DRITTES BUCH DIE INSEL IM STROM

Zweiunddreißigstes Kapitel

Auf dem großen Platz zwischen Hauptwache und Liebfrauenkirche drehte sich alles um die Vorbereitungen für den Ostermarkt. Jakob, Marga und Henrik schenkten dem turbulenten Treiben nur flüchtiges Interesse. Ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt als mit den traditionellen Vergnügungen, die mit dem Osterfest einhergingen. Ohne Hast, aber doch zielstrebig folgten sie dem Bogen, den die Gasse Am alten Kornmarkt machte. Marga führte den Schecken, den sie bei dem Koblenzer Pferdehändler Nikolaus Seeger in der Weißergasse beim Ochsenturm gekauft hatten, am Zügel hinter sich her. Die Sonne, die von einem fast wolkenlosen Himmel schien, fühlte sich herrlich warm auf ihren Gesichtern an.

Bruder Basilius hatte es für ratsam erachtet sie schon kurz nach ihrer Ankunft bei Bartholomäus Bartholy, der sie mit ebenso großer Überraschung wie Herzlichkeit unter seinem Dach willkommen geheißen hatte, wieder aus dem Haus zu schicken.

»Am besten tätigt Ihr schon heute alle notwendigen Einkäufe«, hatte er ihnen geraten. »Denn heute können wir noch sicher sein, dass wir hier nicht dem Domherrn oder einem seiner Bluthunde in die Arme laufen. Schon ab morgen müssen wir wieder auf der Hut sein.«

Das war eine Überlegung, die Hand und Fuß hatte. Jakob hegte insgeheim jedoch den Verdacht, dass der Mönch sie auch noch aus einem anderen Grund sofort wieder aus dem schmalbrüstigen Haus unweit des Paradeplatzes geschickt hatte - weil er nämlich eine Weile mit dem Maler allein sein wollte. Nun, ihm war es recht gewesen sich gleich in den ersten Stunden ein wenig in Koblenz umsehen und auf den belebten Straßen und Plätzen ohne Angst vor Entdeckung bewegen zu können. Und er hoffte, dass Bartholomäus Bartholy ihnen auch wirklich weiterhelfen konnte, was das Versteck der Dokumente betraf.

Drei Häuserfronten hinter der Jesuitengasse gelangten sie auf einen kleinen Platz, auf dem man einen Viehpferch von ungefähr sechs, sieben Schritten im Quadrat errichtet hatte. Eine johlende Menschenmenge drängte sich um diese solide Umzäunung aus Längsbalken, Querstreben und Brettern.

Jakob hörte das schrille Quieken eines Schweines und blieb unwillkürlich stehen. Seine Neugier war geweckt. Er reckte den Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. »Kann mir einer verraten, was da vor sich geht?«, fragte er verwundert, als er mehrere Männer im Pferch erblickte, die merkwürdige Helme und Lederharnische trugen. Bewehrt mit dicken Knüppeln, taumelten sie durch den Pferch und schlugen dabei wild um sich.

»Das sieht mir ganz nach >Schweineschlagen< aus«, vermutete Marga.

Jakob sah sie verwundert an. »Schweineschlagen? Was soll denn das sein?«

Marga verzog das Gesicht. »Eine der üblichen, derben Volksbelustigungen, die zu besonderen Festzeiten in den Städten veranstaltet werden.«

»Ein böses Spiel, das da mit den Blinden getrieben wird«, sagte Henrik grimmig.

»Die Männer mit den Harnischen und Knüppeln sind Blinde?«, stieß Jakob betroffen hervor und verstand nun, warum die Männer so merkwürdig durch den Pferch wankten, scheinbar ziellos ihre Prügel durch die Luft sausen ließen, sich gegenseitig anrempelten und niederschlugen.

Die Menge johlte, als einer der blinden Männer mit einem Schmerzensschrei zu Boden stürzte und das Schwein unter angsterfülltem Kreischen über ihn hinwegsprang.

Marga nickte. »Ja, gewöhnlich schickt man vier oder fünf Blinde mit Harnisch und Knüppel ausgerüstet zu einem Schwein in den Pferch. Ihre Aufgabe ist es das Schwein totzuschlagen. Aber da sie nun mal blind sind, prügeln sie mehr gegenseitig auf sich ein als auf das Schwein. Es dauert eine ganze Weile, bis sie das arme Tier endlich totgehauen haben. Und dann haben sie sich trotz Harnisch schon längst gegenseitig grün und blau geschlagen, ja manchmal sogar die Knochen gebrochen.«

»Das ist ja abscheulich!«, sagte Jakob. »Wie kann man so etwas bloß zulassen?«

Marga zuckte die Achseln. »Du wirst es nicht glauben, aber die Blinden reißen sich förmlich darum, bei solch einem Schweineschlagen mitmachen zu dürfen. Denn zum Trost dürfen sie sich hinterher den Braten teilen.«

Jakob schüttelte erzürnt den Kopf und wandte sich von dem abstoßenden Schauspiel ab. »Das soll ein Trost sein? Das ist grausam und erniedrigend!«

»Das sind die mildtätigen Gaben der guten Bürger, die übermorgen fromm an der Osterprozession teilnehmen werden«, sagte Henrik sarkastisch, um aus seinem Psalmenschatz dann hinzuzufügen: »Wie ein gähnend Grab die Kehle und die Zunge trieft von Schmei-chel! Aber auch sie werden dem Gras auf den Dächern gleichen, das schon verdorrt ist, wenn man es rauft!«

»Ich hoffe, dieser kauzige Maler Bartholy kennt des Rätsels Lösung, damit wir möglichst schnell von hier verschwinden können«, sagte Jakob bedrückt, als sie den Platz verließen und eine Straße hinuntergingen, die zum Rheintor hinter dem Karmeliterkloster führte. »Städte haben bestimmt eine Menge zu bieten und offensichtlich fühlen sich viele in ihren Mauern ja auch wohl. Ich jedoch habe nichts für sie übrig.«

»Ich auch nicht«, pflichtete Marga ihm bei. »Ich habe die Einstellung meines Vaters geerbt, der immer sagte, in seinen Adern fließe das besondere Blut der Wanderlust!« Sie lachte. »Wenn ich einen Berg erklommen habe und in ein Tal schaue, dann freue ich mich daran. Aber schon bald möchte ich wissen, was denn hinter dem nächsten Berg liegt, und dann zieht es mich wieder fort.«

»Mhm, ja, das könnte mir auch gefallen«, sagte Jakob und tauschte einen bedeutungsvollen Blick mit ihr.

Henrik schmunzelte.

Das Haus des Malers Bartholomäus Bartholy lag zwischen dem Jesuiten-Collegium und dem Kloster der Franziskaner. Von der Dachluke aus konnte man nicht nur die beiden Kirchen sehen, sondern auch einen Zipfel des weiter östlich gelegenen Paradeplatzes erkennen.

Sie führten den Schecken zu den anderen drei Pferden, die im Hinterhof unter einem Unterstand einen Ruheplatz gefunden hatten, vergewisserten sich, dass die Tiere genug Futter und Wasser hatten, und betraten das Haus. Als sie die Treppe ins zweite Obergeschoss hochstiegen, wo Bartholy sein Atelier hatte, kam ihnen Lorenz Biesenfeld entgegen. Der Geselle des Malers war ein weißblonder, hagerer und hohlwangiger Mann von schon fast dreißig Jahren. Er hatte Farbkleckser im Gesicht und auf seinem grauen Kittel aus grobem Leinen.

»Ihr findet Mönch und Meister im Atelier«, sagte er überflüssigerweise und ließ seinen Blick bedeutend länger auf Marga ruhen, als es Jakob lieb war. Geradezu unverschämt, wie dieser Bursche auf die Stelle von Margas Kleid starrte, wo ihr Busen den Stoff wölbte!

»Wer hätte das gedacht«, sagte Jakob spitz.

Lorenz Biesenfeld beachtete ihn gar nicht. Er grinste Marga an. »Meister Bartholy sollte Euer Gesicht für eines seiner Madonnenbilder verwenden«, schmeichelte er ihr und zwängte sich dann an ihr vorbei.

»Hast du das gehört?«, fragte Marga amüsiert und zugleich geschmeichelt. »Dieser Lorenz Biesenfeld versteht sich auf das Komplimentemachen wohl so gut wie aufs ein Handwerk mit Öl und Pinsel.«

»Öliger Affe!«, murmelte Jakob mit abgewandtem Gesicht.

Henrik, der ihn im Gegensatz zu Marga sehr wohl gehört hatte, stieß ihm im Vorbeigehen warnend in die Rippen. »Auch vom Gegner kann man lernen«, raunte er ihm zu und stieß die Tür zum Atelier auf.

Der lange, hohe Raum war zum Dachstuhl hin offen, durch einfache Bretterregale und mehrere Schränke unterteilt sowie mit einem Dutzend Stellagen und Staffeleien in allen nur denkbaren Größen voll gestellt. Auf diesen Gestellen, die mit Farbflecken übersät waren, standen kleine und große Ölbilder in den unterschiedlichsten Stadien der Fertigstellung. Zudem fiel der Blick überall auf Skizzen, Entwürfe und Studien mit Kohlestiften. In den Regalen sowie auf Schränken und Truhen fanden sich Paletten, Malstöcke, Tiegel und Behälter mit angeriebenen Farben sowie irdene Kannen und Zinnbecher, in denen Pinsel steckten. Mit Ausnahme von zwei fast fertigen Porträtbildern, die wohl einen vermögenden Kaufmann und eine junge Frau aus ebenso begütertem Haus darstellten, zeigten alle Gemälde religiöse Szenen, wobei Darstellungen der Gottesmutter überwogen.

Vor einem der beiden doppelflügeligen Fenster stand auf einer großen Staffelei das mehr als mannshohe Gemälde, an dem Bartholomäus Bartholy zur Zeit arbeitete. Es zeigte die Madonna zum Zeitpunkt der Verkündigung und war reich an Details, die zu studieren Jakob noch keine Gelegenheit gehabt hatte.

Bruder Basilius und sein Malerfreund standen in eine Unterhaltung vertieft vor diesem halb fertigen Gemälde, als Jakob, Marga und Henrik den lang gestreckten Raum betraten.

»Ah, das tapfere Gefolge unseres Zisterziensers ist wieder zurück!«, rief Bartholomäus Bartholy und sprang von dem kniehohen Podest, das vor der Staffelei stand. Der Maler war nämlich von so kleinwüchsiger Gestalt, dass nicht viel fehlte, um ihn als Zwerg bezeichnen zu können. Jakob schätzte ihn um ein gutes Jahrzehnt jünger als Bruder Basilius und wunderte sich, wie jemand eine Glatze und gleichzeitig einen derart feuerroten Bart haben konnte. Bartholomäus Bartholy hatte ein erstaunlich markantes, männliches Gesicht mit klaren, fröhlichen Augen und sein Bart reichte ihm wie ein wildes, rotes Wollknäuel bis mitten auf die Brust. Sprenkel von königsblauer und blütengelber Farbe fanden sich in diesem feuerroten Dickicht.

»Kommt, lasst uns eine gute Flasche Wein öffnen und sehen, was Annelie, meine Wirtschafterin, die zugleich auch tüchtige Magd und Köchin ist, für uns zubereitet hat!«, forderte Bartholomäus Bartholy sie auf. »Über zwanzig Jahre hält sie mir schon die Treue. Nun, dafür habe ich ihr Gesicht auf zwei Madonnenbildern verewigt. Eines hängt im Kloster Maria Laach und das andere schmückt die Kapelle des Jesuiten-Collegiums.«

»Könnt Ihr Euch denn bei derart. heiligen Bildern solche Freiheiten erlauben?«, wunderte sich Marga. »Ich meine das Gesicht einer Magd für das Gemälde der Gottesmutter zu verwenden, ist das nicht gewagt?«

»Sagt mir, wie unsere gebenedeite Jungfrau Maria ausgesehen hat«, forderte der kleinwüchsige Mann sie auf, der aber so voller Leben und Energie war. »Und dann werde ich mich künftig allein an diese Gesichtszüge halten.«

»Ich weiß leider nicht, wie Maria ausgesehen hat«, antwortete Marga.

Der Maler warf ihr einen vergnügten Blick zu. »Niemand weiß das. Wie auch niemand weiß, wie Jesus und seine Apostel ausgesehen haben. Und deshalb verwendet jeder Künstler seit anderthalb Jahrtausenden die Gesichter, die er für seine Gemälde für richtig empfindet. Gesichter, die ihm aus seinem Leben bekannt sind, oder Gesichter, die er neu erschafft. Somit findet sich auf keinem Gemälde das wahre Gesicht Jesu oder der Gottesmutter, was der Aussage aber nicht den geringsten Abbruch tut. Und somit ist auch jedes Gesicht, ob es nun kunstvoll oder primitiv gestaltet ist, gleich richtig wie auch gleich falsch. Denn es steht immer nur stellvertretend für die wahre Menschlichkeit Mariens oder Jesu«, erklärte er und rief nach Lorenz Biesenfeld.

Jakob warf Bruder Basilius einen fragenden Blick zu, als sie den rustikalen Raum betraten, wo die Magd des Malers auf einem großen, schmucklosen Tisch ein deftiges Essen aufgetragen hatte.

Der Mönch schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn in alles eingeweiht. Aber Bruder Anselm ist nicht hier gewesen, zumindest hat er ihn nicht aufgesucht und er hat ihm auch nicht geschrieben«, teilte er mit und aus seiner Stimme sprach dieselbe Enttäuschung, die sich nun auf Jakobs Gesicht zeigte. »Vielleicht wollte er ihn nicht in Gefahr bringen.«

»Und was geschieht jetzt?«, wollte Marga wissen, die den leisen Wortwechsel mitbekommen hatte.

»Es gibt in Koblenz noch einige aufrechte Bürger, denen Bruder Anselm einen Hinweis anvertraut haben könnte, gerade weil seine Freundschaft mit ihnen nicht so bekannt war wie die zu Meister Bartholy«, antwortete der Mönch. »Ich werde mich gleich nach dem Essen auf den Weg machen und diese Leute aufsuchen. Wir sollten unsere Hoffnungen jedoch nicht zu hoch ansetzen.«

Lorenz Biesenfeld erschien und damit fand ihr Gespräch über dieses Thema für die Dauer des Essens ein Ende. Jakob war so enttäuscht, dass er nur wenig Appetit hatte, obwohl das Essen sehr schmackhaft war. Er nippte auch bloß am Wein - ganz im Gegensatz zu Lorenz Biesenfeld, der dem Roten kräftig zusprach und immer wieder nach der Kanne griff.

Meister Bartholy gebot ihm nach dem dritten Glas schließlich mit energischer Stimme Einhalt. Als er seinen Gesellen eine Weile später wieder an die Arbeit geschickt hatte, seufzte er und sagte: »Biesenfeld ist ein ausgezeichneter Kopist, das muss man ihm lassen. Gebt ihm ein Gemälde, egal, wie komplex komponiert in Farben und Szenen, und er kopiert Euch jeden Strich, sodass Ihr das Original nicht von der Kopie unterscheiden könnt. Vermutlich hätte er sich schon längst einen eigenen Namen geschaffen, wenn er nicht drei große Schwächen hätte.«

»Als da wären?«, fragte Jakob.

»Er ist absolut unfähig etwas Eigenes zu schaffen, weil ihm jegliche schöpferische Phantasie und Kreativität abgeht. Dazu gesellt sich dann leider ein verhängnisvoller Hang zum Alkohol und zum Würfelspiel«, klagte der Maler.

»Jeder Heller fließt bei ihm durch die Kehle oder gleitet ihm beim Glücksspiel durch die Finger.«

»Viel Leiden muss der Gerechte im Leben«, sagte Henrik mitfühlend. »Und der Herr spricht: >Ich habe die Macht und mein ist die Gnade und vergolten wird jedem nach seinem Werk.<«

»Nun ja, mit dem Werk von Lorenz Biesenfeld wird es dann wohl nicht weit her sein. Denn so mancher Arbeitstag geht verloren, weil er sinnlos betrunken im Hof liegt und den ganzen Tag braucht, um seinen Rausch auszuschlafen und über den Kater zu kommen. Wäre er nicht der Sohn meiner treuen Wirtschafterin, hätte ich ihn wohl schon längst vor die Tür gesetzt. So aber muss ich sehen, dass ich das Beste aus der Situation mache und ein möglichst scharfes Auge auf ihn halte.«

Sie redeten noch eine ganze Weile über die brisante Geschichte, in die sie Bruder Anselms Tod verwickelt hatte, und Bartholomäus Bartholy bedauerte mehr als einmal, dass er ihnen nicht weiterhelfen konnte. Dann entschuldigte er sich und kehrte in sein Atelier zurück. Er müsse die Arbeit an der Verkündigung Mariens bis Pfingsten abgeschlossen haben, denn diesen Termin habe er den unbeschuhten Karmelitern hoch und heilig versprochen. Eigentlich hatte das Gemälde schon in der Woche vor Ostern fertig sein sollen.

»Aber die Kunst, wenn sie denn eine solche sein soll, lässt sich nun mal leider nicht erzwingen und nach dem Kalender verplanen«, seufzte er und raufte seinen Bart, während er sich von der Tafel erhob. »Ein Altarbild zu malen, in dem Seele und fromme Hingabe stecken, ist einfach nicht dasselbe wie einen soliden Schrank zu zimmern. Aber das will manchem nicht in den Schädel.«

»So mancher teilt die Stummheit seiner Väter, die arm im Geiste, und hat keinen Schimmer vom Ewigen Licht«, meinte Henrik trocken.

