Heinz Konsalik Das Lied der schwarzen Berge

Kapitel 1

Uber die Felsenstraße nach Zabljak keuchte ein kleiner Wagen. Er hüpfte über die im Wege liegenden Steine und quälte sich die Steigungen der Serpentinen hinauf, tuckernd, brummend, mit knatterndem Motor. Eigentlich war es gar keine Straße, sondern nur ein um die Felsen gelegter schmaler Pfad, den die Schafherden begingen, wenn sie im mühsamen Zug von Bergweide zu Bergweide kletterten; aber der Fahrer des kleinen Wagens zwang ihn den Berg hinauf und schaute nicht zur Seite, wo der Pfad an einen Abgrund grenzte, wo der Felsen hinabfiel ins Uferlose, in ein Gewirr von ur-weltlich aufgetürmten und aneinandergereihten Schluchten.

Es war ein heller, sonniger Tag. Uber den Felsen stand der blaue Sommerhimmel, unterbrochen von dünnen, weißen Wolken; der Gipfel des Durmitor, des über 2.534 m hohen Berges inmitten der schwarzen Berge Montenegros, glänzte mit seinem ewigen Schnee weiß und blendend in die ständig schattigen Schluchten. Auch der enge Pfad war dunkel trotz des sonnigen Tages, er war feuchtnaß, schlüpfrig, die Steine, die im Wege lagen, waren überzogen mit einer fast moosigen Schicht. Selten - nur wenn die Sonne schräg zu den Felsen stand - traf hier ein warmer Strahl das Gestein und hob es heraus aus der Dumpfheit monatelanger Schatten.

Vor einer neuen Steigung hielt Ralf Meerholdt den Wagen an und blickte auf die Karte, die er neben sich auf dem freien Sitz liegen hatte. Es war eine Autokarte des Gebietes zwischen Foca, Plevlje und Niksic, ein Stückchen Erde inmitten des alten, bekannten Europa, das auf den Karten leer und weiß gezeichnet ist und von dem man nur weiß, daß es Felsen und rauhe Täler sind, durchschnitten von Wildbächen und Bergwassern, einigen wenigen sauren Wiesen und bewohnt von einer Handvoll Bergbauern, die hier, in völliger Einsamkeit, das karge Brot dem steinigen Boden abringen und nur im Jahre einmal auf den Märkten erscheinen, um gegen Lammfelle und schöne Wollknüpfarbeiten Geräte und Gewürze zu kaufen. Hier gibt es keine Straßen, nicht einmal Wege, die einen Wanderer reizen könnten... Rauhe Pfade führen durch die Schluchten, und der Eindruck, ein Mondgebirge zu durchschreiten, wird verstärkt durch die völlige Einsamkeit, die den Suchenden umgibt.

Ralf Meerholdt legte die Autokarte resignierend zur Seite und steckte sich eine Zigarette an. Dann stieg er aus dem offenen Wagen und ging den Pfad ein Stück zu Fuß weiter, ehe er wieder umkehrte und die halbgerauchte Zigarette nervös den Hang hinabwarf. Er sah auf seine Armbanduhr und schüttelte den Kopf. Dann setzte er sich wieder hinter das Steuerrad, ließ den Motor an und versuchte, den Wagen wieder den Pfad hinaufzuzwingen. Aber so laut der Motor auch aufheulte und die Räder sich gegen den steinigen Boden stemmten -die hintere Achse des Wagens senkte sich, und mit einem lauten Knack zersprang die Verbindung der beiden Räder. Ralf Meerholdt saß einen Augenblick wie erstarrt hinter dem Steuer, dann sprang er auf und rannte um den Wagen herum. Er brauchte nicht lange, um zu sehen, daß hier, in den unwegsamen, einsamen Felsen, seine Reise zu Ende gegangen war und der Wagen auf dem schmalen Bergpfad stand wie ein Denkmal von der Unüberwindbarkeit der schwarzen Berge.

»Achsenbruch!« sagte Ralf laut und steckte die Hände in die Taschen seiner weiten Jacke. »Ein Mist! Ein regelrechter Mist! Was nun?«

Er sah den kleinen Wagen an, gab ihm einen Tritt und ging die Strecke noch einmal bergan, die er schon vorhin gegangen war. Der Pfad führte um eine Felsnase herum und endete auf einem Plateau, auf dem man hoch über einigen Schluchten stand und einen wundervollen Rundblick genoß. Aber dieser Blick verstärkte nur noch die völlige Trostlosigkeit der Gegend und die Gewißheit, im weiten Umkreis keinen Menschen zu finden.

»Ich kann hier doch nicht übernachten!« sagte Ralf zu sich selbst. »Ich muß doch weiter!« Er blickte sich um und legte dann die Hände wie einen Trichter vor den Mund.

»Hallo!« rief er laut. »Hallooo!«

Der Schall seiner Stimme flog durch die Felsen, er durchschnitt die Stille und schien sich ins Endlose fortzupflanzen. Verblüfft über diese Wirkung seiner Stimme, lauschte Ralf einen Augenblick, aber keine andere Stimme antwortete.

