlas. Die hohen Wände gingen in ein fast rundes Deckengewölbe über. An der Stirnwand des Saals waren drei schmale, aber hohe Bogenfenster eingelassen, durch die nun helles Morgenlicht flutete und den blank polierten Quadersteinen des Fußbodens einen blau schimmernden Glanz entlockte. Ebenfalls an der Stirnwand hing ein schlichtes, mehr als mannshohes Kreuz mit dem Korpus des Gekreuzigten. Es schien nicht an der Wand zu hängen, sondern in diesem Strom aus Sonnenlicht zu schweben.

Jakob bekreuzigte sich hastig und verließ das Refektorium durch eine Tür gegenüber der Wand mit den Fenstern und dem Kreuz. Zu seinem Erstaunen fand er sich im Kreuzgang wieder. Er wandte sich nach rechts, wo er einen Durchgang und dahinter eine breite Treppe erblickte, die hoch ins Obergeschoss führte.

Schon wollte er die Treppe hinaufeilen, als er eine sonore Stimme vernahm, die aus dem Raum zu seiner Linken kam. Das muss das Parlatorium sein, von dem Bruder Isenbard gesprochen hat!, fiel es Jakob ein. Der Raum, in dem sich die drei Stiftsherren aufhielten.

Die schwere Kassettentür zum Parlatorium stand eine gute Hand breit offen und Jakob konnte der Versuchung nicht widerstehen näher zu treten und zu lauschen, was diese vornehmen Kirchenmänner zu bereden hatten.

». sollten die Zeit nutzen, wenn wir schon nicht Weiterreisen können«, sagte die dunkle, volle Bassstimme.

»Rufinus hat Recht«, stimmte ihm eine heiser klingende Stimme zu. »Es kann nicht schaden unsere Argumentation für den Disput noch einmal auf Schwachstellen zu überprüfen.«

»Und ich sage Euch, mein verehrter Mattheiß, es gibt keine«, meldete sich der dritte Stiftsherr zu Wort. »Wer wollte es wagen daran zu zweifeln, dass Maria Gottes Sohn acht Tage vor den Kaien-den des April, also am 25. März, empfangen hat - am selben Tag, an dem unser Herr auch am Kreuz für uns gestorben ist. Hat doch schon unser Kirchenvater, der heilige Augustinus, in seinem gelehrten Traktat über die Dreifaltigkeit, diesen Tag der Heilsgeschichte bestätigt!«

»In der Tat, Dederich!«, pflichtete ihm Stiftsherr Rufinus bei. »Jeweils acht Tage vor den Kaienden des April schuf Gott die Welt, hauchte er Adam Seele ein, wurde Abel von seinem Bruder Kain erschlagen, wurde die Welt von der Sintflut vernichtet, war Abraham zur Opferung seines Sohnes Isaak bereit, kam König Pharao von Ägypten mit seinem Heer im Roten Meer um, wurde Maria vom Erzengel Gabriel die Gnadenbotschaft Gottes verkündet, starb Christus zur Erlösung der Welt am Kreuz - wie auch der Apostel Paulus an diesem Tag des Jahres aus dem Kerker befreit und Apostel Jakobus enthauptet wurde.«

»Vergesst nicht, dass Jerusalem sich an diesem Tag von den tyrannischen Fesseln des Titus und Vespasian befreite!«, warf Dederich ein.

»Die Heilstaten Gottes fanden zweifellos acht Tage vor den Kaienden des April statt!«, bestätigte Mattheiß. »Christus, unser Herr, wurde am Tag der Tagundnachtgleiche empfangen und geboren am Tag der Wintersonnenwende, wenn die Tage wieder zunehmen. Während Johannes der Täufer am Tag der Sommersonnenwende, wenn die Länge der Tage abnimmt, zur Welt kam. Dies entspricht ihrem göttlichen Auftrag. Denn sagte Johannes im Evangelium seines gleichnamigen Bruders in Christo im Kapitel 3, Vers 30 nicht selber: >Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden

»Trefflich gesagt, verehrter Mattheiß!«, lobte ihn die Bassstimme von Stiftsherr Rufinus. »Der März ist nicht nur der Monat der Baumblüte und des Erwachens der Natur aus der Zeit der winterlichen Erstarrung, sondern im biblischen Chronos die gnadenreiche Zeit göttlicher Erneuerung und Erlösung!«

Jakob glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Drei Kirchenmänner von Rang beschäftigten sich ernsthaft mit der Frage, an welchem Tag die Verkündigung des Erzengels an Maria ergangen sei und wann die Gottesmutter wohl empfangen habe? Ebenso fassungslos wie fasziniert, lauschte er dem Gespräch im Parlatorium, das plötzlich eine noch wunderlichere Note erhielt, als der Mann namens Dederich sagte: »Nun, in dem Datum der Verkündigung und der Empfängnis sind wir uns trefflich einig und mir scheint, dass wir jedwede Einwände falsch geleiteter, kirchlicher Zweifel mit der geradezu erdrückenden Kraft unserer Argumente zum Schweigen bringen werden. Doch was die genaue Stunde der Verkündigung und Empfängnis durch den Heiligen Geist betrifft, so mangelt es in unseren eigenen Reihen noch immer an einer Übereinstimmung. Wie Ihr wisst, haben meine Betrachtungen, Forschungen und Gebete um Erleuchtung mich zu der Erkenntnis geführt, dass dies nur in der Morgenstunde geschehen sein konnte. Gott begann sein Schöpfungswerk, als die Sonne aufging und der erste Tag begann. Was die Erschaffung der Sonne für die noch nicht von Gottes Ebenbildern bewohnte Erde darstellt, findet seine Entsprechung in der Menschwerdung Jesu für uns sündige Kreaturen. Folgerichtig wird also auch die Erlösungsgeschichte im hellen Licht eines neuen Tages begonnen haben!«

»Gewiss, die Morgenstunde scheint sich unter diesem Aspekt förmlich aufzudrängen und wenig Platz für eine andere Möglichkeit zu lassen«, räumte Stiftsherr Mattheiß ein, um dann mit Leidenschaft seinen Standpunkt vorzutragen. »Nur gebe ich zu bedenken, dass auch nicht wenig für die Mittagsstunde spricht. Ist denn nicht die Geburt Isaaks und Johannes’ zur Mittagszeit angekündigt worden? Und hat man Jesus nicht auch in der Mitte des Tages ans Kreuz genagelt? Am Mittag erreicht die Sonne ihren Zenit und damit ihre stärkste Kraft. Liegt es da nicht nahe anzunehmen, dass das göttliche Wort, die >Sonne der Gerechtigkeit, wie es schon bei Maleachi Kapitel 3, Vers 20 geschrieben steht, zu dieser Stunde in der Gottesmutter Fleisch geworden ist? Und geschah es nicht während der heißen Mittagszeit, dass Abraham, im Eingang seines Zeltes sitzend, von drei Männern die unglaubliche Kunde erhielt, dass seine alte Frau Sara noch binnen Jahresfrist froher Hoffnung sein werde? Auch geschah die Bekehrung des Christenverfolgers Saulus in den Apostel Paulus, als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, wie es in der Apostelgeschichte verzeichnet ist. All dies sind nur einige Beispiele dafür, dass der Mittag in der heiligen Mutter Kirche schon immer als die Zeit göttlicher Epiphanie gilt. Ich denke, diese gewichtigen Argumente, die auf den Mittag als die geheiligte Stunde hinweisen, dürfen wir nicht leichtfertig von der Hand weisen.«

»Wir werden Eure Hinweise mit der größten Sorgfalt, wie sie diesem Thema angemessen ist, studieren, lasst Euch dessen versichert sein, mein lieber Mattheiß«, versprach Stiftsherr Rufinus. »Aber nicht allein Morgenstunde und Mittagszeit können schwerwiegende Argumente für sich ins Feld führen! Bedenkt, dass der Abend die Fülle des Tages ist. Und hat nicht der Allmächtige, als nun die >Fülle der Zeit< gekommen war, wie wir im Galater 4, Vers 4 nachlesen können, uns nicht seinen Sohn geschickt? Auch für Mitternacht, wo die Finsternis am größten ist, spricht einiges. Dem Propheten Jeremias erschienen zu mitternächtlicher Stunde Engel, die ihm den bevorstehenden Untergang Israels ankündigten. Und weist nicht auch das Wort des Propheten Jesaja in Kapitel 9, die Verheißung der Geburt des göttlichen Kindes, unmissverständlich auf Mitternacht hin? Dort steht geschrieben: >Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Man nennt ihn Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens.< Ohne Zweifel herrschte doch tiefste Nacht, als das Licht der Erlösung mit Maria Verkündigung und Empfängnis aufging.«

»Euer Hinweis auf die >Fülle der Zeit< verlangt in der Tat eingehende Betrachtung und Abwägung«, antwortete Mattheiß. »Jedoch nach kanonischen.«

Jakob, der dem Gelehrtendisput gefesselt zugehört hatte, bekam nicht mehr mit, welchen Einwand der Stiftsherr Mattheiß nun vorbrachte.

Denn in diesem Augenblick sagte hinter ihm eine spöttische Stimme: »So dunkel ist die Pilgerstraße und Irrgeleucht von allen Seiten.«

Jakob fuhr erschrocken herum, wie ein auf frischer Tat ertappter Dieb. Der Schwede Henrik Wassmo stand auf halber Höhe der Treppe gegen das steinerne Geländer gelehnt. Der schon vielfach geflickte Umhang aus dickem, mitternachtsblauem Stoff lag um seine Schultern. In der linken Hand hielt er ein Stück mageren Speck, in der rechten ein Federmesser mit schmaler Klinge. Jakob hatte diesen merkwürdigen Mann, den Begleiter dieses kaum weniger merkwürdigen Mönches mit der Augenklappe, nicht kommen gehört. Hatte er vielleicht schon eine ganze Weile in seinem Rücken gestanden und ihn dabei beobachtet, wie er dem Disput der drei Stiftsherren lauschte?

Jakob wusste nicht, was er von dem unerwarteten Auftauchen des Schweden und dessen Bemerkung halten sollte. Sicherlich war aber eine Erklärung, möglicherweise sogar eine Entschuldigung angebracht. Und so sagte er mit einem verlegenen Achselzucken: »Die Stimmen der ehrwürdigen Stiftsherren tragen so weit, dass man hier draußen jedes Wort verstehen kann. Man braucht sich noch nicht einmal anzustrengen.« Und als der Schwede nichts darauf erwiderte, sondern ihn nur schweigend ansah, da setzte er mit einem gequälten Lächeln hinzu: »Mir wäre es nie in den Sinn gekommen, dass sich gelehrte Kirchenmänner den Kopf darüber zerbrechen könnten, zu welcher Stunde die Verkündigung erfolgt ist und wann Maria empfangen hat. Aber wenn man es recht betrachtet, warum eigentlich nicht?«

Der Schwede schien ihm eine Antwort schuldig bleiben zu wollen. Wortlos stieß er sich vom Geländer ab und kam die Treppe herunter. Dabei schnitt er sich ein Stück von dem herrlich mageren Speck ab und schob es sich in den Mund. Als er bei Jakob angelangt war, blieb er stehen, warf einen kurzen Blick auf die Tür zum Parlatorium und sagte nun: »Kein Buch kann Seine Werke fassen, kein Mund verkündet Seinen ganzen Ruhm.«

Irritiert sah Jakob ihn an. »Ihr haltet also nichts von solchen Betrachtungen?«

Der Schwede verzog den Mund. »Die Könige der Welt erkühnen sich, Gott aber lacht und spottet ihrer«, antwortete er und Jakob war sicher, dass diese Worte genauso aus irgendeinem Psalm stammten wie all die anderen Äußerungen, die er bisher von ihm gehört hatte. »Ihr Toren, weicht mit Eurem Plunder! Die höchste Liturgie sei Euch die Liebe!«

Jakob nahm sich ein Herz und fragte keck: »Und in welchen Psalmen kann ich Eure Antworten wiederfinden?«

Nicht ein Muskel bewegte sich im Gesicht des Schweden. »Glücklich zu preisen, wer nicht Bösen Gehör schenkt, den Trott der Sünder nicht mitmacht und nicht auf der Spötterbank sitzt!«, lautete seine ruhige Antwort. »Denn der Herr sieht auf des Menschen Schritte.«

Jakob fragte sich verunsichert, ob das eine Zurechtweisung oder ein guter Ratschlag sein sollte. Denn weder die Stimme noch das pockennarbige Gesicht des Schweden verriet, wie er seine Worte verstanden wissen wollte.

Und dann tat der seltsame Begleiter von Bruder Basilius etwas, was Jakob vollends durcheinander brachte: Er schnitt mit dem Messer eine fingerdicke Scheibe Speck ab, spießte sie mit der Klinge auf und hielt sie ihm hin.

Augenblicklich lief ihm das Wasser im Mund zusammen. »Oh!«, sagte er verblüfft und zog den Speck von der Klinge. »Besten Dank.«

»Der Herr sieht auf des Menschen Schritte«, wiederholte der blonde Mann mit dem verunstalteten Gesicht und dem rotbraunen Kinnbart noch einmal. Dann zog er die Tür auf, durch die man hinaus auf den verschneiten Hof gelangte. Ein eisiger Windstoß ließ seinen Umhang wie die in zahllosen Gefechten zerschossene und hinterher geflickte Fahne einer Söldnertruppe wehen. Dann fiel die Tür hinter dem Schweden zu und Jakob war wieder allein.

Noch ganz unter dem Eindruck seiner verwirrenden Begegnung, stieg Jakob langsam die Treppe hoch. Genussvoll kaute er auf dem Streifen Speck und grübelte darüber nach, was er bloß von diesem Mann halten sollte. Musste er vor ihm auf der Hut sein und ihm besser aus dem Weg gehen oder konnte er Vertrauen zu ihm fassen? Und wieso hatte ein einfacher Mönch wie dieser Bruder Basilius einen Begleiter, der statt einer Kutte die Kleidung eines Landsknechtes trug und aus dem verhassten, protestantischen Schweden kam, gegen deren Heere die katholische Liga so viele blutige Schlachten geschlagen hatte? Ja, wieso hatte der Ordensmann mit der Augenklappe überhaupt einen Begleiter? Welch dunkles Geheimnis mochte diese beiden Männer wohl umgeben? Denn dass sie ein solches teilten, stand für ihn plötzlich außer Frage. Woher er diese Gewissheit nahm, wusste er selbst nicht. Sie hatte sich einfach eingestellt, quasi mit dem letzten Bissen Speck.

Fünftes Kapitel

Unbewusst hatten ihn seine Schritte in jenen Teil des oberen Stockwerkes geführt, wo Bruder Anselm von Picoll in einer der spartanischen Mönchszellen mit dem Tode rang. Jakob spürte nun den Drang in sich den einstigen Abt, den er unter Aufbringung seiner letzten Kraft nach Himmerod gebracht hatte, noch einmal zu sehen, bevor er seinem Fieber erlag. Irgendwie glaubte er ihm oder sich selbst dies schuldig zu sein.

Schon wollte er an die Tür klopfen, als sie von innen aufgezogen wurde. Der junge Mann, der die Zelle gerade verlassen wollte, fuhr genauso erschrocken zusammen wie Jakob. Er trug nicht das schwarze Skapulier des Mönches über der Tunika, sondern war gänzlich in den weißgrauen Stoff der Zisterzienser gekleidet, was ihn als Novize auswies. Er konnte nicht viel älter als siebzehn, achtzehn Jahre sein und machte mit seiner schmächtigen, schmalbrüstigen Gestalt den Eindruck eines ausgezehrten Sperlings. Große, sanfte Augen lagen wie stille Seen in einem übermüdeten Gesicht, das nach dem ersten Moment der Überraschung dennoch sofort zu einem Lächeln fähig war.

»Ihr seid Jakob Tillmann, der mutige Fuhrmann, der dem gestrigen Sturm getrotzt, Bruder Anselm so aufopferungsvoll betreut und sich mit ihm zu uns durchgeschlagen hat, nicht wahr?« Seine Stimme war voller Bewunderung, aber sehr leise, kaum mehr als ein Flüstern, als fürchtete er von einem der Mönche beim Reden ertappt und bestraft zu werden.

Das Lob war Jakob ausgesprochen unangenehm, erinnerte es ihn doch sofort daran, dass er den alten Mönch beinahe auf der Hügelkuppe von seinem Karren gekippt und dort im Stich gelassen hätte. Und so antwortete er mit einem unwilligen Kopfschütteln und betont schroff: »Mit Mut und Aufopferungsbereitschaft hatte das nichts zu tun. Er hatte mir eine ansehnliche Belohnung versprochen und die wollte ich mir nicht durch die Lappen gehen lassen.«

»Natürlich nicht«, sagte der fast gleichaltrige Novize lächelnd, als würde er ihm kein Wort glauben, und streckte ihm die Hand hin: »Ich bin der Novize Dominik. Zu Ostern ist mein Noviziat beendet und dann werde ich die Profess ablegen.« Seine Augen strahlten dabei, als hätte er ihm von etwas Wunderbarem Kenntnis gegeben.

»Na, denn«, sagte Jakob trocken und tauschte einen Händedruck mit dem Novizen. »Wie geht es Bruder Anselm?«

Betrübnis löschte den glücklichen Ausdruck auf dem Gesicht des Novizen aus. »Er kämpft, doch Hoffnung gibt es keine mehr, wie es heißt. Wir können nur noch für ihn beten.«

»Kann. ich zu ihm?«

Dominik zögerte kurz und nickte dann. »Gewiss, geht nur hinein. Bruder Tarzisius hat zwar angeordnet, dass niemand ohne seine Erlaubnis die Zelle des Kranken betreten darf, damit das Fieber nicht auch noch in unserem Konvent Opfer fordert. Aber Euch kann er mit dem Verbot ja nicht gemeint haben, seid Ihr doch schon mehrere Tage an seiner Seite gewesen, ohne von dem Fieber befallen worden zu sein.«

Jakob schluckte unwillkürlich. Der Gedanke, dass der alte Mönch eine ansteckende Krankheit haben könnte, war ihm noch gar nicht gekommen. Ein letzter Besuch erschien ihm unter diesem Gesichtspunkt plötzlich doch sehr entbehrlich zu sein. »Nun, vielleicht sollte ich Bruder Tarzisius doch besser vorher fragen.«

»Ach was, das ist nicht nötig. Kommt nur herein, Jakob Tillmann!«, forderte Dominik ihn munter auf und schob ihn durch die Tür. »Ihr würdet mir zudem einen großen Gefallen tun. Denn eigentlich soll ich Bruder Anselm nicht eine Minute allein lassen, so hat es mir der Subprior aufgetragen. Aber wenn Ihr nun an seinem Lager sitzt, kann ich guten Gewissens meinem.« Er machte eine kurze, verlegene Pause, bevor er grinsend fortfuhr:»... einem drängenden Bedürfnis nachgehen und meine Eingeweide in Ruhe erleichtern. Bohnen bescheren mir immer ein fürchterliches Rumoren.«

»Also gut«, sagte Jakob. »Doch ich bleibe nur ein paar Minuten!«

Dominik nickte. »Aber betet stumm!«, ermahnte er ihn noch, bevor er ging. »Bruder Tarzisius hat lautes Beten strengstens untersagt! Ich weiß nicht, warum, aber unser Subprior wird dafür seine guten Gründe haben.«

»Das Beten überlasse ich Euch Ordensleuten«, brummte Jakob und trat zögerlich an das Krankenlager.

Bis auf den schwachen Schein einer Kerze, die auf dem Lesepult unruhig flackerte, war es dunkel in der Zelle. Die hölzernen Schlagläden vor dem Fenster waren geschlossen und verriegelt. Die Kammer, in die man Bruder Anselm gebracht hatte, war nicht viel geräumiger als die Büßerzelle, in der er, Jakob, untergebracht war.

Mit einem flauen Gefühl im Magen nahm Jakob auf dem harten Schemel Platz, der vor dem primitiven Bettgestell des Fieberkranken stand. Der alte Mönch lag unter einem halben Dutzend Decken. Kerzenlicht tanzte über das von Fieberschweiß glänzende Gesicht und warf dabei gespenstische Schatten über die tiefen Augenhöhlen und eingefallenen Wangen. Die knochigen Hände des betagten Ordensmannes hielten einen Rosenkranz umklammert, bewegten sich jedoch nicht. Wie ein Toter lag Bruder Anselm da. Und die ganze Zelle schien von der Gegenwart des Todes erfüllt zu sein.

Der Mönch atmete jedoch noch, und zwar schnell und flach, wie Jakob bei näherem Hinsehen feststellte. Seine Beklemmung wuchs mit jeder Sekunde, die in der Stille der dunklen Klosterkammer verstrich. Was hatte er hier überhaupt zu suchen? Er hatte gegenüber dem einstigen Abt wohl nicht die geringste Verpflichtung. Wenn hier einer einem etwas schuldete, dann war das doch wohl Bruder Anselm, der ihn mit dem Versprechen einer fetten Belohnung geködert hatte! Und wenn der Alte starb, ging diese Schuld natürlich auf die weißen Mönche von Himmerod über, das verstand sich ja wohl von selbst!

Jakob war entschlossen die versprochene Belohnung in Himmerod einzutreiben. Und er nahm sich fest vor sich notfalls selbst schadlos zu halten, falls die frommen Kuttenträger versuchen sollten ihn mit wohlfeilem Gottesdank und einem Hungerlohn abzuspeisen. Deshalb war es ratsam, wenn er sich jetzt schon einmal umsah, was sich mitzunehmen lohnte und wie er es am besten anstellen konnte.

»Holt sie. aus den. Feuern!«

Jakob zuckte zusammen, als die keuchende Stimme von Bruder Anselm seinen grimmigen Gedanken ein jähes Ende bereitete.

Der alte Mönch schien aus einem totenähnlichen Schlaf erwacht zu sein und fuchtelte nun, wie von Zitterkrämpfen geschüttelt, mit der Hand, die den Rosenkranz hielt, durch die Luft. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Maske höchster Anstrengung, während einzelne Worte und Satzfetzen abgehackt über seine Lippen kamen.

Hastig beugte sich Jakob vor.

»Weg!. Holt die Zeugen. Ruchloser Wahn. Oh selige Madonna!. Singt. singt. ihr Distelfinken. Jesu rotes Blut. Barmherzigkeit und Wahrheit. findet sie nur im Schoß der Jungfrau.«

Das gequälte, kaum verständliche Gestammel von röchelnden Lauten unterbrochen, machte Jakob eine Gänsehaut. Er hatte das Gefühl, als versuchte der alte Mönch mit verzweifelter Kraftanstrengung den betäubenden Schleier seines Fieberdeliriums zu durchbrechen und ihm etwas Wichtiges mitzuteilen.

»Ich höre Euch!«, sagte Jakob mit klopfendem Herzen und griff nach der Hand des Mönches, die sich sofort wie eine Kralle an ihn klammerte. »Was ist es, das Ihr mir sagen wollt? Wollt Ihr beichten? Soll ich einen Eurer Brüder rufen?«

»Singen. mit der Madonna. Disteln und Ähren. sie ruhen im Strom. Zeugen der Schande. gottloser Wahn. auf der Insel unserer Töchter. unschuldiges Blut.«

Angestrengt versuchte Jakob dem unverständlichen Gemurmel des Fieberkranken einen Sinn, eine Botschaft oder Aufforderung zu entnehmen. Aber es war vergebliche Mühe. Er vermochte mit dem Gestammel nichts anzufangen.

Während er noch angestrengt auf das Gemurmel von Bruder Anselm lauschte, vernahm er auf einmal ein merkwürdiges Geräusch. Es hörte sich wie ein Kratzen an, ein scharfes Geräusch, als wenn ein schweres Stück Metall über Stein schabt.

Jakob stutzte, richtete sich vom Bett auf und lauschte.

Da war es wieder! Verwirrt sah er sich in der Zelle um und suchte nach der Ursache für dieses merkwürdig schabende Kratzen. Doch es war schon wieder verstummt und sein umherschweifender Blick fand nichts, was eine Erklärung bieten konnte.

Nun, vielleicht hatte er sich dieses seltsame Geräusch ja auch bloß eingebildet. Die Fieberphantasien des sterbenskranken Mönches konnten einem schon gehörig zusetzen und einem wohl auch Dinge vorgaukeln, die gar nicht da waren. Oder aber das Geräusch war oben aus dem schweren Dachgebälk gekommen, das ja bekanntlich die merkwürdigsten Geräusche erzeugte, wenn das Holz sich bei veränderten Temperaturen zusammenzog oder ausdehnte.

Was immer es auch sein mochte, ihn sollte es nicht weiter interessieren. Er hatte hier sowieso nichts verloren und war gut beraten so schnell wie möglich zu verschwinden. Sollte doch dieser Novize Dominik herausfinden, was Bruder Anselm vor seinem Tod unbedingt noch loswerden wollte. Er für seinen Teil hatte mehr als genug für den armen Kerl getan und sollte besser seinen eigenen Vorteil im Auge behalten.

