ZWEITES BUCH AUF DEM TURM UND ÜBERS LAND

Vierzehntes Kapitel

Elf quälend lange Tage und elf zermürbende Nächte dauerte Jakobs Flucht durch die verschneite Eifel. Angst war sein ständiger Begleiter und das Licht des Tages sein größter Feind.

Jakob machte sich keine Illusionen. Ein Mann wie Domherr von Drolshagen verfügte über genug Macht und finanzielle Mittel, um ihn von einer ganzen Meute skrupelloser Schergen jagen zu lassen. Sicherlich würde der Henker Mundt die Männer anführen und sie mit einer guten Beschreibung seiner Person versehen haben. Und ein junger Bursche wie er, der sich schon durch seine Aussprache als Fremder verriet, nicht einmal über ein Pferd verfügte und im tiefsten Winter in großer Hast über die Straßen zog, fiel in jedem Dorf, jedem Gasthaus und auf jedem Bauernhof auf. Wer immer ihm begeg-nete oder ihn gar ein Stück Weges mit seinem Fuhrwerk mitnahm, würde nicht die geringsten Schwierigkeiten haben sich seiner zu entsinnen und seinen Verfolgern Auskunft zu geben, in welche Richtung er sich gewandt hatte. Sie würden ihn wie bei einer Treibjagd im Handumdrehen aufspüren und einkesseln.

Schon gleich noch in der Nacht seiner Flucht aus Himmerod kam Jakob zu der Einsicht, dass er nur nachts marschieren durfte, wenn er eine Chance haben wollte seinen Verfolgern zu entkommen. Tagsüber musste er sich so gut versteckt halten, dass nicht einmal die Einheimischen von seiner Gegenwart in ihrem Sprengel eine Ahnung hatten. Lautlos und unbemerkt wie ein Schatten bei Nacht musste er durch ihr Land ziehen.

Der Vorsatz war zwar leicht gefasst, aber seine konsequente Ausführung erwies sich mit jedem Tag und jeder Nacht als Tortur für Geist und Körper. Die erste Nacht war die einfachste. Trotz des Schneetreibens verließ ihn die Angst, von Mundt eingeholt zu werden und wie der Novize Dominik zu enden, nicht für eine Minute. Sie mobilisierte in ihm ungeahnte Kräfte und ermöglichte es ihm, sich Stunde um Stunde durch tief verschneite Wälder zu kämpfen und sich nur kurze Atempausen zu gönnen. Die Wunde am Oberarm behinderte ihn dabei kaum. Er verband sie notdürftig mit zwei Stoffstreifen, die er vom Saum seines Hemdes abriss, und vertraute auf sein gutes Heilfleisch.

Als der neue Tag sich ankündigte, hielt Jakob nach einem geeigneten Versteck Ausschau. Er befand sich in einem Wald, ohne genau zu wissen, wie weit und in welcher Himmelsrichtung er sich überhaupt in den Nachtstunden von der Abtei entfernt hatte. Er konnte nicht einmal ausschließen, dass er im Kreis gelaufen war, hatte ihm das Schneetreiben doch jegliche Möglichkeit der Orientierung an Hand der Sterne verwehrt.

Das bewaldete Gelände war bergig und von zahlreichen tiefen Schluchten durchzogen. Jakob hoffte eine Höhle oder doch wenigstens einen Überhang zu finden, unter dem er Schutz finden und sich verstecken konnte. Doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Ihm blieb deshalb nichts anderes übrig als sich ein provisorisches Versteck zu bauen. Er entschied sich für einen umgestürzten Baum an der Kante eines Abhangs, der noch nicht lange dort liegen konnte und dessen schneegebeugte Äste ihm die Arbeit etwas leichter machten. Er trug Stöcke und Zweige zusammen, steckte sie zwischen die herabhängenden Äste und benutzte am Schluss einen abgebrochenen Ast, um in einem Umkreis von zwanzig Schritten seine Spuren zu verwischen. Er konnte von Glück reden, dass es noch immer fest schneite. Damit wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass seine Fährte längst unter einer Decke Neuschnee begraben lag, wenn Mundt und seine Gesellen den Weg kreuzten, den er genommen hatte.

Jakob kroch unter das Dach aus Ästen und schaufelte den Schnee am Boden mit den Händen zur Seite. So entstand eine fast knietiefe Kuhle, in die er sich hineinhockte. Nun begann das Warten - und das Zittern vor Kälte und Angst. Er fürchtete jeden Moment laute Stimmen zu hören, die sich seinem Versteck von allen Seiten näherten.

Er wusste, dass er unendlich viel Zeit und absolut nichts zu tun hatte, bis auf die Morgendämmerung wieder die Dunkelheit der neuen Nacht folgte und er seine Flucht fortsetzen konnte. Deshalb zwang er sich von dem Brot und Käse jeweils nur ganz kleine Stückchen abzubrechen, die kaum größer als eine Murmel waren, und so langsam wie möglich zu essen. Seinen Durst löschte er mit Schnee, den er in kleinen Portionen auf der Zunge zergehen ließ. Aber sosehr er das Essen auch hinauszögerte, es war doch noch immer erst früher Morgen, als er ein Viertel von beidem gegessen und den Rest wieder unter sein Hemd gesteckt hatte.

So lange er konnte, kämpfte er gegen die Müdigkeit an. Er wusste, dass er in dieser Kälte Gefahr lief nicht wieder aufzuwachen und zu erfrieren, wenn ihn der Schlaf übermannte. Und diese Angst hielt ihn bis in den Mittag hinein wach. Dann verlor der Wille den Kampf gegen seinen erschöpften Körper, der nach Schlaf gierte. Die Lider wurden ihm schwer wie Blei. Schließlich vermochte er die Augen nicht länger offen zu halten und er sank in den Schnee.

Vermutlich wäre er irgendwann in den Nachmittagsstunden erfroren, wenn er sich im Schlaf nicht auf die rechte Seite gedreht hätte und dabei mit der Wunde gegen einen der Äste gestoßen wäre. Der feurige Schmerz, der durch seinen Körper raste und ihn jäh aus dem Schlaf riss, rettete ihm das Leben.

Stöhnend kam Jakob zu sich und glaubte von Kopf bis Fuß aus Eis zu sein. Er konnte sich die ersten Minuten kaum bewegen, so steif war er. Zitternd wie Espenlaub, kam er in seinem primitiven Unterstand schließlich auf die Knie. Schnee rieselte ihm in den Nacken, als er mit dem Kopf gegen das Ästedach stieß. Er rieb seine eiskalten Hände und versuchte ihnen mit seinem Atem Wärme einzuhauchen. Was hätte er jetzt für ein Feuer und einen heißen Trunk gegeben!

Es dauerte eine ganze Weile, bis ihm bewusst wurde, dass es inzwischen Abend geworden war. Nur noch ein schwacher Rest Tageslicht fand seinen Weg zwischen den wie weiß gepuderten und mit Hauben versehenen Baumkronen hinunter auf den Waldboden, wo die Schatten schon überall vorrückten. In spätestens einer halben Stunde würde es dunkel sein.

Vorsichtig kroch Jakob aus seinem Versteck am Berghang. Es hatte zu schneien aufgehört. Die Luft war klar und kalt und unbewegt. Der Himmel lag jedoch noch immer unter einer dichten Wolkendecke. Nicht ein Stern war zu sehen.

Er bewegte seine steifen Glieder im Schutz des Baumes und wartete, bis es ganz dunkel geworden war. Dann setzte er seine Flucht fort. Anhand der vermoosten Seite der Bäume versuchte er notdürftig auszumachen, wo Norden lag. Da er kein Licht bei sich hatte, war er dabei auf seinen Tastsinn und häufig auf reine Vermutung angewiesen.

Er hatte in Himmerod gesagt, er käme aus dem Rheinischen. Seine Verfolger konnten nicht wissen, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, und würden daher davon ausgehen, dass er sich nach Norden wenden und versuchen würde heimatliche Gefilde zu erreichen, wo er besser Hilfe und Unterschlupf finden konnte als in der Fremde. Diese Richtung galt es also zu meiden, so wie er auch nicht nach Süden marschieren durfte. Denn dort lag die Mosel, und je näher er dem Fluss kam, desto dichter besiedelt war das Land - und damit wuchs die Gefahr jemandem aufzufallen und an die Spürhunde des Domherrn verraten zu werden. Im Osten lag der Rhein mit ebenso vielen Ortschaften, weshalb diese Richtung gleichfalls nicht in Frage kam. Er musste es also im Westen versuchen. Vielleicht gelang es ihm sich bis ins Luxemburgische durchzuschlagen. Und ob ihm das schmeckte oder nicht, ihm blieb gar keine andere Wahl.

Der zweite nächtliche Marsch zehrte stärker an seinen Kräften als der erste. Müde und hungrig schleppte er sich dahin. Da der Schneefall aufgehört hatte, wagte er es nicht mehr große freie Flächen zu überqueren. Denn im Tageslicht würde man von der Kuppe eines Hügels oder aus dem Sattel eines Pferdes schon von weitem seine Spuren auf den eingeschneiten Weiden und Feldern ausmachen können. Deshalb musste er oft im Zickzack gehen, um von einem Wald in den anderen zu gelangen sowie Gehöfte und Dörfer zu umgehen.

Um schneller voranzukommen, blieb er eine Zeitlang sogar auf der Landstraße, wo man seine Spuren nicht von anderen unterscheiden konnte. Sowie er jedoch schon von weitem einen Hof ausmachen konnte, verließ er die Landstraße und suchte wieder Zuflucht im Wald, so groß die Verlockung auch war sich irgendwo in einen Schuppen oder gar eine Scheune zu schleichen und einen warmen Schlafplatz im Stroh zu finden.

Das Glück war ihm gegen Mitte der zweiten Nacht hold, stieß er doch auf einer Waldlichtung auf die verlassene Hütte eines Köhlers. Es war eine schmutzige, schäbige Behausung, doch Jakob erschien sie in seiner Situation wie ein Geschenk des Himmels. Und er war ganz außer sich vor Glück, als er mehrere Holzscheite, eine Hand voll Kienspäne und trockenes Laub neben der Feuerstelle fand. Es dauerte lange, bis seine steifen Hände geschickt genug waren, um mit Feuerstein und Lunte ein Feuer zu entfachen. Doch als dann die winzige Flamme die Kienspäne in Brand setzte und das Feuer hell auflodern ließ, sodass er drei Holzscheite auflegen konnte, da fiel für eine kurze Zeit alles ab, was ihn gequält hatte. Angst und Erschöpfung waren angesichts des herrlich wärmenden Feuers für eine Weile vergessen. Er wärmte sich auf und trug dann genug Holz zusammen, um das Feuer für den größten Teil der Nacht unterhalten zu können. Seinem Körperwärme und Erholung zu gönnen war wichtiger als noch ein paar Meilen weiterzukommen. Es erschien ihm zudem unwahrscheinlich, dass sie ihm so nahe auf den Fersen waren, um den Rauch riechen oder den gelegentlichen Funkenflug aus dem Kamin aufsteigen sehen zu können. Und falls sie doch schon in der Nähe waren, dann war er auch ohne das Feuer in der Hütte des Köhlers verloren. Denn sie würden kaum daran vorbeiziehen, ohne sich zu vergewissern, dass er sich nicht darin versteckt hielt.

Jakob streckte sich auf einem Bett aus Zweigen vor dem Feuer aus. Alle halbe Stunde legte er etwas Brennholz nach. Als der Morgen graute, löschte er das Feuer und legte sich zum Schlafen in die warme Asche.

So nervzehrend das untätige Warten auch war, in der Hütte ließ sich der Tag natürlich zehnmal besser ertragen als in einer eisigen Schneekuhle mit ein paar schneebedeckten Zweigen über dem Kopf. Aber auch hier setzte ihm die Kälte bald wieder zu. Er vermochte sich jedoch wenigstens einigermaßen warm zu halten, indem er in der rußgeschwärzten Behausung auf und ab ging. Zu seiner Freude begann es am Nachmittag wieder zu schneien. Er nahm es als ein gutes Zeichen und fasste neue Hoffnung. Noch ein, zwei Nächte strammen Marschierens und er musste in Sicherheit sein.

Jakob täuschte sich.

Zwei Tage später entkam er Rutger Mundt nur um Haaresbreite.

Er hatte in einem schmalen, bewaldeten Tal eine Höhle gefunden und dort die Tagesstunden verbracht, hungernd und frierend. Schließlich hatte er es nicht länger in der eisigen Höhle ausgehalten und war früher als sonst aufgebrochen. Er musste sich einfach bewegen und sehen, ob er sich irgendwo etwas zu essen besorgen konnte. Schon seit zwei Tagen lebte er nur von Baumborke und Schnee. Der Hunger machte ihn nun schier verrückt.

Als er den Hang hinunterstieg und zum Waldsaum gelangte, sah er Mundt und zwei Begleiter, alle zu Pferd und keine fünfzig Schritte von ihm entfernt. Und es war ganz unverkennbar der grobschlächtige Klotz von einem Henker, der dort mit einem Bauern oder Hofknecht redete! In der Nähe musste es einen Hof geben und dort würde man zweifellos von der Höhle Kenntnis haben.

In panischem Schrecken wandte Jakob sich ab und rannte parallel zur Landstraße durch den Wald. Er hatte viele Meilen zwischen sich und seinen Verfolgern geglaubt und nun wäre er dem Henker fast in die Arme gelaufen! Die Erkenntnis, dass Mundt ihm trotz aller Strapazen so dicht im Nacken saß wie in der ersten Stunde seiner Flucht, traf ihn wie ein Schlag und raubte ihm für einen Moment all seine Hoffnung.

Hinter einer scharfen Biegung der Landstraße wechselte Jakob die Straßenseite und setzte seine Flucht in dem gegenüberliegenden Waldstück fort, das bergauf führte. Zu Pferd würde man ihm auf diesem Weg nicht folgen können! Dieser Gedanke spornte ihn an und trieb ihn immer wieder hoch, wenn er ausrutschte, stolperte und in den Schnee stürzte. Zweige peitschten sein Gesicht und sein rechter Oberarm meldete sich wieder mit einem scharfen, heißen Stechen. Doch er gab nichts darauf, ging es doch um sein Leben. Denn noch war die Nacht, sein einziger Freund, nicht angebrochen. Und so hetzte er weiter.

Die Angst ließ etwas nach, als die Dunkelheit endlich das letzte Tageslicht vertrieben hatte und wie ein schwarzes Tuch über dem Land lag. Er gönnte sich aber keine Ruhepause, sondern stapfte weiter.

In dieser Nacht brach er auf einem großen Teich ein, als er ihn überquerte, ohne zu ahnen, was sich unter seinen Stiefeln befand. Er geriet mit dem linken Fuß in ein Loch, das jemand wohl zum Fischen in die massive Eisdecke geschlagen hatte und das danach nur dünn mit einer neuen Schicht überfroren war.

Bis zur Hüfte brach er ein. Das eiskalte Wasser raubte ihm im ersten Moment den Atem. Zu allem Übel zerrte er sich dabei auch noch einen Muskel, sodass er nur unter Schmerzen weiterlaufen konnte. Er biss jedoch die Zähne zusammen und kämpfte erfolgreich gegen die Versuchung an für diese Nacht aufzugeben und sich irgendwo zu verkriechen. Allein Bewegung hielt ihn in der Kälte warm. Wenn er jetzt dem Drang seines geschundenen Körpers nach Ruhe nachgab, kam er vielleicht nicht wieder auf die Beine und holte sich den Tod.

Etwa zwei, drei Stunden später stieß er auf einen großen Bauernhof am Rande eines Dorfes. Er schlich sich näher und hörte schon von weitem zwei Hunde kläffen. Aus dem Dorf antworteten ihnen mehrere Artgenossen mit teils wütendem, teils kläglichem Gebell. Das konnte ihm nur recht sein. Denn diese Hunde taugten nichts als Wachhunde und würden ihn nicht ihrem Herrn verraten!

Jakob ging das Wagnis ein sich auf den Hof und in die Scheune zu schleichen, wo er sich ins Heu vergrub und innerhalb weniger Minuten in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung sank. Unbehelligt erwachte er eine gute Stunde vor Tagesanbruch. Er stellte sein Glück noch einmal auf die Probe, indem er in den Stall schlich, sich erst den Mund und dann die Taschen reichlich mit Hafer füllte sowie eine der drei Kühe molk, die ihn auch bereitwillig an ihr pralles Euter ließ. Nie hatte er etwas Köstlicheres getrunken als diese frische, warme, sahnige Milch. Gestärkt und mit neuem Mut machte er sich davon, noch bevor der Bauer und sein Gesinde erwachten. Er versteckte sich an diesem Tag wieder im Wald und brach in der folgenden Nacht in eine Schäferhütte ein, zu der ihn ein gnädiges Schicksal führte.

Die Flucht bei Nacht und Kälte sowie das Sichversteckthalten bei Tag wurden nun mehr und mehr zu einem Alptraum. Selten einmal litt er nicht unter quälendem Hunger. Das wenige, das er auf einsamen Bauernhöfen zu stehlen wagte, reichte nicht aus, um ihn länger als ein paar Stunden zu sättigen. Die Strapazen, die er seinem Körper abforderte, verlangten nach einer ganz anderen Kost. Aber er dachte nicht daran, aufzugeben und darauf zu warten, dass Mundt und seine Gehilfen ihn aufstöberten.

Es schneite in diesen einsamen, qualvollen anderthalb Wochen immer wieder, manchmal tagelang, was Segen und Fluch zugleich war. Einerseits machte der Schneefall ihm das Vorankommen noch schwerer, als es ohnehin schon war. Andererseits verloren sich seine Spuren immer wieder unter dem vielen Neuschnee, der über der Eifel herabfiel.

Jakob wurde immer schwächer und langsamer. Aber es waren nicht nur die körperlichen Kräfte, die ihn verließen. Auch sein Geist versank allmählich in einen Zustand der Ermattung, ja der Lähmung. Er erschrak selbst, als er sich am achten Tag seiner Flucht dabei ertappte, wie er mit einem Stock auf dem Boden der Schäferhütte, in die er eingebrochen war, sinnlose Kreise und Striche zog und dabei immer und immer wieder Kinderreime vor sich hin murmelte.

In der folgenden Nacht stürzte er schwer, als er neben einer Viehtränke über einen Weidezaun kletterte und vor Müdigkeit mit einem Fuß an der obersten Latte hängen blieb. Er fiel kopfüber und mit seinem verletzten Oberarm genau auf die Kante des langen Viehtroges. Nicht nur der notdürftige Verband riss dabei auf, sondern auch die Wunde, die sich schon geschlossen und mit einer dünnen Schorfschicht geschützt hatte. Der Schmerz war größer als damals, als ihm Mundt den Schnitt zugefügt hatte. Und er verließ ihn auch nicht wieder. Im Gegenteil, er wurde im Laufe des Tages immer ärger, denn die Wunde entzündete sich und ließ seinen Arm anschwellen.

In der elften Nacht fand Jakob an einem eingefrorenen Bachlauf in einer Ruine, die einst wohl eine Mühle gewesen war, notdürftige Unterkunft. Ihm war kalt und heiß zugleich. Sein Arm schmerzte, als hätte man ihn mit brennendem Öl Übergossen. Und er wusste, dass er Fieber hatte.

Ich kann nicht mehr weiter. Ich bin am Ende meiner Kräfte... das ist dann wohl das Ende meiner Flucht. So dachte er, bevor er in der Ruine unter altem Sackleinen in einen unruhigen Schlaf fiel. In seinen Alpträumen kehrte er nach Himmerod zurück.

Das Klirren von Metall und raue Männerstimmen rissen ihn in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf. Verstört und steif vor Kälte, fuhr er auf. Der Himmel war noch dunkel, doch die Ruine war vom hellen, flackernden Schein vieler Pechfackeln erfüllt. Und dann sah er den Henker Mundt mit schneebedecktem Umhang vom Pferd springen.

Sie hatten ihn gefunden!

Jakob sprang auf. Die Todesangst verlieh ihm noch einmal neue Kräfte. »Nein, lebend bekommt ihr mich nicht!«, schrie er, griff zu seinem dicken Knüppel, auf den er sich die letzten Tage gestützt hatte, und schlug wild um sich, um sich die näher rückenden Männer vom Leib zu halten.

Mundt lachte höhnisch und schlug seinen schwarzen Umhang mit dem feuerroten Samtkragen zurück, sodass sein Säbel an der linken Hüfte zum Vorschein kam. »Ihr habt uns lange genug aufgehalten, Jakob Tillmann. Jetzt kommt Ihr auf den Turm, Fuhrmann! Oder habt Ihr Eure zweite Unterredung mit meinem Herrn vergessen?«

Jakob holte zum Schlag aus und wollte sich auf ihn stürzen. Doch da zog Mundt seinen Säbel mit einer blitzschnellen Bewegung aus der Scheide und kam ihm zuvor. »Wie schade, dass Euer Kopf nicht fallen darf - zumindest noch nicht!«

Jakob sah die breite Klinge im Licht der Fackeln aufblitzen und auf sich zufliegen. Er wollte sich wegducken, aber sein Körper reagierte nicht mehr. Es ging alles zu schnell.

Die Klinge traf ihn mit der breiten Seite am Kopf und schleuderte ihn in einen bodenlosen, schwarzen Abgrund. Dass er auf der harten Erde aufschlug, spürte er schon nicht mehr.

Fünfzehntes Kapitel

Als Jakob aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, fand er sich gefesselt und geknebelt in einer Kutsche wieder. Dass es die Bischofsstadt Trier war, in die er gebracht wurde, erkannte er, als die Kutsche durch die Porta Nigra ratterte. Wenig später hielt sie in einem Hof. Dort schleppten ihn die Gehilfen des Henkers in den Turm des Greven, des erzbischöflichen Oberrichters.

»Bringt ihn gleich in die Folterkammer!«, trug Mundt seinen Handlangern auf, als sie im Licht von Pechfackeln eine steinerne Treppe hochstiegen. »Mein Herr wird keine Zeit verlieren und gleich mit der Befragung beginnen wollen.«

Die elf Tage und Nächte auf der Flucht hatten Jakob körperlich ausgelaugt und ausgezehrt. Zudem schwächte ihn das Fieber, das sein schmerzhaft entzündeter Arm ausgelöst hatte. Als man ihn jetzt in das fensterlose Gewölbe der Folterkammer zerrte, verlieh ihm die Todesangst allerdings noch einmal für einen kurzen Augenblick gewaltige Kräfte. Wild bäumte er sich auf und versuchte sich aus den Händen der Schergen zu befreien. Dabei schrie er aus vollem Leib. Doch der Knebel erstickte sein Schreien und die rohe Gewalt der Henkersknechte brach seinen Widerstand mit Leichtigkeit. Unter höhnischem Lachen schleiften ihn die Männer über den kalten Steinboden zu einer Wand, an der zwischen zwei rußenden Fackeln ein hohes Balkengestell aufragte. An dieses Gestell, dessen Rundhölzer mit Eisendornen gespickt waren, fesselten sie ihn.

»Das war gute Arbeit, Männer, auch wenn es etwas gedauert hat. Aber das lag am Wetter und keiner hätte es besser machen können«, lobte Mundt. »Der Domherr wird zufrieden sein. Hier ist Euer Lohn.« Er warf jedem seiner Gehilfen einen kleinen Geldbeutel zu.

Die gedungenen Handlanger steckten mit fröhlichen Mienen das Geld ein, versicherten dem Henker eifrig, ihm jederzeit wieder zu Diensten stehen zu wollen, und machten sich dann davon. Zurück blieb nur ein breitschultriger Mann in derber Kleidung, der wie Mundt das breite Kreuz eines Ochsen und die muskulösen Arme eines Flussschiffers besaß. Auf dem Kopf trug er eine topfförmige Filzmütze. Das rundliche, einfältig wirkende Gesicht mit der Stummelnase und den kleinen Augen machte den Eindruck, als könnte dieser Mann keiner Fliege etwas zu Leide tun. Er hieß Gotschalk Pleisgen - und war der Folterknecht.

»Steht nicht so faul herum, Pleisgen! Ihr könnt schon mal Euer Werkzeug zurechtlegen und für eine ordentliche Glut im Kohlenbecken sorgen!«, wies Mundt ihn von oben herab an. »Der Domherr wird jeden Moment erscheinen! Und Ihr wisst, wie sehr er Verzögerungen hasst!«

»Der hochwürdige Domherr wie auch der Greve beginnen nie mit dem Kohlenbecken, wenn Ihr mir diese Bemerkung erlaubt«, erwiderte der Folterknecht mit einer Spur Ingrimm in der Stimme. »Eure Herren mögen es in Würzburg anders gehalten haben, doch wer hier bei uns in Trier auf den Turm kommt und sich der peinlichen Befragung zu unterziehen hat, der macht zuallererst mit den Daumenschrauben und den spanischen Stiefeln Bekanntschaft. Es bleibt daher stets Zeit genug ein anständiges Feuer im Kohlenbecken zu entfachen.«

Jakob erschauerte und kalter Angstschweiß brach ihm aus. Übelkeit würgte ihn.

»Ganz wie Ihr meint, Pleisgen. Aber damit wir uns nicht missverstehen: Nun, da ich das Amt des Scharfrichters von Trier innehabe.« Mundt brach mitten im Satz ab, denn in diesem Augenblick tauchte der Domherr im Rundbogen der Tür auf, begleitet von seinem Sekretär Laurentis Coppeldiek, der unter dem Arm ein Reiseschreibpult trug. Dessen bleiches Gesicht zeigte wie immer eine höchst kummervolle Miene und sein starrer Blick, den er eisern auf den Boden gerichtet hielt, als wollte er jeden Augenkontakt mit den grauenvollen Gerätschaften in diesem Gewölbe vermeiden, verriet, dass eine Folterkammer nicht der Ort war, an dem er sich gern aufhielt.

»Das wurde aber auch allerhöchste Zeit, Mundt!«, rief Domherr von Drolshagen, während er mit wehendem Pelzumhang die sechs breiten Steinstufen in die Folterkammer hinuntereilte. »Ihr habt reichlich lange gebraucht, um dieses rheinischen Fuhrmanns habhaft zu werden. Fast zwei Wochen!«

»Wir hätten ihn in einem Tag gestellt, wenn es nicht so viel geschneit hätte. Angesichts der extrem schlechten Wetterlage haben meine Männer zweifellos ausgezeichnete Arbeit geleistet«, erwiderte der Henker. »Jemandem bei ständigem Schneegestöber auf der Fährte zu bleiben ist nur mit der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen vergleichbar.«

»Sei’s drum«, sagte der Domherr mit einer großzügigen Handbewegung. »Wir haben den Begleiter von Bruder Anselm endlich hier im Turm und allein das zählt!«

Domherr Melchior von Drolshagen schritt zu Jakob hinüber und musterte ihn kritisch, wie ein Pferdehändler ein zum Verkauf stehendes Tier abschätzte. »Er sieht übel aus, nur noch Haut und Knochen!«, stellte er fest. »Pleisgen, Ihr werdet Eure ganze Kunst aufbringen müssen, damit uns dieser Bursche nicht schon unter der leichten Tortur dahinsiecht!«

»Seid unbesorgt, Hochwürden, ich verstehe mein Handwerk«, versicherte der Folterknecht mit einer Mischung aus Beflissenheit und Stolz. »Ich verspreche Euch, dass er mir auch unter der verschärften Folter nicht wegstirbt, falls Ihr diese für nötig erachten solltet.«

Der Domherr nickte. »Gut, aber vielleicht ist er ja klug genug sich diese zu ersparen, indem er redet«, sagte er und forderte den Folterknecht auf Jakob vom Knebel zu befreien.

Keine Sekunde zu spät. Jakob war so übel geworden, dass er sich erbrechen musste, kaum dass Gotschalk Pleisgen den Knebel aufgeknotet hatte. Er spuckte bittere Galle, keuchte und krümmte sich am eisendorngespickten Gestell, so weit es die Fesseln zuließen.

Während der Folterknecht einige Spritzer auf seine Hose und Stiefel abbekam, sprang der Domherr noch rechtzeitig genug zur Seite. »Mir scheint, schon der Gedanke an die Tortur lässt Euren Magen revoltieren. Das ist ein hoffnungsvolles Zeichen, Jakob Tillmann. Ihr müsst wissen, dass ich nur äußerst ungern zum Mittel der peinlichen Befragung greife. Eine Tortur ist eine unangenehme Sache, zumal mein Gewissen es mir gebietet während der Dauer der Folter, auch der verschärften, zugegen zu sein, so lange sie sich auch hinziehen mag.«

Jakob würgte und spuckte, während ihm der beißende Angstschweiß über das Gesicht rann und ihm die Tränen in die Augen trieb.

»Es mag manchen Inquisitoren, die dieses aufopferungsvolle Geschäft zum Schutze der heiligen Kirche und zum Ruhme Gottes zu ihrer Aufgabe gemacht haben, ein großer Trost sein, dass die Qualen, die ihre Delinquenten hier auf Erden unter der Folter erleiden, diesen helfen die jenseitigen Torturen im Fegefeuer abzukürzen«, fuhr der Domherr ungerührt und offenbar mit festem Glauben an die Richtigkeit seines Handelns fort. »Ich dagegen tue mich schwer mich damit zu trösten und ich leide mit jedem, den ich der Folter unterziehen muss, glaubt mir. Doch wenn es sein muss, dann weiche ich nicht vor der Pflicht, sondern stelle mich der Aufgabe, die mir der Allmächtige zugewiesen hat, mit ganzer Kraft und Verantwortung.«

Am liebsten hätte Jakob ihn angespuckt.

Mit fast väterlicher Stimme forderte der Domherr ihn nun auf: »Also seid vernünftig und sagt, was Ihr von Bruder Anselm über seine Tätigkeit und seine Aufenthaltsorte in den letzten Monaten erfahren habt, Jakob Tillmann! Dann werde ich auf die Tortur verzichten und dafür sorgen, dass Ihr nur aus der Stadt gepeitscht werdet, was angesichts der Umstände, die Ihr mir und der erzbischöflichen Kurie schon gemacht habt, eine geradezu milde Strafe ist. Und Ihr könnt versichert sein, dass ich zu meinem Wort stehe.« Er räusperte sich, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und nickte ihm mit einem aufmunternden Lächeln zu: »Nun denn, gebt meinem Schreiber zu Protokoll, was ich von Euch wissen will und Ihr mir bisher verschwiegen habt.«

»Ich. ich habe Euch nichts verschwiegen, hochwürdiger Domherr!«, stieß Jakob verzweifelt hervor. »Ich weiß nichts von den Dingen, die Ihr zu erfahren wünscht!«

»Stellt mich nicht auf die Probe!«, warnte ihn der Domherr und seine Miene verfinsterte sich.

»Es ist die Wahrheit!«, beteuerte Jakob verzweifelt. »Bruder Anselm hat mir nichts von alldem erzählt. Nicht ein Wort!. Ich schwöre es bei allem, was mir und Euch heilig ist!. Ich flehe Euch an, Ihr müsst mir glauben!«

Der Domherr schüttelte enttäuscht den Kopf. »Ich hätte Euch für klüger gehalten, Jakob Tillmann. Dass Ihr Euch bei der Befragung in der Abtei verstockt gezeigt habt, dafür hatte ich ja noch Verständnis. Doch dass Ihr auch hier starrköpfig darauf beharrt, nichts zu wissen, ist Dummheit und maßlose Überschätzung dessen, was Ihr an Schmerz zu ertragen vermögt. Aber nun gut, wenn Ihr mich herausfordern wollt, sollt Ihr Euren Willen bekommen.«

»Ich will Euch nicht herausfordern!«, schrie Jakob. »Mein Gott, ich weiß nichts!. So glaubt mir doch!. Ich weiß nichts!. Das schwöre ich bei den vier Evangelien und der Heiligen Jungfrau Maria!. Selbst wenn Ihr mich zu Tode foltert, ich werde Euch bis zum Ende nichts sagen, weil ich nichts weiß!« Seine Stimme überschlug sich und war ein hysterisches Kreischen.

Der Domherr gab einen schweren Stoßseufzer von sich. »Das wird sich ja zeigen«, sagte er und wandte sich dem Folterknecht zu. »Pleisgen.«

In diesem Moment erschien ein schlaksiger Halbwüchsiger in der Livree eines erzbischöflichen Dieners in der Tür der Folterkammer. »Hochwürdiger Domherr von Drolshagen?«

Der erzbischöfliche Berater wandte sich verwundert um. »Ja, was gibt es?«, fragte er gereizt.

Der Junge, der sich als Bote ausgab, teilte ihm unterwürfig mit, dass Seine Eminenz, der Erzbischof, ihn, den hochwürdigen Domherrn, umgehend zu sehen wünsche. »Es sei sehr dringend, da es ihm nicht gut gehe und er nicht ohne Beichte und ohne die rechten Sterbesakramente seinem Herrgott gegenübertreten wolle. Er habe auch schon nach seinem Leibarzt geschickt«, schloss der Junge seine hastig vorgetragene Botschaft.

Der Domherr furchte die Stirn. »Sterbesakramente? Ach was, es wird wohl wieder die Galle sein, die ihm bitterlich zu schaffen macht und ihn mit trüben Gedanken an sein baldiges Lebensende beschwert! Ein guter Aderlass dürfte wohl wieder für die richtige Mischung seiner Körpersäfte sorgen und ihn auf weniger morbide Gedanken bringen«, brummte er unwillig. Dann nickte er knapp. »Aber gut, er ist der Erzbischof und ich bin sein untertänigster Diener. Sag ihm also, ich bin auf dem Weg!«

Der Junge verbeugte sich demütig und eilte davon.

Der Domherr gab seinem Sekretär mit einer knappen, herrischen Handbewegung zu verstehen, dass er Tintenfass, Federn, Kratzmesserchen, Streusand und Papier wieder in sein Reisepult verstauen und dieses zuklappen konnte. Und zu Mundt sagte er: »Es wird gewiss etwas dauern, bis ich zurück bin. Am besten gönnt Ihr Euch jetzt schon ein deftiges Abendbrot, damit wir später keine weitere Zeit verlieren. Es könnte heute sehr spät werden.«

Mundt nickte und folgte dem Domherrn zur Tür. »Soll mir recht sein.«

»Ich ziehe es vor bei nüchternem Magen meine Arbeit zu machen«, sagte Gotschalk Pleisgen, als wollte er sich vom Henker absetzen und sich ins rechte Licht rücken.

»Tut, wie Ihr beliebt«, sagte der Domherr gleichgültig und verließ zusammen mit seinem Sekretär, der sichtlich aufatmete, und dem Henker die Folterkammer.

Gotschalk Pleisgen schaute ihnen nach, schüttelte den Kopf und sagte grimmig: »Ein feiner Herr, unser neuer Henker! Eigentlich hätte mir das Amt zugestanden, wo ich dem Greven und unserem Erzbischof hier im Turm schon so viele Jahre treue Dienste leiste.«

»Bitte, habt Erbarmen!«, flehte Jakob. »Lasst mich frei! Ich bin unschuldig! Man hat sich gegen mich verschworen!«

Der Folterknecht schien ihm überhaupt nicht zuzuhören. Er war ganz in seinem Neid und Ärger gefangen.

»Henker Mundt wird bald in Gold und Silber dahergeritten kommen, das sehe ich schon. Vier Taler bekommt er für jede Erdrosselung und Verbrennung und pro Enthauptung zweieinhalb, weil’s ja auch schneller geht. Und für das Brechen eines Daumens, was nun wahrlich rasch gemacht ist, streicht er immerhin noch je einen Vierteltaler ein. Da kommt in einer Stadt wie Trier, wo man auf Recht und Ordnung achtet und den Werken des Teufels früh Einhalt gebietet, schnell ein ordentlicher Batzen zusammen. Aber wer muss die Arbeit machen? Der treue Folterknecht Gotschalk Pleisgen, auf dem nun schon seit Jahren die Verantwortung für die gewissenhafte Tortur lastet. Denn der bisherige Henker ließ sich dabei ja kaum einmal blicken. Zu mühsam war ihm das Geschäft! Und wie ich die Sache sehe, wird auch der neue Scharfrichter keine Ausnahme von der Regel sein.«

»Bitte, lasst mich frei!«, beschwor Jakob ihn erneut mit lauter Stimme und zerrte an den Fesseln. »Es ist alles ein schrecklicher Irrtum!. Ich weiß tatsächlich nichts, das schwöre ich Euch!. Löst meine Fesseln und lasst mich laufen!. Ich werde es Euch auch vergelten.«

Gotschalk Pleisgen sah ihn erst verwundert und dann ausgesprochen gekränkt an. »Was redet Ihr da? Haltet Ihr mich vielleicht für einen korrupten Mann, dem man seine Ehre abkaufen kann? Ich bin ein gottesfürchtiger Mann, der gewissenhaft seine Arbeit macht!«

»Aber wie könnt Ihr Menschen foltern, die nichts verbrochen haben?«, stieß Jakob verzweifelt hervor. »Ich habe mir doch nichts zu Schulden kommen lassen!«

»Über Schuld oder Unschuld zu entscheiden steht mir nicht zu, mein junger Freund. Das ist die Domäne der hochwürdigen Herren von Kurie und Magistrat. Ich führe nur Befehle aus, und wenn diese von einem gelehrten, hoch stehenden Mann kommen wie dem hochwürdigen Domherrn, dann wird es schon seine Richtigkeit damit haben.«

Der ärgerliche Ausdruck auf dem Gesicht des Folterknechtes wich einer fast milden, freundlichen Miene, als er dann fortfuhr: »Ihr müsst wissen, dass ich nichts gegen Euch persönlich habe und das bitte ich Euch nicht zu vergessen, auch wenn mich meine Pflicht zwingen sollte Euch Tag um Tag der Tortur zu unterziehen. Eigentlich darf die Tortur ja nur einmal angewandt werden und sollte innerhalb von vierundzwanzig Stunden abgeschlossen sein. Aber seit den Hexenprozessen hat es sich so eingebürgert, dass der Inquisitor die Tortur nicht für beendet, sondern stets nur für unterbrochen erklärt. Das hat den Vorteil, dass man diesem mühseligen Geschäft der Wahrheitsfindung in aller Ruhe und über viele Tage, ja sogar über Wochen und Monate hinweg nachgehen kann.«

»Wollt Ihr mich verhöhnen?«, keuchte Jakob. Dies musste ein grässlicher Alptraum sein, aus dem er gleich erwachen würde. Es konnte einfach nicht sein, dass er solchen Bestien in Menschengestalt, die ihr grausames Handwerk noch für rechtens und gottgefällig hielten, wirklich hilflos ausgeliefert war.

Der Folterknecht warf ihm einen beleidigten Blick zu. »Ihr tut mir unrecht, junger Mann. Habe ich Euch vielleicht auf den Turm gebracht? Ich tue nur meine ehrliche Arbeit, wie mein Herr sie von mir verlangt. Seht in mir so etwas wie einen weltlichen Beichtvater, der aus den ihm anvertrauten Sündern alle Verfehlungen und Missetaten herausholt, nicht mit Worten, sondern mit den Werkzeugen der Tortur, aber doch nicht weniger zur Erleichterung und für das Seelenheil der Beichtenden!«

Jakob starrte ihn an und fragte sich, ob der Mann wohl den Verstand verloren hatte. Aber nein, der Folterknecht meinte jedes Wort, wie er es gesagt hatte, überzeugt vom hohen Wert seiner grausamen Zunft.

»Ich will Euch die Sache erleichtern, mein Freund«, sagte Gotschalk Pleisgen mit gedämpfter, verschwörerischer Stimme und trat näher. »Die Ermahnungen des hochwürdigen Domherrn haben bei Euch nicht recht gefruchtet. Das ist bedauerlich. Aber vielleicht hängt Eure jugendliche Verstocktheit ja damit zusammen, dass Ihr Euch einfach kein Bild davon machen könnt, was Euch erwartet, wenn ich erst einmal meine Kunst entfalte. Falls dem so ist, kann Euch geholfen werden.«

»Nur die Freiheit kann mir helfen!«, stieß Jakob hervor und zerrte an seinen Fesseln. »Ich flehe Euch an, schneidet mich los und lasst mich laufen!«

»Seid doch nicht so einfältig! Selbst wenn ich Euch die Fesseln lösen würde, wohin wolltet Ihr denn von hier aus fliehen? Ihr kämet ja noch nicht einmal an der oberen Wachstube vorbei. Nein, vergesst diesen Unsinn«, rügte er Jakob wie ein unartiges Kind. »Hört besser zu, was ich Euch zu sagen habe. Denn ich will Euch ein Bild davon machen, was auf Euch zukommt, wenn Ihr Eure Verstocktheit nicht ablegt und zur Einsicht gelangt.«

Er räusperte sich.

»Also, wir werden wie gewöhnlich mit der leichten Tortur beginnen. Das bedeutet, dass ich Euch Daumenschrauben aus Eisen anlege, die Eure Daumenglieder zermalmen werden. Als Nächstes bekommt ihr dann die spanischen Stiefel zu spüren. Das sind Beinschrauben, die die Waden zu einem blutigen Brei zerquetschen und die Knochen splittern lassen.«

Jakob begann wieder zu würgen.

»Jaja, das sind gar unfreundliche Gesellen, diese spanischen Stiefel«, fuhr der Folterknecht munter fort. »Aber sie gehören wie die Daumenschrauben noch zur leichteren Tortur. Brennende Pechfackeln unter Achselhöhlen und Fußsohlen sind schon um einiges ärger, doch noch längst nicht die hohe Kunst der verschärften Folter. Ich kann Euch einige arge Geschichten über die Streckbank erzählen, die Euch das Blut in den Adern gefrieren lassen. Und seht Ihr den mit eisernen Stacheln besetzten Sessel dort drüben? Das ist der >Ha-ckerstuhl<, vom Scharfrichter Hacker im hessischen Ortenberg entwickelt. Dieser Hexenstuhl kann durch eine eingebaute Feuerung von innen erhitzt werden und dem darauf festgebundenen Opfer einen Vorgeschmack von den Qualen der Hölle geben.«

»Entschuldigt, mein Sohn«, kam da eine sanfte und zugleich doch selbstbewusste Stimme von der Tür her. »Erlaubt, dass ich Eure aufschlussreichen Ausführungen über die hohe Kunst Eures Handwerkes für einen Augenblick unterbreche.«

Der Folterknecht wandte sich ohne Hast um.

Jakob hob den Kopf und seine Augen weiteten sich in ungläubiger Überraschung. Auf der obersten Treppenstufe stand Bruder Basilius, der Zisterziensermönch mit der Augenklappe und der langen Narbe auf der rechten Wange!

Sechzehntes Kapitel

»Gestattet Ihr, dass ich näher trete, guter Mann?«, fragte Bruder Basilius mit sanfter Stimme, während er schon seine Kutte schürzte und die Stufen herunterkam. »Mein Name ist Pater Basilius und von den fürchterlichen Qualen der Hölle, die Ihr so kennerhaft zu schildern versteht, weiß auch ich einiges zu berichten.«

»Was führt Euch zu mir. Und was kann ich für Euch tun, ehrwürdiger Pater?«, erkundigte sich der Folterknecht.

»Der hochwürdige Domherr Melchior von Drolshagen schickt mich. Er hat mir aufgetragen mich dieser jungen, verirrten Seele anzunehmen.« Er deutete auf Jakob, die Hand wie zum Segen erhoben. »Ich soll diesem verstockten Jakob Tillmann, so soll sein Name sein, ins Gewissen reden und ihm, während Hochwürden im erzbischöflichen Palais aufgehalten wird und den Befund des Leibarztes Seiner Eminenz abwartet, die heilige Beichte abnehmen. Er sprach die Hoffnung aus, dass es mir mit Gottes Hilfe vergönnt sein mag, ihn zur Einsicht und zu fügsamer Aussage zu bekehren und ihn so vor der peinlichen Befragung unter der Folter zu bewahren.«

Gotschalk Pleisgen lächelte ihm wohlwollend zu, als hätte der Mönch ihm aus der Seele gesprochen. »Das ist ein fürwahr trefflicher Einfall, einen ehrwürdigen Mönch um Beistand zu bitten! Der hochwürdige Domherr ist für seine große Barmherzigkeit und Geduld zu preisen.«

»Oh ja, das ist er in der Tat«, pflichtete Bruder Basilius ihm bei. »Er ist ein unerbittlicher Streiter Gottes, wie man ihn nur noch selten findet.«

»Also nur zu, ehrwürdiger Pater. Ich überlasse Euch gern das Feld und hoffe sehr, dass Ihr Erfolg habt und diesen jungen Mann davor bewahren könnt, sich das Leben unnötig schwer zu machen. Er scheint nicht recht ermessen zu können, dass bisher noch jeder unter der Tortur gestanden hat.«

Bruder Basilius faltete die Hände vor der Brust und nickte mit ernster Miene. »Ich werde nichts unversucht lassen ihm die Zunge zu lösen, damit Ihr einmal weniger Eure Fertigkeit unter Beweis stellen müsst, mein Sohn. Allerdings.« Er hüstelte. »Wie Ihr wisst, ist die Beichte ein heiliges Sakrament, das allein in Gegenwart eines geweihten Priesters und im Angesicht Gottes vollzogen wird.«

Gotschalk Pleisgen nickte verständnisvoll. »Ihr wollt mit dem gu-ten Mann allein sein, nicht wahr?«

Bruder Basilius lächelte dankbar. »So ist es, mein Sohn«, bestätigte er, legte seine Hand auf den kräftigen Arm des Folterknechtes und geleitete ihn zur Tür. »Gebt mir eine gute halbe Stunde. Und tut mir den Gefallen die Tür hinter Euch zu verriegeln.«

»Das ist aber nicht nötig, ehrwürdiger Pater. Ich werde draußen auf dem Schemel hocken und warten, bis Ihr mich wieder ruft. Das soll genügen.«

»Euer Vertrauen ehrt Euch, mein Sohn, und Eure Gottesfürchtig-keit wird Euch eines Tages hoch angerechnet werden, wenn der Allmächtige am Jüngsten Tag über uns alle zu Gericht sitzen wird. Dennoch tut Ihr besser, wie ich Euch geheißen, denn es soll auch nach unseren irdischen Gesetzen alles seine Richtigkeit haben«, beharrte Bruder Basilius mit salbungsvoller Stimme. »Ich werde klopfen, wenn ich aus dem Verließ entlassen zu werden wünsche.«

»Gut, dann soll es so sein, ehrwürdiger Pater«, sagte der Folterknecht, stieg die Stufen hoch, zog die schwere, eisenbeschlagene Bohlentür hinter sich zu und schloss von außen ab.

Bruder Basilius wartete einen Moment und lauschte auf die Geräusche, die von jenseits der Tür zu ihm auf den Treppensockel drangen. Dann zog er den schweren Balken, der rechts von der Tür aufrecht im Mauerwinkel stand, aus seinen Halterungen. Er kämpfte einen Augenblick mit dem Gewicht und wuchtete den Balken dann in die drei breiten Eisenarme, die auf der Innenseite der eisenbeschlagenen Bohlentür hervorragten. Die Enden des Balkens glitten rechts und links in passende Maueröffnungen. Damit ließ sich die Tür von außen nur noch mit brachialer Gewalt öffnen.

»Dem Himmel sei Dank!«, stieß Bruder Basilius hervor. »Mit einem Tropfen Honig fängt man in der Tat mehr Fliegen als mit einem ganzen Fass Essig!« Er bekreuzigte sich und hastete wieder die Stufen herunter. Dabei zog er einen Dolch unter seiner Kutte hervor.

Jakob war im ersten Moment, als er den Mönch mit der Augenklappe dort auf der Steintreppe erblickt hatte, von einer geradezu wilden Flamme der Hoffnung erfüllt gewesen. Denn er hatte damit gerechnet, dass der Schwede jeden Augenblick mit blankgezogener Klinge durch die Tür gestürmt kommen würde, um den Folterknecht zu überwältigen und ihn zu befreien.

Doch er wartete vergeblich darauf, dass Henrik Wassmo ihn in einem tollkühnen Handstreich aus dem Turm des Greven holte. Stattdessen komplimentierte der Mönch den Folterknecht aus dem Gewölbe und sorgte auch noch dafür, dass die Tür von beiden Seiten fest verschlossen war! Er verstand nicht, was der Mönch damit bezweckte. Es erschien ihm vollkommen sinnlos und beraubte ihn augenblicklich wieder jeder Hoffnung. Denn da die Folterkammer nicht einmal über eine Schießscharte verfügte, geschweige denn über ein Fenster, blieb er nach wie vor hier gefangen.

Bruder Basilius eilte zu ihm und sah sogleich den matten Glanz in seinen Augen. Er legte ihm die Hand auf die Stirn. »Ihr habt Fieber, Jakob!«

Jakob nickte schwach. »Ja, mein Arm. Mundt hat mich mit seinem Messer erwischt. Die Wunde hat sich entzündet und schmerzt schrecklich. Aber sagt, was könnt Ihr für mich tun?«

Der Mönch durchtrennte die Fesseln und fing Jakob auf, der kraftlos in sich zusammensackte. »Ich werde Euch aus dem Turm herausbringen und Euch zur Freiheit verhelfen«, versprach er. »Also schöpft Mut, Jakob!«

»Das ist unmöglich! Wir sind unbewaffnet und ich bin zudem am Ende meiner Kräfte. Es mag uns vielleicht gelingen den Folterknecht vor der Tür zu überwältigen, aber wir werden nicht einmal an der oberen Wachstube vorbeikommen.«

»Mit Gottes Hilfe ist selbst eine Flucht aus dem Turm des Greven nicht unmöglich!«, erwiderte der Mönch. »Wobei das Wissen um einige Geheimnisse, die in den Mauern dieser Stadt verborgen sind, natürlich recht hilfreich ist.«

»Ihr kennt einen geheimen Weg aus dem Turm?«, stieß Jakob aufgeregt hervor und die Hoffnung, der Folter und dem Tod noch einmal zu entkommen, durchströmte ihn wie ein Kraft bringendes Lebenselixier.

Bruder Basilius nickte. »Dieser geheime Weg ist jedoch mit einiger Anstrengung verbunden. Werdet Ihr die Kraft dazu noch aufbringen?«

»Mein Gott, ja! Ich brauche bloß an die Folter zu denken, die mich erwartet, wenn ich es nicht schaffe, und dann werde ich sogar kräftig genug sein, um Bäume auszureißen!«, antwortete Jakob mit wilder Entschlossenheit, verbiss sich den Schmerz, der in Arm und Schulter tobte, und richtete sich auf.

»So ist es richtig!«, lobte der Mönch. »Kommt! Wir haben nicht mehr viel Zeit. Der Domherr wird jeden Moment herausfinden, dass er einer Täuschung aufgesessen ist und dass der Erzbischof gar nicht nach ihm geschickt hat. Und dann wird er Alarm schlagen.«

»Somit kam der Bote von Euch?«, fragte Jakob überrascht, während er sich die schmerzenden Handgelenke rieb.

»Ja, eine geschickte Finte, die sich Henrik da hat einfallen lassen, um den Domherrn aus dem Turm zu locken.«

»Aber was hättet Ihr getan, wenn der Henker Mundt nicht mit ihm gegangen wäre?«

Der Mönch schmunzelte verhalten. »Auch für diesen Fall hatten wir vorgesorgt. Agnes Minde, eine von den. barmherzigen Schwestern dieser Stadt.«

»Werden so nicht. die Dirnen genannt?«

»So ist es, Jakob. Und diese Agnes Minde stand unten bereit, um ihn aus dem Turm zu locken. Denn der Henker ist zugleich auch Dirnenaufseher: Jede Woche kassiert er von diesen armen, gefallenen Geschöpfen und jede neue barmherzige Schwester muss bei ihm eine Einstandsgabe entrichten.«

Jakob grinste. »Da hattet Ihr Euch ja wirklich was Tolles ausgedacht. Aber wie seid Ihr bloß an die Livree des erzbischöflichen Boten gekommen?«

»Wenn ich Euch das alles erzählen soll, kann ich Euch auch gleich wieder an das Folterreck binden! Wir müssen uns sputen, wenn unsere Flucht gelingen soll!«, drängte er nun, packte Jakobs linken Arm und legte ihn sich um die Schulter. »Stützt Euch nur auf mich!«

Bruder Basilius führte ihn auf die andere Seite der geräumigen Folterkammer, vorbei an der Streckbank und dem grauenhaften Hexenstuhl. Zielstrebig ging er mit Jakob auf die halbkreisförmige Ausbuchtung in der Mauer zu, die gute zwei Schritte in der Tiefe und doppelt so viele in der Breite maß. In der Mitte dieser Nische stand ein hoher Kasten aus dunklem Holz, der von mehr als einem Dutzend breiter Eisenbänder umschlossen war. Dieser mehr als mannshohe Kasten hatte mit seinen plumpen, menschlichen Umrissen die merkwürdige Form einer aufrecht stehenden Mumie.

»Wisst Ihr, was das ist?«, fragte Bruder Basilius.

»Nein«, sagte Jakob und lehnte sich gegen die Wand.

»Das ist eine >Eiserne Jungfrau<, das Folter- und Mordinstrument für Angehörige des Adels und andere Verdächtige nobler Herkunft«, erklärte der Mönch, umfasste einen eisernen Bügel an der Seite -und klappte den Kasten auf.

Jakob stieß einen erstickten Schrei des Entsetzens aus. Der hohle Rumpf der lebensgroßen Figur war innen mit dolchähnlichen Eisenspitzen gespickt.