Er setzte sich auf einen großen Stein am Rande des Plateaus und sah wütend auf die bizarre Landschaft zu seinen Füßen.

Da ist man nun Ingenieur, dachte er. Man ist in dieses Land gekommen, um Stauwerke zu bauen, um den armen Bauern Fruchtbarkeit aus ihrem Boden zu zaubern durch das Wunder des belebenden Wassers. Aus einem armen Land soll ein reiches werden, aus Felsen Gärten, aus wilden Weiden wogende Felder. Das hat man alles geplant, das steht alles so schön in den Plänen, das habe ich selbst gezeichnet, in einem weißen Kittel an einem großen Zeichenbrett stehend, Lineal und Zirkel vor mir, und auf dem weißen Transparentpapier entstanden die Dämme der Stauwerke, die Turbinenhäuser, die Staubecken...

Eine neue Welt wurde auf dem Papier geschaffen, Leben für eine neue Nation; Bergbäche wurden eingefangen, Wildwasser gebändigt, die Kraft, die durch die Schluchten Montenegros strömt, wurde eingepreßt in ein Korsett aus Beton, Stahl und Stein.

Wie wunderbar das alles aussah in den Zeichnungen und auf den kolorierten Pausen, die auf den Mahagonitischen der Direktoren und der Ministerien lagen und begutachtet wurden.

»Dieser Staudamm wird jährlich soundsoviel Millionen Kilowattstunden Strom bringen!« sagte man.

»Und dieser Damm dort - eine Spezialidee von Herrn Meerholdt -wird neben Strom auch durch Uberlaufbecken soundsoviel Hektar Land, Ödland, in saftige Weiden verwandeln.«

Die Minister nickten, die Direktoren rechneten, die Pläne wurden ein Teil der Jahresplanung. Herr Meerholdt - suchen Sie selbst die Stellen, an denen Sie die Staudämme bauen wollen! Suchen Sie selbst . und ein dummer, ein gemeiner Achsenbruch, ein kleiner Knacks zwischen den Hinterrädern, und der ganze Traum ist zunächst zerstört!

Ralf erhob sich von seinem Stein und rief noch einmal »Hallo!«, obgleich er wußte, daß niemand antworten würde. Er stieg den Pfad hinab zu seinem kleinen Wagen, warf ihm einen vernichtenden Blick zu und setzte sich wieder hinter das Steuer. Er schaltete die Zündung ein und legte die Hand auf die Hupe. Es war eine gute, eine laute Hupe, ein Doppelklanghorn, das grell und doch melodisch die Stille zerriß und einen Hauch von Leben in die kahlen Felsen brachte.

So saß Ralf eine Viertelstunde und ließ die Hand auf dem Hupenknopf. Schließlich ärgerte ihn der gleichbleibende Ton, und er begann, auf der Hupe rhythmisch zu drücken. Lang-kurz-lang-kurz-kurz-kurz-lang-kurz-kurz . er lächelte vor sich hin und versuchte, den Takt eines Foxtrotts nachzuahmen, eines Walzers, eines Tangos, einer Polka, bis er nach einer halben Stunde das Spiel aufgab und sich eine neue Zigarette anzündete. Dabei drehte er sich ein wenig im Sitz und erstarrte. Oberhalb von ihm, auf einem Felsvorsprung, stand ein Mensch! Ein Mensch! Ein richtiger Mensch mit einem Lammpelz um den Schultern und einer hohen Schaf-wollmütze auf dem dicken Schädel. Den runden Kopf mit der gebogenen Nase zierte ein langer Schnurrbart, der kraus über den Mund herabhing. Er sah zu Ralf herunter, ohne sich zu rühren, ohne ein Zeichen zu geben, daß er den kleinen Wagen auf dem engen Pfad überhaupt gesehen habe.

Ralf warf die Zigarette fort und drückte noch einmal auf die Hupe. Sie gellte auf - doch der Mann auf dem Felsen blieb stehen, unbeweglich, und sah hinab.

»He!« schrie Ralf und winkte mit beiden Armen. »Sind Sie taub und blind?« Doch kaum, da er es gerufen hatte, schüttelte er den Kopf. Dummheit, dachte er. Wer versteht hier denn Deutsch? Hier spricht man serbokroatisch, und das wenige, was ich davon kann, muß genügen.

»Komm 'runter!« brüllte er zu dem Mann hinauf. »Mein Auto hat einen Bruch! Komm her, Kamerad!«

Der Mann auf dem Felsen antwortete nicht. Er trat zurück und entschwand den Blicken Ralfs. Aber nach etwa 10 Minuten hoff-nungsvollen Wartens kam er um die Biegung des Pfades und blieb drei Schritte vor Ralf stehen. Er musterte ihn mit seinen tiefliegenden Augen und nickte. Das soll guten Tag heißen, dachte Ralf und nickte freundlich zurück.