Der kleinwüchsige Maler lachte. »Damit trefft Ihr den Nagel auf den Kopf, Schwede! Also, dann will ich mal sehen, ob meine Hand den Pinsel mit derselben Beredsamkeit führen kann, die mein Herz bewegt. Nur allzu oft ist der Weg aus meinem Innersten über den Pinsel auf die Leinwand unendlich lang und qualvoll«, sagte er und verschwand nach oben.

Bruder Basilius verließ wenig später das Haus, um diverse Freunde und Bekannte von Bruder Anselm aufzusuchen. Jakob und Marga vertrieben sich die lange Zeit des Wartens, indem sie sich an das Schachbrett setzten, das sie auf einer Truhe entdeckt hatten. Henrik, der die Regeln kannte, ließ sich dazu überreden, sie in das königliche Spiel einzuführen. Und so verging die Zeit bis zum Abend überraschend schnell.

Als der Zisterziensermönch kurz nach Einbruch der Dunkelheit zurückkehrte, genügte ihnen schon ein Blick auf sein müdes, niedergeschlagenes Gesicht, um zu wissen, dass seine Besuche nichts erbracht hatten.

»Eine letzte Hoffnung ist uns jedoch noch geblieben«, teilte er ihnen mit, während er sich vor dem offenen Kaminfeuer wärmte. Denn so angenehm die Temperaturen während des Tages auch schon waren, so kehrte doch mit Sonnenuntergang eine beachtliche Kühle zurück, die einen frösteln lassen konnte. »Und das ist Bruder Reimund, ein gelehrter Jesuit, der dem hiesigen Collegium angehört und gemeinsam mit Friedrich Spee und Anselm von Picoll das Tricoronatum in Köln besucht hat. Doch ich habe ihn nicht angetroffen, weil er einige Tage nicht in der Stadt ist. Er wird aber für morgen Nachmittag zurückerwartet, soll er doch die Osterpredigt halten.«

»Hoffentlich schafft der Domherr es nicht mehr, noch vor Ostern mit seinen Handlangern in Koblenz einzutreffen«, sagte Marga besorgt. »Der Gedanke, dass dieser skrupellose Mann sich mit seinem Gefolge in derselben Stadt aufhält wie wir, macht mir Angst. Er verfügt über zu viel Macht und Geld, auch wenn der örtliche Klerus und die Bürgerschaft nicht auf dem besten Fuß mit dem Erzbischof von Trier stehen, wie Ihr sagt, Bruder Basilius.«

Der Mönch nickte. »Leider habt Ihr Recht und deshalb solltet Ihr das Haus auch nicht verlassen. Wir wollen kein unnötiges Risiko eingehen!«, ermahnte er sie. »Mir ist da übrigens noch etwas eingefallen, was uns ganz hilfreich sein kann.«

»Wir sind ganz Ohr«, sagte Jakob.

»Das Kloster Himmerod besitzt hier in Koblenz den Rosenhof, der in der Kastorgasse liegt«, teilte ihnen der Mönch mit. »Einen klösterlichen Stadthof, der zugleich auch als Herberge dient. Ich bin sicher, dass von Drolshagen zumindest seine Schergen dort einquartieren wird, weil es ihn dann nichts kostet, möglicherweise wird er sogar selbst dort Logis nehmen. Ich werde morgen versuchen jemanden zu finden, der den Rosenhof im Auge behält und uns Nachricht gibt, wenn der Domherr und seine Männer dort eintreffen. So werden wir zumindest frühzeitig gewarnt sein.«

»Das wäre immerhin etwas«, sagte Marga.

Jakob hörte hinter sich ein Geräusch, das wie das Knarren eines Dielenbrettes klang. Er wandte den Kopf und blickte zur Tür, die halb offen stand. Ihm war, als glitte ein Schatten in die Dunkelheit des Flurs zurück. Mit schnellen Schritten war er bei der Tür, stieß sie auf und blickte sich um. Flur und Treppe lagen ausgestorben vor ihm. Er schüttelte ob seines übersteigerten Argwohns den Kopf über sich selbst und kehrte zu den anderen zurück. Jetzt begann er wahrhaftig schon Gespenster zu sehen, wo doch nur die tanzenden Flammen des Feuers einen Schatten auf den Eingang geworfen hatten!

Dreiunddreißigstes Kapitel

»Er schläft«, flüsterte Bartholomäus Bartholy, als Jakob am nächsten Tag kurz vor Sonnenuntergang das Atelier betrat. Der Maler legte gerade Pinsel und Palette aus der Hand, weil nicht mehr genug Licht zum Arbeiten durch die doppelflügeligen Fenster auf das Gemälde von der Verkündigung an Maria fiel. »Der Gute muss von den Aufregungen und Strapazen der letzten Wochen sehr erschöpft sein.«

Jakob nickte. »Und die bittere Enttäuschung, in Koblenz nicht den kleinsten Hinweis auf Bruder Anselms Versteck gefunden zu haben, hat bestimmt ein Übriges getan«, raunte er und gab sich keine Mühe seine eigene tiefe Niedergeschlagenheit vor ihm zu verbergen. Es war für sie alle ein schwerer Schlag gewesen, als Bruder Basilius vor gut einer Stunde mit der Nachricht aus dem Collegium der Jesuiten zurückgekehrt war, dass auch Bruder Reimund ihnen nicht weiterhelfen konnte. Und als ob das nicht schon genug schlechte Nachrichten gewesen wären, hatte er ihnen auch noch mitteilen müssen, dass der Domherr mit seinem gedungenem Gefolge - einem vollen Dutzend Männer - schon zur Mittagsstunde im Rosenhof eingetroffen war.

Bartholomäus Bartholy stieg von seinem Podest und kam zu ihm. »Lasst den Kopf nicht hängen, Jakob. Ihr habt getan, was in Eurer Macht stand. Und wer weiß, wo die Papiere eines Tages auftauchen werden. Vertrauen wir fest darauf, dass Bruder Anselm schon die rechte Vorsorge getragen hat«, versuchte er ihn zu trösten.

Aus Höflichkeit zwang Jakob sich zu einem schwachen Lächeln und nickte, dachte jedoch dabei bedrückt: Und was ist, wenn er keine Gelegenheit mehr dazu gehabt hat?

»Nicht alles im Leben gelingt, so gut unsere Absichten und Mühen auch sein mögen. Damit müssen wir uns abfinden, wenn wir nicht im Sumpf der Enttäuschung und Verzweiflung stecken bleiben wollen. Und nun lasst uns hinuntergehen und gemeinsam ein Glas trinken«, forderte ihn der Maler auf. »Morgen ist Ostern und unsere Herzen sollten mit Freude und Dankbarkeit erfüllt sein, nicht mit Bitterkeit und Gram.«

»Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich noch eine Weile hier oben bleibe?«, fragte Jakob, dem der Sinn ganz und gar nicht nach einem feuchtfröhlichen Umtrunk stand.

»Natürlich nicht. Ich schicke Lorenz zu Euch, wenn Annelie mit dem Essen fertig ist«, sagte Bartholomäus Bartholy und verließ das Atelier.

Jakob ging nun zu Bruder Basilius hinüber. Der Mönch lag auf einer einfachen harten Pritsche, die zwischen den beiden Fenstern an der Wand stand und dem Maler wohl für Ruhezeiten zwischen langen Arbeitsperioden vor der Staffelei diente. Der rechte Arm von Bruder Basilius hing seitlich herab und berührte fast den Boden. Er musste beim Gebet vom Schlaf übermannt worden sein, denn der Rosenkranz mit den weißen Perlen und dem weißen Kruzifix war seinen Fingern entglitten und lag auf den Dielenbrettern.

Jakob setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und hob den Rosenkranz auf. Wie lange hatte er schon keinen Rosenkranz mehr in der Hand gehalten! Verschüttete Erinnerungen wurden in ihm wach, als er die glatten Perlen durch seine Finger gleiten ließ. »Ave Maria... graciaplena... «, murmelte er leise, während Empfindungen und Bilder ihn weit in die Vergangenheit zurücktrugen, als er noch ein kleiner Junge und seine Mutter noch am Leben gewesen war.

In ebenso schmerzliche wie kostbare Erinnerungen versunken, saß er da. Doch dann spürte er auf einmal, dass Bruder Basilius nicht länger schlief. Er hob den Kopf und schaute in das offene, gesunde Auge des Mönches, das mit ruhigem Blick auf ihn gerichtet war.

»Gefällt er dir?«, fragte der Mönch.

»Mhm, ja. ein schönes Stück.«

»Ich habe ihn in Jerusalem geschenkt bekommen. Das Kreuz und die Perlen sind aus Alabaster und die Kettenglieder aus Silber.«

»Meine Mutter war eine große Verehrerin der Muttergottes. Sie hat jeden Morgen und jeden Abend den Rosenkranz gebetet.«

»Und Ihr?«

»Ja, früher als Kind.«, antwortete Jakob vage. »Aber dann, als meine Mutter auf dem Scheiterhaufen starb und Quirin Schlehenbusch mich zu sich nahm.« Er ersparte es sich den Satz zu beenden und reichte dem Mönch die Gebetskette. »Und überhaupt, dreiund-fünfzigmal das Ave Maria wie eine Leier herunterzurasseln ist nicht meine Sache.«

Bruder Basilius richtete sich mit einem Lächeln auf und nahm den Rosenkranz entgegen. »Nein, meine auch nicht. Was ich wie jeder wahre Gläubige jedoch schätze, ist der betrachtende Rosenkranz. Dabei lässt man die Bilder von Geburt, Passion und Auferstehung Jesu innerlich vor sich aufleuchten und versetzt sich in sie hinein«, erwiderte er. »Die Perlen sind dann auch nicht nur eine Zählhilfe für in Routine erstarrte Christen, die möglichst rasch ihr Pensum herunterleiern wollen und Beten traurigerweise als lästige Pflicht statt als Geschenk und freudiges Verweilen vor Gottes Angesicht betrachten.«

»Was sind die Perlen denn für Euch?«

»So etwas wie körperlich spürbare Haltepunkte auf dem betenden Weg durch die Bibel, an der Seite von Maria und Jesus zu den freudenreichen, schmerzhaften und glorreichen Stationen«, antwortete der Mönch. »Wer an Gott glaubt, kann Maria einfach nicht mit links wegwischen, als wäre sie nur eine unbedeutende Statistin gewesen. Das ist keine Frage der Konfession oder der Dogmen, sondern des gesunden Menschenverstandes. Wie kann ein Christ die Frau, die Gottes Verkündigung angenommen und seinen eingeborenen Sohn zur Welt gebracht hat, zu einer unbedeutenden Nebenfigur degradieren? Unmöglich!«

»Mhm, ja, das ist ein Argument, das ich gelten lasse.«

»Es ist Maria, die uns wie keine andere Gestalt der Bibel zeigt, dass der mühselige Weg unseres Glaubens durch das steinige Gebirge unseres Alltags führt. Sie ist die Figur der Heilsgeschichte, die uns Menschen am nächsten ist und der wir uns wohl noch unbeschwerter anzuvertrauen vermögen als Gottes Sohn.«

Jakob verzog das Gesicht. »Na, ich jedenfalls kann mich schlecht mit dem Bild der demütigen, unendlich tugendsamen und göttlich reinen Jungfrau Maria anfreunden. Die Muttergottes als Wegweiserin?« Er schüttelte den Kopf. »Also mir ist sie noch viel ferner als Jesus Christus.«

»Das kommt wohl daher, weil sich all die Jahre ein falsches Bild über die Muttergottes in Euch festgesetzt hat«, vermutete Bruder Basilius.

»Was soll denn daran falsch sein?«, wollte Jakob wissen. »Wer Maria war und welche Rolle sie in der Bibel spielt, ist ja wohl kein Geheimnis.«

»Ihr irrt erneut. Es stimmt zwar, dass Maria von den herrschenden Kreisen in der Kirche mit Vorliebe als die demütige, tugendsame und göttlich reine Muttergottes dargestellt wird, weil das nicht nur biblisch richtig, sondern den Herrschenden von Staat und Kirche auch stets sehr dienlich gewesen ist - und wohl leider auch noch in Zukunft sein wird. Aber das ist eben nur die eine Seite, die Maria uns zu bieten hat.«

Jakob zog die Augenbrauen hoch. »Da bin ich aber mal gespannt, wie denn die andere, unbekannte Seite der Madonna bei Euch aussieht!«

Bruder Basilius schmunzelte. »Es ist nicht meine Seite, die ich mir ausgedacht habe, sondern vielmehr die geschichtlich korrekte Ergänzung ihrer Person, die andere Hälfte ihres Wesens, die sich genauso in der Heiligen Schrift belegt findet wie ihre Demut.« Er machte eine kurze Pause. »Maria war eine sehr starke, selbstbewusste und mutige Frau, die sich von den Vorurteilen ihrer Zeit nicht darin beirren ließ, freimütig und kämpferisch ihren Weg zu gehen. Sie wusste, dass eine Frau, die vor ihrer Ehe schwanger wurde, Gefahr lief gesteinigt zu werden. Sie nahm dieses Wagnis jedoch auf sich, wie sie auch all den Hohn und Spott auf sich nahm. Zweifellos wird man sie geschnitten und ihr das Leben schwer gemacht haben. Aber statt zu jammern und zu verzagen bricht sie während ihres Besuches bei Elisabeth in das wunderbare Magnificat aus. Und wer dieses nur als demütige Unterwerfung unter Gottes Wort betrachtet und nicht auch als Ausdruck großer Freude und starken Selbstbewusstseins, der ist entweder ein ausgemachter Dummkopf oder stellt sich aus skrupelloser Berechnung auf einem Auge blind. Und ich sage Euch: Wäre die Bibel nicht ausschließlich von Männern verfasst worden, die kein allzu großes Interesse an Marias Rolle hatten, wir würden heute sicherlich über einen gewaltigen Schatz von Worten und Taten der Muttergottes verfügen - und manches davon würde den machtbesessenen und eitlen Männern auf ihren vergoldeten Stühlen arg gegen den Strich gehen, das könnt Ihr mir glauben!«

Jakob grinste unwillkürlich. Bruder Basilius hatte eine ausgesprochen erfrischende Art so manchen Dingen, von denen er, Jakob, eine scheinbar unumstößliche Meinung zu haben geglaubt hatte, ein völlig neues Gesicht und neue Bedeutung zu geben.

»Maria hat uns allen, insbesondere aber allen Frauen ein Beispiel gegeben, dass es sehr wohl möglich ist, sich aus den oftmals erdrückenden Zwängen einer patriarchalischen Gesellschaft zu befreien und den eigenen Weg zu bestimmen«, fuhr der Mönch fort. »Es ist natürlich kein Wunder, dass in unserer Männerwelt, in der das Verlangen nach Macht und Reichtum vorherrscht, diese Seite Mariens von herrschsüchtigen Fürsten und Bischöfen am liebsten verschwiegen wird. Aus ihrer Sicht ist es nur zu verständlich, dass sie viel lieber die unnahbare Demutsgestalt der Muttergottes quasi als verlängerten Arm einer zum Gehorsam aufrufenden Kirche benutzen möchten. Aber dagegen haben schon zu allen Zeiten Klosterfrauen mit ihrem Schrifttum gekämpft. Ihr braucht beispielsweise nur die Bücher der heiligen Teresa von Avila oder Hildegards von Bingen zu lesen, um sehr schnell festzustellen, dass diese Frauen wahrhaftig nicht unter weiblicher Minderwertigkeit gelitten haben. Sie und andere - Gott sei Dank auch einige kluge Köpfe unseres Geschlechtes, Jakob! - haben immer wieder aufgezeigt, dass Maria stets auf der Seite der Schwachen und Verachteten stand und kein unerreichbarer Übermensch war, sondern eine Frau, die alles erlitten hat, was auch heute Frauen erleiden: Schwangerschaft und Entbindung, Armut und Ausgrenzung, Flüchtlingselend und den Verlust des geliebten Kindes. Wir alle können uns ihr getrost zuwenden, wie wir uns unserer Mutter zuwenden würden, nämlich voller Vertrauen auf ihre Liebe und ihren Beistand. Und noch etwas ganz Entscheidendes wird gern verschwiegen: dass Frauen wie Maria mehr Mut und Charakter bewiesen haben als alle Apostel zusammengenommen!«

Jakob lachte. »Oh, jetzt kommt Ihr aber richtig in Fahrt, will mir scheinen! Ihr klingt ja wieder einmal wie ein reformatorischer Ketzer!«

»Luther war ein großer Marienverehrer, das solltet Ihr wissen! Andererseits haben die Kirchen der Reformation Maria leider als wichtigen Bestandteil aus der Erlösungsgeschichte verbannt. Sie lassen nur noch den gekreuzigten Jesus gelten und machen sozusagen alles zur reinen Männersache: Gott, Gottes Sohn und die Erlösung! Alles fest in Männerhand. Doch das ist wider die Schöpfung und entspricht auch nicht der Rolle, die sowohl Gottvater als auch Jesus den Frauen eingeräumt haben, wie in der Bibel an vielen Stellen nachzulesen ist«, bedauerte er. »Aber ich wollte ja etwas über den Mut und den Charakter der Frauen sagen. Sehen wir uns doch nur die Kreuzigung an: Während sich die Apostel feige aus dem Staub machen, beweisen Maria und die anderen Frauen von Jesu Gefolgschaft ihm als einzige wahrhaftige Treue und Nachfolge bis in den Tod. Das angeblich minderwertige, schwache Geschlecht zeigte sich mannhafter und mutiger als die Apostel, die im Angesicht der Bewährung wieder einmal versagten.«

»Wieso brauchten sie denn Mut, um bei der Kreuzigung auszuharren, einmal abgesehen von dem schrecklichen Anblick?«, wollte Jakob wissen.