Die Tür flog mit einem Knall auf und zu Tode erschrocken sprang Jakob vom Schemel auf, der dabei polternd zu Boden stürzte. »Heiliges Kanonenrohr, habt Ihr mich erschreckt!«, stieß er hervor und presste die Hand vor die Brust. Der starke Windzug, den die heftig aufgestoßene Tür durch die Zelle jagte, löschte die Kerze in der Wandnische. Einzig der graue Schimmer Tageslicht, der durch die Ritzen der Schlagläden fiel, kämpfte jetzt noch gegen die Dunkelheit.

Bruder Tarzisius stürzte zu Jakob in die Zelle und packte ihn mit beiden Händen an der Konversenkutte. »Was habt Ihr hier zu suchen?«, fuhr er ihn grob an und zerrte ihn fast von den Füßen. »Was schnüffelt Ihr hier herum?«

»Ich. ich. wollte Bruder Anselm nur einen Krankenbesuch abstatten!«, stotterte Jakob verstört. »Dominik, der Novize.«

Der Subprior ließ ihn nicht einmal ausreden. »Was habt Ihr mit Bruder Anselm gesprochen?«

»Gesprochen?. Ich?. Nichts!«

»Lügt mich nicht an!«, zischte Bruder Tarzisius und bohrte seinen Blick in Jakobs Augen. »Ich habe doch im Flur gehört, dass Ihr mit ihm gesprochen habt! Und er hat Euch geantwortet! Untersteht Euch also mir frech ins Gesicht zu lügen!«

Am liebsten hätte Jakob ihm geantwortet, dass doch wohl er, Bruder Tarzisius, hier der dreiste Lügner sei. Denn nie und nimmer hatte er bei geschlossener Zellentür draußen auf dem Gang auch nur ein Wort von dem hören können, was der Fieberkranke mit kraftloser, röchelnder Stimme von sich gegeben hatte. Er, Jakob, hatte ihn ja selbst kaum verstanden und dabei hatte er sich doch ganz nahe zu ihm vorgebeugt!

Aber eine innere Stimme warnte Jakob davor, den Subprior, der zweifellos ein überaus hitziges Temperament besaß, unnötigerweise noch mehr zu reizen. »Ich lüge nicht, ehrwürdiger Bruder!«, antwortete er deshalb mit vorsichtiger Zurückhaltung. »Miteinander gesprochen haben wir wirklich nicht. Er hat nur irgendetwas in seinem Fieberwahn gesagt.«

»Was genau?«, verlangte der Subprior schroff zu wissen.

»Ich weiß es nicht!«, beteuerte Jakob. »Er hat nicht in ganzen Sätzen gesprochen, sondern nur sinnloses Zeug gestammelt.«

»Was für ein sinnloses Zeug?«, fragte Bruder Tarzisius mit herrischer Stimme. »Ich will jedes Wort wissen, habt Ihr mich verstanden?«

Jakob warf die Arme in einer Geste der Hilflosigkeit und des Unverständnisses hoch. »Mein Gott.«, begann er.

»Untersteht Euch den Namen unseres Herrn missbräuchlich in den Mund zu nehmen!«

»Er hat etwas von Gesang gestammelt und von der seligen Jungfrau, von Blut und Schande und Wahrheit und all solch einem Zeug!«, antwortete Jakob und nun brach der Ärger doch bei ihm durch. Welches Recht nahm sich der Subprior bloß heraus ihn so schäbig zu behandeln, als hätte er sich etwas zu Schulden kommen lassen! »Nichts davon hat auch nur annähernd Hand und Fuß gehabt. Jedenfalls habe ich mir nichts zusammenreimen können.«

»Und das soll ich Euch glauben?«, fragte der Subprior voller Misstrauen.

Jetzt explodierte Jakob. »Ob Ihr mir glaubt oder nicht, interessiert mich einen feuchten Dreck!«, platzte er heraus. »Vielleicht wollte er ja, dass ich jemanden hole, damit er die Beichte ablegen kann! Mir ist es auch völlig wurscht, was er wollte und was Ihr glaubt! Was mir jedoch gar nicht passt, ist, dass Ihr mich wie einen Strolch behandelt! Ich habe meinen Esel verloren und meine Knochen in Wind und Wetter riskiert, um mein Versprechen zu halten und diesen alten Mönch nach Himmerod zu bringen. Aber auf die zugesagte Entlohnung und Entschädigung warte ich noch immer! Wenn wir also über Strolche reden wollen, dann habe ich dazu meine ganz eigene.«

Jakob fand keine Gelegenheit seinen Satz zu beenden. Denn in diesem Moment tauchte Prior Pinius in der Tür auf und fragte mit naiver Verblüffung: »Was geht denn hier vor sich?«

Bruder Tarzisius ließ Jakob augenblicklich los. »Oh, eine kleine Meinungsverschiedenheit darüber, wie viel Besuch dem Kranken zuzumuten ist, wo er doch schon an der Schwelle zu Gottes Königreich steht. Nichts, womit Ihr Euch belasten müsstet, ehrwürdiger Bruder«, antwortete er, während seine zornige Miene und sein herrisches Betragen sich von einem Wimpernschlag auf den anderen in aufgesetzte Liebenswürdigkeit verwandelten. »Ich glaube, die Missverständnisse sind ausgeräumt und wir verstehen uns jetzt, nicht wahr?« Er bedachte Jakob nun mit einem falschen Lächeln.

»Ja, ich habe Euch sehr wohl verstanden, Bruder Tarzisius«, erwiderte Jakob sarkastisch und dachte, dass der Subprior doch wahrlich ein ausgemachter Lügner war.

Dem Prior entging der Sarkasmus völlig, was Jakob zu dem Schluss kommen ließ, dass Bruder Pinius offenbar äußerst naiv und leicht hinters Licht zu führen war. Denn er nickte mit freundlicher Erleichterung und sagte zu Jakob in väterlichem Ton: »Ein offenes Wort zur rechten Zeit bewahrt alte Freundschaften, schafft gegenseitigen Respekt und baut zukünftigen Missverständnissen vor. Eure Sorge um Bruder Anselms Befinden ehrt Euch. Doch nun geht in Frieden Eurer Wege, mein Sohn.«

»Ich täte nichts lieber als das«, murmelte Jakob grimmig, während er sich an Bruder Tarzisius vorbeizwängte. »Wenn man mich nur wie versprochen auszahlen würde!«

Mit einer geballten Wut im Magen stürmte er den Gang und die Treppe hinunter. Er musste jetzt erst einmal an die frische Luft und sich irgendwie abkühlen, um sich in seinem Zorn nicht zu einer Dummheit hinreißen zu lassen! Er brauchte einen klaren Kopf, wenn er sich seine Belohnung notfalls auf eigene Faust beschaffen wollte, und einen guten Plan. Aber erst musste er seinen wollenen Umhang und Schal holen, die mit seinen anderen Sachen zum Trocknen in der Küche über der Leine hingen.

Ohne sich um die verdrossenen Blicke von Bruder Anton zu kümmern, der gerade einen großen Eisenkessel an den schweren Haken über der Feuerstelle hängte, durchquerte er das Küchengewölbe, zerrte Umhang und Schal von der Leine und ging ebenso wortlos und selbstbewusst, wie er auch gekommen war. Er war es satt sich herumstoßen zu lassen - egal, von wem! Von Mönchen würde er sich jedenfalls nicht übers Ohr barbieren lassen!

Sechstes Kapitel

Der schneidende Wind hatte sich gelegt und auf dem Klosterhof regte sich fast kein Lüftchen. Dafür hing der Himmel grau und tief wie eine schwere Schieferplatte über dem Land. Jakob brauchte über keine hellseherischen Kräfte zu verfügen, um zu sehen, dass Schnee in der Luft lag.

Eine Weile wanderte er ziellos auf dem Gelände der Abtei umher und staunte nicht schlecht, wie viele klösterliche Werkbetriebe und Gebäude innerhalb der Umfassungsmauern lagen. An mehreren Stellen waren Baumaßnahmen im Gange, so auch am rückwärtigen Teil des Konventsgebäudes. Sein Weg führte ihn zur Pforte, wo er einen Blick in die Stallungen und die Hufschmiede warf. Die Werkstatt wurde von zwei bulligen, aber freundlichen Konversen betrieben und während er ihnen bei der Arbeit zusah und die Wärme ihres Schmiedefeuers genoss, verzehrte er seinen Rest Brot und eine Kartoffel. Anschließend trieb er sich eine Weile beim Pfortenhaus und der Torkapelle herum, wo er unglücklicherweise dem Portarius Bruder Johannes in die Arme lief. Dieser zeigte ihm voller Stolz den Altar zu Ehren des heiligen Bernhard von Clairvaux, begnügte sich dabei jedoch nicht mit einigen erklärenden Worten, sondern holte zu weit greifenden Ausflügen in die Geschichte der Zisterzienser aus.

»Der heilige Bernhard, der geniale Prediger und Kirchenlehrer, ist der Patron aller Zisterzienser. Eigentlich ist er der wahre Begründer unseres Ordens, auch wenn es die Zisterzienser schon gab, als er im Alter von zweiundzwanzig Jahren in das noch junge Reformkloster von Citeaux eintrat, was im Jahre des Herrn 1112 geschah. Seine große Begabung und Sendung offenbarte sich schon drei Jahre später, als er zum Gründerabt von Clairvaux, unserem Mutterkloster, wurde«, berichtete Bruder Johannes mit großer Begeisterung.

»So, so«, murmelte Jakob.

»Ja, fast siebzig Klöster gründete er zu seinen Lebzeiten, davon Himmerod im Jahre 1134. In einsamen Tälern von besonderer landschaftlicher Schönheit und auf kargem Boden zu siedeln, um mit der eigenen Hände Arbeit das wirtschaftliche Überleben des Klosters zu sichern, gehört mit der Hingabe zu Gebet und Kontemplation von Anfang an zu den großen Stärken unseres Ordens.« Bruderjohannes nickte nachdrücklich und strahlte ihn an wie ein Vater, der von den großartigen Leistungen seines Sohnes erzählt. »Der heilige Bernhard war aber nicht nur Gründer von Klöstern, sondern auch ein flammender Kreuzzugsprediger, der Könige und Edelleute dazu brachte, das Kreuz aus seiner Hand entgegenzunehmen und ins Heilige Land zu ziehen! Wie bitter es ihn deshalb getroffen hat, als der zweite Kreuzzug von 1149, den er mit solcher Leidenschaft unterstützt hatte, dann ein so schändliches, klägliches Ende nahm. Ein schwerer Schlag, von dem sich unser heiliger Bernhard nicht mehr erholen sollte, denn schon 1153 nahm ihn unser Herr zu sich. Wisst Ihr, warum man unseren Patron oft mit einem Bienenkorb oder mit einem weißen Hund darstellt?«

Jakob wusste es nicht und ehrlich gesagt interessierte es ihn auch wenig, was ihn jedoch nicht vor den Erklärungen des kleinen Mönches schützte. Er hatte alle Mühe dem eifrigen Wortschwall des Portarius zu entkommen, ohne dessen Gefühle zu verletzen, was er gern vermeiden wollte. Denn Bruder Johannes gehörte mit Bruder Isenbard zweifellos zu jenen Ordensleuten von Himmerod, die sich in der Weltabgeschiedenheit ihres harten, klösterlichen Lebens ein freundliches Wesen bewahrt hatten - was man wahrlich nicht von allen hier behaupten konnte.

Als er den Ausführungen des Pfortenbruders endlich entwischt war, wandte Jakob sein flüchtiges Interesse auf der anderen Seite der Klosteranlage Mühle, Walkmühle und Weberei zu. In Bäckerei und Brauerei hätte er sich gern länger aufgehalten, wurde jedoch ausgerechnet dort im Handumdrehen von unleidlichen Konversen und Mönchen vertrieben, die wie Küchenbruder Anton keinen Fremden in ihrem Reich duldeten, und so schlenderte er bald wieder draußen herum und fragte sich, wie gut wohl die mächtigen Kornspeicher gefüllt waren, an denen er vorbeikam. Dann ging er zum abgebrannten Gästehaus hinüber, wo Liffard und zwei andere Laienbrüder damit beschäftigt waren, die Steine und Balken, die noch für zukünftige Bauvorhaben verwendet werden konnten, von Dreck und Lehm zu säubern und vor der Ruine säuberlich aufzuschichten. Er machte sich auch mit der Lage der anderen Wirtschaftsgebäude vertraut, besah sich den Friedhof, der auf der Nordseite der umfriedeten Klosteranlage lag, mit seinen schmucklosen Gräbern und der kleinen Friedhofskapelle - und betrat nach einigem Zögern schließlich die Abteikirche.

Wie der Zufall es wollte, stieß er im Vorraum der romanischen Basilika, dem so genannten Paradies, auf Bruder Isenbard. »Ihr kommt ja wie gerufen, junger Freund!«, rief dieser gedämpft, wäh-rend er sich nach rechts und links beugte und sich dabei mit der linken Hand den schmerzenden Rücken rieb. »Meine alten Knochen wollen heute mal wieder nicht so, wie es die Arbeit eigentlich verlangt. Ihr könnt mir ein wenig zur Hand gehen, Jakob!« Dabei deutete er auf eine Lattenkiste, die mit Kerzen aus der klostereigenen Kerzenzieherei gefüllt war.

Jakob unterdrückte ein geplagtes Seufzen, hob die Kiste auf, die ihm recht leicht vorkam, und folgte dem Mönch, der offenbar der Klosterknecht für tausend kleine Aufgaben und nicht eine einzige große war, zu all den Seitenaltären. Am Schluss drückte Bruder Isenbard ihm vor dem St.-Ursula-Altar eine Kerze in die Hand und raunte gutherzig: »Sie soll Euch nichts kosten, Jakob Tillmann. Bestimmt werdet Ihr guten Gebrauch davon machen. Möge Euer Bittgebet erhört werden.« Er lächelte ihm zu, klemmte sich die leere Kiste unter den Arm und schlurfte davon, nachdem er in Richtung des Hochaltars, der nach zisterziensischer Ordenstradition der Gottesmutter geweiht war, niedergekniet und sich bekreuzigt hatte.

Jakob starrte einen Augenblick unschlüssig auf die Kerze in seiner Hand. Wann hatte er das letzte Mal eine geweihte Kerze in der Hand gehalten, ja wann das letzte Mal von sich aus eine Kirche betreten? Das war gewesen, bevor Quirin Schlehenbusch sich seiner angenommen hatte, was nun schon über zehn Jahre zurücklag. Und was hatten damals die Kerzen sowie seine flehentlichen Gebete vor dem Kruzifix und der Muttergottes ausgerichtet? Nichts.

Einen langen Moment stand er reglos da. Dann zündete er die Kerze an einem der brennenden Lichter des Seitenaltars an und stellte sie auf. Er kniete jedoch nicht nieder und faltete auch nicht die Hände zum Gebet. Erinnerungen an seine Mutter bedrängten ihn mit aller Macht und er biss sich auf die Lippen um sowohl die Tränen als auch einen lästerlichen Fluch zurückzuhalten, der ihm in die Kehle stieg. Abrupt wandte er sich ab und stürzte förmlich aus der Kirche.

Er lief noch immer, als er die Stallungen erreicht hatte. Wie von Furien gehetzt, stürmte er um die Ecke - und hätte beinahe den Schweden über den Haufen gerannt, der dort unter dem Vordach neben einer Tonne an der Wand lehnte und mit seinem Messer an einem handtellergroßen, flachen Stück Holz herumschnitzte.

Jakob entschuldigte sich, blieb auf die Tonne gestützt stehen, weil er plötzlich nicht mehr wusste, wohin er eigentlich wollte, und rang nach Atem. Sein kopfloses Davonstürzen war ihm auf einmal peinlich. Aber warum konnte die Erinnerung nicht gnädiger sein und im Laufe der Jahre die entsetzlichen Bilder der Vergangenheit verblassen lassen?

»Ist Euch jemand auf den Fersen? Oder ist Euch vielleicht der Leibhaftige begegnet?«, fragte Henrik Wassmo mit unbeweglicher Miene und auf die ihm eigene trockene Art, die nicht verriet, ob seine Frage ernst gemeint oder nur Spott war.

»Nein, ich habe heute nur einen besonders schlechten Tag«, stieß Jakob verdrossen hervor.

»Der nächste Tag ist immer noch schlechter.«

»Danke für Eure trostvollen Worte! Das macht mir das Herz wirklich ungemein leichter!«, grollte Jakob und sagte dann mit einem Blick auf das Stück Holz, an dem der Schwede herumschnitzte: »Ich sehe, Ihr habt Euch von den Brüdern eine sinnvolle Arbeit zuteilen lassen.«

»Es ist weit besser müßig zu sein als nichts zu tun!«, lautete Henrik Wassmos schlagfertige Antwort und dabei verzog er in seinem pockennarbigen Gesicht nicht einen einzigen Muskel. »Des Menschen Leben ist wie Gras, wie eine Blume blüht er auf. Und kommt ein Wind, wo bleibt die Rose, und weiß noch einer, dass sie war?«

»Ihr scheint ja auf alles eine Antwort zu haben, Schwede«, sagte Jakob und wusste nicht recht, ob er verärgert oder belustigt sein sollte. »Dann könnt Ihr vielleicht auch das Rätsel lösen, wieso gestern kurz nach Mitternacht ein Reiter mit einem zweiten Pferd die Abtei verlassen hat - mitten im Sturm!«

Henrik Wassmo stutzte. Er ließ Messer und Holz sinken, während sein Kopf ruckartig zu Jakob herumfuhr. »Was sagt Ihr da? Ein Reiter mit zwei Pferden hat Himmerod noch bei Nacht verlassen? Seid Ihr Euch dessen sicher?«

»Ja, kurz nachdem die Glocke zur Matutin gerufen hat!«, versicherte Jakob. »Ich habe es von meiner Zelle aus deutlich gesehen!«

Henrik Wassmo blickte einen Augenblick stumm über den Hof. Dann steckte er das Messer weg, ließ das flache Holzstück in einer Brusttasche verschwinden und wandte sich zum Gehen.

»He, was hat das zu bedeuten?«, rief Jakob ihm ärgerlich nach. »Wollt Ihr mir keine Antwort geben?«

»Hat einer nicht mehr Gottesfurcht im Herzen, gewinnt das Böse leicht sein Ohr!«, lautete die geheimnisvolle Antwort des Schweden. Dann stiefelte er hastigen Schrittes in Richtung Konventsgebäude davon.

Mit grimmiger Miene sah Jakob ihm nach. Bruder Tarzisius und der Mönch mit der Augenklappe waren nicht die Einzigen, die ein merkwürdiges Betragen an den Tag legten! Irgendetwas Rätselhaftes ging in diesem Kloster vor und es hatte mit dem sterbenden, ehemaligen Abt zu tun, den er nach Himmerod gebracht hatte, darauf wollte er schwören. Aber niemand dachte daran, ihn auch nur vage in das Geheimnis einzuweihen, und das nährte seinen tiefen Groll.

Wenige Minuten später sah Jakob den Subprior über den Hof eilen. Bruder Tarzisius hielt direkt auf die Stallungen zu. Nach der heftigen Auseinandersetzung in der Zelle erschien es ihm ratsamer dem Subprior eine Weile aus dem Weg zu gehen.

Doch Bruder Tarzisius wechselte sofort seine Richtung, als Jakob sich von den Stallungen entfernte. Er winkte ihm zu und rief mit dampfendem Atem: »Wartet!... Jakob Tillmann, wartet!. Ich habe mit Euch zu sprechen!«

Jakob zögerte, ob er der Aufforderung Folge leisten sollte, und blieb dann mit finsterer Miene und zusammengepressten Lippen stehen. Er war nicht schlecht überrascht, als Bruder Tarzisius auf den letzten Schritten die Arme ausbreitete, als wollte er ihn gleich in brüderlicher Umarmung an seine Brust drücken, und ihm mit einem entschuldigenden Lächeln gegenübertrat.

»Könnt Ihr mir noch einmal verzeihen, junger Freund?«, waren seine ersten Worte. »Ich würde es Euch nicht verdenken, wenn Ihr es nicht könntet. Wer vermag schon das Gebot unseres Herrn, nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal und mehr zu vergeben, stets zu befolgen? Ich gestehe, Euch großes Unrecht angetan zu haben, und ich erbitte Eure großmütige Vergebung.«

Jakob war sprachlos vor Verblüffung.

Bruder Tarzisius schüttelte mit betrübter Miene den Kopf und hob die Hände in einer Geste der Ratlosigkeit, während er fortfuhr: »Mir ist selbst schleierhaft, was vorhin bloß in mich gefahren ist Euch derartig zuzusetzen und Vorhaltungen zu machen, die jeglicher Grundlage entbehren. Ich habe wohl die Nerven verloren und es tut mir aufrichtig Leid.«

Jakobs Gesicht entspannte sich. Die Entschuldigung des Subpriors ging ihm hinunter wie Öl, war Balsam für seine Seele. Er bewahrte sich jedoch eine gute Portion gesundes Misstrauen. »So«, sagte er deshalb nur und wartete ab.

Bruder Tarzisius seufzte und machte ein zerknirschtes Gesicht. »Meine ehrwürdigen Mitbrüder haben mir, obwohl dessen gar nicht würdig, zu viel Verantwortung anvertraut. Die vielen Aufgaben und Sorgen, die mich beschäftigen, haben es wohl mit sich gebracht, dass ich Euch vorhin so schändlichst ungerecht behandelt habe. Ich bitte Euch noch einmal um Eure Vergebung und verspreche Euch, dass ich meine Entgleisung wieder gutmachen werde.« Und dabei senkte er demütig den Kopf.

Nun wurde Jakob die Angelegenheit unangenehm. Der Mönch hatte sich entschuldigt, aus welchem Antrieb auch immer, und damit musste es gut sein. Diese Büßerhaltung, die der Subprior jetzt einnahm, war ihm peinlich und ging ihm gegen den Strich. Auch regte sich Argwohn in ihm, ob dieses Benehmen wohl überhaupt aufrichtig war.

»Ich bin kein nachtragender Mensch. Es soll also vergessen sein«, sagte Jakob und fühlte sich dabei ganz unwohl in seiner Haut. Manchmal war es doch entschieden einfacher, seinen Groll gegen einen Menschen weiter zu hegen und zu pflegen, als eine Entschuldigung anzunehmen und ihm zu verzeihen. »Aber wenn Ihr wirklich etwas gutmachen wollt, dann könnt Ihr Euch darum kümmern, dass mir die Belohnung ausgezahlt wird, die Bruder Anselm mir versprochen hat.«

Der Subprior nickte eifrig. »Ihr könnt versichert sein, dass ich mich Eurer berechtigten Forderungen annehmen und bei der nächsten Gelegenheit mit unserem hochwürdigen Abt darüber reden werde, möglicherweise schon gleich nach der Kapitellesung.«

»Das wäre mir sehr lieb.«

»Und wenn Ihr mir etwas Zeit einräumt, dann werde ich mich darum bemühen, dass trotz unserer angespannten wirtschaftlichen Lage genug für Euch herausspringt, um ein gutes Zugtier für Euren Karren zu erstehen und für den Rest des Winters versorgt zu sein«, versprach Bruder Tarzisius. »Nun, wie klingt das, Jakob Tillmann?«

Das war Musik in Jakobs Ohren und er konnte sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. »Das klingt sehr gut, Bruder Tarzisius.«

»Aber ich muss Euch um einen Gefallen bitten.«

Jakob runzelte die Stirn. »Jetzt kommt der Haken, ja?«, fragte er mit neu erwachtem Misstrauen.

»Nein, kein Haken. Es ist bloß ein Gefallen, um den ich Euch bitten möchte. Natürlich ist es Euch ganz unbenommen ihn unserer Gemeinschaft zu verwehren. Es wird Eurer verdienten Entlohnung auch nicht zum Nachteil gereichen, Ihr habt mein Wort drauf.«

»So, und was ist das für ein Gefallen?«

»Ihr seid doch Fuhrmann und versteht Euch darauf, ein Gespann zu lenken, nicht wahr?«

Jakob nickte, obwohl er alles andere als ein Fuhrmann war, wie er bei seiner Ankunft in Himmerod behauptet hatte. Aber auf Schlehenbusch hatte er gelernt mit Pferden umzugehen und eine Kutsche zu lenken. »Sicher, obwohl es immer auf das Gespann ankommt«, schränkte er vorsichtshalber ein.

»Nun, unsere Pferde sind weder von hitzigem Temperament noch von störrischer Natur. Ihr werdet keine Schwierigkeiten haben sie unter Kontrolle zu halten, wenn Ihr mir den Gefallen tut mit Bruder Liffard zu einem unserer Wirtschaftshöfe hinauszufahren.«

»Und wozu ist die Fahrt nötig?«

»Drei Tonnen Mastfutter und ein Fass Wein werden dringend auf dem Schwickerather Hof erwartet, der bei Steinborn, einige Meilen nordwestlich von hier und hinter dem Kammerforst, liegt. Wenn Ihr Euch ein wenig sputet, werdet Ihr weit vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein. Und selbstverständlich werdet Ihr eine handfeste Brotzeit mit auf den Weg bekommen!«

Jakob ließ sich die Sache kurz durch den Kopf gehen. Bruder Tarzisius hatte sich bei ihm in aller Form entschuldigt und versprochen ihm zu seinem verdienten Lohn zu verhelfen. Das bedeutete einen großen Fortschritt. Ungern hätte er sich als Dieb aus der Abtei fortgeschlichen. Dem Subprior nun den Gefallen abzuschlagen war deshalb nicht klug. Es war ratsamer ihn sich weiterhin gewogen zu halten. Zudem verlockte ihn die Fahrt mit dem Fuhrwerk mehr als die Aussicht in den Mauern der Klosteranlage untätig darauf zu warten, dass man ihn auszahlte. Er hatte etwas zu tun und brachte auf sinnvolle Art die Zeit herum.