»Wagen kaputt!« sagte er und zeigte auf die zerbrochene Hinterachse. »Führe mich ins nächste Dorf, Kamerad.«

»Ich bin Jossip, der Schäfer.« Der Mann hob die Hand, sie war gegerbt von Wind und Sonne. »Jossip hat kein Dorf. Er zieht mit seiner Herde.«

»Ist denn ein Dorf in der Nähe?«

»Das DorfZabari, Herr.«

»Wie weit?«

Jossip hob die Schultern. »Sehr weit. Man geht bis zum Abend.«

»Auch das noch!« Ralf Meerholdt setzte sich auf den vorderen Kotflügel des Wagens und hielt dem Schäfer Jossip seine Schachtel Zigaretten hin. Jossip trat näher, er betrachtete die Schachtel und schüttelte den Kopf.

»Was willst du hier?« fragte er unvermittelt.

»Wenn ich das selbst wüßte, guter Jossip.« Ralf sah sich um. »Ich suche Wasser.«

»Wasser?«

»Ja.« Er machte eine weite Handbewegung. »Viel Wasser, Jossip. Ganz viel Wasser. Wenn man Wasser hat und ein wenig Boden, Mutterboden, dann kommt Leben in eure Einsamkeit. Dann habt ihr elektrisches Licht, könnt euch einen Eisschrank kaufen, ein Radio, aus dem ihr die neuesten Meldungen hört, einen Fernsehapparat, ein Bügeleisen, einen Rasierapparat.« Er lachte und schüttelte den Kopf. »Mit anderen Worten: Es kommt die Zivilisation zu euch. Ob das immer gut ist, davon wollen wir nicht sprechen, euer sorgenloses Leben hört dann auf - aber notwendig ist es, so sagt man in Belgrad!«

Jossip nickte, sein Gesicht war ernst und verschlossen. »Ich verstehe nichts, Herr. Aber es gibt hier Wasser.«

»Wirklich?« Ralf Meerholdt sah interessiert auf. Er nahm wieder die Karte vom Autositz und fuhr mit dem Finger über die weiße Gegend. »Hier ist der Durmitor und dort der Ljubicna. Wir müssen genau zwischen diesen Bergen stecken, zwischen den Flüssen Piva und Tara.« Er sah auf und begegnete dem Blick Jossips, der ihn dunkel und abweisend musterte. »Eigentlich hast du recht, Jos-sip. Wo zwei große Flüsse aus dem Gebirge treten, muß von den Felsen Wasser kommen, um sie zu speisen. Die Quellflüsse allein schaffen es nicht.« Er klappte die Karte zu und steckte sie in die Seitentasche des Anzuges. »Wo liegt dieses Dorf - wie heißt es doch?«

»Zabari, Herr.«

»Zabari! Ein Name wie aus einem Märchenbuch! Kannst du mich hinführen, Jossip?«

»Nein.« Jossip schüttelte den Kopf. »Ich muß bei meiner Herde bleiben. Jossip verläßt nie seine Herde! Aber ich werde Tanja schicken mit einem Zettel.«

»Wer ist Tanja?«

»Der Hund, Herr. Er findet den Weg allein nach Zabari.«

Ralf griff in die Tasche und reichte Jossip 100 Dinare hin. Jossip hob abwehrend die Hand.

»Ich will kein Geld«, sagte er langsam. »Ich werde Tanja ins Dorf schicken, und man wird dich holen. Und wenn der Wagen wieder fahren kann, wirst du schnell das Land verlassen - dafür nehme ich kein Geld.«

Er wandte sich ab und ging den Pfad zurück, den er gekommen war. Verblüfft sah ihm Ralf nach. Er steckte den 100-Dinare-Schein wieder ein und setzte sich zurück auf den Kotflügel. »Nicht gerade höflich, der gute Jossip«, meinte er leise und beobachtete, wie wenig später mit lautem Gebell ein großer Hund durch die Felsen rannte und in einer Schlucht verschwand. Von Jossip hörte und sah er nichts mehr - auch von seiner Herde vernahm er nichts. Es war, als gehe alles Leben in dieser grandiosen Stille und einmaligen Größe der Felsen zugrunde, als verschlucke die Landschaft alle Regungen und ließ alles um sich herum erstarren wie Lava, die träge den Berg hinabfließt und als neue, tötende Kruste die Erde umschließt.

Es wurde Abend, und die Schatten hatten den Pfad erreicht und in Nacht gehüllt, während der Himmel noch im Abendrot brannte, ehe Ralf aus seiner Einsamkeit erlöst wurde.

Erst war es Tanja, der um die Biegung des Pfades kam, mißtrauisch, schnüffelnd, mit hochgestellten Rückenhaaren. Er schlich an den Wagen und Ralf heran, beäugte beide und wurde erst zutraulicher, als Ralf leise »Tanja« rief. Da trat er näher, wedelte leicht mit dem buschigen Schweif, aber er blieb außer Reichweite und wich zurück, als Ralf auf ihn zuging.