»Weil sie sich mit ihrer beharrlichen Anwesenheit der großen Gefahr aussetzten selbst verhaftet, gefoltert und hingerichtet zu werden!«, erklärte Bruder Basilius. »Denn damals galt es als ein Verbrechen die Hinrichtung eines Staatsfeindes zu betrauern und diese Verbundenheit bei der Urteilsvollstreckung auch noch öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Wem als Verwandten oder Freund eines Verurteilten sein Leben lieb war, der hielt sich deshalb möglichst weit von der Hinrichtungsstätte auf. Nicht so Maria und ihre Begleiterinnen. Sie boten der Obrigkeit mutig die Stirn und harrten unter dem Kreuz aus.«

»Das ist wirklich interessant und wirft ein ganz anderes Licht auf Maria«, gab Jakob zu. »Ich gestehe, dass die Muttergottes für mich bisher immer eine entrückte, verklärte Gestalt gewesen ist, mit der ich wenig anfangen konnte.«

Ein etwas schmerzliches Lächeln huschte über das Gesicht von Bruder Basilius. »Ja, leider gehört es zu den ausgeprägten menschlichen Schwächen immer wieder vorschnell ein Urteil zu fällen, ohne dass wir uns vorher gründlich kundig gemacht haben und ohne recht zu wissen, worüber wir eigentlich mit so fester Überzeugung reden.«

»Eigentlich sollte ich Euch ernsthaft böse sein, Bruder Basilius«, sagte Jakob und erhob sich.

»Weshalb?«

»Weil Ihr mir immer wieder auf beschämende Weise vor Augen führt, wie wenig ich doch eigentlich weiß - und wie falsch und ungerecht ich vieles beurteile«, antwortete er und trat an die Staffelei.

»Daran ist nichts Beschämendes, Jakob. Beschämend ist es nur, wenn man etwas lernen und damit der Wahrheit näher kommen kann, sich aber bewusst abwendet und die Ohren verschließt.«

Im Licht der untergehenden Sonne betrachtete Jakob das Gemälde von der Verkündigung an Maria. Die von Licht und Blumen umkränzte Madonna kniete auf einer Art Betstuhl vor einem offenen Rundbogenfenster, ein Buch in der einen Hand und eine Nelke in der anderen, und blickte zum Erzengel Gabriel hinüber. Auf dem Fenster saßen zwei Vögel und inmitten eines Windstoßes, der geradewegs aus einer Wolke zu Maria ins Zimmer drang und wohl Gottes Atem oder Wort darstellen sollte, glitt eine Taube herab und verharrte über dem Kopf der Jungfrau. Das Bild strahlte ebenso Kraft wie tiefen Frieden aus. Es besaß für Jakob auf einmal einen völlig neuen Ausdruck und berührte etwas in ihm, was er vorher nicht empfunden hatte.

»Ich nehme an, jedes Detail auf solch einem Tafelbild hat eine symbolische Bedeutung, nicht wahr?«

Bruder Basilius stand von der Pritsche auf und gesellte sich zu ihm. »Das hat es in der Tat. Die Taube symbolisiert den Heiligen Geist und die Nelke das Leiden Christi. Ihre rote Farbe steht für das von ihm vergossene Blut. Blatt und Frucht besitzen die Form von Nägeln, mit denen Christus ans Kreuz geschlagen wurde. Auch die roten und weißen Rosenblüten, mit denen Maria gekränzt ist, sind nicht zufällig gewählt«, erklärte er. »Die fünf Blütenblätter der Rosen versinnbildlichen die fünf Wunden Christi, insbesondere die der roten. Die weißen Rosen stehen für Marias jungfräuliche Reinheit.«

»Und was haben die beiden Vögel auf dem Fenstersims zu bedeuten?«, fragte Jakob.

»Das sind Distelfinken. Da diese Vögel mit Vorliebe Distelsamen aufpicken, hat man sie mit der Dornenkrone und der Passion Jesu in Verbindung gebracht. Der Legende nach soll ein Distelfink Jesus Christus, als dieser das Kreuz durch die Straßen Jerusalems schleppte, einen Dorn aus der Krone gebrochen haben, der sich in seine Augenbraue gebohrt hatte. Und angeblich verdankt dieser Vogel sein rotes Federkleid dem Blute Christi.«

Jakob starrte auf die beiden Vögel, die sich gegenübersaßen. »Distelfinken.« Dieses Wort weckte in ihm auf einmal eine Erinnerung an jene eisige Winternacht in Himmerod. »Komisch, auch Bruder Anselm hat von ihnen im Fieber gesprochen, als ich ihn in Himmerod kurz vor seinem Tod in der Zelle besucht habe.«

Der Mönch an seiner Seite stutzte und sah ihn verwirrt an. »Er hat wovon gesprochen?«

»Nun, von Distelfinken und von Maria, und dass sie mit der Madonna singen. Es war wirres Zeug, aber daran entsinne ich mich jetzt wieder.«

Bruder Basilius packte ihn an der Schulter. »Jakob, könnt Ihr Euch noch an mehr erinnern?«, rief er aufgeregt. »Um Himmels willen, strengt Euch an! Vielleicht hat er gar nicht im Fieberwahn geredet, sondern versucht Euch eine Botschaft zu übermitteln!«

Jakob biss sich auf die Lippen und dachte angestrengt nach. »Schon in der Nacht, als ich ihn nach Himmerod brachte, hat er viel von der Heiligen Jungfrau gestammelt. Es waren aber alles nur zusammenhanglose Satzfetzen. Er sagte irgendetwas davon, dass auch die größte Schuld am Busen der Gottesmutter barmherzige Aufnahme findet. Ich glaube, er sprach von einem Hort der Gnade und Sicherheit.«

Bruder Basilius stöhnte wie gequält auf. »Weiter! Weiter!«, drängte er mit atemloser Stimme. »Er hat Euch das Versteck verra-ten! Ich bin mir dessen jetzt ganz sicher. Barmherzige Aufnahme, Hort der Gnade und Sicherheit - damit ist eindeutig der Ort gemeint, wo er die Dokumente, die eine entsetzliche Schuld offenbaren, versteckt hat.«

»Meint Ihr?«, fragte Jakob, von der Erregung des Mönches angesteckt.

»Ja! Wir sind dem Rätsel auf der Spur, Jakob. Ihr könnt es lösen! Ihr habt die Antwort in Euch, habt sie die ganze Zeit in Euch gehabt ohne es zu wissen. Jetzt kommt es nur darauf an, dass Ihr Eure Erinnerung zielstrebig erforscht und Euer verschüttetes Wissen in Euer Bewusstsein zurückholt! Ihr könnt es. Ich weiß, dass Ihr es könnt!«, sagte er mit eindringlicher, fast beschwörender Stimme. »Strengt Euch an und lasst das Geheimnis nicht wieder entgleiten! Sagt, woran könnt Ihr Euch noch erinnern?«

Jakob schloss die Augen und konzentrierte sich, versuchte sich mit aller Kraft ins Bewusstsein zurückzurufen, was Bruder Anselm in jenen Wintertagen zu ihm gesagt hatte. Und plötzlich war ihm, als würde sich ein Fenster zu einer Kammer seiner Erinnerung öffnen. »Es fiel das Wort Zeugen. Zeugen der Schande.«

»Die Bekenntnisse der Hexenbischöfe!«, flüsterte Bruder Basilius, als fürchtete er mit normaler Stimme das magische Band zu zerreißen, das Jakob zu den Tiefen seiner Erinnerung geknüpft hatte.

». und er sprach von ruchlosem Wahn und Feuer. ja, und von Disteln und Ähren, die in einem Strom ruhen.«

»Strom?«, stieß Bruder Basilius hervor. »Er sprach von einem Strom?«

»Ja, und von einer Insel«, erinnerte sich Jakob und hatte plötzlich eine Gänsehaut. »>Auf der Insel unserer Töchter<, - das waren seine Worte.«

Bruder Basilius schüttelte verständnislos den Kopf.

»Strom? Auf der Insel unserer Töchter? Was kann er bloß damit gemeint haben?«

»Fragt mich nicht, was Distelfinken und diese Insel unserer Töchter miteinander zu tun haben können. Ich weiß es ganz sicher nicht«, antwortete Jakob und öffnete wieder die Augen. »Leider ist das alles, an das ich mich erinnern kann.«

Der Mönch riss auf einmal Mund und Auge weit auf. »Das genügt! Denn jetzt weiß ich, wo er die Dokumente versteckt hat!«, rief er triumphierend. »Und zwar auf Niederwerth!«

»Seid Ihr Euch auch wirklich sicher?«, fragte Jakob skeptisch, weil er fürchtete enttäuscht zu werden.

»Ja, so sicher, wie man sich nur sein kann!« Bruder Basilius lachte, klatschte in die Hände und drückte ihn stürmisch an seine Brust. »Ihr habt das Rätsel gelöst, Jakob, gelobt sei unser Herr und Euer junges Gedächtnis! Endlich haben Grübeln, Rätselraten und zielloses Herumirren ein Ende. Denn nun wissen wir, wo wir zu suchen haben!«

Jakob fühlte sich von der Euphorie des Mönches mitgerissen, lachte und war von Stolz und Aufregung erfüllt. »Und wo liegt dieses Niederwerth?«, wollte er wissen, als Bruder Basilius ihn wieder freigegeben hatte.

»Niederwerth ist eine lange, schmale Insel im Rhein, nur einige Meilen flussabwärts von Koblenz. Und wisst Ihr, warum Bruder Anselm von ihr als >der Insel unserer Töchter< gesprochen hat? Weil sich auf dieser Rheininsel ein Nonnenkloster befindet - und ein berühmtes Madonnenbild mit Distelfinken! Früher ist die Abtei ein Augustiner-Chorherrenstift gewesen, doch 1580 musste man sie den Töchtern unseres Ordens überlassen, den Zisterzienserschwestern des einstigen Koblenzer Marienklosters in der Leer.« Er schlug sich vor die Stirn. »Und jetzt fällt mir auch wieder ein, dass ja die Tochter von Bruder Anselms älterer Schwester dort Priorin ist! Ich werde wahrlich alt, dass mir das nicht eher in den Sinn gekommen ist!«

Jakob grinste. »Wollen wir uns die Hand reichen, weil uns beiden erst so spät ein Licht aufgegangen ist?«

Bruder Basilius schlug ihm lachend auf die Schulter. »Ach was, wir wollen froh sein, dass wir den Ort des Verstecks endlich kennen. Und jetzt lasst uns zu den anderen gehen und sie mit unserer guten Nachricht überraschen!«

Marga, Henrik und auch Bartholomäus Bartholy wollten es erst nicht glauben, dass sie das Rätsel gelöst hatten. Als Bruder Basilius ihnen jedoch alles auseinander gesetzt und von dem berühmten Ma-rien-Tafelbild mit den Distelfinken erzählt hatte, das auf der Empore der Klosterkirche hing, war die Freude auch bei ihnen groß.

»Wann brechen wir auf?«, wollte Marga wissen.

»Heute ist es dafür schon zu spät. Aber morgen, wenn alles zur Ostermesse in die Kirchen strömt, machen wir uns in aller Herrgottsfrühe auf den Weg nach Niederwerth!«, versicherte Bruder Basilius. »Zum Glück sind es ja nur ein paar Meilen flussabwärts. Und statt über Land bis nach Vallendar zu reisen und erst dort überzusetzen suchen wir uns am besten gleich hier schon einen Fischer oder Fährmann, der uns zur Insel bringt.«

»Da kann ich Euch behilflich sein«, sagte der Maler. »Ich kenne einen verschwiegenen Fischer, für den ich meine Hand ins Feuer legen würde. Das gilt auch für seine beiden Söhne.«

»Gut, dann übernehmt Ihr das«, sagte der Mönch und nun hatte auch keiner etwas dagegen, mit einem Schluck Wein auf die freudige Nachricht anzustoßen.

Als es an der Zeit war sich zur Nachtruhe zu begeben, unterhielten sich Marga und Jakob noch eine ganze Weile im Flüsterton, um Henrik und Bruder Basilius nicht zu wecken, mit denen sie den Raum teilten und die nach dem Nachtgebet fast augenblicklich eingeschlafen waren.

»Jakob?«

»Ja?«

»Hast du dir schon überlegt, was du tust, wenn wir die Dokumente gefunden haben? Ich meine, dann wird doch jeder von uns seine eigenen Wege gehen, oder?«

»Ich weiß nicht. ich meine, ich weiß noch nicht, was ich dann tue«, gestand er, verschwieg ihr jedoch, dass er schon mehr als einmal darüber nachgedacht hatte. »Und du?«

»Ich auch nicht.«

»Uns wird schon etwas einfallen.«

»Uns?«, fragte Marga leise.

Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg, und war froh, dass sie es nicht sehen konnte. »Na ja, irgendetwas wird sich schon ergeben«, sagte er ausweichend.

»Ja, vermutlich.« Marga klang irgendwie enttäuscht.

Eine gedankenschwere Stille folgte für ein, zwei lange Augenblicke, die nur von Henriks gleichmäßigem Schnarchen unterbrochen wurde.

»Wenn du möchtest, können wir ja zusammenbleiben und sehen, wohin es uns treibt«, kam dann Jakobs Stimme aus der Dunkelheit, ganz leise, aber doch voll angespannter Erwartung. Er hatte all seinen Mut zusammengenommen und fürchtete nun, zu viel gewagt zu haben.

»Ja, das möchte ich sehr gerne«, flüsterte Marga.

Jakob spürte ihre Hand auf seinem Arm und hielt sie fest. »Ich auch«, raunte er und drückte mit freudig klopfendem Herzen ihre Hand. Und so trug der Schlaf schließlich auch sie in das Land der Träume, Hand in Hand.

Vierunddreißigstes Kapitel

Das Erwachen geschah jäh, rau und Stunden vor dem Morgengrauen. Derbe Stöße und laute Rufe rissen Jakob aus tiefstem Schlaf. Benommen richtete er sich auf. Ins Licht blinzelnd, blickte er sich verstört um.

Bartholomäus Bartholy sprang wie ein wild gewordener Derwisch zwischen seinen Gästen hin und her, in der einen Hand eine Lampe, in der anderen Hand seinen Spazierstock, mit dem er nach rechts und links Schläge austeilte, um sie schneller aus dem Schlaf zu holen.

Marga rieb sich verschlafen die Augen. »Was ist passiert?«, murmelte sie.

»Aufgewacht!«, rief der Maler aufgeregt und mit bleichem Gesicht. »Gefahr ist in Verzug!. Kommt zu Euch!. Ein schreckliches Unglück ist geschehen!«

Bruder Basilius sprang auf und fiel ihm in den Arm. »Wir sind wach, Meister Bartholy. Also redet: Was ist geschehen, dass Ihr so außer Euch seid und uns mitten in der Nacht aus dem Schlaf holt.«

Der Maler sackte auf einen Schemel, als hätte ihn die Kraft von einer Sekunde auf die andere verlassen. »Mein unseliger Geselle, der Kopist Lorenz Biesenfeld, hat Euch an den Domherrn verraten!«, eröffnete er ihnen mit gequälter Stimme. »Wie Judas ist er für einen Beutel Silberlinge zum Verräter geworden und hat sich zu Euren Feinden in den Rosenhof geschlichen! Und jetzt weiß Domherr von Drolshagen, dass die Papiere irgendwo im Kloster auf der Insel Niederwerth versteckt sind!«

»Nein, nicht das!«, stieß Jakob entsetzt hervor.

Henrik fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, seufzte geplagt und sagte: »Man kann nicht seinem Nächsten trauen, denn ihnen glauben heißt: verkauft sein und verloren!«

Marga machte ein bestürztes Gesicht, schüttelte zugleich aber den Kopf, als wollte sie es nicht glauben. »Aber das. das ist doch ganz unmöglich«, stammelte sie. »Das kann nicht sein!. Woher soll er denn vom Rosenhof und von Niederwerth gewusst haben?«

»Er hat uns belauscht!«, antwortete Jakob, der sich sofort an das knarrende Dielenbrett und den Schatten bei der Tür erinnert hatte. Er hatte also doch keine Gespenster gesehen, sondern beinahe Lorenz Biesenfeld beim Lauschen ertappt! Wäre er doch bloß schneller gewesen!