»Also gut, ich mache die Fahrt. Vorausgesetzt Bruder Liffard kennt den Weg.«

»Er kennt ihn so gut wie kein anderer, kommt er doch aus Steinborn«, versicherte Bruder Tarzisius.

Zwanzig Minuten später saß Jakob mit Bruder Liffard auf dem Kutschbock eines klobigen Fuhrwerkes, das mit dem Mastfutter und dem Wein für die beiden kräftigen Braunen nicht allzu schwer beladen war. Unter dem Sitz stand ein Bastkorb, der mit Schinkenbroten, hart gekochten Eiern und anderen deftigen Köstlichkeiten gut gefüllt war. Sie legten sich jeder noch eine Pferdedecke um die Schultern, dann griff Jakob mit leichtem Herzklopfen zu den Zügeln - und atmete insgeheim erleichtert aus, als das Gespann sich gehorsam ins Geschirr legte.

Jakob lachte und warf einen Blick über die Schulter zurück, als sie die Pforte passierten und das hohe Kreuzgewölbe den Hufschlag wie ein mächtiger Schalltrichter verstärkte. Einen Augenblick war ihm so, als sähe er den Mönch mit der Augenklappe aus dem Konventsgebäude laufen und ihm zuwinken. Aber dann sagte er sich, dass er sich wohl irrte, und so wandte er den Kopf wieder nach vorn, während das schwere Tor schnell hinter ihnen zurückblieb. Denn die Pferde, die durch das schlechte Wetter lange im Stall eingeschlossen gewesen waren, zeigten einen freudigen Drang ihre überschüssige Kraft loszuwerden und in einen flotten Trab zu fallen.

Die Straße wand sich durch Wälder und Hügelketten, die unter einer knöcheltiefen Schneedecke lagen. Von dem hohen Kutschbock eines robusten Fuhrwerkes aus, das von zwei kräftigen, wohlgenährten Pferden ohne sonderliche Mühsal gezogen wurde, hatte die Straße mit ihren Steigungen, Windungen und Bodenrillen wenig Ähnlichkeit mit dem mühsamen Weg, den er zu Fuß und mit der Deichsel eines Eselskarrens in der Hand kennen gelernt hatte.

Das Gespann zu lenken ging Jakob leichter von der Hand als gedacht und er fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Er war in bester Stimmung und fand sogar Gefallen an Bruder Liffards Geschichten. Sein Begleiter erwies sich als ebenso geschwätzig wie einfältig - und besaß zweifellos die scharfen Ohren eines Luchses. Denn wie Jakob seinem von Kichern begleiteten Reden entnehmen konnte, entging ihm kaum etwas, was innerhalb der Klostermauern geschah und gesprochen wurde.

So erfuhr er, dass der hochbetagte Himmeroder Abt Ambrosius seiner Amtsgeschäfte müde war und seine freie Zeit am liebsten damit verbrachte, Inkunabeln kunstvoll auszumalen und an einer geschichtlichen Abhandlung über die Himmeroder Abtei zu arbeiten. Und dass mit seiner baldigen Abdankung zu rechnen sei.

»Dann wird Euer neuer Abt ja wohl Bruder Pinius heißen«, vermutete Jakob.

Liffard grinste breit. »Wisst Ihr, was Bruder Bruno, unser Cellerar, gesagt hat? >Eher wird der Tölpel Liffard Kardinal, als dass Bruder Pinius auf dem Abtstuhl Platz nimmt!<« Er kicherte. »Oh, die Kardinalsfarben würden mir schon gut zu Gesicht stehen. Nur wo soll ich im Sommer bei der Arbeit im Klostergarten und auf den Feldern mit der Mitra hin? Und der dicke Ring wie auch der Stab würden mir ganz schön lästig sein. So was taugt nicht zum Jäten und Umgraben.«

»Ist eine Mitra nicht ein Würdezeichen von Bischöfen und nicht von Kardinälen? Außerdem glaube ich nicht, dass man einen Kardinal irgendwo in einem Klostergarten beim Unkrautjäten oder auf einem Feld beim Umgraben sehen kann«, spottete Jakob.

»Kein Wunder!«, meinte Liffard in einem Tonfall, als bedauerte er die Kardinäle um ihre schwere Last und die Beschränkungen, die ihr hohes Kirchenamt ihnen auferlegte.

»Und warum kommt Bruder Pinius für die Abtweihe nicht in Frage?«, wollte Jakob wissen.

»Weil er bei den religiösen Eiferern in unserem Konvent und bei der erzbischöflichen Kurie in Trier keine Gunst genießt, so hat es Bruder Anton einst zu Bruder Chrysostomus gesagt, als wir letztes Jahr den Fischteich trocken gelegt und die Dämme erneuert haben«, antwortete Liffard. »Er soll zu milde sein, nicht streng genug auf Zucht und Ordnung sehen und genau wie unser hochwürdiger Abt mehr als einmal das Missfallen der hohen Herren in Trier erregt haben. Ich verstehe das nicht. Ich würde für Bruder Pinius mit beiden Händen stimmen, wenn ich dürfte. Denn keiner betet so andächtig wie unser Prior und im Beichtstuhl ist er wie ein gütiger Vater.«

»Wer hat dann die besten Chancen die Nachfolge von Abt Ambrosius anzutreten?«, fragte Jakob.

»Subprior Tarzisius«, antwortete Liffard ohne Zögern. »Er ist ein feiner Mann, gebildet und aus vornehmem Haus. >Ein Mann, der sich stets zur rechten Zeit ins rechte Licht zu setzen weiß und dessen Blick schon vom ersten Tag an auf den Abtstuhl gerichtet ist!<, habe ich Bruder Isenbard einmal sagen gehört.«

Jakob war nicht überrascht, dass Bruder Tarzisius ehrgeizige Pläne verfolgte und die Abtwürde eifriger anstrebte als Vollkommenheit in Gebet und klösterlichem Dienst.

»Ja, und dann hat Bruder Isenbard noch etwas ganz Merkwürdiges gesagt, nämlich: >Seine Familie füllt die Taschen des Erzbischofs. Und dass Wohltaten umsonst sind, glauben doch nur die Bösen und die Blöden! <« Liffard nagte an seiner Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Wohltaten sind doch immer umsonst. Ist das nicht so etwas wie ein weißer Schimmel? Also, ich weiß mit diesen Worten heute genauso wenig anzufangen wie damals. Oder könnt Ihr Euch einen Reim darauf machen?«

Jakob konnte sehr wohl, hielt es jedoch für unnötig, Liffard darüber aufzuklären und seinen naiven Geist noch weiter in Verwirrung zu stürzen. Jetzt hatte er zumindest eine Ahnung von dem, was Bruder Tarzisius umtrieb und was sich hinter den Kulissen des Klosters abspielte. Vermutlich hatte auch das rätselhafte Verhalten des Subpriors, was den todkranken Bruder Anselm von Picoll betraf, mit seinem hoch gesteckten Ziel zu tun der nächste Abt von Himmerod zu werden. Nun, ihm sollte es gleichgültig sein, ob der Subprior bei seinem heimlichen Kampf um die Abtwürde nicht vor Intrigen und anderen wenig christlichen Methoden zurückschreckte, wenn er ihm nur endlich seinen gerechten Lohn für seine Dienste beschaffte!

Den Schwickerather Hof erreichten sie ohne Zwischenfälle kurz vor der zweiten Mittagsstunde, als die ersten Schneeflocken aus der schmutzig grauen Wolkendecke zu fallen begannen. Jakob staunte jedoch nicht schlecht, als der Verwalter des klösterlichen Hofes sich völlig überrascht zeigte.

»Drei Tonnen Mastfutter und ein Fass Ürziger Wein? Wie kommt Bruder Tarzisius bloß darauf, wir hätten nicht mehr genug Vorräte, wo wir doch erst vor zwei Wochen die Bestände gemeinsam durchgegangen sind?«, wunderte sich der Verwalter. »Das kann sich bloß um ein Missverständnis handeln. Aber gut, wenn er meint, wir sollten unsere Bestände noch mehr auffüllen, soll es mir recht sein.«

Jakob war es egal, ob die Vorräte auf dem Hof gebraucht wurden oder ob Bruder Tarzisius ein Fehler unterlaufen war. Er hatte eine unterhaltsame Fahrt hinter sich und dachte jetzt nur daran, so schnell wie möglich nach Himmerod zurückzukommen, bevor der leichte Flockentanz zu einem dichten Schneetreiben wurde. Wie konnte er auch ahnen, dass er in weniger als vierundzwanzig Stunden die tiefe Bedeutung dieses angeblichen Missverständnisses erkennen und bitter bereuen würde, dass er sich zu dieser Fahrt hatte überreden lassen.

Siebtes Kapitel

Kurz nach der Vesper traf Jakob mit Liffard wieder in der Abtei ein. Mittlerweile fiel der Schnee so dicht, dass die kraftlose Februarsonne den Tag schon für verloren gab. Dabei war es bis zum eigentlichen Einbruch der winterlichen Abenddämmerung noch eine gute Stunde hin. Über der Klosterpforte und im Hof vor den Gebäuden brannten die Laternen und warfen ihren gelblichen Lichtschein auf den jungfräulichen Schnee, der alle Geräusche dämpfte und den trügerischen Eindruck von Besinnlichkeit und Frieden erweckte.

Jakob brachte das Fuhrwerk unter dem weit vorgezogenen Vordach der Stallungen zum Stehen, wickelte die Zügel um die Bremsstange und steckte schnell noch eines der restlichen Schinkenbrote ein, bevor er vom Kutschbock sprang.

»Bruder Tarzisius!« Er lief dem Subprior nach, der bei seinem Eintreffen gerade aus der gegenüberliegenden Remise gekommen war und nun mit verdächtig eiligen Schritten von ihm weg und zurück zum Konventsgebäude strebte.

»Oh, Ihr seid schon zurück?«, fragte der Subprior und tat überrascht. »Nun, demnach habt Ihr wohl eine leichte Fahrt gehabt. Aber ich sagte ja, dass Ihr es gut bis vor Anbruch der Dunkelheit schaffen würdet. Dennoch ist es gut, Euch wohlbehalten zurück zu wissen. Besten Dank.«

Jakob berichtete ihm, dass der Verwalter des klösterlichen Hofes die drei Tonnen Mastfutter und den Wein ganz und gar nicht dringend erwartet hatte, sondern über mehr als ausreichende Vorräte verfügte. »Die Fahrt ist also völlig unnötig gewesen«, schloss er und war auf die Reaktion des Mönches gespannt.

Bruder Tarzisius zog die Augenbrauen jedoch nur in mildem Erstaunen hoch und antwortete unbekümmert: »Wirklich? Da muss ich in meinen Aufzeichnungen etwas falsch notiert haben. Aber das ist ja kein Beinbruch. Mastfutter und Wein sind auf Schwickerath genauso gut aufgehoben wie hier. Und wer weiß, wozu das noch mal von Nutzen ist.«

»Habt Ihr mit Eurem Abt wegen meines Lohnes gesprochen?«

»Ich habe das Thema gleich nach der Kapitellesung angesprochen, erhielt jedoch leider keine Gelegenheit es gebührend auszuführen, da unseren hochwürdigen Abt andere Sorgen auf der Seele drückten. Jedoch bin ich zuversichtlich diese Angelegenheit noch heute nach der Komplet oder doch spätestens morgen zu Eurer Zufriedenheit abschließen zu können«, versicherte Bruder Tarzisius in gewandter Redeweise.

Jakob sah ihn skeptisch an. Sagte der ehrgeizige Mönch die Wahrheit oder hielt er ihn nur hin?

»Ihr habt mein Wort, Jakob Tillmann!«, beteuerte der Subprior und fügte dann mit einem merkwürdig heiteren Lächeln hinzu: »Außerdem scheint uns ein neuer Schneesturm zu erwarten, mein Freund. Also wohin könntet Ihr bei diesem Wetter schon wollen?« Und damit ließ er ihn stehen.

Jakob sah ihm mit dem unguten Gefühl nach, dass der Subprior ein undurchschaubares Spiel mit ihm trieb. Warum hatte er ihn mit dem Fuhrwerk zum Schwickerather Hof geschickt, obwohl dafür keine Notwendigkeit bestanden hatte? Dass es sich um ein Missverständnis gehandelt haben könnte, schloss er aus. Dieser Mönch tat nichts, was er vorher nicht gut durchdacht hatte. Also warum hatte er ihn losgeschickt? Hatte er ihn an diesem Tag fern der Abtei halten wollen? Oder war es ihm nur darum gegangen, ihn irgendwie zu beschäftigen? Aber wenn ja - weshalb? Und was hatte all das bloß mit dem todkranken Bruder Anselm zu tun? Denn dass es da eine Verbindung geben musste, stand außer Frage!

Er beschloss dem aalglatten Subprior noch bis zum nächsten Vormittag Zeit zu geben. Wenn er die Angelegenheit dann nicht zu seiner Zufriedenheit geregelt hatte, würde er höchstpersönlich dafür sorgen, dass der Abt erfuhr, was er von Klosterbrüdern hielt, die Barmherzigkeit und Nächstenliebe predigten, ihm jedoch seinen gerechten Lohn schuldig blieben. Und sollte er ihm kein Gehör schenken, würde er eben zu drastischeren Maßnahmen greifen!

Gerade wollte er sich in die Schmiede zu den beiden umgänglichen Konversen begeben, um sich an dem Feuer dort aufzuwärmen, als der Mönch mit der Augenklappe sich aus dem Schatten der Torkapelle löste und ihn zu sich winkte. Widerwillig ging Jakob zu ihm hinüber.

»Was soll ich für Euch tun?«, fragte er sarkastisch. »Offenbar glaubt hier jeder mich für seine Zwecke einspannen und mir dann meinen Lohn schuldig bleiben zu können!«

»Für mich braucht Ihr nichts zu tun, Jakob«, antwortete Bruder Basilius, der die Kapuze seiner Kutte hochgeschlagen hatte. »Aber Ihr könnt eine Menge für Euch selbst tun.«

»So? Und das wäre?«

»Indem Ihr Himmerod den Rücken kehrt und Euch so schnell wie möglich aus dem Staube macht, solange Ihr noch könnt!«

Jakob sah ihn verblüfft an. »Ich soll mich davonstehlen? Und warum?«

»Weil Ihr ahnungslos in Dinge verwickelt zu werden droht, die Eurer Gesundheit sehr abträglich sein können!«

»Das wüsste ich schon gern genauer, Bruder Basilius.«

»Es geschieht zu Eurem eigenen Schutz, dass ich darauf verzichte, Euch genaue Auskünfte zu geben«, erklärte der Mönch, dessen Gesicht im Dunkel der Kapuze lag. »Wir leben in Zeiten der Verwirrung, in denen das Unkraut aufgeht und der reinen Saat das Licht nimmt! Und Ihr seid klug beraten diesem Unkraut aus dem Weg zu gehen.«

»Damit kann ich wenig anfangen, Bruder Basilius«, erwiderte Jakob ungehalten und wehrte sich gegen das Gefühl des Unbehagens, das der Mönch in ihm hervorrief - nicht allein durch seine Worte, sondern durch seine ganze geheimnisvolle Erscheinung. Aber so schnell wollte er sich nicht einschüchtern und aus der Abtei vertreiben lassen! »Und noch weniger kann ich mir für Euren Ratschlag etwas kaufen. Was Ihr und Eure Mitbrüder hier umtreibt und was die ganze Aufregung soll, die dieser alte Mönch, den ich auf seinen Wunsch hin nach Himmerod gebracht habe, offenbar ausgelöst hat, das interessiert mich nicht die Bohne. Alles, was ich will, ist meinen gerechten Lohn!«

»Nehmt das hier!« Der Mönch drückte ihm einen kleinen Leinenbeutel mit Münzen in die Hand und redete hastig auf ihn ein: »Aber seht in Gottes Namen zu, dass Ihr heute noch aus dem Kloster kommt, und zwar so heimlich wie möglich. Am besten schleicht Ihr Euch während der Komplet davon. Ihr könnt für die Nacht Unterschlupf auf dem Marienhof finden, der anderthalb Meilen von hier auf der linken Straßenseite liegt. Er ist gar nicht zu verfehlen, nicht einmal im Schneetreiben. Sagt, dass Bruder Basilius Euch geschickt hat, und man wird Euch ohne weitere Fragen aufnehmen.«

Jakobs Herz machte im ersten Moment einen Freudensprung, als er den Klang von Münzen vernahm und sich am Ziel seiner Wünsche wähnte. Seine Freude verwandelte sich jedoch schon Augenblicke später in Enttäuschung und ausgesprochenen Unmut, als er den Beutel in seine linke Handfläche leerte und sah, welch geringen Wert die Münzen besaßen. »Wollt Ihr Euch einen schlechten Scherz mit mir erlauben oder glaubt Ihr wirklich, ich lasse mich mit ein paar lumpigen Hellern abspeisen?«, entrüstete er sich. »Ich habe nicht an die Klosterpforte geklopft und um ein Almosen gebettelt! Drei bitterkalte Tage habe ich mich mit Eurem Ordensbruder abgeplagt und dabei auch noch mein prächtiges Zugtier verloren! Für diesen läppischen Betrag kann ich mir ja noch nicht einmal einen alten Ziegenbock kaufen, geschweige denn einen Esel!«

»Leider ist das alles, was ich Euch geben kann.«

»Es reicht aber nicht!« Aufgebracht warf Jakob die Münzen in den Beutel zurück und drückte ihn dem Mönch wieder in die Hand. »Ich will meinen Lohn, wie ich ihn mir erarbeitet habe und wie er mir zusteht. Und das bekomme ich auch, verlasst Euch drauf!«

»Ihr begeht womöglich einen schweren Fehler, wenn Ihr noch länger in Himmerod bleibt und nur an Eure Entlohnung denkt! >Verlass dich nicht auf deine Klugheit!< So steht es schon im Buch der Sprüche, Jakob Tillmann!«, warnte ihn Bruder Basilius eindringlich. »Hört auf meine Worte, vergesst das Geld und geht Eurer Wege, solange Ihr noch könnt!«

»Ich bin nicht auf den Kopf gefallen und habe längst gemerkt, dass hier irgendetwas im Busche ist. Aber das schreckt mich nicht. Ich habe schon ganz andere Sachen überstanden und weiß mich meiner Haut zu erwehren!«, prahlte er und fügte dann mit beißendem Hohn hinzu: »Obwohl ich zugeben muss, dass ich ein Kloster bisher für einen Ort gehalten habe, an dem fromme Menschen ein gottgefälliges Leben führen!«

»Im Flussbett der Welt fehlt es nie an Schlamm, so klar und rein der Fluss auch sein mag«, räumte Bruder Basilius ein und seine Stimme hatte einen betrübten Klang. »Leider wird das Kreuz zu oft als Würde auf dem Bauch getragen statt als Bürde auf dem Rücken.«

»Dafür kann ich mir nichts kaufen«, sagte Jakob verdrossen. »Und es interessiert mich auch nicht, wer hinter Klostermauern welche Intrige gegen wen spinnt. Ich lasse mich jedenfalls nicht um meinen Lohn bringen und wenn Ihr Euch den Mund in Fransen redet!«

Jakob wollte sich entfernen, doch Bruder Basilius hielt ihn am Arm fest. »Ich beschwöre Euch auf meinen guten Rat zu hören! Euer Trotz ist in dieser Situation so hilfreich wie eine erloschene Fackel in der Dunkelheit! Ihr werdet damit nicht weit kommen, sondern womöglich die bittere Erfahrung machen, dass.«

»Ihr könnt ja für mich beten, ehrwürdiger Bruder!«, fiel Jakob ihm bissig ins Wort, riss sich los und stapfte wütend durch den Schnee.

Er hörte, wie Bruder Basilius einen resignierten Stoßseufzer von sich gab und tatsächlich ein Bittgebet gen Himmel schickte: »Allmächtiger, ewiger Gott, halte deine schützende Hand über diesen unerfahrenen, uneinsichtigen jungen Mann und schenke ihm die Einsicht, die ich vergebens in ihm zu wecken versucht habe. Und segne, oh Herr, das Feuer des rechten Glaubens, das die Nacht der unbarmherzigen Selbstgerechtigkeit, des Hasses und der Verzagtheit erhellt, und entflamme in uns eine immer stärker werdende Sehnsucht nach dir! Herr, alles steht in deiner Macht. Hilf, dass wir auf dem Weg der Gerechtigkeit. «

Jakob drehte sich nicht einmal um und die Stimme von Bruder Basilius verlor sich hinter ihm im Schneetreiben. Was für ein merkwürdiger Kauz dieser Mönch doch war. Aber weder von ihm noch von irgendeinem anderen hier würde er sich ins Bockshorn jagen und um seinen Lohn prellen lassen!

Achtes Kapitel

Jakob war noch nicht einmal bis zur Ruine des Gästehauses gekommen, als er einen scharfen Knall vernahm, dem sofort ein zweiter und ein dritter folgten. Es klang wie Pistolenschüsse. Verwundert blieb er stehen und drehte sich um. Im selben Augenblick stieß bei der zweiten Klosterpforte eine gellende Stimme einen Warnschrei aus, dem ein wütendes Schimpfen folgte.

Jakob kniff die Augen zusammen. Das dichte Schneetreiben bei schwindendem Tageslicht behinderte die Sicht erheblich. Alles schien hinter tanzenden, weißen Schleiern zu verschwimmen. Nur vage sah er einen Mann an der Pforte zur Seite springen, kaum dass ein großer, dunkler Schatten wie eine mächtige, graue Wolke durch den hohen Torbogen geflogen kam.

Im nächsten Moment nahm der dunkle Schatten Gestalt an - und erwies sich als rubinrot lackierte Kutsche, die von vier nachtschwarzen Pferden gezogen wurde.

»Heiliger Pegasus!«, stieß jemand hinter Jakob hervor. »Wenn das nicht die Kutsche des Erzbischofs ist!«

Die Kutsche schlingerte unter dem scharfen Peitschenknall des Kutschers über den Hof, passierte Jakob mit weniger als zwei Armlängen Abstand und kam dann ein gutes Dutzend Schritte vor dem Konventsgebäude zum Stehen.

Wie magisch angezogen, ging Jakob auf das hochherrschaftliche Gefährt zu, auf dessen Kutschenschlag tatsächlich ein prächtiges Wappen prangte.

»Die Nacht rückt an mit dunklem Felle, geliebt vom schweifenden Getier. Die Löwen brüllen zu den Sternen: Deck uns den Tisch mit deinem Brot!«, sagte eine bekannte Stimme neben ihm und Jakob brauchte nicht den Kopf zu wenden, um zu wissen, dass es der Schwede war.

»Kennt Ihr das Wappen? Ist das wirklich der Erzbischof aus Trier?«, fragte Jakob.

»Kaum anzunehmen, wiewohl das Wappen die Kutsche in der Tat als erzbischöfliches Gefährt ausweist. Ein Mann von seinem Rang würde sich jedoch kaum dazu herablassen, ohne standesgemäße Eskorte zu reisen«, lästerte der Schwede. »Und schon gar nicht würde er sich bei diesem Wetter aus seinem bischöflichen Palast begeben. Nein, er wird die Kutsche einem seiner Günstlinge überlassen haben, hoch im Rang, aber doch um einiges unter dem eines kurfürstlichen Erzbischofs!«

Die vier prächtigen Hengste hatten Schaum vor dem Maul. Ihre Flanken bebten im schnellen Rhythmus ihres Atems und glänzten vor Schweiß. Kein Zweifel, der Kutscher hatte die Pferde nicht geschont, sondern hart herangenommen und durch die verschneite Landschaft gejagt. Der Mann, dessen schwerer, pechschwarzer Umhang mit einem roten Samtkragen versehen war, sprang nun vom Bock. Er war von breitschultriger, kantiger Gestalt und das Erste, was Jakob ins Auge fiel, war, dass er Hände so groß wie Mühlsteine besaß. Das Gesicht des Mannes schien wie aus einem Block Granit gehauen. Es wirkte grobflächig und unfertig, so als hätte der Steinmetz die Gesichtszüge nur ansatzweise aus dem Stein gemeißelt und dann die Arbeit daran eingestellt.

Der Klotz von einem Kutscher riss nun den wappengeschmückten Schlag auf. »Die Zisterzienserabtei Himmerod, Euer Hochwürden«, meldete er förmlich.

»Ich habe noch Augen im Kopf, Rutger Mundt!«, antwortete ihm eine kräftige, befehlsgewohnte Stimme aus dem Innern der Kutsche, die mit violettfarbenem Samt ausgeschlagen war.