»Wenn man einen Delinquenten in diese Eiserne Jungfrau sperrt, dann spießen die messerlangen Eisendornen den Unglücklichen förmlich auf, bohren sich in Brust und Augen. Und diese schreckliche Todesart gilt noch als gnädig!«

Jakob schluckte. »Aber was. was hilft uns das?«

Bruder Basilius lachte grimmig auf. »Als man diesen Turm errichtete, hat man auch eine Methode ersonnen, um Leichen aus der Folterkammer bequem und unauffällig zu beseitigen«, sagte er, kniete sich hin und tastete hinter der Eisernen Jungfrau über den Boden. »Und deshalb. Ah, hier ist ja der Hebel!. Deshalb hat man gleich einen Schacht mit eingebaut!«

Erschrocken fuhr Jakob zurück, als sich direkt vor seinen Füßen mit einem dumpfen Laut plötzlich der Boden öffnete. Eine Platte unter der Eisernen Jungfrau klappte nach unten weg - und gab den Blick in einen tiefen Schacht frei. Und dieser Schacht war zu beiden Seiten mit scharfen Messern besetzt!

»Mein Gott!« Jakob erschauerte.

»Die menschliche Erfindungsgabe kennt wahrlich keine Grenzen, wenn es darum geht, anderen Gewalt anzutun. Sie beweist dann eine geradezu teuflische Raffinesse«, sagte Bruder Basilius angeekelt. »Dieser Schacht führt in einen Abwasserkanal, der tief unter uns liegt und vom Stadtbach gespeist wird. Um eine Leiche zu beseitigen, brauchen die Folterknechte hier oben nur den Hebel umzulegen. Dann rutscht sie durch die Falltür und wird von den Dolchen zerstückelt. Das Wasser des Kanals spült die unkenntlichen Leichenteile dann mit sich fort und schwemmt sie in die Mosel. Und wenn das bei Nacht geschieht, ist jede Entdeckung so gut wie ausgeschlossen.«

»Aber wie sollen wir auf diesem Weg flüchten?«, stieß Jakob hervor. »Wir haben nicht mal ein Seil. Und auch wenn wir eines hätten, würde es uns nichts nützen, weil zwischen den Dolchreihen einfach nicht genug Platz ist! Die Messer werden uns bei lebendigem Leib zerstückeln, wenn wir es wagen dort hinunterzusteigen!«

Bruder Basilius warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Keine Sorge, ich erwarte nicht, dass Ihr Euch in diesen messerstarrenden Rachen stürzt. Die Baumeister dieses Turms haben zu unserem Glück für den Fall vorgesorgt, dass jemand hinunterklettern muss, etwa um die Messer zum Schärfen auszuwechseln«, sagte er, während er sich über den offenen Boden der Eisernen Jungfrau beugte und in eine Öffnung griff. »Dafür gibt es hier nicht nur Trittstufen in der Wand und Eisenstangen zum Festhalten, sondern auch zwei Hebel, die dem blutigen Rachen der Eisernen Jungfrau vorübergehend die Zähne ziehen.«

Jakob hörte ein lautes, schnappendes Geräusch, auf das augenblicklich ein schreckliches, metallisches Klirren folgte, als eine der Messerreihen nach unten wegklappte und gegen die Steinwand des Schachtes schlug.

Bruder Basilius bemühte sich unter Einsatz all seiner Kräfte auch den zweiten Hebel umzulegen. Vergeblich.

»Er klemmt und rührt sich nicht von der Stelle!«, keuchte der Mönch und gab es schließlich auf. »Wir haben keine Zeit mehr. Es wird auch so gehen. Ihr müsst Euch nur ganz flach an die vordere Schachtwand pressen. Andernfalls werden Euch die Messer von der anderen Wandseite den Rücken aufschlitzen!« Er rutschte rückwärts über die Kante der Öffnung, tastete nach der Trittstufe und ließ sich langsam und eng an die Wand gepresst in den Schacht hinab.

Jakob wurde es ganz flau im Magen, als er sah, wie nahe die Messerspitzen dem Rücken des Mönches kamen. »Mein Gott, Ihr habt Nerven!«

Bruder Basilius schaute nur noch mit dem Kopfüber den Rand hinweg. »Habt Ihr vielleicht einen besseren Vorschlag? Also was ist, kommt Ihr nun oder wollt Ihr darauf warten, bis der Domherr uns auf die Schliche gekommen ist? Wenn er die Tür zur Folterkammer verbarrikadiert vorfindet, wird er sich zwei und zwei zusammenrechnen! Er weiß mit Sicherheit von der Existenz dieses Schachtes. Und er wird sich nicht damit aufhalten, zuerst die Tür einzurammen, was eine Menge Zeit kosten wird, sondern er wird den Henker und dessen Schergen auf der Stelle dorthin schicken, wo der Kanal in die Mosel mündet - und wo Henrik auf uns wartet. Und wenn sie schneller sind als wir, ist das unser aller Tod! Also nehmt Euch ein Herz und kommt! Wenn Ihr bleibt, ist Euer Schicksal besiegelt.«

»Oh Gott, stehe uns bei!«, stöhnte Jakob und ließ sich nun mit jagendem Herzen in den Schacht hinab.

»Es ist doch immer wieder seltsam, dass wir uns in der Not ganz schnell des Allmächtigen besinnen und ihn um Schutz bitten, während wir ihn in guten Zeiten mit Missachtung strafen.«

Seine Beine baumelten schon im Schacht, als Jakob plötzlich verharrte. Er lag mit dem Oberkörper auf dem Boden und presste nun Hände und Gesicht auf den kalten Stein. »Ich schaffe es nicht«, stöhnte er.

»Unsinn! Lasst Euer rechtes Bein noch ein Stück tiefer herab. Ich führe Euren Fuß in die erste Öffnung in der Wand!«, rief Bruder Basilius ihm zu. »Kommt, Ihr habt nichts zu verlieren, hört Ihr? Wir müssen es wagen!«

Jakob schluckte heftig, biss sich auf die Lippen und gab sich innerlich einen Ruck. Besser von den Messern im Schacht aufgespießt werden als unter der Folter zu sterben!

»Ja, so ist es gut. Ausgezeichnet!. Nun langsam tiefer und das linke Bein. Gut!. Jetzt wieder das rechte. Und nur die Ruhe bewahren, Jakob!. Gleich müsst Ihr oben die erste Haltestange fassen können. Ihr findet sie im oberen Drittel der Trittstufen, die in die Wand eingelassen sind!. Habt Ihr sie?«

»Ja!«

»Gebt gut Acht, dass Ihr nicht abrutscht. Die Wände sind feucht und die Kanten glatt!. Und den Körper immer an die Wand pressen!«

Jakob klammerte sich mit der linken Hand an die Eisenstange. Sein Herz raste und der Angstschweiß brach ihm wieder aus. Er wusste, dass er in seinem rechten Arm, den er nur mit Mühe und unter großen Schmerzen bewegen konnte, so gut wie keine Kraft mehr besaß. Deshalb musste er sich bei diesem gefährlichen Abstieg völlig seiner linken Hand anvertrauen.

Bruder Basilius leitete ihn umsichtig und mit beruhigenden Worten Stufe um Stufe tiefer. Die Einstiegsöffnung hoch über seinem Kopf schrumpfte zu einem immer kleiner werdenden, hellen Viereck zusammen, während ihn die Dunkelheit des Schachtes umfing. Und diese Dunkelheit war erfüllt von einem ekelhaften Gestank, der den vermoosten Wänden entströmte und vom Kanal aus der Tiefe aufstieg.

Würden sie es schaffen? Reichte die Zeit? Waren Mundt und seine Männer vielleicht schon auf dem Weg, um sie abzufangen? Wenn das der Fall war, durften sie ihn nicht lebend in ihre Hände bekommen. Bruder Basilius musste ihm dann den Dolch überlassen. Bis zum letzten Atemzug würde er sich zur Wehr setzen.

Jakob löste sich ein wenig von der stinkenden Wand, als sein Fuß nach der nächsten Trittöffnung suchte. Für diesen winzigen Moment der Nachlässigkeit wurde er sofort bestraft. Die Messerspitzen bohrten sich wie ein Nadelkissen durch seine Kleidung in den Rücken und rissen ihm die Haut auf, bevor er sich mit einem Aufschrei wieder an die Wand pressen konnte.

»Reißt Euch zusammen, Jakob!«, rief Bruder Basilius ihm zu. »Wir haben es gleich geschafft. Es dürften bloß noch zehn, fünfzehn Stufen sein, dann haben wir den Kanal erreicht! Haltet durch!«

»Wofür eigentlich?«, keuchte Jakob. Zitternd und mit brennendem Rücken hing er an der Wand. »Warum lasse ich mich nicht einfach fallen. Dann ist alles vorbei!«

»Wollt Ihr, dass der Domherr und der Henker Mundt triumphieren?«, rief der Mönch. »Und wenn Ihr Euch jetzt fallen lasst, werdet Ihr auch mich in die Messer stoßen. Mir allerdings scheint der rechte Zeitpunkt noch nicht gekommen zu sein, um meinen weißen Stein zu empfangen.«

Jakob schloss kurz die Augen. »Von welchem weißen Stein redet Ihr?«, stieß er hervor.

»Wer seinen Weg vor Gott gegangen ist, der wird nach seinem Tod aus Seiner Hand jenen geheimnisvollen weißen Stein empfangen, auf dem sein neuer Name steht und mit dem zusammen ihm ein neues Wesen geschenkt wird. Nur Gott kennt diesen Namen, der ein Symbol für das ist, was er in seinem Himmelreich für uns bereitet. So steht es in der Offenbarung des Johannes!«, rief der Mönch ihm zu. »Und wie gesagt, mir scheint die Stunde noch nicht reif zu sein, um jetzt schon einen Blick auf meinen weißen Stein zu werfen. Also strengt Euch gefälligst an!«

»Ihr habt gut reden!«

»Ja, weil ich weiß, dass Ihr es schaffen könnt, Jakob. Also kommt, macht einen Schritt nach dem anderen«, sagte der Mönch nun mit sanfter, liebevoller Stimme. »Habt Vertrauen in Eure verborgenen Kräfte - und habt Vertrauen in mich. Los, gebt mir Euren Fuß!«

Jakob spürte die Hand des Mönches auf seiner Ferse. Die Berührung beruhigte ihn und wiederbelebte seinen Willen den gefährlichen Abstieg in die Tiefe fortzusetzen.

»Gut so!. Nur weiter so!«, lobte ihn der Mönch. »Ich kann schon den Kanal und einen Schimmer Tageslicht sehen!. Wir haben das Schlimmste hinter uns. Nur noch ein paar Stufen, dann sind wir den Messern entkommen. Henrik wird schon ungeduldig auf uns warten und sich fragen, wo wir bloß bleiben. Nein, schaut Euch nicht um! Konzentriert Euch ganz auf die Trittöffnungen und die Haltestangen.«

Aus der Folterkammer drang auf einmal ein dumpfes, rhythmisches Hämmern zu ihnen in den Schacht hinunter. Jakob wusste sofort, was das Geräusch zu bedeuten hatte. »Sie haben gemerkt, dass die Tür verriegelt ist! Und jetzt versuchen sie sich mit Gewalt Einlass zu verschaffen!«

»Nur die Ruhe, Jakob! Gleich sind wir an den Messern vorbei! Jetzt nur nicht die Nerven verlieren!«, redete der Mönch ihm gut zu und führte ihn Stufe um Stufe tiefer. Dann kam endlich der erlösende Ruf: »Jetzt! Jetzt habt Ihr die letzte Reihe Messer passiert! Die Gefahr ist gebannt, Jakob!. Und Ihr hattet schon aufgeben wollen!«

Jakob hob vorsichtig den Kopf und schaute ungläubig nach oben. Er sah schier endlose Messerklingen, die sich dreißig, vierzig oder noch mehr Ellen hoch vor der zusammengeschrumpften Schachtöffnung abzeichneten. Und ein Schauer des Grauens durchlief ihn, als er sich fragte, wie viele Opfer schon durch diesen mörderischen Messerschacht gestürzt waren.

»Habt Ihr gehört, was ich gesagt habe? Jakob!« Bruder Basilius zerrte ungeduldig an seiner Hose. »Lasst Euch fallen, sowie ich es Euch zurufe! Habt Ihr das verstanden?«

»Ja. ich werde tun, was Ihr sagt.« Jakob schaute nach unten. Der Schacht endete eine gute Manneslänge über dem Kanal. Er sah noch, wie der Mönch in die dunklen, stinkenden Fluten sprang, kurz untertauchte und dann prustend wieder auftauchte. Das Wasser reichte ihm bis zur Brust. Schnell watete er zur Seite. Dann winkte er und rief ihm zu: »Springt!«

Jakob ließ die Eisenstange los, hielt die Luft an und stürzte in den Abwasserkanal. Noch unter Wasser spürte er die kräftigen Hände des Mönches, die ihn packten und sofort auf die Beine zerrten.

»Oh Gott, was für eine ekelhafte Brühe!«, stieß Jakob hervor und hatte das Gefühl sich jeden Moment erbrechen zu müssen.

»Habe ich Euch eine Flucht aus der Folterkammer des Domherrn versprochen oder ein Bad in parfümierten Salben?«, fragte Bruder Basilius bissig und zerrte ihn weiter. »Bewegt Euch! Jede Sekunde ist kostbar!«

Der Kanal floss unter dem rundgemauerten Gewölbe noch etwa fünfzig Schritte weit dahin, bis er bei dem hellen Rundbogen in die Mosel mündete. Jakob watete, auf den einäugigen Zisterziensermönch gestützt, durch die brusttiefen Abwässer, die nicht nur aus Kloaken stammten, sondern auch aus den Badestuben sowie den Werkstätten der Gerber und Färber in den Kanal flossen. Glücklicherweise verdünnte der kräftige Stadtbach die stinkende Brühe.

Im Morast, der sich bei jedem Schritt wie Saugnäpfe um seine Füße schloss, verlor Jakob schon gleich zu Anfang seine halbhohen Stiefel. Er versuchte gar nicht erst sie zu retten, ihn beherrschte nur ein einziger Gedanke: Nichts wie an die frische Luft! Dort, wo sich am Ende des Kanals das helle Halbrund abzeichnete, lag die Freiheit!

Siebzehntes Kapitel

Mühsam kämpften sie sich dem Licht entgegen. Jeder Schritt im schlammigen Grund wurde für Jakob zu einer übermäßigen Anstrengung und jagte ihm eine neue Welle des Schmerzes durch den Körper. Dazu kamen die betäubenden Dämpfe und Gerüche, die sich unter dem gemauerten Kanalgewölbe stauten. Ohne die Hilfe von Bruder Basilius hätte er sich schon längst nicht mehr aufrecht halten können und er wäre in den ekelhaften Fluten versunken - der Freiheit so nahe und doch weiter von ihr entfernt, als seine eigenen Kräfte ihn tragen konnten.

Bruder Basilius stützte ihn und redete ihm gut zu. Doch Jakob nahm in seiner schmerzerfüllten Benommenheit kaum wahr, dass der Mönch zu ihm sprach. Verbissen richtete er seinen Willen darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das helle Ende des Tunnels kam näher. Und dann sah er, wie sich vor ihm ein langer Schatten aus der Dunkelheit löste. Es handelte sich um ein Ruderboot, in dem sich nun eine Gestalt aufrichtete. Das musste Henrik Wassmo sein!

»Ich rief aus Nacht und Bangen und du im Licht, Herr, hast mich erhört!«, rief der Schwede erleichtert und dabei klang seine Stimme merkwürdig gedämpft.

Jakob taumelte an der Seite von Bruder Basilius auf das Ruderboot zu. Er sah und roch, dass Henrik Wassmo sich ein in Essig getränktes Tuch um Mund und Nase gebunden hatte, das er nun herunterzog. Er war wie ein einfacher Tagelöhner gekleidet und hatte seine blonde Lockenflut unter einer ausgebeulten Mütze versteckt. Zudem hatte er sich einen Vollbart wachsen lassen und seinen Kinnbart so zurechtgestutzt, dass er nicht mehr als Besonderheit auffiel.

»Helft mir Jakob ins Boot zu bekommen«, sagte Bruder Basilius atemlos. »Er ist verwundet und nur noch ein Schatten seiner selbst!«

»Von der Folter?« Der Schwede klang erschrocken.

»Nein, aber er fiebert und es geht ihm schlecht. Hievt ihn zuerst an Bord! Aber fasst ihn nicht am rechten Arm, denn dort hat ihn der Henker Mundt mit seinem Messer erwischt!«

Der Schwede packte Jakob am linken Arm und zog ihn mit Unterstützung des Mönches ins Boot. Dann half er Bruder Basilius den stinkenden Abwässern zu entkommen. »Zieht alles aus! Und beeilt Euch!«, drängte er Jakob und zerrte ihm die nassen, stinkenden Sachen förmlich vom Leib. Er gab ihm eine derbe Arbeitskutte, mit der Jakob sich bedecken konnte. »In einer halben Stunde ist es dunkel!«

Auch Bruder Basilius entledigte sich nun in Windeseile seiner Kleidung und zog eine ähnliche unscheinbare Kutte über, während der Schwede ihre nasse Kleidung in einen Beutel aus grobem Sackleinen stopfte.

»Legt Euch auf den Boden!«, forderte Henrik Wassmo sie nun auf.

»Wozu?«, fragte Jakob verwirrt.

»Falls jemand das Boot bemerkt, soll er nicht drei Männer, sondern nur eine Person sehen, einen Tagelöhner, der einen Haufen stinkender Felle in seinem Boot hat«, erklärte Bruder Basilius und zog Jakob zu Boden. »Atmet nur durch den Mund. Die Häute stinken nicht weniger als der Kanal!«

»Der Abdecker Kleinhans lässt herzlich grüßen!«, sagte der Schwede spöttisch und warf nun ein halbes Dutzend Rinderfelle über sie.

Das Ruderboot schaukelte bedenklich, als Henrik Wassmo über sie hinwegstieg, auf der mittleren Ruderbank Platz nahm und zu den Riemen griff. Jakob hörte, wie ein Ruder über Mauersteine schrammte und dann zugleich mit dem anderen in das Wasser eintauchte.

»Betet zu Gott, dass wir schnell genug waren!«, raunte Bruder Basilius.

»Wir kommen jetzt aus dem Kanal«, teilte Henrik Wassmo ihnen mit, während das Wasser mit hörbarem Plätschern an der Bootswand entlangrauschte. »Nirgendwo ein Zeichen von den Häschern des Domherrn!. Noch ist alles ruhig. Kein Mensch ist am Ufer zu sehen.«

Jakob lag steif vor Angst unter den Fellen, lauschte in die sie umgebende Dunkelheit und versuchte die strengen Ausdünstungen der Felle zu ignorieren. Er wartete darauf, jeden Augenblick vom Ufer die gellenden Alarmschreie ihrer Verfolger zu hören. Doch das Einzige, was er vernahm, war das Knarren der Riemen in den Dollen und das verstärkte Rauschen und Gurgeln des Wassers. Es war deutlich zu hören, dass der Schwede die Riemen mit aller Kraft durchs Wasser zog, um so schnell wie möglich außer Sichtweite zu kommen. Aber wenn es bis zum Einbruch der Nacht noch eine gute halbe Stunde hin war, wie der Schwede gerade gesagt hatte, wie wollten sie da in einem plumpen Ruderboot schnell genug entkommen? Mundt würde die Verfolgung zu Pferd aufnehmen und sie entdecken, noch bevor sie sich in die nächtliche Dunkelheit flüchten konnten!

Jakob litt mit jedem Augenblick mehr unter Atemnot. Obwohl nur ein paar Felle auf ihnen lagen, hatte er das Gefühl erdrückt zu werden. Die Wunde im Arm pochte im schnellen Rhythmus seines Herzens und er bekam viel zu wenig Luft. Schließlich ertrug er es nicht länger.

»Ich ersticke!«, keuchte er und zerrte die Felle zur Seite, bis sein Kopf halb frei lag und er die frische Luft atmen konnte. Nun hörte er, dass der Schwede im Takt seiner Ruderschläge leise vor sich hin murmelte. Es waren mal wieder Psalmenverse, die er rezitierte.

»Der Herr ist mein Licht und mein Heil. wen sollte ich fürchten? . Der Herr ist meine Zuflucht, vor wem denn da bangen? . Hat man mir Tod geschworen.. so werden meine Feinde fallen. Und zieht ein Heer heran, mein Herz bleibt fest.«

Jakob presste die Stirn gegen die feuchten Planken des Ruderbootes und lauschte wie gebannt auf den gleichmäßigen Wechsel von Psalmvers und Ruderschlag. Er wünschte, der Schwede würde sie bis weit in die Dunkelheit hinein so flussabwärts rudern. Denn solange dieser eigenartige Wechselgesang anhielt, wusste er, dass sich noch nichts an den Ufern der Mosel tat und dass sie noch niemand entdeckt hatte.

». getrost bin ich und gehe ohne Bangen. dem Lichte nach in meiner Brust:. der Hoffnung auf den Herrn.«

Der Schwede verstummte. Kein neuer Psalmvers drang an Jakobs Ohr. Einige Herzschläge lang waren nur noch das Rauschen des Wassers und das Einstechen der Ruderblätter zu hören. Und dann schwang das Boot herum - in Richtung Ufer!

Jakob fuhr zusammen und fürchtete das Schlimmste. »Was ist passiert? Hat man uns entdeckt?«, stieß er erschrocken hervor.

»Nein, wir haben die Stelle erreicht, wo wir an Land gehen«, antwortete Bruder Basilius. Im nächsten Augenblick legte sich auch schon ein dunkler Schatten über sie. Die tief herabhängenden Zweige einer mächtigen Weide, die einen natürlichen Vorhang bildeten, glitten über sie hinweg. Gleichzeitig knirschte Sand unter dem Boden des Bootes, das mit einem Ruck zum Stehen kam.

»Wir gehen schon an Land, wo wir doch noch gar nicht weit gekommen sind?«, fragte Jakob verständnislos.

Bruder Basilius schob die Felle zur Seite und richtete sich auf. »So ist es. Hier endet unsere Bootsfahrt. Weiter oberhalb im Gebüsch wartet ein Fuhrwerk auf uns.«

»Ihr wollt die Flucht wahrhaftig mit einem Fuhrwerk fortsetzen?« Jakob machte ein ungläubiges Gesicht. »Himmel, auf dem Fluss kommen wir doch zehnmal schneller voran und sind auch nicht so leicht zu stellen wie an Land mit einem lahmen Pferdewagen!«

»Lieber humpelnd in die richtige Richtung, als behände ins Verhängnis. Das hat schon Thomas von Aquin gesagt«, antwortete der Mönch gelassen und half ihm auf die Beine.

»Wäre er in meiner Situation gewesen, hätte er bestimmt was anderes gesagt!«, erwiderte Jakob und stöhnte vor Schmerzen auf, als der Mönch und Henrik Wassmo ihm aus dem Boot und die Uferböschung hinaufhalfen.

Der Schwede stieß einen kurzen, scharfen Pfiff aus. Wenige Augenblicke später brach ein schlaksiger Junge in abgerissener Kleidung durch das Gebüsch.

»Jesus, Maria und Josef, das wurde aber auch Zeit! Viel länger hätte ich nicht mehr gewartet!«, stieß der Junge halb vorwurfsvoll, halb erleichtert hervor. »Mir brennt der Boden unter den Füßen! Es wird Zeit, dass ich mich aus dem Staub mache!«

Als Jakob die Stimme des Jungen hörte, gingen ihm die Augen auf. Das war derselbe Junge, der als livrierter Bote dem Domherrn in der Folterkammer die angebliche Nachricht vom Erzbischof überbracht hatte!

Der Schwede holte die Felle, aber nicht den Kleiderbeutel aus dem Ruderboot, in das nun der Junge sprang. »Du weißt, was du zu tun hast, Lukas?«, fragte er.

Der Junge grinste und stieß mit dem Fuß gegen den Kleiderbeutel. »Ich werde Eure stinkenden Sachen ein paar Meilen hinter der nächsten Flussbiegung ans Ufer werfen. Und das andere, was Ihr mit meinem Vater besprochen habt, wird auch genauso ausgeführt. Das ist so sicher, wie ein fetter Ochse hundertmal mehr scheißt als eine magere Taube!«

Bruder Basilius lächelte.

»Die Sachen wirfst du am rechten Flussufer über Bord, und zwar so, dass man die Sachen auch gut findet!«, erinnerte ihn der Schwede.

Lukas nickte und streckte die Hand aus. »Und jetzt den versprochenen Rest Lohn!«

Henrik Wassmo ließ mehrere Münzen in die ausgestreckte Hand fallen. Sie zauberten ein breites Grinsen auf das Gesicht des pfiffigen Jungen. »Es war mir ein Vergnügen, Bruder Basilius!«, rief er.

»Vergiss nicht, dass du nichts weißt und nichts gehört hast, schon gar nicht den Namen Bruder Basilius!«, ermahnte ihn der Schwede.

»Bei allen Heiligen, was weiß denn schon ein dummer Dorf junge wie ich? Außerdem bin ich nie in meinem Leben in Trier gewesen!«, rief Lukas lachend zurück, griff zu den Rudern und stieß das Boot vom Ufer ab.

»Der Herr höre dich in schweren Tagen, mein Junge, und segne mit Erfüllung deine Pläne«, sagte Bruder Basilius und machte über ihm das Kreuzzeichen. Der Strom erfasste das Boot und trieb es von Ruderschlägen unterstützt rasch flussabwärts und außer Sicht.

»Wer ist dieser Lukas?«, wollte Jakob wissen, während er sich wieder auf die Schulter des Mönches stützte.

»Der Sohn eines Moselbauern bei Köwenich, für dessen Zuverlässigkeit und Schweigsamkeit ich meine rechte Hand ins Feuer legen würde.«

»Und warum sind wir nicht auf dem Weg zu ihm, um uns bei ihm zu verstecken?«

»Weil drei Fremde in einem kleinen Dorf, wo jeder jeden kennt und wo es keine großen Geheimnisse gibt, wie drei Fettaugen in einer Schüssel mit klarem Wasser ins Auge stechen und zu allerlei Gerede Anlass geben würden. Und was meint Ihr, wie schnell die Kunde davon an die Ohren von Mundt und seinen Bluthunden dringen würde?«, hielt der Mönch ihm vor, während er ihn durch das Gestrüpp führte.

»Aber wo werden wir uns verstecken?«, fragte Jakob und hörte das Schnauben eines Pferdes.

»Wo ist es am sichersten, wenn der Löwe auf Jagd geht?«, antwortete Bruder Basilius mit einer Gegenfrage, um sie sogleich selbst zu beantworten: »Natürlich in der Höhle des Löwen!«

»Ihr wollt zurück nach Trier?«, stieß Jakob ungläubig hervor. »Hinter die Mauern der Stadt, wo der Domherr seine ganze Macht ausspielen kann?«

»Ihr vergesst, dass er und Mundt fest davon ausgehen, dass wir uns auf der Flucht befinden - und zwar die Mosel flussabwärts und dann in den Hunsrück, was auch viele Spuren scheinbar bestätigen werden«, entgegnete Bruder Basilius mit einem flüchtigen Schmunzeln. »Nein, so schnell werden der Domherr und der Scharfrichter Mundt nicht auf die Idee kommen, wir könnten uns wieder zurückgeschlichen haben, und in den Mauern von Trier nach uns suchen. Seid versichert, dass wir nirgendwo besser aufgehoben sind als dort.

Zudem seid Ihr in Eurem Zustand überhaupt nicht in der Lage eine strapaziöse Flucht auch nur einen Tag zu überstehen.«

Das Gestrüpp wich vor ihnen zurück und gab den Blick auf eine kleine Waldlichtung frei, auf der ein klobiges Fuhrwerk mit einem bunt gescheckten Wallach im Geschirr stand. Auf der Ladefläche lagen einige stark gekrümmte Äste von Oberarmdicke. Neben dem Fuhrwerk türmte sich ein gut hüfthoher Berg Fallholz und Reisig auf.

Henrik Wassmo warf die Felle, die er bis jetzt über der Schulter getragen hatte, auf den Kutschbock. »Macht, dass Ihr unter die Äste kommt!«, drängte er. »Wenn wir nicht rechtzeitig am Stadttor sind, kommen wir heute nicht mehr in die Stadt. Und dann steht uns eine schlimme Nacht bevor!«

Jakob kroch mit Bruder Basilius unter die gebogenen Äste, die sie vor der Last des Fallholzes und des Reisigs schützen sollten, mit denen Henrik sie bedecken würde. Doch vorher zogen sie sich dunkelbraune, schmutzige Pferdedecken über den Kopf.

»Wo werden wir uns in Trier verstecken?«, fragte Jakob, während der Schwede einen Arm voll Reisig nach dem anderen über sie warf.

»Im Gasthaus Zum Roten Ochsen von Conradt Stroedecker und seiner Frau Anna, besser gesagt auf dem Dachboden ihres Hauses«, antwortete der Mönch.

»Woher kennt Ihr bloß all die Leute, die Euch und einem Fremden wie mir helfen, wo doch ein so mächtiger Mann wie der Domherr hinter uns her ist?«, wunderte sich Jakob.

Bruder Basilius lachte leise auf. »Niemand wird als Ordensbruder geboren, mein Freund. Auch ich bin nicht mit Kutte und Kreuz auf der Brust zur Welt gekommen. Männer wie ich, die erst jenseits der Mitte ihres Lebens ihre Gelübde ablegen und zu Priestern geweiht werden, nennt man Spätberufene. Das heißt unter anderem, dass diese Ordensleute schon ein halbes Leben hinter sich haben, das sich außerhalb von Klostermauern abgespielt und nicht unbedingt im Zeichen des Kreuzes und der Demut gestanden hat!«

Nun war Jakobs Neugier erst richtig geweckt. »Was seid Ihr vorher gewesen, bevor Ihr ins Kloster gegangen seid? Und wieso habt Ihr von dem geheimen Schacht unter der Eisernen Jungfrau gewusst?«

»Ah, das ist eine lange und leider auch unrühmliche Geschichte«, wich der Mönch aus. »Und für lange Geschichten ist später wohl noch Zeit genug.«

»Erzählt mir wenigstens, wieso Ihr ausgerechnet dann in Trier gewesen seid, als Mundt mich gestellt und auf den Turm gebracht hatte!«

»Nichts einfacher als das: Ich wurde unbemerkt Zeuge, wie in der Nacht Eurer Flucht aus Himmerod Domherr von Drolshagen dem Henker Mundt auftrug ein Dutzend Männer zu dingen, mit ihnen unverzüglich die Verfolgung aufzunehmen und Euch unbedingt lebend nach Trier auf den Turm zu bringen, um Euch ungestört und ohne Zeitdruck verhören zu können. Da erschien es mir ratsamer, in Trier Euer Eintreffen abzuwarten und die Zeit bis dahin zu nutzen, als mit Henrik die Verfolgung der Verfolger aufzunehmen.«

»Ihr gabt mir also keine Chance ihnen zu entkommen«, folgerte Jakob.

»Nein, die gab ich Euch in der Tat nicht.«

»Warum habt Ihr Euch überhaupt die Mühe gemacht und Euch selbst größter Gefahren ausgesetzt, um mich aus der Folterkammer zu befreien? Und warum habt Ihr in der Kapelle, als Ihr den toten Novizen untersucht habt, zu dem Schweden gesagt, Ihr müsstet mich >um jeden Preis verschwinden lassen

»Auch das ist eine überaus lange Geschichte, die eines geeigneteren Zeitpunktes bedarf, um Euch erzählt zu werden. Außerdem ist es nicht ratsam Euch jetzt schon Dinge anzuvertrauen, die erst zu einer späteren Zeit ungestraft ausgesprochen werden können«, antwortete Bruder Basilius reichlich rätselhaft. »Es bringt nichts, Euch mit Wissen zu beschweren, das Euch nur gefährlich werden könnte.«

Jakob ahnte jedoch, was der Mönch damit sagen wollte. »Ihr habt Angst, wir könnten gefasst werden - und dann würde ich unter der Folter sagen, was Ihr mir anvertraut habt. Das ist es, was Ihr fürchtet, nicht wahr?«

Bruder Basilius schwieg kurz. »Ja«, gab er dann ehrlich zu. »Noch ist die Gefahr zu groß.«

»Aber Ihr haltet damit ein Wissen zurück, das mich davor bewahren würde, so grausam gefoltert zu werden!«, begehrte Jakob auf. »Ihr wollt mich lieber den Folterknechten übereignen als mir zu verraten, was mich retten könnte! Versteht Ihr das unter christlicher Nächstenliebe?«

»Es würde Euch nicht retten, Jakob«, antwortete Bruder Basilius ruhig. »Und es würde Euch auch nicht vor der Folter bewahren, weil es nicht reicht, um alle Fragen des Domherrn auch nur annähernd zu beantworten. Im Gegenteil, man würde Euch noch mehr quälen, um auch noch den entscheidenden Rest aus Euch herauszuholen. Weil man aus Eurem plötzlich zugegebenen Halbwissen nämlich den falschen Rückschluss ziehen würde, Ihr hättet von Anfang an alles gewusst und den Domherrn bewusst getäuscht.«

Jakob schwieg.

Der Schwede hatte indessen das mit Schnee vermischte Kleinholz über ihr Versteck geschichtet.

Endlich setzte sich das Fuhrwerk in Bewegung. Henrik Wassmo ließ die Peitsche knallen und trieb den Wallach zur Eile an. Diesmal hatte er keine Psalmverse auf den Lippen, sondern eine reichhaltige Mischung aus derben Flüchen und Anfeuerungsrufen, wie Fuhr-knechte sie gebrauchten. Man merkte, dass er gewiss nicht zum ersten Mal auf dem Kutschbock saß und die Peitsche schwang.

Das heftige Gerüttel ließ den Schmerz in Jakobs Arm und Schulter anschwellen, als das Fuhrwerk aus dem Wald und dann über die Landstraße zurück nach Trier rumpelte. Krampfhaft hielt er einen der dicken Äste umklammert und biss die Zähne zusammen, um das Aufschreien zu unterdrücken, das ihm in die Kehle stieg. Jeder Gedanke an ein Gespräch mit dem Mönch hatte ihn verlassen. Der feurige Schmerz füllte sein ganzes Denken und Fühlen aus.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen.

Reiter im Galopp jagten an ihnen vorbei. Und als der trommelnde Hufschlag verklungen war, rief Henrik Wassmo gedämpft: »Das waren Mundt und seine Männer!«

»Dem Himmel sei Dank!«, stieß Bruder Basilius hervor.

Jakob war übel vor Schmerzen. Er hörte nur wie aus weiter Ferne, dass das Fuhrwerk über eine Brücke ratterte und dass der Schwede etwas von »Stadttor« sagte. Er vernahm eine grobe, unfreundliche Männerstimme, die dem Schweden im Befehlston Fragen stellte, doch der Inhalt dieses kurzen Wortwechsels drang nicht in sein Bewusstsein. Dann ruckte das Fuhrwerk wieder an und der veränderte Klang der Räder und der Hufe verriet, dass sie sich auf einer Straße mit Kopfsteinpflaster befanden.

»Wir sind durch!«, flüsterte der Mönch ihm zu, als spürte er, wie sehr Jakob mit den Schmerzen kämpfte. »Gleich sind wir im Hof vom Roten Ochsen! Und dann kann ich mich Eurer Verwundung annehmen.«

Wenig später blieb das Fuhrwerk endlich stehen. Ein Tor knarrte. Der Wagen setzte sich sofort wieder in Bewegung, um gleich darauf erneut zum Stillstand zu kommen. Ein Balken fiel laut in seine Halterung. Sie waren im Hinterhof des Gasthauses angekommen.

Jakob schloss die Augen. Wie gut es tat, einfach nur ruhig liegen zu können. Und wenn ihn die Schmerzen auch nicht verließen, so waren sie doch in dieser ruhigen Lage auszuhalten. Zudem half der Gedanke daran, was ihn in der Folterkammer erwartet hätte, das feurige Pochen und Ziehen zu ertragen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Henrik Wassmo das Holz abgeladen hatte und sie unter den dicken, krummen Stämmen hervorkriechen konnten.

»Beeilt Euch, dass Ihr auf den Dachboden kommt!«, flüsterte eine kleine, rundliche Gestalt mit einem Glatzkopf, die im Dämmerlicht des Abends bei der Hintertür stand und bei der es sich um den Gastwirt Conradt Stroedecker handelte. Aus dem Schankraum drangen fröhliche Stimmen und Gelächter. »Ich passe auf, damit Euch keiner zufällig in die Quere kommt!«

Mit zittrigen Beinen stand Jakob gegen die Seitenwand des Fuhrwerks gelehnt und sah sich um. Sie befanden sich in einem engen Hinterhof, in dem man einen Pferdewagen wohl nur mit großer Mühe wenden konnte. Umschlossen wurde der Hof von einer hohen Mauer sowie an zwei Seiten von den Rückfronten einfacher Fachwerkhäuser. Das Gasthaus mit dem roten Ziegeldach machte seinem Namen alle Ehre, wie Jakob fand, sah es doch genauso gedrungen und klobig aus wie ein Ochse.

Er spürte, dass ihm schwindelig wurde. »Ich glaube, ich. ich kann keinen Schritt mehr tun«, murmelte er, während ihm die Sinne schwanden.

»Henrik, fass mit an!«

Bevor Jakob wusste, wie ihm geschah, hatten Bruder Basilius und der Schwede ihn gepackt und trugen ihn die hölzerne Treppe hoch, die außen am Haus zu den oberen Geschossen führte.

Auf dem Dachboden war es stockdunkel. Es roch nach Wein und Holz und altem Sackleinen. Bruder Basilius und der Schwede fanden den Weg auch ohne Licht. Als sie Jakob auf ein schon vorbereitetes Strohlager legten, durchfuhr ihn ein wilder Schmerz und er verlor endgültig das Bewusstsein.

Achtzehntes Kapitel

Tausende von Staubkörnern tanzten im Sonnenlicht, das am Giebelfenster in drei schmalen, scharf begrenzten Streifen durch die Ritzen der Schlagläden auf den Dachboden fiel.

Jakob blickte schläfrig zu den hellen Lichtbahnen auf und erinnerte sich wilder Träume. Er wollte sie festhalten, sich ihre Bilder ins Gedächtnis zurückrufen. Doch sie entzogen sich seinem Zugriff und verwehten wie Rauch im Wind.

Er brauchte eine Weile, bis die Benommenheit von ihm wich und er wieder wusste, was ihm widerfahren war und wo er sich befand. Ihn schauderte, als er an die Folterkammer, den messergespickten Schacht unter der Eisernen Jungfrau und den betäubenden Gestank des Abwasserkanals dachte. Doch sie waren den Bluthunden des Domherrn entkommen und er lag nun auf dem Dachboden des Gasthauses Zum Roten Ochsen! Und das war ein kleines Wunder.

Der Schmerz in Arm und Schulter brachte ihm seine Verletzung ins Bewusstsein zurück. Ihm war heiß und sein Mund fühlte sich wie ein in der Sonne ausgedörrter Lappen an. Er fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht, das mit Schweiß bedeckt war. Dann nahm er die leise Stimme in seiner Nähe wahr. Er wandte den Kopf nach rechts und erblickte Bruder Basilius. Der Mönch kniete auf dem Boden und betete. Einer der Lichtstreifen fiel quer über seinen Rücken und nahm sich auf der Kutte wie eine goldene Schärpe aus.

»Ich hoffe. Ihr bittet Gott um einen ganzen Haufen wundersamer Gefälligkeiten. Und ich hoffe. Ihr findet dabei auch den richtigen Ton, damit er sich herablässt. sie uns auch zu gewähren«, sagte Jakob leise und er wunderte sich, dass ihm das Sprechen so viel Mühe bereitete.

Der Mönch hielt augenblicklich in seinem Gebet inne, bekreuzigte sich und begab sich an Jakobs linke Seite. Er strahlte förmlich. Und zum ersten Mal wurde sich Jakob der Sanftmut seiner Züge und der Güte bewusst, die im Blick seines gesunden Auges lag. Er empfand diese Augenklappe seltsamerweise gar nicht mehr als entstellend, wie er noch in Himmerod gedacht hatte. Es war das vertraute Gesicht des Mannes, dem er seine Rettung verdankte - und zu dem er ein tiefes, geradezu blindes Vertrauen gefasst hatte.

»Dem Allmächtigen sei Dank, Ihr seid endlich wieder bei Bewusstsein!«, rief Bruder Basilius erleichtert. »Ihr werdet sicherlich großen Durst haben. Die feuchten Tücher und die paar Tropfen, die ich Euch einflößen konnte, haben ja kaum mit Eurem Ausschwitzen Schritt halten können. Kommt, trinkt, damit Eure Lebenssäfte wieder zu ihrem gesunden Gleichgewicht zurückfinden!« Er legte Jakob seinen rechten Arm um den Nacken und half ihm sich etwas aufzurichten, während er ihm mit der linken Hand einen Steinbecher an die Lippen führte.

Gierig trank Jakob die nach Kräutertee schmeckende Flüssigkeit. Ohne einmal innezuhalten, leerte er den irdenen Becher, so durstig war er. Dann sank er mit einem dankbaren Aufseufzen wieder ermattet auf sein Strohlager zurück, als hätte er eine besonders anstrengende körperliche Leistung hinter sich gebracht.

Der Mönch stellte den Becher weg und machte ein ernstes Gesicht. »Ihr habt uns große Sorgen bereitet, Jakob. An jenem Abend, als wir Euch hierher auf den Dachboden des Roten Ochsen brachten, hattet Ihr schon das Bewusstsein verloren, bevor ich Eure Wunde öffnen und...«

Jakob stutzte. »Was heißt >an jenem Abend

Bruder Basilius schüttelte den Kopf. »Oh nein, der Abend unserer Flucht liegt mittlerweile schon dreieinhalb Tage zurück, Jakob!«, eröffnete er ihm. »Dreieinhalb Tage, in denen Ihr mit hohem Fieber gekämpft und um Euer Leben gerungen habt. Ihr wart kraftlos von Eurer Flucht durch die winterliche Eifel und Euer Arm sah böse aus, schrecklich geschwollen und vereitert. Das schlechte Blut hat Euch ein lebensgefährliches Fieber beschert. Wenn die Wunde nicht so weit oben an der Schulter gewesen wäre, hätte ich wohl nicht gezögert Euren Arm zu amputieren.«

Jakob sah ihn in wortlosem Erschrecken an.

Der Mönch nickte nachdrücklich. »Ja, so schlecht war es um Euch bestellt! Ich habe schon am Wert meiner bescheidenen Heilkunst und an der Kraft meiner Salben und Tinkturen gezweifelt. Doch letzte Nacht sank dann Euer Fieber endlich und nun seid Ihr auf dem Weg der Genesung, dem Himmel sei Dank!«

»Ich ziehe es vor, Euch und dem Schweden zu danken, die Ihr Euch um mich gekümmert und mich gepflegt habt«, sagte Jakob, noch ganz bestürzt, dass er dem Tod so nahe gewesen war und fast vier Tage in fiebriger Betäubung verbracht hatte. »Vermutlich habt Ihr auch fleißig für meine Genesung gebetet. Als Mönch wird man bei Gott ja wohl eher gehört, als wenn unsereins um etwas bittet.

Jedenfalls sind meine Bitten nie erhört worden.«

»Gewiss, ich habe auch für Eure Genesung gebetet«, sagte Bruder Basilius, ohne gekränkt zu sein. »Aber das Gebet ist nicht ein zielgerichtetes Bitten um etwas. So wie Gott auch kein Krämer ist, zu dem man mit einer Liste all jener Dinge geht, die man einkaufen will - und den man auch nur dann aufsucht, wenn man dringend etwas braucht.« Er machte eine kurze Pause. »Gott ist nicht der Lückenbüßer unserer Enttäuschungen, dem ich mich nur dann zuwende, wenn ich etwas benötige, was ich mir selbst nicht beschaffen kann. Gott ist der Grund einer unzerstörbaren Hoffnung.«

»So. Und was ist dann wahres Gebet?«, fragte Jakob herausfordernd.

»Es ist eine Sehnsucht der Seele, Jakob, und die Pflege der Beziehung zu Gott«, antwortete der Mönch ruhig. »Das Gebet ist wie Atemholen, ist Freiheit, unermüdliches Zwiegespräch, stille Anbetung - und vor allem Liebe. Beten ist Leben. Und echtes Gebet ist immer getragen von den Vaterunserbitten >Dein Reich komme< und >Dein Wille geschehe<. Beten ist das Einfachste von der Welt - aber auch das Schwerste, weil der Mensch so schwer von seinen egoistischen Wünschen und Forderungen an das Leben und damit auch an Gott loslassen kann.«

»Na, ich habe mit Beten jedenfalls nicht viel Glück gehabt«, versuchte Jakob unbekümmert darüber hinwegzugehen. Denn mit diesen schwergewichtigen geistlichen Dingen wollte er sich nicht belasten.

»Das mag eine Folge von dem Bild sein, das Ihr Euch von Gott gemacht habt.«

»Was für ein Bild?«

»Unser Beten hängt nun mal wesentlich von unserem Gottesbild ab«, erklärte Bruder Basilius geduldig. »Gar zu viele Christen wachsen leider über ein dürftiges und einseitiges Bild von Gott, das sich in ihrer Kindheit in ihnen festgesetzt hat, nicht hinaus. Sie bleiben daher für den Rest ihres Lebens buchstäblich kindlich, oft sogar kindisch in ihrem Gottesglauben. Und dementsprechend dürftig und im Grunde selbstbezogen ist dann auch ihr Gebet, das nie über ein Gespräch mit sich selbst, ein Geplapper hinauswächst. Ihr Beten ist dann keine Hingabe, keine Freiheit und keine Liebe, sondern ein angstvolles, gequältes und letztlich bitter enttäuschtes Flehen und Hadern.«

»Was erwartet Ihr denn, wenn man zu Gott betet, aber nie eine Antwort bekommt!«, hielt Jakob dagegen, der Gott eine Menge vorzuwerfen hatte.

Der Mönch lächelte. »Gottes Schweigen ist nicht gleichbedeutend mit Verstummen oder Weghören, Jakob. Wie auch der Gegensatz zur Sünde nicht die Tugend ist, sondern die Gnade«, erwiderte er. »Zum Glauben gehört eben immer auch das Ringen mit Gott, dem unfassbaren, scheinbar stummen, schattenhaften Gott. Und man muss akzeptieren, dass es für Gott keine angemessenen Worte und schon gar keine umfassende Erklärung gibt. Auch die Worte und Abhandlungen der größten Philosophen, der Mystiker, ja sogar der heiligsten Kirchenväter, sie alle sind im Grunde nichts anderes als ein hilfloses Gestammel im Angesicht des Unfassbaren. Denn wäre Gott für uns Menschen erklärbar und zu fassen, wäre er nicht Gott, sondern bestenfalls ein billiger Götze.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Jakob. »Wie kann ich an etwas glauben, was ich nicht beweisen und nicht fassen kann? Und wie kann man dafür sein Leben hingeben und ins Kloster gehen?«

»Existiert die Liebe?«, fragte Bruder Basilius zurück.

Jakob zögerte kurz. »Natürlich!«

»Gut. Dann sagt mir doch mal, wie Ihr Liebe beweisen und fassen wollt?«, hielt der Mönch ihm vor. »Zwei Menschen, die sich lieben, wissen um ihre Liebe, sind erfüllt davon und vertrauen auf ihre Kraft, opfern sogar ihr Leben aus Liebe, ohne sie jedoch mit Händen greifen und beweisen zu können. Das ist, was Nikolaus von Cues, ein großer Denker und Mystiker des 15. Jahrhunderts, in Hinsicht auf den Glauben als Wissendes Nichtwissen bezeichnet oder wie es im 1. Hebräerbrief geschrieben steht: >Der Glaube ist das feste Vertrauen auf das, was man erhofft, die Gewissheit dessen, was man nicht sieht.< Denn manche Dinge in unserem Leben braucht man eben nicht erst zu beweisen, um zu wissen, dass sie existieren!«

»Gut, das mag mit der Liebe ja eine Ausnahme sein«, räumte Jakob widerstrebend ein.

»Warum, Jakob? Gott ist die Liebe! Warum beginnt und endet für so viele Menschen die Wirklichkeit der Welt nur mit dem, was ihre Augen sehen und ihre Hände greifen können? Der wahre Durst des Herzens, der von Geburt an in uns angelegt ist, gibt sich nicht mit diesen Brosamen, dieser begrenzten, armseligen Welt zufrieden.«

»Aber wenn diese. Sehnsucht nach Gott und dem Gebet angeblich in jedem von uns schon angelegt ist, wieso fällt es dann so schwer zu glauben?«, wollte Jakob wissen und kämpfte gegen die Schläfrigkeit an, die ihn schon wieder überfiel.

»Weil uns tausend andere Dinge wichtiger sind. Und da Gott uns mit einem freien Willen gesegnet hat, haben wir auch die Freiheit uns nur um das zu kümmern, was wir im Augenblick für wichtig und erstrebenswert halten. Darüber verkümmert unsere Beziehung zu Gott. Es ist wie mit einem fruchtbaren Acker, der dazu geschaffen ist, reiche Ernte zu tragen. Doch wenn er brachliegt, dann bringt er bald bloß noch Disteln und Dornen hervor. Und nach einiger Zeit ist er verwildert und kaum noch zugänglich, so dass niemand mehr weiß, dass unter diesem Dickicht aus Unkraut und Dornen fruchtbarer Boden liegt, der darauf wartet, bestellt zu werden.«

Jakob verzog das Gesicht. »Mit den Disteln hat es Bruder Anselm auch gehabt.«, murmelte er. »Nein, es waren Distelfinken, von denen er gesprochen hat.«

»Was habt Ihr gesagt?«

Jakob machte eine müde Handbewegung. »Es tut mir Leid, mir fallen wieder die Augen zu, Bruder Basilius. Aber sagt, wo steckt Euer treuer Begleiter, der Schwede?«

Der Mönch seufzte. »Ich fürchte, er schäkert wieder mit Magdalena, der hübschen Tochter des Gastwirts, herum. Und wisst Ihr, wie er ihr geschmeichelt hat? Er hat sie mit den Worten >Weib, dein Leib gleicht einer vollen Rebe, wie des Ölbaums frische Zweige! Ihr seid rank und schön wie Tempelsäulen< begrüßt. Ich wünschte, er würde nicht auch bei solchen Gelegenheiten aus den Psalmen zitieren.«

Jakob lachte. »Das sieht ihm ähnlich! Wie seid Ihr überhaupt dazu gekommen, einen fremdländischen Mann wie ihn zum Begleiter zu haben?«

»Das erzähle ich Euch später. Denn das ist eine dieser langen Geschichten, für die Ihr im Augenblick zu müde seid. Schlaft nur, die Ruhe wird Euch gut tun. Wenn Ihr das nächste Mal aufwacht, werdet Ihr eine kräftige Suppe zu Euch nehmen, damit Ihr schnell wieder zu Kräften kommt.«

»Wie lange können wir hier überhaupt bleiben?«, wollte Jakob wissen. Die Angst kehrte wieder zurück und zeigte sich unverhohlen in seinen Augen. Nie würde er die Folterkammer im Turm des Greven vergessen und was Gotschalk Pleisgen ihm für Qualen ausgemalt hatte. Er wusste, dass sie noch weit davon entfernt waren, wirklich in Sicherheit zu sein. »Und was geschieht, wenn ich wieder auf den Beinen bin? Wohin geht es dann? Werden der Domherr und Mundt nicht bald auf den Gedanken kommen, wir könnten uns in Trier versteckt haben, und hier mit der Suche beginnen? Dann sind wir in den Mauern der Stadt nicht weniger gefangen als in einem Kerker!«

»Keine Sorge, wir sind nicht untätig gewesen. Wenn der Augenblick gekommen ist Trier zu verlassen, wird uns das unbemerkt gelingen. Aber noch besteht kein Grund zur Besorgnis, Jakob. Wie ich erfahren habe, sucht man uns noch im Hunsrück, wo man uns angeblich zu Pferd gesehen hat, in wildem Galopp auf der Landstraße nach Wahlenau«, beruhigte ihn der Mönch mit einem feinen Schmunzeln. »Und jetzt schlaft.«

»Und Ihr?«

Bruder Basilius lächelte. »Die Hören rufen den Ordensmann auch außerhalb der Klostermauern zum Gottesdienst. Wir haben die dritte Stunde nach Sonnenaufgang und damit ist es an der Zeit, die Terz zu beten.«

Jakob erwiderte das Lächeln und schloss die Augen. Er lauschte noch für einen Moment auf die Stimme des Mönches, dann glitt er, von dessen Worten sanft getragen, in einen tiefen Schlaf.

Neunzehntes Kapitel

Jakob saß aufrecht auf seinem Krankenlager, mit dem Rücken gegen ein Fass gelehnt, und löffelte mit großem Genuss Rübensuppe aus einem tiefen Holzteller. Er hatte den ganzen Tag geschlafen und war erst bei Einbruch der Dunkelheit wieder aufgewacht - mit einem knurrenden Magen. Bis auf den kläglichen Lichtkreis um die Laterne, die neben ihm auf einem Schemel stand, hatten die tiefen Schatten der Nacht den staubigen Dachboden längst wieder zurückerobert. Auch wenn es im Moseltal um einiges wärmer war als in der bergigen Eifel und seit Tagen schon sonniges Tauwetter herrschte, war es nach Sonnenuntergang doch immer noch kalt genug, dass sein eigener Atem so dampfte wie die heiße Suppe in seinem Schoß.