Der Maler nickte und machte eine zerknirschte Miene, als trüge er die Schuld an dem schändlichen Verrat seines Gesellen. »Er hat Euch und Bruder Basilius gestern im Atelier belauscht und sich sofort auf den Weg zur Himmeroder Herberge in der Kastorgasse gemacht«, bestätigte er. »Das einzige Glück im Unglück ist, dass er den Domherrn nicht sogleich angetroffen hat, sondern mehrere Stunden auf ihn warten musste. Und dass dessen Handlanger ihren ersten Abend in Koblenz mit einem ordentlichen Gelage gefeiert haben. Jetzt müssen sie erst ihren Rausch ausschlafen, bevor der Domherr etwas unternehmen und mit ihnen nach Niederwerth aufbrechen kann. Und das ist Eure einzige Chance ihm doch noch zuvorzukommen. Ich werde sofort zum Fischer Conrad Flade.«

»Haltet ein und holt Atem, Meister Bartholy!«, fiel Bruder Basilius ihm nun ins Wort. »Woher wisst Ihr überhaupt, dass Euer Geselle uns an den Domherrn verraten hat?«

Der Maler lachte freudlos auf. »Natürlich von ihm selbst. Ich konnte heute einfach nicht schlafen und bin in den Hof hinuntergegangen, weil mir so war, als machte sich dort jemand bei den Pferden zu schaffen. Doch es war mein Geselle, der betrunken nach Hause gekommen war«, berichtete er. »Ich hätte wohl kaum Misstrauen geschöpft, wenn ihm vor Schreck nicht der Beutel mit dem vielen Geld aus der Hand gefallen wäre. Als ich aber all die Silbermünzen sah, die mehr als einen halben Jahreslohn ausmachten, wusste ich sofort, dass er nicht auf anständige Weise zu so viel Geld gekommen sein konnte. Ich brauchte ihm auch nicht groß zu drohen, damit er mit der Wahrheit herausrückte. Er hat geredet wie ein Wasserfall. Ich habe ihn vor Wut und Scham links und rechts geohrfeigt und bin in meinem Erschrecken über das, was er getan hat, sofort ins Haus gestürzt, um Euch zu wecken. Noch nicht ganz auf der Treppe, kam mir in den Sinn, dass es wohl besser sei Lorenz vorerst in eine Kammer einzuschließen, und ich bin wieder hinaus auf den Hof.«

»Doch da hatte sich Euer Kopist schon aus dem Staub gemacht«, mutmaßte der Mönch grimmig.

»Ja«, sagte der Maler. »Die Schande, die mein Geselle über mich und mein Haus gebracht hat. «

Bruder Basilius ließ ihn nicht ausreden. »Ihr habt Euch nichts zu Schulden kommen lassen, Meister Bartholy. Nicht der geringste Vorwurf kann Euch gemacht werden. Was Euer Geselle getan hat, braucht Euer Gewissen nicht zu belasten. So bitter sein Verrat für uns auch ist, so mindert das jedoch nicht unsere Dankbarkeit für Eure großherzige Gastfreundschaft. Vergesst nicht, dass Jakob sich vielleicht nie wieder an Bruder Anselms Worte erinnert hätte, wenn wir nicht gemeinsam Euer neuestes Werk mit den Distelfinken bewundert hätten! Und damit genug der Worte über Lorenz Biesenfelds Treuebruch. Lasst uns die Zeit lieber dazu nutzen, um zu überlegen, wie wir das Beste aus der verfahrenen Situation machen können.«

»Wir dürfen nicht bis zum Morgengrauen warten, sondern müssen sofort aufbrechen!«, sagte Jakob.

Das meinte auch Henrik.

»So bleiben uns wenigstens ein paar Stunden Vorsprung, was genügen sollte, um die Papiere aus dem Versteck zu holen und von Niederwerth zu verschwinden, bevor der Domherr mit seiner Bande über das Inselkloster herfällt.«

Bruder Basilius nickte und fragte den Maler: »Könnt Ihr uns aus der Stadt bringen und den Fischer, mit dem Ihr befreundet seid, dazu bewegen, schon zu dieser Nachtstunde mit uns nach Niederwerth aufzubrechen?«

Bartholomäus Bartholy nickte eifrig. »Das lässt sich alles arrangieren. Die Nachtwächter am Rheintor kennen die Fischer und Fährleute. Und Georg Flade versteht sich gut mit ihnen. Ihr werdet also keine Probleme haben«, versprach er, was ihre Stimmung wieder hob. »Ich mache mich sofort auf den Weg zu ihm. In einer halben Stunde dürfte ich wieder zurück sein, um Euch zu holen. Haltet Euch also im Hof bereit!«

»Und was wird aus den Pferden?«, wollte Jakob wissen.

Sie besprachen sich kurz. Dann einigten sie sich darauf, dass Bartholomäus Bartholy die Pferde für sie verkaufen sollte. Der Maler bestand darauf, ihnen den Verkaufserlös, den er zu ihren Gunsten hoch schätzte, sogleich vorzustrecken. »Ihr werdet das Geld brauchen, wenn Ihr diese wichtigen Dokumente vor dem Zugriff des Domherrn bewahren und rasch außer Landes bringen wollt!«, sagte er, drückte Bruder Basilius den Geldbeutel in die Hand und eilte dann in die Nacht hinaus.

In weniger als einer halben Stunde kehrte er zurück. Sie warteten im Hof bei den Pferden im Unterstand, ihre wenigen Habseligkeiten geschnürt und geschultert.

»Es ist alles bereit! Die Torwachen sind eingeweiht, bezahlt und werden keine Schwierigkeiten machen und Conrad Flade wartet mit seinem Sohn Gebhard in seinem Boot auf Euch«, teilte er ihnen mit, sichtlich froh ihnen zur Abwechslung mal eine gute Nachricht überbringen zu können. »Kommt, ich bringe Euch zum Tor!«

Unter der Führung des kleinwüchsigen Malers schlichen sie aus dem Hinterhof und durch die nächtlichen Gassen von Koblenz. Ein kühler Wind wehte und der Himmel war klar. Glücklicherweise war es nicht sehr weit bis zum Rheintor. Sie gelangten schon nach wenigen Minuten zum Karmeliterkloster, das nur einen Steinwurf vom Rheinufer entfernt lag.

Die schmale Tür, die in das mächtige Tor aus eisenbeschlagenen Eichenbalken eingelassen war, stand einen Spalt offen. Von den beiden Wachen war nichts zu sehen. Mit klopfendem Herzen schlüpften sie durch die Tür und dann lag auch schon der Rhein in seiner majestätischen Breite vor ihnen.

»Kommt!«, drängte der Maler und lief auf die Anlegestelle zu, wo eine ganze Reihe von Fischerbooten vertäut lag. Das vierte war das von Conrad Flade.

Der Abschied von Bartholomäus Bartholy ging ebenso herzlich wie überstürzt vonstatten. »Ihr werdet es schaffen, Bruder Basilius! Eure mutige Mission wird von Erfolg gekrönt sein, darauf vertraue ich. Ich werde für Euch und Eure Freunde beten. Und nun ins Boot mit Euch!«

Jakob sprang zuerst ins Boot, gefolgt von Marga. Henrik warf ihm seinen Sack zu und Conrad Flade, ein stämmiger Mann mit einem vierkantigen Schädel, der seine äußere Erscheinung offensichtlich seinem Sohn Gebhard vererbt hatte, wies ihnen mit einer knappen Bewegung von Hand und Kopf ganz vorn am Bug einen Platz zu. Henrik und Bruder Basilius hockten sich hinter dem Mast auf die Ducht.

Der junge Flade, der fünfzehn Jahre alt sein mochte, warf auf einen leisen Zuruf seines Vaters die Leinen los und stieß das Boot mit einer Stange vom Steg ab. Der Fischerkahn löste sich aus der Reihe, richtete seinen Bug schräg auf die Flussmitte und wurde fast augenblicklich von der starken Strömung des Rheins erfasst. Die kleine Gestalt des Malers war nur noch einen Moment vor den Mauern der Stadt zu erkennen, dann verschmolz sie mit den tiefen Schatten der Nacht.

»Weißt du, wie weit es bis zu dieser Insel Niederwerth ist?«, fragte Marga leise, während der Fischerjunge hinter ihnen das Segel hochzog. Das dunkle, rostbraune Tuch blähte sich im Wind und sofort merkte man, wie die Kraft auf den Kiel einwirkte und das Boot gleich schneller vorantrieb.

»Nein, aber allzu weit kann es nicht sein«, antwortete Jakob und warf einen Blick auf die Festung Ehrenbreitstein, die sich zu ihrer Rechten auf einem Berg erhob. Das Licht von Fackeln war weithin zu sehen. »Bruder Basilius hat nämlich gesagt, dass die Insel nur wenige Meilen unterhalb von Koblenz in einer Biegung mitten im Strom liegt, wo sich der Rhein nach Westen wendet. Wind und Strömung bringen uns schnell voran. Und so klar, wie die Nacht ist, werden wir die Insel bestimmt schon in Kürze vor uns liegen sehen.«

Das Knarren des Mastes und das Rauschen der Fluten, die an der Bordwand entlangrauschten, klangen in der Stille der Nacht überlaut.

»Osternacht«, murmelte Marga.

»Ja«, sagte Jakob und schaute wie Henrik und Bruder Basilius immer wieder zurück, voller Furcht ein oder gar mehrere Boote auszumachen, die ihnen folgten - mit dem Domherrn und seinen Männern an Bord. Es war nämlich nicht auszuschließen, dass der Geselle noch einmal zum Rosenhof zurückgekehrt war, um in Erwartung einer weiteren Belohnung Melchior von Drolshagen aus dem Schlaf zu holen und ihn von ihrem vorgezogenen Aufbruch zu unterrichten. Wenn er das getan hatte, betrug ihr Vorsprung vielleicht weniger als eine halbe Stunde. Und dann würde dies für sie zu einem Wettlauf gegen die Uhr werden - und zwar auf Leben und Tod!

Breit wälzte sich der Rhein durch die Nacht, um sich dann mit behäbiger Gelassenheit nach Westen zu wenden. Angestrengt starrte Jakob flussabwärts und versuchte die vor ihm liegende Dunkelheit mit seinen scharfen Augen zu durchdringen.

Das Warten zehrte an seinen Nerven und er wusste, dass es Marga, Henrik und Bruder Basilius nicht anders erging. So viel stand auf dem Spiel, nun, da sie dem Ziel zum Greifen nahe waren.

Jakob ertappte sich dabei, dass er ein stummes Bittgebet gen Himmel schickte. Und im nächsten Moment sah er die südliche Spitze der Insel.

»Da!«, rief er aufgeregt und wies auf das, was wie ein schwarzer, buschiger Keil aus dem Wasser aufragte und den Fluss in zwei Arme teilte. »Das muss Niederwerth sein! Stimmt das? Ist das schon die Insel?«

Der Fischer, dessen Wortkargheit jedem monastischen Schweigegelübde alle Ehre gemacht hätte, begnügte sich mit einem Nicken und einem Brummlaut, der wohl eine Bestätigung sein sollte. Dann drückte er die Ruderpinne von sich, sodass das Boot nun aus der Mitte des Stroms glitt und Kurs auf den rechten Arm nahm, der zwischen dem Ostufer der Insel und dem rechtsrheinischen Ufer, wo die Ortschaft Vallendar lag, dahinfloss.

Die Insel Niederwerth, die an beiden Enden spitz zulief und an ihrer breitesten Stelle gut eine halbe Meile maß, war mehrere Meilen lang. Ihr schloss sich flussabwärts eine weitere Insel an, Graswerth genannt, fast ebenso lang, aber im Vergleich zu Niederwerth so schmal wie ein Aal.

Das Ufer war streckenweise mit Pappeln und Weiden bestanden. Dahinter schlossen sich Wiesen und Ackerland an. Hier und dort zeigten sich die Umrisse von kleinen Gehöften. Dann kam das ehemalige Augustiner-Chorherrenstift, das nun von den Zisterzienserin-nen bewohnt wurde, in Sicht. Die Klosterkirche mit ihren beiden unterschiedlich hohen Dachreitern erhob sich in Ufernähe und war auch bei Dunkelheit schon von weitem zu erkennen. Die Südostseite war zur Hälfte von einem Baugerüst eingefasst, das bis zum Dach hinaufreichte.

»Sieh doch mal!«, rief Marga erstaunt. »All die Lichter!«

Ein Meer von Fackeln erhellte das Gelände der Abtei und den Uferbereich, wo an einem schmalen Anlegesteg über ein Dutzend Boote vertäut lag.

»Wir haben wohl genau den Zeitpunkt der Osternachtmesse abgepasst«, vermutete Jakob und sah, wie aus zwei Ruderbooten, die soeben erst angelegt hatten, mehrere Männer, Frauen und Kinder ausstiegen, die wohl aus Vallendar am Festland herübergerudert waren. Er bemerkte nun, dass die Klosteranlage schwere Beschädigungen aufwies, als wäre die Abtei nach einer langen Belagerung von feindlichen Truppen mit dem Rammbock gestürmt worden. Große Teile der Umfassungsmauern waren eingestürzt und mehrere ufernahe Gebäude lagen in Trümmern.

Das Segel fiel und Georg Flade lenkte sein Fischerboot mit einem geschickten Manöver an den Steg. Sein Sohn sprang behände an Land und warf das Bugseil um einen der Pfosten.

»Wartet hier auf uns und haltet Euch bereit!«, trug Bruder Basilius dem Fischer auf und drückte ihm mehrere Münzen in die Hand, obwohl Bartholomäus Bartholy ihn schon entlohnt hatte.

»Haben wir Zeit, um an der Ostermesse der Abtei teilzunehmen?«, brach Georg Flade seine Schweigsamkeit.

Der Mönch schüttelte den Kopf. »Ihr wartet besser hier im Boot.

Es kann sein, dass wir ganz schnell von hier wegmüssen.«

Der Fischer machte eine enttäuschte Miene.

»Beeilen wir uns!«, drängte Bruder Basilius und stieg aus dem schwankenden Boot. Und während sie über den Steg und auf das Kloster zugingen, sagte er leise: »Wir müssen versuchen die Dokumente aus dem Versteck zu holen, noch bevor Nonnen und Inselgemeinde zur Ostermesse in die Kirche einziehen. Denn während der Messe können wir natürlich nicht an das Tafelbild heran, ohne einen Aufruhr auszulösen. Es hängt nämlich auf der Nonnenempore.«

»Nonnenempore? Was ist das?«, fragte Jakob.

»Sie entspricht in etwa dem Chorgestühl der Mönche. Auf dieser Empore nehmen die Nonnen am Gottesdienst teil, getrennt vom Altarraum am entgegengesetzten Ende des Kirchenschiffes und der Gemeinde unter ihnen. Und wer weiß, wie knapp unser Vorsprung ist.«

»Und wie sollen wir das schaffen?«, wollte Marga wissen und im selben Augenblick begann die Klosterglocke zu läuten. »Es sieht doch so aus, als würde die Messe jeden Augenblick beginnen.«

»Wir haben noch etwas Zeit. Erst sammeln sich die Leute auf dem Hof und dann werden vor dem Einzug die Kerzen angezündet, die anschließend in die Kirche getragen werden«, antwortete Bruder Basilius. »Wichtig ist nur, dass wir so schnell wie möglich Schwester Catharina finden, die Priorin. Sie oder die Äbtissin Adelheid von Hefgenstern können dafür sorgen, dass wir die fünf ungestörten Minuten bekommen, die wir brauchen, um die Dokumente hinter dem Marienbild hervorzuholen.«

Henrik nickte. »Die Zeit ist reif, die Stunde da!«

Jakobs Blick ging über die eingestürzten Mauern und halb eingedrückten Gebäude. »Wisst Ihr, was die schweren Schäden zu bedeuten haben?«

»Das sind die Folgen des katastrophalen Eisgangs vom letzten Jahr«, erklärte Bruder Basilius, als sie über den belebten Hof auf das Konventsgebäude zugingen. »Manchmal ist es recht heilsam, dass uns die gewaltigen Kräfte der Natur erinnern, dass wir Menschen nichts für die Ewigkeit errichten, auch wenn wir uns manchmal für so mächtig dünken.«

Das Portal stand weit auf. Sie eilten die Treppen hoch und stießen im Vorraum auf eine Nonne, die nicht viel älter als Marga war. Bruder Basilius erklärte, wer er war, und forderte sie auf sie unverzüglich zu ihrer Priorin oder Äbtissin zu bringen. »Wir kommen in einer höchst dringenden Angelegenheit, die nicht einmal in dieser Osternacht Aufschub verträgt!«, erklärte er nachdrücklich.

Die junge Nonne nickte und eilte ihnen mit wehenden Gewändern voraus. Sie führte sie durch den Südflügel des Kreuzgangs, in dem sich längs der Wand Baumaterial in Form von Brettern und Balken auftürmte, und öffnete dann die Tür zum Kapitelsaal. Der große Saal lag bis auf den vorderen Teil, wo zwei einsame Kerzen brannten, in Dunkelheit getaucht. Die Äbtissin Adelheid von Hef-genstern thronte steif und hager wie ein getrockneter Stockfisch auf ihrem geschnitzten Lehnstuhl. Eine zweite, schwergewichtige Nonne kauerte vor ihr auf dem Boden, wie ein Häufchen Elend zusammengesunken und das Gesicht in ihren Händen verborgen, als schämte sie sich ihrer Tränen oder ihrer Schande.

»Ehrwürdige Mutter, Ihr habt Besuch«, meldete die junge Nonne mit zaghafter Stimme. »Pater Basilius, ein Zisterzienserbruder, bestand mit seinen Begleitern darauf, Euch umgehend zu sprechen. Sein Anliegen sei von allergrößter Wichtigkeit!«

»Es ist gut, Schwester Johanna. Lasst sie herein und dann geht!«, befahl die Äbtissin barsch und ohne den Kopf zu wenden.

Bruder Basilius betrat den Kapitelsaal, gefolgt von Jakob, Marga und Henrik. Die junge Nonne zog sich wie befohlen zurück und schloss die Tür hinter ihnen.