Ein gerötetes, fleischiges Gesicht mit der scharf gebogenen Nase eines Habichts erschien in der Türöffnung und lugte auf den Hof hinaus.

»Bei Zions Zimbeln!«, stieß der Schwede überrascht hervor. »Melchior von Drolshagen!«

»Wer ist dieser Mann?«, wollte Jakob wissen.

»Domherr und Prälat!«, antwortete der Schwede. »Er gehört zu den einflussreichsten Männern in der erzbischöflichen Kurie. Ein Kanoniker, dessen Ehrgeiz und flammender Glaubenseifer so grenzenlos ist wie ein Fass ohne Boden.«

»Ihr kennt ihn?«

»Er ist uns nicht unbekannt«, antwortete der Schwede ausweichend.

Der Domherr Melchior von Drolshagen war kräftig, wohl beleibt und in einen kostbaren Pelzmantel gehüllt. Er trat auf die Stufe, die der grobschlächtige Kutscher namens Rutger Mundt ausgeklappt hatte, verharrte dort jedoch. »Warum seid Ihr nicht näher vor das Portal gefahren, Mundt?«, rügte er scharf. »Wollt Ihr, dass ich meinen Mantel durch den Dreck des Hofes schleife und mir nasse Stiefel hole? Sorgt gefälligst dafür, dass ich trockenen Fußes ins Haus komme!«

»Sehr wohl, hochwürdiger Domherr!«, sagte Rutger Mundt katzbuckelnd und drehte sich um. Sein Blick fiel sofort auf Jakob und den Schweden, die ihm am nächsten standen. »Ihr zwei!. Ja, ihr!. Kommt her!«

Der Schwede stellte sich taub wie eine Ziegelwand und rührte sich nicht von der Stelle und Jakob tat es ihm gleich, wenn ihm auch das Herz im Halse klopfte.

Mit grimmiger Miene kam der kantige, bullige Mann nun auf sie zu. »Habt Ihr nicht gehört, was der hochwürdige Domherr und vertraute Berater unseres hochwohlgeborenen Erzbischofs gesagt hat? Holt ein paar Bretter von da drüben und legt sie von der Kutsche bis zum Portal in den Schnee!«, befahl er ihnen und wies auf den Stapel Bauholz, der neben dem niedergebrannten Gästehaus aufragte.

Der Schwede blieb unter dem eisigen Blick des Kutschers gelassen und antwortete scheinbar gedankenversunken: »Es quoll wie Rauch hervor sein Odem und wie bei Glut- und Feuerbergen aus seinem Munde fressend Feuer.«

Rutger Mundt starrte ihn einen Augenblick verständnislos an. »Was redet Ihr da für wirres Zeug, Mann! Geht an die Arbeit!«, blaffte er ihn an. Dann ging sein Blick zu Jakob. »Und du auch, Bursche!«

»Du rufst, aber im Wind verweht dein Wort«, sagte der Schwede spöttisch.

Rutger Mundt fixierte ihn scharf. »Wollt Ihr Euch über mich lustig machen, Spitzbart?«, zischte er und trat ganz nahe an den Schweden heran.

Dieser rührte sich weder von der Stelle, noch verzog er auch nur einen Muskel im Gesicht. »Dein Wort ist noch so jung in mir. Tu meine Augen auf, dass sie das Licht deiner Wunder fassen. Und in meine Seele senke Sehnsucht nur deinen Willen zu erfüllen«, deklamierte er, den Kopf leicht zur Seite geneigt und den Blick gen Himmel gerichtet, als lauschte er verzückt seinen eigenen Worten nach.

Jakob wäre beinahe in schallendes Gelächter ausgebrochen, als er den Schweden aus dem Psalter rezitieren hörte und dabei den ungläubigen Gesichtsausdruck des Kutschers sah.

»Ich warne Euch!«, zischte Rutger Mundt und Jakob nahm nun einen fauligen Geruch wahr, der dem Mund des groben Kerls entströmte. »Geht an die Arbeit und ich will Eure Unverschämtheit vergessen!«

Der Schwede zeigte sich nicht im mindesten beeindruckt. »Ich habe weise Räte: deine Worte«, antwortete er ruhig. »Ich aber preise den gerechten Gott und nur Gerechte feiern mit das ew’ge Fest vor seinem Angesicht.«

Jakob bemerkte plötzlich, dass der Kutscher unter seinen Umhang griff. Im selben Moment legte aber auch der Schwede seine Hand scheinbar zufällig auf den Griff seines Dolches. »Nur zu, leg aus, was du geboten, mich dürstet nach dem Kelch der Weisung!« Ein drohender Unterton lag in seiner trügerisch sanften Stimme.

Der Kutscher zögerte.

Die Anspannung zwischen den beiden Männern war fast mit Händen zu greifen. Jeden Augenblick konnten Messerklingen aufblitzen und Blut fließen.

»Der gute Mann spricht in Psalmen«, platzte es da aus Jakob heraus, als müsste er den Schweden vor dem Zorn dieses Fremden beschützen. »Er kann nicht anders! Das ist so seine Art. Ihr könnt hier jeden Klosterbruder danach fragen!«

»Gesegnet ist das wenige des Gerechten, verflucht des Bösen Überfluss«, sagte der Schwede mit einem kurzen Seitenblick zu Jakob. »Wie Mond erlischt in Wolken, so gehn die Bösen unter.«

Jakob sah, wie der Kutscher die Lippen zu einem dünnen, harten Strich zusammenpresste, und hielt den Atem an. Noch immer lag Gewalt in der Luft.

»Mundt, was geht da vor? Wie lange wollt Ihr mich noch warten lassen? Ihr sollt nicht herumstehen und mit den Leuten schwatzen!«, rief Melchior von Drolshagen voller Ungeduld. »Habt Ihr vielleicht vergessen, wofür ich Euch bezahle?«

Fast im selben Augenblick ging die Tür auf und Bruder Tarzisius eilte, die Kutte geschürzt wie ein Weib die Röcke, die Stufen des Portals hinunter. Er konnte gar nicht schnell genug zum Domherrn Melchior kommen, um ihn willkommen zu heißen und lautstark zu verkünden, wie überrascht der Konvent über seinen unerwarteten Besuch sei, aber auch wie geehrt den erzbischöflichen Berater in Himmerod zu Gast zu haben. Und als Melchior von Drolshagen ihn ungnädig darauf hinwies, dass er nicht gedenke das Leder seiner Stiefel zu ruinieren oder sich gar nasse Füße zu holen, da rief der Subprior eilfertig Liffard und zwei andere Konversen zu sich und wies sie an, die Arbeit zu tun, für die der Kutscher Jakob und den Schweden im Auge gehabt hatte.

Damit war der kritische Moment überwunden.

»Ihr habt Glück gehabt, Spitzbart! Aber wagt es nicht noch einmal mir und meinem Herrn so dreist die Stirn zu bieten!«, fauchte Rutger Mundt den Schweden an. »Das nächste Mal kommt Ihr nicht so billig davon!«

»Dein Wort gehe in mir auf wie ein Batzen Hefe in einer warmen Stube!«, erwiderte der Schwede sarkastisch.

Rutger Mundt starrte ihn an wie ein Henkersknecht, der Maß für das Richtschwert nimmt. Unter seinem rechten Auge zuckte nervös ein Muskel. Dann wandte er sich abrupt ab und kehrte zur Kutsche zurück.

Im nächsten Moment stand Bruder Basilius in ihrer Mitte, die Kapuze weit in die Stirn gezogen, sodass von seinem Gesicht kaum etwas zu erkennen war. »Habt Ihr Euch mit ihm angelegt, Henrik?«, fragte er leise.

Der Schwede zuckte die Achsel, nahm die Hand vom Dolch und schlug sich die rechte Seite seines Umhangs über die linke Schulter. »Jeder erhält die Antwort, die er verdient.«

»Ihr hättet ihn nicht herausfordern dürfen! Das war äußerst unklug von Euch!«, tadelte Bruder Basilius ihn ungehalten.

»Nicht ich habe ihn herausgefordert, sondern er mich. Lautre Wahrheit ist’s, was ich beteure!«

»Ich kenne Euch, Henrik. Und nur zu gut! Euer Stolz steht Eurer Starrköpfigkeit in nichts nach!«, grollte der Mönch. »Jedenfalls war das unserer Sache gewiss nicht dienlich. Denn wer immer dieser Mann dort sein mag, er ist von Beruf so wenig Kutscher, wie Ihr ein Posamentenmacher seid!«

Der Schwede gab sich zerknirscht. »Sieh an mein Leid, mein Reuen, vergiss darüber meine Schuld«, zitierte er wieder aus den Psalmen.

Der Mönch machte eine grimmige Miene. »Euer Eigensinn ist manchmal schwerer zu ertragen als die Gefahren der Pilgerschaft!«, schimpfte er.

»Herr, lass deinen Zorn verrauchen, straf mich nicht mit deinem Grimm.«

Bruder Basilius gab es auf. »Ihr seid unverbesserlich, Henrik Wassmo! Manchmal glaube ich, der Herr hat mich mit Euch mehr gestraft als gesegnet. Ich hätte Euch schon Vorjahren zurück übers Meer schicken sollen!«, brummte er und sagte brüsk zu Jakob: »Und wenn Ihr auch nur so viel Hirn habt, wie in eine Haselnuss passt, dann bringt Ihr mehr Meilen zwischen Euch und diese Leute.«, er deutete zur Kutsche hinüber, »als Ihr zählen könnt!« Damit stiefelte er mit gesenktem Kopf davon.

Der Schwede sah ihm nach und Jakob meinte auf dem pockennarbigen Gesicht den Hauch eines belustigten Lächelns erkennen zu können, als dieser sagte: »Er gleicht einem Baum am Bach, der immer voll Saft und in Laub. Ein Vagabund im Heiligen Geist!«

»Wie kommt es, dass Ihr, ein Schwede, Begleiter eines Mönches seid?«, wagte Jakob nun zu fragen. »Ist das nicht höchst ungewöhnlich? Ich habe jedenfalls noch nie davon gehört.«

»Auch was nie geschieht, geschieht einmal zum ersten Mal«, antwortete der Schwede.

»Aber damit habt Ihr meine Frage noch nicht beantwortet. Oder wollt Ihr nicht verraten, was Euch mit dem einäugigen Mönch verbindet?«, stichelte Jakob.

»Ich wollte nichts wissen von göttlichen Zeichen, auf fremden Gefilden, in Pharaos Land«, deklamierte Wassmo, seine Antwort wieder einmal in ein Rätsel aus Psalmen kleidend. »Paladine und Herren in Eisen, Gottes Glorie und Ruhm im Munde, das doppelschneidige Schwert in den Händen - so streuten wir das Saatkorn des Leids. Blut floss wie Regenwasser durch die Gosse und keiner mochte Totengräber sein.« Er machte eine kurze, gedankenschwere Pause. »Er aber kam, entriss mich dem Rachen des Löwen und mein Herz hielt an ihm fest.« Und bevor Jakob ihm noch mit weiteren Fragen zusetzen konnte, ging er davon und folgte den Spuren, die Bruder Basilius im frischen Schnee hinterlassen hatte.

»Der eine so kauzig und rätselhaft wie der andere«, murmelte Jakob vor sich hin und nahm sich vor später ausführlicher über die verschlüsselte Antwort des Schweden nachzusinnen, wenn er mehr Ruhe dazu hatte. Jetzt wurde seine Aufmerksamkeit von dem Geschehen bei der erzbischöflichen Kutsche in Anspruch genommen.

Die drei Konversen schleppten Bretter herbei und legten sie in den Schnee, immer drei nebeneinander. Der Domherr und Prälat im edlen Pelzmantel machte jeweils zwei, drei behände Schritte, um dann mit sichtlicher Ungeduld wieder stehen zu bleiben und zu warten, bis eine neue Lage Bretter vor ihm in den Schnee fiel.

Noch ein dritter Mann, klein und schmächtig von Statur und mit dem besorgten Blick des geborenen Pessimisten, war mit der Kutsche nach Himmerod gekommen.

»Laurentis Coppeldiek, mein Sekretär!« Mit einer beiläufigen Geste stellte der Domherr dem Subprior seinen blassgesichtigen Begleiter vor, der respektvoll zwei Schritte Abstand hielt, mit der einen Hand eine bauchige Tasche aus Gobelinstofftrug und sich mit der anderen ständig den Schnee aus seinem lichten Haar strich. Dabei irrten seine kummervollen Augen ruhelos hin und her, als fürchtete er einen Hinterhalt oder sonst ein drohendes Unheil.

Endlich war der provisorische Bretterweg von der Kutsche bis zu den Stufen des Portals fertig und die drei Männer verschwanden in Begleitung des Subpriors im Konventsgebäude, während der herbeigerufene Stallknecht, ein wortkarger Konverse mit gespaltener Oberlippe, sich der Kutsche und der erhitzten Pferde annahm.

Von Bruder Isenbard hörte Jakob wenig später, dass Himmerod den unerwarteten Besuch des einflussreichen Prälaten aus Trier angeblich dem schlechten Wetter zu verdanken hatte. Das heftige Schneetreiben habe Hochwürden gezwungen seine Reisepläne zu ändern und in der Abtei Schutz zu finden statt wie geplant die Nacht schon in der Burg von Manderscheid zu verbringen, so jedenfalls streuten es der Sekretär Laurentis Coppeldiek und der Kutscher Rutger Mundt aus.

»Aber woher hat der Domherr bloß von Bruder Anselm gewusst?«, fragte Bruder Isenbard mit grüblerischer Miene. »Denn als sie die Treppe hochkamen, habe ich ganz deutlich vernommen, wie er Bruder Tarzisius höchst besorgt gefragt hat, ob Bruder Anselm noch am Leben sei.«

Er zuckte die Achseln. »Nun, was soll es uns interessieren, was in den Köpfen dieser Herren vorgeht. Helft mir noch mit dieser einen Kiepe Feuerholz, guter Freund. Dann wird es auch schon Zeit für die Komplet.«

Jakob fand es sehr wohl von großem Interesse, dass Domherr Melchior von Drolshagen offenbar schon vor seinem Eintreffen über Bruder Anselms Aufenthalt in Himmerod und seine schwere Erkrankung unterrichtet gewesen war. Er glaubte auch zu wissen, wer ihn informiert hatte: der mitternächtliche Reiter! Jemand hatte noch in der Nacht seiner Ankunft im Kloster einen Boten nach Trier geschickt. Die Nachricht, die dieser Reiter überbrachte, war wohl so wichtig gewesen, dass ein hoch stehender Kirchenmann wie dieser Domherr und Prälat umgehend aufgebrochen war. Und wie die abgekämpften Pferde verrieten, hatte er diesem Rutger Mundt zweifellos die Order erteilt ihn so schnell wie möglich zu den Zisterziensern zu bringen und dabei die Tiere nicht zu schonen.

Domherr Melchior von Drolshagen befand sich also ganz und gar nicht zufällig in der Abtei! Auch Bruder Basilius glaubte nicht an einen Zufall, das war deutlich zu erkennen gewesen. Aber welches Geheimnis verband sich bloß mit Bruder Anselm von Picoll, dass dieser alte Mönch, der doch schon auf dem Totenbett lag, einen hoch gestellten Kleriker aus der erzbischöflichen Kurie von Trier dazu brachte, sich bei Wind und Wetter und mit vermutlich halsbrecherischem Tempo an sein Sterbelager zu begeben? Was steckte nur hinter all dem rätselhaften Verhalten, das Ordensleute wie Bruder Basilius und der Subprior an den Tag legten?

Es war eindeutig Neugier, die Jakob zur Komplet in die Abteikirche führte. In dieser Abendstunde und im schwachen Licht weniger Kerzen vermochte er sich der schlichten Anmut der Basilika, die gemäß den strengen Bauvorschriften des Zisterzienserordens jeden Prunkes entbehrte, nicht zu entziehen. Er nahm weit hinter dem romanischen Lettner, der die Chorapsis von den Bankreihen für die Laien trennte, direkt neben einer Säule Platz. Als Jakob den Kopf wandte, bemerkte er auf der anderen Seite, aber fast auf gleicher Höhe, den kleinwüchsigen Sekretär und den grobschlächtigen Kutscher des Domherrn. Laurentis Coppeldiek kniete mit demütig gesenktem Kopf nieder, bekreuzigte sich und faltete die Hände zum Gebet. Auch Rutger Mundt kniete sich hin, doch er hielt sich aufrecht und starrte zu ihm, Jakob, herüber.

Im selben Moment und lautlos wie ein Schatten tauchte der Schwede im Mittelgang auf. Er setzte sich so, dass er dem breitschultrigen Kutscher des Domherrn den Blick auf Jakob verwehrte. Ob das ein Zufall war oder eine stumme Botschaft an Rutger Mundt?

In feierlicher Prozession und in ihre grauweißen Gewänder gehüllt, erschienen die Klosterbrüder wenig später in Doppelreihen am Hochaltar und schwenkten dann nach links in die Chorapsis mit dem geschnitzten Gestühl ein. Und Domherr Melchior von Drolshagen schritt an der Seite von Abt Ambrosius voran!

Jakob meinte schon an der selbstbewussten Haltung des Domherrn ablesen zu können, dass dieser sich in diesem Kloster weniger als Gast fühlte, sondern als mächtiger Vertreter des Erzbischofs, dem mehr als nur brüderliche Gastfreundschaft zustand. Er verströmte förmlich den Anspruch von Macht. Seltsamerweise trug sein Gesicht jedoch zugleich auch einen frommen, hingebungsvollen Ausdruck.

Als der Gesang der Mönche einsetzte, vergaß Jakob für eine Weile, was ihn beschäftigte - und dass sich unter den Ordensleuten wohl einige befanden, die mehr um die Erlangung irdischer Vorteile kämpften als um die Einhaltung ihrer Ordensgelübde. Versunken saß er da und lauschte dem Chor, der die nächtliche Basilika bis unter die hohen Gewölbe mit feierlicher Anbetung erfüllte. Wie die Wogen von Ebbe und Flut erhoben sich die Melodien der gregorianischen Gesänge in lichte Höhen, um sanft zurückzufallen, für eine Weile auf einem ruhenden Ton zu verharren und dann erneut in beseeltem Lobgesang aufzusteigen, immer und immer wieder aufs Neue, ähnlich dem Rhythmus ewiger Brandung, nur dass diese hier nicht aus den Weiten der Meere kam, sondern ihre Quelle in den Herzen der Mönche hatte. Jakob hatte das Salve Regina noch lange nach der Komplet im Ohr.

Als die Mönche das Chorgestühl verließen und seitlich vom Hochaltar einzeln und gebeugten Hauptes an ihrem Abt vorbeizogen, der sie mit Weihwasser segnete, schlich sich Jakob um die Säule herum und aus der Kirche. Er hatte es eilig zurück ins Konventsgebäude und dort in den Kreuzgang zu kommen, wo er sich in einer der großen Nischen versteckte. Er wollte das nächtliche Ritual der Ordensmänner beobachten, von dem ihm Liffard auf der Fahrt zum Schwickerather Hof erzählt hatte.

Kaum hatte ihn die Schwärze der Wandnische umhüllt, als die Klosterbrüder auch schon den Kreuzgang betraten. Das schwache Kerzenlicht von nur einer Leuchte, die der Prior Pinius trug, beleuchtete spärlich ihren Weg.

Gespannt beobachtete Jakob, wie Abt Ambrosius in der Mitte des Kreuzgangs stehen blieb, sich bückte, eine quadratische Holzplatte von der Größe einer Kaminklappe anhob und sie zur Seite zog. Darunter kam eine Öffnung zum Vorschein, ein mehrere Ellen in die Tiefe führender, schmaler Steinschacht. Nun trat ein Ordensbruder nach dem anderen vor, griff in eine Holzschale, die mit Asche gefüllt war, beugte sich über diese Öffnung im Kreuzgangboden und streute einige Fingerspitzen der Asche in die Grube. Ein Ritual, das sich in wortloser Andacht und Stille vollzog und dessen Sinn es war, so hatte Liffard ihm berichtet, dass jeder den klaren Gedanken an die Allgegenwart und Unausweichlichkeit des Todes mit in seine Zelle und mit in den Schlaf nahm.

Jakob kauerte noch eine ganze Weile, nachdem die Klosterbrüder den Kreuzgang verlassen hatten, in der Nische, erfüllt von beunruhigenden Gedanken. Er wusste nicht, ob es an dieser einfachen und doch so bedeutungsvollen Zeremonie lag, die er gerade beobachtet hatte, dass er sich auf einmal sehr unwohl in seiner Haut fühlte. Oder hatte diese Empfindung mit dem Auftauchen des Domherrn mit seinem Gefolge zu tun? Möglich auch, dass Bruder Basilius ihn mit seiner Warnung in größere Unruhe versetzt hatte, als er sich zunächst eingestehen wollte. Wie auch immer, er wurde das unangenehme, dumpfe Gefühl nicht los, dass sich in dieser Abtei tatsächlich etwas Unheilvolles zusammenbraute. Vielleicht war er wirklich gut beraten, wenn er diesem Ort so schnell wie möglich den Rücken kehrte.

Aber zuerst musste sich das Wetter zum Besseren wenden, bevor er daran denken konnte, sich mit seinem Karren davonzumachen. Noch immer umwirbelte dichtes Schneegestöber die Klosteranlage. Wer sich jetzt ins Freie wagte, riskierte sein Leben. Denn wie schnell konnte es passieren, dass man auf den zugeschneiten Wegen die Orientierung verlor und in die Irre lief, vermochte man doch kaum die eigene Hand vor Augen zu sehen!

Tief in düstere Gedanken versunken, schritt Jakob den breiten, steinernen Treppenaufgang ins Obergeschoss hoch, wandte sich nach links und ging den kurzen Gang hinunter, wo die drei Scholaren untergebracht waren. Kaum hatte er ihre Kammern passiert und war um die Ecke gebogen, als ein scharfes, rhythmisch klatschendes Geräusch seine Aufmerksamkeit erregte, das von einem Strom gemurmelter Worte begleitet wurde. Sechs, sieben Schritte vor ihm fiel Kerzenlicht aus einer offen stehenden Zellentür.

Vorsichtig, fast auf Zehenspitzen und von einer unangenehmen Ahnung begleitet, näherte er sich der Tür - und blieb abrupt stehen, als sein Blick ungehindert in die Kammer fiel. Beinahe hätte er einen Schrei ungläubigen Erschreckens ausgestoßen, vermochte ihn im letzten Moment jedoch noch zu unterdrücken.

Melchior von Drolshagen, der hochwürdige Domherr und Prälat aus Trier, kniete mit dem Rücken zur Tür im Büßerhemd auf dem Steinboden seiner Zelle - auf einem Bett von Kieselsteinen und mit bis zu den Hüften entblößtem Oberkörper. Und mit einer Geißel aus geflochtenen Hanfstricken kasteite er seinen massigen Leib, während er gleichzeitig mit frommem Eifer betete. Blutige Striemen zogen sich von den Schultern bis zu den Hüften herab. Bei jedem Schlag erzitterte der fleischige, von Speckrollen umschlossene Körper und zuckte ein wenig hoch, als wollte der Domherr aufspringen und den Geißelhieben von eigener Hand entfliehen. Doch er blieb dort auf den Kieselsteinen knien, die ihm zusätzliche Schmerzen bereiten mussten, und erteilte sich einen Schlag nach dem anderen.

». und tilge, Herr, meinen Frevel nach deinem reichen Erbarmen«, hörte Jakob ihn inbrünstig murmeln, während er die Geißel gegen sich führte. »Gib mir die Kraft und die Leidensfähigkeit, um der Ehre deines Namens willen meinen sündigen Leib so bitterlich zu strafen und mein Kreuz ohne Aufbegehren zu tragen, so wie du, oh Herr, die Schläge deiner Henkersknechte und das Leid am Kreuz angenommen hast, um unsere Schuld zu sühnen!. Dein Angesicht, allmächtiger Gott, will ich suchen!. Höre, Herr, und hab Erbarmen, denn wir haben wider deine Gebote gesündigt!. Hilf uns umzukehren und Taten der Buße zu vollbringen, damit wir erlöst werden von unseren bösen Neigungen und dem Fluch des schwachen Fleisches. Reinige uns von unseren Sünden und gib uns die Kraft das Feuer der Ungläubigen und der Ketzer mit unnachgiebiger Härte zu bekämpfen und auch noch den letzten Funken satanischer Glut auszutreten.«

Jakob spürte plötzlich warmen Atem in seinem Nacken. Erschrocken fuhr er herum - und blickte in das grimmige Gesicht von Bruder Basilius. Der Mönch packte ihn unsanft am Arm und zog ihn von der offen stehenden Zellentür zurück.

»Habt Ihr das gesehen?«, stieß Jakob mit gedämpfter Stimme hervor. »Dieser vornehme Domherr kniet auf Kieselsteinen und geißelt sich bis aufs Blut!«

»Ja, einer jener besessenen Eiferer, die sich trunken geißeln und das mit demütiger Buße verwechseln«, erwiderte Bruder Basilius mit beherrschtem Zorn.