»Das ist die beste Suppe, die ich je gegessen habe«, lobte er und griff zum Brot, um die Schüssel damit auszuwischen. Er fühlte sich immer noch sehr zittrig und gerade kräftig genug, um sich allein in der Ecke auf den Aborteimer zu begeben. Doch seit dem Morgen litt er nicht mehr unter heftigen Schweißausbrüchen. Das Fieber war wundersamerweise rapide gesunken.

»Euer Appetit ist ein gutes Zeichen. Ihr habt bewiesen, dass Ihr von zäher Natur seid. Deshalb werdet Ihr auch bestimmt schnell wieder zu Kräften kommen«, sagte Bruder Basilius, der wie Henrik Wassmo auf einer Kiste im Lichtkreis der Lampe saß, mit einem zufriedenen Lächeln.

Jakob grinste. »Unkraut wie ich ist eben unverwüstlich!«, prahlte er. »Dagegen ist sogar ein feiner Herr wie Drolshagen machtlos!«

Henrik Wassmo schaute kurz von seiner Schnitzarbeit auf, die unter seinen geschickten Händen inzwischen die groben Umrisse einer Madonna mit dem Jesuskind angenommen hatte. »Zum Teufel die Stolzen? Nein, Herr, zu dir und erschrecke sie heilsam!«, sagte er scheinbar beiläufig. »Und wenn einer sich selbst bewundert, kannst du dein Gift gegen ihn ruhig sparen.«

Jakob verzog reumütig das Gesicht. »Ich weiß, ich weiß, wir sitzen noch immer in der Falle und Ihr hängt mit drin, weil Ihr mir geholfen habt.«

Bruder Basilius schmunzelte. »Ich bin einmal mit Henrik nach Jerusalem gepilgert und das Großartigste, was ich auf dieser Reise gelernt habe, ist: Das Heilige Land ist überall«, sagte er scheinbar ohne jeden Zusammenhang. »Oder um Ignatius von Loyola zu zitie-ren: >Man muss sich bewusst sein, dass der Mensch Gott nicht nur dann dient, wenn er betet.< Auch ich habe das erst lernen müssen.«

Jakob runzelte die Stirn. »Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr das, was Ihr für mich getan habt und tut, mit Gebet und Gottesdienst gleichsetzt?«

»Wo der Mensch sein Leben als Dienst Gottes versteht, gibt es keinen Bruch mehr zwischen Gebet und Arbeit«, bestätigte der Mönch.

Henrik Wassmo nickte und bemerkte trocken, während ein dünner Holzspan von seinem Messer flog: »Allein die Narren machen Ernst.«

Jakob lachte. »Nun müsst Ihr mir aber endlich erzählen, wie Ihr und der Schwede zusammengekommen seid, Bruder Basilius! Ihr habt es mir versprochen!«

Der Mönch machte ein nicht gerade glückliches Gesicht und schien sich davor drücken zu wollen. Henrik Wassmo lächelte hingegen still vor sich hin und tat, als ginge ihn Jakobs Anliegen nichts an.

Bruder Basilius seufzte. »Also gut, Ihr sollt Euren Willen haben, Fuhrmann Jakob Tillmann aus dem Rheinischen.« Gutmütiger Spott lag in seiner Anrede, so als wollte er Jakob ganz nebenbei wissen lassen, dass er sich so leicht keinen Sand in die Augen streuen ließ.

Jakob zuckte nicht mit der Wimper. Er stellte den Holzteller neben sich auf den Boden und zog sich in freudiger Erwartung die warme Decke bis zum Kinn hoch. »Wo und wann seid Ihr Euch das erste Mal begegnet?«, fragte er gespannt.

»Wir standen uns auf dem Schlachtfeld von Lützen, das ist nahe bei Halle und Leipzig, als Feinde gegenüber«, begann der Mönch. »Es war am 6. November 1632, als der Dreißigjährige Krieg schon fast fünfzehn Jahre Tod und Verderben über Europa gebracht hatte. Henrik stand als Kanonier in den Reihen der protestantischen Heere, die König Gustav Adolf von Schweden in die Schlacht führte. Ich ritt unter dem Banner der katholischen Liga in das Gemetzel.«

Die Überraschung hätte für Jakob nicht größer ausfallen können. »Ihr habt einmal den Waffenrock getragen?«

Bruder Basilius machte ein betrübtes Gesicht. »Ja, es hat einmal eine Zeit in meinem Leben gegeben, da glaubte ich tatsächlich an den Ruhm und die Ehre, die man angeblich im Kampf mit der Waffe in der Hand erringen kann.«

»Ihr kommt aus einem vornehmen Haus, nicht wahr?« Diese Vermutung hatte Jakob schon seit langem.

Bruder Basilius antwortete darauf mit einem knappen Nicken. »Welcher Familie ich entstamme, soll Euch nicht weiter interessieren. Ein Mönch, der mit dem Namen und der Macht seiner Familie prahlt, ist ein bedauernswerter Mönch.«

Jakob lächelte. Ihm genügte es zu wissen, dass der Mönch aus einem vornehmen Haus kam, womöglich sogar aus Trier oder von einer der wehrhaften Burgen der Eifel.

»Ich wuchs jedenfalls in der gut genährten Überzeugung auf, als Katholik den einzig wahren christlichen Glauben zu besitzen und damit das Recht zu haben im Namen meines Gottes andere Menschen töten zu dürfen, ja töten zu müssen, die nicht bereit waren sich zu diesem Glauben zu bekennen. Und mit dieser alttestamentarischen Überzeugung sowie der flammenden Begeisterung im Feld für mich und meine Familie Ruhm zu erstreiten, zog ich in den Krieg.« Er machte eine gedankenschwere Pause. »Doch schon nach der ersten Schlacht, die im wahrsten Sinne des Wortes eine grauenvolle Schlächterei war, geriet meine scheinbar so festgefügte Welt ins Wanken. Wenn man durch Blut watet, vorbei an hunderten von zerfetzten, hingeschlachteten Soldaten, dann können nur ganz einfältige und ganz hochmütige und grausame Menschen noch an Ruhm und Ehre glauben - und solch ein Gemetzel für einen verdienstvollen Kampf zum Ruhme Gottes halten.«

Jakob spürte, wie bewegt der Mönch innerlich war, als er sich die Erfahrungen seiner Jugend nun wieder in Erinnerung rief. Er selbst empfand Beklommenheit, dass er ihn dazu gebracht hatte, die Tore zu diesen dunklen Verliesen seiner Vergangenheit wieder zu öffnen. Manche Türen, die in dunkle Gemächer der eigenen Lebensgeschichte führten, ließ man besser fest verschlossen, wie er nur zu gut wusste.

»Die schlimmen Färber Scham und Schande bemalen wechselweise uns bleich und rot«, murmelte Henrik Wassmo, der zu schnitzen aufgehört hatte und gedankenverloren auf der Kiste saß, so als hätte auch ihn die Vergangenheit wieder eingeholt.

»Ja, Scham und Schande«, griff Bruder Basilius die Worte des Schweden auf. »Wären mein Stolz und meine Feigheit nicht so groß gewesen, sie hätten mich schon viele Jahre früher dazu aufrütteln können, den Waffenrock abzulegen und dem inneren Ruf zu folgen, der nach Umkehr verlangte. Doch erst nach der fürchterlichen Schlacht von Lützen, in der auch der schwedische König fiel und die mit der Niederlage der protestantischen Heere endete, fand ich den Mut zur radikalen Umkehr. Ich erkannte meine persönliche Schuld und Niederlage angesichts eines angeblich großen Sieges zum Ruhme Gottes.«

»Und wo kommt Henrik ins Spiel?«, wollte Jakob wissen.

»Es war nach der Schlacht: Der trunkene Siegestaumel meiner Kameraden stieß mich ab und ich entfloh ihm, indem ich auf das Schlachtfeld zurückkehrte. Irgendetwas zog mich an den Ort dieses grauenvollen Gemetzels zurück. Niemals werde ich das Schreien und Wimmern, das Stöhnen, Fluchen und Beten der Verwundeten und Sterbenden vergessen«, fuhr der Mönch mit leiser Stimme fort. »Und dann stieß ich auf einen namenlosen Schweden, der schwer verwundet neben einem zerstörten Geschütz lag. Er flehte einen von unseren Soldaten, die verwundete und tote Feinde schamlos plünderten, inständig an ihn von seinen Schmerzen zu erlösen und ihn zu töten. Und dieser Soldat hatte schon das Bajonett erhoben, als ich ihm in den Arm fiel und mich dieses Schweden, den man mich zu hassen gelehrt hatte, annahm.«

Jakob erinnerte sich sofort wieder der rätselhaften Antwort, die ihm der Schwede in Himmerod auf die Frage gegeben hatte, wie ein Mönch bloß zu einem Begleiter wie ihm käme. Die Antwort, bestimmt aus Psalmversen zusammengesetzt, hatte ihm so geheimnisvoll geklungen, dass er sie sich in jenen Tagen mehrfach wiederholt, darüber nachgegrübelt und sie so im Kopf behalten hatte: Ich wollte nichts wissen von göttlichen Zeichen, auf fremden Gefilden, in Pharaos Land... Paladine und Herren in Eisen, Gottes Glorie und Ruhm im Munde, das doppelschneidige Schwert in den Händen - so streuten wir das Saatkorn des Leids... Blut floss wie Regenwasser durch die Gosse und keiner mochte Totengräber sein... Er aber kam, entriss mich dem Rachen des Löwen und mein Herz hielt an ihm fest.

»Bei Kedars schwarzen Zelten, ich wäre an meinen Verletzungen elendig krepiert! Doch er hat mich vom Feld getragen und sein Leben riskiert, um meines zu retten!«, sagte Henrik Wassmo mit großem Nachdruck. »Er nahm den Rabenmantel der Finsternis von mir und.«

»Wer hat Euch denn aufgefordert die Geschichte weiterzuerzählen?«, fiel Bruder Basilius ihm ins Wort.

Der Schwede neigte scheinbar demütig den Kopf, aber doch mit dem Anflug eines spöttischen Lächelns auf den Lippen, und erwiderte: »Zu Psalmen sind mir deine Worte geworden im Hause meiner Pilgerschaft!«

Bruder Basilius seufzte geplagt und schüttelte den Kopf. »Das mit den Psalmen habe ich mir wohl selber zuzuschreiben. Denn ich war es, der ihm den Psalter in die Hand drückte, als ich herausfand, dass er des Lesens und Schreibens kundig war. So hoch ich den Psalter verehre, so habe ich doch schon oft gewünscht, ich hätte damals eine andere Lektüre für ihn gefunden. Aber der Psalter war das einzige Buch, das ich auftreiben konnte. Und er hat es in den vielen Monaten seiner langsamen Genesung immer und immer wieder gelesen, bis er nicht nur unsere Sprache fließend beherrschte, sondern gleichzeitig auch noch alle Psalme auswendig kannte. In dieser Zeit hat er es sich zur lästigen Angewohnheit gemacht, seine Rede mit Psalmversen zu spicken.«

Henrik Wassmo grinste und antwortete auf den sanften Tadel mit unerschütterlicher Ruhe: »Ich habe meinen Weg bedacht, nach deinen Marksteinen ausgerichtet.«

»Ja, so steht es im 119. Psalm, aber damit ist kein Herr auf Erden gemeint, sondern unser Herr im Himmel!«, brummte Bruder Basilius.

»Und dann habt Ihr Euch entschlossen den Waffenrock für immer auszuziehen, nur noch Gott zu dienen und seid ins Kloster eingetreten?«, fragte Jakob, der wissen wollte, wie es mit ihm und dem Schweden weitergegangen war.

»Ja, ich folgte endlich meiner inneren Stimme, stürzte mich in das Studium der Theologie, ließ mich zum Priester weihen und legte die ewigen Gelübde ab.«

»Und wo war Henrik all die Zeit?«, wunderte sich Jakob. »Ich meine, er kann ja nicht mit Euch studiert haben und dann mit ins Kloster gegangen sein, oder? Denn ein Mönch wie Ihr ist er ja offensichtlich nicht geworden.«

»Auf Erden geschehen viele Dinge, die sich einer vernünftigen Erklärung entziehen. Eins davon ist sicherlich Henriks außergewöhnliche Treue«, antwortete der Mönch mit gutmütigem Spott. »Als ich ihn an jenem Novembertag schwerverletzt in unser Lager trug und mich um ärztliche Versorgung für ihn gekümmert hatte, da schwor er mir stets zu Diensten zu sein und nie mehr von meiner Seite zu weichen, sollte er seine schweren Verwundungen überleben. Ich dachte mir damals nichts dabei. Doch wundersamerweise war es ihm Ernst mit seinem Schwur - bis heute, wie Ihr seht.«

Jakob machte große Augen. »Wollt Ihr damit sagen, Henrik hat Euch in all den Jahren stets begleitet, egal, wohin Ihr gegangen seid und was Ihr getan habt?«, fragte er ungläubig.

Bruder Basilius lächelte. »Ja, das ist genau das, was geschehen ist. Er ist überzeugt davon, dass das Schicksal sein Leben mit dem meinigen unauflöslich verbunden hat. Viele Jahre wollte ich nichts davon wissen und habe nichts unversucht gelassen, um mich von seiner unerbetenen Gegenwart zu befreien. Doch was immer ich auch versucht habe, es hat nichts gefruchtet.«

»Ihr meint, er blieb wie eine Klette an Euch hängen?«

»In der Tat! Er fand stets einen Weg wenigstens in meiner Nähe zu bleiben, wo ich mich auch aufhielt. Als ich mich für ein Leben als Mönch entschied, glaubte ich mich meines zweiten Schattens ein für alle Mal entledigt zu haben. Doch ich irrte. Denn er blieb hartnäckig und legte sich jede Nacht vor die Klosterpforte, bis man ihm erlaubte eine Arbeit in der Abtei anzunehmen und wie ich innerhalb der Klostermauern zu leben. Als ich dann nach Jerusalem auf Pilgerfahrt ging, da war er sofort wieder an meiner Seite. Und eines Tages habe ich es aufgegeben mich von ihm zu lösen. Ich habe mich mit ihm abgefunden. Nach über zwanzig Jahren fällt es mir nun schwer mir vorzustellen, wie es anders hätte sein können. Und wer weiß, vielleicht ist es uns tatsächlich vorbestimmt gewesen.«

Henrik Wassmo nickte bekräftigend. »Dein Wort ist Felsengrund und Sänger und Schreiber ist meine Zunge!«

Bruder Basilius erhob sich. »So, jetzt wisst Ihr, wie Henrik und ich,. nun, wie wir zueinander gefunden haben«, sagte er, nahm den leeren Holzteller an sich und ging nach unten, um Jakob noch einen stärkenden Schlaftrunk zu holen.

Einen Augenblick herrschte Schweigen und Jakob dachte über die wundersame Geschichte nach, die der Mönch ihm aus seinem Leben erzählt hatte.

»Er ist ein Mann, der dem großen Wort misstraut und von sich allzu gering denkt, um sich selbst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen«, brach Henrik das Schweigen. »Nie hätte er von sich erzählt, wenn Ihr ihn nicht so bedrängt hättet und er nicht bei Euch im Wort gestanden wäre.«

»Wie konnte ich denn ahnen.«, setzte Jakob zu einer Entschuldigung an.

»Das ist es nicht, was ich damit meinte, Jakob. Ihr sollt ruhig die Wahrheit erfahren, aber dann auch die ganze Wahrheit.«

»Was hat er mir denn verschwiegen?«

»Dass er ein letztes Mal zur Waffe griff und sein Leben aufs Spiel setzte, um das Leben eines namenlosen, verwundeten Feindes zu retten«, berichtete der Schwede. »Einer seiner Kameraden wollte nämlich nicht zulassen, dass er mich in ihr Lager brachte und mich von einem ihrer Ärzte behandeln lassen wollte. Aus einem hitzigen Wortgefecht wurde ein Gefecht mit der blanken Klinge. Dabei und nicht etwa im Feld zog er sich die lange Narbe im Gesicht zu und verlor sein linkes Auge.«

»Und was ist aus dem Mann geworden, der ihn herausgefordert hatte?«

»Er hat ihn noch mit blutiger Augenhöhle bezwungen, ihm den Degen aus der Hand geschlagen und ihm die Klinge an die Kehle gesetzt - um ihn dann mit dem Leben davonkommen zu lassen«, erzählte Henrik. »Das ist der Teil der Geschichte, die er unter den Tisch hat fallen lassen.«

»Ich danke Euch für Euren Freimut«, sagte Jakob, beeindruckt von dem Gehörten. Nun lösten sich viele Rätsel und sein Bild von Bruder Basilius und dem Schweden erhielt klarere Konturen.

Wenig später kam der Mönch die Stiege hoch. Er brachte einen großen Steinhumpen voll Kräutertee, der mit einem kräftigen Schuss Rum versetzt war.

»Ich glaube, es ist an der Zeit, dass auch ich mir einen Becher hochprozentiger Medizin gönne. Zudem kann es nicht schaden, wenn ich mich ein wenig umhöre, was geredet wird«, sagte Henrik spöttisch, steckte Messer und Schnitzarbeit ein und begab sich nach unten.

Jakob schlürfte das heiße Getränk und schaute dabei immer wieder über den Rand des Bechers hinweg auf den Mönch, der wieder auf der Kiste Platz genommen hatte.

»Nun sprecht schon aus, was Euch auf der Seele drückt!«, forderte Bruder Basilius ihn schließlich auf. »Ich weiß nicht, was Henrik Euch noch erzählt hat. Aber ich sehe Euch an, dass Euch eine Frage auf der Zunge brennt.«

»Ihr seid wirklich gut im Gedankenlesen.«

»Nun rückt schon mit der Sprache heraus! Was beschäftigt Euch?«

Jakob zuckte vage mit den Schultern, weil er nicht wusste, wie er seine Verwirrung in Worte fassen sollte, ohne dass es verletzend klang. »Hängt Henrik nach all den Jahren, die er Euch nun schon begleitet, noch immer seinem protestantischen Glauben an?«

»Ja, das tut er. Er ist ein treuer Anhänger der lutheranischen Reformationskirche.«

»Es ist Euch also in all den Jahren nicht gelungen ihn zu Eurem wahren Glauben zu bekehren«, stellte er fest. »Aber Ihr kommt offenbar dennoch ganz wunderbar miteinander aus, wie es den Anschein hat.«

Bruder Basilius lächelte. »Etwas, was ich erst gar nicht zu tun versucht habe, kann mir auch mitnichten gelingen.«

»Ihr habt erst gar nicht den Versuch gemacht?«, fragte Jakob verwundert.

»Nein. Wir haben sehr oft miteinander über das geredet, woran wir glauben. Aber keiner hat versucht den anderen davon zu überzeugen, dass er den christlichen Stein der Weisen in seinen Händen hält.«

»Das ist es, was ich nicht verstehe. Wie könnt Ihr auf der einen Seite von Eurem Glauben derart überzeugt sein, dass Ihr mit Eurem alten Leben radikal brecht und in ein Kloster eintretet, andererseits aber zwei Jahrzehnte in Gesellschaft eines Protestanten verbringt, ohne ihm zum wahren Glauben zu verhelfen? Denn nur durch diesen wahren Glauben, so lehrt es ja wohl die katholische Kirche, kann der Mensch doch das Heil erlangen und ins Himmelreich kommen. Wäre es da nicht Eure allerheiligste Pflicht, nicht eher zu ruhen, als bis Ihr die verirrte Seele des Schweden gerettet und wieder in den Schoß der katholischen Kirche zurückgeholt habt?«, fragte Jakob herausfordernd.

»Henrik ist kein Heide. Er glaubt wie ich aus tiefstem Herzen an Jesus Christus, an die Dreifaltigkeit und an die Jungfrau Maria, für die auch Luther stets große Verehrung gezeigt hat, und an die Auferstehung. Sein Glaube ist so stark wie der meinige. Ich mag aufgrund meines Wesens und meiner Natur meine persönlichen Vorlieben haben, zu denen ich mich auch mit Herz und Seele bekenne - so wie mir eben auch mein katholischer Glaube kostbar ist. Aber ist es letztlich nicht gleichgültig, ob ich zuerst mit dem linken oder mit dem rechten Fuß losgehe, wenn ich nur die richtige Richtung einschlage? Und heißt unsere gemeinsame Richtung nicht: der Glaube an unseren Erlöser und Heiland Jesus Christus? Also wozu sollte ich ihn noch bekehren? Dazu, dass er nicht mehr zuerst den linken Fuß nimmt, sondern wie ich den rechten?«

»Natürlich zu der einzig wahren Lehre, zur einzigen Wahrheit, so wie es doch immer verkündet wurde!«, stichelte Jakob. »Denn ist Luther für Rom nicht ein Ketzer gewesen? Und sind wegen dieses Konfessionenstreites nicht schon unzählige Kriege geführt worden?«

»Leider ja. Aber Luther ist in meinen Augen kein Ketzer gewesen, Jakob, sondern ein wahrhaft großer Mann, ein genialer Denker, wenn auch ein Grobian und oft polemisch, der nie die Kirchenspaltung gewollt hat. Luther war Augustinermönch und wollte die Erneuerung der Kirche. Unglücklicherweise war die Zeit für die längst überfälligen Reformen noch nicht reif, besser gesagt: Die verantwortlichen Männer in unserer Kirche waren es nicht. Hätten wir das Konzil von Trient, das zu einer Erneuerung der Kirche geführt und der Korruption des Klerus den Kampf angesagt hat, schon zu seiner Zeit abgehalten, wäre es wohl nie zu dieser unseligen Spaltung der Christenheit gekommen. Und es war nicht Luther, der diese unselige Kirchenspaltung zu verantworten hat. Erst mit der Exkommunizie-rung ist aus dem streitbaren Reformator der Gründer der protestantischen Kirche geworden - wider Willen, muss man sagen, wenn man diesem Mann und der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte.«

»Aber einer muss doch Recht haben!«

»Warum muss immer einer über den anderen triumphieren? Hat der Regenbogen nicht auch viele wunderschöne Farben? Und wer kann schon sagen, dass die Rose schöner ist als die Lilie oder die Blüte einer Weißdornhecke? Gottes Schöpfung ist vom ersten Tag an auf wunderbare Vielfalt angelegt, Jakob. Und Weisheit ist das Ende der Schwarzweißmalerei.«

»Das ist mir zu allgemein, Bruder Basilius. Entweder ist Luther mit seinen Anhängern im Recht gewesen - oder Rom!«

»Kein Mensch befindet sich im Besitz der allein selig machenden Wahrheit - und schon gar keine Institution«, erwiderte Bruder Basilius. »Ob Kardinal oder Gelehrter, die Wahrheit liegt jenseits unserer menschlichen Grenzen. >Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott<, so steht es im 1. Korinther und an vielen anderen Stellen in der Heiligen Schrift. >Er fängt die Weisen in ihrer eigenen List< und >Der Herr kennt die Gedanken der Weisen; er weiß, sie sind nichtig<. Daran sollten wir uns stets erinnern, wenn wir uns um Erkenntnis bemühen! Nur Fanatiker nehmen für sich in Anspruch die Antwort auf alle Fragen zu kennen.«

»Was meint Ihr mit Fanatiker?«

»Fanatisch sein heißt die Wahrheit nicht suchen zu wollen, sondern sich in unbedenklicher Überheblichkeit schon im Voraus für den Besitzer der Wahrheit zu halten. Doch es darf nie um richtig oder falsch gehen, sondern nur um ein gemeinsames Bemühen der Wahrheit näher zu kommen. Und niemals darf Gewalt ein Mittel zum Zweck sein! Jesus hat sich nie mit Gewalt verbunden, er hat nie dem Schwert das Wort geredet und er hat auch niemals Zweifler und Ungläubige zur Umkehr gezwungen. Er hat sehr wohl versucht ihre Ohren und Augen zu öffnen und ihre Herzen zu erreichen, aber Gewalt hat er abgelehnt und verabscheut, ja verflucht. Lieber hat er sich den Folterknechten seiner Feinde ausgeliefert als für seine erlösende Heilsbotschaft auch nur einen Tropfen Blut eines anderen Menschen zu vergießen.«

»Stellt Ihr damit nicht Euren eigenen Glauben in Frage und all die Dogmen und Vorschriften der heiligen römischkatholischen Kirche?«, hielt Jakob ihm vor und genoss es sichtlich ihn in die Ecke zu drängen. »Ihr redet nämlich wie ein Ketzer, Bruder Basilius! Lasst das bloß nicht dem Domherrn zu Ohren kommen, sonst landet Ihr noch auf dem Scheiterhaufen.«

»Ein guter Hirte schert seine Schafe, aber er zieht ihnen nicht das Fell ab. Und die eigenen Meinungen dürfen nie Gräben reißen, sondern müssen Brücken bauen, insbesondere wenn man sich zum Christentum bekennt«, antwortete der Mönch. »Und was die heilige Mutter Kirche und ihre Diener bis hoch zum Papst betrifft. nun, so fehlt vielen die demütige Einsicht, dass das Bewusstsein des eigenen Irrtums das Fundament der geistigen Freiheit ist. Aber was wollt Ihr anderes erwarten? Sind wir vielleicht ohne Sünde und Fehler? Auch ein noch so hohes Kirchenamt befreit einen Menschen nicht von seinen Fehlern, es macht ihn leider viel eher überheblich und selbstgerecht als demütig und großherzig. Die Apostel und ihre Mitarbeiter sind nicht Herren der Gemeinde, sondern ihre Diener. Und je höher das Amt, desto größer sind die Pflichten zum Dienst und zur Treue gegenüber dem Evangelium - und nicht die Privilegien!«

»Das ist aber nicht die Wirklichkeit! Männer wie der Subprior Tarzisius in Himmerod und der Domherr von Drolshagen - das ist die Wirklichkeit!«

»Leider habt Ihr Recht«, gab Bruder Basilius unumwunden zu.

»Und obwohl dem so ist, glaubt Ihr dieser Kirche noch immer und habt ihr Gehorsam geschworen?«, wunderte sich Jakob. »So, wie Ihr redet, müsstet Ihr doch längst ein erklärter Feind dieser Kirche sein!«

Bruder Basilius nickte. »Die Versuchung, sich über andere zu erheben und Macht auszuüben liegt, uns Menschen im Blute, uns allen. Deshalb müssen wir Barmherzigkeit mit der Armutsgestalt der Kirche haben und auch Demut, spiegelt sie doch mit all ihren Mängeln und Auswüchsen unsere eigene Unvollkommenheit wider.«

»Damit kann man natürlich alles entschuldigen!«

»Nein, ganz und gar nicht. Denn das bedeutet nämlich nicht, dass wir alles wortlos hinnehmen und über Missstände hinwegsehen müssen. Im Gegenteil, wir müssen beharrlich unseren Teil dazu beitragen, dass wir das, woran wir glauben, in unserem Leben verwirklichen und es auch in der Kirche wieder finden - und das ist Jesu Christi Botschaft von der Nächstenliebe, die auch die Feinde mit einschließt, von der Erlösung unserer Sünden und von der Auferstehung der Toten.«

»Aber dann kann man doch nicht mehr zu allem, was die Kirche vorschreibt, Ja und Amen sagen! Wo bleibt da der Gehorsam, den Ihr geschworen habt?«

»Ja, da beginnt die Gewissensnot und die Mühsal, die keinem erspart bleibt«, räumte Bruder Basilius ein. »Ich kenne darauf nur eine Antwort und die lautet: Gehorche nie einem Befehl, der sich nicht mit deinem Gewissen verträgt!«

»Auch dann nicht, wenn er direkt vom Papst kommt?«

»Ja«, sagte der Mönch ohne jedes Zögern. »So schweres mir auch fallen würde, ihm meinen Gehorsam zu verweigern.«

Jakob zog die Brauen hoch. »Oh, damit könnt Ihr Euch in Teufels Küche bringen! Denn wenn das keine Ketzerei ist, weiß ich nicht, was sonst!«

»Es ist keine Ketzerei«, erwiderte Bruder Basilius gelassen. »Lest in den Evangelien nach. Wie oft widersetzte sich Jesus dem Tempel? War er deshalb ungehorsam - oder stand nicht vielmehr der Tempel außerhalb des Lichtes der göttlichen Wahrheit?«

Jakob machte ein nachdenkliches Gesicht und gähnte dann herzhaft. Der Rum machte ihn wieder ganz schläfrig. »Keine Ahnung, darüber habe ich nie nachgedacht. Aber vielleicht sollte ich es mal tun. Denn so, wie Ihr die Dinge seht, bekommt vieles ein neues Gesicht.«

»Da habt Ihr einiges, worüber Ihr nachdenken könnt«, sagte der Mönch und nahm ihm den Becher ab. »Aber jetzt schlaft erst einmal.«

»Und wann erzählt Ihr mir endlich, was es mit Bruder Anselm auf sich hat und was der Domherr unter der Folter aus mir herausholen wollte?«

»Alles zu seiner Zeit. Werdet erst einmal gesund.«

»Ihr weicht mir wieder aus!«, protestierte Jakob, obwohl er viel zu müde für eine weitere Unterhaltung war, und streckte sich unter den warmen Decken aus.

»Wie scharfsinnig von Euch. Aber wenn ich Euch ausweiche, so werde ich dafür auch meine guten Gründe haben, was Euch genügen muss«, beschied ihn der Mönch. »Und nun schlaft. Je eher Ihr gesund werdet, desto eher werdet Ihr auch erfahren, welches Geheimnis der Domherr so verzweifelt zu lösen sucht.« Und damit löschte er das Licht.

Zwanzigstes Kapitel

»Ich fühle mich wieder so frisch und munter wie ein Fisch im Wasser!«, beteuerte Jakob vier Tage später, als Henrik und der Mönch am Morgen ihre schäbige Bettlerkleidung anlegten, um aus dem Haus zu gehen. »Warum kann ich denn nicht mit Euch kommen, Bruder Basilius?«

»Weil Ihr hier viel besser aufgehoben seid und es sinnvoller ist, wenn Ihr Eure Kräfte schont«, antwortete der Mönch und wickelte sich schmutzige Stoffstreifen solcherart um den Kopf, dass seine verräterische Augenklappe unter dem vorgetäuschten Verband verschwand. Dann schmierte er sich etwas Dreck, dem er Ruß beigemischt hatte, ins Gesicht, sodass auch seine lange Narbe auf der rechten Wange nicht mehr zu sehen war.

»Das ist keine redliche Antwort!«, beschwerte sich Jakob.

»Nun denn: Vernunft, ihr Könige, Vernunft, ihr Herren, gewarnt vom Herrn!«, riet Henrik ihm, während auch er sein zerschlissenes Bettlergewand umwarf.

Doch Jakob beharrte ärgerlich: »Mir geht es längst wieder gut. Und ich bin es leid meine Tage auf diesem Dachboden mit untätigem Warten und Herumsitzen zu verbringen! Also, warum kann ich Euch nicht begleiten? Und warum haltet Ihr Eure Pläne, wie wir aus Trier herauskommen wollen, vor mir geheim?«

»Weil es zu Eurem Schutz ist - das eine wie das andere. Und dabei wollen wir es auch bewenden lassen«, sagte Bruder Basilius in einem Ton, der jede Widerrede zwecklos machte. »Habt noch ein, zwei Tage Geduld. Ihr werdet noch früh genug beweisen können, wie gut bei Kräften Ihr wieder seid. Und nun lasst uns gehen, Henrik. Wir müssen heute nicht nur zu Däublin und Hasenkötter, sondern auch prüfen, wie aufmerksam die Torwachen ihren Dienst versehen.« Und zu Jakob gewandt sagte er: »Es wird wohl etwas dauern, bis wir wieder zurück sind.«

Jakob machte eine grimmige Miene.

»Ich eile wie die Morgenröte.« Henrik griff zu seinen selbst gefertigten Krücken, warf Jakob einen aufmunternden Blick zu und verschwand durch die Luke.

»Ihr seid mir schöne Freunde!«, rief Jakob ihnen nach, erhielt aber keine Antwort. Er hörte nur, wie sie die steile Bohlenstiege hinunterstiegen.

Wütend trat er nach einem Strohsack. Es wurmte ihn, dass er auf dem staubigen Dachboden des Gasthauses Stunde um Stunde, Tag für Tag herumsitzen musste, während Bruder Basilius und der Schwede sich immer wieder mal für einige Zeit in der Stadt herumtrieben. Er fühlte sich längst kräftig genug, um das Haus zu verlassen, und hätte sie gut begleiten können. Zumal die Vorboten des Frühlings die harte Tyrannei des Winters offenbar gebrochen hatten. Seit Tagen herrschte einladend sonniges Wetter im Moseltal. Und er

- er saß auf dem Dachboden fest, umgeben von Spinnweben, Staub und muffigen Strohsäcken!

Voller Ärger und Unruhe, ging Jakob zwischen den schweren Stützbalken auf und ab. Er saß hier oben nicht nur fest wie in einem Kerker, sondern er wusste auch nicht, was Bruder Basilius mit Henrik Wassmo ausheckte und was es mit diesen Männern Däublin und Hasenkötter auf sich haben mochte. Er hatte diese beiden Namen schon mehrfach aufgeschnappt, aber nie eine Erklärung erhalten, wenn er nachgefragt hatte. Dass Bruder Basilius ihn nicht aus Misstrauen, sondern aus übergroßer Vorsicht im Dunkeln ließ, war nur ein schwacher Trost und änderte nichts daran, dass er nicht in die Pläne eingeweiht war. Nun, damit hätte er sich ja noch abfinden können, wenn es ihm wenigstens gestattet gewesen wäre ab und zu mal den Dachboden zu verlassen. Er war es nicht gewohnt so lange eingeschlossen zu sein und nicht ins Freie zu kommen.

Wieso eigentlich gestattet! Wer sagte denn, dass er jemanden um Erlaubnis fragen musste? Gewiss, er hatte Bruder Basilius und dem Schweden eine Menge zu verdanken und das würde er ihnen auch niemals vergessen. Aber er hatte sich ja nichts vorzuwerfen, war er doch völlig ohne eigenes Verschulden in diese mysteriöse Geschichte verstrickt worden. Und Bruder Basilius hatte offenbar ein ganz eigenes, persönliches Interesse daran, warum er sein Leben für ihn riskiert hatte. Denn auch er wollte unbedingt wissen, wo sich Bruder Anselm in den letzten Monaten seines Lebens aufgehalten hatte. Außerdem folgerte aus der Tatsache, dass sie ihm das Leben gerettet hatten, ja wohl noch längst nicht, dass sie nun so etwas wie seine Vormunde geworden waren und er nicht mehr tun und lassen konnte, was er für richtig hielt. Er war ein freier Mann und konnte tun und lassen, was ihm beliebte!

»Und genau das werde ich heute tun!«, sagte Jakob laut und entschlossen. »Ich werde mich mal ein bisschen in dieser Stadt umsehen!«

Mit einem vergnügten Pfeifen auf den Lippen warf er sich den alten Umhang um und stülpte sich den filzenen und reichlich großen Topfhut über. Bruder Basilius hatte die Sachen für ihn besorgt. Dann schmierte auch er sich ein wenig von dem mit Ruß vermischten Dreck ins Gesicht und kletterte über die Stiege in das Obergeschoss hinunter, wo sich die Schlafkammern der Stroedeckers befanden. Niemand hielt sich hier oben auf. Wenig später befand er sich auf der hölzernen Außentreppe, die hinunter in den Hof führte. Er schlüpfte durch das Tor, lief die schmale Gasse hoch und spähte um die Ecke. Er wollte nicht gerade Bruder Basilius, dem Schweden oder dem Gastwirt in die Arme laufen. Mit hastigen Schritten und gesenktem Kopf wandte er sich nach rechts und ließ die Schenke Zum Roten Ochsen rasch hinter sich.

Sowie er sich außer Sicht des Gasthauses befand, verlangsamte er seinen Schritt und schob sich die Mütze aus der Stirn. Wie herrlich es war, die Sonne auf dem Gesicht zu spüren, auch wenn ihre Kraft noch schwach war. Kein Zweifel, der Frühling war nicht mehr weit. Bald würden Busch und Baum und Wiesen frisches Grün zeigen und die ersten Knospen würden sich zu Blüten entfalten.

Aber auch dann, wenn das Land in voller Blüte stand, würde ein Hauch von Frühlingsduft in diesen Teil der Stadt dringen. Jakob stellte nämlich fest, dass ihr Versteck nicht gerade in einem der besseren Viertel der Stadt lag. Denn schon ein halbes Dutzend verwinkelter Gassen weiter drang ihm der penetrante Gestank aus den Werkstätten der Gerber und Färber in die Nase, der sogar den starken Geruch der gewöhnlichen Fäkaliengruben in den Hinterhöfen mit Leichtigkeit überstieg. In den schmalen Abflussgräben, die zwischen den Häusern gezogen waren, schwamm eine ekelhafte, rotgelbe Brühe, die ihn sofort an den Kanal erinnerte. Er hielt sich die Nase zu und machte, dass er aus diesem Viertel kam.

Als er kurz darauf in eine breite Gasse einbog, hätte ihn beinahe der Inhalt eines vollen Nachttopfes getroffen. Eine Magd beugte sich nämlich gerade im Obergeschoss des Eckhauses aus dem Fenster und rief gleichgültig eine Warnung, während sie den Nachttopf auch schon auskippte.

Geistesgegenwärtig und mit einem Fluch auf den Lippen sprang Jakob in eine Toreinfahrt und wandte den Kopf ab, während Urin und Kot sich auf die Straße ergossen. Fäkalien und anderer Abfall fanden sich auch an vielen Stellen auf den Gassen und Schweine liefen frei herum und wühlten in dem Dreck. Jakob fand diese Sitte der Stadtbewohner, allen Unrat einfach aus dem Fenster und auf die Straße zu kippen, ziemlich ekelhaft und er verstand nicht, wie man so leben konnte. Da lobte er sich doch den Misthaufen, der sich auf dem Land vor jedem Bauernhaus fand. Häufte sich dort doch wenigstens alles schön an einer Stelle auf, während man in den Straßen der Städte nie wusste, wohin man trat - und welch ekelhafte Überraschung einen von oben im nächsten Moment wohl treffen mochte!

Dass er sich langsam dem Stadtkern von Trier näherte, merkte er daran, dass die Gassen weiter und die Häuser stattlicher wurden.

Hier und da bemerkte er schon reich verzierte Erker, mit Ziegeln bedeckt und zum Teil kunstvoll mit Wappen und schönen Heiligenfiguren bemalt. Die Hauptportale waren entweder ganz aus Eisen oder doch zumindest mit Eisen beschlagen sowie in allen möglichen Farben angestrichen.

Der Verkehr auf den Straßen nahm jetzt auch merklich zu. Fuhrwerke, Kutschen, Lastenträger, Reiter, Knechte mit Handkarren, Tagelöhner, Bettler, Mädge mit bastgeflochtenen Körben, gut gekleidete Frauen mit sauberen Hauben und Männer aller Schichten -sie alle strömten in Richtung Markt.

Jakob ließ sich vom Strom der Menschen mitziehen, vorbei an immer stattlicheren Patrizierhäusern. Und dann lag der Hauptmarkt, überragt vom Turm der Pfarrkirche und mit seinem siebenhundert Jahre alten Marktkreuz, vor ihm. Noch nie in seinem Leben hatte er so viele Buden und Verkaufsstände gesehen und so viele Menschen, die sich durch die Reihen drängten. Es kam ihm wie das Gewimmel in einem aufgeschreckten Ameisenhaufen vor. Dazu gesellten sich dann noch das Stimmengewirr und die Rufe der Marktschreier, die tausenderlei Waren anpriesen und sich gegenseitig zu übertönen versuchten.

Jakob hatte noch nie eine so große Stadt wie Trier betreten. Wipperfürth im Bergischen Land war ihm mit seinen mehreren hundert Einwohnern nach dem abgeschiedenen Leben auf Gut Schlehenbusch schon groß vorgekommen. Um richtige Städte hatte er eigentlich immer einen großen Bogen gemacht, weil ihm diese Welt fremd war und er nicht verstehen konnte, wie man freiwillig wie in engen Hühnerkäfigen leben konnte. Aber ein solcher Markt, das musste er eingestehen, besaß natürlich schon eine große Faszination und Anziehungskraft.

Was da nicht alles unter den graubraunen Segeltuchplanen der Stände zum Kauf feilgeboten wurde! Vielerlei Stoffe und Lederarbeiten, grobes Steingut und wundersam dünne Becher aus buntem Glas, Bänder in allen Farben und Hauben, feine Hüte und einfache Kappen, Stricke, Felle und Zaumzeug, Kessel, Pfannen und eiserne Dreibeine in allen Größen, Holzzuber und Messer, Scheren und Raspeln, Strohkörbe und Holzschuhe, Schmuckperlen und holzgeschnitzte Broschen - und noch so vieles mehr.

Dazu kamen die Verkäufsstände mit frischem Fisch, allerlei Backwerk wie Brezeln, Honigkuchen, Nusswerk und Blätterteig sowie Schmalzkringel und andere Köstlichkeiten aus kleinen Garküchen. Etwas weiter standen die Lattenkäfige der Bauern und Händler, die Hühner und Ziegen, Schafe und Schweine verkauften. Da grunzte und blökte und krähte und meckerte es wie in einem Chor, der sich weder auf eine Melodie noch auf eine Tonlage einigen konnte.

Dann gab es die Stände und Buden der Quacksalber, die allerlei Salben und Pflaster, Kräuter und Tinkturen verkauften. Da gab es Nelkenöl und den Sirup von Mohnsaft gegen Schmerzen und Schlaflosigkeit, Quirinusöl zur Behandlung von Pferdeleiden, Labkraut und Beinwell, das Allheilmittel Theriah und Latwerge, Rosmarinbalsam, Johanniskraut und gemahlenes Planetengestein, Simplicia und Com-posita, Lavendelöl, geriebene Knollen und getrocknete Gräser sowie weiße Hasenpfoten, die jedes Unheil abzuwenden halfen, und andere Wundermittel. Ein Bader, der Patienten auf einem hölzernen Lehnstuhl mit Blutegeln behandelte, heiße Schröpfköpfe auf die Haut setzte und sie zur Ader ließ sowie Urinbeschau betrieb, hatte ebenso gut zu tun wie der Zahnreißer ein paar Stände weiter. Das Gleiche galt für den Okulisten und Starstecher, der sich der Augenleiden der Menschen annahm. Es gab sogar einen Schreiber, der hinter seinem Schreibpult saß, Briefe vorlas und aufsetzte sowie andere Schreiben wie Pacht- und Kaufverträge verfasste.

Wohin Jakob bei seinem gemächlichen Rundgang auch schaute, sein Blick traf immer wieder auf etwas Neues, was sein Interesse weckte. Was war das bloß für ein buntes Treiben! Das Gedränge, Gelärme und Gefeilsche an den Ständen ließ sich ja kaum ertragen.

Als er auf die andere Seite des Marktes geriet, sah er das herrschaftliche Rathaus mit seinen Laubengängen. In dem Gebäude waren nicht nur die Brotlaube und eine Markthalle für die normalen Markttage während der Woche untergebracht, sondern das Rathaus beherbergte auch die Salzkammer und den Kornspeicher.

Und dann bemerkte er den Pranger nahe der Kirche und die beiden Frauen, die dort mit Kopf und Armen in den Stock eingeschlossen waren. Er ging zögernd näher und blieb dann stehen. Man hatte ihnen das Diebeszeichen, in der Form eines Galgens, auf die Stirn gebrannt. Um ihren Hals hing ein Schild, das ihr Verbrechen verkündete. Und für die, die des Lesens nicht kundig waren, mussten sie einen leeren Mehlsack in der Hand halten.

Jakob entnahm dem Spott der vorbeikommenden Bürger, die die beiden fürs Leben gebrandmarkten Frauen bespuckten sowie mit Kot und Dreck bewarfen, dass man die beiden Diebinnen am nächsten Tag mit Ruten aus der Stadt peitschen würde. Sollten sie sich danach noch einmal in Trier blicken lassen, drohte ihnen die Verstümmelung - oder gar der Galgen, wenn sie zudem erneut bei einer Diebestat ertappt wurden.

Der erbarmungswürdige Anblick der beiden Frauen erinnerte Jakob an die Folterkammer und er hatte Mitleid mit ihnen. Aber er konnte ihnen nicht helfen und deshalb wandte er sich schnell ab, um nicht länger Zeuge dieses bösartigen, entwürdigenden Schauspiels zu werden, das sich um den Pranger herum abspielte.

Ihn zogen nun die bunten Wagen der Vaganten, Landfahrer, Komödianten und Schausteller an, die sich nach einer langen Winterpause hier eingefunden und auf dem nahen Kirchplatz ausgebreitet hatten, um die Trierer Bürger auf mehreren kleinen Bühnen und in grellbunt bemalten Zelten mit ihren Kunststücken und Spaßen zu unterhalten.

Jakob war noch nie so vielem fahrenden Volk auf einmal begegnet. Da gab es Bärenführer und Gaukler, Tänzer und Seilartisten, Schattenspieler und Zwerge auf Stelzenbeinen, Trommelschläger und Trompeter, ein Zelt, in dem gar scheußliche Monster zu besichtigen waren, und ein anderes mit einem wundersamen Flohzirkus, den Kettensprenger und den Schwertschlucker, den Messerwerfer und den Feuerfresser sowie den Mann, der über glühende Kohlen ging und sich auf ein Bett aus scharfen Dornen legte. Wie gern hätte er so manches Zelt betreten, um sich all diese aufregenden Darbietungen anzusehen. Aber er hatte nicht einmal einen einzigen Pfennig in der Tasche.

Er kam jedoch in den Genuss der unterhaltsamen Vorstellung einer kleinen Gruppe von Artisten und Schauspielern, die über kein eigenes Zelt verfügte und ihre Künste daher unter freiem Himmel auf einer primitiven Bretterbühne darbot, um hinterher mit dem Hut sammeln zu gehen.

Jakob stellte sich an die Seite der Bühne, neben einen der bemalten Kastenwagen, und bewunderte die artistischen Kunststücke der Männer und Frauen, die mit einem Salto vorwärts und rückwärts durch Feuerreifen sprangen, mit Fackeln jonglierten und mit verbundenen Augen über das Seil balancierten, das sie zwischen zwei Wagen rechts und links von der Bühne gespannt hatten.

Ihm fiel dabei ein Mädchen auf, das in einem Kostüm aus goldgelben Pumphosen, veilchenblauer Schärpe und einem engen, mohnroten Mieder steckte und herrlich schwarzes, blau schimmerndes Haar besaß. Das Mädchen hatte ein liebreizendes Gesicht und eine anmutige Figur und sie bewegte sich bei den Saltos durch die Feuerreifen ebenso behände wie furchtlos. Bei all den anderen atemberaubenden Kunststücken zeigte sie jedoch deutliche Anzeichen von Unsicherheit. Zweimal sah es so aus, als würde sie im nächsten Moment vom Seil stürzen, und sie rettete sich nur dadurch, indem sie sich von der Augenbinde befreite, was Angehörige ihrer Truppe zu einem ärgerlichen Zischen veranlasste. Und beim gefährlichen Jonglieren mit den Pechfackeln unterlief ihr ein Missgeschick, das beinahe zu einem Brand geführt hätte.

Das Mädchen warf ihre Fackeln schwungvoll vor sich in die Luft, machte auf den Brettern eine blitzschnelle Rolle vorwärts, sprang auf- und sollte die lodernden Fackeln nun wieder auffangen. Bei der einen gelang es ihr auch. Doch ihre linke Hand verfehlte den richtigen Zeitpunkt oder die richtige Stellung. Auf jeden Fall fiel das geriffelte Ende der Fackel nicht in ihre geöffnete Hand, sondern sie stieß mit den Fingerspitzen gegen den Holzstab - und schleuderte die Fackel damit von sich.

Die brennende Fackel flog von der Bühne, traf Jakob vor die Brust und fiel neben ihm auf einen Stoß Decken und Tücher, die dort auf der Treppe des Kastenwagens für eine andere Nummer bereitlagen. Sofort fingen sie Feuer, als sie mit dem lodernden Pech in Berührung kamen.

Jakob reagierte, ohne zu überlegen. Mit der einen Hand riss er die Fackel hoch, während er mit der anderen die brennenden Tücher von der Treppe fegte. Er hörte wütende und aufgeregte Schreie und versuchte die Flammen auszutreten. Im nächsten Moment waren andere Männer zur Stelle und halfen ihm. Dann klatschte ein Eimer Wasser in die Flammen - und über Jakobs Füße.

»Danke für Euer beherztes und schnelles Eingreifen. Margas Fehler hätte schwer ins Auge gehen können!«, sagte einer der Artisten und nahm ihm die Fackel ab.

»Gern geschehen«, antwortete Jakob, während sein Blick das Mädchen suchte, deren Namen Marga war. Er sah gerade noch, wie ein hoch gewachsener Mann mit einem dichten, schwarzen Schnurrbart ihr eine schallende Ohrfeige gab, was die Zuschauer mit schadenfrohem Gelächter und Gejohle bedachten, und sie mit einer wütenden Gebärde von der Bühne stieß. Augenblicklich verschwand das Mädchen zwischen den Wagen, die hinter der Bühne standen. Sie tauchte nicht wieder auf.

Jakob trieb sich noch eine Weile zwischen den Zelten, Ständen und Bretterbühnen der Zigeuner und Schausteller herum. Dann setzte er seinen Streifzug durch die Stadt fort. Er wollte unbedingt einen Blick auf das kurfürstliche Palais sowie auf die uralten römischen Thermen und das Amphitheater werfen, von dem Bruder Basilius ihm erzählt hatte. Auch die gewaltigen Stadttore wie die Porta Nigra wollte er sich gern anschauen. Vieles reizte seine Neugier, war es doch das erste Mal, dass er sich in einer so großen Stadt befand. Zudem genoss er es, nach den langen Tagen auf dem düsteren Dachboden sich frei bewegen zu können und bei frühlingshaft milder Luft unter einem sonnigen Himmel durch die Straßen zu schlendern. Mit großem Interesse beobachtete er das lebhafte Treiben auf den Straßen, wunderte sich über manches und vergaß ganz und gar, welche Gefahren in den Mauern von Trier auf ihn lauerten.

Als er einer Straße folgte, die einen fast halbkreisförmigen Bogen vollführte, fiel ihm plötzlich eine Kutsche ins Auge, die keine zehn Schritte entfernt vor einem Patrizierhaus stand. Die rubinrote Lackierung und das pechschwarze Gespann machten, auch ohne das Wappen auf dem Schlag, jede Verwechslung unmöglich: Bei diesem Gefährt handelte es sich um die erzbischöfliche Kutsche, mit der Domherr von Drolshagen nach Himmerod gekommen war!

Jakob blieb jäh, wie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen, stehen. Die unbeschwerte Freude an seinem Streifzug fiel augenblicklich in sich zusammen und machte ernüchternder Beklemmung Platz. Die Folterkammer im Turm des Greven tauchte vor seinem geistigen Auge auf und erinnerte ihn daran, was ihn erwartete, wenn er dessen Häschern in die Hände fiel. Und dann würden der Domherr und der Henker jede Chance für eine erneute Flucht von vornherein zunichte machen. Sie würden ihn foltern, bis.

Er führte den schrecklichen Gedanken nicht zu Ende. Denn in diesem Moment trat eine Gestalt aus dem Schatten der Bogengänge und sprach ihn an.

»Seid Ihr es. oder seid Ihr es nicht?« Unsicherheit sprach aus der Stimme des Mannes.

Jakob fuhr erschrocken herum - und starrte in das Gesicht des Sekretärs Laurentis Coppeldiek!

Einundzwanzigstes Kapitel

»Natürlich! Ihr seid es wirklich, der entflohene Fuhrmann Jakob Tillmann!«, rief Laurentis Coppeldiek. »Und Ihr treibt Euch frech in Trier herum!«

Jakob wusste instinktiv, dass ihn kopflose Flucht ins Verderben führen würde. Er musste verhindern, dass Coppeldiek in der Nähe der erzbischöflichen Kutsche Alarm schlug. Und mit einem Satz war er bei ihm.

»Mein lieber Laurentis! Was für eine wunderbare Überraschung, Euch nach so langer Zeit wieder zu sehen!«, rief er, indem er ihn überschwänglich umarmte und dabei wieder zurück unter den Bogengang drängte. Damit überrumpelte er den Sekretär derart, dass dieser weder in Wort noch in Tat Widerstand leistete. Und sowie sie sich außer Sicht der Kutsche befanden, war es dafür schon zu spät. Denn Jakob legte ihm seine linke Hand blitzschnell um die Kehle und presste ihm die Luft ab. Gleichzeitig rammte er ihm seinen gestreckten Zeigefinger in die Seite. »Wenn Ihr schreit, steche ich Euch wie ein Schwein ab!«, drohte er.