Wenig später hörte er Stimmen, und drei Bauern kamen den Pfad herab, bekleidet mit Lammfellmänteln und langen, weißen wollenen Hosen, um die sie Seile bis zu den Knien gewickelt hatten. Die Füße staken in geflochtenen Schuhen, die außerdem mit Lappen umgeben waren. Sie blieben wie Tanja einige Schritte vor dem Wagen stehen und betrachteten Ralf eine Weile stumm und eingehend. Dann trat einer der Bauern hervor, ein alter, mit einem weißen, buschigen Bart bewehrter Mann, und nickte.

»Jossip schickte Nachricht«, sagte er langsam. Seine Stimme war dunkel wie die Berge, in denen er aufwuchs. »Du hast dich verirrt, Herr?«

»Nein - mein Wagen hat die Hinterachse gebrochen.«

Er trat langsam auf die Männer zu, so wie man sich einem fremden, wilden Tier nähert, von dem man nicht weiß, wie es auf eine menschliche Bewegung reagiert. Verirrt, hat Jossip gesagt, durchfuhr es Ralf dabei. Verirrt - das heißt, daß ich hier nichts zu suchen habe. Sie alle sind feindlich gegen mich, sie sind mißtrauisch gegen alles, was von draußen in ihre schwarzen Berge kommt.

»Wollt ihr mir helfen?« fragte er langsam, als er vor den stummen Bauern stand. »Der Wagen muß in euer Dorf gezogen werden, dann müssen wir versuchen, einen Boten nach Foca zu schicken, damit er eine neue Achse mitbringt. Sonst kann ich nicht weiter.«

Die Bauern sahen sich an. Sie sprachen nicht, aber sie wußten, was sie dachten. Der Alte nickte.

»Du kannst bei mir wohnen, Herr, bis der Bote zurückkommt.

Ich bin Fedor Suhaja.«

»Ich danke dir, Fedor.« Ralf reichte ihm die Hand hin. Zögernd nahm sie Fedor und drückte sie schnell, ehe er sie wieder losließ.

»Deinen Wagen werden wir morgen früh mit zwei Ochsen holen«, sagte er. »Du kannst ihn stehen lassen. Hier stiehlt ihn keiner.« Er trat zurück und ließ zwischen sich und den beiden anderen Bauern eine Lücke. »Und nun komm mit, Herr.«

Ralf Meerholdt nahm aus dem Wagen seinen Mantel, die Karte, eine große Tasche mit Meßgeräten und trat an Fedor heran. Stumm gingen sie den dunklen Pfad entlang ... Fedor voraus, ein Bauer neben ihm, ein Bauer hinter ihm. Wie ein Gefangener, durchfuhr es Ralf, als er sich einmal umblickte und den finsteren Blick des hinter ihm gehenden Bauern sah.

Die Sonne war versunken. Die Nacht stand über dem Gebirge, die Schritte wurden tastend, vorsichtig. Einmal blieb Fedor stehen und wartete auf Ralf, der seine schwere Tasche schleppte und langsamer ging als die berggewohnten Bauern.

»Habt ihr keine Lampe?« fragte er und lehnte sich keuchend an die Felswand.

»Öl ist teuer, Herr. Nur an einem Fest können wir Öl brennen! Euer Kommen ist kein Fest.«

Sie gingen langsamer, vorsichtiger. Ein lauter Flügelschlag über ihnen ließ Ralf aufblicken ... ein großer, dunkler Schatten huschte über sie hinweg. Gespenstisch, schnell.

Fedor Suhaja nickte. »Adler«, sagte er leise. »Wir haben hier noch Adler, Herr.«

Spät in der Nacht kamen sie ins Dorf.

In einer Schlucht mit Ölbäumen und uralten Eichen, umgeben von einem über verschiedene Plateaus hinweg die Berge ansteigenden Wald und vor einer großen, fast senkrechten Felswand, die wie eine hochgestreckte Hand das Dorf zu schützen schien, lagen die aus Bruchsteinen, Stämmen und Flechtwerk erbauten Häuser von Zabari. Ein Weg führte durch das Tal, und an diesem Weg standen die Hütten, unregelmäßig, willkürlich hingesetzt, jedes Haus umgeben mit einem dicken Zaun, der wie eine Art Palisade aussah. In großen, offenen Ställen standen die Schafherden, während die Schweine und Kühe in festen Gebäuden untergebracht waren.

Ralf Meerholdt hatte keine Augen für dieses Dorf. müde, kaum noch fähig weiterzugehen, schleppte er sich bis zum Hause Fedors und stolperte durch die Tür, die Fedor offenhielt, in den großen Raum. Er warf seine schwere Tasche in eine Ecke, ließ den Mantel auf eine Bank gleiten und setzte sich an das offene Feuer, das auf einer gemauerten Feuerstelle flackerte.

Hinter sich hörte er leise Stimmen. Fedor sprach mit einigen Frauen . Ralf hörte es am Klang der Stimmen. Dann legte sich eine Hand auf seine Schulter.

»Willst du essen, Herr?« fragte Fedor.