»Ihr scheint das zu verurteilen.«

»Oh ja, das tue ich in der Tat!«, bestätigte der Mönch. »Sich selbst zu geißeln, um Christus nahe zu sein und seine entsetzlichen Leiden körperlich nachzuahmen, hat nichts mehr mit Buße und glaubensvoller Hingabe zu tun, sondern ist eine schändliche Anmaßung und verhöhnt all jene, die unter Not und Schmerz zu leiden haben! Ein Christ soll das Leid nicht suchen und auch nicht nachahmen, sondern er soll es ertragen, wenn es ihn trifft, und anderen dabei helfen ihr Leid zu ertragen, wenn er sie nicht davon befreien kann! Schmerz ist nicht süße Verklärung und fromme Lust - Schmerz ist das Kreuz, das wir in Demut zu tragen haben, wenn es uns auferlegt wird!«

Jakob war von den zornigen Worten überrascht.

»Man kann sich Gottes Wohlwollen nicht durch übermäßiges Fasten, Beten oder Geißeln erkaufen!«, fuhr Bruder Basilius erbost fort. »Gott ist kein Tagelöhner und Krämer, dem man seine Gunst abkaufen kann. Glaube und Liebe, das ist der Weg, den wir gehen müssen. Alles andere ergibt sich dann von selbst!«

»Wer ist dieser Mann, Bruder Basilius?«, fragte Jakob beklommen. »Und was hat ihn wirklich nach Himmerod geführt?«

»Ihr tut besser daran, dies nicht herauszufinden, denn Männer wie er sind gefährlicher als ein Korb giftiger Ottern!«, beschied der Mönch ihn knapp. »Wie Ihr auch gut daran tut, Eure Tür verriegelt zu halten.«

»Meine Tür hat weder Schloss noch Riegel!«

»Dann legt Euer steinernes Kopfkissen innen vor die Tür!«, riet ihm der Mönch, schlug seine Kapuze hoch und eilte den Gang hinunter. Die sehnige Gestalt des Schweden löste sich aus dem Dunkel eines Türbogens und trat an seine Seite. Gemeinsam schluckte sie das Dunkel am Ende des langen Flurs.

Jakob hatte weder den Mönch noch den Schweden in seiner Nähe geahnt. Beide waren plötzlich wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht. Waren sie ihm vielleicht die ganze Zeit auf den Fersen gewesen, zumindest der Schwede, ohne dass er es bemerkt hatte? Und wenn sie ihn bewachten, wovor wollten sie ihn dann schützen? Was hatte er Jakob Tillmann, ein ziellos herumziehender Niemand, der nur einen lumpigen Karren sein Eigen nannte, zu befürchten?

Ihm war auf einmal ganz flau zu Mute und er beeilte sich, dass er in seine Büßerzelle kam. In dieser Nacht schlief er ohne das »Kopfkissen«. Den schweren Stein schob er, ganz wie Bruder Basilius ihm geraten hatte, von innen gegen die Tür.

Neuntes Kapitel

Der Mann mit den milchigen Augen eines Blinden und dem fauligen Atem eines Siechen hatte ihn durch die verschneiten Trakte des Konventes gejagt und schließlich in einer Nische gestellt, wo er knietief in kalter Asche versank. Nun gab es kein Entkommen mehr. Der Häscher öffnete seinen mit violettfarbener Seide gefutterten Umhang und hüllte ihn unter höhnischem Gelächter darin ein. Die Finsternis schlug wie ein Meer über ihm zusammen. Er bekam keine Luft mehr und wusste, dass er in dieser Schwärze, in die nie ein Lichtstrahl drang, ersticken würde. In wilder Verzweiflung schlug er um sich.

Jakobs Hand schrammte schmerzhaft über den rauen Putz der Wand und er erwachte aus seinem unruhigen Schlaf. Benommen und noch ganz unter dem Eindruck seines grässlichen Alptraums, richtete er sich auf der harten Pritsche auf. Sein Blick ging zur Tür. Der Stein lag noch immer an seinem Platz.

Es war schon Morgen, doch seine Hoffnung auf besseres Wetter hatte sich nicht erfüllt. Es schneite noch immer heftig, wie er feststellte, als er ans Fenster trat und die schweren Holzläden aufklappte. Aus der Basilika kam der Gesang der Mönche, die sich zur Prim, der ersten Stunde des lichten Tages, eingefunden hatten.

Jakob wuchtete den schweren Stein wieder zurück aufs Bett und trat auf den Gang hinaus. Der geistliche Gesang der Klosterbrüder war verstummt, die Prim somit beendet. Er musste sich also beeilen, wenn er noch vor Bruder Anton im Küchengewölbe sein und etwas ergattern wollte.

Er befand sich schon an der Treppe, als er hinter sich eine Tür laut schlagen hörte und dann hastige Schritte, die Augenblicke später in ein Rennen übergingen. Verblüfft drehte er sich um - es war der Novize Dominik, der den Gang heruntergelaufen kam.

»Was ist geschehen?«, rief Jakob ihm zu.

»Bruder Anselm! Der Herr hat ihn zu sich geholt! Friede seiner Seele!«, stieß der Novize mit sichtlicher Verstörung hervor. »Die ganze Nacht habe ich an seiner Seite gewacht. Er ist soeben gestorben! Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich. ich habe noch nie mit Toten zu tun gehabt.«

Jakob wünschte, das auch von sich sagen zu können. Der Tod war ihm nur allzu sehr vertraut. »Im Umgang mit Toten ist Eile jedenfalls nicht vonnöten«, sagte er.

Seine Antwort hatte offensichtlich eine beruhigende Wirkung auf den Novizen. Denn dieser atmete nun einmal kräftig durch, nickte und sagte mit einem entschuldigenden Lächeln: »Natürlich. Ihr habt Recht, Jakob. Ich furchte, ich habe sehr kopflos und mit unziemlicher Hast reagiert.«

»Bruder Tarzisius hat es ja nicht gesehen«, sagte Jakob mit leichtem Spott, achtete der Subprior doch noch strenger als Bruder Pinius auf die Einhaltung der Klosterzucht. »Und ich werde es ihm auch nicht zutragen.«

Der Novize berührte ihn in einer scheuen Geste der Dankbarkeit kurz am Arm. »Ich danke Euch, Jakob Tillmann, und Gottes reicher Segen möge Euch auf allen Wegen begleiten«, sagte er und ging dann in gefasster, statthafter Eile die Treppe hinunter, um seine Klosterbrüder vom Tod des alten Mönches zu unterrichten.

»Friede deiner Seele, Bruder Anselm«, murmelte Jakob und nutzte die günstige Gelegenheit, um sich in der Küche in aller Ruhe den knurrenden Magen zu füllen. Zwar hielt Bruder Anton die Vorratskammern so fest verschlossen wie ein Geizhals seine Geldbörse. Aber es gab bei der Feuerstelle links vom mächtigen Abzug noch eine kleine, geheime Vorratskammer, wie Bruder Isenbard ihm anvertraut hatte, für die man keinen Schlüssel brauchte. Es war eine mit einem passenden Stein gut getarnte Maueröffnung, in der man stets einen Kanten Brot und einen Krug Milch sowie Käse und gelegentlich auch Leberwurst oder Speck finden konnte. Auch Mönche auf dem Weg zur Heiligkeit hatten Schwächen und fanden Wege ihre allzu menschlichen Gelüste zu stillen, ohne dass ihre Oberen ihnen auf die Schliche kamen! Und diese Mönche waren ihm zutiefst sympathisch.

Jakob stillte in aller Ruhe seinen Hunger. Denn er wusste von Liffard, dass sich die Ordensleute nach alter Tradition jetzt oben von ihrem verstorbenen Zisterzienserbruder mit einem sogenannten Bruderkuss verabschieden und Gebete sprechen würden. Er gönnte sich ein ordentliches Stück vom Käse, widerstand aber der Versuchung sich noch mit einem Vorrat für später zu versorgen. Er wollte das Vertrauen, das Bruder Knollennase ihm geschenkt hatte, nicht mit schäbiger Maßlosigkeit vergelten.

Als Jakob das Konventsgebäude verließ, um sich in die Schmiede zu begeben, wo jetzt bestimmt schon ein fröhliches Feuer unter dem mächtigen Blasebalg aufloderte, bemerkte er zwei Konversen, die dem Gottesacker der Abtei auf der Nordseite der Basilika zustrebten. Sie trugen Spitzhacke und Schaufel über der Schulter und hatten wohl den undankbaren Auftrag erhalten das Grab für Bruder Anselm auszuheben.

Bei dem Wetter beneidete Jakob sie nicht um ihre Aufgabe. Der Boden war sicher hart gefroren und sie würden sich mächtig ins Zeug legen müssen, um dem alten Mönch die letzte Ruhestätte aus der eisigen Erde zu schlagen.

In der Schmiede ging Jakob den beiden Konversen, die an einem schmiedeeisernen Gittertor für den Gemüsegarten arbeiteten, bereitwillig zur Hand, indem er den Blasebalg bediente. Gesprochen wurde dabei nicht. Bruder Winfried, der Meisterschmied mit einem ellenlangen und von zahllosen Funken brandgezeichneten Bart, nickte ihm nur zu, wenn er das Feuer anheizen sollte.

Jakob war es recht so. Ihm stand der Sinn nicht nach einer Unterhaltung. Er war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Zu viel war in den letzten Tagen geschehen - und zu viel davon ergab keinen Sinn, schürte jedoch in ihm Angst. Zudem rumorte irgendetwas in seinem Kopf, was er jedoch nicht ins Licht klarer Erkenntnis ziehen und benennen konnte. Ihm war, als hätte er eine wichtige Beobachtung gemacht, ohne aber zu wissen, wohin sie gehörte und was er damit anfangen sollte.

Die Beerdigung von Bruder Anselm fand nach der Sext und vor dem Mittagessen statt. Dabei sah Jakob auch Bruder Basilius und den Schweden wieder, der sich zu ihm auf die Seite der NichtOrdensleute stellte. Auch Domherr Melchior fand sich mit seinem ungleichen Gefolge aus schmächtigem Sekretär und bulligem Kutscher ein.

Jakob beobachtete ihn verstohlen und ihm war, als drückte die finstere, verbissene Miene dieses erzbischöflichen Beraters Missmut, ja geradezu zornige Verdrossenheit aus. Doch zornigen Verdruss worüber? Weil er bei diesem ungemütlichen Wetter an einer Beerdigung teilnehmen und sich der Gefahr aussetzen musste, dass sein edler Pelz dreckig wurde und er vielleicht feuchte Stiefel bekam? Oder zürnte er dem Toten, weil dieser ihm durch seinen Tod. nun, was? Zuvorgekommen, entkommen oder irgendetwas schuldig geblieben war? Jakob fragte sich auch, weshalb der Domherr bloß immer wieder zum Novizen Dominik hinüberstarrte, der mit blassem Gesicht zwischen ihm und dem Subprior stand. Fast konnte man den Eindruck haben, der hohe Kirchenmann aus Trier hätte dem Novizen etwas vorzuwerfen. Das war natürlich unsinnig. Und dennoch.

Die Totenmesse in der kleinen Friedhofskapelle war kurz und schlicht - wie überhaupt das ganze Begräbnis von einer ausgesprochen ernüchternden Schmucklosigkeit gekennzeichnet war. Die Leiche des ehemaligen Abtes lag nicht einmal in einem einfachen Sarg, sondern war nur in ein graues Leinentuch eingeschlagen und ruhte auf einem breiten Brett.

Nach der Totenmesse begab sich der Konvent ans Grab und Jakob sah zu seiner großen Verwunderung, wie der alte Abt Ambrosius, gestützt auf seinen Krummstab, in die Grube stieg, zur Schaufel griff und den frischen Schnee mit ein paar Brocken Erde aus dem Grab schaufelte.

Jakob wandte sich dem Schweden an seiner Seite zu. »Warum tut er das?«, fragte er leise.

»Als ein letzter brüderlicher Dienst und als Zeichen, dass ein Abt nicht mehr wert ist als ein einfacher Mönch und wir alle denselben Weg gehen«, raunte der Schwede zurück. »Wie es in der Heiligen Schrift geschrieben steht: >Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst.<«

Der Leichnam des einstigen Abtes wurde ins Grab hinabgelassen, aus dem Leichentuch gewickelt und nur mit der Mönchskutte bekleidet begraben.

»Asche zu Asche, Staub zu Staub.«

Ein letzter Segen von Abt Ambrosius und dann griffen die Konversen auch schon zu den Schaufeln und bedeckten den Toten mit Schnee und harten Erdklumpen.

»Warum hat man Bruder Anselm, der doch einmal Abt gewesen ist, hier draußen auf dem Friedhof begraben und nicht im Kapitelsaal oder im Kreuzgang beigesetzt wie all die anderen Äbte?«,wollte Jakob wissen.

»Er ist nicht Abt von Himmerod gewesen. Aber auch wenn er in jenem Kloster gestorben wäre, dem er einst als Abt vorgestanden hat, ich glaube nicht, dass er ein anderes Grab erhalten hätte.«

»Warum nicht? Hat er sich vielleicht etwas zu Schulden kommen lassen?«, fragte Jakob, denn er erinnerte sich wieder an Bruder Basilius’ Worte, dass Bruder Anselm seines Amtes enthoben worden war.

»Viele, die die vortrefflichsten Reden führen, tun die schändlichsten Dinge«, antwortete der Schwede auf seine rätselhafte Art. »Doch Bruder Anselm konnte die Stickluft des Bösen nicht länger atmen und schleuderte den Speer seines Wortes.«

Jakob verzog ärgerlich das Gesicht. »Das war ja mal wieder eine äußerst erschöpfende Auskunft!«

»Alle Tugenden speisen sich aus der Schweigsamkeit«, beschied ihn der Schwede trocken und stiefelte davon.

Nach dem Mittagessen geschah etwas Merkwürdiges. Im Vestibül traf er auf Bruder Isenbard und Bruder Pinius. Als der Prior ihn sah, wandte er sich ihm zu und fragte: »Habt Ihr vielleicht unseren Novizen Dominik gesehen?«

Jakob verneinte.

»Merkwürdig«, sagte Bruder Isenbard, als sich der Prior in Richtung Konversengang entfernte. »Das gibt mir jetzt doch Rätsel auf.«

»Was ist mit Eurem Novizen?«

»Bruder Dominik ist nirgends zu finden. Er ist weder zum Mittagessen erschienen noch zur Non und das sieht ihm gar nicht ähnlich«, wunderte sich der Mönch.

»Vielleicht hat er sich in seine Zelle zurückgezogen«, mutmaßte Jakob. »Mir scheint, der Tod von Bruder Anselm, an dessen Krankenbett er doch so viele Stunden gesessen hat, ist ihm sehr nahe gegangen. Er wird wohl gewusst haben, dass er keinen Bissen hinunterbringen würde.«

»Möglich, aber dann hätte er sich vorher die Erlaubnis zum Fernbleiben eingeholt - einmal ganz davon abgesehen, dass er nicht in seiner Zelle ist«, wandte Bruder Isenbard ein. »Die Non hätte er aber deshalb auf gar keinen Fall versäumt. Nein, die Sache ist zu merkwürdig. Bruder Dominik ist ein eifriger und vorbildlicher Novize, der seine Aufgaben stets mit ebenso großer Hingabe wie Gewissenhaftigkeit erledigt. Seit der Beerdigung hat ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen. Allein Bruder Chrysostomus meint sich erinnern zu können ihn bei den Fischteichen gesehen zu haben, als er von den Schweineställen zurückkam. Er ist sich dessen aber nicht sicher. Denn bei diesem Schneetreiben kann man eine Gestalt schon auf ein halbes Dutzend Schritte nur zu leicht mit einer anderen verwechseln.«

»Das ist wirklich seltsam«, pflichtete Jakob ihm nun bei.

Der Subprior trat zu ihnen. Offensichtlich hatte er gehört, worüber Bruder Isenbard mit Jakob gesprochen hatte, denn er sagte mit zurechtweisendem Tonfall: »Ergehen wir uns nicht in geschwätzigen Vermutungen! Das Rätsel wird sich schon lösen und Bruder Dominik wird Rechenschaft über seine unerlaubte Abwesenheit ablegen müssen.«

Bruder Isenbard zog unter dem scharfen Tadel des Subpriors den Kopf zwischen die Schultern, murmelte eine unverständliche Entschuldigung und machte, dass er davonkam.

»Der hochwürdige Abt schickt nach Euch!«, teilte Bruder Tarzisius ihm nun im Befehlston mit. »Er wünscht Euch zu sprechen und erwartet Euch im Kapitelsaal!«

»Ich stehe ganz zu seinen Diensten!« Jakob hatte Mühe ein Grinsen zu unterdrücken. Endlich kam er zu seinem Recht. Jetzt galt es seine Forderung geschickt vorzutragen und sich nicht in seinem gerechten Lohn beschneiden zu lassen.

Der Subprior bedachte ihn mit einem stechenden Blick. »Dann kommt!«, forderte er ihn schroff auf.

Was bin ich froh, wenn ich mein Bündel schnüren kann und diesen verbissenen Zuchtmeister nicht länger ertragen muss!, dachte Jakob, während er dem Subprior beschwingten Fußes folgte. Drei Kreuze würde er machen!

Bruder Tarzisius sprach kein Wort mit ihm, als er ihn durch den Kreuzgang zum Kapitelsaal führte, der vom Seitenschiff der Basilika nur durch den schmalen Raum der Sakristei getrennt war. Vor der schweren Tür des Kapitelsaals, dem Versammlungsort der Ordensleute, blieb der Subprior kurz stehen.

»Ich will Euch eine ernste Mahnung mit auf den Weg geben: Haltet Euch an die Wahrheit und tut alles in Eurer Macht Stehende, um auf alle Fragen eine zufrieden stellende Antwort zu geben! Dann habt Ihr auch nichts zu befürchten!«

»Nichts leichter als das!«, versicherte Jakob und hätte ihn gern daran erinnert, dass er nicht zu den Ordensleuten gehörte, die sich seiner strengen Zucht beugen mussten, und dass er daher so oder so nichts zu befürchten hatte. Aber wozu sollte er diesen verbissenen Ehrgeizling jetzt noch gegen sich aufbringen, wo er doch kurz vor dem Ziel seiner Wünsche stand?

Jakob ahnte nicht, wie sehr er sich irrte!

Zehntes Kapitel

Bruder Tarzisius öffnete die Tür und Jakob betrat hinter ihm den Kapitelsaal. Zwei mächtige romanische Säulen stützten das hohe Kreuzgewölbe, das sich über dem Saal spannte. Vier Bogenfenster gingen auf die Ostseite der Klausur hinaus, vier weitere auf den Kreuzgang. Durch keines fiel an diesem Winternachmittag ausreichend Licht, um die tiefen Schatten aus dem Saal zu vertreiben, die wie dunkle Tücher über den Bankreihen lagen.

Dass etwas nicht stimmte und er kaum an diesen Ort gerufen worden war, um mit dem Abt über seine gerechte Entlohnung zu reden, begriff Jakob, als er im Licht zweier Lampen den Domherrn Melchior von Drolshagen neben dem Abt an der Stirnseite des Kapitelsaals sitzen sah - und in einem Abstand von den beiden hoch gestellten Klerikern den Sekretär Laurentis Coppeldiek. Dieser stand im Licht einer der Wandlampen hinter einem Pult mit schräg geneigter Schreibplatte und hielt eine gespitzte Feder in der Hand.

Jakob fuhr der Schreck in die Glieder. Was hatte das zu bedeuten?

»Der Fuhrmann Jakob Tillmann, hochwürdiger Abt!«, meldete der Subprior.

»Ich danke Euch, Bruder Tarzisius«, sagte der Abt förmlich. »Ihr könnt nun gehen und Euch wieder Euren Aufgaben widmen. Eure Gegenwart wird bei dieser. Unterredung wohl nicht vonnöten sein.«

Ein Ausdruck ärgerlicher Enttäuschung ging kurz über das Gesicht von Bruder Tarzisius. Er hatte sich jedoch sofort wieder unter Kontrolle und sagte mit trügerischer Demut: »Ganz wie Ihr befindet, hochwürdiger Vater Abt.«

»Wartet!«, rief der Domherr. »Wer weiß, vielleicht ist die Gegenwart Eures Subpriors ja doch von Nutzen? Bruder Tarzisius scheint mir scharfe Augen und einen ebensolchen Verstand zu besitzen. Schaden kann es jedenfalls nicht, wenn er bleibt.«

Abt Ambrosius schien irritiert über das Verlangen des Domherrn zu sein und zögerte mit seiner Antwort. »Also gut«, sagte er dann, »wenn es Euer Wunsch ist, mag Bruder Tarzisius bleiben.«

Der Subprior neigte den Kopf in scheinbarer selbstloser Folgsamkeit, als hätte er persönlich nicht das geringste Interesse daran, im Kapitelsaal zu verbleiben. Doch Jakob bemerkte das zufriedene Aufblitzen in seinen Augen, als er sich umwandte und an ihm vorbeiging, um in der ersten Bank Platz zu nehmen.

Abt Ambrosius richtete seinen Blick nun auf Jakob. »Ich habe Euch rufen lassen, weil der hochwürdige Domherr von Drolshagen Euch einige Fragen zu stellen wünscht«, begann der asketische Mönch und seine Miene verriet, dass er nicht sehr glücklich darüber war.

»In der Tat!«, rief der Domherr. »Und wir sollten unverzüglich zur Sache kommen!«

Der Abt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Die Fragen mögen Euch verwirren und sinnlos erscheinen, Jakob Tillmann, was Euch aber nicht bekümmern soll«, fuhr er freundlich und um Verständnis werbend fort. »Redet nur freiheraus, was Ihr zu sagen habt und wessen Ihr Euch mit Gottes Hilfe zu entsinnen vermögt, und wir werden diese Unterredung rasch zu einem für alle zufrieden stellenden Ende bringen.«

Jakob schluckte und wich dem stechenden Blick des Domherrn aus. »Worüber soll ich Rede und Antwort stehen? Wird mir irgendetwas zur Last gelegt?«

»Nein, sorgt Euch nicht. Ihr steht hier nicht unter Anklage«, versicherte Abt Ambrosius.

Der Domherr gab ein kurzes Schnauben von sich, als wollte er sagen: »Das wird sich noch zeigen!« In sichtlicher Ungeduld drehte er den funkelnden Ring an seinem fleischigen Finger hin und her. Sein angespanntes Gesicht mit der scharfen Habichtsnase machte den Eindruck eines Raubvogels, der es nicht erwarten konnte sich auf ihn zu stürzen und seine Krallen in ihn zu schlagen.

Der Abt ließ einen kurzen Moment verstreichen, als müsste er sich erst sammeln - oder zu etwas durchringen, was ihm im Innersten widerstrebte. Dann sagte er zu Jakob: »Die Fragen, die wir Euch stellen möchten, betreffen die Zeit, die Ihr mit Bruder Anselm, möge seine Seele Frieden finden und in Gottes Herrlichkeit auferstehen, verbracht habt. Es ist unsere Bitte, dass Ihr uns darüber so ausführlich Auskunft gebt, wie es Euer Gedächtnis zulässt!«

»Und Ihr seid gut beraten Euch anzustrengen, Jakob Tillmann!«, fügte der Domherr hinzu. Er schien mit der ganzen Art, wie der Abt diese Angelegenheit anging, äußerst unzufrieden, denn er wandte sich nun dem Mönch zu und sagte mit kaum verhohlenem Unmut: »Nichts liegt mir ferner als in Eure Vollmachten eingreifen zu wollen, hochwürdiger Abt, aber da Ihr mit dem Hintergrund dieser Un-tersuchung wenig vertraut seid, erscheint es mir ratsamer zu sein, wenn ich Euch die Durchführung abnehme. Wir ersparen uns damit viel Zeit und falsche Wege, denn was die erzbischöfliche Kurie zu erfahren wünscht, ist Euch verständlicherweise nicht so vertraut wie mir. Wenn Ihr also die Güte hättet mich die Fragen stellen zu lassen, wäre uns allen sehr gedient.«

»Nun, wenn Ihr meint, es sei der Sache dienlich, kann ich Euch den Wunsch natürlich nicht abschlagen.« Der Abt sah jedoch nicht sehr glücklich aus, als er dem arroganten Verlangen des Domherrn nachgab. Melchior von Drolshagen besaß aber wohl einen zu großen Einfluss am Hof der Mächtigen von Trier, als dass man ihn vor den Kopf hätte stoßen können.

»Ich weiß Euer Entgegenkommen zu schätzen, hochwürdiger Abt«, sagte der Domherr mit einem heuchlerischen Lächeln. Dann nahm er Jakob ins Visier und mit der scharfen, anklägerischen Stimme eines Mannes, der schon so manches Verhör geführt hatte, fragte er: »In welcher Beziehung habt Ihr zu Bruder Anselm gestanden? Und wie lange seid Ihr in seinen Diensten gewesen?«

»Beziehung?«, echote Jakob verständnislos. »Was meint Ihr mit Beziehung?«

»Weicht nicht meinen Fragen aus Jakob Tillmann!«, fuhr Domherr von Drolshagen ihn an. »Ihr wisst ganz genau, was ich damit meine! Und ich erwarte, dass Ihr auf meine Fragen ohne Zögern antwortet statt durch dreiste Gegenfragen vom Thema abzulenken und Euch Zeit zu verschaffen, um nach Ausflüchten und Wegen zu suchen, um einer wahrheitsgemäßen Antwort zu entgehen!«

Der vehemente Angriff brachte Jakob völlig durcheinander, war er sich doch keiner Schuld bewusst. »Aber ich weiß wirklich nicht, was Ihr mit der Frage gemeint habt«, beteuerte er.