Seine Rechnung ging auf. Laurentis Coppeldiek erbleichte und Angst trat in seine Augen. »Wenn Ihr. mir etwas antut, wird man Euch hängen, rädern und vierteilen!«, stieß er hervor. »Und. Eure Reste wird man den Raben. zum Fraß überlassen!«

»Mehr als einmal sterben geht nicht, Büttel!«, zischte Jakob. »Außerdem habe ich nichts zu verlieren, wie Ihr sehr wohl wisst! Ob ich Euch nun die Eingeweide aus dem Leib schneide oder nicht, Euer skrupelloser Domherr wird mich auf die Folter spannen, bis kein Leben mehr in mir ist. Also warum soll ich mich nicht ein wenig revanchieren, indem ich dafür sorge, dass er sich nach einem neuen Schreiber umsehen muss?«

Laurentis Coppeldiek quollen vor Angst fast die Augen aus den Höhlen. »Heiliger St. Gangolf, macht Euch nicht unglücklich!«, keuchte er. »Ihr bringt Euch um Euer Seelenheil, wenn Ihr.«

»Haltet das Maul!«, fuhr Jakob ihn schroff an. »Wenn ich Euch nicht aufschneiden soll, tut Ihr besser, was ich sage! Ihr kommt mit mir, ohne dass Ihr einen Ton von Euch gebt oder Euch verdächtig benehmt. Wenn Ihr schreit oder wegzurennen versucht, bekommt Ihr meine Klinge zu schmecken, habt Ihr verstanden?«

Laurentis Coppeldiek brachte nur ein krächzendes »Ja!« heraus.

Jakob nahm seine Hand von der Kehle des Sekretärs. »Ihr geht vor mir her, aber schön langsam!«, forderte er ihn auf und fragte sich voller Bangen, wie lange der Schreiber wohl auf seine Täuschung hereinfallen würde. »Aber ohne Hast! Und nun macht schon!«

Mit steifen, hölzernen Bewegungen setzte sich Coppeldiek in Bewegung. Jakob dirigierte ihn in die Richtung, aus der er gekommen war. Sein Herz klopfte mindestens so schnell wie das des Sekretärs. Wenn er wenigstens bis zum Dom und der Liebfrauenkirche oder gar bis jenseits des Marktplatzes kam. Dann hatte er eine gute Chance.

Ein klobiges Ochsenfuhrwerk, das Basaltblöcke für einen Steinmetz geladen hatte, rumpelte an ihnen vorbei. Und mit einer katzenhaften Behändigkeit, die Jakob dem Sekretär nicht zugetraut hätte, griff Coppeldiek nach der niedrigen Seitenwand, hechtete nach vorn, um dem vermeintlichen Messer in seinem Rücken zu entkommen, und sprang hinter die Blöcke auf die Ladefläche. Und sowie er in Sicherheit war, schrie er mit gellender, sich überschlagender Stimme, aus der noch immer Angst, aber auch schon Triumph sprach: »Haltet den Mann dort!. Haltet den Verbrecher!. Er wird gesucht!. Auf seinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt!« Dabei gestikulierte er wild und wies auf Jakob. »Er hat ein Messer und wollte mich abstechen! Haltet ihn! Zehn Taler dem, der ihn überwältigt! Ihm nach, Männer!«

Jakob rannte schon, kaum dass Laurentis Coppeldiek ihm entkommen war und auf dem Fuhrwerk hinter den Basaltsteinen Schutz gesucht hatte. Er lief so schnell er konnte. Ein hastiger Blick über die Schulter bestätigte seine Befürchtung, dass mehrere Männer, die sich dort auf der Straße aufgehalten hatten, ihn verfolgten. Zwei Männer, deren abgerissene Kleidung sie als Tagelöhner auswies, waren ihm besonders dicht auf den Fersen. Was bei einer Belohnung von zehn Talern kein Wunder war. Die Aussicht auf solch einen Batzen Geld machte schnelle Beine.

Aber ebenso die Aussicht auf ein langsames, qualvolles Ende in der Folterkammer! Jakob lief so schnell, wie er wohl noch nie in seinem Leben gelaufen war, nicht mal in der Nacht seiner Flucht aus Himmerod. Er rannte, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Und wahrlich - was konnte teuflischer sein als die Behandlung, die der Domherr ihm zugedacht hatte?

Jakob versuchte seine Verfolger abzuhängen. Er rannte durch Gassen, die so schmal waren, dass zwei Personen nicht nebeneinander gehen konnten, kletterte über Mauern und nahm jede Gelegenheit wahr die Richtung zu ändern. Dabei geriet er dem Hauptmarkt und dem Kirchplatz, wo die Vaganten und Schausteller sich ausgebreitet hatten, immer näher. Auf einmal sah er vor sich die Zelte und die bunten Kastenwagen. Er lief darauf zu. Seitenstiche quälten ihn. Er benötigte dringend eine Atempause!

Kaum hatte er den ersten Wohnwagen zwischen sich und seine Verfolger gebracht, als er sich auch schon gegen eines der Räder lehnte und seinen schmerzenden Lungen einen Moment Atempause gönnte.

»Ist jemand hinter dir her?«

Jakob fuhr zusammen und richtete sich auf. Vor ihm stand das Mädchen Marga, jedoch nicht mehr in ihrem farbenroten Kostüm, sondern in einem einfachen, grauen Kattunkleid.

»Ja, und sie sind mir dicht auf den Fersen«, keuchte er.

»Ich höre es«, sagte sie, streckte ihm ihre Hand hin und forderte ihn dann auf: »Komm, ich weiß, wo du dich verstecken kannst!«

Jakob zögerte nicht lange, sondern ergriff ihre Hand und folgte Marga, die nun mit ihm zwischen den Wagen entlanglief. Sie führte ihn zu einem Wohnwagen, der schon sehr mitgenommen aussah. Die bunte Farbe war verblichen, sodass die Regenbogen, Sterne und astrologischen Zeichen kaum noch als solche zu erkennen waren.

Marga nahm die drei Stufen der kleinen Treppe mit einem Satz, stieß die Tür auf, zog ihn ins Innere des Wagens und verriegelte die Tür von innen. Keine Sekunde zu früh. Denn von draußen kam im nächsten Moment die atemlose Stimme eines Mannes: »Ja, ich habe ihn zwischen den Wagen verschwinden sehen!. Er muss hier irgendwo stecken!. Ihr geht am besten außen herum!. Hans, du kommst mit mir!«

»Himmel, das war knapp!«, stieß Jakob hervor.

»Sie werden die Wagen durchsuchen!«

»Du hast Recht. Und was jetzt?«

»Komm mit nach hinten!«

Jakob hatte nicht einmal Zeit sich flüchtig umzusehen. Die Vorhänge vor den beiden kleinen Fenstern waren zugezogen, sodass nur wenig Tageslicht eindrang. Er nahm rechts und links je eine Sitzbank wahr, die wohl auch als Schlafstelle dienten, und darüber eine Reihe von Staukästen. Von der Decke und an Wandhaken hingen allerlei Kostüme und Gerätschaften.

Marga kniete sich am Ende des Wohnwagens auf den Boden, schob einen kleinen Haufen Tücher und Kleider zur Seite und klappte eine Luke auf, die im Bretterboden eingelassen war. »Komm, hilf mir!«

Unter der Luke befand sich ein Hohlraum, der mit bauchigen, großen Korbflaschen gefüllt war. Sie hoben vier von ihnen heraus. Ein Geruch, der ihn an Branntwein erinnerte, drang Jakob dabei in die Nase.

»Das muss reichen! Nichts wie rein mit dir!«, drängte sie. »Sie können jeden Augenblick an die Tür klopfen. Und Zigeuner wie uns fasst man nicht gerade mit Samthandschuhen an, schon gar nicht, wenn man uns mal wieder im Verdacht hat irgendetwas Schändliches begangen zu haben. Also bete, dass wir Glück haben und ich als Schauspielerin besser bin denn als Jongleurin mit Fackeln!«

Jakob nickte und kroch hastig zwischen die Korbflaschen in den engen Hohlraum. Er musste sich reichlich verrenken, um dort Platz zu finden. Doch es ging und die Angst war eine große Helferin. Marga schloss die Luke und er hörte, wie sie einige der Korbflaschen, die sie aus dem verborgenen Stauraum geholt hatten, oben auf die Bretter stellte.

»Rühr dich bloß nicht da unten, wenn du uns nicht beide ins Verderben bringen willst!«, rief sie ihm zu.

»Ich werde so still und reglos sein wie ein toter Fisch!«, versprach er.

Gekrümmt lag er zwischen den Korbflaschen und wagte kaum zu atmen. Sein Herz hämmerte wie verrückt, während er auf die Geräusche lauschte, die von oben kamen und von draußen. Die erregten Stimmen ließen keinen Zweifel, dass seine Verfolger in den Wagen nach ihm suchten - und rasch näher kamen.

Dann hämmerte eine Männerfaust auch schon gegen die Tür und rüttelte am Schloss. »Aufmachen, verdammte Vaganten! Macht auf oder es bekommt Euch schlecht!. Wir suchen einen entflohenen Verbrecher!«

»Einen Augenblick!«, antwortete Marga unwirsch. »Ich bin gerade dabei, mich umzuziehen!«

»Sofort, habe ich gesagt! Keine Ausflüchte, Weib! Oder wir schlagen die Tür ein!«

Jakob hörte, wie Marga den Riegel zurückschob. In Schweiß gebadet, lag er in seinem Versteck. Die Angst jeden Moment entdeckt und hervorgezerrt zu werden bewirkte in ihm ein starkes Übelkeitsgefühl.

»Was wollt Ihr von mir?«, fragte Marga halb ärgerlich, halb verstört. »Ich habe nichts verbrochen! Und es ist eine Schande, dass Ihr mir keine Zeit gegeben habt mich züchtig zu bedecken.«

Schadenfrohes Gelächter kam von der Tür.

»Schau dir doch mal dieses Liebchen an!«, spottete einer der Männer. »Ist das nicht ein einladender Anblick, Willem?«

»Kann man wohl sagen, knackig wie ein Floh, der einem das Fell juckt. Nur die stinkende Vagantendecke stört.«

Jakob glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können. Das Mädchen hatte sich vollkommen ausgezogen und stand nur mit einer Decke, mit der es seine Blößen wohl absichtlich kaum bedeckte, vor diesen lüsternen Männern?

»Ja, da kann einem richtig warm ums Herz werden - und anderswo auch. Na komm schon, lass die Decke fallen und zeig uns den Rest, Zigeunermädchen!«, forderte der Mann namens Hans sie auf. »Nur nicht so prüde. Es weiß doch jeder, dass ihr für alles zu haben seid und so etwas wie Scham und Anstand nicht kennt.«

»Sagt, was Ihr von mir wollt, und dann verschwindet besser, bevor Ihr es mit meinem Vater zu tun bekommt!«, warnte Marga sie erbost. »Er hat ein verdammt hitziges Gemüt und mehr als einmal zum Messer gegriffen, wenn mir jemand auch bloß einen anzüglichen Blick zugeworfen hat! Also sucht Euch aus, wonach Euch der Sinn steht!«

»Wenn ich dich so ansehe, fällt mir eine Menge ein, wonach mir der Sinn steht, Liebchen. Und ich bin sicher, dass wir uns über den Preis.«

»Lass den Quatsch, Hans!«, fiel nun der andere ungeduldig ein. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Oder willst du den Kerl entwischen lassen? Wenn wir uns die Belohnung von zehn Talern verdienen, können wir uns die besten der barmherzigen Schwestern im Dutzend leisten!«

»Zehn Taler Belohnung wofür?«, fragte Marga mit unverhohlenem Interesse. »Wovon redet Ihr?«

»Wir suchen einen jungen Burschen«, erklärte Hans barsch und gab eine kurze Beschreibung von Jakob. »Hast du den Kerl gesehen?«

»Eurer Beschreibung nach kann er kaum ein Zigeuner sein«, stellte Marga sich dumm.

»Nein, zu diesem von Gott verfluchten fahrenden Volk gehört er nicht!«, lautete die grobe Antwort.

Marga lachte grimmig auf. »Und dann sucht Ihr ihn hier? Mein Gott, wie wenig wisst Ihr doch über uns Zigeuner! Sehe ich vielleicht so aus, als würde ich einen jungen Mann, der gar nicht zu unserer Sippe gehört, hier im Wagen verstecken? Ich muss in mein neues Kostüm, und wenn Ihr mir nicht glaubt, seht Euch doch selbst im Wagen um. Aber wenn mein Vater kommt und mich so mit Euch entdeckt. also, das ist Eure Sache.«

»Das können wir uns sparen. Hier steckt er nicht, das sieht doch ein Blinder«, sagte einer der Männer. »Los, zum nächsten Wagen. Vielleicht ist er ja auch schon drüben auf dem Markt untergetaucht!«

»Vielleicht sehen wir uns später noch mal, Liebchen«, sagte der Begleiter spöttisch. »Ein paar Fettmännchen wärst du mir schon wert.«

Die Männer sprangen von der Treppe und liefen zum nächsten Wagen. Marga verriegelte schnell wieder die Tür. Dann schob sie die schweren Korbflaschen von der Luke. »Du kannst aus dem Loch kommen. Aber wenn du Anstand hast, hältst du deine Augen für einen Augenblick geschlossen!«

Jakob tat, wie ihm geheißen. Er hob die Luke an, richtete sich auf und trat vorsichtig aus dem Hohlraum - mit geschlossenen Augen. Dabei konnte er jedoch nicht verhindern, dass er sich dieses hübsche Mädchen in Gedanken genau in jenem Zustand vorstellte, in dem es von Gott geschaffen war. Er hörte das Rascheln von Stoff, als sie sich nun schnell wieder anzog.

»So, fertig. Du brauchst nicht länger den Blinden zu spielen«, sagte sie dann.

Jakob öffnete die Augen. Marga hatte ihm den Rücken zugekehrt und drehte sich nun zu ihm um. Mit einer verlegenen Geste und leicht geröteten Wangen strich sie über ihr Kattunkleid. »So etwas tue ich wirklich nicht alle Tage«, sagte sie, als müsste sie sich für eine schamlose Tat entschuldigen.

Jakob verzog das Gesicht. »Das hätte ich auch nie angenommen. Danke, dass du mich gerettet hast. Ich werde nie wieder gutmachen können, was du für mich getan und riskiert hast. Das war unglaublich mutig von dir, Marga.«

»Ach was«, sagte sie und winkte verlegen ab. »Mir ist eben auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen. Außerdem bin ich dir was schuldig gewesen, wo du doch auch mir geholfen hast! Was glaubst du, was ich erlebt hätte, wenn es zu einem richtigen Brand gekommen wäre. Demeter hätte mich mit dem Ledergurt grün und blau geprügelt. Aber lassen wir das. Wie heißt du überhaupt?«

»Jakob Tillmann. Und du heißt Marga, nicht wahr?«

Sie nickte. »Marga Bandi. Und du bist aus Trier?«

»Nein, ich komme aus dem Bergischen Land«, antwortete er und verriet ihr damit mehr über seine Herkunft, als er Bruder Basilius und dem Schweden anvertraut hatte.

»Hast du etwas Schlimmes verbrochen, dass man dich sucht und zehn Taler auf deinen Kopf ausgesetzt hat?«, fragte sie mehr neugierig als argwöhnisch.

»Das einzige Verbrechen, das ich begangen habe, ist, dass ich mich eines alten, sterbenskranken Mönches angenommen und ihn in ein Kloster gebracht habe, ohne zu ahnen, dass er in eine gefährliche Sache verstrickt war und dass ebenso einflussreiche wie skrupellose Kirchenmänner mich deshalb auf der Folter sehen wollen!«

»Man will dich foltern?«, stieß sie entsetzt hervor.

Jakob nickte. »Sie hatten mich schon in der Folterkammer und ich bin ihnen gerade noch im letzten Moment entkommen.«

»Aber wer will dich denn foltern? Und warum, wenn du doch gar nichts weißt, wie du sagst?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Und für lange Geschichten ist jetzt keine Zeit«, erkannte Marga.

»Genau«, sagte Jakob und sank auf eine Sitzbank. Er bereute nun bitter, dass er seinen Drang, einen Streifzug durch die Stadt zu machen, nicht beherrscht hatte. Wäre er oben auf dem Dachboden des Gasthauses geblieben, wäre er auch Laurentis Coppeldiek nicht in die Arme gelaufen. Der Sekretär hatte bestimmt schon den Domherrn und dieser alle Torwachen und Amtleute alarmiert. Bald würde eine systematische Suche nach ihm beginnen, die es ihm vielleicht sogar unmöglich machte unbemerkt das Versteck unter dem Dach vom Roten Ochsen zu erreichen, geschweige denn mit Bruder Basilius und Henrik Wassmo aus Trier zu entkommen! Hätte er doch bloß auf den Mönch gehört. Bruder Basilius hatte schon gewusst, warum er ihm jeden Ausgang verwehrt hatte. Und nun hatte er ihrer aller Leben in noch größere Gefahr gebracht, nur weil er unbedingt seinen eigenen Kopf hatte durchsetzen müssen! Nun erhielt er die Rechnung dafür.

»Hast du irgendwo hier in der Stadt einen Schlupfwinkel, wo du dich verstecken kannst und vor deinen Verfolgern sicher bist?«, wollte Marga wissen.

»Ja, schon. aber wie komme ich jetzt dahin? Das Versteck ist ein gutes Stück von hier entfernt, fast auf der anderen Seite der Stadt. Man wird überall die Augen nach mir aufhalten.«

»Mhm«, machte Marga und wickelte eine Strähne ihres schulterlangen, blau schimmernden Haares um ihren Zeigefinger, während sie nachdachte. »Bis zur Dunkelheit kannst du jedenfalls nicht warten. Dann fällst du garantiert den Kettenwärtern auf, die bei Einbruch der Nacht überall in der Stadt die Straßenketten schließen. Außerdem wird Demeter dir nicht erlauben dich so lange hier im Wagen versteckt zu halten. Es ist nämlich gut möglich, dass unsere Wagen noch einmal durchsucht werden. Uns fahrendem Volk traut man ja alles Schlechte zu.«

»Es war dumm von mir, dass ich mich auf die Straßen hinausgewagt habe!« Jakob machte sich bittere Selbstvorwürfe. »Ich hätte mich still verhalten und in Geduld üben sollen, wie man es mir geraten hatte!«

Marga sah ihn plötzlich mit gefurchter Stirn an. »Warte mal, da kommt mir eine Idee!«

»Weißt du einen Ausweg? Ist dir etwas eingefallen, wie ich meinen Hals noch einmal aus der Schlinge ziehen kann?«

»Wer immer nach dir sucht, wird nach einem jungen Mann in abgerissener Kleidung Ausschau halten, nicht wahr?«

Jakob nickte. »Ja, sicher.«

»Aber nicht nach einer alten Frau!« Sie lachte ihn an. »Und als alte Frau wirst du diesen Wagen verlassen!«

Jakob sah sie verständnislos an. »Als alte Frau? Und wie willst du dieses Kunststück fertig bringen? Erzähl mir bloß nicht, dass du dich auf Hexerei und schwarze Magie verstehst!«

Sie winkte lachend ab. »Ach was, das geht ohne Hexerei. Ich muss bei unseren Schwänken selbst oft eine alte Frau spielen, seit Demeters ältere Schwester tot ist. Du bist ziemlich dürr, Jakob Tillmann, und hast glücklicherweise keinen Bartwuchs. Mit den richtigen Kleidern, einer Perücke und ein bisschen Schminke wirst du dich selbst nicht wieder erkennen, das verspreche ich dir.«

»Gebe Gott, dass du nicht zu viel versprichst!«

»Lass uns an die Arbeit gehen! Ich wette, dass dir die Sachen von Rosa passen werden. Sie war am Schluss auch nur noch Haut und Knochen.«

»Wer ist Rosa?«

»Rosa ist nicht mehr, sie war einmal. Demeters ältere Schwester ist vor ein paar Wochen gestorben. Die Schwindsucht hat sie dahingerafft«, teilte Marga ihm mit, während sie aus einem Leinensack Frauenkleider herauszerrte und ihm zuwarf. »Probier die Sachen an!«

Jakob zögerte.

Marga warf ihm einen spöttischen Blick über die Schulter zu. »Was ist? Worauf wartest du? Oder genierst du dich vielleicht vor mir? Ich verspreche dir auch nicht hinzugucken!«

Er wurde puterrot im Gesicht. »Blödsinn!«, brummte er, wandte ihr dann aber doch den Rücken zu, während er sich hastig bis auf seine Leibwäsche auszog. Er fuhr in das schlichte Kleid aus dunkelbraunem Flachstuch und legte dann das graue Mieder an.

»Bist du so weit?«

»Ja.«

Marga lachte belustigt, als sie ihn in den Frauenkleidern sah. »Nicht schlecht für den Anfang. Das Kleid passt wie angegossen!«

»Von wegen! Es schlottert mir um die Beine!«

»Das soll es doch auch. Eine alte, dürre, zahnlose Frau kommt doch nicht herausgeputzt daher wie ein Mädchen, das zum Tanz geht.«

Jakob sah sie erschrocken an. »Was meinst du mit zahnlos? Ich bin heilfroh, dass ich noch alle Zähne habe!«

Marga grinste vergnügt. »Dazu kommen wir gleich. Aber keine Sorge, ich werde dir deine Zähne schon nicht ausschlagen.« Sie zupfte an seinem Mieder. »Das sitzt noch nicht richtig, aber mit ein paar Nadeln kriegen wir das schon hin. Hier, zieh noch die löchrigen Wollstrümpfe an. Deine alten Stiefel werden wir gegen einfache Holzpantinen austauschen. Und jetzt setz mal die Perücke auf! Sie ist aus bestem Pferdehaar gefertigt und so gut gefärbt, dass die Farbe nicht auswäscht, selbst wenn es noch so heftig vom Himmel gießt.«

Die Perücke mit dem langen, zotteligen, grauen Pferdehaar presste sich eng an seinen Kopf, aber es ließ sich aushalten.

Marga klatschte begeistert in die Hände. »Ausgezeichnet! Du kriegst gleich noch Rosas alte Haube, dann verschwindet der Haaransatz unter dem breiten Saum. Jetzt müssen wir bloß noch dein junges Gesicht richtig schminken - und man wird dich für ein altes Bettelweib halten!«

Jakob seufzte nur, denn seine Skepsis war noch längst nicht ausgeräumt. Wie wollte sie es schaffen, dass er, ein junger Mann, wie ein altes Weib aussah?

Marga forderte ihn auf sich im gedämpften Licht eines Fensters auf die Koje zu setzen, klappte ein Seitenbrett hoch und holte aus einem der oberen Staukästen eine ganze Reihe von Tiegeln und Dosen, die mit Schminke, Asche, Holzkohle und Farbpulvern gefüllt war.

Sie tunkte ihre Fingerspitzen in eine der Dosen. »Halte jetzt still!«, forderte sie ihn auf und begann die graubraune Schminke auf seinem Gesicht aufzutragen.

Ihr Gesicht war seinem jetzt ganz nahe und er sah ihr in die blauen Augen, während er ihre Fingerkuppen spürte, die mit sanftem Druck über seine Haut glitten. Es fühlte sich fast so an, als würde sie ihn streicheln. Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn, eine Mischung aus Verlegenheit, Zuneigung und Wohlbehagen.

Sein Blick begegnete ihrem Blick. Ihre Hand unterbrach ihre kreisförmigen Bewegungen und verharrte auf seiner linken Wange. Sie sahen einander einen kurzen Augenblick an. Dann senkte sie ihren Blick und sagte: »Es ist besser, du schließt deine Augen. Ich muss auch da Schminke auftragen.«

»Ich gebe mich ganz in deine Hände«, sagte er und schloss folgsam die Augen.

Sie lachte leise. »Ja, was bleibt dir auch anderes übrig, nicht wahr?«

Marga arbeitete eine ganze Weile an seinem Gesicht. Er hörte das Klappern der Dosen und Tiegel - und spürte immer wieder ihre Finger auf seiner Haut. Es war ein schönes Gefühl und es gab lange Momente, da vergaß er völlig, warum er mit geschlossenen Augen in diesem Zigeunerwagen saß.

»Das muss genügen«, sagte sie schließlich und brach damit das Schweigen der letzten Minuten. »Jetzt zeig mir deine Zähne. Nur nicht so zaghaft. Du musst sie schon richtig blecken, wenn ich dir schwarzfaule Stummel und ein paar Lücken im Gebiss schminken soll.«

Jakob zeigte ihr die Zähne.

»So, fertig ist das alte Weib!«, rief Marga wenig später. »Du kannst die Augen wieder aufmachen und dich im Spiegel begutachten.«

Jakob starrte wortlos in den Spiegel, den Marga ihm nun hinhielt. Das Gesicht, das ihm da unter einer schmutzigen Haube mit breitem Saum und zwischen strähnigem, grauem Haar entgegenblickte, war ihm fremd - erschreckend fremd!

»Na, was ist?«

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Es ist nicht zu glauben!«, stieß er verblüfft hervor. »Wenn ich nicht wüsste, dass ich es bin, der da in den Spiegel blickt. also, dann würde ich es jetzt mit der Angst zu tun bekommen. Ich sehe tatsächlich wie ein altes Weib aus! Du bist wirklich eine Künstlerin, weißt du das?«

Marga lächelte geschmeichelt. »Das hat mir Rosa beigebracht. Und jetzt sollten wir uns beeilen aus dem Wagen zu kommen.«

Sie warf ihm Holzpantinen zu, stopfte seine Sachen in einen alten Weidenkorb und gab ihm noch ein schwarzes Schultertuch, das er sich über den Kopf legte.

»Bist du bereit?«, fragte sie dann, die Hand auf dem Riegel.

Jakob nickte beklommen.

Marga öffnete die Tür. Dann fiel ihr noch etwas ein. Sie drückte ihm einen knorrigen Stock in die Hand. »Der hat Rosa gehört. Und jetzt lass uns gehen.«

»Du willst mitkommen?«, fragte Jakob verwundert und mit leiser Stimme.

»Eine alte Frau, die sich auf einen Stock und auf ihre Enkelin stützen muss, ist viel unverdächtiger als ein altes Weib, das seltsamerweise aber so flott auf den Beinen ist wie ein junger Mann«, antwortete sie. »Und ich gehe jede Wette ein, dass du zwischendurch immer wieder mal vergisst, dass du dich wie eine alte, gebrechliche Frau benehmen musst, falls ich dich allein ziehen lasse.«

Er grinste schief. »Ja, vermutlich.«

»Du weist mir leise den Weg. Und denk immer daran, dass du ein altes Weib darstellst. Also krümm deinen Rücken und mach kleine, schlurfende Schritte. Und nun komm!«

Jakob hakte sich mit dem rechten Arm bei ihr ein und ließ sich von ihr die Treppe hinaufführen. Mit der anderen Hand stützte er sich auf den Stock, während er mit gesenktem Kopf nach rechts und links spähte.

Die ersten Amtsleute begegneten ihnen, als sie außen um den Marktplatz herumgingen. Jakob hatte Herzrasen und er fühlte sich tatsächlich zittrig wie ein altes Weib, als die Männer auf sie zukamen. Doch sie beachteten die beiden gar nicht und gingen vorbei, ohne ihnen auch nur einen zweiten Blick zu schenken.

»Es wirkt tatsächlich!«, murmelte Jakob.

»Natürlich, Rosa!. Meine Heilkräuter wirken Wunder, so als hätte man Jahrzehnte übersprungen. Und hab keine Sorge, ich habe dich fest im Griff!«, antwortete Marga belustigt.

Als sie die Straße hinter dem Markt hinuntergingen, stießen sie hinter einer scharfen Biegung plötzlich auf eine Sperre. Und bei den Posten, die dort aufgestellt waren, stand auch Laurentis Coppeldiek.

»Der kleine Mann mit den buschigen Augenbrauen, er kennt mich!«, stieß Jakob mit aufflammender Panik hervor. »Er gehört zu den Männern des Domherrn, der mich auf die Folter bringen will!«

»Ganz ruhig, Muttchen«, sagte Marga beruhigend. »Wir haben es nicht mehr weit. Bis zum Bader sind es bloß noch zwei Straßen. Er soll ein wahres Wundermittel gegen Schwindsucht haben. Nur Mut, Muttchen.« Sie sprach laut genug, so dass Laurentis Coppeldiek und die Männer, die bei ihm standen, sie gut hören konnten.

»Hast du Schwindsucht gesagt?«, rief einer der Posten ihr zu.

»Ach, das ist noch gar nicht sicher. Muttchen Rosa hat es wohl mit.«, begann Marga hastig, erhielt aber keine Gelegenheit ihren Satz zu beenden.

»Geh uns mit dem alten Weib bloß aus dem Weg!«, herrschte der Sekretär des Domherrn sie an. »Kommt uns bloß nicht zu nahe! Wer weiß, was ihr für Krankheiten einschleppt. Pack wie euch sollte man erst gar nicht in die Stadt lassen. Los, hinüber auf die andere Straßenseite mit euch!. Lasst sie durch!«

Marga zog Jakob auf die andere Straßenseite hinüber, wo nun einer der Kettenwärter die quer gespannte Eisenkette aushakte und schnell mehrere Schritte zurücktrat und ihnen den Rücken zuwandte, um nicht einmal mit ihrem Atem in Berührung zu kommen.

»Danke«, raunte Jakob, als sie die Sperre passiert hatten und rasch in die nächste Seitengasse einbogen. »Das hast du ganz ausgezeichnet gemacht. Du hast wirklich das Zeug zur Schauspielerin.«

»Das war kinderleicht. Ich brauchte mich doch bloß an das zu erinnern, was Rosa und mir die letzten Monate tausendmal widerfahren ist«, sagte Marga mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. »Niemand wollte mehr in ihrer Nähe sein und ihren Wagen betreten, als sie anfing Blut zu spucken. Deshalb hatte ich den Wagen nach ihrem Tod auch ganz für mich. Aber Demeter will ihn morgen, wenn wir Trier verlassen haben, draußen vor der Stadt mit Schwefel ausräuchern. Und dann bin ich mein eigenes kleines Reich los.«

»Ist Demeter der Mann, der dich auf der Bühne geohrfeigt hat?«, fragte Jakob.

»Ja, er ist das Oberhaupt der Sippe.«

»Und er ist auch dein Vater?« Jakob wagte nur zu sprechen, wenn niemand vor oder hinter ihnen war, der sie hätte hören können.

Sie schüttelte den Kopf. »Meine Eltern sind schon tot. Sie sind vor anderthalb Jahren bei einem Fährunglück im eisigen Rhein ertrunken.«

»Das tut mir Leid«, sagte Jakob. »Ich habe auch keine Eltern mehr. Meine Mutter ist aber schon vor zehn Jahren umgekommen. in einem Feuer. Meinen Vater habe ich nie kennen gelernt.« Er zögerte kurz und vertraute ihr dann ein weiteres persönliches Geheimnis an. »Er soll ein fescher Landsknecht aus dem Bayerischen gewesen sein, der nach dem Ende des Krieges auf dem Weg zurück in seine Heimat war, als er durch unser Dorf kam. Meine Mutter hat mit ihm angebändelt und fest darauf vertraut, dass er sie heiraten und mitnehmen würde. Doch er hat sich eines Tages bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht - und so bin ich denn als Bastard zur Welt gekommen. Wie mir meine Mutter erzählt hat, sollen die anderen Frauen im Dorf erst voller Neid und dann voll hämischer Schadenfreude gewesen sein.«

»Ich weiß, was es heißt gebrandmarkt zu sein und nicht wirklich dazuzugehören«, sagte Marga bedrückt, während Jakob sie durch das Viertel der Gerber und Färber lenkte.

Ihnen kamen Handwerker entgegen und für eine Weile schwiegen sie, weil auf den Straßen in diesem Viertel ein reges Kommen und Gehen herrschte.

»Wer ist denn nun dieser Demeter?«, wollte er leise wissen, als er wieder eine Gelegenheit zum Sprechen fand.

»So etwas wie ein Onkel väterlicherseits, dem ich es nie recht machen kann, jedenfalls nicht bei unseren Vorstellungen«, antwortete Marga. »Und seit Rosa tot ist, hat er wohl zudem noch vergessen, dass wir blutsverwandt sind. Er stellt mir nämlich bei jeder Gelegenheit nach, sodass ich meine liebe Not habe ihn mir vom Hals zu halten. Mal versucht er es mit Zuckerbrot, mal mit der Peitsche.«

»Das darfst du dir nicht von ihm gefallen lassen!«, rief Jakob erbost. »Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich ihm das nächste Mal damit drohen, ihn irgendwann im Schlaf mit einem Rasiermesser zu überraschen - und das mit ihm zu tun, was aus einem feurigen Hengst einen zahmen Wallach macht!«

Marga lachte. »Keine schlechte Idee! Eine solche Drohung könnte bei ihm wirken. Auf jeden Fall ist es einen Versuch wert, Muttchen Rosa.«

Jakob blieb stehen. »Da drüben ist es«, sagte er und deutete zum Gasthaus hinüber, wo das Holzschild mit dem roten Ochsen vor dem Eingang hing. »Hier trennen sich unsere Wege. Danke für alles, Marga.«

Sie gab seinen Arm frei und reichte ihm den Weidenkorb mit seinen Sachen. »Ach was, das habe ich doch gern getan. Und es hat mir Spaß gemacht.«

»Ich werde versuchen dir die Kleider und die Perücke wiederzugeben. Ich kann jemanden von der Schenke mit den Sachen zu euch schicken.«

»Besser, du behältst sie und keiner erfährt, dass ich dir geholfen habe. Das ist sicherer so. Niemand wird Rosas alte Kleider vermissen.«

Er nickte und wusste nicht, was er sagen sollte. Jetzt bereute er, dass er nicht das Risiko eines längeren Rückweges eingegangen war. Dann hätte er noch mehr Zeit mit ihr verbringen können. Mit verlegenen Mienen standen sie sich gegenüber. Keiner von ihnen schien endgültig Abschied nehmen zu wollen.

»Wohin werdet ihr ziehen, wenn ihr Trier morgen verlasst?«, fragte Jakob schließlich.

»Wohl die Mosel flussabwärts und dann den Rhein entlang. Zu Ostern wollen wir in Köln sein, wenn dort die große Frühjahrsmesse stattfindet. Und du? Was wird aus dir?«

Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich habe Freunde, die mich aus der Stadt schmuggeln wollen. Aber wohin es dann gehen soll, haben sie mir noch nicht verraten.«

»Vielleicht verschlägt es dich zu Ostern ja auch nach Köln«, sagte sie hoffnungsvoll. »Wir werden dort bestimmt mehrere Wochen bleiben.«

»Ja, das würde mir gefallen«, sagte er und schluckte. »Ich meine dich wieder zu sehen, Marga.«

Sie errötete leicht und nickte. »Irgendwann und irgendwo laufen wir uns bestimmt wieder über den Weg. Dann aber unter günstigeren Vorzeichen, versprochen?«

»Versprochen«, sagte Jakob mit belegter Stimme und wünschte, er könnte mit ihr nach Köln ziehen. Wie kam es bloß, dass man das Gefühl hatte einen Menschen schon lange zu kennen, obwohl man von dessen Existenz noch vor einer Stunde nicht die geringste Ahnung gehabt hatte? Er nahm ihre Hand zum Abschied. Dann aber folgte er einem spontanen Impuls, beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Pass auf dich auf und Gottes Segen, Marga!«

»Dir auch, Jakob!«, flüsterte sie.

Jakob wandte sich schnell um, überquerte die Gasse und trat durch das schmale, offene Tor neben der Außentreppe. Er drehte sich noch einmal um, weil er ihr zuwinken wollte. Doch Marga stand nicht mehr an der Straßenecke. Sie war verschwunden. Und der Gedanke, dass er ihr vielleicht nie wieder begegnen würde, erfüllte ihn mit schmerzlichem Bedauern, ja mit großer Traurigkeit.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

In Gedanken noch ganz bei seiner Begegnung mit Marga, stieg Jakob die Treppe hoch. Ein vernehmliches Räuspern holte ihn in die Gegenwart zurück und ließ ihn aufblicken. Oben auf dem Treppenabsatz des zweiten Obergeschosses stand Henrik Wassmo und versperrte den Zugang zum Dachboden.

»Ich glaube, Ihr habt Euch in der Treppe geirrt!«, sprach der Schwede ihn an. »Hier oben habt Ihr sicherlich nichts verloren, gute Frau.«

Obwohl Jakob mit einer geharnischten Strafpredigt rechnete, konnte er sich eines Grinsens nicht erwehren. »Aber guter Mann, Ihr werdet einem alten Mütterchen wie mir doch nicht die Tür weisen«, antwortete er spöttisch und mit kieksender Kopfstimme. »Meine müden Knochen sehnen sich nach meinem herrlichen Strohlager da oben.« Er wies mit dem knorrigen Stock in Richtung Dachboden. ». und mein Geist dürstet nach einem erbaulichen Vers aus Eurem reichen Psalmenschatz.«

Henrik machte ein entgeistertes Gesicht. »Jakob?«, stieß er dann ungläubig hervor. »Bei Zions Zimbeln, Ihr seid es tatsächlich!«

»Die Luft von Trier scheint mir schlecht zu bekommen, sie lässt mich zu schnell altern, findet Ihr nicht auch?«, gab sich Jakob unbekümmert, während er zu ihm hochstieg.

»Bei der Knute der Gottlosen, wo seid Ihr bloß gewesen? Und wo habt Ihr diese unglaubliche Verkleidung her?«, wollte der Schwede wissen und packte ihn mit schmerzhaftem Griff an der Schulter.

»Ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen. Aber ich habe es auf dem dunklen, muffigen Dachboden einfach nicht länger ausgehalten, Henrik«, sagte er entschuldigend, während sie ins Haus traten. Gleich links hinter der Tür führte die steile Stiege auf den Dachboden, dessen Bodenluke aufgeklappt stand. »Und diese tolle Verkleidung verdanke ich Marga.«

»Wer ist Marga?«, fragte der Schwede grimmig und gab ihm einen Schubs in Richtung Stiege.

»Ein Zigeunermädchen«, antwortete Jakob, um dann noch um einiges leiser hinzuzufügen: »Das genauso wenig tun und lassen kann, was es will, wie ich.«

Bruder Basilius saß im Licht der Dachluke auf einer Kiste und las in seinem Brevier. Auch er glaubte im ersten Moment eine alte Frau vor sich zu haben, als Jakob auf dem Dachboden auftauchte, und fragte Henrik verwundert, warum er diese Frau zu ihm führte. »Bringt sie Nachrichten von ihm? Weiß sie, wo er steckt?«

»Er ist es selbst, Bruder Basilius«, sagte Henrik, und als er sah, wie sich das verblüffte Gesicht des Mönches zu einem erbosten Ausdruck veränderte, rezitierte er begütigend: »Deine Ruhe hat er dir wiedergeschenkt; Seele, was hat er dir Gutes getan!«

Jakob hielt sich erst gar nicht mit umständlichen Entschuldigungen auf. Er wusste, dass er einen schwerwiegenden Fehler begangen und sie durch seinen eigenmächtigen Streifzug alle in noch größere Gefahr gebracht hatte. »Ich bitte um Absolution! Ich weiß, dass es nicht richtig war.«

»Nicht richtig?«, fiel ihm der Mönch grimmig ins Wort. »Habt Ihr überhaupt eine Vorstellung von den Sorgen, die wir uns die letzten Stunden gemacht haben?«

Jakob zeigte sich zerknirscht. »Es tut mir wirklich Leid, dass ich Euch Kummer bereitet habe, Bruder Basilius. Das wollte ich nicht. Aber ich habe es hier oben einfach nicht länger ertragen. Ich habe mich wie erdrückt gefühlt und musste an die frische Luft.«

»So, es tut Euch Leid! Und Ihr konntet es hier oben nicht länger ertragen! Na, vielleicht habt Ihr mehr Gefallen daran, diesen Dachboden wieder gegen die Folterkammer einzutauschen!«, hielt der Mönch ihm sarkastisch vor. »Gilt Euch mein Wort so wenig, dass Ihr Euch über meine Anweisungen so leicht hinwegsetzen könnt?«

Schuldbewusst und mit gesenktem Kopf stand Jakob vor ihm. Er hatte diese Ermahnungen und Vorhaltungen verdient und es gab wirklich keine Entschuldigung für sein Verhalten.

»Henrik, sagt ihm, wie es im 32. Psalm heißt!«, forderte Bruder Basilius den Schweden auf.

»Ihr seid doch mehr als Ross und Muli, die man mit Zaum und Zügel zwingt«, zitierte Henrik umgehend. »Euch sollte doch mein Wort schon lenken.«

»Ja, das sollte es!«, bekräftigte Bruder Basilius. »Wisst Ihr denn nicht, was hier auf dem Spiel steht?«

Jakob nickte stumm.

Henrik kam ihm nun zu Hilfe. »Herr, lass deinen Zorn verrauchen«, bat er psalmierend um Nachsicht. »Lass dein Erbarmen über uns kommen. Wie schön und lieblich ist es, wenn Brüder in Eintracht beisammen.«

Bruder Basilius warf ihm einen missgestimmten Blick zu, seufzte dann aber und sagte versöhnlich: »Ich lese ihm nicht die Leviten, weil mir das Vergnügen bereitet, Henrik. Es geht mir vielmehr darum, ihm zu Bewusstsein zu bringen, was für uns alle auf dem Spiel steht. Wir befinden uns nun mal in der Höhle des Löwen! Wie leicht hätte er da einem von Mundts Männern oder gar dem Domherrn selbst in die Arme laufen können.«

Jakob räusperte sich. »Genau das ist mir auch passiert. Zwar nicht Mundt und auch nicht dem Domherrn, aber doch seinem Sekretär, diesem Laurentis Coppeldiek«, eröffnete er ihnen und seine Ohren brannten vor Scham.

Der Mönch machte ein bestürztes Gesicht, sank auf seine Kiste und schloss kurz die Augen. »Oh Gott, du bist der Quell des Erbarmens und der Güte, wir stehen als Sünder vor dir und unser Gewissen klagt uns an. Sieh auf unsere Not und lass uns Vergebung finden vor dir!«, stieß er inbrünstig hervor.

Auch Henrik zeigte sich betroffen. »Und sie tauschen den Purpur der Beschämung für ihren eigenen Übermut ein«, stellte er mit einem Blick auf Jakobs hochrotes Gesicht fest. »Muss erst ein Greis werden, wer mit Einsicht gesegnet?«

Jakob zerrte Tuch, Haube und Perücke vom Kopf und setzte sich mit hängenden Schultern zu Bruder Basilius. »Ich weiß, dass ich mich verantwortungslos und wie ein Tölpel benommen habe. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Aber es ist nun mal geschehen«, sagte er beschämt.

Bruder Basilius atmete tief durch und legte ihm dann seine Hand auf den Arm. »Gut, reden wir nicht mehr darüber. Erzählt nun, was geschehen ist!«

Jakob berichtete ihnen in knappen, nüchternen Worten von seinem Streifzug durch die Stadt. Er schilderte, wie Laurentis Coppeldiek ihn erkannte und wie ihn das Zigeunermädchen Marga versteckt und durch ihre geniale Schminkkunst und die Verkleidung vor seinen Verfolgern gerettet hatte.

»Dem Himmel sei Dank für dieses Mädchen!«, rief Bruder Basilius, noch im Nachhinein erschrocken, wie nahe Jakob wieder der Ergreifung und damit der Folterkammer gewesen war.

»Aber sie hat Euch bis vor das Haus geführt, nicht wahr?«, vergewisserte sich Henrik mit besorgter Miene.

»Ja, aber ich vertraue ihr. Marga wird niemandem ein Wort von mir erzählen!«, beteuerte Jakob. »Sie wird dieses Geheimnis schon aus eigenem Interesse für sich behalten.«

Der Schwede warf Bruder Basilius einen sorgenvollen Blick zu, worauf dieser mit düsterer Miene zu Jakob sagte: »Ich zweifle nicht an Euren Worten. Aber kann sie dieses Geheimnis auch auf der Folter für sich bewahren?«

Jakob erschrak. »Auf der Folter? Aber wieso? Es weiß doch niemand, dass sie mich versteckt und mir zur Flucht verholfen hat! Und wenn jemand von ihren Leuten sie nach der alten Frau fragen sollte, dann wird ihr bestimmt eine harmlose und unverfängliche Erklärung einfallen.« Eine andere Möglichkeit wollte er nicht einmal vage in Erwägung ziehen.

»Hoffen wir, dass es so sein wird, Jakob«, sagte der Mönch.

»Die Zeit ist reif, die Stunde da«, meinte Henrik nun.

Bruder Basilius nickte. »Auch wenn dieses Zigeunermädchen unbehelligt bleibt, was Gott geben möge, sind wir unter diesem Dach nicht länger sicher. Wir müssen dieses Versteck umgehend räumen.«

»Aber warum denn?«, wollte Jakob wissen.

»Ihre Zunge steht Schlangenzungen nicht nach, ihr Gift nicht dem schillernder Ottern«, warf Henrik unheilvoll ein.

Bruder Basilius nickte ihm beipflichtend zu. »Und Domherr von Drolshagen ist in dieser Stadt mächtig genug, um sein Gift gleich kübelweise ausgießen zu können! Denn da er nun weiß, dass wir uns nicht irgendwo im Hunsrück herumtreiben, sondern uns in den Mauern von Trier versteckt haben, wird er ohne Frage eine groß angelegte Suche in Gang setzen, bei der Schenken und Gasthäuser natürlich ganz oben auf der Liste stehen werden!«

Daran hatte Jakob nicht gedacht. Ihm wurde ganz mulmig zu Mute. »Und was machen wir jetzt?«

Bruder Basilius sprang auf. »Wir packen unsere Sachen und begeben uns unverzüglich in die Werkstatt des Küfers Albrecht Hasenkötter!«, teilte er ihm mit. »Dem Himmel sei Dank, dass er schon mit den Vorbereitungen fertig ist. Wir werden nicht bis morgen warten, sondern es heute schon wagen aus der Stadt zu kommen.«

Henrik nickte. »Dann müssen wir zum Goldschmied. Vor allem aber müssen wir Fritz Däublin Bescheid geben.«

»Richtig, Däublin! Hoffentlich ist er nicht unterwegs. Übernehmt Ihr das, Henrik! Er soll so schnell wie möglich kommen. Und dann sucht den Goldschmied auf - und nehmt, was Ihr kriegen könnt«, trug Bruder Basilius ihm auf, während er seine wenigen Habseligkeiten in einen Beutel stopfte und sich dann wieder den dreckigen Kopfverband anlegte, der seine Augenklappe verbergen sollte. »Ich bringe indessen unsere vorwitzige alte Frau schon mal zu Hasenkötter hinüber.« Und zu Jakob, der mit blassem Gesicht dastand, sagte er, als wollte er ihm Mut machen: »Ein Segen, dass diese Marga Euch so täuschend hergerichtet hat. Davon werden wir beide profitieren. Ein Segen auch, dass die Werkstatt des Küfers nur ein paar Straßen von hier entfernt liegt.«

Der Schwede hatte augenblicklich den Dachboden verlassen. Wenige Minuten später hasteten auch Jakob und der Mönch die Außentreppe hinunter. Auf der ersten Etage, wo sich die Privaträume von Conradt Stroedecker und seiner Familie befanden, rief Bruder Basilius gedämpft nach dem Gastwirt. Die beiden Männer wechselten hastig ein paar Worte, dann umarmten sie sich kurz und der Mönch segnete ihn, bevor er zu Jakob zurückkehrte, mit ihm die letzten Treppenstufen hinuntereilte und ihn dann durch das Tor auf die Straße führte.

Jakob stützte sich auf seinen Stock und ging wieder in gekrümmter Haltung und kurzen, schlurfenden Schrittes durch die Gassen. »Ihr wollt doch wohl nicht versuchen uns in einer Tonne oder so aus der Stadt zu schmuggeln?« raunte er. »Die Torwachen werden bestimmt den Befehl haben kein Fuhrwerk und keine Kutsche ohne gründliche Durchsuchung passieren zu lassen. Und natürlich werden sie auch in jede große Kiste oder Tonne schauen und sich vergewissern, dass sich niemand darin versteckt hat! Jeder wird sich die ausgesetzte Belohnung von zehn Talern verdienen wollen!«

»Es wird sicherlich nicht einfach sein die Wachen zu übertölpeln«, räumte Bruder Basilius leise ein. »Aber mit Gottes Hilfe wird es uns schon gelingen. So, hier links. Da drüben ist die Werkstatt, gleich hinter der halb eingestürzten Mauer!«

Bruder Basilius führte ihn durch ein offen stehendes Tor in einen geräumigen Hinterhof, der zu einem gut Teil mit Fässern und Tonnen in den unterschiedlichsten Größen und Holzstärken voll gestellt war. Die Mauern der Werkstatt, die sich hinter einem Fachwerkhaus anschloss, bestand aus grob behauenen Steinquadern. Aus Holz gearbeitet waren allein die beiden Flügel des hohen Brettertores, das bis auf einen mannsbreiten Spalt geschlossen stand. Jakob hörte dumpfes, rhythmisches Hämmern und bemerkte den roten Schein starker Glut, als sie auf den Eingang der Küferwerkstatt zugingen. Der Mönch stieß eines der Flügeltore etwas weiter auf und schob Jakob vor sich her.

Ein stämmiger, muskulöser Mann, der über der nackten Brust nur eine kurze, ärmellose Jacke aus Schaffell trug, stand über ein halb fertiges Fass gebeugt, das Gesicht von Hitze und Feuerschein gerötet. Die Dauben waren am oberen Ende schon mit Holzringen zusammengefügt. Unten dagegen klafften sie noch weit auseinander und standen gespreizt auf dem festgestampften Lehmboden, sodass man zwischen ihren breiten Spalten gut die rot leuchtende, aufgetürmte Glut sehen konnte, die der Fassbinder für seine Arbeit brauchte. Albrecht Hasenkötter schwang einen klobigen, kurzstieli-gen Holzhammer mit breiten Flächen und schlug auf einen schmalen, länglichen Holzkeil ein, der auf dem oberen Holzring auflag und den er mit jedem Schlag ein wenig tiefer und damit fester um die Dauben drückte.

Überrascht blickte er nun von seiner Arbeit auf, wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und sagte verwundert: »Ihr seid ja schon wieder zurück, Pater! Gehört diese alte Frau auch zu Euch?« Abwehrend hob er die Hände, den würfelähnlichen Hammer in der einen und den Führungskeil in der anderen. »Eine vierte Person, die zudem auch noch so alt und gebrechlich ist, kann ich unmöglich.«

»Spart Euch Euren Atem, mein lieber Hasenkötter«, fiel Bruder Basilius ihm ins Wort, während er Jakob bedeutete die Perücke samt Haube und Schultertuch vom Kopf zu ziehen. »Die Frau ist ein Mann, wie Ihr seht, und er ist auch nicht alt und gebrechlich, sondern jung - und manchmal leider auch dementsprechend gedankenlos. Dieser jugendlichen Gedankenlosigkeit verdanken wir es denn auch, dass wir schon heute aus der Stadt müssen.«

»Mit dieser trefflichen Verkleidung seid Ihr auf meine Hilfe doch gar nicht angewiesen«, sagte Albrecht Hasenkötter zu Jakob. »Damit passiert Ihr alle Kontrollen und Torwächter!«

»Nicht, wenn man ihn anspricht und er den Mund aufmachen muss«, entgegnete Bruder Basilius. »Außerdem haben wir bis vor wenigen Minuten noch nichts von jener Person geahnt, die eine solch täuschende Schminkkunst beherrscht. Aber auch die beste Schminke wird nicht über mein fehlendes linkes Auge hinwegtäuschen können. Nein, es bleibt bei unserem ursprünglichen Plan.«

Albrecht Hasenkötter nickte. »Man merkt, dass Ihr ein Mann des Geistes seid und nichts unbedacht lasst, Pater. Nun, in Eurer Situation tut Ihr auch gut daran, kein unnötiges Risiko einzugehen. Und was meinen Part bei Eurem Plan betrifft, so kann es von mir aus jederzeit losgehen.«

»Darf ich jetzt erfahren, um was für einen Plan es sich handelt?«, fragte Jakob.

Bruder Basilius nickte. »Wie würde Henrik jetzt sagen? >Die Zeit ist reif, die Stunde da!<« Und zum Küfer gewandt sagte er: »Zeigt Ihm Euer meisterliches Werk!«

»Mit Vergnügen!« Albrecht Hasenkötter legte Hammer und Führungskeil aus der Hand, holte eine Laterne und führte Jakob dann in die hinterste, dunkle Ecke der Werkstatt.

Jakob runzelte die Brauen, als er nun im Licht der Laterne das gut vier Schritt lange und brusthohe Fass erblickte. »Darin sollen wir uns verstecken?«, fragte er besorgt.

Bruder Basilius, der ihnen gefolgt war, nickte. »Darin werden wir, mit ein bisschen Glück und Gottes Segen, unbemerkt aus der Stadt kommen.«

»Unmöglich!«, widersprach Jakob heftig. »Das Fass mag groß genug sein, um uns drei aufzunehmen, aber so eine große Tonne wird an jedem Tor Misstrauen erwecken und zu einer Durchsuchung führen. Und dann genügt schon ein einziger Blick ins Innere, um uns ans Messer zu liefern!«

Albrecht Hasenkötter und der Mönch tauschten einen vergnügten Blick und der Küfer sagte: »Nicht, wenn Hannes Däublin, einer unserer stadtbekannten Goldgräber, diese Tonne auf seinem Fuhrwerk hat.«

»Goldgräber?«, fragte Jakob irritiert. »Meint Ihr damit einen Kloakenreiniger?«

Albrecht Hasenkötter nickte schmunzelnd. »Ja, so werden bei uns die Leute genannt, die Kloaken und Abortgruben ausheben und die Jauche aus der Stadt bringen.«

»Aber dass diese Tonne ganz neu und nicht mit Kloakenjauche gefüllt ist, sieht doch ein Blinder!«, wandte Jakob ein.