»Hochwürdige Äbtissin, ich bedaure sehr ausgerechnet zu dieser heiligen Stunde bei Euch hereinzuplatzen«, begann Bruder Basilius, während er zu ihr trat. »Aber der Herr ist mein Zeuge, dass die Angelegenheit, die mich und meine Freunde in Euer Kloster geführt hat, von allergrößter Bedeutung ist. Ich bitte inständig um Euer Vertrauen und Eure Hilfe. Leider ist für lange Erklärungen jetzt keine.«

»Ihr könnt Euch Eure Worte sparen, Bruder Basilius!«, schnitt ihm die schon betagte Äbtissin schroff das Wort ab.

Eine ungute Ahnung überfiel Jakob plötzlich. Ihm war, als wäre der große, dunkle Kapitelsaal mit seinen Bankreihen, schweren Säulen und tiefen Seitennischen gar nicht so ausgestorben, wie er schien. Die schwarzen Schatten im hinteren Teil schienen sich zu bewegen und voller Leben zu sein. Eine Gänsehaut überlief ihn.

Im selben Augenblick erhob sich die schwergewichtige Nonne, die vor der Äbtissin am Boden gekniet hatte, mit einem Ruck, riss sich Haube und Schleier vom Kopf und fuhr zu ihnen herum. Doch es war keine Nonne, sondern Melchior von Drolshagen! Gleichzeitig sprangen fünf Männer auf, die offenbar in der Dunkelheit im hinteren Teil des Saals flach auf dem Boden gelegen hatten, und stürmten vor. Zwei waren mit Pistolen bewaffnet, die anderen drei zogen ihre Degen blank. Der Scharfrichter Mundt gehörte zu den Männern, die mit der Klinge in der Hand näher kamen.

Jakob und seine Freunde waren vor Entsetzen wie gelähmt. Sie saßen in der Falle!

»Lasst mich Euch willkommen heißen, Bruder Basilius!« höhnte der Domherr. »Dieser Trunkenbold Eures Malerfreundes hat seine Sache wirklich ausgezeichnet gemacht. Ihr seid ihm wirklich auf den Leim gegangen. Und wie rücksichtsvoll von Euch so schnell zu kommen. Ich fürchtete schon die heilige Ostermesse zu verpassen.« Dann rief er mit scharfer Stimme: »Pleisgen!«

Die Tür wurde hinter ihnen aufgerissen. Der Folterknecht und zwei weitere von Drolshagens Schergen traten in den Kapitelsaal. Damit war ihr Schicksal besiegelt. Gegen diese überwältigende Übermacht vermochten sie nichts auszurichten.

Bruder Basilius fasste sich zuerst. »Lasst den Jungen und das Mädchen laufen!«, forderte er ihn auf. »Sie haben mit der ganzen Sache nichts zu tun und sie sind jetzt ohne weitere Bedeutung für Euch. Ich werde Euch sagen, wo sich die Papiere befinden.«

Der Domherr lächelte bösartig. »Oh, ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass Ihr mir das verraten werdet, Bruder Basilius. Im Umgang mit Ketzern habe ich Erfahrung. Aber ich möchte doch nichts überstürzen und Eure treuen Begleiter schon gar nicht um das Vergnügen bringen Zeuge zu sein, wie diese Geschichte ausgeht. Und mit diesem Burschen hier.« Er trat auf Jakob zu.». habe ich noch ein ganz persönliches Gespräch zu führen.« Er ohrfeigte ihn rechts und links und zischte ihm zu: »Ihr werdet für jeden Schlag mit Eurem Knüppel tausendfach bezahlen und dann werde ich Euch auf den Scheiterhaufen schicken!«

Jakob spuckte ihm ins Gesicht. »Ihr seid nichts als ein blutrünstiger Schlächter und Mörder!«, schrie er ihn an. »Ihr seid es, der das Kreuz und Gottes Namen besudelt! Verflucht sollt Ihr sein!«

Der Domherr schlug ihm noch einmal ins Gesicht, so hart, dass Jakob zu Boden stürzte. Angewidert wischte er sich den Speichel aus dem Gesicht.

Die Äbtissin erhob sich nun abrupt von ihrem Stuhl. Ihr Gesicht glich einer Maske voll scharfer Kanten und tiefer Furchen. »Genug!«, rief sie mit scharfer Stimme. »Ich dulde in meinem Kloster keine Gewalt! Fesselt die Ketzer und bringt sie nach unten! Nach der Messe schafft Ihr sie mir so schnell es geht von der Insel!«, verlangte sie von Drolshagen. »Und nun lasst uns gehen. Man wird schon auf mich warten. Und Ihr habt Euch darauf vorzubereiten, gleich die heilige Osternachtsmesse zu konzelebrieren.«

Der Domherr nickte und sein wütendes Gesicht nahm einen selbstzufriedenen Ausdruck an. »Ihr habt Recht, hochwürdige Äbtissin. Alles zu seiner Zeit. Dieses Ketzerpack läuft uns nicht weg und wird seine gerechte Strafe erhalten. Jetzt feiern wir erst einmal den Beginn der österlichen Freudenzeit!«, pflichtete er ihr bei und wandte sich dann an seine Männer: »Pleisgen!. Wilrich!. Fesselt ihnen die Hände auf dem Rücken und schafft sie in den Keller hinunter! Dort bindet Ihr ihnen auch die Füße zusammen. Diesmal will ich nicht das geringste Risiko eingehen. Und Ihr werdet Wache halten, Mundt!«

Fünfunddreißigstes Kapitel

Mundt vergewisserte sich noch einmal, dass alle Hand- und Fußfesseln solide geknotet waren, versetzte dem Mönch einen Tritt in die Rippen und warf dann die schwere Bohlentür hinter sich zu. Augenblicklich umgab sie völlige Finsternis in dem hohen und kalten Kellergewölbe, das über kein noch so winziges Fenster verfügte. Die Tür schloss so dicht, dass von dem Licht, das der Scharfrichter draußen im Gang brennen hatte, nicht einmal ein schwacher Schimmer zu ihnen drang.

»Kann jemand seine Fesseln lockern?«, fragte Bruder Basilius mit gedämpfter Stimme, nachdem der Scharfrichter die schweren Eisenriegel vorgeschoben hatte.

»Ich kann noch nicht einmal meine Finger bewegen! Sie sind schon jetzt ganz taub!«, antwortete Marga und ihre Stimme zitterte vor mühsam beherrschter Angst.

»Es geht nicht!«, keuchte Jakob. Auch ihn würgte die Angst wie eine unsichtbare Hand, die sich aus der Dunkelheit um Herz und Kehle legte. Und wie Marga spürte auch er schon Schmerzen in seinen Handgelenken. Die Männer des Domherrn hatten ihnen nicht nur Hände und Füße gefesselt, sondern diese auch noch miteinander verknotet, sodass sie nach hinten gekrümmt am Boden lagen.

»Die Kerle haben diesmal ganze Arbeit geleistet«, knurrte Henrik und fügte dann mit einem resignierten Seufzen hinzu: »Ich lieg in tiefer Kerkernacht und kein Besuch von Gott und Menschen. Dunkel bin ich wie die Kammer, Leib und Lager nass von Tränen. Einst müssen wir alle, Knechte und Fürsten, über den Felsen des Todes, oh blickte man milde uns nach!«

»Lasst solche Reden, Henrik! Es besteht kein Grund den Mut sinken zu lassen!«, kam Bruder Basilius’ Stimme aus der pechschwarzen Finsternis. »Man soll niemals die Hoffnung fahren lassen. Noch ist nichts verloren. Alles steht in Gottes Macht.«

»Und ob wir verloren sind! Warum wollt Ihr das nicht zugeben?«, brauste Jakob auf und verstand nicht, wie der Mönch in einer derart aussichtslosen Situation noch von Mut und Hoffnung sprechen konnte.

»Wer unerschütterlich glaubt, ist nie verloren«, erwiderte der Mönch gelassen.

»Habt Ihr denn keine Angst vor dem Tod?«, fragte Marga mit erstickter Stimme.

»Gewiss habe ich Angst«, gestand er. »Angst vor dem Sterben und den Schmerzen, nicht jedoch vor dem Tod. Aber sogar diese Angst, die wohl nur zu menschlich ist, kann die Erwartung und die Freude im Tod jemandem in die Arme zu fallen, den man im Glauben ein Leben lang voller Leidenschaft gesucht hat, nicht ersticken. Aber noch besteht kein Grund für diese Angst.«

»Redet uns doch nichts ein!«, rief Jakob erregt. »Wir sind erledigt! Drolshagen hat gewonnen. Und er wird sich für alles, was wir ihm angetan haben, bitterlich rächen!«

»Nein, noch ist es nicht so weit. Der Domherr ist ein berechnender Mann, der in erster Linie daran interessiert ist, die Dokumente in seinen Besitz zu bringen und zu vernichten. Nun, das werden wir nun nicht mehr verhindern können, so bitter das auch ist.«

»Er wird uns alle auf den Scheiterhaufen bringen!«, prophezeite Jakob düster. Ein kalter Windhauch, der von oben kam und an ihm vorbeizog, ließ ihn erschauern.

»Sicher, das möchte er wohl gerne. Aber ich bin sicher ihn davon überzeugen zu können, dass er nichts damit gewinnt, sondern seinen Sieg im Gegenteil gefährdet«, versicherte der Mönch.

»Und wie wollt Ihr das anstellen?«, fragte Marga mit neuer Hoffnung.

»So ohne weiteres kann auch ein Trierer Domherr nicht einen Zisterzienserpater verschleppen und auf den Scheiterhaufen bringen. Einmal ganz davon abgesehen, dass ich einem Kloster angehöre, das nicht zum Machtbereich des Kurfürsten von Trier gehört, schützt mich vorerst noch die Exemtion.«

»Aber nicht uns!«, warf Jakob ein.

»Wenn er einen Handel mit mir schließen will, ist dieser ohne Euch nicht zu haben. Es gibt da nämlich einige einflussreiche Männer, die von Bruder Anselm und meinem Auftrag wissen. Der Heisterbacher Abt Engelbert von Wallersheim, dem ich die Dokumente bringen sollte und der jetzt schon auf dem Weg nach Santiago de Compostela ist, ist nur einer von ihnen. Auf jeden Fall haben die Stimmen dieser Männer Gewicht und Drolshagen wird es vorziehen, die Papiere ohne großes Aufsehen zu vernichten und uns laufen zu lassen, als einen großen Streit zu entfachen - und zwar nicht nur über die Rechtmäßigkeit seines Vorgehens, sondern auch über den Inhalt der Papiere.«

»Glaubt Ihr das wirklich?«, fragte Jakob, der seine Angst zu verdrängen versuchte und sich wie Marga nur zu gern an jede noch so kleine Hoffnung klammern wollte.

»Drolshagen ist skrupellos und gefährlich, aber bestimmt kein Dummkopf, der seinen Triumph wegen persönlicher Kleinigkeiten aufs Spiel setzt«, erklärte Bruder Basilius im Brustton der Überzeugung. »Also habt Hoffnung!«

»An deine Weisung will ich mich halten«, sagte Henrik.

»Außerdem.« begann Bruder Basilius.

»Oh mein Gott!«, stieß Jakob in dem Moment aufgeregt hervor. »Seht doch da drüben in der Ecke!«

Ein schwacher Lichtschimmer, der schnell an Helligkeit zunahm, riss die absolute Dunkelheit ihres Kerkers auf. Das Licht kam von oben und im ersten Moment erschien es ihnen wie ein Wunder, wie eine göttliche Erscheinung. Doch Sekunden später bemerkten sie, dass sich dort in der Ecke an der Decke ein kleiner, etwas mehr als handbreiter Luftschacht befand, der diesen tiefen Kellerraum wohl belüften sollte. Aus dieser Öffnung an der Decke drang das Licht, das sich Augenblicke später als ein brennender Kerzenstummel entpuppte. Er steckte horizontal zwischen den Zinken einer Gabel, an dessen Ende eine Schnur befestigt war. Die Flamme brannte wegen der Schräglage mit wildem Flackern und das flüssige Wachs tropfte nur so herab.

Die Kerze verharrte kurz über dem Boden. Und dann fiel ein Messer aus der Öffnung des Luftschachtes, gefolgt von einem zweiten und dritten! Mit einem dumpfen Laut schlugen sie auf dem harten Lehm auf.

»Nacht und Bangen - weggegangen!«, stieß Henrik hervor und rollte sich sofort zu der Stelle hinüber, wo die drei scharfen Messer lagen. Beinahe wäre er von dem Knüppel am Kopf getroffen worden, der mit etwas Verzögerung auf die Messer folgte. Kurz darauf tauchte eine Brechstange in der Öffnung auf, die an einer festeren Kordel hing und sich ganz langsam herabsenkte.

»Ein Wunder!«, stieß Marga fassungslos hervor.

Bruder Basilius lachte. »Ja und ich wette, dass dieses Wunder den Namen der Priorin trägt. Das ist bestimmt das Werk von Schwester Catharina!«

Henrik drehte sich so, dass er eines der Messer zu fassen bekam, und rief dann Jakob zu sich, um dessen Handfesseln mit der scharfen Klinge zu durchtrennen. Das ging nicht ohne einige kleinere Schnittwunden ab, doch Jakob lachte trotz der Schmerzen, denn nun wusste er, dass er gleich seine Fesseln los sein würde. Sowie seine Hände frei waren, nahm er Henrik das Messer ab. Im Handumdrehen fielen alle Stricke, mit denen man sie verschnürt hatte.

Sie massierten sich Hand- und Fußgelenke. Und dann bemerkte Bruder Basilius den Zettel, der wohl aus dem Schacht geflattert war, während sie sich gegenseitig von den Fesseln befreit hatten. Er hob ihn auf und las vor, was in hastig hingekritzelten Zeilen auf ihm geschrieben stand:

Ich bete, dass es Euch gelingt aus dem Keller auszubrechen. Versucht die Wache zu Euch zu locken und zu überwältigen. Nehmt nur im Notfall das Stemmeisen. Dann kommt in den Kapitelsaal. Die Flucht ist nur von hier aus möglich. Überall draußen sind Wachen des Domherrn. Vergesst auf keinen Fall das Stemmeisen mitzubringen! Werde Euch alles erklären. Mehr kann ich leider nicht für Euch tun. Vernichtet diesen Zettel sofort. Möge der Allmächtige Euch beistehen und Eure Rettung möglich machen! C.

»Kein Zweifel, es ist Schwester Catharina, Bruder Anselms Cousine, die uns in dieser schweren Stunde der Not zur Seite steht!«, versicherte Bruder Basilius und hielt den Zettel über die Flamme. Sofort fing das Papier Feuer und verbrannte zu einem Häufchen Asche.

»Kann mir einer verraten, wozu wir zur Flucht, die nur aus dem Kapitelsaal möglich sein soll, ein Stemmeisen brauchen?«, fragte Jakob verwundert in die Runde.

Marga zuckte die Achseln. »Ich habe nicht den Schimmer einer Ahnung. Aber um das zu erfahren, müssen wir erst einmal aus diesem Gewölbe herauskommen.«

Henrik nickte. »Wir haben drei Messer, einen Knüppel und eine Brechstange«, sagte er. »Jetzt muss uns nur noch etwas Geniales einfallen, wie wir Mundt am besten zu uns locken, ohne dass er Verdacht schöpft.«

»Ich glaube, ich weiß, wie wir das anstellen können«, sagte Bruder Basilius und erklärte ihnen, was ihm vorschwebte.

Sie steckten die zerschnittenen Stricke ein und legten sich dann wie abgesprochen auf den Boden.

»Seid ihr bereit?«, fragte der Mönch. »Habt Ihr die Waffen gut versteckt und die Hände auch auf dem Rücken an den Fersen?«

Marga, Henrik und Jakob bejahten.

»Gut, dann lasst es uns mit Gottes Hilfe wagen!« Bruder Basilius blies den Kerzenstummel aus, steckte ihn ein und legte sich so, als wären ihm noch immer Hände und Füße zusammengebunden. Augenblicke später begann er aufgeregt zu schreien: »Mundt!. Hört Ihr mich? . Mundt!. Um Gottes willen, so antwortet, Mann!«

»Haltet das Maul!«, kam die gedämpfte Stimme von jenseits der schweren Bohlentür.

»Ihr müsst eingreifen, Mundt! Jakob versucht sich das Leben zu nehmen!«, schrie Bruder Basilius und nun machten sich auch Marga und Henrik mit aufgeregten Zurufen bemerkbar.

»Er will sich das Leben nehmen? Macht Euch nicht lächerlich! Wie soll er das denn anstellen? Ihr seid so fest verschnürt, dass Ihr nicht einmal mit dem Kopf gegen die Wand rennen könnt!«, spottete der Scharfrichter.

»Er hat an der Wand eine scharfe Mauerkante gefunden. Und jetzt versucht er sich daran die Halsschlagader aufzureißen!«, schrie Bruder Basilius. »Er will mir nicht glauben, dass ich Drolshagen ein Geschäft anzubieten habe, das Euer Herr gewiss nicht ausschlagen und uns alle vor dem Tod bewahren wird. Er will lieber hier sterben als unter der Folter oder auf dem Scheiterhaufen!«

»Der Junge ist klüger als Ihr, Kuttenträger! Aus Eurem Geschäft wird nämlich garantiert nichts. Was mein Herr von Euch will, wird er auch so bekommen!«

»Ihr irrt, Mundt!«, brüllte Bruder Basilius. »Das Geschäft, das ich meine, hat mit den Dokumenten nichts zu tun. Ich habe ihm noch etwas anderes zu bieten! Aber auch wenn er darauf nicht eingehen sollte, was sehr unwahrscheinlich ist, wird der Domherr großes Interesse daran haben, Jakob nach der Messe noch lebend anzutreffen. Wenn Ihr Jakob jetzt einfach verbluten lasst, kann Euch das Kopf und Kragen kosten, bestimmt aber Euer profitables Amt als Blutscherge von Trier!«

»Ihr seid ein mieser Charakter, das wissen wir schon lange, Mundt!«, schrie nun Henrik mit hasserfüllter Stimme. »Aber wenn Ihr jetzt nichts unternehmt, seid Ihr zudem auch noch ein Schwachkopf! Wahrscheinlich seid Ihr beides. Mögt Ihr auf ewig im Fegefeuer brennen!«

»Mein Gott, lasst Jakob doch! Vielleicht ist es besser so, wenn wir hier schon sterben«, rief Marga verzweifelt.