Ralf schüttelte müde den Kopf. »Nein, danke, Fedor. Ich bin müde, so müde. Ich möchte schlafen. Nichts als schlafen.«

»Ich kann dir nur ein Graslager geben, Herr. Ein Graslager mit einigen Fellen darüber.«

»Ich werde darin besser schlafen als in jeder Daunendecke. Nur schlafen will ich.«

Er drehte sich herum. Fedor stand hinter ihm, in der Hand hielt er einen Holzbecher mit Milch und einen Fladen Weizenbrot. Er reichte es Ralf hin und nickte ihm ernst zu. »Willkommen als mein Gast«, sagte er langsam. »Wenn du diese Milch trinkst und das Brot ißt, bist du mir wie ein Bruder, solange du unter meinem Dache lebst. Es wird dir nichts geschehen, was nicht auch mir geschieht.«

Müde nahm Ralf den Becher Milch und trank ihn in einem Zug. Dann nahm er den Fladen und biß hinein. Aus der dunklen Ecke schälte sich eine kleine, rundliche Frauengestalt in langen Kleidern. Sie kam halb gebückt heran und begrüßte Ralf mit einer Verbeugung. Dabei legte sie nach orientalischer Sitte die Hand an die Stirn.

»Marina, mein Weib.« Fedor winkte. »Sie wird dir dein Lager zeigen, Herr.«

Ralf folgte Marina in eine Kammer, die neben dem großen Raum lag. Dort war auf dem Boden getrocknetes Gras hoch aufgeschichtet.

Einige dickwollige Schaffelle beulten sich über dem Gras, eine handgewebte Decke lag aufgeschlagen daneben.

Aufseufzend ließ sich Ralf auf das Lager sinken. Er warf die Decke über sich und hörte schon nicht mehr, daß Marina die Tür schloß. Kaum, daß er lag, fiel er in einen bleiernen Schlaf und lag wie ein Toter auf dem weichen Gras.

Als Ralf Meerholdt am Morgen aus seiner Kammer in den großen Raum trat, waren Fedor und Marina schon in den Wald gegangen und schlugen Stämme für das Winterfeuer. Auf der Wiese hinter der Hütte, zu den Felsen hin, weideten zwei Kühe . die Dorfschafherde war unterwegs zu den Weideplätzen oberhalb des Dorfes.

Ralf trat vor die Hütte und überblickte erstaunt das kleine Bergdorf. Die Ziehbrunnen, die vor jedem Haus standen, verrieten ihm, daß hier über Wassermangel nicht zu klagen war, und auch die Wiesen waren saftiger, als er es sich gedacht hatte. Das Vieh sah gut aus, wohlgenährt, gepflegt. Außer den Brunnen lief entlang der Dorfstraße eine große Viehtränke - fließendes Wasser, das man durch halbe, ausgehöhlte Baumstämme leitete und das weiter hinten, am Ende des Dorfes, in einer kleinen Schlucht versickerte.

Interessiert trat Ralf an den Ziehbrunnen heran und beugte sich über den gemauerten Rand. Das klare Bergwasser stand etwa einen Meter unterhalb des Randes. Er nahm den hölzernen Eimer und ließ ihn an der Hanfschnur hinab, zog ihn gefüllt wieder empor und tauchte seinen Kopf hinein. Das Wasser war kalt, kristallklar und ungewöhnlich weich. Als er den Kopf wieder aus dem Eimer zog und sich wie ein nasser Hund schüttelte, hörte er hinter sich ein helles Lachen. Er ließ den Eimer fallen und drehte sich schnell herum. Ein Mädchen stand am Brunnen, und ihr Gesicht war eine einzige Fröhlichkeit.

Verlegen fuhr sich Ralf durch die wirren, nassen Haare und verbeugte sich leicht. »Du hast recht, wenn du lachst«, sagte er. »Ich muß aussehen wie eine nasse Katze.«

Er holte ein großes Taschentuch aus der Hose und trocknete sein Gesicht und die Hände ab. Das Mädchen hatte währenddessen den hingeworfenen Eimer genommen und wieder auf den Brunnenrand gestellt.

Sie war mittelgroß, hatte langes, lockiges schwarzes Haar, und ihr schmales Gesicht war braun von der Sonne. Ihre Augen, schwarz wie ihr Haar, hatten den tanzenden Glanz der Jugend, ihr schlanker Körper mit den vollen Brüsten wirkte in dem geflickten und aus rohem Leinen gefertigten Kleid wie eine Demonstration des Schönen, das keine Armut besiegen kann und das durchbricht durch Einsamkeit und Roheit der Natur.

Ralf strich sich die Haare glatt und setzte sich auf den Brunnenrand. »Wer bist du?« fragte er.

»Rosa«, sagte sie und lächelte.

»Rosa. Ein schöner Name. Ein fast zu schöner Name für ein Mädchen, das inmitten rauher Felsen aufwächst. Du wohnst in Zaba-ri?«

Sie nickte. »Und du wohnst bei uns«, sagte sie.

»Ich?« Ralf fühlte, wie sein Herz einen Sprung machte. »Du bist die Tochter Fedors?«

»Ich bin Rosa Suhaja.« Sie trat an Ralf heran und nahm den Eimer. »Du warst gestern sehr müde . zu müde, um mich zu sehen. Ich saß in der Ecke neben dem Feuer und webte. Aber du warst so müde, Herr.«

Sie beugte sich über den Brunnenrand und ließ den Eimer ins Wasser fallen. Als sie ihn emporziehen wollte, hielt Ralf ihren Arm fest. Erstaunt fuhr sie herum.