Der Domherr funkelte ihn an und sagte mit zorniger Ungeduld zum Abt: »Entweder haben wir es hier mit einem geistlosen Tölpel zu tun oder aber mit einem gerissenen Burschen, der glaubt uns den einfältigen Dummkopf vorspielen zu können. Wie auch immer die Wahrheit aussehen mag, erweist mir den Gefallen, hochwürdiger Abt, und macht diesem Jakob Tillmann klar, wem er hier Rede und Antwort zu stehen hat!«

»Ganz wie Ihr wünscht«, antwortete der Abt. Dann sah er Jakob mit eindringlichem, ja fast schon flehentlichem Blick an, während er ihn aufforderte: »Seht von Gegenfragen ab, Jakob Tillmann, und beschränkt Euch darauf, die Fragen des hochwürdigen Domherrn unverzüglich und nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten. Dies ist eine ernste Angelegenheit, auch wenn Ihr nur als Zeuge damit zu schaffen habt, und der hochwürdige Domherr und Prälat ist mit den höchsten Befugnissen ausgestattet. Ich bin sicher, dass Ihr uns nach besten Kräften helfen wollt.«

Jakob nickte beklommen.

»Seid Ihr dann auch bereit beim Kreuz unseres allmächtigen Herrn und Erlösers, bei der erhabenen Muttergottes und allen Heiligen zu schwören, dass Ihr bereitwillig alles sagen werdet, was Ihr wisst und was Euch in Erinnerung geblieben ist?«

Jakob spürte, dass der Abt ihm helfen wollte und ihm eine goldene Brücke baute. »Ja, das will ich, das schwöre ich bei Gott, der Heiligen Jungfrau und allen Heiligen!«

»Dann sagt, von welcher Beschaffenheit Eure Bekanntschaft mit dem seligen Bruder Anselm war«, führte ihn der Abt sanft auf die ursprüngliche Frage zurück. »So wie ich unterrichtet bin, war sie doch wohl von nur sehr flüchtiger Natur, nicht wahr?«

»Ja, das ist richtig«, bestätigte Jakob hastig. »Ich stand nur drei Tage in seinen Diensten. Und ich habe auch nicht gewusst, dass er einst Abt gewesen ist, der seines Amtes enthoben worden war.«

»Aha!«, rief der Domherr triumphierend, als hätte er ihn bei einer schwerwiegenden Lüge ertappt, und stieß mit ausgestrecktem Zeigefinger nach ihm, als wollte er ihn aufspießen. »Nur drei Tage willst du in seinen Diensten gestanden haben, ja? Aber du weißt, wer er einst war!«

Jakob erschrak über seine Gedankenlosigkeit. »Das habe ich erst hinterher erfahren!«

»Das lässt sich leicht behaupten!«, rief der Domherr. »Zudem will es mir nicht einleuchten, dass ein junger Mann wie Ihr, der doch ganz offensichtlich mit leeren Taschen und fern der eigenen Heimat wie ein Tagelöhner übers Land zieht, einen vorgeblich einfachen und ihm unbekannten Mönch in scheinbar selbstloser Aufopferung tagelang durch Schnee und Eis schleppt!«

»Ihr stellt mich als Lügner und Landstreicher dar, doch nichts davon ist wahr!«, protestierte Jakob, zutiefst beleidigt von dem Bild, das der Domherr von ihm zeichnete. »Ich habe Bruder Anselm mein Wort gegeben, so wie er mir seines gegeben hat, dass ich für meine Dienste in Himmerod gebührend entlohnt würde, und ich halte mein Wort!«

»So, und was treibt ein Fuhrmann aus dem Rheinischen, der nicht einmal über ein Pferdefuhrwerk verfügt, sondern bloß einen lumpigen Karren sein Eigen nennt, in der Südeifel?«, wollte der Domherr wissen. »Wo seid Ihr eigentlich zu Hause?«

Jakob biss sich auf die Lippen und überlegte fieberhaft nach einer glaubwürdigen Antwort. Gut Schlehenbusch und die Gemeinde, zu der das heruntergebrannte Anwesen gehörte, wollte er auf keinen Fall nennen. Es ging niemand etwas an, wessen Kind er war und woher er kam. Aber eine Antwort geben musste er. Er erinnerte sich des Ortes, wo er mit der Fähre über den Rhein gesetzt war. »In einem kleinen Dorf bei Rodenkirchen.«

»Aha, aus dem Kölner Raum!« Auch das erschien dem Domherrn suspekt zu sein und seinen Argwohn zu nähren.

Der Subprior räusperte sich hinter Jakob vernehmlich und zog damit die Aufmerksamkeit des Domherrn auf sich. »Ja, Bruder Tarzisius?«

»Vermutlich ist es ohne jeden Belang, was mir in diesem Zusammenhang in den Sinn gekommen ist, aber hat sich nicht auch Bruder Anselm in den letzten Jahren überwiegend in dieser rheinischen Region aufgehalten?«, erinnerte der Subprior mit falscher Bescheidenheit.

»In der Tat!«, pflichtete ihm der Domherr bei. »Das gilt es zu bedenken!«

Jakob glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Unterstellten ihm die beiden Männer wirklich, er und Bruder Anselm hätten sich schon viel länger gekannt und wären fast so etwas wie Vertraute gewesen? Waren sie noch ganz bei Sinnen? Er hätte über diese lächerliche Posse gern laut aufgelacht, doch der bohrende, anklägeri-sche Blick des Domherrn ließ ihm das Lachen in der Kehle ersticken und zu einem würgenden Kloß werden.

»Das Leben ist voller Zufälle«, bemerkte der Abt trocken, um die Bedeutung des gehässigen Hinweises von Bruder Tarzisius zu entschärfen.

»Wo sich Häretiker und Wegbereiter des Antichrist die Hand zum teuflischen Bund reichen, ist von uns höchste Wachsamkeit und erbitterter Widerstand gefordert, hochwürdiger Abt! Allein durch Feuer und Blut ist die Ruchlosigkeit dieser Ketzer auszumerzen! Und nur wer in der Wachsamkeit nicht erlahmt und sich nicht täuschen lässt, kommt den raffinierten Werken des Teufels auf die Spur und vermag den Kräften der ewigen Verdammnis zu widerstehen«, erwiderte der Domherr zurechtweisend. »Und da lasse ich mich auch nicht von scheinbaren Zufällen in Sicherheit wiegen!«

Jakob musste unwillkürlich daran denken, mit welcher Inbrunst sich der feiste Domherr in seiner Zelle gegeißelt hatte. Bis aufs Blut hatte er sich ausgepeitscht. Und er ahnte in diesem Moment mit einem tiefen Erschauern, wozu der Domherr, der sich trotz seiner fraglosen Selbstgerechtigkeit schmerzhafter Bußübungen unterzog, wohl fähig war, wenn er jemanden einer wirklich schwerwiegenden Verfehlung für schuldig hielt. Oh ja, Domherr Melchior von Drolshagen gehörte zu jenen Leuten, die mit buchstäblich flammender Hingabe auf Feuer und Blut schworen, um alles gnadenlos auszumerzen und mit dem Rauch der Verbrannten zu Gott emporzuschicken, was sie für das Böse hielten.

Bestürzung zeichnete sich kurz auf dem Gesicht des alten, asketischen Abtes ab. »Ich stimme Euch im Prinzip selbstverständlich zu«, versicherte er, als hätte der Domherr ihm einen schwachen Glauben und ein noch kraftloseres Eintreten für die Wahrung der reinen Lehre vorgeworfen. »Nur scheint mir in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die Werke des Teufels nicht gerechtfertigt zu sein«, sagte er, um schnell absichernd hinzuzufügen: »Soweit ich dies aus meiner beschränkten Perspektive und meinem unvollständigen Wissensstand nach überhaupt beurteilen kann. Aber sosehr man den Auffassungen, die Bruder Anselm nachgesagt wurden, auch widersprechen mag, so sehe ich doch nichts, was es gerechtfertigen würde ihn mit den Werken des Teufels in Verbindung zu bringen oder gar in einem Atemzug mit Ketzern zu nennen.«

»Verzeiht, hochwürdiger Abt, dass ich es wage Euch und dem hochwürdigen Domherrn von meiner gänzlich unbedeutenden Überzeugung Kenntnis zu geben«, machte sich da wieder der Subprior bemerkbar, mit geheuchelter Demut in Wort und Haltung. »Aber hat nicht einer unserer großen Kirchenlehrer gesagt: >Nicht die Ungläubigen, deren offene Feindschaft gegen die heilige Kirche und der Pakt mit dem Antichrist, sind die wahre Gefahr für den reinen Glauben, sondern die Gläubigen, die vom rechten Pfad der reinen Lehre abweichen und die Lehren der Häretiker verbreitern?«

»Sehr wahr, Bruder Tarzisius!«, pflichtete ihm der Domherr bei, worauf der Subprior bescheiden den Kopf senkte, sich wieder setzte und die Hände gefaltet in den Schoß legte. »Ich hätte es nicht besser sagen können. Der Judas in den eigenen Reihen, der den Glauben verrät und dem Feind Tor und Tür öffnet, ist der echte Erzfeind, den es mit Stumpf und Stiel auszurotten gilt!«

Abt Ambrosius sah irritiert von seinem Subprior zum Domherrn. »Gewiss, dunklen Umtrieben in unseren eigenen Reihen muss entschieden entgegengetreten werden«, räumte er widerwillig ein. »Aber sollten wir uns nicht darauf besinnen, dass hier weder Bruder Anselm noch seine Auffassungen zur Debatte stehen, sondern dass wir nur hören wollen, was dieser einfache Mann über die kurze Zeit berichten kann, die er in seiner Gesellschaft verbracht hat?«

»Wer weiß, ob nicht das eine mit dem anderen zusammenhängt!«, erwiderte der Domherr und setzte die Befragung fort.

Jakob hatte Zeit genug gehabt sich seiner Situation bewusst zu werden. Er verstand plötzlich, warum Bruder Basilius ihn gedrängt hatte die Abtei so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Wieso der Mönch mit der Augenklappe gewusst hatte, dass der Domherr umgehend nach Himmerod kommen und ihn einem peinlichen Verhör unterziehen würde, hatte ihn im Augenblick genauso wenig zu interessieren wie das, was man Bruder Anselm vorwarf.

Entscheidend war im Moment nur, dass der Domherr ein ebenso mächtiger wie gefährlicher Mann war. Und wo die erschreckenden Worte »Ketzerei« und »Judas« aus dem Mund eines religiösen Eiferers vom Rang eines Prälaten und erzbischöflichen Beraters kamen, da galt es auf der Hut zu sein und jedes Wort dreimal gut abzuwägen, wenn einem etwas an seinem Leben lag!

Der Domherr setzte ihm heftig zu, als Jakob ihm von seinen drei Tagen mit Bruder Anselm berichtete und standhaft beteuerte nicht zu wissen, wo sich der Mönch vorher aufgehalten hatte. Denn dieser Punkt schien den Domherrn besonders zu interessieren, wie er auch immer wieder nach Papieren, geheimen Aufzeichnungen und Protokollen fragte.

»Mein Herr, von alldem weiß ich nichts!«, erklärte Jakob zum wiederholten Mal. »Bruder Anselm hat mir gegenüber kein Wort darüber verloren. Er war krank, fieberte und hat einen Rosenkranz nach dem anderen gebetet!«

Domherr von Drolshagen ließ nicht locker. »Aber Ihr habt doch beispielsweise am ersten Tag gemeinsam um ein Feuer gesessen, wie Ihr berichtet habt.« Er machte eine herrische Bewegung in Richtung seines Sekretärs und befahl: »Coppeldiek, lest ihm die Stelle vor!«

»Sehr wohl, Hochwürden!« Laurentis Coppeldiek legte die Feder aus der Hand und blätterte eifrig in seinen Papieren. »Ah ja, hier ist es. Fragt Hochwürden: >Wann habt Ihr das nächste Mal ein Gespräch mit Bruder Anselm geführt? Und ich warne Euch, mich noch einmal mit einer so dürftigen Antwort abspeisen zu wollen! Ich will jedes Detail wissen, und Ihr tut besser daran, Euch derer zu erinnern< Antwortet Jakob Tillmann: >Als wir um die zweite Mittagsstunde eine Rast und ein Feuer entzündet haben, um uns aufzuwärmen. Aber da...<«

»Das genügt! Es ist nicht nötig ihm Wort für Wort in Erinnerung zu rufen, was er vorhin zu Protokoll gegeben hat«, unterbrach ihn der Domherr. »Wir werden ja sehen, ob er sich in Widersprüchen verfängt. Also haltet alles gewissenhaft mit Eurer Feder fest, Coppeldiek!«

»Mir entgeht nicht ein Wort, Hochwürden!«, versicherte der Sekretär. »Auch nicht Seufzen oder Zaudern!«

Jakob spürte kalten Schweiß auf der Stirn und musste an sich halten ihn nicht mit dem Handrücken abzuwischen. Ihm war, als wären die tiefen Schatten im Kapitelsaal noch länger und dunkler geworden. Dämmerte schon der Abend herauf? Ihm kam es vor, als wäre er nun schon mehrere Stunden den bohrenden Fragen des argwöhnischen Domherrn ausgesetzt. Er hatte völlig das Gefühl für die Zeit verloren.

Domherr von Drolshagen starrte nun Jakob wieder mit durchdringendem Blick an. »Also, redet, Mann! Was habt Ihr und Bruder Anselm miteinander gesprochen, als Ihr um das Feuer saßet und es Euch gut gehen ließet?«

»Es ging uns gar nicht gut, hochwürdiger Domherr, wie ich es schon einmal gesagt habe«, antwortete Jakob. »Bruder Anselm machte auf mich einen sehr kranken, ja geradezu erbärmlichen Eindruck. Und ich versuchte ihn zu bewegen die Reise nach Himmerod nicht fortzusetzen, sondern einen Doctor aufzusuchen und sich Ruhe zu gönnen. Ich schlug vor ihn nach Mayen zu bringen, konnten wir diesen Ort doch noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen, wenn wir uns sputeten. Doch er wollte nicht und bestand darauf, dass er nach Himmerod und nirgendwohin sonst wollte. Das ist alles, was wir miteinander geredet haben.«

Der Domherr lief nun zornrot an. »Es kann einfach nicht angehen, dass Ihr sonst nichts miteinander geredet habt, Bursche! Ihr habt nicht nur um ein Feuer gesessen, Ihr habt auch in zwei Nächten das Zimmer eines Gasthofes geteilt! Ihr habt an einem Tisch gesessen, Ihr habt die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen, Herr im Himmel, Ihr habt drei lange Tage und Nächte miteinander verbracht!«, donnerte er aufgebracht. »Und Ihr wollt mir erzählen, Bruder Anselm hätte nur gebetet und sich sonst stumm wie ein Fisch verhalten? Ihr lügt mich an, Bursche!«

Jetzt platzte auch Jakob der Kragen. »Hätte ich gewusst, dass man mich später einem solchen Verhör unterziehen würde, hätte ich ihm gewiss tausend Fragen gestellt und ihm keine Ruhe gelassen, bis ich alles aus ihm herausgelockt hätte!«, antwortete er mit grimmigem Sarkasmus. »Aber vielleicht wäre ich dann auch erst gar nicht so dumm gewesen diesen kranken Mann auf Kosten meiner Knochen bei Eis und Schnee nach Himmerod zu schleppen. Ich hätte ihn dann nicht mal für einen Beutel Goldtaler auf meinen Karren gelassen! Das schwöre ich genauso bei Gott, der Heiligen Jungfrau und allen Heiligen, wie ich schwöre nichts von dem zu wissen, was Euch zu erfahren drängt!«

Erregt sprang der Domherr von seinem Lehnstuhl auf. »Wie könnt Ihr es wagen in diesem dreisten Ton mit mir zu reden, Bursche?«, herrschte er ihn an. »Ich besitze die Autorität Euch einer ganz anderen Art der Befragung zu unterziehen, nämlich einer peinlichen auf dem Turm! Und ich versichere Euch, dass sie weniger gemütlich ausfällt als diese Befragung hier!«

Jakob verstand den Hinweis auf die Inquisition unter der Folter und erblasste.

Abt Ambrosius griff nun ein, sichtlich verärgert und am Rand seiner Geduld. »Eure. löbliche Absicht im Kampf gegen den Unglauben und die Werke des Teufels die reine Lehre zu schützen, in allen Ehren, hochwürdiger Domherr. Und Ihr könnt meiner Unterstützung in jedem berechtigten Fall gewiss sein! Aber was diesen jungen Mann betrifft, der sich unseres Wissens nach nichts hat zu Schulden kommen lassen, so besteht wahrhaftig kein Grund ihm zu misstrauen und an seinem Wort zu zweifeln, geschweige denn ihm mit anderen Formen der Befragung zu drohen!«

Der Domherr lief im Gesicht hochrot an. »Ich darf Euch doch wohl erinnern, hochwürdiger Abt, dass Eure Pflicht gegenüber.«

Weiter kam er nicht, denn hier fiel ihm der Himmeroder Abt mit selbstbewusstem, kühlem Tonfall ins Wort. »Ich lasse mich ungern an meine Pflichten erinnern, nachdem ich dieser Abtei im dreiundzwanzigsten Jahr vorstehe! Ich habe mehr als einem Erzbischof und Papst meine Loyalität und meine uneingeschränkte Hingabe an die Bewahrung der reinen Lehre unseres Herrn Jesu Christi bewiesen!«

Es war, als hätte Abt Ambrosius nun genug davon, in seiner eigenen Abtei, in der er und sein Konvent aufgrund verbrieften Rechts über jeder weltlichen Gerichtsbarkeit standen und nur dem Generalkapitel von Citeaux in Frankreich verantwortlich waren, einem Kleriker aus Trier das Sagen und Regieren zu überlassen. Der Erzbischof und die Kurie mochten erschreckende Macht besitzen und sich im Laufe der Jahrhunderte widerrechtlich immer größeren Einfluss auf die Klöster in ihrer Diözese verschafft haben. Aber der im Amt ergraute Abt Ambrosius dachte nicht daran, sich das Zepter beziehungsweise den Krummstab hinter den Mauern seiner eigenen Abtei völlig aus der Hand nehmen zu lassen.

Und so sagte er mit fester Stimme, die keinen Widerspruch duldete: »Der junge Fuhrmann Jakob Tillmann hat nach Lage der Dinge in völliger Unkenntnis der Person und seiner religiösen Überzeugungen unserem Bruder Anselm einen Akt der Barmherzigkeit erwiesen, indem er ihn bei Nacht und Sturm in unsere Abtei gebracht hat. Deshalb sehe ich keine Veranlassung ihn noch länger mit Fragen zu beschweren, die ihm nun schon dreimal gestellt worden und von ihm stets auf dieselbe Weise beantwortet sind, wie Euer fleißiger Sekretär durch seine Mitschriften ja wohl bestätigen kann! Und nun bitte ich Euch mich und Bruder Tarzisius zu entschuldigen. In wenigen Minuten ruft die Glocke zur Vesper. Und ich bin sicher, dass Ihr diese ebenso wenig zu versäumen wünscht wie ich.« Er lächelte verbindlich. »Denn Gottes unermessliche Größe und Barmherzigkeit zu preisen, das ist es doch, dem wir unser Leben geweiht haben, nicht wahr?«

Der Domherr rang sichtlich mit der Wut, die in ihm kochte wie in einem glutheißen Waschkessel und die sein Gesicht mit einer puterroten Farbe überzog. »Also gut, belassen wir es vorerst dabei und gehen wir zur Vesper!«, stieß er schließlich hervor, wobei die Betonung auf dem Wort »vorerst« lag. »Ich möchte mir jedoch das Recht ausbitten, dass dieser Jakob Tillmann in seiner Zelle bleibt und mir zu einerweiteren Befragung zur Verfügung steht, nachdem ich im Anschluss an die Vesper mit Euch unter vier Augen ein Gespräch geführt habe.«

»Ihr meint, vorausgesetzt, es gelingt Euch mich von der Notwendigkeit einerweiteren Befragung zu überzeugen«, schränkte der Abt sofort ein.

Der Domherr nickte knapp.

Abt Ambrosius überlegte kurz und zuckte dann mit den Achseln. »Nun, ich wüsste nicht, was dagegen einzuwenden wäre«, sagte er und bedachte Jakob mit einem beruhigenden Blick. »Bei diesem unfreundlichen Wetter werdet Ihr wohl kaum etwas dagegen haben, Euch nach der Vesper noch eine Weile in Eurer Zelle aufzuhalten, bis ich Euch Bescheid gebe, welchen Ausgang mein Gespräch mit dem hochwürdigen Domherrn genommen hat, nicht wahr?«

Jakob verzog das Gesicht. Wo sollte er bei dem Wetter auch hin? Er saß wie ein Gefangener im Kloster fest, das wusste doch jeder, der einen Blick nach draußen warf! »Wenn das Euer Wille ist, soll es so sein«, sagte er respektvoll und wagte dann die Frage: »Aber darf ich darauf hoffen, dass Ihr bei passender Gelegenheit auch einen Gedanken auf den mir versprochenen Lohn für meine Mühen verwendet, hochwürdiger Abt?«

»Ihr habt mein Wort!«, versprach dieser, erhob sich und verließ in würdevoller Haltung den Kapitelsaal.

»So ist das mit Schlangengezücht!«, murmelte Bruder Tarzisius verächtlich. »Wenn man ihm nicht gleich das Haupt abschlägt und es unerbittlich ausmerzt, verspritzt es sein Gift, windet sich davon und verkriecht sich im Gehölz!«

Der Abt konnte diese Bemerkung nicht mehr hören, weil er schon den Kreuzgang hinunterging. Jakob dagegen verstand jedes einzelne Wort, als hätte der Subprior ihm direkt ins Ohr gesprochen. Er hütete sich jedoch sich umzudrehen, geschweige denn etwas darauf zu erwidern. Raubtiere, die nach Blut dürsteten und schon ihre Krallen gewetzt hatten, sollte man nicht noch reizen, wenn man nicht jede Chance verspielen wollte ihnen zu entkommen!

Elftes Kapitel

Jakob befand sich schon auf dem Weg ins Obergeschoss, um sich in seiner Zelle zu verschanzen und den Bescheid des Abtes abzuwarten, als ihm einfiel, dass dieser ihm ja das Versprechen erst für die Zeit nach der Vesper abgenommen hatte.

Er blieb auf halber Treppe stehen, starrte auf das stürmische Schneetreiben hinaus und überlegte kurz, was er tun sollte - besser gesagt, was er tun konnte. Denn groß war die Auswahl seiner Möglichkeiten wahrlich nicht. Er konnte versuchen sich während der Vesper aus dem Kloster zu schleichen, was ihm vermutlich gelingen würde. Aber bei dem Wetter befand er sich da draußen in noch größerer Gefahr als in den Mauern der Abtei, wo der Abt die maßgeblichen Entscheidungen fällte. Und dieser hatte ihm wie auch dem anmaßenden Domherrn doch gerade unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er, Jakob Tillmann, sich nichts hatte zu Schulden kommen lassen. Demnach war er in der Abtei also um ein Mehrfaches sicherer als jenseits der Mauern, vom Wetter einmal ganz abgesehen!

Diese Überlegung beruhigte Jakob und gab ihm neues Selbstvertrauen. Der habichtgesichtige Domherr hatte ihm im Verbund mit Bruder Tarzisius, diesem aalglatten Ehrgeizling, einen gehörigen Schrecken eingejagt. Aber er hatte die Feuerprobe überstanden und konnte sich jetzt, unter der ausdrücklichen Protektion des Abtes, wieder sicher fühlen.

Seine Gedanken gingen nun unwillkürlich zu Bruder Basilius und dem Schweden. Sie waren die Einzigen, mit denen er über das beunruhigende Verhör sprechen konnte. Bisher waren sie in ihren Auskünften, was das Geheimnis des Mönches Anselm von Picoll betraf, zwar so hilfreich gewesen wie ein löchriger Wasserkessel. Aber vielleicht ließen sie sich jetzt dazu bewegen, Licht in das Dunkel zu bringen und ihm zu verraten, in was für eine gefährliche Auseinandersetzung er da ahnungslos hineingeraten war.

Jakob schlich sich in die Abteikirche. Er sah, dass Bruder Basilius bei seinen Ordensbrüdern im Chorgestühl stand und dass der Domherr wieder den Ehrenplatz neben dem Abt eingenommen hatte. Den Schweden konnte er in der Basilika jedoch nicht entdecken.

Henrik Wassmo musste also woanders stecken und das bedeutete, dass er sich in das ungemütliche Schneegestöber hinausbegeben musste, wenn er ihn finden wollte. Er schlug den Kragen seines Umhangs hoch und hastete mit gesenktem Kopfüber den sturmgepeitschten Hof.