»Dir werde ich das Maul stopfen, Schwede!«, antwortete der Scharfrichter wütend. »Und wenn dieser Lügenbursche Jakob Tillmann glaubt, er kann dem Scheiterhaufen entkommen, dann irrt er sich gewaltig!« Damit riss er die schweren Eisenriegel zurück.

»Aufgepasst jetzt!«, raunte Bruder Basilius.

Die Tür schwang auf und Licht fiel aus dem Kellergang in das hohe Gewölbe. Mit einem Knüppel in der Hand stürzte Mundt auf Jakob zu, der sich mit dem Hals gegen die Mauersteine gepresst hatte. »Dir werde ich es zeigen mir Schwierigkeiten machen zu wollen!«, rief er und holte zum Schlag aus.

Wie auf ein stummes Kommando hin sprangen Marga, Henrik und Bruder Basilius auf, während Jakob herumwirbelte, sich mit dem Rücken an der Wand abstützte und dem Scharfrichter beide Füße mit aller Kraft in den Magen rammte.

Mundt riss in fassungslosem Entsetzen die Augen auf, während er von der Wucht des Trittes zurückgeschleudert wurde, direkt in die Arme von Bruder Basilius. Ein röchelnder Laut entrang sich seiner Kehle. Und dann fällte Henrik ihn auch schon mit dem Knüppel, den er auf den Kopf von Mundt niedersausen ließ. Bewusstlos stürzte er zu Boden.

Henrik lachte trocken auf. »Das Grab, für mich gemacht, verschlang die Bösen, die Schlinge, schlau erdacht, fing ihren eigenen Fuß«, zitierte er aus den Psalmen, während er ihm hastig Fesseln anlegte.

»Mein Gott, wir haben es tatsächlich geschafft«, flüsterte Marga.

»Noch sind wir nicht in Sicherheit. Beeilen wir uns, dass wir in den Kapitelsaal kommen!«, rief Bruder Basilius gedämpft.

Sie liefen die Kellertreppe hoch und gelangten in die Küchenräume. Auf Zehenspitzen schlichen sie von dort in den Kreuzgang. Als sie um die Ecke kamen und in den Ostflügel einbogen, hörten sie den feierlichen Gesang aus der Klosterkirche.

Die Tür zum Kapitelsaal stand einen Spalt offen. Schwacher Kerzenschein drang in den dunklen Kreuzgang. Eine kleine, zierliche Gestalt löste sich aus dem Türbogen und winkte sie ungeduldig heran.

Jakob, Marga, Henrik und der Mönch huschten durch die Tür in den Kapitelsaal. Auf einem Sims hinter dem Stuhl der Äbtissin brannten zwei Kerzen.

Schwester Catharina, Priorin des Klosters und trotz ihres reifen Alters noch mit den klaren Gesichtszügen einer jungen Frau gesegnet, schloss hinter ihnen hastig die Tür, verriegelte sie und bekreuzigte sich. »Dem Herrgott sei Dank und Lobpreis, dass er seine schützende Hand über Euch gehalten hat!«

Bruder Basilius ergriff die schmalen Hände der Nonne. »Und Euch, die Ihr durch Eure Tapferkeit dieses Wunder erst möglich gemacht habt, Schwester Catharina! Euer Onkel, seine Seele ruhe in Frieden, wäre stolz auf Euch, wenn er von Eurer mutigen Tat erfahren hätte.«

»Ohne Hilfe unserer ehrwürdigen Äbtissin hätte ich nichts für Euch tun können«, eröffnete ihnen die Nonne. »Ihr müsst wissen, dass auch sie nur gute Miene zum bösen Spiel gemacht hat, um den Domherrn zu täuschen und Euch noch eine Chance zur Flucht zu verschaffen. Doch nun lasst uns nicht länger kostbare Zeit mit Reden vergeuden. Habt Ihr das Stemmeisen?«

»Ja«, sagte Henrik. »Hier ist es.«

»Gut!«

»Wofür brauchen wir ein Stemmeisen?«, fragte Marga. »Wir können doch hier aus dem Fenster springen, zum Ufer hinunterlaufen und mit einem der Boote flüchten.«

»Der Domherr hat nicht nur Euren Fischer weggeschickt, sondern auch alle Boote, die es auf der Insel gibt, zum Anlegesteg bringen und an die Kette legen lassen. Zudem hättet Ihr gegen die bewaffneten Wachen, vier Mann an der Zahl, keine Chance, weil es keine Möglichkeit gibt sich unbemerkt anzuschleichen und sie zu überrumpeln«, erklärte die Priorin, während sie eine der Kerzen vom Sims nahm. »Und warum solltet Ihr Euch auch unnötig in Gefahr begeben, wenn es einen sicheren Fluchtweg gibt, den außer unserer ehrwürdigen Mutter und mir niemand sonst kennt?«

»Und wo ist dieser sichere Fluchtweg?«, fragte Bruder Basilius.

»Er beginnt hier im Kapitelsaal - und zwar unter einer dieser Grabplatten, unter denen einige der früheren Äbte des AugustinerChorherrenstiftes begraben liegen!« Die Priorin wies auf eine der mächtigen Steinplatten, die an der Längsseite des Kapitelsaals in den Boden eingelassen waren. Sie trugen lateinische Inschriften, die wie das jeweilige Abtwappen in den Stein eingemeißelt waren.

»Es gibt hier einen unterirdischen Gang, der aus dem Kloster hinausführt?«, fragte Jakob ebenso ungläubig wie aufgeregt, während sie alle dem angeblichen Abtgrab zustrebten.

»Ja, wir haben bis vor wenigen Monaten auch nichts davon geahnt. Bruder Anselm hat ihn uns gezeigt, bevor er abgereist ist. Es ist ein sehr langer und recht niedriger Gang, der am Westufer in eine kleine Felsgrotte mündet. Der Ausgang liegt unter den Ästen einer mächtigen Weide verborgen. Der geheime Gang muss schon Jahrhunderte alt sein und den Mönchen früher als Fluchtweg gedient haben. Aber er ist noch begehbar, wie Bruder Anselm mir versichert hat, wenn auch das Mauerwerk an vielen Stellen schon sehr brüchig sein soll.«

»Aber ohne Boot bringt uns auch der beste unterirdische Gang nicht von hier fort.«, sagte der Mönch.

»Bruder Anselm war, wie Ihr wisst, ein sehr vorsichtiger und vorausschauender Mann«, antwortete die Priorin mit einem leichten Lächeln. »Er hat ein Boot in die Grotte geschafft, bevor er abgereist ist.«

»Dann sind wir gerettet!«, stieß Marga erlöst hervor.

Henrik strahlte über das ganze Gesicht. »Mit unbegreiflich großen Zeichen erhört uns deine Liebe, du Gott unseres Heils!«, rief er.

Schwester Catharina zeigte Henrik und Bruder Basilius, wo sie das Stemmeisen ansetzen mussten. Knirschend glitt die schwere Steinplatte zur Seite und gab den Blick auf gut zwei Dutzend grabschmale Steinstufen frei, die in die Tiefe hinabführten. Der Gang war gerade so breit, dass ein ausgewachsener Mann ihn in gebeugter Haltung passieren konnte.

»Wartet!«, rief Jakob. »Was ist mit den Dokumenten auf der Empore?«

»Oh, das hätte ich ja fast vergessen!«, rief Schwester Catharina und holte aus einer Wandnische ein dickes Paket, das in Wachstuch gewickelt war.

Für einen Moment glaubten Jakob, Marga, Henrik und Bruder Basilius, dass dieses Paket die brisanten Bekenntnisse der beiden Hexenbischöfe enthielt. Deshalb war ihre Enttäuschung groß, als unter dem Wachstuch ein dickes, in Schweinsleder gebundenes und schon arg mitgenommenes Buch zum Vorschein kam, das unmöglich die gesuchten Papiere enthalten konnte.

»Was ist das?«, wollte Bruder Basilius wissen.

»Ein Exemplar des Malleus Maleficarum. Bruder Anselm hat die ganze Woche von morgens bis abends über dieser Ausgabe des Hexenhammers gesessen und.«

Der Mönch und seine Freunde machten enttäuschte Gesichter. »Ich glaube nicht, dass wir dafür Verwendung haben«, sagte Bruder Basilius.

»Hättet Ihr mich aussprechen lassen, hättet Ihr das wohl kaum gesagt«, entgegnete die Schwester. »Denn Bruder Anselm hat den Hexenhammer nicht Tag und Nacht studiert, sondern er hat wie ein Besessener darin geschrieben.«

»Geschrieben?«, fragten die vier wie aus einem Mund.

Die Priorin nickte. »Ja, und zwar mit einer besonderen Tinte. Erst unter der Hitze einer Kerze tritt die unsichtbare Schrift zwischen den Zeilen und an den Rändern zu Tage«, erklärte sie, schlug das Buch auf und bewegte die Flamme kurz unter einer der Buchseiten hin und her. Augenblicklich erschien eine kleine, aber gestochen scharfe Handschrift, für die man jedoch ein Vergrößerungsglas brauchte, um sie lesen zu können.

»Heiliges Pulverfass, er hat mit Zitronenextrakt oder einer ähnlichen Flüssigkeit geschrieben!«, rief Jakob begeistert.

»Dieser Hexenhammer enthält die komplette Abschrift der Papiere, die er wohl irgendwo hier im Kloster versteckt hat«, fügte Schwester Catharina nun hinzu. »Nicht einmal mir hat er verraten, wo. Doch er hat mir diesen Hexenhammer anvertraut, zur Sicherheit, wie er sagte, falls die Originaldokumente in die falschen Hände fallen sollten. Er wusste, dass Ihr früher oder später kommen würdet.«

Bruder Basilius lächelte erleichtert. »Eine komplette Abschrift! Nun, ein halber Sieg ist besser als eine vernichtende Niederlage. Ich danke Euch, Schwester.« Er zögerte kurz. »Und nun machen wir uns wohl am besten auf den Weg zu dem Boot, das Bruder Anselm versteckt hat.«

»Nicht so eilig!«, rief Jakob. »Wie lange dauert die Messe noch, ehrwürdige Priorin?«

»Bestimmt noch eine Stunde«, antwortete sie. »Wenn der Domherr merkt, dass Ihr aus dem Keller entkommen seid, werdet Ihr schon einen großen Vorsprung haben.«

»Über eine Stunde!«, betonte Jakob. »Das ist doch Zeit genug, um auch noch die Originaldokumente zu holen! Nur sie sind ein Beweis für die Echtheit der Abschrift.«

»Unmöglich!«, widersprach die Priorin. »Auf dem Hof und vor der Kirche sind Wachen postiert. Ohne Kampf kommt Ihr niemals an ihnen vorbei. Und wenn sich die Papiere auf unserer Nonnenempore befinden, wie Ihr sagt, ist das Unternehmen erst recht aussichtslos. In der Kirche führt nur eine schmale Treppe, die zudem noch mit einer Gittertür versehen ist, auf die Empore. Und wie wollt Ihr die Papiere an Euch bringen, während all unsere Schwestern dort oben versammelt sind? Das gäbe einen gewaltigen Aufstand, denn nur unsere Äbtissin und ich sind in die Hintergründe von Bruder Anselms Aufenthalt bei uns eingeweiht.«

»Aber wir könnten doch von oben kommen, über das Dach!«, erwiderte Jakob und sah Bruder Basilius an. »Habt Ihr nicht das Baugerüst gesehen, das gleich hinter der Sakristei bis zum Dach aufragt? Ich wette, es gibt dort oberhalb der Nonnenempore ein Fenster, durch das wir eindringen und uns dann auf die Empore abseilen können. Vorausgesetzt wir können hier auf die Schnelle ein langes Seil auftreiben.«

»Nun ja, solche Fenster gibt es dort schon«, räumte die Priorin ein. »Zwei kleine Luken über dem großen Kirchenfenster im Westportal sowie ein kleines Fenster auf der Nordseite. Zudem befindet sich der kleine der beiden Dachreiter genau über der Empore. Und Seile liegen im ausgeräumten Scriptorium herum, das die Bauarbeiter als Materiallager benutzen und das erst ganz am Schluss renoviert wird. Aber all das ändert nichts daran, dass Ihr während der Messe nicht unbemerkt auf die Empore kommen könnt. Ich weiß also nicht, was Euch das nutzen könnte.«

»Eine ganze Menge!«, versicherte Jakob.

Bruder Basilius zögerte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, während des Gottesdienstes ist das unmöglich. Und hinterher ist dafür keine Zeit mehr!«

Jakob ließ sich von seiner Idee jedoch nicht so leicht abbringen. Die Vorstellung, so kurz vor dem Ziel aufzugeben und ohne die Originaldokumente zu flüchten, ging ihm gegen den Strich. Hatte er dafür all die Strapazen und Ängste der letzten Wochen ertragen? Nein! Der Domherr durfte einfach nicht über sie triumphieren!

Und statt sich dem Wort des Mönches zu beugen fragte er die Priorin: »Sagt, was geschieht nach dem Gottesdienst, wenn die Empore geräumt ist? Kehren die Nonnen nach der Messe sofort in das Konventsgebäude zurück?«

»Gewöhnlich ja, aber nicht heute«, antwortete Schwester Catharina. »Nach der Ostermesse, in der wir die Auferstehung Gottes gefeiert haben, erwarten wir draußen den Anbruch des neuen Tages, der dann nicht mehr fern ist.«

»Also wird auch der Domherr nicht sofort davonstürzen können!«, folgerte Jakob. »Und da Eure Äbtissin weiß, dass Ihr versucht uns zur Flucht zu verhelfen, wird sie wohl alle Anstrengungen unternehmen, um ihn so lange wie möglich auf dem Hof zu halten, nicht wahr?«

»Ja, das ist anzunehmen.«

»Dann bleibt uns nach der Messe doch noch genug Zeit, um die Papiere zu holen«, sagte Marga.

Jakob warf ihr einen dankbaren Blick zu und führte seine Idee noch etwas näher aus: »Wir haben reichlich Zeit, um auf das Dach zu klettern und uns oberhalb der Empore in Position zu bringen. Sowie die Nonnen die Empore verlassen haben, lassen wir uns am Seil hinab, holen ruck, zuck die Papiere hinter dem Tafelbild hervor, klettern wieder am Seil hoch und sind im Handumdrehen zurück im Kapitelsaalvermutlich noch bevor die Kirche sich ganz geleert und der Domherr draußen auf dem Hof Zeit gefunden hat sich aus der Prozession zu lösen. Am besten, wir verriegeln die Zugänge zum Kreuzgang und verbarrikadieren sie mit Brettern und Balken, von denen es hier ja genug gibt. Dadurch gewinnen wir noch einmal wertvolle Minuten, denn Drolshagens Männer werden erst eine der Türen aufbrechen müssen.«

Henrik nickte mit einem anerkennenden Lächeln auf den Lippen. »Keine üble Idee Jakob«, sagte er. »Leider hat sie nur einen einzigen Schönheitsfehler: Ich bin nicht schwindelfrei. Und Bruder Basilius ist noch viel weniger in der Lage da hoch oben über Gerüst und Dach zu turnen.«

»Wir brauchen für dieses Unternehmen ja auch keine halbe Armee. Das ist eine Sache für eine einzige Person. Ich bin schwindelfrei und ich traue es mir zu!«, erwiderte Jakob entschlossen.

»Ich komme mit!«, erklärte Marga. »Ihr habt mir das Leben gerettet, jetzt möchte ich etwas für Euch tun. Ich bin absolut schwindelfrei und verstehe es, an einem Seil hoch- und runterzuklettern.«

Bruder Basilius nagte an seiner Unterlippe, ganz offensichtlich zwischen Ablehnung und Begeisterung hin- und hergerissen. Einerseits brannte er darauf, die Dokumente zu retten. Andererseits wollte er weder Jakob noch Marga unnötig in Gefahr bringen.

»Ich weiß nicht, ob ich das zulassen darf«, sagte er mit gequälter Miene. »Ich kann es nicht auf mein Gewissen nehmen, Euch da.«

Jakob gab ihm keine Gelegenheit seine Einwände auszusprechen. »Vergesst Euer Gewissen, Bruder Basilius! Dies ist mein Plan und mein freier Entschluss. Und wenn Marga mit mir kommt, dann ist das allein ihre Entscheidung. Wir sind keine kleinen Kinder, die nicht überblicken können, was sie tun!«, erklärte Jakob. »Ich jedenfalls würde mir nie verzeihen, dass ich so nahe am Ziel nicht wenigstens versucht habe die Papiere zu retten.«

Marga nickte. »Die Gelegenheit ist wirklich zu günstig, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen! Und vergesst nicht, dass wir mit diesem unterirdischen Tunnel einen gewaltigen Trumpf in der Hand halten. Wir sind ganz sicher schneller wieder hier im Kapitelsaal, als der Domherr und seine Männer in den Kreuzgang stürmen können!«

Bruder Basilius rang mit sich selbst. »Es klingt verlockend, ich gebe es zu. Und wenn Ihr wirklich meint, Ihr könnt es schaffen.« Er hob mit einer verlegenen Geste der Kapitulation die Hände. »In Gottes Namen, versucht Euer Glück!«

Sechsunddreißigstes Kapitel

Jakob stieß die Luke auf, zog sich über den Rand und kletterte auf das Dach. Dann beugte er sich über die Öffnung, nahm Marga die drei Seile ab, die sorgfältig zusammengerollt waren, und reichte ihr seine Hand, um ihr den Ausstieg zu erleichtern.