»Laß mich das machen, Rosa«, sagte Ralf und zog den Eimer empor. »Er ist zu schwer für dich.«

»Ich mache es am Tage hundertmal!« lachte sie. Aber sie ließ Ralf den Eimer bis zum Haus tragen, wo sie auf eine hölzerne Wanne zeigte. Ralf schüttete das Wasser hinein und setzte sich dann auf die Bank vor der Tür. Er sah zu, wie Rosa ein Schaffell wusch und dann begann, mit einem Schabemesser über einem Holzklotz die noch an der Innenseite befindlichen Sehnenstückchen auszuschälen.

Sie sprachen kein Wort mehr, aber aus den Augenwinkeln sahen sie sich an. Rosas Kopf war tief über das Fell gebeugt, ihre langen schwarzen Haare fielen über ihr halbes Gesicht . unter diesem Vorhang hervor betrachtete sie Ralf und schabte oft an Stellen des Felles, an denen kein Stück Sehne zu sehen war.

Ralf blickte an sich herunter. Seine Hose war kraus und zerlegen, sein Hemd zerknittert, sein Rock faltig. Die Schuhe hatten eine dicke Staubschicht, unter den Fingernägeln waren breite schwarze Ränder.

»Ich sehe aus wie ein Vagabund, mein Mädchen«, sagte er auf deutsch. »Wie alt bist du?« fragte er auf serbisch.

»Neunzehn Jahre, Herr.«

»Neunzehn. Aber warum nennst du mich immer >Herr

»Bist du kein Herr?« Sie legte das Fell hin und blickte auf. Ihre Augen waren groß. »Du kommst doch von jenseits der Berge, nicht wahr? Du kennst doch die große Welt! Die weite Welt, das Meer, die großen Weiden.« Sie legte die Hände in den Schoß und sah hinüber zu den Felsen. Sehnsucht lag in ihrem Blick und eine Traurigkeit, die ihr Gesicht wie ein Schleier überzog. »Sie muß schön sein, diese ferne Welt, nicht wahr, Herr?«

»Sie ist schön, Rosa . und gefährlich.«

»Gefährlich, Herr?« Sie schüttelte den Kopf.

»Doch Rosa. Die Menschen sind nicht gut.«

»Die Menschen -« Sie hob abwehrend die Hand. »Wo die Welt schön ist, müssen auch die Menschen schön sein.«

Ralf lächelte. Er nahm Rosas Hand, er fühlte, wie sie leise zitterte, als er sie ergriff.

»Du bist ein Beispiel dafür, daß diese fromme Theorie nicht stimmt. Du könntest in der Welt deiner Sehnsucht viel erreichen, aber du würdest an ihrer Gier zerbrechen. Deshalb blühst du hier im verborgenen, und der Ratschluß Gottes ist weise, daß er zwischen dir und der Welt eine Kette zweitausend Meter hoher Berge gelegt hat.«

Rosa lächelte schwach. »Ich habe nichts verstanden«, sagte sie leise. Sie entzog ihre Hand seinem Griff und nahm das Schaffell wieder auf. »Erzählst du mir heute abend etwas von der Welt, Herr?«

»Ja. Aber nur, wenn du mich nicht mehr >Herr< nennst. Sag Ralf, Rosa.«

»Ralf?« Sie lachte laut und bog sich zurück. Ihre Brüste spannten das Kleid. Ralf sah, daß sie außer dem Leinenkleid nichts weiter auf dem Körper trug. In seinen Schläfen spürte er plötzlich ein Klopfen. Dummheit, dachte er. Verrückte Dummheit! Ein montenegrinisches Bauernmädchen! Ich werde den Kopf noch einmal in das kalte Wasser stecken!

»Ralf«, lachte sie schallend. »Welch ein komischer Name. Ralf. Ich kann ihn kaum aussprechen.«

»Aber er klingt schön aus deinem Mund, Rosa. So ganz anders, als ich ihn bisher gehört habe. Er hat einen anderen Klang bekommen.«

Das ist doch alles dummes Zeug, was ich da rede, durchfuhr es ihn. Statt hier in der Sonne zu sitzen und mir Rosa anzusehen, sollte ich mich darum kümmern, daß mein Wagen eine neue Achse bekommt und daß ich endlich ein Tal finde, dessen Stauung einen ganzen Landstrich verändert.

Er erhob sich. »Ich muß nach meinem Wagen sehen, Rosa. Wo sind deine Eltern?«

»Im Wald . Ralf.«

Er zuckte bei dem Klang seines Namens aus ihrem Mund unwillkürlich zusammen. Ehe er zum Wald ging, fuhr er mit der Hand leicht über ihren nach vorn gebeugten Kopf und über die langen schwarzen Locken. Sie waren weich wie Seide und lagen in seiner Hand mit einer ihn durchrinnenden Zärtlichkeit.