Die beiden wortkargen Konversen in der Schmiede sagten ihm, wo er den Schweden vielleicht finden konnte: »Werft mal einen Blick in die Sattelkammer!«

»Die Schankstube vor dem Tor ist auch kein schlechter Ort, wenn man nach dem Schweden sucht«, meinte der andere.

Der Gang zur Wirtschaft vor den Mauern der Abtei blieb Jakob erspart. Er fand den Schweden in der geräumigen Sattelkammer, in der es intensiv nach Pferd, altem Leder und Wichse roch. Henrik Wassmo saß neben einem mit glühender Holzkohle gefüllten Kohlebecken auf einem Stoß Decken - und schärfte im Licht einer Laterne mit einem granitfarbenen Schleifstein die lange, blitzende Klinge eines Degens. Rechts von ihm, auf einer alten großen Haferkiste, lagen eine schwere Armbrust aus einem rötlichen Holz sowie vier nicht ganz armlange Pfeile. Jakob staunte nicht schlecht.

»Kommt rein oder bleibt draußen, schließt aber in jedem Fall die Tür!«, forderte ihn der Schwede auf, ohne in seiner Arbeit innezuhalten.

Jakob schloss hastig die Tür, durch die der Wind pfiff und Schnee in die Kammer trieb. »Habt Ihr was dagegen, wenn ich Euch für einen Moment Gesellschaft leiste?«

Der Schwede zog den Schleifstein mit gleichmäßigem Andruck über die Klinge, während er trocken antwortete: »Mich verlangt es nicht nach Gesellschaft, aber wenn Euch danach zumute ist, soll es mir recht sein.«

Jakob sah sich nach einem Sitzplatz um und hockte sich dann auf die Haferkiste. »Darf ich?«, fragte er und deutete auf die Armbrust. Sie besaß zwei eiserne Spannfedern. »Ich habe noch nie eine Armbrust in der Hand gehalten. Ich verspreche Euch, auch nicht an der Spannvorrichtung herumzuspielen.«

Der Schwede zuckte mit den Achseln. »Nur zu, nehmt sie in die Hand. Und wenn Ihr sie spannen könnt, gehört sie Euch - zusammen mit einem Golddukaten!«

Jakob lachte und griff nach der klobigen Waffe. Sie war schwerer als gedacht. Und als er sich nun mühte die Eisenfedern zu spannen und den Schlitten zurückzuziehen, da schoss ihm vor Anstrengung das Blut ins Gesicht und der Schweiß brach ihm aus. Es gelang ihm nicht. »Heiliges Pulverfass, dabei bricht man sich ja die Arme ab!«, stöhnte er und gab es auf.

Ein schwaches Lächeln kräuselte die Lippen des Schweden. »Eine Armbrust, die ein junger Spund wie Ihr schon spannen könnt, taugt so viel wie eine undichte Zisterne, die das Wasser nicht halten kann!«, spottete er.

»Sicherlich ist bloß ein Trick dabei«, erwiderte Jakob und legte die Armbrust zurück. Er fühlte sich von den Worten des Schweden nicht gekränkt, sondern eher belustigt. Henrik Wassmo mochte einige Macken und einen dazu passenden, recht eigenartigen Humor haben, aber er war ihm nicht übel gesinnt, das spürte er.

»Wenn Ihr es sagt, wird es wohl so sein.«

Jakob nahm einen der fast armlangen Pfeile auf. Die gezackte Eisenspitze, groß wie sein Daumen, steckte auf einem hölzernen Schaft mit einem dreifach gefiederten Ende. Die Spitze war scharf wie eine Nadel und ohne den kleinsten Rostflecken. Makellos waren auch die Federn sowie das Holz des Schaftes, das wie ein edles Möbelstück glänzte, das jeden Tag poliert wurde.

»Was ist das für ein Holz?«

»Gebeizte Roteiche.«

»Mhm«, machte Jakob. »Und was sagt Bruder Basilius dazu?«

»Ich glaube, er ist mehr ein Freund von Linden und Weiden.«

Jakob wusste, dass Henrik Wassmo ihn vorsätzlich missverstand und sich über ihn lustig machte. »Das habe ich nicht damit gemeint und das wisst Ihr.«

»Man soll immer sagen, was man meint, wie man auch meinen soll, was man sagt«, entgegnete der Schwede.

»Das müsst ausgerechnet Ihr sagen, der Ihr mehr meint, als Ihr sagt, und ein Vielfaches davon wisst!«, hielt Jakob ihm vor.

»Ich sage, was ich meine, dass Ihr wissen sollt - was zweifellos nicht immer das ist, was Ihr von mir zu hören wünscht.«

Jakob seufzte. »Schon gut, ich krieche ja zu Kreuze und gebe klein bei. Also, was sagt Bruder Basilius dazu, dass Ihr als sein Begleiter wie ein Landsknecht Waffen mit Euch herumschleppt? Hat er sich denn als Mönch nicht ganz dem Gebet und der Nächstenliebe verschrieben?«, fragte er mit leichtem Spott.

»Macht ohne Liebe wird zur Tyrannei - und Liebe ohne Macht zu rührseliger Hilflosigkeit«, antwortete Henrik Wassmo und prüfte mit der Daumenkuppe die Schärfe der Klinge.

»Und Bruder Basilius sieht das auch so?«, wunderte sich Jakob.

»Ihr habt mich gefragt und ich habe allein für mich gesprochen.

Bruder Basilius mag die Dinge anders sehen. Das hindert mich jedoch nicht daran, an meiner Überzeugung festzuhalten. Und außerdem: Wenn der Jäger kommt, flieht der Tiger mit dem Reh.«

Jakob lachte. »Ihr habt das Geschick Euch mit Euren Antworten wie eine Schlange zu winden, die man einfach nicht zu packen bekommt!« Aber sogleich wurde er wieder ernst, als er sich darauf besann, warum er eigentlich gekommen war. »Da wir gerade von Schlangen reden: Der Domherr hat mich im Kapitelsaal im Beisein von Abt Ambrosius und Bruder Tarzisius einem regelrechten Verhör unterzogen und diese Spitzmaus von Sekretär hat jedes Wort zu Protokoll genommen.«

»So?« Henrik Wassmo schien nicht sonderlich überrascht.

»Wenn ich mich nicht täusche, wisst Ihr und Bruder Basilius ja schon lange, welch übles Spiel in diesen Mauern getrieben wird -und was das plötzliche Auftauchen des vornehmen Domherrn zu bedeuten hat. Ist es nicht so?«

Der Schwede schaute ihn scheinbar gleichmütig an. »Man kann nicht seinen Nächsten trauen, denn ihnen glauben heißt: verkauft sein und verloren.«

»Kommt mir nicht immer mit Euren Psalmen, wenn ich etwas wirklich Wichtiges von Euch zu erfahren wünsche!«, sagte Jakob ärgerlich. »Statt mir zu helfen und mich aufzuklären, in welch dunkle Machenschaften ich völlig ohne mein Wissen und Wollen geraten bin, verschanzt Ihr Euch hinter rätselhaften Psalmversen und lasst mich ins offene Messer dieser feinen Kirchenmänner laufen.«

»Seid Ihr nicht gewarnt worden?«, fragte der Schwede zurück, unbeeindruckt von Jakobs Vorwurf.

Jakob verzog schuldbewusst das Gesicht. »Schon, aber wie konnte ich denn ahnen, dass man mich in Verbindung mit Ketzerei und Werken des Teufels bringen würde! Und genau diese Worte sind gefallen! Bruder Anselm hat sich wohl etwas Schreckliches zu Schulden kommen lassen und jetzt stecke ich bis über die Ohren mit in dem Schlamassel, ohne jedoch auch nur einen schwachen Schimmer davon zu haben, worum es überhaupt geht! Der Domherr hat mir sogar mit einem verschärften Verhör gedroht. Und Ihr wisst, was das heißt: Folter!«

Der Schwede nickte. »Sie tragen den Rabenmantel der Finsternis. Doch wie Mond erlischt in Wolken, so gehen die Ruchlosen unter. Der Herr wird richten das Tribunal, jene, die unter dem Schein des Rechtes Böses stiften«, sagte er, hob mit der linken Hand einen Strohhalm vom Boden auf und machte mit dem Degen eine kurze, blitzschnelle Bewegung. Die rasiermesserscharfe Klinge schnitt den Halm in zwei gleich große Stücke.

»Ihr. Ihr habt gut reden«, sagte Jakob, halb bewundernd und halb erbost. »Ihr wisst vermutlich bis ins Kleinste, worum es geht, was sich Bruder Anselm hat zu Schulden kommen lassen und was das erschreckende Gerede von Ketzerei und Werken des Teufels zu bedeuten hat. Ich dagegen tappe im Dunkeln und verfange mich vielleicht noch in der Schlinge des Domherrn, weil ich nicht weiß, worum es geht und worauf ich zu achten habe! Ihr lasst mich völlig schutzlos in mein Verderben rennen!«

»Ihr irrt!«, widersprach der Schwede und schob den Degen in eine verbeulte Blechscheide. »Eure Unwissenheit ist Euer größter Schutz. Je mehr Ihr nämlich wisst, desto größer wäre Eure Angst -und Angst riechen und verfolgen Männer wie der Domherr, so wie ein Raubtier eine blutige Fährte aufnimmt und ihr folgt, bis es sein angeschlagenes Opfer gestellt und zu Tode gebracht hat!«

Jakob schluckte schwer. »Eure Worte sind aber auch nicht gerade dazu angetan, mir Mut zu machen!«

Der pockennarbige Schwede warf ihm einen bedauernden Blick zu. »Menschenmacht allein vermag da nichts, wir siegen nur mit Gottes Kraft im Bunde.«

Bevor Jakob etwas erwidern konnte, wurde die Tür zur Sattelkammer aufgerissen. Bruder Basilius, vom Laufen ganz außer Atem und mit vor Kälte gerötetem Gesicht, lehnte sich gegen den Rahmen. Seine schäbige Kutte wehte im Wind, umwirbelt von Schneeflocken.

»Sie haben ihn gefunden!«, stieß er hervor.

»Wen?«

»Den Novizen Dominik. Er ist tot!«

Zwölftes Kapitel

Der tote Novize lag im Kellergewölbe eines der Wirtschaftsgebäude, das den Klosterbrüdern als Vorratslager diente. Mehl, Butter, Öle, Schmalz und Sirup, abgefüllt in verschieden großen und schweren Fässern, lagerten in den Räumen bis unter die Decke. Die Fässer, auch die leeren, ruhten in dreistöckigen Stellagen aus schweren Bohlen. Eines von diesen Regalen aus alten Kanthölzern war zusammengebrochen, hatte eine schmale Trennwand aus Backstein zum Einsturz gebracht- und den Novizen unter sich begraben.

Bruder Anton hatte ihn gefunden, als er sich nach der Vesper ins Lagerhaus begeben hatte und in den Keller hinuntergestiegen war, um ein neues Fass Schmalz zu holen.

Die Betroffenheit unter den zusammengelaufenen Klosterbrüdern war groß, als sie sahen, dass dem Novizen nicht mehr zu helfen war. »Die schweren Fässer haben ihn erschlagen und ihm wohl jeden Knochen im Körper gebrochen!«, stellte der Krankenbruder erschüttert fest, als sie den übel zugerichteten Körper des jungen Mannes endlich aus den Trümmern gezogen hatten. Das Gesicht war eine entsetzliche, blutige Masse.

Jakob war dem Schweden und Bruder Basilius in das Kellergewölbe des Lagerhauses gefolgt und dort in einer dunklen Ecke auf eines der halb leeren Regale geklettert, weil er von da aus alles im Blick hatte. Beim Anblick der Leiche wurde ihm ganz flau zu Mute und Erinnerungen an noch grässlichere Bilder stiegen in ihm auf.

»Was er bloß hier unten gewollt hat?«, rätselte Bruder Anton. »Und wie ist er überhaupt ins Haus gekommen? Ich bin mir absolut sicher die Tür gut abgeschlossen zu haben. Und es gibt nur zwei Schlüssel. Den einen trage ich stets bei mir und den zweiten hält der Vater Abt unter Verschluss. Also, wie um alles in der Welt.«

»Ihr werdet eben doch nicht abgeschlossen haben«, fiel ihm Bruder Tarzisius mit rauer, zitternder Stimme ins Wort. Ihm ging der Tod des Novizen offenbar sehr nahe, war er doch im Gesicht so weiß, als wäre er in einen Sack Mehl gefallen. »Außerdem tut es jetzt nichts mehr zur Sache, Bruder Anton. Der junge Dominik ist tot. Was auf Erden an Gutem wie an Schlechtem in seinem Leben war, wird nun im Himmel gewogen. Möge der Herr seiner Seele in gnädiger Barmherzigkeit Einlass in die ewige Herrlichkeit gewähren!«

»Amen«, kam es von den Mönchen und Konversen, die sich gegenseitig auf die Füße traten, im Chor.

Jakob bemerkte Rutger Mundt auf der Treppe. Mit ausdrucksloser Miene blickte er über das Gedränge hinweg, während er auf etwas kaute. Dann spuckte er etwas Weißes aus, das wie ein Stück Knorpel aussah, pulte mit einem Kienspan in seinen Zähnen, wandte sich um und verschwand wieder nach oben.

»Tretet zur Seite und lasst die Brüder mit der Totenbahre durch!«, rief der Prior.

»Wohin sollen wir ihn bringen, Bruder Pinius?«

»Säubert ihn und bahrt ihn dann in der Kapelle auf!«,wies der Prior sie nach kurzem Überlegen an. »Wir müssen seine Eltern benachrichtigen.«

Der Leichnam des Novizen wurde auf die Totenbahre gelegt, mit einem Tuch gnädig zugedeckt und dann aus dem Kellergewölbe getragen, das sich nun im Handumdrehen leerte.

Einer inneren Eingebung folgend, kletterte Jakob nicht vom Balkengerüst, sondern harrte dort oben noch eine Weile aus, hörte er doch die Stimme von Bruder Basilius, der mit Bruder Anton, dem Küchenbruder, redete. Sein Gefühl sagte ihm, dass der Mönch mit der Augenklappe und der Schwede gleich zurückkommen würden.

Und so geschah es auch.

Die beiden Männer kamen schon im nächsten Moment die Treppe herunter. ». zu viele Ungereimtheiten, als dass ich an einen simplen Unfall glauben könnte«, hörte er Bruder Basilius sagen, während sie unter ihm vorbei und zum Ende des Gewölbes gingen, wo ein Trümmerhaufen aus Backsteinen, geborstenen Balken und mehreren aufgeplatzten Fässern den Boden bedeckte.

»Ja, so sehe ich es auch«, stimmte ihm der Schwede zu. »Außerdem ist er auch nicht hier zu Tode gekommen!«

Jakob hätte beinahe einen scharfen Laut der Überraschung von sich gegeben, vermochte sich aber noch zu beherrschen. Dominik war nicht hier im Keller gestorben? Ja, aber wo dann? Und wieso hatte man ihn an diesem Ort gefunden?

»Ihr sagt es, Henrik. Seht Euch doch nur die Blutlache an!«, forderte Bruder Basilius ihn auf und kniete sich an der Stelle nieder, wo der Leichnam des Novizen gelegen hatte. »Nicht viel größer als eine Handfläche!«

Der Schwede stieß ein grimmiges Schnauben aus. »Unmöglich! Habt Ihr allein sein Gesicht gesehen? Bei den vielen Wunden muss er wie ein Schwein geblutet haben. Aber von all dem Blut ist hier nichts zu finden.«

»Was mich nicht im Mindesten überrascht.«

»Nein, mich auch nicht«, pflichtete ihm der Schwede düster bei. »Denn der Unglückliche ist vermutlich weit von diesem Kellergewölbe entfernt gestorben - und weit langsamer, als dieses Szenario glauben machen will!«

Jakob hielt den Atem an und lauschte mit wachsendem Entsetzen den Stimmen der beiden Männer. Wenn es kein Unfall gewesen war, dann blieb doch nur noch eine Möglichkeit und die hieß. Oh Gott, nein!

Bruder Basilius zog ein Balkenstück unter einem aufgeplatzten Fass hervor. »Wie auch die massive Stellage nicht auf Grund eines morschen Balkens plötzlich eingestürzt ist! Hier, kommt mit der Laterne her und werft doch mal einen Blick auf die Bruchstelle!«

Der Schwede hob die Laterne an. »Bruchstelle? Von wegen! Der Balken wurde angesägt und dann aus sicherer Entfernung mit einem Seil mutwillig eingerissen - um den ruchlosen Mord an dem Novizen als Unfall zu tarnen!«, stieß er zornig hervor.

Mord! Jakob erstarrte, während ein eisiger Schauer durch seinen Körper lief. Der Schwede und Bruder Basilius waren überzeugt, dass Dominik ermordet worden war!

»Der Fuchs wechselt den Balg, aber nicht die Sitten.«, sagte Bruder Basilius erbittert und warf das Balkenstück zu den Trümmern zurück. »Mein Gott, ich hätte nie gedacht, dass sie sich an dem jungen Novizen vergreifen würden. Was kann er denn schon gewusst haben? Wenn ich geahnt hätte.« Er brach ab, schüttelte müde den Kopf und wandte sich um. »Lasst uns gehen, Henrik. Ich möchte für den Unglücklichen beten. Das ist das Einzige, was ich jetzt noch für ihn tun kann.«

»Und dann?«, fragte der Schwede knapp, als wartete er auf den Befehl zu seinen Waffen zu greifen und den Mord zu rächen.

»Wir treffen uns zur Komplet, wenn alle in der Basilika sind, in der Kapelle!«, antwortete Bruder Basilius. »Und dann müssen wir uns etwas ausdenken, um diesen Unglücksraben Jakob Tillmann verschwinden zu lassen!«

»Ja, das müssen wir wohl«, stimmte ihm der Schwede mit einem schweren Seufzen zu und stiefelte hinter ihm die Treppe hoch. Das Laternenlicht kroch mit ihnen die Stufen hoch und ließ das Gewölbe wieder in pechschwarze Dunkelheit versinken.

Mit wild schlagendem Herzen und zugleich wie gelähmt, kauerte Jakob auf dem Regal, gegen ein Fass gepresst, dem ein intensiver süßlicher Geruch entströmte. Nicht nur, dass der Novize Dominik keinem tragischen Unfall zum Opfer gefallen, sondern ermordet worden war. Nein, jetzt sollte es auch ihm an den Kragen gehen! Zumindest musste er damit rechnen, dass Bruder Basilius und der Schwede irgendetwas ausheckten, das ihm ganz und gar nicht gefallen würde. Und dabei hatte er geglaubt ihnen trauen zu können. Aber sie waren wohl selbst zu tief in diese finsteren Machenschaften verstrickt, die zum Mord an dem Novizen geführt hatten.

Längst war oben die schwere Tür zugefallen, als Jakob endlich von der Stellage herunterkletterte, sich im Dunkel zur Treppe tastete und nach oben schlich. Auch hier vermochte er nicht einmal die eigene Hand vor Augen zu sehen. Mehrfach stieß er schmerzhaft gegen Kisten und Wände. Es dauerte eine ganze Weile, bis er den Weg zur Tür gefunden hatte, und es verwunderte ihn nicht sie von außen verschlossen vorzufinden. Er suchte nun das nächste Fenster, das, ganz wie erwartet, nur von innen verriegelt war. Vorsichtig schob er die Riegel zurück, öffnete die Holzläden einen Spalt und spähte hinaus. Er musste beide Schlagläden festhalten, damit der böige Wind sie nicht laut gegen die Wände schlagen ließ.

Der Schnee fiel noch immer mit unverminderter Heftigkeit und hüllte die Abtei in ein weißes windgepeitschtes Treiben, in dem alle Gebäude ihre festen Konturen zu verlieren schienen. Kein Wunder, dass niemand bemerkt hatte, dass jemand die Leiche des Novizen in das Lagerhaus geschleppt hatte. Wer sich im Freien aufhalten musste, ging mit hochgeschlagener Kapuze und mit vor dem Wind tief geneigtem Kopf und war sogar aus der Nähe nur als schemenhafte Gestalt zu erkennen. Ein perfektes Wetter für den Mörder!

Es war niemand zu sehen und so sprang Jakob beherzt aus dem Fenster in die Schneewehe vor der Hauswand. Das augenblickliche Knallen der Schlagläden im Wind erschien ihm so erschreckend laut, dass er meinte, jeden Moment müssten Mönche und Konversen aus allen Richtungen zusammenlaufen und ihn auf frischer Tat ertappen.

Doch niemand tauchte aus den weißen, wirbelnden Schleiern auf und verstellte ihm den Weg, als er über den Hof rannte. Unangefochten erreichte er das Konventsgebäude, riss die Tür auf und hetzte die Treppe hoch. Auch auf dem Gang zu seiner Zelle begegnete ihm niemand. Eine tiefe, trügerisch friedvolle Stille lag über der Abtei, die in ihren Mauern einen skrupellosen Mörder beherbergte.

In seiner Zelle schlug Jakob hastig den Schnee von seinem Umhang und wischte ihn sich aus dem Haar. Nachdem er den schweren Stein vor die Tür geschoben hatte, sank er auf seine harte Lagerstatt und versuchte zu einem klaren Gedanken zu kommen. Zu viel ging ihm durch den Kopf. Fragen über Fragen wirbelten wie die Schneeflocken in ihm durcheinander.

Wer war der Mörder? Und weshalb hatte der Novize sterben müssen? Wo hatte man ihn ermordet? Wen hatte Bruder Basilius wohl mit dem Fuchs gemeint, der den Balg wechselte, aber nicht die Sitten? Welch entsetzliche Verfehlungen mochte Bruder Anselm bloß begangen haben, um Auslöser all dieser schrecklichen Geschehnisse zu sein? Und welch dunkles Geheimnis hatte er mit sich ins Grab genommen, hinter dem der Domherr so versessen her war wie der Teufel hinter einer armen Seele?

Ein kurzes, herrisches Pochen riss Jakob aus seinen Gedanken. Erschrocken fuhr er zusammen, als er die Stimme des Subpriors hörte: »Jakob Tillmann? Hättet Ihr vielleicht die Freundlichkeit mich in Eure Zelle zu lassen? Irgendetwas blockiert Eure Tür!«

»Einen Moment!«, rief Jakob, augenblicklich von angespannter Wachsamkeit und Unruhe erfüllt, welche Nachricht der Subprior wohl bringen mochte. Er sprang auf, schob den Stein zur Seite und öffnete die Tür.

Der Blick des Subpriors fiel auf den schweren Stein und eine scharfe Falte bildete sich auf seiner Stirn. »Weshalb habt Ihr Eure Tür damit versperrt?«

»Zur Sicherheit.«

»Vor wem denn?«, fragte Bruder Tarzisius nach.

Jakob zog es vor keine direkte Antwort zu geben, sondern nur vage mit den Achseln zu zucken.

Zu seiner Überraschung ließ der Subprior es auch dabei bewenden. »Ihr habt von dem schrecklichen Unfall gehört, bei dem unser Novize Dominik zu Tode gekommen ist?«

»Unfall?«, fragte Jakob zurück und jetzt fiel ihm auf, dass Bruder Tarzisius immer noch blass im Gesicht war und recht mitgenommen aussah. Der Tod des Novizen schien ihn sehr getroffen zu haben. Merkwürdig. Hatte er diesem Mann vielleicht unrecht getan?

»Ja, ein schrecklicher Unfall«, murmelte Bruder Tarzisius und blickte wie abwesend auf das Kruzifix über der Tür. »Er war so ein eifriger junger Mann.«

»Hat er nicht die ganze Zeit Bruder Anselm gepflegt?«, rutschte es Jakob heraus.

»Ja, das hat er.« Ein Ruck ging durch den hoch gewachsenen Körper des Subpriors und sein Gesicht nahm wieder den energischen, harten Ausdruck an, der Jakob so vertraut war. »Unser hochwürdiger Abt schickt mich und lässt Euch ausrichten, dass er für eine weitere Befragung keine Notwendigkeit sieht.«

»Es geschehen wahrlich noch Zeichen und Wunder!«, entfuhr es Jakob. Seine Erleichterung war jedoch nicht so vorbehaltlos, wie er geglaubt hatte. Die Leiche des Novizen ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie erinnerte ihn daran, dass in dieser Abtei schreckliche Dinge geschahen, die sich dem Einfluss und wohl auch dem Wissen des Abtes völlig entzogen. Er befand sich noch immer auf unsicherem Eis, das jeden Moment unter ihm einbrechen konnte.

»Gewiss geschehen sie, Tag für Tag!«, erwiderte der Subprior. »Die Schöpfung des Allmächtigen ist voller Wunder und der Gläubige der reinen Lehre ist sich ihrer zu jeder Stunde seines sündigen Lebens bewusst! Nur Heiden, Ketzer und Anhänger des Teufels, die gottlosen Mächte der Finsternis, leugnen sie und lassen nichts unversucht, um die Menschen in ihren satanischen Bann zu schlagen!«

»Davon versteht ein einfacher Fuhrmann wie ich nichts, ehrwürdiger Bruder. Solch Dinge überlasse ich studierten und geweihten Männern wie Euch, die Ihr in diesen schwierigen Fragen wohl bestens bewandert seid«, sagte Jakob demütig und hoffte den Subprior damit gnädig zu stimmen.