Henrik, der sie auf den Dachboden über dem Kapitelsaal begleitet hatte, ermahnte sie noch einmal: »Geht bloß kein unnötiges Risiko ein!«

Jakob grinste. »An deine Weisung will ich mich halten!«, imitierte er den Schweden. »Denn ich habe weise Räte: deine Worte.«

Henrik lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Und vergesst nicht, zuerst einmal das kurze Seil gut zu verknoten und über das Dach zu werfen, damit Ihr hinterher auch wieder zurück in den Kapitelsaal kommt. Denn wenn Ihr zurückkehrt, wird Schwester Catharina schon längst verschwunden und die Tür von außen abgeschlossen sein. Ihr müsst also über das Dach und durch das Fenster kommen!«

»Deine Weisungen sind mir höchste Freude, dein Wort gehe in mir auf wie Hefe neben einem warmen Herd«, antwortete Jakob mit einem anderen Psalmenvers, den er von Henrik aufgeschnappt hatte.

Der Schwede lächelte, als wüsste er, dass Jakob viel aufgeregter und angespannter war, als er zugeben wollte. Er nickte ihnen stumm zu, dann schloss er die Luke und verriegelte sie von innen.

Marga nahm das kürzere der drei Seile, ging zwei Schritte nach rechts und bewegte sich dann vorsichtig in Richtung Dachkante. Sie löste die Schlinge und warf das Seil über die Kante. Augenblicke später spürte sie ein zweifaches vorsichtiges Rucken am Seil. Mit einem zufriedenen Lächeln drehte sie sich zu Jakob um. »Wir sind genau über dem Fenster des Kapitelsaals!«

»Gleich auf Anhieb? Du hast ein ausgezeichnetes Gespür, Marga!«, sagte Jakob anerkennend, hob hinter ihr zwei Dachpfannen auf und knotete das eine Ende des Seils um den darunter liegenden Balken. Dann zogen sie das Seil wieder ein, rollten es neben der kleinen Öffnung zusammen und beschwerten es mit einem Dachziegel.

»Auf geht’s!«

Sie hängten sich jeder eines der langen Seile quer über die Brust, um die Hände zum Klettern und Abstützen frei zu haben, und schlichen nun in geduckter Haltung über das Dach des Konventsgebäudes. Zu ihrer Rechten schimmerte das silbrige Band des rechtsrheinischen Flussarms. Und heller Fackelschein erleuchtete die Anlegestelle mit den Booten, die gut bewacht waren. Der Dachgiebel zu ihrer Linken verwehrte ihnen dagegen den Blick in den Hof des Kreuzgangs und auf den Platz vor der Kirche.

Vor ihnen ragte das Baugerüst auf, das einen Großteil der Apsis und der Südostseite der Klosterkirche umschloss. Wenig später hatten sie das Gerüst erreicht. Ohne sich eine Atempause zu gönnen, begannen sie den Aufstieg. Bretter, Balken und Leitern knarrten unter ihnen und das Geräusch kam Jakob in der nächtlichen Stille gefährlich laut vor. Zu seiner Erleichterung setzte in der Kirche wieder Gesang ein, in dem das Knarren des Holzes unterging. Schließlich befanden sie sich auf der höchsten Plattform, die knapp oberhalb der Dachkante abschloss. Hier verharrten sie einen Augenblick.

»Ganz schön luftige Höhe«, stellte Jakob mit trockener Kehle fest, als er unter sich schaute. »Von unten sieht es gar nicht so hoch aus. Aber von hier.«

»Herzklopfen?«, fragte Marga.

Jakob wollte erst lügen, bemerkte dann aber ihren Blick, in dem keine Spur von Spott lag, sondern nur aufrichtige Besorgnis. »Ja, ein bisschen schon«, gestand er.

»Ich auch, aber das ist nicht schlimm. Nur ein Dummkopf hätte in solcher Höhe keine Angst«, sagte sie und nahm ihm damit das Gefühl sich schämen zu müssen. »Ein bisschen Angst ist sogar ganz gut. Das schärft die Aufmerksamkeit und schützt vor Leichtsinn -hat mein Vater jedenfalls gesagt.«

Jakob holte tief Atem, dann fragte er: »Wagen wir es?«

Marga nickte. »Aber lass uns erst das Seil anbringen, damit wir auf dem Rückweg schneller vorankommen.«

»Himmel, das hätte ich ja beinahe vergessen!«

Marga legte ihre Seilrolle auf die Plattform und Jakob knotete ein Ende um einen Balken des Baugerüstes. Dann kletterten sie auf das Dach. Marga kroch voraus. Jakob folgte ihr, das lose Ende von Mar-gas Seil hinter sich herziehend.

Ihm schlug das Herz im Hals. Das Dach fiel vom Giebelfirst erschreckend steil ab und die Dachziegel waren feucht vom Morgentau, mit Vogeldreck beschmutzt und zum Teil von einer moosartigen Flechte bedeckt. Ein falscher Tritt, und sie würden in die Tiefe stürzen!

Auch Marga erkannte die Gefahr, in der sie schwebten. Sie verharrte schon nach wenigen vorsichtigen Schritten, wandte sich zu ihm um und raunte: »Hier unten und so nahe an der Dachkante ist es zu gefährlich! Lass uns zum Dachfirst hochklettern. Da haben wir mehr Halt!«

Jakob nickte. »Du hast wohl Recht. Wenn ich bloß schon oben wäre.«, murmelte er.

Auf allen vieren krochen sie nun auf der Höhe des östlichen Dachreiters zum Giebel hinauf. Und obwohl ein frischer Wind wehte, waren sie in Schweiß gebadet, als sie endlich den Dachfirst erreicht hatten. Um sich nicht zu auffällig vor dem Nachthimmel abzuheben, legten sie sich flach und mit gespreizten Beinen hin und robbten dann auf den vorderen, kleinen Turm zu. Aus dem Kirchenschiff unter ihnen kam das vielstimmige Exsultet und Deo gratias der dort versammelten Gläubigen.

Es war eine mühselige Angelegenheit, sich in dieser kriechenden Haltung auf dem Giebel vorwärts zu bewegen. Doch es war der sicherste Weg und er brachte sie schließlich ans Ziel, wenn auch mit schmerzenden Knochen.

Der vordere Dachreiter war ein sechseckiger, mannshoher Turm mit vier bogenförmigen Fensteröffnungen und einem zwiebelförmigen Aufsatz, der von einer lanzenartigen Spitze gekrönt wurde.

Verwitterte, hölzerne Schlagläden verschlossen die Fenster. Jakob drückte Marga das Seil in die Hand, dessen anderes Ende ans Baugerüst geknotet war, griff zu dem breiten Messer, das Henrik ihm mitgegeben hatte, und machte sich an einem der Schlagläden zu schaffen. Wenig später sprang der Wetterschutz auf. »Na also!«, sagte Jakob und kletterte in den Turm. Er kam sich wie in dem Mastkorb eines großen Segelschiffes vor.

Der kleine Turmaufsatz, in dessen Boden eine Luke eingelassen war, bot zwei schlanken Personen ausreichend Platz. Marga stieg zu ihm in den Dachreiter, öffnete einen zweiten Wetterschutz und band das Seil um den Balken zwischen den beiden Öffnungen. Auf dem Rückweg über das Dach zum Baugerüst würden sie sich an diesem Seil entlanghangeln können.

»Drück die Daumen, dass sich die Luke öffnen lässt«, sagte Jakob mit gedämpfter Stimme, bückte sich nach dem eingelassenen Eisenring - und zog daran. Zu ihrer freudigen Überraschung war die Luke unverriegelt und ließ sich ohne große Kraftanstrengung aufklappen.

Marga grinste. »Ein gutes Omen!«

»Ich glaube, wir brauchen das zweite Seil überhaupt nicht«, stell-te Jakob fest. »Hier ist eine Treppe und ich wette, sie bringt uns direkt auf die Nonnenempore. Komm, immer dem Gesang nach!«

Unter der Luke führte eine steile Stiege, die von fleckigen Wänden umschlossen wurde, durch das Dachgebälk abwärts. Mit höchster Vorsicht stiegen sie hinunter. Dabei prüfte Jakob jede Bretterstufe, ob sie auch nicht morsch war, bevor er sich mit seinem ganzen Gewicht draufstellte. Der Gang endete in einem kleinen, dunklen Vorraum mit einer schmalen Tür, die mit dem Rahmen nicht ganz dicht abschloss. Durch eine lange Ritze über dem Schloss sowie unter der Tür drang aus der Kirche helles Licht zu ihnen in die muffige Kammer.

»Heilige Muttergottes! Weißt du, wo wir sind?«, stieß Marga aufgeregt hervor, als sie durch den Türritz spähte. »Dreimal darfst du raten!«

»Ich wage mal die tollkühne Vermutung, dass wir uns direkt hinter den Nonnen auf ihrer Empore befinden«, flüsterte er.

Und so war es. Durch den winzigen Spalt zwischen Tür und Rahmen vermochten sie einen Blick auf einige Nonnen zu erhaschen, doch das Madonnenbild, hinter dem die Dokumente versteckt waren, lag nicht in ihrem Blickfeld.

Die Messe ging inzwischen ihrem Ende zu und Jakob nutzte die verbleibende Zeit, um die Tür einer näheren Prüfung zu unterziehen. Glücklicherweise besaß sie kein Schloss, sondern war nur durch einen hölzernen Kippriegel gesichert. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen den Riegel mit der Messerklinge erreichen und hochdrücken zu können.

Voller Ungeduld warteten Marga und Jakob auf den Schlusssegen. Diese Minuten streckten sich in ihrer Aufregung quälend lange hin. Aber dann war es endlich so weit.

Das Amen! nach dem Schlusssegen schallte kraftvoll durch das Kirchenschiff. Unter dröhnenden Orgelklängen begann der Auszug aus der Klosterkirche und die Nonnen verließen ihre Empore, um sich mit der Gemeinde auf den Vorplatz zu begeben. Die Orgel erstarb. Sie hörten Schritte - und dann das metallische Schlagen einer Gittertür.

Jetzt galt jede Sekunde!

Jakob schob die Messerklinge zwischen Tür und Rahmen, führte sie unter den hölzernen Riegel und drückte ihn hoch. Knarrend öffnete sich die Tür einen Spalt. Er spähte hinaus. »Ich glaube, die Luft ist rein!«, flüsterte er.

»Dann nichts wie los!«, drängte Marga.

Jakob drückte die Tür auf und erfasste mit einem schnellen Rundblick die Nonnenempore mit ihren harten Kniebänken. Das Tafelbild mit der Madonna und den beiden Distelfinken, das Bruder Basilius ihm beschrieben hatte, fiel ihm sofort ins Auge. Es war das einzige Gemälde auf der Empore und hing an der gegenüberliegenden Wand.

»Da ist es!«, rief er aufgeregt und stürzte auf die Wand zu. Das Marienbild war breiter als die Spanne seiner ausgestreckten Arme. Der kastenförmige Rahmen besaß eine Tiefe von fast einem Fuß. »Hilfst du mir es abzuhängen?«

»Na klar, oder hast du etwa geglaubt, ich wäre bloß zum Zuschauen mitgekommen?« Sie stellte sich auf die linke Seite, während Jakob das Gemälde auf der rechten Seite packte. »Ich bin bereit!«

»Erst anheben und dann vorsichtig runterlassen!. Eins. zwei. drei!«

Sie hoben es von den Haken, kämpften einen gefährlichen Augenblick mit dem schweren Gemälde, das vornüberzukippen drohte, und setzten es dann mit einem erschreckend lauten Bums ab.

»Hier sind sie, die Dokumente!«, rief Jakob triumphierend und nahm das flache Paket an sich, das auf seiner Seite zwischen Rahmen und Gemälde klemmte und ebenso in Wachstuch eingeschlagen war wie der Hexenhammer, den Bruder Anselm der Priorin anvertraut hatte.

Margas Augen leuchteten. »Dann nichts wie weg von hier!«

Jakob stopfte sich das Paket unter sein Hemd und rannte hinter ihr die Stiege hoch. Oben im Dachreiter, warfen sie nur einen flüchtigen Blick auf die Menschen, die sich im Schein zahlloser Fackeln und Osterkerzen auf dem Platz vor der Klosterkirche eingefunden hatten, um den Anbruch des Ostermorgens zu erwarten. Fröhliches Stimmengewirr drang zu ihnen hinauf.

Marga kletterte zuerst aus der Öffnung des Turmes, hielt sich mit der rechten Hand am Seil fest und stützte sich mit der linken auf dem Dach ab, während sie zu dem Baugerüst am anderen Ende der Kirche kroch.

Jakob schwang sich hinter ihr über die Brüstung - und riss dabei zwei Dachziegel los, die wohl schon locker und brüchig gewesen sein mussten. Er schrie unwillkürlich auf, als der Boden unter ihm wegzurutschen begann, und bekam gerade noch das Seil zu fassen, was ihn vor einem todbringenden Sturz bewahrte. Die beiden Dachpfannen jedoch konnte er nicht mehr zurückhalten. Sie klapperten immer schneller über das Dach, flogen über die Kante hinaus und zersprangen auf dem darunter liegenden Dach des Konventsgebäudes unter lautem Bersten in tausend Stücke.

Augenblicklich richteten sich unten dutzende von Augenpaaren auf das Dach. Hände wiesen zu ihnen hoch. Und ein Chor aufgeregter Stimmen rief wild durcheinander. Eine Stimme übertönte alle anderen: Es war die des Domherrn. Er stieß eine lästerliche Verwünschung aus und mit sich überschlagender Stimme schrie er seinen Männern zu, sie sollten ihnen den Weg abschneiden.

»Los! Alles auf eine Karte!«, rief Marga. Sie schob sich das Seil unter die rechte Achsel und stieß sich ab. Halb rennend und halb am Seil durch die Luft gleitend, schoss sie abwärts auf das Baugerüst zu.

Jakob überwand den lähmenden Moment des Schocks, machte es ihr nach, indem auch er sich an das Seil hängte, und schlidderte wie sie schräg über das Dach. Seine Landung auf dem Gerüst fiel jedoch weniger sanft aus als die von Marga. Er hatte so viel Schwung, dass der Versuch vor dem Gerüst abzubremsen kläglich misslang. Hart schlug er auf der Plattform auf, rollte um seine eigene Achse und wäre wohl in die Tiefe gestürzt, wenn Marga ihn nicht geistesgegenwärtig festgehalten hätte.

»Bist du in Ordnung? Hast du dir etwas gebrochen?«, fragte Marga voller Angst.

Jakob verzog schmerzhaft das Gesicht, betastete seine Glieder und kam dann auf die Beine. »Nein, nur mein Selbstbewusstsein«, keuchte er.

»Ach, das wird sich bestimmt schneller erholen, als deine blauen Flecke verschwinden«, spottete Marga und zerrte ihn zur Leiter.

Sie hasteten hinunter auf das Dach des Konventsgebäudes Jakob mit zusammengebissenen Zähnen. Wieder einmal machte er die Erfahrung, dass Prellungen mehr schmerzten als Brüche. Die Angst den Handlangern des Domherrn in die Hände zu fallen, was sein und Margas Schicksal zweifellos besiegeln würde, trieb ihn jedoch voran.

Marga stieß die Dachpfanne zur Seite, die über dem aufgerollten, kurzen Seil lag, und schleuderte es über die Dachkante. »Du kletterst zuerst hinunter! Nein, keine Widerrede! Nun mach schon!«, drängte sie.

Jakob beugte sich ihrem festen Willen, ergriff das Seil, glitt über die Dachkante und seilte sich zum Fenster des Kapitelsaals hinab.

»Sie kommen!«, hörte er Henriks Stimme. Im nächsten Augenblick packte ihn der Schwede an den Beinen und zog ihn zur Fensterbank.

»Dem Himmel sei Dank!«, rief Bruder Basilius erleichtert. »Was habe ich mir für Sorgen und vor allem Vorwürfe gemacht, dass ich Eurem tollkühnen Plan zugestimmt habe!«

Mit schmerzenden Gliedern sank Jakob auf die nächste Bank. Als er Marga gewandt durch das Fenster springen sah, das Henrik sofort hinter ihr schloss und verriegelte, grinste er. »Bis auf einen kleinen Fehltritt war es ein Kinderspiel«, behauptete er, sah jedoch den Gesichtern von Henrik und Bruder Basilius an, dass sie ihm keinen Glauben schenkten.

»Ja, es ging wie geschmiert«, spottete Marga in Anspielung auf seinen beinahe tödlichen Ausrutscher.

»Genau! Und hier sind die Dokumente!« Jakob holte das Paket unter seinem eingerissenen Hemd hervor.