Wortlos, mit dem Gefühl, seine Kehle sei zugeschnürt, ging Ralf dem Walde zu.

Oben, von der Bergwiese aus, sah ihm Jossip nach. Er stand mit seiner Herde am Fuße des großen Felsens über dem Dorf, gestützt auf seinen Stock. Als er die Hand Ralfs über das Haar Rosas streichen sah, lief ein Zittern über sein Gesicht.

Und er wandte sich erst ab, als Ralf im Walde verschwunden war und die Eltern Rosas suchte.

Am dritten Tag kam ein Materialwagen den Weg ins Dorf hinabgerasselt. Einer der Bauern, die Ralf nach Zabari geführt hatten, saß vorne auf dem Kühler und lenkte das Fahrzeug. An einem Kran, auf der Plattform des Wagens, hing das kleine Auto Meerholdts. Vor dem Hause Fedors hielten sie. Der Fahrer und ein Monteur sprangen heraus und kamen Meerholdt entgegen.

»Ein Saunest, Herr Ingenieur!« rief der Monteur und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Fahrt über den Paßpfad - mit unserer Spurweite - Kinder, habe ich gesagt, wenn wir hier abschmieren, holt uns kein Kran mehr herauf, und wer uns unten aufsammelt, muß erst Medizin studieren, um zu entdecken, ob wir überhaupt Menschen sind!«

Der Fahrer nickte und drückte Meerholdts Hand. »Wir haben uns gleich gedacht, daß irgend etwas schiefgegangen ist, als von Ihnen zwei Tage lang nichts zu hören war. Da sind wir einfach losgefahren und trafen vorige Nacht den Dreckspatz da.« Er zeigte auf den Bauern, der den Fahrer mit finsteren Blicken ansah. »Euer Herr ist bei uns, sagte er. Sein Wagen ist gebrochen.« Er knöpfte sich die Jacke auf. »Gebrochen, dachte ich. Wenn's bloß keine Achse ist -die haben wir nicht da. Die muß erst aus Titograd besorgt werden. Und was ist's? Die Achse!«

Meerholdt lachte und klopfte den beiden auf die Schulter. »Fort kommen wir schon! Wir können den Wagen hinten am Kran lassen und fahren so zurück.«

»Wieder über den Pfad?« Der Monteur sah Meerholdt schief an.

»Ich glaube nicht, daß es einen anderen Weg gibt. Morgen in aller Frühe ist Abmarsch, Jungs.«

»In Ordnung, Herr Ingenieur.«

Während die beiden Fahrer bei zwei anderen Bauern schliefen, saß

Meerholdt am Abend mit Rosa an der Feuerstelle. Sie hatten gegessen . Hammelbraten und Klöße aus weißem Mehl, ein Abschiedsessen, das Marina gekocht hatte und das es nur an hohen Feiertagen in Zabari gab. Dazu hatten sie einen Wein getrunken, den Fedor aus Hagebutten herstellte . er schmeckte herb, aber sein Alkohol ging ins Blut und ließ die Männer der schwarzen Berge für eine Nacht trunken werden und selig wie beschenkte Kinder.

Nun saßen sie am Feuer. Rosa hielt einen Becher mit Wein in der Hand. Ralf hatte einen eisernen Stab und schürte die Glut. Die aufquellenden Flammen waren das einzige Licht, das den großen Raum flackernd erhellte. Öl ist knapp, Herr, hatte Fedor gesagt. Und selbst ein Abschied ist kein so hohes Fest, daß man die blakende Lampe mit Öl füllen könnte und der Raum in das Dämmerlicht der bläulich brennenden Flamme gehüllt würde.

Der Schein des Feuers glitt über das schwarze Haar Rosas und über das schmale Gesicht mit den großen Augen. Sie saß etwas nach vorn gebeugt, und aus dem Kleid sah man den Ansatz ihrer Brust, überzuckt von den Flammen des Herdes. Ihre langen, schmalen Finger glitten an dem hölzernen Becher auf und ab, als streichle sie ihn, bevor sie ihn zu Ralf hinüberreichte.

Wieder spürte er das Klopfen des Blutes in seinen Schläfen. Er hatte es in den vergangenen drei Tagen vermieden, länger als notwendig mit Rosa zusammen zu sein. Am Tage streifte er in den Felsen und durch die Wälder herum, untersuchte die Herkunft des vielen Wassers gerade in diesem Teil des Gebirges, maß und entnahm Bodenproben, spürte den Quellen nach und arbeitete eigentlich so, wie er es sich vorgenommen hatte, als er vor einigen Tagen mit seinem kleinen Wagen von Foca abfuhr und sich in den Gedanken verbissen hatte, diesen weitgehendst unbekannten Teil der montenegrinischen Berge zu durchstreifen.