»Keine Sorge, die Tonne wird bis oben hin gefüllt sein und schon aus guter Entfernung keinen Zweifel daran lassen, was sie in ihrem Bauch hat!«, versicherte Bruder Basilius. »Sollen die Wachen nur den Deckel öffnen und einen Blick hineinwerfen, wenn sie Lust danach verspüren.«

»Ja, aber. wenn das Fass gefüllt ist, wo und wie sollen wir uns dann darin verstecken, ohne in der Jauche zu ersaufen?«, wandte Jakob verständnislos ein. »Gibt es vielleicht einen zweiten Boden oder andere Hohlräume?«

Der Küfer schüttelte den Kopf. »Nein, dazu fehlte die Zeit.

Kommt, ich zeige Euch etwas!« Er beugte sich vor, hob dabei die Laterne an und deutete auf eine Stelle nahe des äußersten Holzringes. »Seht Ihr diese winzigen Löcher in der Mitte der Daube?«

»Nein, ich kann nichts entdecken.«

»Ich sagte ja, Euch ist ein meisterliches Werk gelungen!«, bemerkte Bruder Basilius hinter ihnen.

»Schaut genauer hin, Jakob! Genau hier vor meiner Fingerspitze!«, forderte der Fassbinder ihn auf und legte nun seinen Finger auf die Daube.

»Mein Gott, ja, jetzt sehe ich die Löcher!« Sie waren kaum größer als Nadelstiche und lagen auf einer kleinen Fläche von der Größe einer Pfennigmünze so nahe am Holzring, dass sie nur zu bemerken waren, wenn man genau wußte, wonach man zu suchen hatte.

»Es sind genau acht an der Zahl. Zu wenige, um aufzufallen, aber genug, um ausreichend Luft zu bekommen. Auf der anderen Seite der Tonne befinden sich zwei weitere durchlöcherte Stellen.«

Jakob runzelte verwirrt die Stirn. »Gut, es sind Luftlöcher. Aber wie sollen wir denn da durchatmen, wenn die Tonne mit Jauche gefüllt ist? Dann müssen wir uns ja den Kopf verrenken und den Mund ständig auf diese kleine Stelle gepresst halten!«, wandte er ein.

»Das hier wird es Euch ein wenig leichter machen«, antwortete Albrecht Hasenkötter, griff neben sich und reichte ihm im nächsten Moment einen Holzstab, der daumendick war und die Länge eines Unterarms besaß. Er war hohl und verfügte an einem Ende über ein Gewinde. »Dies hier schraubt Ihr von innen in Euer Atemloch. Ich kann zwar nicht garantieren, dass Ihr dabei keinen steifen Nacken bekommt, dafür aber ist sicher, dass Ihr genug Luft bekommt, sofern Ihr Euer Luftrohr schön im Mund behaltet.«

Verblüfft blickte Jakob auf das Holzrohr. Dann grinste er. »Keine schlechte Idee!«, sagte er beeindruckt und mit neuer Zuversicht. »So kann es wirklich gelingen!«

»Und ob es gelingen wird!«, bekräftigte Bruder Basilius. »Andernfalls.« Er beließ es dabei. Was sie erwartete, wenn bei der Sache irgendetwas schiefging, war ihnen allen nur zu gut bewusst.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Wenig später rumpelte ein schmutziges Fuhrwerk in den Hof des Fassbinders. Der durchdringende Geruch, der von dem Gefährt und dem halben Dutzend kleiner Tonnen ausging, die auf der offenen Ladefläche festgezurrt waren, sprach eine beredte Sprache: Fritz Däublin, der »Goldgräber«, war mit seinem Gespann eingetroffen!

Der Kloakenreiniger, der mit den Schindern und Gassenkehrern und den Totengräbern und Knochensammlern in jeder Stadt zu den anstößigen Außenseitern gehörte, deren Dienste man zwar dringend benötigte, deren Nähe man aber möglichst mied, war ein sehniger, älterer Mann mit einer Hasenscharte und lichtem Haar. Er machte nicht viel Worte. Man merkte ihm sofort an, dass er es gewohnt war sofort zur Sache zu kommen und ohne große Umschweife mit der Arbeit zu beginnen.

»Wie ich gehört habe, soll es heute noch losgehen, Pater?«, vergewisserte er sich.

Bruder Basilius nickte. »Die Zeit drängt.«

»Dann lasst uns an die Arbeit gehen!«

Fritz Däublin spannte sein Pferd aus und hing ihm den Futtersack ums Maul. Jakob packte dann mit an der Deichsel an und half ihm dabei, das Fuhrwerk rückwärts in die Werkstatt des Fassbinders zu schieben. Es kostete ihn einige Überwindung, neben dem Kloakenreiniger zu stehen und sich seinen Ekel nicht anmerken zu lassen. Innerlich schämte er sich seines Abscheus, verdankte er Männern wie ihm und Hasenkötter doch sein Leben, wenn es ihnen gelang aus Trier herauszukommen.

Bruder Basilius schien seine Gedanken und Empfindungen erraten zu können. Denn als Fritz Däublin zum Tor ging, um es wieder zu schließen, raunte der Mönch Jakob zu: »Von Beruf Kloakenreiniger, doch von der Gesinnung her vermutlich zehnmal mehr Ehrenmann und barmherziger Samariter als alle Ratsherren und Domherren von Trier zusammen! Sagt, ist Euch schon mal aufgefallen, dass Courage, Anstand und Hilfsbereitschaft abnehmen, je ehrbarer die Berufsstände sind, denen die Menschen angehören, und je angesehener und erfolgreicher sie sind?«

Jakob kam nicht dazu, ihm zu antworten, denn Fritz Däublin kehrte zu ihnen zurück. Sie luden die kleinen, mit Jauche gefüllten Behälter von der Ladefläche. Dann wuchteten sie zu viert die große Tonne auf das Fuhrwerk. Es passte haargenau zwischen die Holme.

Fritz Däublin zeigte sich von der Arbeit des Fassbinders hellauf begeistert. Das faustgroße Spundloch mit der kurzen Ablaufrinne hatte wie auch die große Einfüllöffnung genau die richtige Größe, wie er lobend feststellte.

Sie hatten gerade damit begonnen, das mächtige Fass mit Wasser zu füllen, als Henrik eintraf. Jakob beobachtete, wie der Schwede dem Mönch einen Beutel in die Hand drückte, und hörte ihn dabei sagen: »Mehr als den reinen Goldwert wollte er nicht bezahlen. Er sagte, er müsse den Ring völlig umarbeiten, bevor er ihn gefahrlos verkaufen kann. Und die Siegelplatte müsse er vernichten, um sich nicht selbst an den Galgen zu bringen. Für heute wird es ja reichen, aber was dann wird, weiß allein der Allmächtige.«

Bruder Basilius nickte. »Das ist nicht weiter schlimm, Henrik. Das Geld wird reichen. Bekümmern wir uns nicht heute schon um morgen. Jeder Tag hat seine eigenen Plagen. Ich hätte mich außerdem schon längst von dem Ring trennen sollen. Aber so hat er ja noch einen guten Zweck erfüllt«, sagte er und steckte den Beutel ein. »So und jetzt lass uns weitermachen. Es ist nicht zu glauben, wie viele Kübel Wasser in solch ein Fass passen!«

Fast eine Stunde brauchten sie, um das Fass in etwa drei viertel voll zu bekommen. Kübel um Kübel schleppten sie von der Pumpe zum Fuhrwerk. Über der Grube voller Glut, über der Albrecht Hasenkötter sonst die Fassdauben zusammenband, stand indessen ein Dreibein, an dessen Kette ein mit Wasser gefüllter Kessel über einem lodernden Feuer hing.

»Wir können nicht eine halbe Stunde oder noch länger in eisigem Wasser ausharren, ohne uns den Tod zu holen!«, hatte Bruder Basilius richtig erkannt. »Wir müssen das eiskalte Wasser durch einige Dutzend Kübel kochendes Wasser wenigstens ein wenig anwärmen.«

Wann immer das Wasser im Kessel kochte, kippten sie es in ihre Holzeimer und gossen es zu dem eisigen Wasser, das schon in der Tonne schwappte.

»Bevor wir nun die ersten Kübeljauche auskippen, solltet Ihr die Atemrohre ausprobieren und Euch mit Eurem Versteck schon ein wenig vertraut machen«, schlug der Küfer vor.

Henrik verzog das Gesicht. »Könnte ich doch mit der Morgenröte fliegen!«, seufzte er und begann sich zu entkleiden.

Jakob genierte sich etwas, als Bruder Basilius darauf bestand, dass sie alle Kleider ablegten. »Wir werden nachher dankbar sein trockene Sachen zum Anziehen zu haben!« Dann wandte er sich dem Kloakenreiniger und dem Küfer zu. »Dann lasst uns jetzt Abschied nehmen und Dank sagen, ein wenig Dank auch in klingender Münze.« Damit zog er den Geldbeutel hervor.

Beide Männer wehrten jedoch sogleich ab. »Nicht einen Heller nehme ich von Euch, Pater! Ich verdanke Euch mehr, als ich und meine Familie Euch jemals in irdischen Gütern zurückzahlen könnten!«, erklärte Albrecht Hasenkötter.

Auch Fritz Däublin lehnte entschieden ab. »Ich lasse mich nicht für etwas bezahlen, was mir mein Herz und mein Gewissen zu tun auftragen, ehrwürdiger Pater. Zu bitter haben die Menschen hier in Trier und im Umland unter dem blinden Toben der feinen Herren und Kanoniker zu leiden gehabt. Mein größter Lohn wird sein Euch und Eure Begleiter in Sicherheit zu wissen. Und wenn Ihr einmal Zeit findet unser zu gedenken, so schließt uns in Eure Gebete ein.«

Der Küfer nickte zustimmend. »Männern wie Euch verdanke ich es, dass ich auch in den schlimmen Jahren, als überall die Scheiterhaufen brannten, meinen Glauben an Gott und Kirche nicht verloren habe. Wir werden ewig in Eurer Schuld stehen!«

Bruder Basilius war sichtlich gerührt. Er legte jedem von ihnen eine Hand auf die Schulter und zog sie dann an sich. »Wer mit dem Herzen glaubt und mit dem Mund bekennt, wird Gerechtigkeit und Heil erlangen!«, sagte er mit bewegter Stimme. »Gott schütze und behüte Euch. Und seid gewiss: Ihr werdet stets in meinen Gebeten sein!«

Der Fassbinder reichte nun jedem von ihnen ein Holzrohr - und eine Holzklammer. »Setzt sie Euch auf die Nase, damit Ihr erst gar nicht in Versuchung kommt anders als durch den Mund zu atmen!«

Henrik tippte dem Kloakenreiniger auf die Schulter, als dieser sich wieder an die Arbeit machte die Kübel mit Wasser zu füllen. »Sagt, meine anderen Sachen. Ihr wisst schon«, raunte er andeutungsweise.

Fritz Däublin lächelte. »Liegt alles wie besprochen im Versteck für Euch bereit.«

Der Schwede atmete erleichtert auf. »Gut«, sagte er, schob sich sein Holzrohr hinters eine Ohr und die Nasenklammer hinters andere. Dann hockte er sich auf einen umgedrehten Eimer und zog seine Stiefel aus.

Bruder Basilius stieg ohne Scham aus Kutte und Untergewand, steckte sich seine Klammer auf die Nase, nahm sein Holzrohr, kletterte auf den Wagen und zwängte sich durch die Öffnung in das Fass. Jakob sah, dass der Körper des Mönchs von zahlreichen Narben gezeichnet war, Spuren seines Lebens, als er noch den Waffenrock getragen hatte. Er ließ seine Kleider, die er mit einer Hand schamhaft vor seinen nackten Körper gepresst hatte, nun fallen, nahm sein Luftrohr und folgte dem Mönch.

Das Wasser hatte eine angenehme Temperatur, wenn es auch nicht als richtig warm zu bezeichnen war, und reichte ihm schon bis zum Hals, als er sich neben Bruder Basilius unter sein Atemloch kauerte. Es war schon recht dunkel im Innern der lang gestreckten Tonne und er war froh, dass er nicht an Bruder Basilius’ Stelle am hinteren Ende saß, sondern in Armweite der Öffnung. Andernfalls hätte er wohl jetzt schon mit Platzangst zu kämpfen gehabt.

»Am besten kniet Ihr Euch hin«, riet ihm der Mönch mit nasaler Stimme, »und stützt Euch beim Fahren rechts und links an den Wänden ab. Dann ist die Gefahr nicht so groß, dass Ihr Euer Luftrohr aus dem Mund verliert. Und wenn doch mal Wasser in Euer Rohr eindringt, müsst Ihr das Wasser erst einmal ausblasen, bevor Ihr wieder Luft ansaugen könnt. Denn sonst bekommt Ihr Wasser in die Lunge und dann wird Euch schwer zu helfen sein.«

Jakob schraubte das Rohr ins Loch, legte den Kopf dann in den Nacken, sodass ihm das Wasser nun bis zu den Ohren schwappte, und nahm das untere Ende in den Mund. Er blies das Wasser hinaus, was wegen der winzigen Löcher einige Anstrengung verlangte, und machte dann mehrere Atemzüge durch das Rohr.

»Himmel, da muss man ja ganz ordentlich dran saugen! Wie ein junges Kalb an den Zitzen seiner Mutter, die wenig Milch in ihrem Euter hat!«, stieß er hervor.

»Manchmal ist es eben mit einiger Anstrengung verbunden, wenn man seine Haut retten will«, erwiderte der Mönch mit sanftem Spott.

Henrik kletterte nun zu ihnen in die Tonne und mit ihm stieg der Wasserstand so hoch, dass Jakob sich aufrichten musste und mit dem Kopf gegen die Wölbung stieß, um ohne Rohr noch Atem zu bekommen.

»Der Schwede schlägt die höchsten Wellen!«, rief Jakob, als Henrik zu seiner Luftöffnung kroch und dabei das Wasser ordentlich hin und her schwappen ließ. Er musste aufpassen, dass er Luft bekam, ohne dabei Wasser in den Mund zu bekommen.

»Genieße, solange du noch darfst, solange dein Kahn noch schwimmt auf heiterer Flut«, antwortete Henrik sarkastisch und nahm seinen Platz ein.

Fritz Däublins Gesicht erschien in der Öffnung. »Noch etwas: Wenn wir zum Tor kommen, werde ich mit dem Stiel meiner Peitsche zweimal kurz gegen die Tonne schlagen. Dann wisst Ihr, dass es ernst wird. Und wenn dann einer von Euch sein Luftrohr ausblasen muss, dann soll er es so langsam wie möglich tun, damit das Wasser nicht als auffällige, achtstrahlige Fontäne aus den Dauben geschossen kommt, sondern unbemerkt aus den Öffnungen sickert!«, ermahnte er sie. »Wenn wir das Stadttor passiert haben, klopfe ich mit dem Peitschenstiel viermal gegen die Seitenwand.«

Bruder Basilius, Jakob und Henrik versicherten, dass sie verstanden hatten und alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um die Nerven zu bewahren. Nur so war zu vermeiden, dass diese Fahrt in der Jauchetonne für sie alle in der Folterkammer oder auf dem Richtplatz vor der Stadt endete.

»Gut, und wer seine Klammer noch nicht auf der Nase hat, sollte es jetzt tun!«, riet ihnen Fritz Däublin. »Denn nun ist es an der Zeit diese Tonne nicht nur von außen zu beschmutzen, sondern ihr auch im Innern den Anschein zu geben, als würde sie einzig den stinkenden Inhalt einiger Kloaken bergen.«

Henrik stöhnte gequält auf. »Verfehlung mehr als Haare auf dem Haupte und Mut so viel wie Wasser in der Wüste!«, spottete er bitter über sich. »Mein Helfer du, in tiefster Nacht mein Licht, mein Gott und Retter, säume nicht!«

Hastig setzte sich Jakob nun die Klammer auf die Nase, hockte sich unter sein Luftrohr und presste mit seinem Atem das noch saubere Wasser durch die acht feinen Löcher in der Daube über ihm. Dann ergoss sich auch schon der erste Schwall Abwasser in die Tonne. Jakob schloss die Augen, setzte sich auf seine Knie, wie Bruder Basilius ihm geraten hatte, und atmete so ruhig wie möglich.

Es dauerte nicht lange und die Tonne war bis oben hin voll. Einer der Männer schloss den Deckel, und das Wissen, dass nun nicht ein einziger Lichtschimmer mehr zu ihnen in den Kloakentank fiel, steigerte Jakobs Gefühl der Beklemmung. Er versuchte sich abzulenken, indem er auf die Geräusche lauschte, die stark gedämpft von draußen zu ihnen drangen. Er vermochte jedoch weder eine Stimme zu erkennen noch ein Wort zu verstehen.

Ein Ruck ging durch das Fuhrwerk und Jakob folgerte, dass Fritz Däublin sein Pferd wieder eingespannt hatte.

Jetzt musste es jeden Moment losgehen! Er spreizte seine Beine etwas, um mehr Halt zu gewinnen, und tastete rechts und links nach den Wänden der Tonne.

Jakob hatte sich keinen Moment zu früh um festen Halt bemüht. Denn kaum hatte er sich zu beiden Seiten abgestützt, als sich das Fuhrwerk auch schon in Bewegung setzte und über die Schwelle der Küferwerkstatt rumpelte. Eine unsichtbare Kraft wollte ihn dabei nach hinten drücken. Wäre er unvorbereitet gewesen, hätte er vermutlich das Gleichgewicht verloren - und das Luftrohr aus dem Mund.

Den Kopf in den Nacken gelegt und den Mund angestrengt um das Atemrohr gepresst, so kniete Jakob vor Bruder Basilius und versuchte nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn sein Holzrohr brach oder wenn er sich vor Angst verschluckte. Währenddessen rollte das schwer beladene Fuhrwerk des Kloakenreinigers langsam durch die Gassen von Trier. Bis zur Porta Nigra, dem Nordtor, würden es nicht mehr als zehn, zwölf Minuten sein, wie Fritz Däublin ihnen beim Auffüllen der Tonne versichert hatte, und von dort bis zum ersten Halt hinter der Richtstätte, wo der Kloakenreiniger in einen Graben genug Wasser ablassen wollte, damit sie bei offener Luke und ohne ihre Holzrohre atmen konnten, waren es noch einmal fünf bis acht Minuten.

Aber schon nach kurzer Zeit spürte Jakob, dass sein verkrampfter Körper gegen die unnatürliche Haltung mit Schmerzen antwortete. Sein Nacken protestierte mit scharfen Stichen, seine Wangenmuskeln begannen zu schmerzen und seine Knie taten weh. Aber was konnte er schon dagegen tun? Es gab keine andere Haltung, die er hätte einnehmen können. Und er konnte auch schlecht den Deckel aufstoßen, um für einen Augenblick aufzutauchen und tief nach Luft zu schnappen.

Ignoriere die Schmerzen, Jakob, redete er sich zu. Du kannst sie aushalten und sie bringen dich nicht um - im Gegensatz zu Mundt und Drolshagen! Ignoriere alles! Ruhig atmen und bloß nicht die Nerven verlieren. Die paar Minuten hältst du durch. Es können doch bloß noch sechs, sieben Minuten sein. Lächerlich! Vergiss nicht, dass es um dein Leben geht. Du willst doch wohl nicht in die Folterkammer zurück, oder? Also reiß dich gefälligst zusammen, Bursche!

Für eine Weile gelang es ihm das gefährliche Gemisch aus Angst und Schmerzen, das in ihm brodelte, unter Kontrolle zu halten. Doch nach einigen Minuten wurde ihm jeder Atemzug zur Qual. Sein Herz begann immer schneller zu schlagen und seine Lungen schienen plötzlich nicht mehr genug Luft zu bekommen. Er atmete hastiger und verzweifelter.

Wo bleibt das Tor?, schrie es in ihm und er bewegte seinen Körper in wachsender Panik hin und her. Wo bleibt das verfluchte Tor! Ich halte es nicht mehr länger aus! Ich muss hier raus oder ich ersticke!

Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Bruder Basilius schien zu ahnen, was in ihm vor sich ging und wie gefährlich nahe er daran war, die Nerven zu verlieren. Mit kräftigem Druck presste er ihn hinunter, sodass Jakob wieder auf seinen Knien zu sitzen kam. Dann griff er nach seiner rechten Hand und schob seine Finger zwischen seine, sodass ihre Hände ineinander gefaltet lagen. Und so hielt er ihn fest.

Der stumme Beistand verfehlte nicht seine Wirkung. Jakob bekam die panikartige Aufwallung immerhin einigermaßen in den Griff. Zwar ließ sie ihn nicht ganz los, aber er schaffte es, sie mit äußerster Willensanstrengung unter Kontrolle zu halten.

Plötzlich kamen von vorn zwei dumpfe Stöße. Sie hatten das Stadttor erreicht! Jetzt würde es sich entscheiden, ob die Wachen auf die Täuschung hereinfielen.

Jakob hielt den Atem an.

Das Fuhrwerk schaukelte! Jemand kletterte an der Seite hoch! Unwillkürlich riss Jakob die Augen auf. Er sah, wie der Deckel geöffnet wurde und Licht zu ihnen durch die trübe Brühe drang. Etwas Schmales, Langes stach durch die Jauche und bohrte sich direkt vor seinen Knien in den Boden.

Eine der Wachen hatte eine Lanze in den Tank gerammt, wohl um zu sehen, ob die Tonne einen doppelten Boden hatte. Und die Spitze hatte ihn nur um weniges verfehlt!

Er starrte nach oben und sah, wie die Lanze wieder verschwand. Im hellen Kreis der Öffnung schwamm etwas Unförmiges. Doch bevor er feststellen konnte, was es war, knallte der Deckel wieder zu. Er hörte Stimmen, ohne jedoch verstehen zu können, was sie sagten. Und dann ruckte das Fuhrwerk wieder an.

Bruder Basilius drückte seine Hand und schüttelte sie, und Jakob beantwortete die Geste des stummen Jubels mit einem gleichsam kräftigen Händedruck. Sie hatten die Wachen passiert und rollten durch das Stadttor in die Freiheit!

Augenblicke später gab Fritz Däublin mit dem Peitschenstiel das verabredete Zeichen, dass die Mauern von Trier hinter ihnen lagen. Ihre Flucht war gelungen!

Vierundzwanzigstes Kapitel

Trotz des glücklichen Gefühls entkommen zu sein spürte Jakob immer noch entsetzliche Beklemmung und Atemnot. Es dauerte fast unerträglich lange, bis sie endlich den Graben hinter der Richtstätte erreicht hatten. Hier standen der Galgen und das große Rad, auf das diejenigen Unglücklichen mit ausgestreckten Armen und Beinen gespannt wurden, über die das Gericht den grausamen Tod durch Rädern ausgesprochen hatte. Denn Rädern bedeutete, dass man ihnen, gefesselt auf das Rad, mit der Axt die Gliedmaßen abhackte -und dass nach der Vollstreckung die Leichenteile den Krähen und anderem Getier zum Fraß überlassen blieben.

Fritz Däublin öffnete an diesem schauderhaften Ort, um den auch hart gesottene Gesellen einen großen Bogen machten, den Deckel und ließ ausreichend Jauche abfließen, sodass die drei im Innern des Fasses nun nicht mehr auf die Atemrohre angewiesen waren. »Aber haltet Euch ruhig und zeigt Euch bloß nicht in der Öffnung!«, rief er ihnen warnend zu, bevor er sich wieder auf den Kutschbock schwang.

Jakob richtete sich mit einem unterdrückten Laut des Schmerzes und der Erlösung auf, hütete sich aber die Augen zu öffnen oder die Nasenklammer abzunehmen. Er wollte weder sehen noch riechen, was ihn im Jauchetank umgab. Es reichte, dass er spürte, wie ab und zu etwas Festes, Haariges gegen seine Brust stieß, das oben auf dem Wasser trieb. Er wollte nicht wissen, was das war. Er konzentrierte sich vielmehr darauf, seinen schmerzenden Nacken zu massieren. Und welche Wohltat war es, eine andere Sitzhaltung einnehmen und sich wenigstens etwas bewegen zu können.

Nach einer weiteren Viertelstunde wurde der Weg, über den Fritz Däublin das Fuhrwerk lenkte, spürbar holpriger. Sie mussten sich nun wieder gut an den Seitenwänden der Tonne abstützen, um nicht zu stürzen und in der stinkenden Brühe unterzutauchen. Deutlich war auch zu hören, wie tief hängende Zweige außen an Wagen und Holztank entlangkratzten.

»Endlich sind wir im Wald!«, brach Jakob nun das angespannte Schweigen. Denn bisher hatte weder der Schwede noch Bruder Basilius ein Wort von sich gegeben.

»Dem Himmel sei Dank und Lobpreis!«, stieß der Mönch hervor, als das Fuhrwerk Augenblicke später zum Stehen kam und Fritz Däublin ihnen zurief, das Ende des Ausfluges sei nun erreicht. »Gott, du bist der Quell des Erbarmens und der Güte. Wir danken dir für deine Barmherzigkeit und deinen Beistand in dieser schweren Stunde!« Die Inbrunst, mit der er dem Allmächtigen dankte, verriet, wie sehr auch er gelitten hatte.

Auch Henrik gab seinem Gefühl der Erlösung unverhohlen Ausdruck: »Als Todeswogen bis zum Munde und Ströme Unheils mich umwanden, fast zugeschnürt des Todes Schlingen - in höchster Not rief ich zum Herrn, schrie ich zu meinem Gott hinauf.«

Bruder Basilius fiel in den Psalmtext mit ein und gemeinsam rezitierten sie die beiden nächsten Verse: »Er aber hörte mich in seinem Lichte und wie erschloss er mir sein Ohr!«

Jakob machte die Augen auf- und stieß einen gellenden Schrei aus. Direkt vor ihm schwammen zwei tote Ratten. Und er war sicher, dass diese beiden nicht die einzigen waren, die sich mit ihnen im Jauchetank befanden. Er sprang auf, stieß mit dem Kopf schmerzhaft gegen die Dauben und konnte sich nicht schnell genug durch die Öffnung ins Freie zwängen. Vor Übelkeit würgend, rutschte er die Tonne hinunter und sprang auf den moosigen Waldboden. Das Ekelgefühl war so stark, dass er für einen Moment völlig vergaß, dass er nicht einen einzigen Fetzen Stoff am Leib trug.

»Der Bach ist da drüben!«, rief Fritz Däublin ihm zu und wies auf die andere Seite des Fuhrwerks. »Dort könnt Ihr Euch waschen. Ich hole indessen Eure Kleider.«

Jakob rannte, wie von Furien gehetzt, zum Bach hinüber, der am Rand der schmalen Waldlichtung kraftvoll über glatt geschliffene Felsen hinwegrauschte. Dort, wo der Bach am breitesten war und eine wannenartige Mulde in seinem Bett aufwies, warf er sich der Länge nach hinein. Das eisige Wasser ließ ihn aufschreien und nach Atem ringen, aber er hieß diesen Schock willkommen, befreite er ihn doch von seinem Brechreiz. Er drückte seinen Kopf unter Wasser, rieb hektisch über Arme, Brust und Beine und drehte sich hin und her, damit die winterkalten Fluten allen Dreck von seinem Körper spülten. Dann hielt er es nicht länger im eisigen Bach aus und sprang auf. Keinen Augenblick zu früh.

»Macht Platz, Jakob!«, rief Bruder Basilius und stürzte sich gleichfalls in die wannenförmige Ausbuchtung im Bachbett. Henrik folgte ihm. Der Schwede kniete sich erst ans Ufer. »Da zog er mich aus der Grube, aus Unrat und Schlamm ans Licht!«, rief er, schöpfte mit beiden Händen Wasser und warf es sich ins Gesicht, immer und immer wieder. Erst als der Mönch sich von Kopf bis Fuß gesäubert hatte, legte auch Henrik sich in die natürliche Wanne, die der Bach an dieser Stelle geformt hatte.

Fritz Däublin hatte indessen ihre Kleidung gebracht, die er in zwei kleinen Fässern hinter dem Kutschbock versteckt gehabt hatte. Hastig kleideten sie sich nun wieder an.

Henrik warf sich seinen Umhang um und grinste Jakob zu. »Nacht und Bangen - weggegangen!«

Auch Bruder Basilius lächelte nun wieder, während seine immer noch nasse, tropfende Augenklappe den Eindruck erweckte, er würde mit dem rechten Auge lachen und mit dem linken weinen. »Ja, wie leicht ist es doch, all den Unrat von unserem Körper zu waschen und den Ekel vor uns selbst loszuwerden«, sagte er. »Wäre es doch nur halb so leicht, uns auch von all dem Unreinen zu befreien, das im Laufe unseres Lebens unser Herz verkrustet und unsere Seele beschmutzt!«

Fritz Däublin hatte sich in die Büsche geschlagen und kehrte nun mit zwei prallen Säcken zurück. Aus einem ragte das Griffstück von Henriks Degen hervor. »In diesem Sack hier sind die drei Deckenrollen und der Proviant«, sagte er. »Der andere enthält die Dinge, die Ihr mir anvertraut habt.«

Vermutlich auch Henriks Armbrust, dachte Jakob.

Der Kloakenreiniger nahm nun Abschied von ihnen, wendete auf der Waldlichtung und lenkte sein Fuhrwerk den Weg zurück, den er gekommen war. Er musste sich sputen, wenn er noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder in Trier sein wollte.

»Trennen sich hier auch unsere Wege?«, fragte Jakob beklommen. Er hatte keinen einzigen Heller in der Tasche und wusste auch nicht, wie er es verhindern sollte den Handlangern des Domherrn auf Dauer zu entkommen. Zwar konnte er auf Marga und ihre Sippe warten und sich ihnen vielleicht anschließen, wenn sie morgen Trier verließen und sich auf den Weg nach Köln machten. Aber wie lange konnte er sich bei diesen Zigeunern versteckt halten, die zudem mit ihren schweren Wagen bestimmt nur sehr langsam vorankamen? Und gut möglich, dass Demeter Bandi es ihm erst gar nicht erlauben würde sich ihnen anzuschließen. Wie sollte er sich also, ganz allein auf sich gestellt und die Männer des Domherrn im Nacken, bis nach Köln oder sonst wohin durchschlagen?

»Allein werdet Ihr nicht weit kommen, Jakob. In spätestens zwei, drei Tagen seid Ihr wieder dort, wo wir Euch mühsam herausgeholt haben - in der Folterkammer auf dem Turm des Greven«, sagte Bruder Basilius. »Nein, wir haben nicht so viel riskiert, um Euch nun wieder den Schergen des Domherrn auszuliefern. Dann hätten wir uns das alles ersparen können. Für halbherzige Sachen haben wir nicht viel übrig.«

Henrik nickte. »Geteilte Herzen sind mir ein Gräuel, denn nie lieben Halbe das Ganze ganz.«

»Ich halte es aus mehr als einem Grund für ratsam, dass wir vorerst zusammenbleiben, Jakob«, fuhr der Mönch fort. »Ein einzelner Stock ist leicht zu brechen. Doch wo sich drei verbinden, da bedarf es schon erheblich größerer Gewalt. Zudem sind drei Paar Augen wachsamer als nur eines.«

Jakob lächelte erleichtert. »Euer Angebot nehme ich nur zu gerne an, Bruder Basilius. Habt Ihr schon eine Idee, wohin wir uns wenden sollen und wie wir uns unsere Verfolger vom Hals halten können?«

»Unser erstes Ziel wird Winterbach sein, das zu den Wirtschaftshöfen von Himmerod gehört. Heute werden wir es nicht mehr schaffen, aber wenn wir scharf marschieren, dürften wir morgen noch vor der Mittagsstunde eintreffen. Mit ein bisschen Glück können wir dort drei Pferde erstehen. Zumindest wird Hofmeister Struphaver wissen, wo wir uns welche beschaffen können, ohne dass der Verkäufer es an die große Glocke hängt.«

»Und von dort aus reiten wir wohin?«

»In einem weiten Bogen, der uns erst einmal ein gutes Stück von Trier und der Mosel wegführt, über die Wirtschaftshöfe Schwicke-rath, Wirft, Rodenbusch und Dernau nach Koblenz!«, teilte Bruder Basilius ihm mit.

»Warum wählt Ihr eine Route, die uns über die Himmeroder Wirtschaftsgüter führt?«, wunderte sich Jakob.

»Weil ich die Verwalter auf diesen Höfen kenne und auf ihr Stillschweigen bauen kann. Bruder Tarzisius hat mehr Macht in Himmerod, als ihm eigentlich zusteht. Auf ihn und seinesgleichen trifft die Forderung des heiligen Ignatius von Loyola zu, die da heißt: >Für eine Prälatur soll rechtlich unfähig und untauglich sein, wem man nachweisen kann, dass er sie angestrebt hat!< Wer sich zu Macht und Ämtern drängt, sollte wahrhaftig von ihnen ausgeschlossen sein! Denn Männer wie der Subprior und der Domherr missbrauchen die Kirche und Gottes Namen für ihre persönlichen Machtgelüste«, erklärte er mit unverhohlenem Ingrimm. »Aber auch wenn Bruder Tarzisius ein Günstling der erzbischöflichen Kurie ist und in der Abtei viel Macht an sich gerissen hat, so bedeutet das noch lange nicht, dass er bei seinen Mitbrüdern beliebt ist. Auf jeden Fall fällt es weniger auf, wenn wir die Pferde auf einem der Himmeroder Wirtschaftshöfe kaufen, wo ich mich des Stillschweigens des Verwalters und seiner Männer sicher weiß, als auf einem fremden Hof, wo wir Neugier wecken und zu Gerede Anlass geben würden. Gerede, das früher oder später an die Ohren unserer Verfolger dringen dürfte.«

»Sind wir denn in Koblenz vor den Nachstellungen des Domherrn sicher?«, fragte Jakob hoffnungsvoll.

»Nein, sicher werden wir nirgends sein, solange von Drolshagen und die einflussreichen Männer hinter ihm noch Hoffnung haben die mutige Tat von Bruder Anselm auslöschen zu können, bevor sie bekannt wird und breite Wirkung erzielen kann«, antwortete der Mönch. »Aber seine Macht ist in Koblenz wesentlich geringer als in Trier, weil man sich gegenseitig nicht eben brüderlich gesonnen ist. Zudem hege ich die Hoffnung dort einen wichtigen Hinweis zu erhalten, um dem Domherrn zuvorzukommen.«

»Wem oder was wollt Ihr zuvorkommen? Ich weiß immer noch nicht, was es mit Bruder Anselm auf sich hat und weshalb von Drolshagen nicht vor Mord und Folter zurückschreckt, um zu erfahren, wo sich der ehemalige Abt die letzten Wochen seines Lebens aufgehalten hat. Meint Ihr nicht, dass es langsam an der Zeit ist mir reinen Wein einzuschenken?«, fragte Jakob.

»Nein, das meine ich nicht«, lautete die ungerührte Antwort des Mönches. »Zuerst einmal ist es an der Zeit, dass wir uns aus dem Staub machen und noch ein paar Meilen hinter uns bringen, bevor es dunkel wird.« Er warf Jakob eine Deckenrolle und einen kleinen Leinenbeutel mit Proviant zu, bevor er fortfuhr: »Wenn Ihr dann noch nicht zu müde seid Euch eine längere Geschichte anzuhören, will ich Euch meinetwegen in die Hintergründe all dieser Vorkommnisse einweihen.«

Jakob nickte mit einem zufriedenen Lächeln. »Das ist ein Wort, Bruder Basilius. Und ich werde ganz sicher nicht zu müde für Eure Geschichte sein, auch wenn wir bis in die Nacht hinein unterwegs sind!«, versicherte er.

Forschen Schrittes marschierten sie nun gen Norden. Das Moseltal lag im freundlichen Licht der späten Nachmittagssonne und kein Schnee beschwerte ihnen das Vorankommen, als sie am linksseitigen Flussufer die bewaldeten Hänge hinaufstiegen. Doch kaum hatten sie die Höhen des Ehranger Forstes erreicht, als sie in nördlichen Lagen wieder auf große Schneeflächen stießen. Dennoch gab es keinen Zweifel, dass der Frühling auch in der Eifel unwiderruflich Einzug gehalten hatte. Mutig reckten die ersten Blumen ihre Knospen der Sonne entgegen. Überall spross frisches Grün aus dem Boden und auch Büsche und Bäume begannen ihre winterkahlen Äste und Zweige mit einem neuen Blätterkleid zu schmücken, wenn auch viel zaghafter als der Wiesengrund und die Felder in den Tälern.

Jakob, Henrik und der Mönch legten sich mächtig ins Zeug, weil sie in den wenigen Stunden Tageslicht, die ihnen noch blieben, eine gute Strecke Weges zurücklegen wollten. Als die Sonne im Westen hinter den dunklen Wäldern versank, hielten sie abseits von Landstraße und Waldwegen Ausschau nach einem geeigneten Lagerplatz für die Nacht. Sie fanden eine kleine Lichtung und ganz in der Nähe nicht nur genug Feuerholz, sondern auch eine kleine Quelle.

Sie waren vom flotten Marschieren erhitzt und durstig. Der erste Schluck frischen Quellwassers schmeckte daher ungemein köstlich. »Mein Hals brennt scherbentrocken, die Zunge klebt am Gaumen wund!«, rief Henrik beim Anblick der Quelle und schlürfte das Wasser wie einen edlen Wein. »Oh, was für ein kostbares Nass!«

Auch Bruder Basilius stillte voller Wohlgenuss seinen Durst. Dann sagte er sinnierend: »Wenn uns etwas fehlt, wie dies Wasser etwa, dann tötet es uns. Wenn wir es im Überfluss haben, sodass wir darin ertrinken, tötet es ebenfalls. So auch mit dem Feuer und vielen anderen Gaben unseres Lebens. Ist das nicht ein wundersamer Fingerzeig unseres Schöpfers in allen Dingen Maß zu halten? Habgier, Tyrannei und Fanatismus führen früher oder später immer ins Verderben.«

Henrik pflichtete ihm bei und zitierte aus dem Psalter: »Ein Mensch, der arm im Reichtum lebt, weil er die Weisheit anderen überlässt, ja, dieser gleicht dem Tiere. Die Selbstherrlichen sind solche Armen, den Selbstgefälligen wird solches Los. Wie Schafe laufen sie zum Pferch des Todes, dem Hirten ohne Herz und Mund.«

Sie sammelten reichlich Holz im Wald zusammen und entzündeten ein Feuer gegen die zunehmende Abendkühle. Die warmen Decken um die Schultern gelegt, hockten sie am Feuer und brieten in den lodernden Flammen Kartoffeln und mehrere Streifen Fleisch. Dazu gab es körniges Brot und Quellwasser. Ein wahres Festessen, wie Jakob fand, der erst glaubte sich nicht satt essen zu können, dann aber eine seiner dicken Kartoffeln für den Morgen weglegen musste, weil er einfach nicht mehr konnte.

Längst war es Nacht geworden. Von einem klaren, fast wolkenlosen Himmel blinkten die Sterne herab, als hätte jemand planlos Myriaden von funkelnden Diamanten und leuchtenden Silberstaub über ein riesiges, samtschwarzes Seidentuch gestreut. Und wenn Henrik Holz nachwarf, dann sprühten Funken aus der Glut und schienen zu ihren fernen, kosmischen Brüdern und Schwestern aufsteigen zu wollen.

»Legen wir uns schlafen oder seid Ihr noch munter genug, um Euch eine Geschichte anzuhören, Jakob?«, fragte Bruder Basilius mit gutmütigem Spott in der Stimme.

Jakob lachte. »Der Schlaf kann warten! Heute lasse ich Euch nicht vom Haken. Also fangt nur an, ich höre!« Natürlich war er nach den Erlebnissen des Tages und dem anstrengenden Marsch müde, aber doch nicht zu müde für die Geschichte, die Bruder Basilius ihm versprochen hatte.

Es drängte ihn zu erfahren, was sich hinter den mysteriösen Vorfallen im Kloster und dem geheimnisvollen alten Mönch verbarg, den er bei Eis und Schnee nach Himmerod gebracht hatte. Endlich würde sich ihm offenbaren, in welch dunkles Geheimnis er ahnungslos hineingestolpert war und was Domherr Melchior von Drolshagen um jeden Preis in Erfahrung bringen wollte!

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Bruder Basilius faltete seine Decke doppelt und legte sie sich über Schulter und Rücken, um sich hinten vor der Kühle der Nacht zu schützen. »Damit Ihr versteht, wer Bruder Anselm war und was ihn zeit seines Lebens nicht in Ruhe gelassen hat, muss ich Euch zuerst von einem anderen tapferen Mann erzählen - und zwar von Bruder Anselms Jugendfreund, dem Jesuiten Friedrich Spee.«

Jakob schaute ihn über das Feuer hinweg an und wartete geduldig, während Henrik noch einen dicken Ast in die Flammen schob und dann zu seiner Schnitzarbeit griff.

»Friedrich Spee kam 1591 als Sohn eines Burgvogtes in Kaiserswerth, der Kaiserpfalz am Rhein, zur Welt - und zwar in einer Zeit, als marodierende Kriegshorden durch das Land zogen und hysterische Hexenjagden einen schrecklichen Blutzoll forderten. Allein im Trierer Umland starben mehrere hundert Menschen auf den Scheiterhaufen der Hexenjäger. Es gab hier Dörfer, wo nur ein, zwei Frauen die Massenschlächterei überlebten«, begann Bruder Basilius.

Jakob erschauerte und verschränkte die Arme vor der Brust, als vermochte ihn das Feuer nicht länger zu wärmen. Er war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war nach den Hintergründen zu fragen.

»Die Eltern des jungen Friedrich Spee hatten für ihren Sohn eine juristische Laufbahn im Dienst des Kölner Kurfürsten im Auge«, fuhr Bruder Basilius fort. »Deshalb schickten sie ihn im Jahre 1601 auf das Kölner Gymnasium Tricoronatum. Die spanischen Priester, wie die Jesuiten im Volksmund ja wegen ihres spanischen Ordensgründers Ignatius von Loyola auch genannt werden, hatten das Gymnasium damals schon zu einer berühmten Lehranstalt mit an die tausend Schülern gemacht. Hier lernten sich Friedrich Spee und Anselm von Picoll kennen. Beide trugen als Schultracht voller Stolz den roten Mantel mit goldenen Borten, der nur adeligen Schülern zusteht. Hier am Tricoronatum schlossen sie Freundschaft fürs Leben. Gemeinsam wechselten sie später an die Kölner Universität, wo sie 1609 den akademischen Grad des Baccalaureus erwarben. Dann trennten sich ihre Wege, obwohl sich beide für das Priestertum entschlossen hatten. Doch während Anselm von Picoll mehr dem zurückgezogenen Klosterleben in Gebet und Kontemplation zugeneigt war und daher in den Zisterzienserorden eintrat, entschloss sich Friedrich Spee für die >Gesellschaft Jesu< und wurde Jesuit.«

»Zisterzienser und Jesuit, ist das denn so ein großer Unterschied?«, wollte Jakob wissen.

»Oh ja!«, versicherte der Mönch. »Die Gemeinschaft der Zisterzienser ist bestimmt von der strengen Befolgung der benediktini-schen Regel und dem Grundsatz ora et labora - bete und arbeite, von Einfachheit und Strenge in klösterlicher Abgeschiedenheit, und sie strebt durch Hingabe an das Studium der Heiligen Schrift, das Gebet, die Meditation und schließlich die Kontemplation eine religiöse Vertiefung an.«

»Und was haben sich die Jesuiten auf ihr Ordensbanner geschrieben?«, fragte Jakob, während die Rufe eines Käuzchens aus dem Wald kamen.

»Ignatius von Loyola hat einen im weltlichen Leben sehr aktiven Orden ins Leben gerufen. Aus der Erkenntnis, dass die wahre Liebe zu Gott ohne die Liebe zum Nächsten nicht zu haben ist, hat er für seine Bruderschaft seine ganz eigene Konsequenz gezogen: Jesuiten sollen sich nicht hinter Klostermauern zurückziehen, sondern in die Welt hinausgehen. Sie sollen Gott in allen Dingen suchen und finden und sich dorthin begeben, wo Not und Verzweiflung herrschen. Gottesdienst will nicht gefeiert, sondern getan werden. Sich der dringlichsten Probleme der Gegenwart anzunehmen ist daher die große Aufgabe, die sich der Jesuitenorden gestellt und die ihm auch zu einer starken Weltfrömmigkeit verholfen hat. Jesuiten widmeten sich von Anfang an der Bildung des einfachen Volkes, was auch heute noch vielen Mächtigen in Staat und Kirche ein Dorn im Auge ist. Sie unterrichten, zumeist zu zweit, in Stadt- und Dorfpfarreien, verfassen einfache Katechismen, die sie kostenlos verteilen, benutzen ein vereinfachtes Messbuch und haben das Singen deutscher Kirchenlieder bei ihren Gottesdiensten zur Regel gemacht.«

»Ihr scheint für die Jesuiten große Bewunderung zu hegen«, stellte Jakob fest.

»Das habt Ihr richtig erkannt.«

»Warum seid Ihr dann nicht in die >Gesellschaft Jesu< eingetreten statt Zisterzienser zu werden?«

Der Mönch lächelte. »Jede Zeit hat ihre Aufgabe und jeder Mensch muss seinen ganz eigenen Weg finden, der ihn zum Innersten seines Wesens führt. Es hat in Gottes Schöpfungsplan schon seinen Sinn, warum nicht jeder Vogel als Adler geboren wird und warum der Regenwurm genauso wichtig ist wie der Schmetterling oder die fleißigen Bienen.«

»Der Mond, der Silberschmied der Nacht, steht genauso am Firmament wie die Sonne, die dem Tag vorangeht«, bemerkte Henrik wie zu sich selbst. »Und auch von den unendlich vielen anderen Gestirnen ist wohl nicht ein einziges einem anderen gleich.«

Jakob verstand. »Wann haben sich dieser Friedrich Spee und Bruder Anselm denn wieder gesehen?«, fragte er und brachte Bruder Basilius damit zum Kern seiner Geschichte zurück.

»Als die Hexenverfolgung wie ein böses Fieber um sich griff und zu einem entsetzlichen Blutrausch wurde«, antwortete Bruder Basilius. »Als in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts überall auf dem Land, aber auch in Trier und Köln, in Würzburg und Bamberg sowie in anderen fränkischen Hochstiften innerhalb weniger Jahre tausende Menschen im Feuer der Scheiterhaufen oder in den Folterkammern ihr Leben ließen, darunter auch unzählige Kinder von gerade mal zehn, zwölf Jahren.«

Jakob wünschte, er hätte nicht gefragt. Schweigend saß er da und starrte ins Feuer. Vor seinem geistigen Auge sah er jedoch die Flammen eines ganz anderen Feuers auflodern.

Bruder Basilius sah ihn aufmerksam an. »Glaubt Ihr an Hexen und Druden Jakob?«

Jakob biss sich auf die Lippen. Dann schüttelte er heftig den Kopf. »Nein!«, stieß er hervor.

Der Mönch nickte. »Gut, denn all dieses Gerede über Hexenflug und Pakt mit dem Teufel ist nichts als Aberglaube und Altweibergeschwätz. Dass Teufelsanbeter satanische Magie betreiben, sich in Kröten, Fliegen und anderes Getier verwandeln können, andere Menschen verhexen, mit ihrem angeblich bösen Blick Ernten vernichten und Missgeburten hervorrufen und dass sie nachts tote Kinder auf den Kirchhöfen ausgraben, um sie zu zerstückeln und zu Zauberelixieren zu zerkochen - all das sind die ebenso widerwärtigen wie unsinnigen geistigen Ausgeburten furchtsamer, verquerer Seelen.«

»Die aber unzählige Unschuldige auf den Scheiterhaufen gebracht haben und immer noch bringen!«, rief Jakob mit erregter Stimme. »Und zwar durch die Inquisitoren der Kirche, die diese gefolterten Frauen >zur Ehre Gottes durch das reinigende Feuer gehen lassen<, wie es doch stets heißt, wenn wieder einmal eine Hexe verbrannt wird!«

»Leider ist das die traurige und beschämende Wahrheit«, gestand Bruder Basilius. >»Nichts ist so absurd, dass es nicht von einem Philosophen oder Kirchenmann irgendwann einmal behauptet worden wäre.< Das hat schon Cicero erkannt. Der Hexenwahn gehört zu diesen absurden Theorien und er hat zu einem entsetzlichen Blutbad geführt. Dabei galt der Glaube an Hexen in der frühen Kirche geradezu als Beweis, dass man nicht an Gott und das Evangelium glaubte. Schon im Jahre 785 fasste eine Synode zu Paderborn einen drastischen Beschluss, der dem Hexenglauben ein Ende bereiten sollte und der in seinem entscheidenden Satz ungefähr so lautete: >Wer vom Teufel geblendet wie die Heiden glaubt, jemand sei eine Hexe und fresse Menschen, und wer diese Person deshalb verbrennt, der soll selbst mit dem Tode bestraft werden.< Das waren klare Worte, die damals von der Kanzel drangen und in den Schriften der Gelehrten Niederschlag fanden. Und solche Beschlüsse waren keine Seltenheit. So exkommunizierte beispielsweise ein irisches Konzil im 9. Jahrhundert jeden, der an die Existenz von Hexen glaubte. Und es schrieb vor einer Rückkehr in den Schoß der Kirche ausdrücklich einen öffentlichen Widerruf vor. Im 13. und 14. Jahrhundert machten Synoden auch in Trier, Mainz, Köln und anderswo mit Leuten, die solchen Aberglauben verbreiteten, kurzen Prozess, indem sie diese kurzerhand wie in Irland exkommunizierten. Und berühmte Theologen wie der Bischof von Chartres und später auch Männer wie Erasmus von Rotterdam nannten den Glauben an Hexen jammervolle Torheiten und Krankheiten des Geistes. Als bestes Heilmittel dagegen empfahlen sie solchem Gerede erst gar kein Gehör zu schenken.«

Jakob lachte bitter auf. »Und wie konnte es dann zu diesen fürchterlichen Hexenverfolgungen kommen?«

Bruder Basilius gab einen schweren Stoßseufzer von sich. »Ach, darauf gibt es nicht eine einzige, alles erklärende Antwort. Auf Euer Warum kann ich nur sagen: Weil die Menschen immer noch mehr Aberglauben als wahren Glauben an Gott und die Botschaft des Evangeliums besitzen. Weil die Verunsicherung durch die Glaubensspaltung und die Furcht vor dem Jüngsten Gericht und der Hölle, mit der so viele Priester ihre Gemeinden in Angst und Schrecken versetzen, das Vertrauen auf den Himmel zerstören sowie Missgunst, Hass und der Bereitschaft zur Gewalt Vorschub leisten. Weil Hexenrichter, Folterknechte und Scharfrichter sich ihr grausames Handwerk gut bezahlen lassen. Weil Städte und Gemeinde das Vermögen verurteilter Hexen und Drudner konfiszieren und sich daran bereichern können. Weil eine anonyme Denunziation schon reicht, um jemanden zur Hexe zu stempeln und sie auf die Folter zu bringen, sodass man sich auf diese Weise bequem eines unliebsamen Nachbarn oder gar Gläubigers entledigen kann. Vor allem aber weil Menschen in Zeiten der Verelendung, wo Missernten, fürchterliche Seuchen, Naturkatastrophen und Kriege das Land heimsuchen, Sündenböcke brauchen und einen Weg suchen, um ihrer Ohnmacht bei all dem Leid und Unglück auf irgendeine Weise Luft zu machen - mögen sie nun Juden, Zigeuner, Protestanten oder Hexen heißen.«

»Das allein kann es nicht sein, denn harte Zeiten gab es doch auch in den Jahrhunderten davor!«

»Ihr habt recht, Jakob. Sicherlich kamen mehrere unselige Umstände zusammen. So, wie Kalisalpeter, zerstoßene Holzkohle und Schwefel getrennt harmlos sind und keinen Schaden anrichten, in richtiger Mischung aber zu Schießpulver werden, bei dem es nur eines Funkens bedarf, um es explodieren zu lassen. Ich fürchte, die päpstliche Bulle Summis desiderantes affectibus von 1484 hat in Zusammenhang mit dem grotesken, aber leider rasch weit verbreiteten Malleus Maleficarum eine solch mörderische Mischung ergeben und die blutige Lawine der Hexenjagden losgetreten. Diese sogenannte >Bibel der Hexenrichter< hat auf jeden Fall die Aufmerksamkeit von vielen Kirchenmännern und Ratsherren geweckt und diese haben sich dann von dem Hexenwahn der Verfasser anstecken lassen.«

»Von diesem Malleus Maleficarum habe ich schon mal gehört«, sagte Jakob zögernd und mit angestrengtem Gesicht.