Der Mönch lächelte. »Das habt Ihr großartig gemacht. Ich werde Euch das niemals vergelten können. Aber noch wichtiger als diese Aufzeichnungen ist, dass Ihr heil zurückgekommen seid!«

»Ich schlage vor, wir setzen das Gespräch im Boot fort«, sagte Henrik trocken und griff zu der Sturmlaterne, die Schwester Catharina ihnen dagelassen hatte.

Sie stiegen nun die Stufen zum unterirdischen Klostergang hinab. Marga trug die Dokumente und den Hexenhammer und hielt die Laterne, während sich Henrik Jakob und Bruder Basilius in dem schmalen Gang abmühten die schwere Grabplatte von unten wieder an ihren Platz zu rücken, sodass nichts mehr auf ihren Fluchtweg hinwies, wenn der Domherr und seine Männer das Konventsgebäude nach ihnen absuchten.

Endlich rutschte die Steinplatte in ihre Einfassung. Henrik nahm Marga die Laterne ab, zwängte sich an ihr vorbei und ging voran. In dem schmalen Gang roch es nach Moder und Verwesung. Der Lichtschein glitt über feuchte, von Schimmelpilz überwucherte Wände, die sich über ihren gebeugten Köpfen zu einer niedrigen Decke wölbten. Ursprünglich bestanden die Mauern aus einem grauschwarzen Gestein, doch je weiter sie sich von der Klosteranlage entfernten, desto schadhafter wurden die Mauern und desto öfter stießen sie auf provisorische Ausbesserungen, die mit einfachen Ziegelsteinen vorgenommen worden waren. Hier und da waren Teile der ausgebesserten Decke wieder eingestürzt und bedeckten den Boden mit ihren Trümmern. Und immer wieder rieselte Sand auf sie herab.

Jakob kämpfte tapfer gegen die Platzangst an, jedoch wuchs in ihm das beklemmende Gefühl immer schlechter Luft zu bekommen, je weiter sie in diesem unterirdischen Tunnel vordrangen.

»Fünfzig Schritte«, meldete Henrik, der an der Spitze ging.

Jakob stöhnte gequält auf. »Bis zum anderen Ufer muss es gut zehnmal so weit sein!«

»Wir schaffen es, wie wir auch alles andere geschafft haben«, raunte Marga und berührte von hinten seine Hand.

Jakob hielt sie fest und zwang sich nur noch auf die Füße des Schweden zu sehen, jeden Schritt mitzuzählen und nicht daran zu denken, dass die Decke einstürzen konnte und das herabstürzende Erdreich sie dann bei lebendigem Leib begraben würde.

Offenbar wurde es auch Bruder Basilius mulmig zu Mute, denn er begann nun laut zu beten. Er fing mit dem 23. Psalm an und Henrik fiel sofort mit ein. Doch ein einziger Psalm reichte nicht für die schier endlos lange Strecke, die sie zurücklegen mussten. Und so folgten weitere Psalme.

Jakob hatte bis dreihundertfünfunddreißig gezählt, als auf dem feuchten Boden unter ihnen Wasserlachen auftauchten. Und diese Lachen wurden tiefer. Bald wateten sie bis zu den Knien im Wasser, das eisig war und ihre Beine ganz taub machte. Jakob rann mittlerweile der Schweiß über das Gesicht und sein Atem ging schnell und flach.

»Es kann nicht mehr weit sein!«, sagte Henrik, um ihnen und sich selbst Mut zu machen. »Gleich muss die Felsgrotte kommen, von der die Priorin gesprochen hat. Wir haben das Schlimmste hinter uns. In ein paar Minuten haben wir es geschafft.«

»Hoffentlich!«, keuchte Jakob.

»Denk doch nur daran, wie der Domherr jetzt vor Wut tobt, weil wir ihm entkommen sind«, versuchte Marga ihn abzulenken, die spürte, wie verzweifelt Jakob gegen das Gefühl der Panik ankämpfte. »Er wird Mundt dafür bitter bezahlen lassen, darauf kannst du Gift nehmen. Und er wird einfach nicht begreifen, wie wir uns scheinbar in Luft haben auflösen können. Schade, dass wir sein Gesicht und sein Toben nicht sehen können! Er wird nie im Leben darüber wegkommen, dass wir ihm quasi unter seiner Nase.«

»Da ist sie! Die Felsgrotte! Dem Herrn sei Lob und Dank!«, schrie Henrik mit einem Überschwang, der in krassem Gegensatz zu seiner sonstigen Selbstbeherrschung stand. Offensichtlich hatte das gebückte Gehen durch den unterirdischen Gang auch an seinen Nerven heftig gezerrt. »Wir sind durch!. Wir haben es geschafft! Wir haben das Westufer der Insel erreicht!«

Bei der Grotte handelte es sich um eine Höhle, die von schweren Felsen und mächtigem Wurzelwerk gebildet wurde, aber gerade mal doppelt so breit wie der Gang war. Durch das Gestrüpp vor der Öffnung schwappte das Wasser des Rheins.

Auf die große Freude, den geheimen Klostertunnel unbeschadet hinter sich gebracht zu haben, folgte ein bitteres Erschrecken, als ihr Blick auf das Boot fiel, das vor ihnen lag, festgebunden an einem in den Boden getriebenen Holzpflock.

»Das soll ein Boot sein?«, rief Jakob. »Das ist ein winziger Kahn, in dem mit Mühe gerade mal zwei Personen Platz haben!«

Einen Augenblick herrschte betroffenes Schweigen. Bruder Anselm hatte ganz offensichtlich nur mit einer einzigen Person gerechnet, die dieses Boot im Notfall benutzen musste!

Nach all dem, was sie zusammen durchgestanden hatten, mussten sie nun feststellen, dass hier das Ende ihrer gemeinsamen Flucht gekommen war. Denn dieses schmale, flache Gefährt konnte nur zwei von ihnen aufnehmen. Und auch dann musste man aufpassen, um den Kahn auf einem so mächtigen Fluss wie dem Rhein nicht zum Kentern zu bringen.

»Jakob. Marga, Ihr nehmt das Boot!«, sagte der Mönch mit fester Stimme.

»Das kommt gar nicht in Frage!«, widersprach Jakob heftig und suchte fieberhaft nach einem Ausweg. »Wir müssen versuchen ein anderes Boot aufzutreiben. Oder wir losen, wer von uns.«

»Seid für einen Augenblick still und hört gut zu, Jakob!«, fiel Bruder Basilius ihm energisch ins Wort, um dann sanfter fortzufahren: »Ihr beide nehmt das Boot, weil es in dieser Situation nicht nur moralisch geboten, sondern auch sachlich notwendig ist. Nein! Unterbrecht mich nicht, sondern lasst mich ausreden! Das gilt auch für Euch, Marga! Wir haben nicht nur die Originaldokumente, sondern auch eine vollständige Abschrift in unserem Besitz, von der Drolshagen nichts ahnt. Und das ist unser großes Glück im Unglück. Denn nun könnt Ihr den Hexenhammer an Euch nehmen und ihn von hier fortbringen, ohne Euch in Gefahr zu begeben. Henrik und ich werden hier bleiben. Und sollte es uns nicht gelingen durch einen glücklichen Zufall doch noch von der Insel zu kommen, dann werden wir die Bekenntnisse der Hexenbischöfe eben dem Domherrn aushändigen.«

»Aber das ist doch Wahnsinn!«, wandte Jakob erregt ein. »Wenn Ihr schon darauf besteht, dass Marga und ich das Boot nehmen, was ich nicht für richtig halte, dann gebt uns doch wenigstens das Original mit!«

Der Mönch schüttelte den Kopf. »Der Domherr mag uns hassen, aber letztlich ist jeder von uns ohne wirkliche Bedeutung für ihn. Er will die Dokumente Jakob. Wenn er sie nicht bei uns findet, wird er Eure Verfolgung aufnehmen. Und das wäre Euer Ende, denn Ihr habt das Glück schon zu oft auf die Probe gestellt. Auf Dauer könnt Ihr seinem mächtigen Arm nicht entkommen, das wisst Ihr so gut wie ich. Aber wenn wir ihm die Originalaufzeichnungen übergeben, wird er sein Interesse an Euch sofort verlieren. Ein Mann wie er hat anderes zu tun und ehrgeizigere Ziele als zwei jungen Landstreichern nachzujagen, denn das seid Ihr für ihn. Ihr seht also, Ihr müsst sowohl das Boot als auch den Hexenhammer nehmen.«

Henrik nickte knapp. »Es ist, wie Bruder Basilius sagt. Unsere Wege müssen sich hier trennen und Ihr müsst das Boot nehmen.«

Jakob blickte mit gequälter Miene von ihm zum Mönch. »Aber wir können Euch doch nicht im Stich lassen!«, begehrte er auf, obwohl er wusste, dass sie Recht hatten und es keinen anderen Ausweg gab.

Bruder Basilius lächelte fast vergnügt. »Oh, Ihr lasst uns nicht im Stich. Im Gegenteil, wir laden auf Eure jungen Schultern eine große Verantwortung, vielleicht sogar eine allzu große Last.«

»Indem wir mit heiler Haut davonkommen und Euch diesem Schlächter überlassen?«, fragte Marga verständnislos. »Nein, das kann ja wohl nicht Euer Ernst sein!«

»Doch, das ist mein Ernst«, versicherte der Mönch ruhig. »Ich will Euch eine scheinbar grausame Geschichte aus dem Talmud erzählen, der hebräischen Religions- und Gesetzeslehre der Juden. Und werdet nicht ungeduldig. Wir haben keine Eile. Denn bis Drolshagen die Suche auch auf diesen Teil der Insel ausdehnt, wird noch viel Zeit vergehen. Und nun zu der Geschichte: Es waren einmal zwei Männer, die durch die Wüste zogen und zu verdursten drohten. Nur einer von ihnen besaß noch eine Kürbisflasche voll Wasser, das für einen ausreichte, um zur rettenden Oase zu gelangen. Sollten sie sich das Wasser nun teilen und beide sterben oder sollte der Mann mit der vollen Kürbisflasche seinen Begleiter sterben lassen und sein Leben retten? Nun, unser allgemeines moralisches Empfinden sagt uns: Teilen und auf die Rettung hoffen! Nicht so der gelehrte Rabbi Akiba. Er legt die Geschichte im Talmud ganz anders aus und sagt, dass kein Mensch über sein Leben verfügen und es opfern darf, wenn es eine Alternative gibt. Deshalb soll der Besitzer getrost sein Wasser trinken und am Leben bleiben. Um alles andere soll und wird Gott sich schon kümmern.«

»Das ist verdammt hart und herzlos!«, sagte Jakob mit verkniffener Miene. »Und ich kann nicht behaupten, dass mir diese Geschichte gefallt!«

»Ja, die Auslegung scheint unmenschlich, hat jedoch einen viel tieferen Sinn, als oberflächlich zu erkennen ist«, fuhr der Mönch fort. »Denn der Mensch, der einen Freund überlebt, ist auf ewig in die Pflicht genommen. Um jeden weiteren Tag seines Lebens zu rechtfertigen, spricht er von nun an auch in seinem Namen. Und genau darin besteht das Privileg wie auch die Last des Überlebens, dass es eine ewige Schuld gegenüber den Toten mit einschließt!«

Nun verstanden Marga und Jakob.

»Wer eine Erfahrung nicht weitergibt, verrät sie. Und wer seiner Schuld gegenüber den Toten nicht treu bleibt, verrät nicht nur die Toten, denen er sein Leben verdankt, sondern auch sich selbst«, betonte Bruder Basilius noch einmal. »Und diese schwere Last wird auf Euren Schultern liegen, wenn Ihr in dieses Boot steigt und wir uns vielleicht nie wieder begegnen sollten.«

Jakob wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. »Wohin sollen wir den Hexenhammer bringen?«, fragte er schließlich bedrückt.

»Es besteht die begründete Hoffnung, dass der Domherr uns laufen lässt, nachdem er uns ein paar Wochen in irgendeinem Kerker hat schmoren lassen. Es wird ihm gar nichts anderes übrig bleiben, wie ich Euch ja schon einmal erklärt habe. Ungewiss ist nur, wie lange es dauern wird«, sagte der Zisterziensermönch. »Deshalb muss ich es Euch zumuten Euch auf den Pilgerweg zum spanischen Wallfahrtsort Santiago de Compostela zu machen, damit Ihr die Abschrift dort meinem Freund, dem Abt Engelbert von Wallersheim, übergeben könnt. Er wird sich dann um die Drucklegung kümmern. Wenn wir freikommen, folgen wir Euch nach und holen Euch irgendwo auf dem Weg ein. Das ist ein Versprechen.« Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und blickte ihn voller Sorge, aber auch voller Zuneigung an. »Seid Ihr bereit dies auf Euch zu nehmen, Jakob Tillmann?«

Jakob spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Doch er kämpfte mit aller Kraft dagegen an und nickte. »Sicher, gegen das, was hinter uns liegt, kann so eine Pilgerreise doch nur ein Kinderspiel sein«, antwortete er mit belegter Stimme und betont leichthin, um seine wahren Gefühle zu überspielen.

»Gut, dann lasst uns Abschied nehmen.«

»Es ist dennoch nicht gerecht, dass wir das Boot bekommen und Euch hier zurücklassen müssen«, murmelte Jakob verzweifelt. »Wie kann ich Euch nach allem, was Ihr und Henrik für mich und Marga getan habt, hier Eurem ungewissen Schicksal überlassen?«

»Erinnert Ihr Euch noch an den weißen Stein, dessen Inschrift nur Gott allein kennt?«, fragte Bruder Basilius.

Jakob runzelte die Stirn. »Ja, das war doch die Geschichte aus der Johannes-Offenbarung, nicht wahr?«

Der Mönch nickte. »Ich bin meinen Weg vor Gott gegangen und habe das Wort verkündet, ob man es hören wollte oder nicht. Und darüber bin ich nun sechzig Jahre alt geworden, was ich in den Tagen, als Henrik in mein Leben trat, nie für möglich gehalten hätte. Ich habe erst einen bösen Kampf und dann jahrzehntelang gemeinsam mit Henrik den guten Kampf gekämpft und Gottes Wahrheit die Treue gehalten, so gut ich es vermochte. Mein Lauf ist somit auf gewisse Weise vollendet und die Zeit meines Aufbruches ist nahe -mit oder ohne Zutun des Domherrn. Und sosehr ich an meinem Leben hänge, wie es auch göttliches Gebot ist, so muss ich doch gestehen, dass ich es nach all den Jahren des Gebetes und der inneren Sehnsucht nicht erwarten kann nun bald den geheimnisvollen weißen Stein zu empfangen. Und ich weiß, dass Henrik nicht anders denkt.« Er lächelte ihn an. »Also macht Euch um uns keine Sorgen. Ihr seid es nun, der in der Staffel der Generationen den Stab weiterzutragen habt, und das ist keine leichte Aufgabe. Hier, nehmt das als Erinnerung. Möge er Euch auf Eurer Pilgerreise Hilfe und Beistand sein.« Er zog seinen Rosenkranz mit den Alabasterperlen hervor und häng-te ihn Jakob um den Hals. Dann umarmte er ihn.

Jakob vermochte seine Tränen nicht länger zurückzuhalten und er sah, dass auch Marga die Tränen über die Wangen liefen. Worte des Abschieds waren überflüssig. Auch Henrik drückte sie an seine Brust.

Dann stiegen Jakob und Marga in den Kahn, der gefährlich schaukelte, bis sie richtig saßen. Jakob schob den in Wachstuch eingeschlagenen Hexenhammer unter seinen Sitz. Dann griffen sie zu den Rudern. Bruder Basilius beugte sich hinunter und versetzte dem schmalen Boot einen kräftigen Stoß, der es aus der Höhle und durch das Gestrüpp in tieferes Uferwasser drückte.

»Vergesst nie, dass es der Staub ist, den wir durch unsere eigenen Schritte auf unseren Erdenwegen hochwirbeln. der uns für vieles blind macht! Und möge Gottes Segen Euch allzeit begleiten!«, rief der Mönch und machte über ihnen das Kreuzzeichen.

»Und Euch ebenfalls!«, riefen Jakob und Marga mit tränenerstickten Stimmen zurück.

Sie trieben auf den breiten Strom hinaus, der unter einem hellgrauen Himmel lag und sie mit seinen rasch dahinfließenden Fluten flussabwärts trug.

Jakob vermisste den Mönch und Henrik schon jetzt schmerzlich. Die Wochen mit ihnen erschienen ihm wie ein ganzes Leben und er wusste in diesem Moment, dass er nicht mehr der war, der in einer eisigen, stürmischen Nacht den Eselskarren mit Bruder Anselm durch das Tor von Himmerod gezogen hatte. Er nahm den Blick nicht von der mächtigen Weide, unter dessen herabhängendem Geäst der Zugang zur Grotte lag und wo die beiden Männer jetzt wohl standen und ihnen nachblickten. Der Baum wurde jedoch schnell kleiner, wie auch der Himmel immer heller wurde.

Schließlich verschwanden die Inseln Niederwerth und Graswerth aus ihrem Sichtfeld, als der Fluss sie um die weite Biegung nach Westen trug.

Marga legte das Ruder über ihren Schoß, drehte sich zu ihm um und wischte sich eine Träne aus dem Auge. Dann lächelte sie tapfer und streckte ihm die Hand hin. »Santiago de Compostela?«, fragte sie nur und tausend andere Worte schwangen in dieser Frage mit.

Jakob drückte ihre Hand und nickte. »Santiago«, flüsterte er, blind vor Tränen, während die ersten Strahlen des neuen Tages den Himmel im Osten in warmes Licht tauchten.

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