»Ja, und Ihr tut auch gut daran, uns die Entscheidung darüber zu überlassen, was im ewigen Kampf gegen die Saat des Bösen notwendig ist und was nicht!«, bekräftigte Bruder Tarzisius, jedoch schon milder im Ton. »Deshalb rate ich Euch dem Wunsch des Domherrn nach einer zweiten Unterredung untertänigst zu entsprechen, auch wenn unser hochwürdiger Abt Euch vom Zwang zu einer selbigen befreit hat!«

Unter keinen Umständen würde er sich freiwillig einem zweiten Verhör unterziehen, auch wenn Bruder Tarzisius es als »Unterredung« schönzureden versuchte. Schon gar nicht nach dem Mord an dem Novizen! Er würde Himmerod so schnell wie möglich den Rücken kehren und sich aus dem Staub machen. Nur durften der Subprior und der Domherr nichts davon ahnen. Sie mussten im Gegenteil den Eindruck erhalten, dass er verängstigt genug war, um sich ihnen auch freiwillig in die Hände zu begeben.

Jakob wusste jedoch, dass er nicht zu eilfertig erscheinen durfte, wenn er nicht den Argwohn des Subpriors wecken wollte. Deshalb nagte er scheinbar unentschlossen an seiner Unterlippe, um dann mit einem leicht resignierenden Unterton zu antworten: »Zwar weiß ich wirklich nicht, was sich der hochwürdige Herr davon erwartet, wo ich doch schon alles zu Protokoll gegeben habe, was ich weiß. Aber ich mag natürlich auch nicht seinen Unmut wecken, und wenn es ihm so wichtig ist.. .«Er führte den Satz nicht zu Ende.

»Ihr seid also bereit?«, vergewisserte sich der Subprior erfreut.

Jakob verzog das Gesicht zu einer hilflosen Grimasse. »Was bleibt einem einfachen Mann denn anderes übrig, wenn ein so hoher Würdenträger wie Domherr von Drolshagen auf einer zweiten Unterredung besteht?«

»Endlich habt Ihr zur rechten Einstellung gefunden, gelobt sei Jesus Christus!«

»Wäre es zu viel erbeten, diese Unterredung aber erst morgen stattfinden zu lassen?«, fragte Jakob zögerlich, als traute er sich kaum diese Bitte vorzubringen. »Mir ist nämlich schon den ganzen Tag so unwohl und die Kopfschmerzen, die mich quälen, haben es mir schon vorhin schwer gemacht mich auf die Fragen des Domherrn in rechtem Maß zu konzentrieren.«

»Macht Euch darüber keine Gedanken, Jakob Tillmann. Morgen nach dem Konventamt ist eine gute Zeit, um noch einmal in aller Gewissenhaftigkeit die Dinge zu rekapitulieren, an denen der Domherr interessiert ist«, versicherte Bruder Tarzisius beinahe beschwingt. »Schlaf und aufrichtige Einkehr der Seele werden Euch morgen erfrischt und im rechten Gottvertrauen zum Gespräch mit dem hochwürdigen Berater des kurfürstlichen Erzbischofs führen.«

Jakob nickte. »So sei es, ehrwürdiger Bruder.«

Mit einem zufriedenen Lächeln tunkte der Subprior seinen Finger in den kleinen Weihwasserkessel an der Tür, schlug das Kreuz und trat aus der Büßerzelle.

Jakob musste sich ein breites Grinsen verkneifen und schloss schnell die Tür hinter ihm. Dieser arrogante Ehrgeizling und sein feiner Domherr würden ganz schön dumm aus der Wäsche gucken, wenn sie seine Zelle morgen leer vorfanden. Schade, dass er ihre hochnäsigen Gesichter nicht.

Er hielt plötzlich in seinem Gedanken inne und blickte hinunter auf den steinernen Klotz, den er gerade wieder vor die Tür gerückt hatte. Das schabende Geräusch des Steines über den Boden hatte jäh eine Erinnerung in ihm wachgerufen.

Das merkwürdige Geräusch in Bruder Anselms Zelle, das schabende Kratzen! Es hatte genauso geklungen. Es war das Geräusch von einem Stein gewesen, der über einen anderen Stein rutschte und dabei Sandpartikel unter sich zerrieb!

Jakob überlegte nicht lange. Er musste Gewissheit haben, ob sich für den Verdacht, der sich ihm aufdrängte, ein Beweis in der Kammer fand, in der Bruder Anselm bis zu seinem Tod gelegen hatte. Deshalb zerrte er den Stein wieder zur Seite und ging aus seiner Büßerzelle.

Auf Zehenspitzen und in angespannter Wachsamkeit schlich er den Flur hinunter, der ausgestorben vor ihm lag. Er bog um die Ecke und auch hier war alles still. Niemand kreuzte seinen Weg. Unbemerkt erreichte er die Zelle, in der der alte Mönch die letzten Tage seines Lebens im Fieberdelirium verbracht hatte.

Die Tür stand offen. Schnell schlüpfte er in das dunkle Zimmer und schloss die Tür so weit, dass man vom Flur aus nicht hereinsehen konnte. Dann machte er sich auf die Suche nach der verborgenen Öffnung, die es hier irgendwo geben musste, wenn sein Verdacht richtig war.

Er wünschte, er hätte ein Licht bei sich gehabt, denn mittlerweile war das letzte Tageslicht der abendlichen Dunkelheit gewichen und in der Zelle herrschte eine ähnlich undurchdringbare Finsternis wie vorhin im Lagerhaus. Aber dann sagte er sich, dass die versteckte Öffnung auch in hellem Lichtschein kaum mit bloßem Auge zu entdecken sein würde. Und dass er die Stelle so oder so ertasten musste.

Jakob verharrte vor dem Bett und versuchte sich daran zu erinnern, aus welcher Richtung das Geräusch bei seinem Krankenbesuch gekommen war.

Hinter seinem Rücken! Und eher von oben als von unten, denn er hatte das Geräusch doch dem arbeitenden Dachgebälk zugeschrieben! Er musste also auf der dem Bett gegenüberliegenden Wand suchen, und zwar oberhalb der Mauermitte.

Als Jakob sich auf die andere Seite der Zelle begab und die Wand abtastete, stellte er plötzlich aufgeregt fest, dass sich dort in Brusthöhe eine halbrunde, bogenförmige Mauernische befand, die ihm bei seinem einzigen Besuch in dieser Kammer entgangen war. Sie mochte vielleicht drei Handbreit tief und etwas höher sein, als sein Arm lang war. Und in dieser Nische stand eine hölzerne Figur, zweifellos eine geschnitzte Madonna mit einem Sternenkranz um ihr Haupt, wie er ertastete.

Er stellte die Madonnenfigur auf den Boden und untersuchte dann die Rückwand der Nische, indem er auf jeden Stein vorsichtig Druck ausübte. Beim vierten Stein spürte er, wie er nachgab und sich nach hinten schieben ließ. Er zog sofort die Hand zurück, um den Stein nicht zu weit aus der Wand zu drücken.

Da war sie, die geheime Öffnung! Das Loch, durch das man von der Zelle des Subpriors aus in diese Kammer spähen und jedes Wort verfolgen konnte, sofern es nur laut genug gesprochen wurde!

Jetzt verstand Jakob, weshalb Bruder Tarzisius bei ihrer Ankunft befohlen hatte den fieberkranken Mönch nicht in die Infirmaria, sondern in diese Zelle zu bringen. Und nun wunderte es ihn auch nicht mehr, dass der Subprior ihn mit Bruder Anselm reden gehört hatte, obwohl der Kranke zu kaum mehr als zu einem Flüstern fähig gewesen war: Er hatte sie durch diese Maueröffnung hinter der Madonna beobachtet und sie zu belauschen versucht.

Und natürlich hatte er auch den Novizen all die Zeit beobachtet und jedes Wort aufzuschnappen versucht, was in der Krankenkammer gesprochen wurde.

Hatte Dominik deshalb sterben müssen?

War gar Bruder Tarzisius der Mörder?

Jakob fror bei dem Gedanken. Und er schwor sich, dass er schon nicht mehr im Kloster sein würde, wenn sich die weißen Mönche von Himmerod, mit dem Mörder in ihren Reihen, das nächste Mal zur Prim einfanden und ihre morgendlichen Lobgesänge anstimmten!

Dreizehntes Kapitel

Am liebsten wäre Jakob dem Abendessen ferngeblieben, denn er verspürte nicht den geringsten Appetit. Sein verkrampfter Magen fühlte sich wie ein dicker, kalter Klumpen Lehm an, der für nichts anderes mehr Platz ließ. Weil er jedoch keinen Verdacht erregen wollte, zwang er sich zu essen. Er wusste, dass sein Körper jede Stärkung bitter nötig hatte. Im tiefsten Winter bei diesem Wind und Wetter zu Fuß die Flucht zu ergreifen stellte ein enormes Risiko dar. Aber so gefährlich sein Vorhaben auch sein mochte, die Gefahr, die ihm innerhalb der Klostermauern drohte, war um ein Mehrfaches größer. Er brauchte bloß an Dominik zu denken.

Er war versucht sich heimlich einige Scheiben Brot einzustecken, entschied sich jedoch dagegen. Rutger Mundt starrte nämlich immer wieder zu ihm herüber, als wartete er nur darauf, dass er irgendetwas Verdächtiges tat. Nein, er würde sich später mit Proviant eindecken müssen.

Nach dem Essen trieb sich Jakob rastlos im Konventsgebäude herum. Voller Ungeduld wartete er darauf, dass die halbe Stunde der Rekreation verstrich, die den Mönchen am Abend vor der Kompletlesung gewährt wurde. Endlich rief die helle Glocke über dem Kreuzgang zur Komplet und Jakob schlich sich aus dem Haus.

Er lief so schnell er konnte durch die verschneite Nacht und erreichte die Kapelle, noch bevor die Glocke verklungen war. Seine Hoffnung, noch vor dem Schweden und Bruder Basilius einzutreffen, erfüllte sich. Niemand hielt sich in der Kapelle auf, in der nur das Ewige Licht brannte.

Der Leichnam des Novizen war auf zwei Böcken vor dem Altar aufgebahrt.

Wo sollte er sich verstecken? Er schaute sich hastig um - und sein Blick blieb am Beichtstuhl haften, der an der linken Seite auf halber Höhe zum Altar stand. Er atmete auf. Dort würde er vor Entdeckung sicher sein.

Kaum hatte er sich hinter den schweren Vorhang gekauert und ihn so verrückt, dass er den Altar und den toten Novizen genau im Blick hatte, als er die Tür schlagen hörte und gleich darauf Schritte vernahm.

Es war Bruder Basilius, der zur Schranke vorging, niederkniete und sich bekreuzigte und dann die Pforte des geschnitzten Lettners öffnete. Die Laterne, die er mitgebracht hatte, stellte er auf den Altar. Dann beugte er sich über den Toten. Mit Verwunderung beobachtete Jakob, dass die Aufmerksamkeit des Mönches ganz besonders den Händen des Toten galt.

Der Schwede ließ nicht lange auf sich warten. Schwere Stiefelschritte verkündeten sein Kommen. Er begab sich direkt zu Bruder Basilius, ohne am Lettner innezuhalten und sich zu bekreuzigen.

»Nun? Was sagen Euch die Wunden?«, fragte er und drehte den Kopf des Toten zur Seite, sodass er im Licht der Lampe auf dem Altar lag.

»Wie ich es befürchtet habe: Sie haben ihn gefoltert«, antwortete Bruder Basilius. »Welch ein Wahnsinn! Was glaubten sie denn von ihm erfahren zu können? Der Novize war so ahnungslos wie ein Schaf und was hätte er schon am Krankenbett aufschnappen können!«

»Sie wollten sichergehen.«

»Vermutlich. Und zum Ruhme Gottes haben sie ihm die Seele aus dem Leib gefoltert. Diese Männer, die im Namen des Kreuzes Blut fließen lassen, werden wohl nie begreifen, was Jesu Botschaft ausmacht - und vom Alten Testament unterscheidet!«, stieß der Mönch mit ohnmächtigem Zorn heraus. »Folter im Namen des Allmächtigen, was für ein Wahnwitz, was für eine Perversion des Glaubens!«

Jakob sog vor Entsetzen die Luft scharfein und presste schnell die Hand vor den Mund. Gefoltert? Und im nächsten Moment fiel ihm die Drohung des Domherrn ein: Ich besitze die Autorität Euch einer ganz anderen Art der Befragung zu unterziehen, nämlich einer peinlichen auf dem Turm! Und peinliche Befragung war nur ein anderes Wort für die Tortur unter der Folter!

»Seht Euch seine Daumen an!«, forderte der Mönch den Schweden auf. »Zu Brei zermalmt.«

»Sie haben ihm Daumenschrauben angelegt!«

»Und nicht nur das. Seht hier, Spuren von heißem Pech. Und seine Augen.«

Jakob hörte voller Grauen, welch entsetzliche Torturen und Qualen der Novize hatte erdulden müssen, bis der Tod ihn erlöst hatte. Er wollte sich die Ohren zuhalten, doch er war unfähig sich zu rühren.

»Er muss schrecklich gelitten haben, der arme Bursche«, stellte der Schwede fest. »Dem Himmel sei Dank, dass sie nicht einen wirklich erfahrenen Folterknecht zur Hand hatten.«

Der Mönch nickte. »Der einstige Henker von Würzburg versteht eben besser mit dem Richtschwert und mit dem Brandeisen umzugehen als mit Folterwerkzeugen«, antwortete er. »Aber Rutger Mundt wird sicherlich schnell lernen, wenn es darauf ankommt und man ihm genug Zeit lässt. Und genau das müssen wir verhindern, Henrik. So schwer es mir fällt, aber wir haben keine andere Wahl.«

Der Schwede nickte und wandte sich ab. »Ich weiß, wir müssen ihnen zuvorkommen. Um jeden Preis. Aber lasst uns das nicht hier besprechen. Ich habe drüben in der Sattelkammer noch eine halbe Flasche Branntwein. Und ich denke, ein kräftiger Schluck ist jetzt mehr als angebracht!«, sagte er und stiefelte davon.

Bruder Basilius brummte so etwas wie eine Zustimmung, nahm die Lampe vom Altar und folgte ihm.

Jakob verharrte eine ganze Weile in seinem Versteck. Er brauchte Zeit, um das Gehörte zu verkraften: Die Beschreibung der grauenhaften Folter und dass Rutger Mundt einst in Würzburg das blutige Handwerk des Henkers ausgeübt hatte. Er erschauerte bei dem Gedanken, dass der Domherr bestimmt seine guten Gründe gehabt hatte einen Mann wie Rutger Mundt mit nach Himmerod zu nehmen und ihn als seinen harmlosen Kutscher auszugeben.

Er überlegte, ob er sich nicht doch Bruder Basilius und dem Schweden anvertrauen sollte, nahm von dieser Möglichkeit jedoch schnell wieder Abstand. Sie mochten nichts mit Bruder Tarzisius, Rutger Mundt und dem Domherrn gemein haben, aber das sagte noch nichts darüber aus, welcher Art ihre Interessen waren. Unzweifelhaft war nur, dass sie tief in diese mörderischen Machenschaften verstrickt waren. Und ob er bei ihnen Sicherheit finden konnte, wagte er sehr in Frage zu stellen. Nein, er tat besser daran, keinem zu vertrauen und auf eigene Faust zu handeln. Dann konnte ihn auch niemand hintergehen und verraten!

Jakob hatte vorgehabt während der Matutin aus dem Kloster zu fliehen. Nun aber beschloss er seinen Vorsatz sofort in die Tat umzusetzen. Wozu noch Stunden mit nervzehrendem Warten verbringen und dabei Gefahr laufen, dass irgendetwas geschah, was seine Flucht unmöglich machte. Je eher er Himmerod hinter sich ließ, desto besser!

Als er sich einigermaßen beruhigt hatte, schlich er sich aus der Kapelle. Die tiefen Schatten der Klostermauer und der Wirtschaftsgebäude ausnutzend, kehrte er zum Konventsgebäude zurück. Er betrat das Haus jedoch nicht durch das Portal, sondern durch die Hintertür bei den Küchenräumen, die er unverschlossen vorfand.

Lautlos huschte er durch das Gewölbe zur Feuerstelle. Er kannte sich inzwischen gut genug aus, um die geheime Vorratskammer links vom Rauchfang auch im Dunkeln zu finden. Er nahm einen kräftigen Schluck aus dem Krug mit der Buttermilch, steckte sich den halben Brotlaib unter sein Hemd und biss ein Stück vom vier Finger breiten Käse ab, bevor er auch ihn einsteckte.

Wie dankbar war Jakob jetzt für das dichte Schneetreiben, als er Augenblicke später über den Hof und zu den Stallungen lief. Dort stand ein klobiges Fuhrwerk mit hohen Seitenwänden direkt an der Mauer, das ihm als ideale Kletterhilfe dienen würde. Und er wusste, wo er ganz in der Nähe ein Seil fand, ohne eine Tür aufbrechen oder sonstwie verräterischen Krach machen zu müssen. Die zweite Umfriedung der Abtei war noch viel einfacher zu überwinden als die innere Klostermauer, wies sie unten am Ufer der Salm doch eine große Lücke auf, die wohl schon lange ihrer Ausbesserung harrte.

Unbehelligt erreichte Jakob das Fuhrwerk. Es fiel ihm auch niemand in den Arm, als er das Seil vom Haken nahm, das nur wenige Schritte entfernt unter dem Vordach hing. Er stieg auf die Ladefläche, verknotete ein Ende des Seils an einem Holm und warf es dann mit aller Kraft über die Mauer, die er mehr erahnte, als dass er sie sehen konnte. Nun stieg er auf den Kutschbock des Fuhrwerkes. Von dort aus konnte er die Mauerkrone mit seinen Händen erreichen. Er stieß sich ab und saß im nächsten Moment rittlings auf der Mauer. Ein Windstoß riss ihm seinen alten Filzhut vom Kopf. Er versuchte ihn noch festzuhalten, doch seine Hände griffen ins Leere, während der Hut davonsegelte und sofort von der Dunkelheit verschluckt wurde.

Jakob fluchte und verharrte einen Augenblick auf der Mauerkrone. Ach, zum Teufel mit dem alten Ding! Hauptsache, er rettete seinen Kopf. Er packte das Seil und prüfte, ob der Knoten auch festsaß. Dann ließ er sich hastig an der Außenseite in die Tiefe hinab.

»Gott sei Dank!«, stieß er leise hervor, als er festen Boden unter den Füßen spürte. Die schwierigste und gefährlichste Hürde hatte er überwunden. Er ließ das Seil los und ging vorsichtig in das Schneetreiben hinein. So ähnlich musste es sein, wenn man nahezu blind war. Er stolperte mehrmals und wäre einmal fast gestürzt. Endlich tauchte vor ihm die zweite Umfriedung der Abtei auf. Jetzt brauchte er bloß noch vorsichtig in Richtung Flussufer zu gehen, um zur Lücke im Mauerwerk zu gelangen.

Wenige Minuten später erreichte er den eingestürzten Teil der Umfassung. Er tastete sich vor. Gerade hatte er seine Hand auf das lockere Gestein am Rand des gut anderthalb Schritt breiten Einschnitts gelegt und wollte über den kniehohen Berg aus Trümmern und Schnee klettern, als schräg von hinten ein Schatten wie ein riesiger Nachtvogel auf ihn zusprang.

Eine Hand krallte sich in sein Haar und riss seinen Kopf zurück, während sich fast im selben Moment kalter Stahl auf seine Kehle legte und eine hämische Stimme fragte: »Sucht Ihr vielleicht Euren Eselskarren, Fuhrmann? Oder steht Euch der Sinn nach einer ungewöhnlichen Nachtwanderung?«

Jakob schrie zu Tode erschrocken auf und erstarrte. Rutger Mundt, der Henker von Würzburg! Der Gefolgsmann des Domherrn hatte ihm aufgelauert und ihm nun eine Klinge an die Kehle gesetzt. Derselbe Mann, der den Novizen zu Tode gefoltert hatte!

»Ihr habt wohl geglaubt, wir wären mit Dummheit geschlagene Tölpel und würden Eurer Zusage, dem Domherrn noch einmal bereitwillig Rede und Antwort stehen zu wollen, Glauben schenken, nicht wahr?«, höhnte der Henker. »Ich hoffe, Ihr seid nun nicht zu enttäuscht, dass wir Eure Einfalt nicht teilen!«

»Lasst mich laufen!«, stieß Jakob flehentlich hervor. »Ich kann Eurem Herrn bei dem, was er zu erfahren wünscht, nicht helfen. Ihr müsst mir glauben. Ich weiß wirklich nichts! Das ist die Wahrheit, ich schwöre es!«

»Die Wahrheit? Das werden wir ja sehen und hören, Fuhrmann! Und Ihr könnt sicher sein, dass wir die Wahrheit aus Euch herausholen werden - so wie man eine Nuss knackt, wenn man an den Kern will!«

»Man sollte nicht schon mit dem Kauen beginnen, wenn das Essen noch nicht einmal aufgesetzt ist!«, rief da eine sarkastische Stimme hinter ihnen.

Ein freudiger Schock durchfuhr Jakob. Der Schwede!

»Und jetzt lasst den Burschen los, Blutscherge. Wenn Ihr einen Fuhrmann braucht, sucht Euch einen anderen. Dieser da steht schon in unseren Diensten!«, erklärte der Schwede mit aufreizendem Spott, begleitet vom scharfen, metallischen Klang einer aus der Scheide fahrenden Klinge.

Jakob spürte förmlich, wie überrascht und verstört der Henker über das plötzliche Auftauchen des Schweden war. Die Klinge löste sich von seiner Kehle.

Jetzt oder nie!, fuhr es Jakob durch den Kopf und im selben Moment wurde er sich des lockeren Ziegelsteines bewusst, auf dem seine Hand noch immer ruhte. Er handelte, ohne lange zu überlegen. Blitzschnell und mit aller Kraft, zu der er fähig war, hob er den Stein an, riss ihn nach hinten und schlug damit nach Rutger Mundt. Er hatte Glück. Der Ziegelstein traf den Schergen des Domherrn irgendwo zwischen Schienbein und Oberschenkel.

Der Henker schrie gellend auf und ließ im Augenblick des Schmerzes Jakobs Haarschopf los. Dieser sprang geistesgegenwärtig zur Seite. Das Messer schnitt durch die Luft, durchtrennte seine Kleidung und fuhr oben an der Schulter tief in seinen rechten Oberarm.

Jakob achtete nicht auf den scharfen Schmerz, der durch Arm und Schulter schoss. Sein einziger Gedanke galt in diesem Moment seiner Flucht. Die Freiheit war zum Greifen nahe. Ein paar Schritte und er war dem Henker entkommen. Jenseits der Mauer war er sicher. Dort würde ihn das nächtliche Schneetreiben vor seinen Verfolgern schützen.

Er stürzte nach vorn, stolperte über die Trümmer des eingestürzten Mauerwerkes, sprang durch die Öffnung, stolperte und stürzte kopfüber in den Schnee. Er rappelte sich auf und lief los. Hinter sich vernahm er den harten Aufprall von Stahl auf Stahl. Er hörte den Schweden etwas rufen, doch die Worte erreichten ihn nicht wirklich. Die Angst trieb ihn weiter. Und sooft er auch stolperte und stürzte, er kam immer wieder sofort auf die Beine. Er rannte und rannte, bis er nicht mehr konnte und erschöpft unter einem Baum in den Schnee sank. Angestrengt und mit angsterfülltem Herzen lauschte er in die Nacht.

Nicht ein Laut drang an sein Ohr.

Er war entkommen!

Jakob liefen Tränen der Erlösung über das schweißnasse Gesicht. Er lachte und weinte zugleich. Dann wurde er sich zum ersten Mal der Schmerzen in seinem Oberarm bewusst. Es war ein heißes, schmerzhaftes Pochen. Aber er machte sich darüber keine Sorgen. Immerhin konnte er den Arm bewegen und die Hand zur Faust ballen, wenn auch unter Schmerzen. Die Wunde würde bald verheilen. Er hatte schon ganz andere Verletzungen überlebt. Und er wollte nicht undankbar sein und für eine Nacht gleich mehrere Wunder verlangen. Dass er dem skrupellosen Domherrn und seinem Henker Mundt entkommen war, dank des Schweden, genügte völlig.

Zumindest vorerst.

Denn Jakob traf nun die ernüchternde Erkenntnis, dass sie wohl bei Tagesanbruch unverzüglich die Verfolgung aufnehmen und nichts unversucht lassen würden, um ihn aufzuspüren und in ihre Gewalt zu bringen. Damit sie ihn ein zweites Mal verhören konnten - diesmal jedoch unter der Folter! Seine Flucht war also noch weit davon entfernt, ein glückliches Ende gefunden zu haben. Sie hatte vielmehr gerade erst begonnen!

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