»Man nennt dieses ebenso dicke wie wirre Werk auch den Hexenhammer, eine unsägliche Sammlung von angeblichen Beweisen über das Unwesen der Hexen und sich wissenschaftlich gebärdenden Anregungen, wie man Hexen und Druden und andere Satanshörige angeblich überführen kann. Zwei Inquisitoren aus dem Dominikanerorden haben ihn verfasst, Heinrich Kramer und Jakob Sprenger. Beide stießen bei ihrer Verfolgung von Hexen auf starken Widerstand von kirchlichen und weltlichen Behörden. Um diesen Widerstand zu brechen, erwirkten sie 1484 von Papst Innozenz VIII. die Bulle Summis desiderantes affectibus, die es ihnen erlaubte ihre Arbeit fortzusetzen. Diese Bulle und ein Anerkennungsschreiben der Kölner Universität nahmen sie als Vorwort in ihren Hexenhammer auf, den sie drei Jahre später in Druck legten, sodass es den Anschein hatte, als wäre ihr Hexenfieber von Rom gebilligt und auch von höchsten deutschen theologischen Gremien abgesegnet.« Er seufzte. »Worte haben schöpferische oder zerstörerische Kräfte, sie können Engel gebären - oder Dämonen. Der Hexenhammer gebar zweifellos ein Heer von Dämonen.«

Er machte eine kurze Pause und für einen Moment war nur das Knistern und Knacken der brennenden Äste und das leise Raspeln von Henriks Federmesser zu hören. Dann fuhr er fort: »Ihren Kritikern machten die beiden Autoren in ihrem umfangreichen Traktat kühn und schnell den Prozess, indem sie nämlich glattweg behaupteten, dass jeder, der die Existenz von Satansbräuten und Hexerei in Abrede stelle, ein Ketzer und vermutlich selbst Satan untertänig sei!«

»Das ist perfide!«, sagte Jakob voller Abscheu. »Genau wie diese Wasserprobe für Hexen! Wenn man sie gefesselt in einen Fluss wirft und sie dabei ertrinken, dann hat sie der Dämon verlassen, was aber nichts an ihrem Tod ändert. Wenn sie aber über Wasser bleiben, dann ist das angeblich ein deutliches Zeichen, dass sie Hexen sind -und dann kommen sie unter die Folter und danach auf den Scheiterhaufen. In jedem Fall ist ihnen der Tod gewiss! Das ist Irrsinn, verbrecherische Willkür!«

Henrik nickte und murmelte bitter: »Sie haben Lippen und sind stumm geboren, haben Augen und sehen kein Leid. Sie haben Hände und können nicht segnen.«

Bruder Basilius stimmte ihm zu. »Ein Irrsinn im blutigen Gewand der Gottesstreiter! Denn natürlich bringt die Folter nur Lügen und falsche Geständnisse hervor. Wer vermag schon Tage oder gar Wochen der verschärften Tortur zu überstehen, ohne schließlich alles zu gestehen, was die Inquisitoren hören wollen und was sie den Gefolterten schon mit ihren Fragen in den Mund legen? Selbstverständlich gestehen diese armen Geschöpfe jeden Unsinn, nur damit die Qualen endlich ein Ende haben! Nach dieser perversen Methode angeblicher Wahrheitsfindung würden auch so gut wie alle Inquisitoren, wenn man sie auf die Folter spannte, auf dem Scheiterhaufen landen - ja, auch alle Ordensleute, Bischöfe, Kardinäle und sogar der Papst!«

Jakob kämpfte mit seinen Erinnerungen und schluckte schwer. »Was ist mit diesem Friedrich Spee und Bruder Anselm? Wolltet Ihr mir nicht von ihnen erzählen?« Eine gewisse Ungeduld lag in seiner Stimme.

Henrik blickte auf und sein Blick war so spöttisch wie seine Wor-te: »Das Korn wächst nicht schneller, wenn man auf die Halme schießt!«

Bruder Basilius hob begütigend die Hand. »Ich verstehe Eure Ungeduld Jakob. Aber das eine gehört zum andern, wie der Tag zur Nacht und der Schmerz zur Freude.« Er stieß mit seinem Stock einen dicken Ast in die Mitte des Feuers, dessen Flammenzungen gierig nach der neuen Nahrung griffen. »Friedrich Spee war ein großartiger Poet und Prediger - aber ein noch größerer Kämpfer gegen die Verblendung und den Hexenwahn. Als er um 1630 in Paderborn Vorlesungen hielt, da fanden im benachbarten Geseke über fünfhundert vermeintliche Hexen den Tod auf dem Scheiterhaufen. Und nur wenige Jahre vorher hatte sich in Bamberg der Fürstbischof wie ein Massenmörder aufgeführt und über 900 Hexen verbrennen lassen. Auch Trier, wo Friedrich Spee bei den Jesuiten sein Noviziat angetreten hatte, war eine Hochburg des Hexenwahns und die umliegenden Dörfer machten davon keine Ausnahme. All das bekam der Jesuit hautnah mit, wohin er auch ging, und er kämpfte mit heiligem Zorn gegen diesen Irrsinn an. Denn er kannte die Nacht der Hölle, durch die die Gefolterten gehen mussten. Er stieg nämlich in die schrecklichen Kerker hinab, redete mit den Gequälten und begleitete sie zur Richtstätte. Deshalb, so sagte man, sei er schon in so jungen Jahren schlohweiß geworden. Im Gegensatz zu vielen anderen Priestern und Schreibstubengelehrten, die mit Feder und Papier ebenso zu Massenmördern geworden sind wie die Inquisitoren, im Gegensatz zu diesen verblendeten Männern glaubte er an die Unschuld der Unglücklichen und verurteilte die Folter auf das Schärfste - genau wie Bruder Anselm, mit dem er in Kontakt blieb und der im Umland seines Klosters, dem er mittlerweile als Abt vorstand, gegen den Hexenwahn zu Felde zog und an Vernunft und Barmherzigkeit appellierte. Und dann verfasste Friedrich Spee die Cautio Criminalis. Sie erschien im Jahre 1631, also mitten im Krieg, beim protestantischen Buchdrucker Peter Lucius in Rinteln - anonym. Auetore incer-to theologo Romano steht auf dem Titelblatt, was übersetzt >von einem unbekannten römischen Theologen< heißt. Aber der Verdacht fiel schnell auf Friedrich Spee.«

»Und was ist das für ein Traktat gewesen?« Bruder Basilius schlug mit der geballten Faust in die Handfläche. »Eine vernichtende Kritik! Eine brillante und mutige Kampfschrift gegen die Hexenverfolgung, in der er mit den Theoretikern des Hexenglaubens wie mit den Inquisitoren gnadenlos ins Gericht ging. Er zeigte in seiner geschliffenen Cautio Criminalis auf, dass die Verfahren nicht nur rechtswidrig und unmenschlich, sondern schon vom gedanklichen Ansatz her unsinnig und zudem ausgesprochen unchristlich, ja heidnisch sind!«, berichtete der Mönch mit flammender Erregung. »Während den Fanatikern des Hexenglaubens keine Folter grausam genug sein kann, fordert Friedrich Spee von diesen selbstherrlichen, vermeintlichen Streitern zur Ehre Gottes die >göttlichen Tugenden< ein, die da Glaube, Hoffnung und Liebe heißen - und nicht Argwohn, Folter und Vernichtung. Sein Gott und der Gott unseres Christentums, das macht er immer wieder deutlich, ist der Christus des Neuen Testamentes, der uns die frohe Heilsbotschaft von Gottes Liebe und Barmherzigkeit gebracht hat. Und er hält diesen verblendeten Massenmördern im Priestergewand vor Augen, dass ihr Gott, der mit Feuer und Schwert straft, den alttestamentarischen Götzen der Heiden entspricht, die mit Menschenopfern versöhnt werden wollen. Denn genau dem kommt ihr blutiges Handwerk gleich! Oh, er zerpflückt ihre wirren, abergläubischen und menschenverachtenden Theorien über die Teufelsdienerinnen, wie ein frischer Windstoß kalte Asche hinwegfegt! Er nennt den unmenschlichen, bestialischen Wahnsinn beim Namen. Vehement verurteilt er die Folter, bezeichnet so erzielte Geständnisse als völlig wertlos und als unter Qualen abgepresste Lügen, fordert Einhaltung der Gesetze, volle Einsicht in die angeblichen Beweise der Anklage, einen Verteidiger und die Vermutung der Unschuld, wenn die Beweise nicht wirklich hiebund stichfest sind. Und immer wieder weist er mit Nachdruck darauf hin, dass gerade der Christ verpflichtet ist Nachsicht, Mitgefühl und Liebe walten zu lassen - und vor allem nicht mit Menschenblut Kurzweil zu treiben!«

Jakob lachte mit bitterem Sarkasmus auf. »Wie nobel von ihm. Aber viel Erfolg hat dieser Friedrich Spee mit seiner Kampfschrift ja wohl nicht gehabt. Denn noch immer werden überall Hexen verbrannt.«

»Dass auf den Scheiterhaufen der Hexenkommissare noch immer Unschuldige ihr Leben lassen, ist leider nur zu wahr. Aber diese unglaublichen Massenhinrichtungen sind sehr selten geworden. Die Cautio Criminalis hat schon viele Auflagen gesehen und ist nicht ohne Wirkung geblieben! Jetzt wagen sich immer mehr Theologen die Theorie und Praxis der Hexenverfolgung offen anzuprangern und als bestialische Willkür zu verurteilen«, versicherte Bruder Basilius. »Damals, vor gut zwanzig Jahren, wäre Friedrich Spee beinahe noch selber als Ketzer auf dem Scheiterhaufen gelandet. Wäre er nicht im August 1635 in Trier, als er nach der Eroberung der Stadt durch kaiserliche Truppen verwundete Soldaten pflegte, an einer Seuche gestorben, hätten seine erbitterten Feinde ihn wohl auch der Zauberei angeklagt und durch das Feuer gehen lassen.«

Jakob hatte Mühe vor Henrik und dem Mönch zu verbergen, wie sehr ihn dieses Thema innerlich aufwühlte. »Und Bruder Anselm, drohte auch ihm einst der Scheiterhaufen?«

»Er wäre nicht der erste Ordensmann und Priester gewesen! Viele haben für ihre Überzeugung mit dem Leben bezahlt, Jakob, und daher wäre es ungerecht alle Priester über einen Kamm zu scheren. Ich brauche bloß an die Jahre 1610 bis 1615 zu denken, in denen im Trierer Umland wieder einmal das Hexenfieber grassierte. Als sich einige mutige Dorfpfarrer dem blutigen Treiben zu widersetzen versuchten, wurden kurzerhand acht von ihnen ebenfalls eingekerkert und auf den Scheiterhaufen geschickt - zusammen mit dem Abt von St. Martin, einigen Schöffen und sogar einem Bürgermeister!«, erinnerte sich der Mönch. »Bruder Anselm aber blieb von den Hexenkommissaren verschont. Er büßte für seinen beharrlichen Einsatz gegen Hexenhysterie und für die Verbreitung der Cautio Criminalis in seiner Region nur mit dem Verlust seiner Abtwürde. Unter Druck eines päpstlichen Legaten und anderer einflussreicher Kirchenmänner setzte man ihn ab und sorgte dafür, dass er als einfacher Ordensbruder hinter den Mauern eines Klosters im Frankenland verschwand. Man schickte ihn sozusagen in die Verbannung. Seine Feinde, von denen nicht wenige aus dem Erzbistum Trier kommen, ahnten lange Zeit jedoch nicht, dass der dortige Abt ihm nicht nur großen Respekt entgegenbrachte, sondern ihm im Geheimen auch große Freiheiten ließ. Er gestattete ihm mit anderen Streitern wider den Hexenwahn schriftlich in Kontakt zu bleiben und seine Arbeit mit Hilfe seiner verschwiegenen Vertrauten in jahrelanger, mühseliger Beharrlichkeit fortzuführen.«

»Habt auch Ihr zu diesem Kreis von verschwiegenen Vertrauten gehört?«

Bruder Basilius nickte. »Ja, und das ist eines der wenigen Dinge in meinem Leben, auf die ich stolz bin.«

»Na, da wüsste ich aber noch ein paar andere zu nennen, auf die Ihr stolz sein könnt und die mit mir zu tun haben«, widersprach Jakob. »Ihr und Henrik habt Euer Leben schon mehrfach aufs Spiel gesetzt, um mich vor der Folter zu retten.«

»Hier soll nicht von mir die Rede sein. Lasst uns deshalb wieder zu Bruder Anselm zurückkehren«, sagte der Mönch und lenkte damit geschickt von sich ab. »Wie groß die Wirkung seiner Briefe und Aufrufe gewesen ist, die kopiert und anonym in Umlauf gebracht wurden, lässt sich schwer feststellen. Sicher ist jedenfalls, dass sie den fanatischen Verfechtern der Hexenverfolgung ein schmerzhafter Dorn im Fleisch gewesen sind. Sicher ist auch, dass sie bei einigen berüchtigten Hexenkommissaren der zwanziger und dreißiger Jahre mit dazu beigetragen haben, angesichts ihres nahen Todes ihr einstiges schreckliches Wüten in Frage zu stellen und zu bereuen.«

Jakob hob überrascht die Augenbrauen. »Ihr meint, einige dieser Schlächter haben sich vom Saulus zum Paulus gewandelt?«

»In der Tat«, bestätigte der Mönch. »Von zweien weiß ich es mit Sicherheit, und zwar von Bischof Johann Eichstätt von Bornheim, der zwischen 1626 und 1630 fast sechshundert Hexen verbrennen ließ, und von Bischof Philipp Adolf von Ehrenstein, der zur selben Zeit im Machtbereich seines Hochstiftes noch grausamer als Eichstätt wütete und als >Hexenbischof< im ganzen Deutschen Reich bekannt und gefürchtet war. Und es war ausgerechnet dieser Hexenbischof von Ehrenstein, der mit der Schuld der mehr als neunhundert Opfer seiner Hexenjagden nicht mehr leben konnte. Im letzten Frühjahr, als er sein Ende nahen fühlte, begann er damit seine Lebensbeichte schriftlich niederzulegen und schonungslos gegen sich selbst auszuführen, welches Unrecht er begangen hat.«

»Die späte Reue eines Verbrechers, der es plötzlich mit der Angst zu tun bekommen hat nach seinem Tod für seine bestialischen Morde im ewigen Fegefeuer zu landen, wenn er nicht vorher noch schnell bereut und Absolution erlangt!«, höhnte Jakob verächtlich. »Einen solchen Mann nenne ich einen feigen Hund von einem Mörder!«

»Mörder und Tyrannen sind immer feige«, warf Henrik ein und zeigte damit, dass seine Schnitzerei ihn nicht davon abhielt, ebenfalls aufmerksam zuzuhören.

»Diese Angst hat gewiss eine Rolle gespielt«, räumte Bruder Basilius ein. »Aber für die Absolution hätte es nur einer gewöhnlichen Beichte auf dem Sterbebett bedurft, vergesst das nicht! Dabei hat er es jedoch nicht belassen. Bischof von Ehrenstein hat sich schriftlich und ausführlich zu seinen schrecklichen Taten bekannt. Zudem ist er auf die starken Zweifel und Gewissensbisse eingegangen, die ihn nach der Lektüre von Abhandlungen wie Friedrich Spees Cautio Criminalis immer stärker gequält haben, und zu dem Ergebnis gekommen, dass Hexenverfolgung in der Tat ein Wahn ist, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen alle göttlichen Gebote. Dieses umfassende Schuldbekenntnis, das zugleich Abrechnung mit dem Hexenwahn und Aufruf zu einer radikalen Umkehr ist, hat der einstige Hexenbischof noch auf seinem Totenbett handschriftlich beendet und von seinen Leibärzten beglaubigen lassen. Damit nach seinem Tod auch wirklich niemand die Echtheit dieses Dokumentes anzweifeln kann, hat er zudem noch jede Seite mit seinem Siegel versehen.«

Nun begann Jakob die ersten Zusammenhänge zu erahnen. »Weil er befürchtet hat, dass die noch immer allzu mächtigen Hexenjäger in Kirche und Staat seine Aufzeichnungen als Fälschung abtun würden?«

»Natürlich! Denn das Schuldbekenntnis des einst berühmtberüchtigten Hexenbischofs, würde es öffentlich bekannt, wäre für sie eine Katastrophe, für die Opfer der Vergangenheit ein Schuldfreispruch post mortem - und für alle Verfolgten ein Segen, könnte es doch zu einem jähen Ende aller Hexenverfolgungen führen.«

Jakob nickte. »Und dieser Bischof Eichstätt, hat der vor seinem Tod auch so ein spätes Schuld- und Reuebekenntnis verfasst?«, wollte er wissen.

Bruder Basilius verneinte. »Die beiden Männer waren jedoch befreundet, der eine quasi Schüler des anderen. Bischof von Ehrenstein war sich bewusst, welch brisantes Dokument er da verfasst hatte und dass man es sofort vernichten würde, wenn es nach seinem Tod in die falschen Hände geriet.«

»Und deshalb hat er mit Bruder Anselm heimlich Kontakt aufgenommen!«, mutmaßte Jakob.

»Nein, nicht direkt. Er hat Bischof Eichstätt zu sich gebeten und ihm zwei Tage vor seinem Tod seine schriftliche Lebensbeichte anvertraut und ihm aufgetragen für ihre Veröffentlichung zu sorgen. Er wusste sie bei ihm in guten Händen. Denn Eichstätt hatte ihm schon Vorjahren gestanden, dass sich seine einstige, unerschütterliche Selbstsicherheit in der Frage der Folter und der Hexenverbrennungen in ein erdrückendes Schuldbewusstsein verwandelt hatte, dass ihn jede Nacht Alpträume quälten und dass er auch tagsüber nicht vergessen konnte, wie verblendet er früher gewesen war und was er angerichtet hatte.«

»Die Reue alter Männer angesichts des Todes! Ich will Euch zeigen, was ich davon halte!« Jakob spuckte demonstrativ ins Feuer.

»Wenn es Gott wirklich gibt, dann hoffe ich, dass er gerecht genug ist diese Verbrecher, die in Blut und Asche unschuldiger Menschen gewatet sind, nicht ungestraft davonkommen zu lassen!«

»Die beste Art sich zu rächen besteht darin, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten«, erwiderte der Mönch. »Und Gottes Gerechtigkeit wird kaum dem armseligen, irdischen Bild gleichen, das wir uns von Gerechtigkeit machen. Dann wäre unser Schöpfer und Erlöser nicht mehr als ein etwas besserer weltlicher Richter.«

Jakob machte eine ärgerliche Handbewegung. »Das sehe ich anders, Bruder Basilius!«, widersprach er kühl. »Aber lassen wir das. Erzählt lieber, was dann geschehen ist. Was hat dieser Eichstätt mit dem Dokument gemacht?«

»Bischof Eichstätt hat wenige Monate nach dem Tod des Hexenbischofs Verbindung mit Bruder Anselm aufgenommen«, fuhr Bruder Basilius in seinem Bericht fort, während Henrik noch einmal Holz nachlegte. »Die Lektüre der Lebensbeichte seines verstorbenen Freundes hatte ihn so erschüttert und aufgerüttelt, dass er entschlossen war dieser seine eigene hinzufügen. Da er jedoch schon halb erblindet und zudem von starker Gicht befallen war, so dass er die Feder nicht mehr selber führen konnte, musste er seine Bekenntnisse diktieren. Nur gab es in seiner Umgebung keinen Einzigen, dem er in dieser Angelegenheit vertraute. Und so geriet Bruder Anselm, den er von früher kannte und dem er einmal bitterfeind gewesen war, in das gefährliche Spiel. Ihm wollte er sich anvertrauen, seine Bekenntnisse diktieren und ihm die Aufzeichnungen des Bischofs von Ehrenstein aushändigen. Nur konnte er diesen Mann, dessen Reputation nur zu bekannt war, schlechterdings zu sich in sein Hochstift einladen und tagelang mit ihm hinter verschlossenen Türen zusammensitzen, ohne Argwohn zu erregen und die Feinde auf den Plan zu rufen.«

»Und deshalb hat er sich mit Bruder Anselm an einem geheimen Ort verabredet!«, folgerte Jakob. »Und weil Domherr von Drolshagen glaubt, ich könnte wissen, wo sich die Männer getroffen haben, ist er hinter mir her, nicht wahr?«

»So ist es«, bestätigte der Mönch. »Bruder Anselm hat Ende letzten Jahres sein Kloster unter dem Vorwand verlassen Abschied von seiner sterbenskranken Schwester nehmen zu wollen. In Wirklichkeit hat er sich jedoch auf einem Gut bei Linz am Rhein mit Bischof Eichstätt getroffen. Dort haben die beiden Männer die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr verbracht und Bruder Anselm hat sich in diesen Tagen die Lebensbeichte des Bischofs diktieren lassen.«

»Ich nehme an, dass Bruder Anselm Euch in alles eingeweiht hat«, sagte Jakob und sah den Mönch nicken. »Was ich jedoch nicht verstehe, ist, dass bei der strengen Geheimhaltung Männer wie Domherr von Drolshagen und der Subprior von Himmerod davon erfahren haben.«

»Nun kurz ein Wort zu der bescheidenen Rolle, die Bruder Anselm mir zugedacht hatte. Er wusste, dass ich die Erlaubnis erhalten hatte in diesem Frühjahr zu einer Pilgerreise nach Santiago de Com-postela aufzubrechen.

Meine Aufgabe sollte es sein beide Dokumente an mich zu nehmen, sie sicher außer Landes zu bringen und sie in Santiago de Compostela einem Mann zu übergeben, der für die Drucklegung dieser sensationellen Bekenntnisse und für ihre Verbreitung garantieren kann. Es war ausgemacht, dass wir uns Mitte Januar scheinbar zufällig in Himmerod treffen wollten.«

»Habt Ihr denn vor seinem Tod noch mit Bruder Anselm sprechen können?«, fragte Jakob.

»Leider nein, obwohl ich es mehrfach versucht habe«, bedauerte der Mönch. »Bruder Tarzisius hat ihn zu gut abgeschirmt. Ein einziges Mal habe ich mich in seine Zelle schleichen können, doch es ist mir nicht vergönnt gewesen, Bruder Anselm in einem klaren Augenblick anzutreffen.«

»Aber woher wussten die anderen von den geheimen Dokumenten und Eurem geplanten Treffen?«, hakte Jakob gespannt nach.

Der Mönch lachte auf. »Menschliche Geheimnisse haben es nun mal an sich, dass sie nicht auf Dauer so geheim bleiben, wie man es sich wünscht. Dass Bischof von Ehrenstein in den letzten Wochen seines Lebens mit einer Niederschrift begonnen hatte, über die er nicht einmal mit seinen engsten Vertrauten sprach; dass er sie handschriftlich verfasste statt sie seinem lang gedienten Sekretär zu diktieren; und dass er sie streng unter Verschluss hielt - all das gab in seiner Umgebung schon Anlass zu ersten Vermutungen und Gerüchten. Diese waren jedoch sogar nach dem Besuch von Bischof Eichstätt noch zu vage, um den Kern zu treffen. Das aber änderte sich ganz plötzlich, als Bischof Eichstätt auf dem Gutshof bei Linz einen Tag, bevor er die Rückreise antreten wollte, einem Gehirnschlag erlag. Damit flog die Geheimhaltung auf. Möglich, dass man bei dem Toten irgendwelche verräterischen Notizen oder gar Briefe von Bruder Anselm gefunden hat. Auf jeden Fall haben Domherr von Drolshagen und seine Freunde natürlich Erkundigungen eingezogen und zwei und zwei zusammengezählt. Und da Bruder Tarzisius beste Beziehungen zur erzbischöflichen Kurie unterhält, ist es nicht verwunderlich, dass der Domherr auch ihn unterrichtet und ihm wohl nahe gelegt hat Augen und Ohren offen zu halten.«

»Und dann haben von Drolshagen und seinesgleichen unverzüglich die Verfolgung von Bruder Anselm aufnehmen lassen, der bestimmt vorausschauend genug gewesen ist sich sofort aus dem Staub zu machen!«, warf Jakob ein.

»Ja, unglücklicherweise nicht in bestem gesundheitlichem Zustand, wie wir nun wissen«, seufzte Bruder Basilius. »Ihm ist es aber zumindest noch gelungen die brisanten Bekenntnisse der beiden Hexenbischöfe irgendwo gut zu verstecken, bevor er auf Euch getroffen, ins Fieberdelirium gesunken und dann in Himmerod in die Hände seiner Feinde gefallen ist. Nun wisst Ihr, in welche Ereignisse Ihr unfreiwillig verstrickt seid.«

Was für eine Geschichte! Einen Augenblick lang herrschte gedankenvolles Schweigen. Sogar Henrik hielt die Hände still und schaute wie in stillem Gedenken an den Mut von Bruder Anselm in das heruntergebrannte Feuer. Wie eine polierte Silberscheibe stand der Vollmond über dem dunklen Wald.

»Es wäre wirklich tragisch, wenn die Aufzeichnungen unauffindbar blieben«, brach Jakob schließlich das Schweigen. »Dann wären alle Mühen vergeblich gewesen.«

»Eine Enttäuschung, so bitter sie auch sein mag, ist noch lange nicht das Ende der Hoffnung«, erwiderte Bruder Basilius. »Die Dokumente sind viel zu wichtig, als dass wir die Suche nach ihnen so leicht aufgeben würden. Wir werden sie schon finden. Ich vertraue darauf, dass wir in Koblenz auf einige hilfreiche Hinweise stoßen werden. So, und nun wird es Zeit, dass wir uns schlafen legen. Die Nacht ist schnell vorbei und wir haben morgen einen anstrengenden Marsch vor uns.«

Henrik nickte und legte seine Schnitzarbeit weg. »Die Zeit ist reif, die Stunde da«, pflichtete er ihm bei, warf noch mehrere Äste ins Feuer und rollte sich dann in seine Decke ein.

Jakob spürte seine Müdigkeit auf einmal mit ganzer Macht. Nachdem er nun alles erfahren hatte, zog sie ihn wie mit Bleigewichten nieder. So wickelte er sich denn auch in seine Decke und streckte sich am warmen Rand der Feuerstelle auf dem Boden aus. Ihm fielen sofort die Augen zu. Er schlief schon fest, noch bevor Bruder Basilius sein Nachtgebet beendet hatte.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Die Pechfackeln senkten sich und augenblicklich loderten die Flammen auf. Das Feuer bildete im Handumdrehen einen Kreis um den Pfahl in seiner Mitte und fraß sich gierig von außen nach innen. Die Schreie, die aus dem Innern des Scheiterhaufens drangen und das laute Prasseln der Flammen anfangs noch weithin übertönten, gellten in seinen Ohren und zerrissen ihm das Herz. Er wollte sich losreißen und sich in dieses Feuer stürzen, doch eine kräftige Hand hielt ihn, den schmächtigen Jungen, zurück.

»Es ist nur ein böser Traum!... Hörst du, Jakob?... Es ist nur ein Alptraum«, hörte er dann eine beruhigende Stimme.

Jakob erwachte. Und in dem kurzen Moment, als der Schlaf ihn freigab und er an der Schwelle zum Erwachen stand, wurde er sich bewusst, dass er sich am Boden krümmte und dabei wimmerte.

»Du bist in Sicherheit, Jakob«, sagte da die Stimme wieder und rüttelte ihn sanft an seiner Schulter. »Niemand kann dir etwas zu Leide tun.«

Jakob öffnete die Augen, richtete sich jäh auf und fuhr mit gehetztem Atem herum. Völlige Dunkelheit umgab ihn. Das Feuer war erloschen und der Nachthimmel hatte einen Vorhang aus Wolken vor die leuchtenden Sterne gezogen.

»Ich bin es nur«, sagte Bruder Basilius. »Ihr hattet einen bösen Traum und habt geweint. Ich hielt es für besser Euch von diesem Alptraum zu befreien.«

Jakob tastete über sein Gesicht und fand es tränenfeucht.

»Wollt Ihr mir nicht sagen, was Euch bedrückt?«, fragte der Mönch und legte ihm seine Hand auf die Schulter.

»Ein Alptraum, nichts weiter«, murmelte Jakob. Von der anderen Seite der Feuerstelle kam das laute Schnarchen des Schweden.

»Ich fürchte, es ist mehr als nur ein Alptraum. Ihr tragt großen Kummer in Euch, den Ihr fest in Euch verschließt. Aber das ist nicht gut. Sprecht darüber. Es wird Euch befreien.«

Jakob schüttelte den Kopf. »Da ist nichts, was zu befreien wäre!«, wehrte er schroff ab. »Es ist Eure Geschichte, die mich im Schlaf verfolgt und mir so zugesetzt hat. Was ja wohl auch kein Wunder ist, oder?«

»Nein, das ist es nicht«, räumte Bruder Basilius ein. »Aber das allein wird es wohl nicht gewesen sein. Ich spüre nicht erst heute, dass etwas schwer auf Euch lastet. Ich will Euch nicht zu etwas drängen, was Ihr nicht wollt. Aber vergesst nicht, dass Ihr zu jeder Zeit mit mir reden könnt, wenn Euch danach zu Mute ist.«

»Wir reden doch gerade«, sagte Jakob spöttisch.

»Aber nicht über das Wesentliche.«

»Gut, dann lasst uns über das Wesentliche reden, Bruder Basilius!«, stieß Jakob grimmig hervor. »Und zwar darüber, warum Euer Gott, der doch angeblich der Gott der Liebe und der Barmherzigkeit ist, all diese Verbrechen und das Elend zulässt, von dem Ihr vorhin erzählt habt!«

»Ihr meint also, Gott hätte schon längst gegen den Hexenwahn einschreiten müssen, ja?«, fragte der Mönch ruhig.

»Natürlich! Und nicht nur gegen die Hexenjäger, sondern auch gegen die Ausbeutung und Unterdrückung durch die Fürsten und gegen so vieles andere!«

»Ich fürchte, Ihr habt ein falsches Bild von Gott, Jakob. Der Allmächtige ist kein Puppenspieler und wir sind keine Marionetten, die an unsichtbaren göttlichen Fäden hängen. Wir sind nicht der Willkür eines Herrschers ausgesetzt, der die Welt erschaffen hat, damit er in diesem Welttheater ganz nach Lust und Laune und zu seiner Erbauung mal an diesem Menschenfaden und mal an jenem zieht«, antwortete Bruder Basilius.

»Was sind wir dann?«

»Die Hüter der Schöpfung und frei in all unseren Entscheidungen. Gerade weil Gott uns liebt wie Eltern ihre Kinder, hat er uns nicht zu Sklaven gemacht, sondern uns die Freiheit geschenkt. Diese Freiheit beinhaltet nun aber auch, dass wir uns ebenso für das Gute wie für das Böse entscheiden können. Es ist nicht Gott, der Elend, Unterdrückung und Hexenwahn über die Menschen bringt, Jakob. Es sind die Menschen selbst, die sich gegen das Gute, gegen Liebe und Barmherzigkeit entscheiden und aus Verblendung, Raffgier und Herrschsucht ihren Mitmenschen so viel Leid antun.«

»Und Gott schaut tatenlos zu!«

Der Mönch lachte neben ihm leise auf. »Seid mir nicht böse, Jakob, aber solch eine Reaktion ist typisch für uns selbstsüchtige Menschen.«

»Das ist nicht gerecht!«, protestierte Jakob. »Ich habe nur davon gesprochen.«

»Lasst mich ausreden, Jakob!«, fiel Bruder Basilius ihm ins Wort. »Einerseits wollen wir, dass niemand uns vorschreibt, was wir zu tun und zu lassen haben und für welches Leben wir uns entscheiden. Wir wollen unseren Willen in allen Dingen durchsetzen und die Welt so gestalten, wie wir sie für richtig halten. Wir wollen Meister unseres eigenen Lebens sein und streben in allem nach Allmacht. Und dieses großartige Geschenk der völligen Entscheidungsfreiheit hat Gott uns gemacht. Nur ignorieren wir gerne, dass die erste Pflicht der Freiheit ist, dass sie sich Grenzen setzt, damit sie die Freiheit des Nächsten nicht stranguliert. Denn Freiheit ohne Verantwortung ist und bleibt Willkür.«

»Aber Fürsten und Prälaten werden offenbar mit entschieden mehr Freiheit geboren als ein Fuhrknecht oder eine Bauernmagd!«, warf Jakob bitter ein.

»Geboren werden wir alle gleich, Jakob. Doch Gottes Gebote, die uns dazu verpflichten, auch für unsere Mitmenschen ein Leben in Frieden und Freiheit zu gewährleisten, sind uns beim Erreichen unserer eigennützigen Ziele meist im Weg und deshalb ignorieren wir sie und machen unsere eigenen Regeln. Aber sowie wir mit unserer Freiheit und unserem Willen in Konflikt mit anderen geraten, die etwas ganz anderes wollen und uns auch noch überlegen sind, etwa weil sie mit brutaler Waffengewalt vorgehen, erwarten wir plötzlich göttlichen Beistand. Da besinnen wir uns plötzlich darauf, dass es einen Schöpfer und Allmächtigen gibt, und dann billigen wir ihm auch ganz schnell wieder die alleinige Allmacht zu - die er dann gefälligst rasch zu unseren Gunsten einsetzen soll! Ja, wir machen Gott für alles verantwortlich, was wir Menschen zu unserer eigenen Schande dieser Welt und unseren Mitmenschen antun oder was uns an Unglück zustößt. Aber Gott ist nun mal keine göttliche Mischung aus Amme und Amtmann, der überall da in unser Leben eingreift, wo es nicht so läuft, wie wir es uns wünschen.«

»Aber er lässt zu, dass seit Jahrhunderten all diese Verbrechen in seinem Namen begangen werden«, beharrte Jakob.

»Wenn ich jemandem mit einem Kruzifix den Schädel einschlage und dabei auch noch rufe >Im Namen Gottes, stirb!<, wer ist dann schuld - das Kruzifix und Gott oder derjenige, der Kreuz und Gottes Name für seine abscheuliche Mordtat missbraucht hat?«, hielt der Mönch ihm vor.

»Schon gut, ich verstehe«, brummte Jakob.

»Dann gehört Ihr zu den großen Ausnahmen, denn die meisten verstehen es nicht und wenden sich von Gott ab, obwohl sie eigentlich die Menschen meinen, die das Kreuz und Gottes Namen seit Jahrhunderten schänden«, sagte Bruder Basilius. »Nehmt doch nur das Vaterunser. Es ist der größte Märtyrer auf Erden. Denn jedermann zerplappert und zerklappert es, plagt und missbraucht es und nur die wenigsten ehren es durch wahrhaft andächtigen Gebrauch. Wer meint es denn schon ehrlich, wenn er beim Vaterunsergebet spricht: >Dein Reich komme, dein Wille geschehe<. In Wirklichkeit wollen wir das doch gar nicht, sondern wir wollen unser Reich und dass unser Wille geschehe. Ist es nicht so, Jakob?«

»Mhm«, machte Jakob widerwillig, denn wenn er ehrlich vor sich selbst war, musste er Bruder Basilius darin zustimmen.

»Wenn wir alle Wörter aus unserem Sprachschatz verbannen«, fuhr der Mönch ruhig fort, »die im Laufe der Geschichte auf das Schändlichste missbraucht worden sind, dann wären wir zum hilflosen Stammeln verurteilt und dürften nie mehr Worte wie Liebe, Freiheit, Gott, Kreuz oder Jesus Christus in den Mund nehmen, ja dann müssten wir eigentlich vor Scham und Schuld auf ewig verstummen. Besonders Gottes Name ist besudelt worden wie kein anderes Wort der Menschheit. Es ist zerfetzt, in den Dreck getreten, geschändet und in Ströme von Blut getaucht worden. Und es trägt alle Last und Schuld der Menschheit. Aber wir haben nur diese eine Sprache und so müssen wir immer wieder aufs Neue versuchen diese geschändeten Worte aus dem Kerker ihrer Vergewaltiger zu befreien und sie mit dem Leben zu erfüllen, das ihrem wahren Wesen entspricht.«

»In vielem mögt Ihr Recht haben«, räumte Jakob nachdenklich und widerstrebend ein. »Aber Tatsache bleibt dennoch, dass das Böse in der Welt existiert - und dass Gott es zulässt, obwohl es doch in seiner Allmacht stände das Böse in seiner Schöpfung erst gar nicht zuzulassen!«

»Das will ich nicht bestreiten, Jakob«, gab Bruder Basilius zu. »Aber beides, das Böse und das Gute, ergibt sich aus der Macht, die Gott uns Menschen zugeteilt hat und die sich dadurch als wahre Gottesmacht erweist, dass es in unserem Vermögen liegt uns wider Gott zu erheben.«

Jakob furchte die Stirn.

»Ich weiß, es ist schwer zu verstehen. Aber vergesst nicht, dass die Extreme sich berühren und letztlich eine Einheit bilden. Unsere Welt ist nicht das Paradies von Adam und Eva, sondern eine Welt voller Gegenkräfte: Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Ordnung und Chaos, Hitze und Kälte, Nähe und Distanz, Regen und Sonnenschein, Lust und Leid, Verstand und Gefühl, Leben und Tod.« Er machte eine kurze Pause. »Wie es schon in der Bibel bei Jesus Si-rach heißt: >Alles ist zweifach, eins steht immer dem anderen gegenüber^ Ohne das eine ist das andere nicht zu haben. Und so verhält es sich auch mit dem härtesten aller Widersprüche: Jesus am Kreuz ist die erbärmlichste Gestalt und doch ist er der ewige Gottessohn, der durch sein Leiden und seine Auferstehung zusammenhält, was sonst jeglichen Sinnes beraubt wäre - nämlich unser Leben und unseren Tod. Und der Tod ist nicht das Ende, sondern die Zukunft, die uns alle erwartet.«

»Jesu Auferstehung - das ist das, was ich am allerwenigsten verstehen kann«, gestand Jakob.

»Keine Sorge, Ihr findet Euch in bester und zahlreicher Gesellschaft. Gott ist nun mal größer als die Gesetze der Natur und unvergleichlich größer als das, was unser begrenzter Verstand erfassen kann. Gottes Gegenwart ist wie das Meer, in dem ich schwimme, ohne ihn fassen und für mich vereinnahmen zu können. Und was die Auferstehung betrifft, die wir mit unserem Verstand nicht begreifen können, auch wenn wir uns noch so sehr darum bemühen, so gibt es dazu nur eine einzige Entsprechung - und das ist die Schöpfung der Welt aus dem Nichts. Beides übersteigt das Vermögen unseres Verstandes und daran wird sich auch in hundert oder gar tausend Jahren nichts ändern.«

»Quirin Schlehenbusch, der mich aufgezogen hat und ein Wissenschaftler und Alchimist war, hat aber behauptet, dass die Wissenschaft eines Tages alles wird erklären können!«, widersprach Jakob.

»Nichts gegen die Wissenschaft«, erwiderte Bruder Basilius überaus gelassen. »Natur mag wissenschaftlich erforschbar und erklärbar sein. Aber Schöpfung ist nicht gleich Natur! Wie kann die Wissenschaft ernsthaft behaupten, sie beschreibe die Welt so, wie sie sei?«

»Und was tut sie Eurer Ansicht nach?«

»Ihr durchaus legitimes Handwerk!«, betonte er. »Was sie untersucht und beschreibt, ist in Wirklichkeit aber nur ein kleiner, eng begrenzter Teil der Welt. Nehmt beispielsweise das Schauspiel eines prächtigen Sonnenaufgangs oder die Stimmung einer Abenddämmerung am Fluss, denkt an die Gerüche einer sommerlichen Blumenwiese, an den Gesang von Vögeln, das Plätschern eines Baches, das Toben eines Wintersturms, die stumme Zwiesprache von zwei Liebenden, die nur Blicke tauschen, die zärtliche Berührung - all das sowie unzählige andere Eindrücke, Gefühle, Stimmungen und Erlebnisse gehören ebenfalls zur Wirklichkeit. Es gibt nämlich auch noch diese nicht fassbare und nicht wissenschaftlich beweisbare Wirklichkeit, die spirituelle Dimension, die den Hintergrund der greifbaren Natur ausmacht. Er mag nicht fassbar und wissenschaftlich nicht beweisbar sein, doch er ist spürbar, erfahrbar und mit dem Herzen wahrnehmbar, wie wir alle aus tausendfacher Erfahrung wissen.«

»Ich muss zugeben, da ist etwas dran«, räumte Jakob ein und musste unwillkürlich an Marga denken.

»Wenn die Wirklichkeit ein Meer ist, dann ist das, was die Wissenschaft beschreiben und erklären kann, so etwas wie die Wellen an der Oberfläche und vielleicht die bekannten Küsten sowie einiges, was in diesem Meer lebt. Aber das Ganze, das sich erst durch die im Menschen vollzogene Verschmelzung von fassbarer und nicht fassbarer Wirklichkeit ergibt, das entzieht sich ihr. So wie unser Verstand auch nicht Gott begreifen kann - oder das Wunder der Liebe, deren Quelle er ist. Wer sagt, er sei im Besitz der Wahrheit, der lügt, egal, wer er auch sein mag.«

»Das trifft dann aber auch auf Euch und jeden anderen Mann der Kirche zu«, sagte Jakob.

»Natürlich!«, pflichtete ihm der Mönch bei. »Wir alle können die Wahrheit immer nur suchen, werden sie aber nie besitzen, so wie man einen Stein in der Hand hält oder ein Pferd am Zügel führt. Denn wüssten wir die Wahrheit, dann wären wir nicht mehr Suchende, sondern schon eins mit Gott. Zudem ist die Wahrheit kein starrer Lehrsatz, sondern etwas Lebendiges und zur Wahrheitssuche gehört immer auch eine große Portion Skepsis und Selbstzweifel.«

»Auch Zweifel am Glauben?«, fragte Jakob.

»Ja, auch der Glaube ist kein sicherer Besitz, sondern immer ein Leben zwischen Geborgenheit und Verbannung.

Die Nacht der Zweifel gehört dazu und niemand ist davor gefeit. Auch die großen Heiligen der Kirche sind nicht davon verschont geblieben«, sagte Bruder Basilius. »Wir dürfen nie vergessen, dass alle Worte und Bilder, die wir uns von Gott machen, nichts weiter sind als armselige Krücken. Wir tasten uns in diesem gewaltigen Geheimnis, das wir Gott nennen, wie die Blinden voran und versuchen diese göttliche unermessliche Welt anhand dessen zu beschreiben, was wir mit dem Blindenstock unseres Verstandes erkannt zu haben meinen.«

»Mancher Blindenstock liegt allerdings in einer sehr groben Hand und ist eher ein Knüppel, der mehr zerschlägt als ertastet!«, bemerkte Jakob sarkastisch.

»Richtig«, sagte der Mönch mit leisem Lachen. »Aber in einer empfindsamen Hand kann der Blindenstock, sofern er sich auch vom Herzen und vom innersten Wesen des Menschen leiten lässt, Ahnung von wunderbaren Geheimnissen geben.«

Jakob gähnte. »Ich glaube, ich kehre jetzt erst einmal zu den Geheimnissen des Schlafes zurück«, sagte er in Ermangelung einer Antwort, die seine innere Zerrissenheit passend zum Ausdruck gebracht hätte.

Auch der Mönch rollte sich neben ihm nun wieder in seine Decke ein. »Bevor Ihr einschlaft, will ich Euch noch eine kurze Geschichte erzählen, die mir ein Rabbi, ein jüdischer Gelehrter, in Jerusalem erzählt hat, als wir einmal über Gott und das Böse in der Welt diskutierten.«

»Ihr habt mit Juden gesprochen?«, wunderte sich Jakob.

»Das Eigene lieben heißt nicht das andere hassen«, erwiderte Bruder Basilius. »Ein Christ spricht mit jedem und erst wer mit anderen Religionen vertraut ist und ihnen Toleranz schenkt, kann ein tiefes Verständnis für den eigenen Glauben finden.«

»Und was ist das für eine Geschichte, die Euch dieser Rabbi im Heiligen Land erzählt hat?«

»Es war nach einem blutigen Pogrom, einer Verfolgung, bei der viele Juden wegen ihres Glaubens hingeschlachtet worden waren. Verbittert darüber, dass Gott sein auserwähltes Volk Jahrhundert um Jahrhundert schutzlos seinen grausamen Feinden ausgesetzt hat und dem Bösen auf dieser Welt völlig freie Hand ließ, saßen die gelehrten Rabbis eines Tages über Gott zu Gericht. Die Versammlung machte es sich wahrlich nicht leicht mit ihrem Tribunal. Wochenlang debattierten sie, wogen immer wieder die Anklagepunkte gegen die Einlassungen der Verteidigung ab. Schließlich fällten sie jedoch einstimmig das Urteil >Schuldig!< Doch kaum hatten sie die Verurteilung ausgesprochen, als der Rabbi, der die Anklage vorgebracht hatte, auf den Sonnenstand blickte und sagte: >Es ist Zeit für das Gebet.< Und da beugten Gottes unbarmherzige Richter ihre Häupter und beteten.«

Jakob lächelte unwillkürlich.

»Schlaft gut, Jakob.«

»Ihr auch, Bruder Basilius.«

In der Luft lag der Geruch von warmer Asche und schwelendem Holz. Jakob war müde, lag jedoch noch eine ganze Weile wach und blickte zum Himmel hoch, wo die Wolkendecke aufgerissen war und ein großes, wild gezacktes Loch klaffte, in dem aus kosmischer Ferne ein einsamer Stern blinkte.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Henrik kauerte über der Feuerstelle und stocherte in der Glut, während Bruder Basilius schon neues Brennholz zusammentrug, als Jakob beim ersten Licht des Tages erwachte. Sein Atem dampfte in der kalten Morgenluft. Dankbar wärmte er seine steifen Glieder vor dem Feuer, das Henrik im Handumdrehen entfacht hatte.

»Dass wir schon in kaum mehr als einer Woche Ostern haben, also davon merkt man nachts noch nicht viel«, seufzte Jakob, während er seine Hände über den Flammen rieb und von einem Fuß auf den anderen trat.

»Auch aus einem Funken kann ein großes Feuer werden«, antwortete Henrik mit der ihm eigenen Abgeklärtheit und warf ihm einen Kanten Brot zu. »Der Sommer kommt bestimmt. Und wir werden über seine Hitze so sehr stöhnen, wie wir uns über die Kälte des Winters beklagt haben.«

»Ihr versteht es wirklich einen aufzumuntern«, spottete Jakob und biss ins Brot.

»Erst auf langen Wegen und engstem Raum erkennt man eben, wer einem als Freund aufrichtig gesonnen«, erwiderte der Schwede mit einem kaum merklichen Schmunzeln.

Sie hatten an diesem Morgen einen langen, anstrengenden Marsch vor sich, wenn sie um die Mittagsstunde auf dem Wirtschaftshof Winterbach eintreffen wollten. Deshalb hielten sie sich nicht länger als unbedingt notwendig auf. Sowie sie sich gestärkt und aufgewärmt hatten, drängte Bruder Basilius zum Aufbruch. Sie löschten das Feuer, scharrten Erde über die Asche und verbargen ihre Lagerstelle unter Ästen. Dann schulterten sie ihr Bündel und marschierten los.

Mit dem Aufstieg der Sonne verlor der Morgen seine bissige Kälte. Die Luft erwärmte sich spürbar und das flotte Marschtempo, das Bruder Basilius vorlegte, trug das Seinige dazu bei, dass ihr Blut ordentlich in Wallung geriet.

»Wie schön der Weg und wie leicht die Füße!«, frotzelte Henrik, als Jakob schnell ins Schwitzen geriet. »Flöge ich doch mit der Morgenröte!«

Jakob lachte. Er fühlte sich in Gesellschaft des Schweden und des Mönches relativ sicher und war auch guten Mutes, schaute sich aber auf jeder Hügelkuppe und jedem Waldhang dennoch immer wieder um, ob hinter ihnen nicht vielleicht doch schon ihre Verfolger aufgetaucht waren. Die Angst vor dem Domherrn und dem Henker Mundt saß einfach zu tief in ihm. Aber wenn sie erst einmal beritten und somit nicht mehr so schnell einzuholen waren, würde dieses dumpfe Gefühl der Beklemmung bestimmt bald von ihm weichen.

Wie Bruder Basilius es vorausgesagt hatte, erreichten sie den Himmeroder Wirtschaftshof Winterbach, als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte. Sie waren erhitzt und müde, aber doch froher Stimmung. Denn von hier an sollte ja alles leichter für sie werden.

Die Enttäuschung hätte bei Jakob daher nicht größer sein können, als sie hörten, dass Clemens Struphaver, der Hofmeister, ausgerechnet an diesem Tag nach Bitburg geritten war, um eine geringfügige, aber doch lästige Rechtsstreitigkeit mit einem Kunden aus der Welt zu schaffen.

»Tja, und er kommt erst morgen am späten Nachmittag zurück«, teilte Bruder Basilius ihnen nach seinem Gespräch mit dem Vertreter des Hofmeisters mit. »Uns bleibt nichts anderes übrig als hier einen Tag zu pausieren.«

»Müssen wir denn unbedingt auf diesen Struphaver warten, um Pferde erstehen zu können?«, fragte Jakob, dem das ganz und gar nicht gefiel. Er war davon ausgegangen, dass sie sich nach einer kurzen Rast auf ihre Pferde schwingen und davonreiten würden. Zu Pferd hatten sie eine ungleich bessere Chance ihren Verfolgern zu entkommen. Auf dem Hof dagegen waren sie leicht zu überwältigen.

Bruder Basilius nickte. »Das ist leider unumgänglich, Jakob. Der Vertreter des abwesenden Hofmeisters, der Konverse Eustachius Scharbeck, hat nicht die Befugnis derlei wichtige Geschäfte zu tätigen. Zudem ist er neu auf dem Hof, und bevor wir von hier wieder verschwinden, möchte ich mich bei Struphaver versichern, dass auch er Stillschweigen über unser Auftauchen bewahren wird.«

Jakob machte eine gequälte Miene. »Aber einen ganzen Tag mit Warten zu vertrödeln, wo wir uns doch noch so nahe bei Trier befinden!«

»Lieber humpelnd in die richtige Richtung.«, begann der Mönch.

». als behände ins Verhängnis!«, beendete Jakob den Satz für ihn. »Ich weiß, was Thomas von Aquin gesagt hat. Aber wer kann sagen, ob das Verhängnis diesmal nicht darin besteht, einen Tag mit Warten zu vergeuden? Also, ich bin dafür, wir marschieren weiter und versuchen im nächsten Dorf Pferde zu kaufen!«

Henrik schüttelte den Kopf. »Wir bleiben, denn das ist, ganz wie Bruder Basilius dargelegt hat, das Vernünftigste«, widersprach er ihm und fügte dann süffisant hinzu: »Bei den meisten Menschen ist die Ruhe nichts als Erstarrung und die Bewegung nichts als Raserei. Wollt Ihr, dass man auch Euch zu diesen Menschen zählt?«

Jakob verzog das Gesicht und gab sich geschlagen. Das reichhaltige Essen und der kühle, verschnittene Wein, der ihnen vorgesetzt wurde, stimmten ihn ein wenig versöhnlich, wenn sie ihn auch nicht von seiner sorgenvollen Unruhe befreiten.

»Warten gehört zum Menschsein, zu seinem ureigensten Wesen«, erwiderte Bruder Basilius beim Essen, als Jakob darüber klagte, wie schrecklich das Warten für ihn sei. »Der Mensch ist von Natur aus ein Wartender.«

Jakob warf ihm nur einen skeptischen Blick zu, während er zur Schöpfkelle griff und seinen Teller noch einmal mit der herrlich dickflüssigen Bohnensuppe aus dem schwarzen Eisenkessel füllte.

»Wir warten doch immer auf etwas«, fuhr der Mönch fort. »Wir warten auf Regen oder Sonnenschein, auf den Frühling oder die Erntezeit. Wenn wir jung sind, warten wir auf den ersten Kuss, die erste Nacht der Leidenschaft, auf die Ehe und dann auf Kinder. Wir warten auf Geburt, auf das Alter und den Tod. Alles, was wir tun, ist auf Warten ausgerichtet. Die ganze Natur wartet. Oder mit Paulus gesprochen: Die gesamte Schöpfung seufzt nach Erlösung und Auferstehung.«

»Das mag ja sein«, räumte Jakob mit vollem Mund ein. »Aber im Augenblick mache ich mir weniger Gedanken um meine Auferstehung oder die der ganzen Schöpfung, sondern ich sitze wie auf heißen Kohlen, weil ich auf diesen Struphaver und drei Pferde warte!«

Henrik lachte. »Ihr macht es Euch selber schwer, Jakob. Euch ist mehr Gelassenheit angeraten. Denn kein Ding ist so leicht, dass es nicht schwer wird, wenn man es ungern tut.«

Nein, leicht wurde Jakob das Warten wahrlich nicht. Die Stunden zogen sich quälend langsam dahin und in der Nacht schreckte er immer wieder aus dem Schlaf, weil er verdächtige Geräusche zu hören glaubte. Er hatte mehr Zeit, als ihm lieb war, um über das Vermächtnis des abgesetzten Abtes und der einstigen Hexenbischöfe nachzudenken und sich zu fragen, wo Bruder Anselm die wichtigen Dokumente bloß versteckt haben mochte. Ob es ihnen wohl noch gelingen würde dieses Versteck vor dem Domherrn zu finden? Aber wie sollte das geschehen, wo der alte Mönch das Geheimnis offenbar mit in sein Grab genommen hatte? Vielleicht würden die Papiere viele Jahre oder gar Generationen später erst durch einen Zufall ans Tageslicht kommen - und dann gar nicht mehr von Bedeutung sein.

Diese und viele andere Gedanken, die ihn mit Trauer und Bedrückung erfüllten, gingen ihm in den langen, einsamen Stunden seiner Schlaflosigkeit durch den Kopf, während er auf seinem Strohsack lag und in die Dunkelheit starrte. Er sehnte sich plötzlich nach Worten des Trostes, nach einem Halt, der weiter ging und tiefer in Herz und Seele reichte als der Beistand eines noch so unverbrüchlichen Freundes. Er spürte ein eigenartiges Sehnen in sich, das er nicht zu benennen vermochte. Und er wünschte, jemand wäre an seiner Seite und würde ihn trösten, wie seine Mutter es früher getan hatte, wenn er in Sturmnächten erwacht war und sich vor den Dämonen der Finsternis gefürchtet hatte. Er schämte sich dieses Wunsches, was jedoch nichts daran änderte, dass er ihn heftig empfand.

Clemens Struphaver, trotz buschigen Konversenbartes und Kutte ein attraktiver Mann, traf am nächsten Tag erst kurz vor Einbruch der Abenddämmerung auf dem Hof Winterbach ein. Seine Freude Bruder Basilius wieder zu sehen kam sichtlich aus ehrlichem Herzen. Die beiden Männer mochten sich, das sah man. Seine Betroffenheit war deshalb nicht weniger groß, als ihm der Mönch in einem Gespräch unter vier Augen anvertraute, was geschehen war - und was ihnen drohte, sollten sie in die Hände ihrer Verfolger fallen.

Bruder Basilius hatte nicht zu viel versprochen. Auf Clemens Struphaver war Verlass. Zwar hatte er auf Winterbach selbst keine Pferde zum Verkauf stehen, jedoch wusste er, von welchem benachbarten Bauern er ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit drei zuverlässige Reittiere besorgen konnte. Er machte sich noch am selben Abend auf den Weg und kehrte zwei Stunden später im Schutz der Dunkelheit mit einem Rotfuchs, einem Braunen und einem Schimmel zurück.

Zum großen Bedauern des hilfreichen Hofmeisters, der es sich nicht nehmen ließ sie noch gut mit Proviant zu versorgen, verließen sie das Gehöft gleich in selbiger Nacht und schlugen eine nordöstliche Richtung ein. Schon in den ersten Stunden zu Pferd zeigte sich, dass Henrik mit Abstand der beste Reiter von ihnen war und daher auch zu Recht den prächtigen Rotfuchs ritt. Wie angegossen saß er im Sattel und kommandierte das Tier so sicher und mit so geringem Aufwand, als wäre er auf dem Rücken eines Pferdes zur Welt gekommen. Auch Bruder Basilius erwies sich als geschickter und erfahrener Reiter. Doch spätestens nach ein, zwei Stunden musste er absteigen und eine ganze Weile neben seinem Braunen hergehen, weil ihn heftige Schmerzen in Rücken und Hüfte plagten. Jakob selbst war kein überragender Reiter, wusste sich aber ordentlich im Sattel zu halten und den anfangs leicht nervösen Schimmel davon zu überzeugen, dass er, Jakob Tillmann, die Zügel fest in der Hand hielt und ihm Eigenständigkeiten nicht durchgehen lassen würde.

Sie hielten sich an die Route, die Bruder Basilius festgelegt hatte und die sie nordwärts durch die Eifel führte. Erst ein gutes Stück hinter Adenau, schon fast an der Ahr, fielen sie von ihrer Nordroute ab und wandten sich nach Südosten. Denn ihr Ziel war Koblenz am Zusammenfluss von Mosel und Rhein.

Es war am Nachmittag des fünften Tages ihrer Flucht aus Trier, als Henriks Rotfuchs beim Durchqueren eines steinigen Baches ein Hufeisen verlor. Vor ihnen lag Mendelsheim, mit seinen gut zweihundert Bewohnern eine der wenigen größeren Ortschaften zwischen Hoher Acht und Laacher See.

Sie berieten kurz, ob sie es wagen sollten den Rotfuchs beim Hufschmied in Mendelsheim neu beschlagen zu lassen. Da sie sich ohnehin mit frischem Proviant für ihre letzte Etappe eindecken mussten, beschlossen sie diesmal eine Ausnahme zu machen und sich in den Ort zu begeben.

»Wenn wir nur ein bisschen Glück haben, suchen uns die Schergen des Domherrn viel weiter oben im Norden«, sagte Bruder Basilius, um sich und seinen Gefährten Mut zu machen.

»Und mit ein bisschen Pech hockt die Meute heute ausgerechnet in Mendelsheim«, hielt Henrik dagegen, schnallte sich seinen Degen um und steckte sich ein halbes Dutzend Pfeile für seine Armbrust in die Schlaufen seines breiten Gürtels. Damit seine Bewaffnung aber auf den ersten Blick nicht zu bemerken war, zog er seinen weiten Umhang vor der Brust zusammen.

Mendelsheim mit seinen Häusern aus Basalt und kunstfertigem Fachwerk lag in einem malerischen Tal, umgeben von wacholderbestandenen Hügeln und dunklen Wäldern. Da die Ortschaft direkt an der Landstraße nach Maria Laach lag, war man hier an durchreisende Fremde gewöhnt.

Während sie mit höchster innerer Anspannung und Aufmerksamkeit in den Ort ritten, schenkte ihnen außer einem streunenden Hund niemand ein besonderes Interesse. Die Menschen, die sie zu zweit sowie hier und da auch in kleinen Gruppen vor Häusern und Werkstätten stehen und miteinander reden sahen, blickten kaum mehr als flüchtig zu ihnen hin. Manche hoben noch nicht einmal den Kopf. Sie schienen viel zu sehr mit sich selbst und dem beschäftigt zu sein, was das Thema ihrer lebhaften Unterhaltung war.

»Täusche ich mich oder benehmen sich die Leute hier wirklich reichlich merkwürdig?«, fragte Jakob leise, als sie den vom Schmelzwasser angeschwollenen Mühlbach passiert hatten und nun um den von ihm gespeisten Dorfteich ritten. Die einzelnen Häuser rückten näher und formten einen typisch dörflichen Straßenzug. Hinter einigen hohen Bäumen, die den Blick auf den Marktplatz verwehrten, ragte der Glockenturm der Kirche auf.

Bruder Basilius nickte. »Ihr täuscht Euch nicht Jakob. Mir scheint, die Mendelsheimer haben irgendetwas höchst Aufregendes zu bereden, was wichtiger ist als ein paar durchreisende Fremde.«

»Ja, einen Skandal oder den Tod eines mächtigen, unbeliebten Bürgers vielleicht«, mutmaßte Jakob, denn von einer Männergruppe, die vor einem Wirtshaus stand, drang spöttisches Gelächter zu ihnen herüber. »Na, uns soll es egal sein, was sie so bewegt. Hauptsache, sie sind beschäftigt. Umso besser für uns!«

»Da drüben ist die Werkstatt des Hufschmieds!«, rief Henrik und wies auf einen Schuppen zu ihrer Linken. Die beiden Tore der Schmiede standen sperrangelweit offen, was bei der Arbeit des Mannes nur zu verständlich war. Zumal es ein ungewöhnlich warmer, fast schon schwüler Tag war, der nicht so recht zur Jahreszeit passte.

Augenblicke später hörten sie auch den unverkennbaren metallischen Klang von Hammer und Amboss, die ihr hartes, rhythmisches Lied sangen. Von der Hufschmiede nur durch ein schmales, verwildertes Grundstück getrennt, lagen die Stallungen des Mendelsheimer Mietstalls.

Sie lenkten ihre Pferde auf die andere Straßenseite hinüber, schwangen sich vor der Werkstatt aus dem Sattel und grüßten den Hufschmied, der laut Aufschrift des ovalen Schildes über dem Eingang auf den Namen Alois Wenzel hörte und nur mit einer Lederschürze vor der nackten Brust zu ihnen trat.

Alois Wenzel hatte viel Ähnlichkeit mit einem Braunbären, wie Jakob fand. Denn der Mann überragte ihn um eine Kopfgröße und schien nur aus Muskeln zu bestehen, außerdem war er so dicht behaart wie ein Bär. Dunkelbraunes, krauses Haar zog sich von den Handrücken über die Arme bis hoch in den Nacken und bedeckte seine mächtige Brust wie ein Vlies.

»Ihr habt schon einen langen Weg hinter Euch«, stellte Alois Wenzel mit sachkundigem Blick sowohl auf ihre Pferde als auch auf ihre staubige Kleidung fest. »Und Mendelsheim scheint nicht das Ziel Eurer Reise zu sein.« In seiner Feststellung schwang eine Frage mit.

Bruder Basilius trug wie Jakob und Henrik seit ihrer Flucht aus Trier einfache Kleidung, die wenig Aufschluss über Herkunft und Beruf zuließ, und seine verräterische Tonsur verbarg er unter einem Hut. Allein das irische Kreuz, das von einem Kreis umschlossen wurde, trug er an der Lederschnur über seiner Kleidung. Er übernahm nun das Reden, wie man es von ihm, dem mit Abstand Ältesten in der Gruppe, wohl auch erwartete. Denn die Augen des Hufschmieds waren nach einem ersten prüfenden Blick auf dem Gesicht des Mönches ruhen geblieben.

»An Treffsicherheit vermag wohl allein Eure Hand mit dem Schmiedehammer Euer bewundernswert scharfes Auge zu überbieten, Meister Wenzel«, sagte er freundlich und mit großer Bedächtigkeit, als machte ihm die Last der Jahre schon schwer zu schaffen. »Unser Weg war fürwahr lang und staubig, kommen wir doch aus dem Bitburger Land. Aber die Meilen, die ich mit meinen gottes-fürchtigen Gefährten, meinem getreuen Schwager Ehrenfried und meinem jüngsten Neffen Florian, schon bewältigt habe, sind dennoch nur wie ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn ich daran denke, wie lang der Weg ist, der bis nach Rom noch vor uns liegt.«

»Ihr seid auf dem Weg nach Rom?«, fragte der Hufschmied überrascht und interessiert, während er sich in seinem dichten Pelz auf der Brust kratzte.

Bruder Basilius nickte mit ernster Miene. »Ja, in Erfüllung eines heiligen Gelübdes, das wir in einer Stunde größter Bedrängnis abgelegt haben«, log er munter drauflos, tat es jedoch so gesetzt, dass jedes Wort wie die Frucht langer Überlegung erschien. »Wir wollen uns der Pilgergruppe anschließen, die sich in diesen Tagen im Kloster Maria Laach versammelt und nach dem Ostersegen vom Kloster nach Rom aufbricht. Ihr habt sicher davon gehört.«

Der Hufschmied nickte. »Gewiss, und wer würde nicht gern an dieser frommen Pilgerreise teilnehmen! Ihr seid wahrlich gesegnet, dass Euch die Zeit sowie die nötigen Mittel vergönnt sind, um nach Rom pilgern zu können.« Ein wenig Neid sprach aus seiner Stimme.

Bruder Basilius verstand es ein bescheidenes Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. »Wir hoffen, dass uns der Verkauf unserer Tiere in Maria Laach genug einbringt, um die Pilgerreise bestreiten zu können. Es ist das Einzige, was uns an Besitz geblieben ist. Aber wir trennen uns mit frohem Herzen davon, um mit Lobpreis für die großen Gnadengeschenke unseres Allmächtigen auf den Lippen zu erfüllen, was wir in der Stunde der Not zu tun versprochen haben.«

Henrik nickte in stummem Ernst.

Der diskrete Hinweis, dass es ihnen keineswegs so rosig ging, schien den Hufschmied Alois Wenzel zu versöhnen. Denn er nickte und sagte gönnerhaft: »Ihr tut recht daran, Euer Gelübde um jeden Preis zu erfüllen. Zur Ehre Gottes ist wahrlich kein Opfer und keine Anstrengung zu groß. So, und nun sagt, was ich für Euch tun kann.«

»Ein neues Eisen, gut geschmiedet und fest vernagelt, damit ich das Tier in Maria Laach auch reinen Gewissens verkaufen kann, guter Mann«, antwortete Bruder Basilius und hob den linken Hinterhuf des Rotfuchses an.

Alois Wenzel warf einen kurzen Blick auf den Huf. »Wenn es weiter nichts ist, kann Euch schnell geholfen werden! Bringt ihn herüber!«

Sie banden den Schimmel und den Braunen draußen am Zügelbalken hinter der Tränke an und führten den etwas nervös schnaubenden Rotfuchs unter das Vordach der Hufschmiede.

»Kein schlechter Tag, den Ihr da gewählt habt, um nach Mendelsheim zu kommen«, sagte Alois Wenzel gesprächig, während er ein passendes Eisen für den Rotfuchs auswählte.

»So?«, fragte Bruder Basilius mit höflichem Interesse.

»Ja, denn wenn Ihr es nicht zu eilig habt und die Nacht über bleiben könnt, habt Ihr morgen gleich nach der Messe Gelegenheit Euch schon hier auf Eure Pilgerreise einzustimmen. Es wird Eurer Frömmigkeit gewiss sehr dienlich sein und Eure Widerstandskräfte gegen die finsteren Versuchungen des Teufels stärken, wenn Ihr hier Zeuge werdet, wie entschlossen wir Mendelsheimer die Wurzeln des Bösen in unserer Mitte ausreißen und in Rauch und Asche aufgehen lassen!«, erklärte der Hufschmied voller Stolz und Begeisterung, während er das Eisen mit der langen Zange ins Feuer schob. »Denn morgen wird Mendelsheim seine erste Hexenverbrennung zur Ehre Gottes erleben! Wir schicken nämlich ein Zigeunermädchen auf den Scheiterhaufen, das zu Satans dämonischen Anbeterinnen gehört und seinen bösen Zauber in unser Dorf gebracht hat!«

Jakob, der bis dahin eher gelangweilt mit Henrik bei den beiden anderen Pferden am Eingang gestanden hatte, zuckte wie von einem Schlag getroffen zusammen. Das Blut wich aus seinem Gesicht und ihm war, als hätte ihm jemand urplötzlich den Boden unter den Füßen weggezogen. »Ein Zigeunermädchen?«, stieß er mit halb erstickter Stimme hervor, denn seine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an.

»Ja, dieses Mädchen kam vor drei Tagen mit einem kleinen Zirkus in unser Dorf, geschickt getarnt als Tänzerin und Akrobatin, in Wirklichkeit aber im Auftrag ihres teuflischen Buhlen Luzifer«, fuhr der Hufschmied redselig fort, während er mit der einen Hand das Eisen im Feuer drehte und mit der anderen den Blasebalg betätigte. »Doch unser Bürgermeister hat die Hexe entlarvt, bevor sie noch mehr Verderben über uns bringen konnte. Und morgen steigt sie auf den Scheiterhaufen, diese Satanstochter Marga Bandi!«

Achtundzwanzigstes Kapitel

Entsetzen erfüllte Jakob. Wie eine kochend heiße Woge wallte es in ihm auf und schoss ihm in den Kopf. Das Blut rauschte wie ein Wildbach in seinen Ohren und der Schweiß brach ihm aus. »Nein! Das ist unmöglich!«, keuchte er und suchte unwillkürlich Halt am Torpfosten, denn die Kraft schien aus seinen Beinen zu weichen. Sie zitterten. »Nicht Marga!«

Zu ihrem Glück reagierten sowohl Bruder Basilius als auch Henrik geistesgegenwärtig. Der Schwede bekam plötzlich einen ebenso heftigen wie lauten Hustenanfall, in dem der letzte Teil von Jakobs entsetztem Ausruf unterging. Dabei legte er Jakob eine Hand auf die Schulter, als müsste er sich auf ihn stützen. In Wirklichkeit gab er ihm mit einem überaus schmerzhaften Griff zu verstehen, dass er sich um Gottes willen bloß zusammenreißen sollte. Gleichzeitig stieß der Mönch erschrocken hervor: »Ein Hexe hier in Mendelsheim? Allmächtiger, schütze uns vor den Ausgeburten des Bösen!« Er bekreuzigte sich und führte dabei das Pferd einen Schritt zur Seite, sodass der Rotfuchs dem Hufschmied den Blick auf Jakob verwehrte.

Henrik beugte sich hastig vor. »Wollt Ihr Euch und uns um Kopf und Kragen reden?«, zischte er Jakob warnend ins Ohr. »Hütet Eure Zunge und lasst Euch bloß nichts anmerken!«

Alois Wenzel hatte sein Augenmerk glücklicherweise auf das Eisen gerichtet gehabt, das allmählich zu glühen begann, und deutete die Aufregung in seinem Rücken als das verständliche Erschrecken von gottesfürchtigen Männern, die vom Hexenkult so abgestoßen waren wie er und seine Mitbürger.

»Ja, das elende Zigeunerpack, das man eigentlich mit Stumpf und Stiel ausrotten sollte, hat uns dieses gottlose Geschöpf ins Dorf geschleppt«, bekräftigte der Hufschmied noch einmal, bevor er fortfuhr: »Sie hat mit ihrer schwarzen Magie dem Neugeborenen unserer Frau Bürgermeisterin den Tod angehext und mit ihrem bösen Blick hat sie der besten Milchkuh von Bauer Michels das Kalb im Leib in eine Missgeburt verwandelt!«

»Was Ihr nicht sagt!«, sagte Bruder Basilius bestürzt, aber auf eine andere Art erschüttert, als Alois Wenzel ahnen konnte. »Und wie ist Euer Bürgermeister dieser Zigeunerin so schnell auf die Schliche gekommen?«

»Der Vinzenz Groll versteht sich eben auf solche Sachen und hat die Teufelszeichen erkannt. Er ist damit aufgewachsen, denn sein Vater war seinerzeit ein berühmter Hexenkommissar!«, rühmte der Hufschmied seinen Bürgermeister, zog das rot glühende Eisen aus dem Feuer und griff nun zum Schmiedehammer.

»Da könnt Ihr Euch in Mendelsheim aber glücklich schätzen einen solch tüchtigen Mann in Eurer Mitte zu haben, der sich auf dieses gottlose Geschäft versteht«, sagte Bruder Basilius mehrdeutig. »Aber sagt, wer hat denn die Befragung vorgenommen und über diese Zigeunerhexe zu Gericht gesessen? Habt Ihr Euren Bischof benachrichtigt?«

»Dazu war keine Zeit. Die dumme Amme unserer Bürgermeisterin hat der Zigeunerhexe nur für wenige Minuten erlaubt das Kind ihrer Herrin auf den Arm zu nehmen - und das hat schon gereicht, um es zu verhexen und es wenige Stunden später aus heiterem Himmel ersticken zu lassen. Und genau zur selben Stunde brachte Bauer Michels’ beste Milchkuh eine fürchterliche Missgeburt zur Welt! Und wisst Ihr, wer am Nachmittag bei Michels auf dem Hof war, angeblich nur um eine Kanne Milch zu erstehen? Diese Zigeunerhexe! Hier musste also schnell gehandelt werden, um dem blasphemi-schen Hexensabbat und dem Verderben so früh wie möglich Einhalt zu gebieten«, erklärte Alois Wenzel zwischen schwungvollen Hammerschlägen. »Unser Bürgermeister hat die Gefahr gerade noch rechtzeitig erkannt und sofort gehandelt, dem Himmel sei Dank! Denn wer weiß, was noch über uns gekommen wäre, wenn er diese Teufelsanbeterin nicht so schnell entlarvt hätte! Und so sieht es auch unser Pfarrer.«

»Also hat Euer Bürgermeister höchstpersönlich die. peinliche Befragung vorgenommen?«, fragte der Mönch nach.

»Ich wünschte, er hätte dieses verdorbene Geschöpf, das sich Luzifer und seinem Reich der Finsternis verschrieben hat, auf die Folter gespannt und sie allen Graden der Tortur unterzogen. Und diesen Wunsch teilen sie alle hier in Mendelsheim, das könnt Ihr mir glauben!«, versicherte der Hufschmied, als müsste er sich für eine beschämende Unterlassung entschuldigen. »Aber leider hatten wir weder Daumenschrauben noch spanische Stiefel oder wenigstens eine Streckbank zur Hand. Nun, sie hat auch so ihren Pakt mit dem Teufel und ihre Untaten gestanden.«

»Und wie habt Ihr sie dazu gebracht, sich als Hexe zu bekennen?«, wollte der Mönch wissen.

»Durch die Wasserprobe im Dorfteich!«, antwortete Alois Wenzel stolz. »Unser Bürgermeister hat ihr Arme und Beine zusammenbinden und sie dann in der Mitte des Teiches aus dem Kahn stoßen lassen. Dreimal ist sie wieder aufgetaucht und dreimal hat unser Bürgermeister sie mit einem langen Stab wieder unter Wasser gedrückt. Als sie dann das dritte Mal wieder aufgetaucht ist, war ihre Schuld bewiesen. Denn nur eine Hexe kann die Wasserprobe überleben, wie jedermann weiß. Und sie hat dann auch alles gestanden, als Vinzenz ihr in Aussicht stellte sie in einen Kessel mit kochendem Öl zu tauchen, wenn sie nicht bald die Wahrheit gestehe. Und da hat sie endlich ihre verlogenen Unschuldsbeteuerungen aufgegeben. Wir haben es heute Mittag mit unseren eigenen Augen gesehen. Ganz Mendelsheim war am Dorfteich versammelt.«

»Das glaube ich Euch«, sagte Bruder Basilius.

»Morgen steigt sie auf den Scheiterhaufen und büßt für ihr dämonisches Treiben mit dem Gang durchs Feuer. Auf dem Marktplatz wird jetzt schon alles für die Hexenverbrennung vorbereitet. Ich sage Euch, das wird ein großartiges Erlebnis, das sich hier niemand entgehen lassen wird, und wenn er sich auf Krücken zum Marktplatz schleppen muss!«

»Ich hoffe, Ihr habt die Hexe sicher hinter Schloss und Riegel«, sagte Bruder Basilius mit fragendem Unterton und scheinbar sorgenvoller Miene.

»Worauf Ihr Euch verlassen könnt! Wir haben sie in Eisen gelegt und im fensterlosen Keller des Bürgermeisters eingeschlossen, der zudem noch von zwei Männern bewacht wird, Tag und Nacht!«

Der Mönch seufzte. »Mhm, das ist beruhigend.«

Alois Wenzel kühlte das Eisen, das er indessen in die richtige Form gebracht hatte, in einem Wasserbottich ab und beschlug nun den Huf des Rotfuchses. Das Eisen war noch heiß genug, um etwas Horn vom Huf zu brennen. Und dieser scharfe Geruch brachte Jakob fast zum Erbrechen. Mit kalkweißem Gesicht stand er am Tor.

Während Alois Wenzel die Hufnägel einschlug, lamentierte er darüber, dass sich der Wanderzirkus wie der Blitz aus dem Staub gemacht hatte, als bekannt geworden war, dass man Marga zum Bürgermeister gebracht und der Hexerei angeklagt hatte.

»In panischer Angst ist dieses Zigeunervolk davongejagt, das Gott ja nicht von ungefähr dazu verdammt hat, auf ewig heimatlos durch die Welt zu ziehen. Denn Zigeuner sind wie allseits bekannt die Nachkommen jener gottlosen Ägypter, die sich kurz nach Christi Geburt geweigert haben die Heilige Familie auf ihrer Flucht aufzunehmen. Und dafür hat unser Herr sie auf ewig verflucht«, sagte der Hufschmied, erfüllt von tiefem Aberglauben und ebenso großem Abscheu. »Ich bin sicher, dass dieses junge Satansweib unter den Vaganten noch Komplizinnen gehabt hat, die mit ihr nachts Hexensabbat gefeiert und die Gräber ungetaufter Kinder entweiht haben. Schwarze Magie und auch sonst alles Dämonische liegt diesem Pack im Blut, Ihr habt mein Wort drauf!«

»Es ist wahrlich bestürzend, wie abscheulich Gottes Wort und das Kreuz immer wieder missbraucht und beschmutzt werden«, erwiderte Bruder Basilius bedrückt.

»In der Tat! Wenn ich Euch und Euren Verwandten einen guten Rat geben kann: Lasst Euch unsere morgige Hexenverbrennung nicht entgehen. Sie wird Euch ein unvergessliches Erlebnis sein und Euch in rechter Weise auf Eure fromme Pilgerreise einstimmen. Und wenn Ihr Geld sparen wollt und mit einem bescheidenen Quartier zufrieden seid, kann ich Euch gleich nebenan im Mietstall meines Bruders Bruno einen Schlafplatz auf dem Heuboden verschaffen. Es wird Euch nur ein paar Heller kosten.«

Bruder Basilius warf Jakob über den Rücken des Pferdes hinweg einen kurzen Blick zu. »Ich denke, wir nehmen Euren guten Rat wie auch Euer freundliches Angebot dankbar an und bleiben über Nacht in Eurem gottesfürchtigen Ort«, sagte er mit einem kaum merklichen Seufzen.

Jakob hatte Mühe sich in Gegenwart des Schmiedes und wenig später bei dessen fettbäuchigem Bruder im Mietstall seine Erschütterung und Erregung nicht anmerken zu lassen. Dabei tobte in ihm ein Sturm wilder Gefühle, der mit aller Macht gegen seine äußere Selbstbeherrschung anlief.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihre Pferde untergestellt hatten und Bruder Basilius mit Bruno Wenzel handelseinig geworden war. Der Mietstallbesitzer zeigte ihnen, wo sie die Nacht verbringen konnten.

Endlich sagte der Mönch: »Gut, das ist geregelt. Lasst uns nun einen Gang durch den Ort machen.«

Kaum standen sie auf der Straße und außer Hörweite der Gebrüder Wenzel, da packte Jakob Bruder Basilius am Arm und stieß beschwörend hervor: »Wir dürfen das nicht zulassen, Bruder Basilius! Marga ist keine Hexe!«

»Natürlich ist sie das so wenig wie Ihr und ich!«, pflichtete der Mönch ihm bei. »Aber wartet, bis wir an einem ruhigen Ort ungestört reden können.«

Sie gingen zum Dorfteich, setzten sich unter eine der Weiden und taten so, als wollten sie eine wohlverdiente Rast mit einem kleinen Imbiss verbinden. Dabei war keinem von ihnen nach Essen zu Mute.

»Marga hat mir in Trier das Leben gerettet und dabei ohne Zögern ihr eigenes riskiert. Ich bin es ihr schuldig, dass ich versuche sie vor dem Scheiterhaufen zu bewahren!«, beschwor Jakob seine Gefährten, kaum dass Bruder Basilius ihm zu verstehen gegeben hatte, dass sie nun frei miteinander reden konnten. Die Vorstellung, dass Marga vor wenigen Stunden an diesem Teich verzweifelt darum gekämpft hatte, nicht zu ertrinken, war entsetzlich und machte ihn ganz elend - wie auch andere Bilder, die sich seinem geistigen Auge aufdrängten. »Es darf nicht noch einmal passieren! Ich könnte es nicht ertragen!«

Henrik nickte mit finsterer Miene. »Warum sind in Aufruhr die Völker, wohin führt der Wahnwitz die Nationen?«, murmelte er kopfschüttelnd. »Oh Herr, schenk gnädig aller Dunkelheit den Aufgang deines Angesichts!«

Der Mönch hob leicht die Augenbrauen und sah Jakob prüfend an. »Mit >noch einmal< meint Ihr den Tod Eurer Mutter, nicht wahr?«, fragte er leise.

Henrik hob bestürzt den Kopf, während Jakob zusammenzuckte und leichenblass wurde. In seinen weit aufgerissenen Augen standen Schmerz und Erschrecken. »Woher.?« Er sprach nicht weiter.

Bruder Basilius nickte traurig. »Habe ich also richtig vermutet: Eure Mutter verlor ihr Leben als angebliche Hexe auf dem Scheiterhaufen«, sagte er voller Mitgefühl.

Jakob schluckte heftig. »Woher wisst Ihr das?«, fragte er mit zitternder Stimme.

»Ich habe es nicht gewusst, aber aus allem, was Ihr seit unserem ersten Zusammentreffen in Himmerod erzählt und angedeutet habt, hatte sich bei mir eine vage Vermutung gebildet«, antwortete der Mönch. »Als ich Euch in der Nacht nach der Flucht aus Trier von Bruder Anselm und den beiden Hexenbischöfen berichtete, da fiel es mir nicht schwer mir anhand Eurer Reaktionen ein Bild von dem zu machen, was Euch wohl schon in früher Kindheit widerfahren ist.« Er machte eine kurze Pause. »Natürlich liegt es ganz bei Euch, ob Ihr darüber reden oder weiterhin schweigen wollt.«

Jakob senkte den Kopf, denn er spürte Tränen in den Augen.

»Jetzt ist es egal. und es ist nicht viel, was es. zu erzählen gibt«, begann er mit stockender Stimme und die Erinnerungen rissen ihn mit sich wie eine mächtige Flut, ohne dass er sich dagegen wehrte. »Ich wuchs mit meiner Mutter in einem kleinen Dorf im Bergischen Land auf. Mein Vater war ein durchziehender Landsknecht aus Bayern, der meine Mutter, eine einfache Magd, sitzen ließ, als sie schwanger wurde. Der Bauer, bei dem sie in Diensten stand, hatte ihr schon immer hinter dem Rücken seiner Frau nachgestellt. Und nun glaubte er, mit meiner Mutter leichtes Spiel zu haben. Doch sie weigerte sich standhaft sich ihm hinzugeben und ihm zu Willen zu sein. Daraufhin jagte er sie vom Hof. Sie kam bei einer alten Hebamme unter, die in einer kleinen Hütte hauste und schon bei vielen schweren Geburten ihr Können bewiesen hatte. Doch sie war mittlerweile halb erblindet und begann meine Mutter in die Kunst ihres Gewerbes und in die Wirkung heilender Kräuter und Säfte einzuweihen. Und je schlechter ihr Augenlicht wurde, desto mehr Verantwortung übertrug sie meiner Mutter. Sie war eine sanfte, großherzige Seele und ich nannte sie Tante Hildegard, obwohl wir nicht miteinander verwandt waren. So vergingen die ersten sieben Jahre meines Leben. Dann kam der schlimme Sommer vor nunmehr fast elf Jahren.«

Jakob verstummte kurz und blickte auf seine Hände im Schoß, die nicht aufhören wollten zu zittern.

»Innerhalb weniger Wochen folgte eine Katastrophe nach der anderen«, fuhr er dann fort. »Erst vernichteten schwere Hagelschauer das reife Korn auf dem Halm, dann brach die Schweinepest aus und schließlich rissen nächtens Wölfe ungewöhnlich viele Schafe auf den Sommerweiden. Zur selben Zeit konnten Tante Hildegard und meine Mutter gleich zweimal hintereinander nicht vermeiden, dass die Frauen, die sie gerufen hatten, ihr Kind bei der Niederkunft verloren. Vermutlich wäre nichts geschehen, wenn in jenen Wochen nicht einer jener berüchtigten Hexenkommissare durchs Land gezogen wäre, deren blutiges Treiben von den Obrigkeiten in unserem Bezirk kräftig unterstützt wurde. So begann bei uns die Hexenjagd, deren Opfer Tante Hildegard und meine Mutter wurden. Der Bauer, der meine Mutter einst von seinem Hof gejagt hatte, denunzierte sie. Wäre ich einige Jahre älter gewesen, wäre ich vielleicht ebenfalls verbrannt worden. So jedoch begnügte sich der Hexenkommissar damit, mich zu zwingen an. an der Verbrennung. meiner Mutter teilzunehmen. bis zum schrecklichen Ende. Ich habe meine Mutter kaum wieder erkannt, als man sie zum Pfahl schleppte. so schrecklich hatte man sie gefoltert. Und als man sie dann. auf den Scheiterhaufen führte und die Flammen aufloderten, da.«

Er vermochte die Tränen nun nicht länger zurückzuhalten und ihm versagte endgültig die Stimme. Mit einem verzweifelten Schluchzen schlug er die Hände vors Gesicht, krümmte sich zusammen, als wollte er sich einrollen, und wurde von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. Er hörte nicht, was Henrik und Bruder Basilius zu ihm sagten, doch er spürte ihre Hände und dass sie seinen Schmerz teilten und nachempfanden, was er erlitten hatte und bis an sein Lebensende nicht vergessen würde.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Weinkrampf gelegt und er sich wieder genug unter Kontrolle hatte, um ihnen auch noch den Rest seiner Lebensgeschichte erzählen zu können.

»Es war der Alchimist Quirin Schlehenbusch, der mich nach dem Tod meiner Mutter auf seinen Gutshof holte und sich meiner annahm. Er war ein kauziger Mann, verwitwet und kinderlos, der zwei gut florierende Pulvermühlen besaß und in den langen Kriegsjahren ein ansehnliches Vermögen verdient hatte, da er skrupellos mit allen Parteien Geschäfte gemacht hatte. Er behandelte mich mal wie einen Knecht, mal wie einen bevorzugten Lehrling. Auf der einen Seite lehrte er mich schreiben und lesen, gab mir Bücher zur Lektüre und erlaubte mir stundenlang bei ihm zu sein, wenn er in seinem Studierzimmer saß oder in seiner Experimentierküche wie besessen an der wundersamen Formel zur Herstellung von Gold arbeitete, an die er unerschütterlich glaubte. Andererseits gab es aber auch immer wieder Tage oder gar Wochen, in denen er mich wie Luft behandelte.« Jakob schüttelte in Erinnerung an diese Zeit verwundert den Kopf. »Ich habe nie herausgefunden, was Quirin bewegt hatte mich nach Gut Schlehenbusch zu holen und mich unter seinen Schutz zu stellen, als von den Dörflern niemand mir auch nur ein Stück Brot geben, geschweige denn sich meiner annehmen wollte. Denn nach eigenem Bekunden hielt er nichts von Rücksichtnahme auf andere oder gar von Religion, obwohl ihn so etwas wie eine streitbare Freundschaft mit Kaplan Bierbach verband. Er glaubte nur an das, was man mit Händen fassen, mit Experimenten beweisen - und mit Geld kaufen konnte.«

Henrik lächelte mitleidig. »Doch die mit Gold getünchten Zwerge, die Götter von Schmelzern und Gießern! Nach ihnen bilden sich die Tröpfe, ein jeder, der auf sie vertraut!«, spottete er.

Jakob nickte. »Ja, er war auf seine Art wohl ein Schmelzer und Gießer. Wenn er an etwas geglaubt hat, dann an die Macht des Goldes. Für alles andere hatte er nur Geringschätzung übrig, die er auch nicht verbarg. Deshalb war er bei den Leuten in unserer Gegend so unbeliebt. Ich glaube, sie hätten ihn damals am liebsten mit auf den Scheiterhaufen geschickt. Aber dafür war er doch wohl zu einflussreich.« Jakob stutzte. »Vielleicht war es diese Verachtung für die Leute, die ihn dazu bewogen hat, ausgerechnet den von allen ausgestoßenen Bastard einer verbrannten Hexe bei sich aufzunehmen. Aber auch das ist nur eine Vermutung. Sicher werde ich es nie wissen.«

»Und was ist aus Eurem kauzigen Gönner geworden?«, fragte Bruder Basilius.

»Eine Horde ehemaliger Landsknechte ist eines Abends im September über Gut Schlehenbusch hergefallen«, fuhr Jakob mit seinem Bericht fort. »Ich weiß nicht, was zwischen Quirin und dem Anführer der gut drei Dutzend Marodeure vorgefallen ist. Er hatte zu dieser Stunde sicherlich schon mehrere Gläser Wein getrunken, denn Kaplan Bierbach hatte ihm beim Abendessen Gesellschaft geleistet. Gut möglich, dass Quirin diese gewissenlosen Söldner auf seine arrogante Art erst richtig gereizt hat. Auf jeden Fall haben sie auf Gut Schlehenbusch ein entsetzliches Blutbad angerichtet und weder den jungen Laufburschen Thomas noch die alte Magd Agnes verschont.« Die Erinnerung ließ ihn schaudern und die Sätze kamen ihm nun wieder stockend über die Lippen. »Sie haben alle ohne Ausnahme hingeschlachtet. Die Mägde haben sie vorher geschändet. Kaplan Bierbach haben sie an die Scheunenwand genagelt. Und Quirin haben sie.« Er führte den Satz nicht zu Ende, sondern schüttelte nur den Kopf, als weigerte er sich die entsetzlichen Bilder auch noch in Worte zu fassen. »Zum Schluss haben sie ihn im Brunnen ertränkt. Dass ich dieser Schlächterei entkommen bin, verdanke ich wohl meinem harten Schädel. Der Söldner, der kaum älter als ich gewesen ist, glaubte wohl mir den Schädel gespalten zu haben. Doch das viele Blut, das mir über das Gesicht strömte, als ich bewusstlos zu Boden stürzte, kam nur aus einer klaffenden Platzwunde. Er hielt mich für tot und gesellte sich wieder zu seinen Komplizen, die sich mit dem Töten ihrer Opfer mehr Zeit ließen, ich hatte das Glück, dass niemand sich überzeugte, ob ich auch wirklich tot war. Als ich zu mir kam, hatte die Bande Schlehenbusch schon verlassen - und niemand außer mir war noch am Leben.«

»Barmherziger Gott!«, murmelte Bruder Basilius erschüttert. »Der Dreißigjährige Krieg hat die Menschen wahrlich zu hunderttausenden in mitleidlose, blutrünstige Schlächter verwandelt!«

Jakob nickte düster. »Ich habe mich davongeschleppt, weil ich nicht wusste, was mit mir geschehen würde, wenn man mich als einzigen Überlebenden verhörte. Ich wollte nur möglichst schnell weg aus dieser Gegend, wo jeder wusste, wer ich war. Ich schlug mich zum Rhein durch und. beschaffte mir auf dem Weg dorthin einen Esel und einen Karren.«

Ein flüchtiges Lächeln huschte bei dem Wort »beschaffen« über das Gesicht des Schweden.

»Tja, und dann traf ich im Februar am Laacher See auf Euren Bruder Anselm. Damit begann der dritte Alptraum meines Lebens.« Jakob atmete tief durch und fühlte sich irgendwie befreit, weil er nun keine Geheimnisse mehr vor den beiden hatte. »So, jetzt wisst Ihr, wer ich bin und woher ich komme.«

Bruder Basilius legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ihr habt trotz Eurer Jugend wahrlich schon viel Schweres und Bitteres ertragen müssen, Jakob.«

Jakob wurde sich plötzlich wieder bewusst, wo sie sich befanden und was den Anstoß zu seiner Lebensbeichte gegeben hatte. Er schüttelte nun unwillig den Kopf. »Lasst uns nicht länger von mir reden! Hier geht es um Marga. Wir müssen etwas unternehmen, um sie vor dem Scheiterhaufen zu bewahren!«

»Was immer in unserer Macht steht, wir werden es versuchen«, versprach Bruder Basilius.

»Aber was können wir denn tun?«, fragte Jakob und quälende Angst stand auf seinem Gesicht.

»Dem Himmel sei Dank, dass Mendelsheim nicht Trier ist oder Koblenz. Da hätten wir kaum eine Chance etwas für dieses Mädchen zu tun«, sagte Henrik. »Aber in einem Dorf wie diesem können drei entschlossene Männer viel erreichen, wenn sie einen guten Plan und die Überraschung auf ihrer Seite haben.«

»Habt Ihr schon eine Idee?«, fragte Jakob hoffnungsvoll. »Glaubt Ihr, wir können die Wachen überwältigen und Marga aus dem Kerker befreien?«

Henrik zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, wage es jedoch zu bezweifeln. Der Hufschmied hat davon gesprochen, dass sie das Mädchen in Eisen gelegt haben. Wenn wir also erst Ketten aufschlagen müssen, um sie aus dem Keller zu holen, können wir das gleich vergessen.«

»Bevor wir uns den Kopfzerbrechen, sollten wir uns mit den Örtlichkeiten vertraut machen und versuchen noch mehr darüber in Erfahrung zu bringen, wie gut das Zigeunermädchen bewacht ist und wer die Schlüssel hat«, schlug Bruder Basilius vor. »Denn zu einem blutigen Handgemenge darf es auf keinen Fall kommen!«

»Lieber wollt Ihr zulassen, dass eine Unschuldige bei lebendigem Leib verbrannt wird?«, fuhr Jakob erregt auf. »Ich sehe das anders, Bruder Basilius. Wer sich als Wache zum Handlanger dieser gnadenlosen Hexenjäger macht, hat nichts anderes verdient als notfalls sein eigenes Blut zu schmecken!«

Bruder Basilius zeigte sich gekränkt. »Schlimmer noch als die Brutalität der Gewaltmenschen ist die Gleichgültigkeit der Zuschauer. Und grausamer noch als das Zuschlagen der Täter ist die schweigende Komplizenschaft des Publikums. Denn erst durch seine Passivität verschafft es den Henkern freie Bahn. Ja, Schweigen ermutigt den Folterknecht in seinem Tun. Deshalb müssen wir Christen Partei ergreifen, denn Neutralität hilft immer nur dem Unterdrücker, niemals dem Opfer!«

»Na also!«, sagte Jakob mit grimmiger Genugtuung, glaubte er doch den Mönch in seiner Überzeugung ins Wanken gebracht zu haben.

»Ja, all das ist richtig. Und leider stimmt auch, was Tacitus schon angeprangert hat, als er schrieb: >Die Menge ist so beschaffen, dass sie, wenn sie nicht selber zittert, andere zittern lässt<«, fuhr Bruder Basilius in scheinbarer Übereinstimmung mit Jakob fort. Dann aber fügte er hinzu: »Nur wird aus Unrecht, mit dem ein anderes Unrecht bekämpft wird, niemals Recht. Es fügt dem ersten nur ein zweites Unrecht hinzu. Aber bevor wir uns weiter über theoretische Standpunkte streiten, sollten wir jetzt erst einmal ein scharfes Auge auf die hiesigen Örtlichkeiten werfen!«

Jakob nickte stumm und erhob sich. Aber insgeheim sagte er sich: Dann hole ich Marga eben auf eigene Faust aus dem Keller und notfalls nehme ich es auch ganz allein mit den Wachen auf!

Neunundzwanzigstes Kapitel

Knappe zwei Stunden später hatte sich Jakobs wilde Entschlossenheit in bedrückende Ernüchterung verwandelt. Ihn beherrschte ein entsetzliches Gefühl der Hilflosigkeit angesichts dessen, was sie beobachtet und in Erfahrung gebracht hatten.

Mehrmals waren sie um den Marktplatz herumspaziert, in dessen Mitte ein Zimmermann mit seinen beiden Gehilfen schon den Pfahl in den Boden gerammt hatte, an den Marga morgen gebunden werden sollte. Die Männer arbeiteten nun an einem kleinen Bretterpodest, auf dem die Verurteilte stehen sollte. Eine erste Fuhrwerkladung Reisig und trockene Äste wartete schon darauf, zu einem Scheiterhaufen rund um Pfahl und Podest aufgehäuft zu werden. Der Anblick dieser Hinrichtungsstätte hatte Jakob einen Schauer nach dem anderen durch den Körper gejagt.

Sie hatten sich zum klotzigen Haus des Bürgermeisters begeben, dem die Mühle beim Dorfteich gehörte, es mit scheinbarer furchtsamer Einfalt begafft und sich bemüht dabei jedes Wort der Dorfbewohner aufzuschnappen, die wie sie vor dem Haus standen und sich aufgeregt über die anstehende Hexenverbrennung unterhielten. Anschließend hatte Bruder Basilius einige kostbare Heller in der gut besuchten Dorfwirtschaft am Markt geopfert, um sich auch dort noch umzuhören. Und was sie in der Schenke mit den rußgeschwärzten Deckenbalken erfahren hatten, war alles andere als Mut machend gewesen.

»In das Haus des Bürgermeisters eindringen und das Mädchen im Handstreich da herausholen zu wollen wäre reinster Wahnwitz. Das können wir vergessen«, zog Henrik nüchtern ein Fazit. Sie hatten sich hinter die Kirche zum Friedhof begeben, um ungestört reden zu können, und saßen nun auf der niedrigen Mauer aus Feldsteinen, die den Gottesacker umschloss. »Leider ist der Kellerraum von außen weder durch eine Hoftreppe noch durch ein Fenster zu erreichen. Man gelangt nur durch die innere Kellertreppe in das Verlies, wo Marga angekettet ist.«

»Und von den Wachen einmal ganz abgesehen halten sich einfach zu viele Leute unter dem Dach von Vinzenz Groll auf, als dass ein überraschendes Zuschlagen Aussicht auf Erfolg hätte«, fügte Bruder Basilius niedergeschlagen hinzu. »Er hat die Familien seiner beiden jüngeren Brüder, die außerhalb des Dorfes Bauernhöfe bewirtschaften, in seinem Haus zu Gast, damit sie alle an der Morgenmesse vor der Hexenverbrennung teilnehmen können. Und während des Gottesdienstes wollen sie die Wachen im Keller sogar verdoppeln und noch zwei Männer vor dem Haus postieren. Zu glauben, sie alle ohne Blutvergießen überwältigen zu können, ist Illusion.«

»Dann nehmen wir den Bürgermeister eben als Geisel und zwingen ihn Marga freizulassen!«, schlug Jakob vor.

»Nein!«, wehrte Bruder Basilius sofort ab. »Auch das könnte nur allzu leicht zu einem Handgemenge und dann zu einem Blutbad führen.«

»Selbst wenn es uns gelänge ihn in unsere Gewalt zu bringen und Marga freizupressen, so würden wir doch nicht weit kommen«, sagte Henrik, noch bevor Jakob gegen die Haltung des Mönches protestieren konnte. »Wir hätten sofort mehrere Dutzend Verfolger im Nacken und keine reelle Chance ihnen zu entkommen.«

Angestrengt suchten sie nach einer halbwegs erfolgversprechenden Idee, wie sie Marga befreien konnten. Sie grübelten und zermarterten sich das Gehirn, doch was immer ihnen in den Sinn kam, erwies sich schon nach kurzer Prüfung als untauglich.

»Mein Gott, wir können Marga doch nicht tatenlos dem Tod auf dem Scheiterhaufen ausliefern!«, begehrte Jakob verzweifelt auf, als die Sonne schon tief im Westen stand und die Dämmerung nicht mehr fern war. »Irgendetwas müssen wir doch tun! Und wenn wir dem Bürgermeister das Haus über dem Kopf anstecken!«

Henrik hob abrupt den Kopf und sah Jakob mit einem halb verblüfften, halb begeisterten Lächeln an. »Das ist gar kein so schlechter Vorschlag!«, rief er. »Ich habe noch einen kleinen Beutel Schwarzpulver, der uns dabei ausgezeichnete Dienste leisten könnte.«

»Ja, das gäbe viel Aufregung und ein großes Durcheinander, das wir nutzen könnten!«, pflichtete Bruder Basilius ihm bei. »Aber dieser Brandanschlag dürfte auf keinen Fall bei Nacht stattfinden! Es sind Kinder und Frauen im Haus und es wäre gewissenlos diese in Gefahr zu bringen! Und gewiss würde niemand das Mädchen von seinen Ketten befreien. Wer weiß, ob wir genug Zeit hätten sie aus den Flammen zu holen.« Er schüttelte den Kopf und sagte niedergeschlagen: »Nein, ich furchte, dass Euer Vorschlag bei näherem Besehen doch nicht so gut ist, wie er mir anfangs erschienen ist.«

»Es braucht weder das Haus des Bürgermeisters zu sein noch bei Nacht zu geschehen!«, meinte Henrik mit einem verschmitzten Grinsen. »Denn mir ist da plötzlich ein Einfall gekommen, wann und wie wir die abergläubischen Mendelsheimer Bürger am besten von ihrer so heiß ersehnten Hexenverbrennung ablenken und uns einen guten Vorsprung verschaffen können!«

Jakob bedrängte ihn sofort mit Fragen. Auch Bruder Basilius lauschte gespannt, was der Schwede ihnen nun vortrug. Seine Idee fand ihre einhellige Zustimmung, auch wenn sie bei der Verwirklichung auf ein gutes Quäntchen Glück angewiesen waren. Aber angesichts der Tatsache, dass sie nur zu dritt waren und nicht skrupellos vorgehen durften, blieb ihnen gar nichts anderes übrig als einige Risiken einzugehen.

Sie nutzten die letzte Stunde Tageslicht, um sich noch einmal in Mendelsheim umzusehen. Ihre Aufmerksamkeit galt besonders Häusern und Schuppen, die am Rand des Dorfes standen. Dazu gehörten im Südwesten die Mühle beim Dorfteich sowie die Werkstatt eines Fassbinders am westlichen Dorfrand. Als sie nach einem letzten Rundgang auf dem Weg zu ihrem Quartier wieder über den Marktplatz kamen, war das Brennholz des Scheiterhaufens schon bis auf Hüfthöhe angewachsen. Alles war für die Hexenverbrennung vorbereitet.

Da sich noch viele andere Neugierige auf dem Platz herumtrieben, fiel es niemandem auf, dass auch Henrik mehrfach um den Scheiterhaufen herumging und unauffällig die Gebäude einer Prüfung unterzog, die sich rund um den Marktplatz gruppierten.

»Und?«, fragte Bruder Basilius leise.

»Sie werden das Mädchen mit dem Gesicht zur Kirche an den Pfahl binden.«

Der Mönch nickte. »Hexen sollen im Angesicht des Kreuzes vom Feuer verzehrt werden.«

»Dann ist die Giebelluke unter dem Flaschenzug des Hauses dort drüben der am besten geeignete Ort«, antwortete der Schwede und deutete auf ein schmales Fachwerkhaus, das auf der gegenüberliegenden Marktseite stand.

Jakob machte ein nachdenkliches Gesicht. »Von dort bis zum Scheiterhaufen sind es aber gute fünfzig Schritte, Henrik! Traut Ihr Euch das zu?«, fragte er skeptisch.

Henrik verzog keine Miene. »Hoffen und vertrauen heißt über den Horizont hinausschauen«, erwiderte er trocken. »Und nun lasst uns sehen, wo wir einige Pechfackeln und ein paar alte Säcke beschaffen können. Es gibt noch einiges zu erledigen und vorzubereiten.«

Spät in dieser Nacht, als Henrik im Mietstall vor der offenen Dachluke des Heubodens saß und im Licht des Mondes mehrere Pfeile seiner Armbrust mit Pech und Schwarzpulver präparierte, plagten Jakob schwere Zweifel - und zwar nicht nur am Erfolg ihres Planes.

»So vieles verstehe ich einfach nicht«, gestand er Bruder Basilius mit leiser Stimme, während von unten das Scharren und Schnauben der Pferde kam. »Das Leben kommt mir manchmal völlig sinnlos vor, wie ein wilder Strudel und gänzlich ohne Ziel. All die Dinge, die den Menschen im Guten wie im Schlechten zustoßen, aber ganz besonders, was sie erleiden müssen, auch wenn sie sich um ein noch so. nun, sagen wir: anständiges Leben bemühen.«

»Warum sprecht Ihr nicht aus, was Ihr zuerst sagen wolltet?«, unterbrach ihn der Mönch. »Denn >gottgefällig< ist doch wohl das Wort, das Ihr auf der Zunge hattet, nicht wahr?«

Jakob zuckte die Achseln und nickte dann. »Ja, stimmt«, gab er zu. »Doch sagt mir, was hat es zu bedeuten, wenn sich Menschen abrackern und um ein gottgefälliges Leben bemühen, aber dennoch nur eine bittere Erfahrung nach der anderen einstecken müssen? Wo liegt da der Sinn sich überhaupt an irgendwelche religiösen Gebote oder weltlichen Gesetze zu halten?«

Der Mönch sah ihn ernst an. »Ihr stellt mir schwere Fragen, auf die auch die größten Theologen und Philosophen bisher noch keine eindeutigen Antworten gefunden haben, geschweige denn ich. Was ich jedoch weiß, ist, dass es für unsere Existenz wichtig ist sich immer wieder dieses archimedischen Punktes unseres Seins zu versichern, der weit außerhalb der uns begreifbaren Welt liegt.«

Jakob runzelte verständnislos die Stirn. »Archimedischer Punkt? Was meint Ihr damit?«

»Diesen Punkt, der uns vor der irrigen Auffassung bewahrt, der Mensch könne jemals allwissend oder gar allmächtig sein. Und dieser archimedische Punkt ist Gott, unser Schöpfer, so wie er uns im Evangelium verkündet ist. Der Mensch ist weder der Maßstab aller Dinge noch die letzte Instanz. Gottes Wahrheit ist etwas, was der Mensch nicht einmal in Ansätzen erfassen kann. Und unser Leben ist wie die Rückseite eines Teppichs.«

»Wie bitte?« Jakob glaubte erst, der Mönch wollte sich einen Scherz erlauben.

Doch Bruder Basilius war es Ernst mit diesem Vergleich. »Ja, wie die Rückseite eines großen Teppichs, wo die Fäden in scheinbar wirrer Vielfalt und unmöglicher Farbigkeit hin und her und kreuz und quer laufen, wo es überall Knoten und lose Enden gibt und wo es an einer auch nur schwach erkennbaren Ordnung zu fehlen scheint«, führte er aus. »Dreht man dieses vermeintlich konfuse Wirrwarr der Fäden jedoch auf die richtige Seite, entfaltet sich ein herrliches Muster und fügt sich alles zu einem klaren Bild mit unzähligen zusammengehörenden Einzelheiten. Und genauso stelle ich mir den himmlischen Blick auf unser Leben vor, Jakob. Wir dagegen sehen von unten nur das Chaos. Doch wenn wir nach Gottes Willen leben, werden auch wir eines Tages die herrlichen Muster in unserem Leben erkennen.«

»Ich wünschte, ich könnte so fest daran glauben wie Ihr«, murmelte Jakob.

»Ihr seid auf dem besten Weg«, erwiderte Bruder Basilius.

»Ich?«, fragte Jakob mehr als überrascht.

»Ja, Ihr seid Euch dessen bisher bloß noch nicht bewusst geworden«, antwortete der Mönch. »Ihr seid voller Zweifel. Aber Zweifel stehen dem Glauben nicht im Weg, sondern sie sind Teil des Weges.«

Sie versanken für eine Weile in Schweigen und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Indessen strich Henrik nun auch auf den faustgroßen Leinenbeutel, der das explosive Schießpulver enthielt, ein wenig Pech. In dieses Pech drückte er mit seinem Messer Prisen von Schwarzpulver. Zum Schluss wickelte er eine dünne Schicht aus Moos und Stroh um den Beutel, sodass er nun wie ein kinderkopfgroßer Strohball aussah.

»So, das hätten wir!«, sagte er zufrieden und warf einen Blick zu den Sternen hoch. »Es dürfte auf drei Uhr zugehen, wenn ich mich nicht sehr täusche. Mendelsheim liegt in tiefem Schlaf. Die beste Zeit, um dieses Spielzeug am rechten Ort zu verstecken«, sagte er spöttisch und erhob sich. »Ich bin gleich zurück. Ihr könnt indessen schon mal damit beginnen, die Säcke mit Stroh zu füllen!«

Lautlos wie ein Schatten stieg der Schwede vom Heuboden und glitt in die Nacht hinaus, während Jakob und Bruder Basilius sich an die Arbeit machten die zerschlissenen Säcke zu füllen, die sie beim Dorfkrämer erstanden hatten.

Sie arbeiteten stumm, aber ohne Eile, denn sie hatten viel Zeit. Einmal jedoch hielt Jakob inne, wischte sich Staub und Schweiß von der Stirn und sagte mit quälender Sorge: »Gebe Gott, dass wir nicht ein schweres Gewitter bekommen, so drückend schwül, wie es noch immer ist. Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist Regen.«

Bruder Basilius sah nun auf und rückte seine Augenklappe zurecht. »Ja, Regen würde unseren Plan um einiges riskanter machen.«

Jakob wusste so gut wie der Mönch, dass das eine grobe Untertreibung war. Regen würde ihren Plan vereiteln - und Marga wohl unabwendbar den Tod bringen.

Dreißigstes Kapitel

Jakobs Sorge wuchs sich am Morgen zu beklemmender Angst aus, als er sah, wie die aufgehende Sonne von dunklen Gewitterwolken verdeckt wurde. Eine dräuende, regenschwere Wolkenwand schob sich aus Nordosten heran und legte sich über den morgenhellen Himmel.

»Bleibt es bei unserem Plan?«, fragte Jakob, als die Kirchenglocke zur Messe rief, zwischen Furcht und Hoffnung hin- und hergerissen.

Bruder Basilius schaute nicht weniger besorgt auf die langsam, aber stetig vorrückende Gewitterwand am Horizont. »Wie schon Hippokrates sagte: >Das Leben ist kurz, die Kunst weit, der günstige Augenblick flüchtig, der Versuch trügerisch und die Entscheidung schwierige Aber entscheiden müssen wir uns, und zwar rasch. Denn wenn wir unseren Plan über den Haufen werfen und uns etwas anderes einfallen lassen wollen.«

Henrik fiel ihm energisch ins Wort. »Ausgeschlossen! Dafür ist keine Zeit mehr. Wir bleiben bei dem, was wir abgesprochen haben!«, entschied er. »Wir müssen es einfach riskieren. Mit ein bisschen Glück fällt der Regen erst, wenn der Scheiterhaufen schon brennt.«

Damit war die Entscheidung gefallen. Denn Henrik Wassmo führte bei diesem gefährlichen Unternehmen nicht nur das Kommando, sondern er hatte auch den schwierigsten Part übernommen.

»Dann lasst uns gehen«, sagte der Zisterziensermönch.

An diesem Morgen ruhte die Arbeit im Dorf und auf den umliegenden Höfen. Ganz Mendelsheim war auf den Beinen und strebte aus allen Richtungen der Kirche zu. Sogar die Alten und Gebrechlichen wollten sich das grausige Schauspiel nicht entgehen lassen und schleppten sich auf Krücken oder auf Familienangehörige gestützt aus den Häusern. Aufgeregtes Stimmengewirr erfüllte die Gassen sowie Markt- und Kirchplatz. Und auf vielen Gesichtern lag ein Ausdruck freudiger Erregung.

Henrik, Jakob und Bruder Basilius gingen überaus gemächlich und richteten es so ein, dass sie zu den Letzten gehörten, die zur Kirche kamen. Das Gotteshaus war wie erwartet brechend voll, sodass sie nur noch ganz hinten beim Ausgang einen Stehplatz fanden. Genau das hatten sie sich auch erhofft.

Jakob bekam nicht viel von der Predigt des hageren Geistlichen mit, der sich mit gerötetem Gesicht über das gefährliche Unwesen der Hexen ereiferte. Seine Gedanken gingen immer wieder zu Marga. Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, als er sich vorstellte, wie sie im Haus des Bürgermeisters in einem fensterlosen, dunklen Loch und in Ketten eingeschlossen auf dem nackten Kellerboden kauerte. Den Tod auf dem Scheiterhaufen vor Augen und völlig ohne Hoffnung auf Rettung, musste sie halb wahnsinnig vor Angst sein. Er wünschte, es hätte eine Möglichkeit gegeben sie wissen zu lassen, dass er in Mendelsheim war und gemeinsam mit seinen Gefährten versuchen würde sie vor dem grässlichen Los zu bewahren. Denn nur zu gut erinnerte er sich daran, wie elend er sich vor Angst und Hoffnungslosigkeit in der Folterkammer gefühlt hatte.

Henrik stieß ihn vorsichtig an und Jakob schreckte aus seinen Gedanken auf. Der Pfarrer hatte seine geißelnde Predigt beendet. Und während die Gemeinde aus voller Kehle ein vertrautes Kirchenlied schmetterte, das Gottes Liebe und Barmherzigkeit pries, schritt der Geistliche zum Altar, um die Wandlung von Hostie und Wein vorzunehmen.

»Haltet Euch bereit!«, flüsterte der Schwede.

Jakob nickte.

Als die Gemeinde niederkniete und den Kopf beugte, nutzten die drei Gefährten die Gunst des Augenblicks, um unbemerkt aus der Kirche zu schleichen. Das Dorf lag wie ausgestorben vor ihnen.

Sie liefen zum Mietstall. Ihrer Berechnung nach hatten sie noch mindestens fünfzehn Minuten für die letzten Vorbereitungen. Das sollte reichen, um im richtigen Moment bereit zu sein und zuschlagen zu können.

Jakob rannte voraus. Als Henrik und Bruder Basilius im Hof des Mietstalls auftauchten, warf Jakob schon die beiden letzten Strohsäcke durch die Luke. Dann nahm er eine der übrig gebliebenen Pechfackeln an sich.

Augenblicke später war Henrik neben ihm. »Ihr wisst, was Ihr zu tun habt?«, stieß er hastig hervor, während er seine Armbrust und die präparierten Pfeile aus dem Versteck im Stroh holte. »Und habt Ihr Feuerstein und Lunte?«

Jakob nickte. »Alles parat, Henrik. Ich warte auf das vereinbarte Zeichen von Bruder Basilius und fange mit der Mühle an!«

»Ja, aber vergesst das Wasser nicht. Und dann lauft so schnell Ihr könnt in die Gasse hinter dem Mietstall zurück!«, ermahnte ihn der Schwede.

»Ich fliege wie die Morgenröte!«, versprach Jakob. Er wusste, dass jeder Fehler, den er jetzt beging, Marga den Tod bringen konnte.

Henrik fasste ihn an der Schulter und sah ihn eindringlich an, als ahnte er, was in ihm vorging.

»Ihr werdet schon alles richtig machen und unser Plan wird gelingen! Wie es in den Psalmen geschrieben steht:

>Sein Feuer frisst das eigene Haus, sein Unheil trifft das eigene Haupt!<«

Jakob nickte mit einem gequälten Grinsen und beeilte sich, dass er hinunter in den Hof kam. Dort rammte er die Pechfackel in einen der beiden mit Stroh gefüllten Säcke, klemmte sie sich dann unter die Arme und rannte los.

»Gottes Segen, Jakob!«, rief Bruder Basilius ihm nach, dessen Aufgabe es war, die Pferde aus dem Stall zu holen und zu satteln. »Und richtet nicht allzu viel Schaden an!«

Jakob ersparte sich eine Antwort. So schnell er konnte, lief er die Straße hinunter, die aus dem Dorf zu Teich und Mühle führte. Zwei Strohsäcke hatten sie gestern Nacht schon im Gebüsch hinter einem Schuppen am westlichen Dorfrand versteckt. Doch das Gelände um die Mühle herum war dafür zu offen und sie hatten das Risiko, dass die Säcke zufällig entdeckt wurden und Misstrauen erregten, nicht eingehen wollen. Deshalb schleppte sich Jakob jetzt damit ab.

Niemand begegnete ihm. Er lief um den Teich herum und gelangte zur stolzen Mühle von Bürgermeister Vinzenz Groll, der sich nun auch einen Namen als Hexenrichter machen wollte.

»Du wirst dein blaues Wunder erleben!«, keuchte Jakob und warf die beiden Strohsäcke auf die Treppe, die unter einem hölzernen Vordach lag.

Sein Herz raste, während er zu Feuerstein und Lunte griff. Es schien ihm unendlich lange zu dauern, bis er eine kleine Flamme entfacht hatte, mit der er die Pechfackel in Brand setzen konnte. Er stieß die blakende Fackel neben der Treppe in die Erde, nahm einen Sack und tunkte ihn zu einem Drittel in den Bach. Feuchtes Stroh entwickelte viel Rauch - und Rauch sollten die Bewohner von Mendelsheim zu sehen bekommen, aber nicht den des Scheiterhaufens!

Den trockenen Sack klemmte Jakob rechts unter das Vordach, damit es sogleich Feuer fing, während er den halb nassen auf der anderen Seite zwischen zwei Querstreben schob. Kaum hatte er das getan, als auch schon das Glockengeläut der Kirche klar und deutlich zu ihm an den Dorfrand drang. Der Gottesdienst war beendet! Nun wurde es ernst. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie die Menschen aus der Kirche strömten und sich beeilten, um auf dem Marktplatz einen möglichst guten Platz zu ergattern.

Jakob wartete und blickte angestrengt über den großen Dorfteich zu der Stelle bei der Hufschmiede hinüber, wo Bruder Basilius jeden Moment auftauchen musste, um ihm das Zeichen zu geben, dass man Marga vom Bürgermeisterhaus zum Scheiterhaufen führte.

Mit wild hämmerndem Herzen und der brennenden Fackel in der Hand stand Jakob am Teich und nahm den Blick nicht von der Straße.

Wo blieb der Mönch bloß?

War es Henrik überhaupt gelungen in das schmalbrüstige Haus mit der Luke und dem Flaschenzug unter dem Giebel einzudringen? Und war er mit der Armbrust wirklich so treffsicher, um auf fünfzig Schritt Entfernung einen Pfeil in ein derart kleines Ziel zu lenken? Was war, wenn es nicht zu der erhofften Panik kam?

Ihm brach der Schweiß aus, was nicht allein an dem drückenden Wetter lag. Die tief hängenden Wolken waren bedrohlich näher gerückt und konnten jeden Augenblick ihre schwere Regenlast zur Erde schicken.

In den wenigen, scheinbar unendlich langen Sekunden des Wartens schossen Jakob die erschreckendsten Gedanken durch den Kopf. Er zweifelte plötzlich an den Erfolgsaussichten ihres Planes. Es brauchte nur eine Kleinigkeit schief zu gehen, und dann würde Mar-ga.

Jakob führte den furchtbaren Gedanken nicht zu Ende, denn in diesem Augenblick tauchte Bruder Basilius auf und schwenkte einen Stofffetzen, der an den Zinken einer Heugabel hing.

Das Zeichen!

Jetzt begann der Wettlauf gegen die Zeit!

Jakob fuhr herum, sprang die Treppe hoch und setzte erst den trockenen und dann den halb nassen Strohsack in Brand. Die Flammen, die aus dem Stroh loderten, leckten heiß nach dem trockenen Holz des Daches, das augenblicklich Feuer fing. Auf der anderen Seite begann Rauch aus den Flammen aufzusteigen.

Noch nie war Jakob so schnell gerannt wie an diesem Morgen und noch nie mit einer brennenden Fackel in der Hand. Er überquerte die Straße, lief hinter mehreren Häusern vorbei, sprang über einen Abflussgraben und hatte dann endlich den Schuppen erreicht. Hastig zerrte er die beiden Strohsäcke aus dem nahen Gebüsch, lehnte sie gegen die Rückwand und setzte sie in Brand. Diesmal wartete er nicht, wie sich das Feuer entwickelte. Dieser Schuppen würde wie Zunder brennen, daran gab es nicht den geringsten Zweifel.

Und jetzt wie der Blitz zurück zu Bruder Basilius und dann zum Marktplatz!, feuerte er sich im Geiste selber an und holte alles aus sich heraus. Als er an der Hufschmiede vorbeikam, wurde ihm bewusst, dass er noch immer die Fackel in der Hand hielt. Ohne langes Zögern und aus dem Laufen heraus schleuderte er die Pechfackel auf das Dach der Hufschmiede und rief mit grimmiger Genugtuung: »Hier hast du dein Feuer, Alois Wenzel!«

Er schoss durch die Gasse, die auf die Rückseite des Mietstalls führte. Dort wartete Bruder Basilius schon auf ihn. Er saß im Sattel seines Braunen und hielt den Rotfuchs und den Schimmel am Zügel.

»Mühle, Schuppen und Hufschmiede brennen!«, rief Jakob ihm atemlos zu, während er sich auf sein Pferd schwang.

Der Mönch gab einen Stoßseufzer von sich. »Nun ja, besser Gebäude als Menschen.«

Jakob trieb den Schimmel an, bog um die nächste Hausecke und galoppierte die Gasse hoch, die auf den Marktplatz mündete. Er sah über die Köpfe der Menschenmenge hinweg und erblickte Marga, die schon gefesselt am Pfahl stand. Sie schrie in Todesangst und warf den Kopf hin und her, als hoffte sie sich noch von den Fesseln befreien zu können. Ihr gegenüber, auf der anderen Seite des Scheiterhaufens und mit dem Rücken zur Kirche, stand ein schwergewichtiger Mann in bestem Sonntagsstaat, bei dem es sich nur um den Bürgermeister Vinzenz Groll handeln konnte. Er hielt eine brennende Fackel. Neben ihm stand der Dorfgeistliche, bewehrt mit einem Kreuz in der einen Hand und einem Weihwasserschwenker in der anderen.

Der Pfarrer hob das Kreuz und richtete es auf Marga, deren gellende Schreie die Menge mit höhnischen Zurufen und Verwünschungen beantwortete. Dann senkte sich die Pechfackel in der Hand des Bürgermeisters.

Was nun geschah, war ein wilder Wirbel mehrerer Ereignisse, die fast zur selben Zeit passierten und nur wenige Sekunden in Anspruch nahmen, obwohl es Jakob viel länger erscheinen sollte.

»Feuer!«, schrie er der Menge zu. »Die Mühle brennt!«

Sein Schrei ging in einer ohrenbetäubenden Explosion unter.

Denn im selben Augenblick hatte Henrik seinen ersten Brandpfeil aus der Giebelluke abgeschossen. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel raste der Pfeil am Pfahl vorbei und bohrte sich in den vermeintlichen Strohball, den Henrik in der Nacht auf der Innenseite des Scheiterhaufens zwischen das Reisig gesteckt hatte.

Eine gewaltige Stichflamme schoss fast genau an der Stelle aus dem Scheiterhaufen hoch, wo der Bürgermeister seine Pechfackel in das Holz gestoßen hatte. Es sah so aus, als wollte die gewaltige Flamme nach ihm und dem Geistlichen greifen. Beide Männer ließen alles fallen, was sie in ihren Händen gehalten hatten, und sprangen zu Tode erschrocken zurück. Gleichzeitig ging ein entsetzter Aufschrei durch die abergläubische Menge.

»Die Mühle brennt lichterloh und die Hufschmiede!«, schrie Jakob mit aller Lungenkraft. »Es brennt überall im Dorf!. Feuer!«

Sein Schrei wurde nun von anderen Stimmen aufgenommen, als die ersten Mendelsheimer den Rauch bemerkten, der an drei Stellen über dem Dorf aufstieg. Innerhalb weniger Augenblicke schrie alles wild durcheinander.

»Es brennt!«

»Die Mühle steht in Flammen!«

»Allmächtiger, meine Schmiede!«

»Das Dorf brennt!«

Die Gunst des Schicksals war mit Jakob und seinen Gefährten, denn gerade in diesem Moment meldeten sich die Gewitterwolken mit Blitz und berstendem Donner und trugen ihren Teil zum Erschrecken der Menge bei.

Vergessen war die vermeintliche Hexe, deren Schreie in dem allgemeinen Tumult untergingen, während die Flammen sich auf dem Scheiterhaufen auszubreiten begannen. Jetzt brach eine regelrechte Panik unter den Dorfbewohnern aus, die ihre Existenz bedroht sahen und zugleich eine Strafe Gottes fürchteten. Die Menge stürzte unter wildem Geschrei vom Marktplatz, um die Brände zu bekämpfen.

Niemand sah in dem Durcheinander, wie Henrik sich aus der Giebelluke schwang, die Armbrust über die Schulter gehängt, und sich geschwind am Seil des Flaschenzuges herabließ. Er rannte über den Marktplatz, der bis auf ein paar Alte und Lahme, die mit der davonstürzenden Menge nicht Schritt halten konnten, so gut wie ausgestorben unter dem dunklen Himmel lag. Mit gezücktem Messer sprang er über die Rückseite des Scheiterhaufens, die noch nicht in Flammen stand. Es schien, als stürzte er sich in ein Flammenmeer, das ihn nicht mehr freigeben würde.

Zur selben Zeit preschte Jakob auf die Richtstätte zu, gefolgt von Bruder Basilius, der Henriks Pferd hinter sich herführte. Einige alte Männer wurden auf sie aufmerksam, blieben stehen und versuchten ihre Landsleute zu alarmieren, doch niemand achtete auf sie.

Henrik durchtrennte die Fesseln, riss Marga, die vom Rauch halb bewusstlos war, vom Pfahl zurück, hob sie wie eine Feder hoch und trug sie aus dem sich schnell schließenden Feuerring.

Augenblicklich war Jakob neben ihm. »Marga, wirst du dich an mir festhalten können?«, rief er ihr aus dem Sattel zu.

Marga hustete und starrte fassungslos zu ihm hoch. »Jakob?« Ein verstörtes Lächeln irrte über ihr Gesicht. Sie begriff noch nicht recht, was geschehen war.

Henrik wartete nicht auf eine Antwort von ihr. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn wir nicht sofort verschwinden, kann uns das alle den Kopf kosten!« Er setzte Marga kurzerhand hinter Jakob aufs Pferd, griff nach dem Riemen, den Jakob schon in der Hand hielt, und legte ihn um das Mädchen.

Jakob verknotete den Ledergurt über seiner Hüfte. »Ich bin bereit!«

Henrik warf einen Blick auf die Rauchwolken, die über den brennenden Gebäuden aufstiegen. »Den Fluch hat er geliebt, nun kommt er auf ihn selber!«, zitierte er grimmig aus den Psalmen, sprang dann gewandt auf seinen Rotfuchs und rief: »Nichts wie weg aus diesem elenden Dorf!«

»Oh Gott, ja!«, stieß Marga nun hervor, presste sich an Jakobs Rücken und krallte sich in seine Kleidung, als er den Schimmel antrieb.

Im gestreckten Galopp jagten sie aus dem Dorf, begleitet von einer Kanonade aus Blitz und Donner. Als der Regen schließlich mit schweren, dicken Tropfen über dem Tal niederging, lagen die wacholderbestandenen Hügel von Mendelsheim schon mehrere Meilen hinter ihnen.

Einunddreißigstes Kapitel

Erst drei Stunden später, als der Regen geradezu sintflutartige Ausmaße angenommen hatte, gönnten sie sich und den abgekämpften Pferden eine Rast. Sie flüchteten in den Schutz eines Unterstandes, auf den sie auf einer bewaldeten Hügelkuppe stießen. Er maß über ein Dutzend Schritte im Quadrat, war aus soliden, ungeschälten Kiefernstämmen gezimmert und zweifellos für die Bedürfnisse hochherrschaftlicher Grundbesitzer zur Jagdzeit errichtet worden. Er war mit Tränke und Futterkrippe versehen.

»Hier dürften wir erst einmal sicher sein«, sagte Bruder Basilius und glitt mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Sattel. Der Gewaltritt hatte ihm schwer zugesetzt.

Nachdem sie das Tal in nordöstlicher Richtung hinter sich gelassen hatten, waren sie zunächst kreuz und quer geritten, um mögliche Verfolger abzuschütteln. Sie hatten die breiten, ausgefahrenen Landstraßen gemieden und schmalen, verschwiegenen Feld- und Waldwegen den Vorzug gegeben. Und statt weiter nach Nordosten zu reiten hatten sie einen Bogen geschlagen und ihre Flucht gen Nordwesten fortgesetzt. Wer immer ihnen aus dem Dorf folgte, würde sie auf dem Weg nach Maria Laach wähnen, kaum aber in Richtung Ahr vermuten.

Jakob löste den Ledergurt und Marga rutschte vom Pferd. Erst jetzt fand sie Gelegenheit ihren Rettern unter Tränen zu danken. Groß war ihre Überraschung, als sie erfuhr, dass der Mann mit der Augenklappe ein Zisterziensermönch und Henrik Wassmo dessen treuer Begleiter war und aus Schweden kam.

Das Gesicht noch geprägt von dem Grauen der vergangenen Tage, erzählte sie ihnen dann, was ihr in Mendelsheim widerfahren war und wie feige die Sippe ihres Vaters sie im Stich gelassen hatte. Dass ihr Folter und Schändung erspart geblieben waren, da sie nach der teuflischen Wasserprobe keine Hoffnung mehr gesehen und daher ein >Geständnis< abgelegt hatte, war der einzige Lichtpunkt in ihrer erschütternden Geschichte.

»Und jetzt weiß ich nicht, wohin«, schloss Marga leise und kämpfte wieder mit den Tränen. »Demeter und die anderen werden mich nicht wieder bei sich aufnehmen, das weiß ich. Für sie bin ich auf ewig gebrandmarkt und nur eine Gefahr für ihre eigene Sicherheit.«

Bruder Basilius machte nicht viel Worte. »Habt keine Sorge, was aus Euch werden soll. Ihr könnt bei uns bleiben, bis Ihr wisst, wo Ihr bleiben oder wohin Ihr gehen wollt«, beruhigte er sie, und nicht nur Marga, sondern auch Jakob schenkte ihm ein dankbares Lächeln.

Jakob befand sich nach der gelungenen Rettungsaktion in euphorischer Stimmung. Nicht einmal der anstrengende Ritt hatte seine Freude auch nur um ein Quäntchen dämpfen können. Marga an seinen Rücken gepresst und ihre Hände um seine Hüften zu spüren hatte alle Ängste und Strapazen mehr als wettgemacht.

»Vorausgesetzt Ihr haltet unsere Gesellschaft nicht für zu gefährlich«, schränkte Bruder Basilius nun sein großherziges Angebot ein. »Und das solltet ihr wirklich bedenken, bevor Ihr Euch entscheidet Euch uns anzuschließen.«

Henrik nickte. »Ihr könntet sehr leicht aus dem Regen in die Traufe kommen, Marga«, pflichtete er dem Mönch bei.

»Wieso sollte ich bei Euch in Gefahr sein, wo Ihr doch Eurer Leben aufs Spiel gesetzt habt, um mich vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen zu bewahren?«, fragte sie verständnislos. »Das ergibt keinen Sinn, Bruder Basilius.«

Der Mönch sah Jakob an. »Wollt Ihr Euch der Aufgabe unterziehen ihr zu erklären, was es mit unserer Warnung auf sich hat?«, fragte er. »Ich muss gestehen, dass ich der vielen Erklärungen müde bin. Zumal mich auch noch meine Knochen über alle Maßen plagen.«

»Gern. Doch darf Marga alles erfahren?«, vergewisserte sich Jakob.

Der Zisterziensermönch lächelte und es war ein Lächeln voller Müdigkeit und Traurigkeit. »Wer hätte wohl mehr Recht die ganze Geschichte zu erfahren als sie, die nur um Haaresbreite einer Hexenverbrennung entkommen ist?«, fragte er zurück.

Der Regen prasselte auf das Dach aus halbierten Baumstämmen, als Jakob nun begann Marga von den beiden Hexenbischöfen und Bruder Anselms mutiger Tat sowie von Domherr Melchior von Drolshagen, Himmerod und Trier zu berichten. Es war eine lange Geschichte, zumal Marga ihn in ihrer Bestürzung oder Anteilnahme immer wieder mit Fragen unterbrach, besonders als er ihr von Himmerod und seiner Verschleppung nach Trier in den Turm des Greven berichtete.

»So, jetzt weißt du, auf was du dich einlässt, wenn du mit uns kommst«, schloss Jakob eine gute Stunde später seine Ausführungen.

»Und Bruder Basilius hofft, diese wichtigen Bekenntnisse und Aufzeichnungen irgendwo in Koblenz zu finden?«

»Nicht die Dokumente selbst, aber wohl doch einen Hinweis darauf, wo sie versteckt sein könnten. Und solange weder der Domherr und seine Komplizen noch wir sie gefunden haben, schweben wir in Gefahr- und du mit uns, wenn du dich uns anschließt. Denn Drolshagen wird zwischen dir und mir keinen Unterschied machen, sollte er uns in seine Gewalt bringen. Er will diese brisanten Dokumente um jeden Preis in seine Hände bekommen und vernichten. Und um das zu erreichen, schreckt er vor nichts zurück«, antwortete Jakob und wartete nun gespannt auf ihre Entscheidung.

Marga blickte einen Moment versonnen in den Regen, der inzwischen erheblich an Kraft verloren hatte. Dann sah sie Jakob mit festem Blick an und sagte schlicht: »Dennoch würde ich gern bei euch bleiben.«

Er lächelte erleichtert. »Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest.«

Sie erwiderte sein Lächeln.

Kurz darauf hörte der Regen ganz auf. Die Sonne brach zaghaft durch die Wolkendecke und sie machten sich wieder auf den Weg. Jedoch kamen sie nicht annähernd so schnell voran wie in den ersten drei Stunden. Bruder Basilius überließ Marga immer wieder sein Pferd, wenn er es vor Rückenschmerzen nicht länger im Sattel aushielt und für eine Weile zu Fuß gehen musste.

Am späten Nachmittag fühlten sie sich vor möglichen Verfolgern aus Mendelsheim so sicher, dass sie auf die Landstraße zurückkehrten. Kurz vor Sonnenuntergang stiegen sie zu einem Bergrücken auf und ritten in ein einsames, dicht bewaldetes Tal hinunter. Der steinige Weg, der gerade genug Platz für ein Fuhrwerk bot und auf dem unteren Drittel beachtliches Gefälle aufwies, schlängelte sich durch einen hohen Wald. Die Schatten der Bäume waren schon zu einer dunklen Wand verschmolzen. Nun begann die Dunkelheit auch die schmale Schneise des Weges zu füllen.

Als sie den Talboden erreichten und um eine scharfe Biegung kamen, die der Weg um eine Gruppe mannshoher Basaltfelsen machte, sahen sie etwa dreißig, vierzig Schritte vor sich eine primitive Bohlenbrücke. Ohne jegliches Geländer führte sie über einen reißenden Bach hinweg, dessen Fluten zwischen den vielen Felsbrocken in seinem Bett weiß schäumten. Auf dieser Brücke stand eine Kutsche in gefährlicher Schräglage. Zwei, drei morsche Brückenbalken waren unter den Rädern auf der linken Seite eingebrochen. Die Räder steckten nun bis zu den Achsen in dem armbreiten Spalt. Damit stand die Kutsche derart schräg nach links geneigt, dass es den Anschein hatte, als bedürfte es bloß noch eines kräftigen Windstoßes, um sie zwischen die Felsen des Bachbettes stürzen zu lassen.

Vier Männer bemühten sich diesen Sturz zu verhindern. Einer von ihnen, vermutlich der Kutscher, kümmerte sich um die beiden Pferde, die die Gefahr witterten jeden Moment von der umkippenden Kutsche mitgerissen zu werden. Er redete ihnen gut zu sich ins Geschirr zu legen und den Wagen aus dem tiefen Spalt zu ziehen. Zur selben Zeit versuchten zwei Männer die Räder auf der linken Seite weit genug anzuheben, damit das Gespann den Rest erledigen konnte. Dabei riskierten sie von der Kutsche im Bach zerquetscht zu werden, falls diese das Gleichgewicht verlieren und nach links wegkippen sollte. Der vierte Mann, der sie mit wütender Stimme aufforderte sich gefälligst ins Zeug zu legen, stand rechts von der Kutsche - und damit in Sicherheit. Die beiden Pferde, die vor der Brücke an einem jungen Baum angebunden standen, verrieten, dass zwei der Männer beritten waren.

Jakob hatte ein seltsames Gefühl, als sie sich im Zwielicht des Abends der Brücke und den vier Männern näherten. Irgendwie kam ihm die füllige, gedrungene Gestalt, die mit hörbar erkälteter Stimme Befehle gab, vertraut vor.

Marga saß auf dem Pferd von Bruder Basilius, der es am Zügel führte und vorwegging. Dabei stützte er sich auf einen knorrigen Ast.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Jakob leise zu Henrik.

Der schwergewichtige Mann hatte sie indessen erblickt und rief ihnen erleichtert zu: »Da kommt Hilfe, dem Himmel sei Dank! Seid so gut und beeilt Euch uns zur Hand zu gehen, bevor hier nichts mehr zu retten ist!«

Jakob fuhr zusammen. »Das ist der verfluchte Domherr!«, stieß er in seinem Erschrecken laut hervor.

Es war in der Tat Melchior von Drolshagen mit einigen seiner Schergen. Nur war er diesmal nicht mit einer Kutsche unterwegs, die das erzbischöfliche Wappen am Wagenschlag trug.

Und nun erkannte auch der Domherr, wen er vor sich hatte. Er bemerkte die Augenklappe unter dem Schlapphut des Mannes, der das Pferd mit dem Mädchen am Zügel führte, sowie die hoch gewachsene Gestalt des Schweden hinter ihr und Jakob an dessen Seite. Wäre nicht das Mädchen gewesen, hätte er wohl schon viel früher Argwohn gehegt.

»Pleisgen!. Krubeck!«, schrie der Domherr nun mit schriller Stimme und deutete mit ausgestrecktem Arm auf sie. »Da sind die drei, hinter denen wir her sind!. Gottes Vorsehung hat sie uns endlich über den Weg geführt!. Zu den Waffen, Männer! Schnappt sie Euch und verdient Euch die Belohnung, die ich auf dieses Pack ausgesetzt habe!«

Gotschalk Pleisgen, der Folterknecht aus Trier, und der andere Mann namens Krubeck sprangen nur zu bereitwillig von der Kutsche zurück und griffen zu ihren Waffen. Sie waren auf solch eine Begegnung vorbereitet, wie die Degen bewiesen, die sie am Gürtel trugen. Sie stürzten hinter dem Gefährt hervor und zogen im Laufen blank.

»Los, nichts wie weg!«, rief Jakob zu Tode erschrocken.

»Nein, das ist zwecklos!«, widersprach Henrik. »Wir kämen nicht weit. Außerdem: Wo Drolshagen ist, da kann Mundt mit seinen Gesellen nicht weit sein. Also bringen wir es besser hier hinter uns!«

»Ihr könnt es unmöglich allein mit ihnen aufnehmen!«, stieß Jakob ungläubig hervor und wartete darauf, dass auch Bruder Basilius ihm dringend abriet und zur Flucht drängte. Doch nichts dergleichen geschah.

Henrik warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Ich bin wie ein staubbedeckter Krug, weiß aber noch, wie reines Wasser schmeckt«, antwortete er mit einem Psalmenvers, sprang vom Pferd und zog nun seinerseits blank.

Pleisgen und Krubeck lachten höhnisch, als sie sahen, dass er sich ihnen zum Kampf stellen wollte. Sie traten zwei Schritte auseinander und drangen nun auf ihn ein.

»Stechen wir das Protestantenschwein ab!«, rief Krubeck, der von schlanker, sehniger Gestalt war.

»Ja, holen wir uns die Belohnung!«

»Ihr redet, was die Gosse rinnt!«, erwiderte Henrik und parierte blitzschnell den fast gleichzeitigen Angriff der beiden. Mit einem harten Klirren, das Jakob durch Mark und Bein ging, traf Stahl auf Stahl, als er Pleisgens Klinge mit einer Drehung seines Handgelenkes elegant zur Seite lenkte und nur einen Sekundenbruchteil später den Kopfhieb von Krubeck abblockte, indem er die Klinge zur Quinte hochriss.

»Mir scheint, Ihr braucht einen kühlen Kopf!«, rief Henrik. Und noch bevor die beiden wussten, wie ihnen geschah, stand Krubeck ohne Hut da. Henrik hatte ihn ihm noch im Zurückweichen mit einer Bewegung vom Kopf geschlagen, der das menschliche Auge kaum zu folgen vermochte.

Bruder Basilius lachte leise auf. »Bin gespannt, wann ihnen aufgeht, dass sie sich mit dem Falschen eingelassen haben.«

»Ist er denn wirklich so gut mit der Klinge?«, fragte Marga skeptisch.

»Seht doch selber! Er spielt doch schon jetzt Katz und Maus mit ihnen.«

Henrik tänzelte tatsächlich leichtfüßig nach rechts und links, vor und zurück und kreuzte geradezu spielerisch die Klingen mit seinen Gegnern, als würde er ihnen Unterricht geben. Und während Kru-beck und Pleisgen verbissen auf ihn eindrangen und alles aufboten, was in ihrem Können lag, erteilte er ihnen noch Ratschläge.

»Schlechte Handhaltung, Meister Pleisgen! Ihr entblößt Euren Handrücken sträflichst!«, rief er ihm zu. »Das kann Euch bitter zu stehen kommen. Etwa so!« Und im selben Augenblick hinterließ seine Klingenspitze eine fingerlange, blutige Schnittwunde im Dreieck zwischen Daumen, Zeigefinger und Handgelenk.

Der Folterknecht schrie mehr vor Schreck als vor Schmerz auf und sprang zurück. Ungläubig starrte er auf seine blutende Hand. Ihm dämmerte wohl in diesem Moment, dass ihre Chancen, sich die Belohnung des Domherrn zu verdienen, sehr schlecht standen. Sein Gesicht wurde blass. Doch er biss sich auf die Lippen und hob seine Klinge erneut, als fürchtete er, andernfalls für feige gehalten werden.

»Hol Euch der Teufel!«, stieß Krubeck hervor, versuchte es mit einer Finte zum Kopf, um dann aber mit einem kraftvollen Ausfallschritt auf Henriks Unterleib einzustechen.

Mit unglaublicher Schnelligkeit und Eleganz sprang Henrik zur Seite, sodass die feindliche Klinge an ihm vorbei ins Leere stieß und Krubeck, von seinem Ausfallschritt nach vorn getragen, quasi seinem vorstoßenden Degen hinterhertaumelte.

»Bei welchem Knüppelschwinger habt Ihr denn gelernt eine Klinge zu führen? Ihr legt ja mit dem Degen so viel Raffinesse an den Tag wie ein Bauer mit dem Dreschflegel«, spottete Henrik, tippte ihm mit seiner Klinge von hinten auf die Schulter - und schlitzte ihm mit einer kurzen Drehung aus dem Handgelenk das Ohrläppchen auf.

Zutiefst erschrocken fuhr Krubeck herum, wusste er doch, dass Henrik ihn mit Leichtigkeit hätte töten können. Auch ihn überfiel nun die bittere Erkenntnis diesem Mann nicht einmal mit Pleisgens Hilfe gewachsen zu sein.

»Das reicht!«, rief der Zisterziensermönch ihm nun zu. »Ihr habt Euer Vergnügen gehabt. Nun lasst es gut sein. Macht dem Spiel ein Ende, Henrik.«

Der Domherr wandte sich nun mit kreischender Stimme an seinen dritten Mann und forderte ihn auf zur Waffe zu greifen und seinen bedrängten Kameraden zu Hilfe zu eilen.

Der Mann weigerte sich jedoch. »Ich bin Kutscher und verstehe nichts vom Waffenhandwerk, mein Herr. Und dafür habt Ihr mich auch nicht angestellt!«, wies er das Ansinnen des Domherrn zurück.

»Ganz wie Ihr wünscht, Bruder Basilius«, antwortete Henrik indessen, entwand Pleisgen mit einer blitzschnellen, mehrfach kreisenden Bewegung seines Degens die Waffe aus der Hand, parierte einen halbherzigen Angriff von Krubeck - und setzte ihm im nächsten Augenblick die Klinge direkt unter dem Adamsapfel auf die Kehle.

Pleisgen wollte die Flucht ergreifen. Er erstarrte jedoch wie Krubeck, als Henrik nun mit schneidender Stimme rief: »Wenn Ihr Euch auch nur eine Handbreit von der Stelle rührt, Pleisgen, schlitze ich erst Eurem Komplizen die Kehle auf und nehme mir dann Euch vor! Bleibt Ihr jedoch stehen, habt Ihr eine gute Chance mit dem Leben davonzukommen!«

Jakob war von den brillanten Fechtkünsten des Schweden so fasziniert, dass er den Domherrn für einen Augenblick völlig vergaß.

»Der Dicke versucht zu entkommen!«, alarmierte Marga ihn da.

Jakob fuhr im Sattel herum. Von Drolshagen hatte die Niederlage seiner Männer gar nicht erst abgewartet, sondern schon nach der Weigerung des Kutschers sein Heil in der Flucht gesucht. Er hatte die Brücke bereits hinter sich gelassen und rannte mit wehendem Umhang nach links auf den Wald zu, der jenseits eines freien Geländes aufragte. Der Wald zu seiner Rechten lag zwar bedeutend näher, war von der Straße aber durch eine steile, felsige Böschung getrennt, die schnell genug zu erklimmen er sich wohl nicht zutraute.

»Los, ihm nach!«, schrie Jakob. Ihm war klar, dass sie den Domherrn kaum mehr finden würden, wenn es ihm gelang im Wald unterzutauchen. In wenigen Minuten würde es dort stockdunkel sein und das Unterholz würde tausend Verstecke bieten. Und Bruder Basilius rief er zu: »Gebt mir Euren Knüppel!«

Der Mönch hielt ihm seinen knorrigen Stock hin. »Bringt ihn lebend zurück!«, befahl er ihm mit ungewöhnlich scharfer Stimme.

»Wir werden sehen!«, antwortete Jakob, riss ihm den Knüppel aus der Hand und galoppierte los. Marga folgte ihm auf den Fersen. Dicht hintereinander donnerten sie über die Brücke, auf der rechts neben dem Kutscher gerade noch genug Platz für einen Reiter war.

Kaum waren sie jedoch von der Brücke herunter, als Marga sich ins Zeug legte und bewies, wie ausgezeichnet sie sich auf das Reiten verstand. Tief über den Hals des Pferdes gebeugt, preschte sie an Jakob vorbei. »Ich schneide ihm den Weg ab!«, rief sie ihm zu und hatte ihn auch schon überholt. In geradezu halsbrecherischem Galopp lenkte sie ihr Pferd durch das niedrige Gestrüpp auf der linken Seite, durch das der Domherr dem Waldsaum entgegenrannte.

Drolshagen hatte die ersten Bäume schon erreicht, als Marga schon fast auf seiner Höhe war. Sie trieb den Braunen jedoch mehrere Pferdelängen links von ihm in den Wald hinein, ignorierte die Äste, die wie Peitschen nach ihr schlugen, riss das Pferd dann herum - und kam dem Flüchtenden nun entgegen.

Drolshagen warf sich in panischer Angst herum, stolperte, stürzte, rappelte sich wieder auf und rannte schräg nach rechts - und damit Jakob direkt in die Arme.

»Wolltet Ihr nicht mit mir sprechen? Also was rennt Ihr davon, Hochwürden?«, höhnte Jakob und schwang den Knüppel voller Wut und Kraft.

Der Hieb traf den Domherrn mit großer Wucht zwischen den Schulterblättern und schleuderte ihn nach vorn. Mit einem gellenden Aufschrei stürzte er in ein Gebüsch.

Jakob sprang vom Pferd. »Hoch mit Euch!«, schrie er und schlug ihm den Stock auf den Oberschenkel.

»Mein Gott, brich ihm nicht die Beine!«, rief Marga, bestürzt über den wilden Zorn, der Jakob im Gesicht geschrieben stand.

»Ich breche sie ihm schon nicht!«, erwiderte Jakob, überwältigt von dem wilden Verlangen nach Rache. »Aber er würde uns noch tausendmal schlimmere Sachen auf der Folter zufügen lassen, dessen kannst du sicher sein. Außerdem ist es doch völlig egal, ob ich ihm die Knochen breche oder nicht. Er wird den nächsten Morgen nicht erleben, das schwöre ich dir. Und nun auf!«

Wimmernd kam Drolshagen auf die Beine und Jakob trieb ihn mit Stockschlägen, die er auf Schultern, Arme und Beine niederprasseln ließ, über das freie Gelände vor sich her.

Bruder Basilius eilte ihm entgegen. »Hört auf ihn zu schlagen!«, rief er und fiel ihm in den Arm. »Jakob, es reicht! Er hat genug Prügel bezogen!«

Jakob funkelte ihn mit verzerrtem Gesicht an. »Habt Ihr vergessen, wer diese Kreatur ist? Dieser feiste Kirchenmann hat mehr Blut an seinen Händen als jeder Landsknecht! Er ist ein Schlächter, der unzählige Morde auf dem Gewissen hat.«

»Das mag sein, es ist aber noch lange kein Grund sein schändliches Tun mit derselben Unbarmherzigkeit zu erwidern!«, fuhr ihn der Mönch scharf an, nahm ihm den Stock aus der Hand und packte den verstörten Domherrn am Kragen.

»Habt Ihr vergessen, dass dieser Mann für den Mord an dem Novizen Dominik verantwortlich ist und mich auf die Folter spannen wollte?«, sagte Jakob erregt, während sie über die Brücke zu Henrik schritten, der die beiden Schergen und den Kutscher mit blanker Waffe in Schach hielt.

»Gar nichts habe ich vergessen«, erwiderte Bruder Basilius mit fester Stimme und bedeutete dem Domherrn sich zu Pleisgen, Krubeck und dem Kutscher zu setzen.

»Gut, denn jetzt sind wir am Zug!«, erklärte Jakob entschlossen. »Sie haben uns nach dem Leben getrachtet. Nun werden sie dafür bezahlen. Wir werden ihnen zeigen, wer hier der Stärkere ist und zuletzt lacht!«

»Stärke entspringt nicht physischer Kraft. Sie entspringt aus einem unbeugsamen Willen«, erklärte Bruder Basilius.

Jakob machte eine unwillige Handbewegung. »Ihr könnt reden, wie und was Ihr wollt, aber ich bestehe darauf, dass sie endlich für ihr verbrecherisches Tun zur Verantwortung gezogen werden und ihre gerechte Strafe erhalten!«, verlangte er erregt. »Wir können hier über ihn und seine Handlanger zu Gericht sitzen. Das Urteil ist schnell gefällt! Und dann hängen wir sie, wie sie es verdient haben!«

»Was Ihr wollt, ist nicht Gerechtigkeit, sondern Rache«, hielt Bruder Basilius ihm vor.

»Und wennschon! Diesmal ist es ein und dasselbe!«

Der Mönch schüttelte den Kopf. »Nein, ist es nicht, Jakob. Erinnert Euch, dass die beste Art sich zu rächen darin besteht eben nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten.«

»Nein!«, sagte Jakob grimmig.

Bruder Basilius berührte ihn am Arm. »Jakob, verhärtet nicht Euer Herz. Dieses blutrünstige Verlangen nach Rache passt nicht zu Euch. Glaube und Liebe fordern immer wieder zum Verzeihen heraus.«

»Ich soll ihm verzeihen?«, Jakob spuckte dem Domherrn vor die Füße. »Das werde ich nie und nimmer! Und ich verstehe nicht, wie Ihr so nachsichtig sein könnt. Er hat Gottes Namen geschändet und mehr als den Tod durch den Strick verdient.«

»Es gibt eine alte rabbinische Weisheit, die da heißt: >Der Herr möge ihn strafen, das ist sein Recht. Aber mein Recht ist es mich zu weigern ihm als Peitsche zu dienen!< Und daran gedenke ich mich zu halten. Denn was Ihr zu tun beabsichtigt, entspringt Eurem Hass.«

»Und wennschon!«, knurrte Jakob.

Bruder Basilius zwang ihn mit ihm mehrere Schritte zur Seite zu gehen. »Lasst davon ab Jakob«, redete er eindringlich auf ihn ein. »Lasst Euch nicht von Hass leiten. Hass kann nur zerstören. Das beste Beispiel dafür sind Männer wie der Domherr. Vertraut auf Eure wahren inneren Stärken und lasst Euch sagen, dass Vergeben männlicher und tapferer ist als Vergelten.«

Jakob biss sich auf die Lippen.

»Ich verlange nicht von Euch, dass Ihr den Domherrn in Euer Herz schließt. Aber vergesst Eure primitiven Rachegelüste!«, beschwor ihn der Mönch. »Rache bindet das Opfer erst recht an den Täter - und macht ihn selbst zum Täter, lasst Euch das gesagt sein! Wenn wir hassen, verlieren wir, Jakob. Unweigerlich. Immer. Die Schriftgelehrten und Pilatus haben Jesus voller Hass ans Kreuz nageln lassen und geglaubt damit über ihn triumphiert zu haben. Doch nicht der Hass dieser Männer hat am Ende gesiegt, sondern die unbezwingbaren Mächte Liebe, Glaube und Hoffnung!«

»Bruder Basilius hat Recht«, sagte nun Marga, die sich den beiden genähert hatte. »Stell dich nicht mit diesen skrupellosen Leuten auf eine Stufe. Sie werden ihrer gerechten Strafe schon nicht entgehen. Ich jedenfalls möchte nicht meine Hände und mein Gewissen damit besudeln - und du doch bestimmt auch nicht, oder?«

Die blinde Wut wich langsam von Jakob und er fühlte sich plötzlich beschämt. »Also gut, lassen wir sie mit dem Leben davonkommen«, gab er schließlich nach und fügte laut hinzu, damit der Domherr und die anderen ihn gut hören konnten: »Aber vorher brennen wir ihnen noch ein Zeichen auf die Stirn, damit sie bis an ihr Lebensende gezeichnet sind!«

Ihre vier Gefangenen wurden leichenblass, als sie das hörten. Doch Marga und Bruder Basilius gelang es, ihm auch diese Idee auszureden. Sie begnügten sich damit, vom Kutscher in Erfahrung zu bringen, dass der Scharfrichter Mundt weiter im Westen nach ihnen suchte.

»Gut, dann ist der Weg nach Koblenz ja frei«, entfuhr es Marga in ihrer Erleichterung. Sie biss sich aber sofort schuldbewusst auf die Lippen, als sie Jakobs warnenden Blick sah. Es war jedoch schon zu spät.

»Sorgen wir dafür, dass sie Mundt und seine Spießgesellen nicht so schnell alarmieren und auf unsere Fährte schicken können!«, sagte Henrik und forderte die Männer nun auf sich bis auf ihre Leibwäsche zu entkleiden.

Schweigend leisteten Pleisgen, Krubeck und der Kutscher dem Befehl Folge. Den Tod schon vor Augen, waren sie nun sichtlich erlöst noch einmal mit heiler Haut davonzukommen. Allein der Domherr bekam wieder Oberwasser und weigerte sich. Er ließ sich sogar dazu hinreißen, ihnen bittere Vergeltung anzudrohen.

Henrik machte kurzen Prozess mit ihm, indem er mit der Klinge nachhalf und seine Kleidung von oben bis unten aufschlitzte. Drolshagen stand schneller in zerfetzter Leibwäsche da als seine gedungenen Männer. Mit einer Mischung aus kochender Wut und Angst legte er jeglichen Schmuck ab und händigte ihn dem Schweden aus.

Jakob und Marga halfen dabei, die Kleidungsstücke in Fetzen zu verwandeln und vom Bach davonschwemmen zu lassen. Das Schuhwerk der Männer fiel Henriks scharfem Messer zum Opfer und landete ebenfalls im Wasser. Anschließend spannten sie die beiden Pferde aus, zerschnitten das Zaumzeug aller Tiere und kippten die Kutsche in den Bach, wo Räder und Achsen an den Felsen zerbarsten.

»Nach den Pferden sucht Ihr besser gar nicht erst hier, sondern im nächsten Tal«, riet Bruder Basilius ihnen und zum Domherrn gewandt sagte er: »Euren Schmuck und Euer kostbares Kreuz, das Ihr mit Eurem erbärmlichen Machthunger und Hexenwahn so schändlichst verhöhnt, werde ich nach Trier zu Eurem Erzbischof schicken!«

»Ihr werdet für alles büßen!«, schrie der Domherr ihnen nach, als sie mit den vier Pferden im Schlepp davonritten und auf der anderen Seite der Brücke schnell von der Dunkelheit verschluckt wurden. »Ihr entkommt mir nicht!«

»Es tut mir Leid, dass mir das mit Koblenz herausgerutscht ist«, entschuldigte sich Marga beschämt, als sie sich schon längst außer Hörweite befanden. »Das war ein unverzeihlicher Fehler von mir. Ich verstehe selbst nicht, wie mir das passieren konnte.«

»Macht Euch deswegen nicht das Herz schwer, Marga«, sagte Bruder Basilius nachsichtig. »Koblenz ist kein kleines Dorf, wo man uns leicht finden kann. Zudem verfügt der eitle Domherr dort über keine Macht. Der Klerus von Koblenz und der Erzbischof von Trier verstehen sich so gut wie Hund und Katze. Und mit ein bisschen Glück werden mindestens ein, zwei Tage vergehen, bis Drolshagen auf Mundt trifft. Wir dagegen reiten die Nacht durch, damit wir morgen in aller Frühe, wenn die Tore geöffnet werden, in Koblenz sind.«

Die vier Pferde ließen sie im nächsten Tal frei und scheuchten sie in den Wald. Dann wandten sie sich nach Südosten, wo Koblenz lag. Sie kamen gut voran, auch wenn Bruder Basilius zwischendurch immer wieder vom Pferd steigen musste. Gegen Mitternacht konnten sie sich sogar eine Pause von drei Stunden gönnen. Henrik bestand darauf, Wache zu halten und Jakob war dankbar dafür. In der Nacht zuvor in Mendelsheim hatte er vor Aufregung und Sorge, ob ihr Plan auch Erfolg haben und Marga vor dem Feuertod auf dem Scheiterhaufen retten würde, so gut wie nicht geschlafen. Nun fielen ihm sofort die Augen zu, kaum dass er sich auf dem weichen Waldboden ausgestreckt hatte. Auch Marga sank augenblicklich in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung.

Im Morgengrauen, als sich der Himmel mit dem roten und goldenen Licht der aufgehenden Sonne krönte, kamen sie über die letzte Hügelgruppe, die ihnen den Blick auf die Stadt verwehrte. Und dann lag Koblenz endlich vor ihnen, umschlossen von hohen Festungsmauern mit ihren Wehrtürmen und Zinnen und mit dem linksseitigen Moselufer durch eine stattliche Brücke verbunden, die im Fluss auf neun mächtigen Pfeilern ruhte und schon im 14. Jahrhundert errichtet worden war.

»Da ist sie, die finstere Macht von Mauern, Türmen und Zinnen, die zu Stein gewordene Abweisung!«, bemerkte Henrik, als das Sonnenlicht wie Feuer zwischen den Zinnen hervorbrach.

Bruder Basilius nickte. »Ja, Festungsmauern sind wahrlich ein Symbol der Selbstvergötzung der Herrschenden.«

Jakob lenkte sein Pferd an die Seite des Mönches. »Wisst Ihr schon, wo wir in der Stadt unterkommen können, ohne dass man uns so leicht ausfindig machen kann?«

Bruder Basilius nickte: »Wir werden uns der Gastfreundschaft von Bartholomäus Bartholy erfreuen und möglicherweise von ihm einen Hinweis erhalten, der das Rätsel um das Versteck der wichtigen Papiere löst.«

»Und wer ist dieser Bartholomäus Bartholy, der dort in Koblenz lebt?«, wollte Marga wissen.

»Der wohl beste Freund von Bruder Anselm, der sein ganzes Leben dem unermüdlichen Lobpreis Gottes und der Muttergottes gewidmet hat.«

»Also ein Mönch wie Ihr«, folgerte Jakob und fragte sich schon, wie ein Ordensmann sie bloß bei sich verstecken sollte.

»Nein«, sagte Bruder Basilius mit einem feinen Lächeln. »Ein Beter mit Pinsel und Öl - ein Maler.«

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