Er war in diesen Tagen auf rätselhafte Dinge gestoßen. Einmal kam eine kleine Quelle aus einem Felsen und vereinigte sich mit einem Bach, der plötzlich aus einer Erdspalte hervorbrach, nicht quellartig, sondern in voller Breite, als sei er der Ausfluß eines unterirdischen

Wasserbeckens. An einer anderen Stelle, seitlich des Waldes, entdeckte er ein fast kreisrundes Tal, dessen Ausgang man nur mit einer etwa 25 Meter hohen Mauer zu schließen brauchte, und ein natürliches Staubecken konnte geschaffen werden, dessen Wasserdruck an der Sohle für eine Turbinenanlage großen Stiles ausreichte.

Am letzten Tage hatte Ralf Meerholdt dieses Tal genau vermessen, in seine Karte eingezeichnet und von allen Seiten fotografiert. Nicht allein die Anwesenheit Rosas in Zabari begeisterte ihn, sondern der Zufall, ein von der Natur geschaffenes natürliches Staubecken entdeckt zu haben, das das Gesicht der ganzen Landschaft um Zabari herum verändern konnte, fesselte ihn und ließ seine Gedanken von den schwarzen Locken Rosas und ihren großen, dunklen Augen abschweifen. Nur wenn die Abende kamen, die langen Nächte inmitten der himmelhoch aufstrebenden Felsen, wenn er am Feuer saß und die Suppe mit Fedor und Marina aß, während Rosa sie bediente, stahl sich Angst in sein Herz vor den wenigen Stunden, in denen er mit Rosa allein in dem großen Raum der Hütte sein würde.

Fedor und Marina gingen früh in ihre Kammer und legten sich auf ihre Felle. Sie ließen Rosa, die an einem Teppich knüpfte, mit Meerholdt allein, denn ein Gast achtet die Gastfreundschaft und das Haus... sie kannten es nicht anders seit Jahrhunderten und vertrauten auf das alte Sittengesetz ihrer Ahnen. Ralf ahnte es - und er zwang sich, in diesen Stunden Rosa nicht mehr anzusehen und nicht mehr Worte mit ihr zu wechseln, als es notwendig war. Nur, wenn er plötzlich aufblickte, wenn er sich umdrehte, wenn er nach etwas griff und hinüber zu Rosa sah, bemerkte er ihren Blick auf sich ruhen, groß, sehnsuchtsvoll, gemischt mit der Bewunderung, die ihre naturhafte Seele für alles empfand, was fremd war und den Hauch der großen unbekannten, erträumten Welt jenseits der Berge mit sich trug. Dann stand er meistens auf, ging in seine Kammer und ließ sich auf sein weiches Graslager fallen. In der Dunkelheit, die ihn umgab, besänftigten sich seine Gefühle.

Neunzehn Jahre ist sie alt, dachte er einmal. Ich bin fast doppelt so alt. Und sie ist nur ein armes, dummes Bauernmädchen, das weder richtig schreiben noch lesen kann. Aber woher soll sie es auch können? Gibt es hier Schulen? Wer sollte sie ein wenig Bildung lehren? Der Pfarrer? Die nächste Kirche war 30 km weit entfernt in Zabljak am Fuße des Durmitor. Und war sie überhaupt eine Christin? Konnte sie nicht eine Mohammedanerin sein? Aber weder sie noch die anderen Frauen trugen einen Schleier. War sie eine Kop-tin?

Er wälzte sich unruhig auf seinen Lammfellen hin und her und versuchte, seine Gedanken von Rosa auf den Staudamm zu lenken, der unterhalb Zabaris entstehen sollte. Wieviel Kubikmeter Wasser würde das Staubecken fassen? Er rechnete im Dunkeln ... 35 Millionen ... 35. Und ich bin 35 Jahre alt ... und Rosa 19. Das ist ein Unterschied von 16 Jahren. Ein großer Unterschied.

Er erhob sich von seinem Lager und trat an das kleine Fenster. Vor ihm ragte die steile Wand des Felsens auf, blauschwarz in der tiefen Nacht. Aus einem Stall des Nebenhauses schrie eine Kuh. In der Ferne bellte ein Hund. Es könnte Tanja sein, dachte Ralf. Tanja, der Hund des finsteren Jossip.

Er wischte sich mit der Hand über die Augen und schüttelte den Kopf. Dumme Gedanken, durchfuhr es ihn. Was kümmert es dich, daß Rosa 16 Jahre jünger ist als du? In ein paar Tagen bist du fort aus Zabari. In Foca aber wartet Elena - richtig, sie saß ja seit Tagen allein an dem großen Schreibtisch ihm gegenüber und schrieb die Briefe. Elena, die verwöhnte Tochter von Stanis Osik, dem Direktor der staatlichen Baubehörde für Montenegro.

Sie war eines Tages zu ihm ins Büro gekommen, auf hochhackigen Schuhen und einem Sommerkleid in pariserischem Schnitt, einen großen, weißen Sonnenhut auf den blonden, sicherlich gefärbten Haaren, und sie hatte sich ihm gegenüber gesetzt, die schlanken Beine übereinandergeschlagen und gesagt:

»Herr Meerholdt - mein Vater hat die altmodische Ansicht, daß Kinder etwas lernen müssen. Deshalb hat er mich hierher in dieses Nest geschickt, um bei Ihnen zu arbeiten. Ich soll ihre Sekretärin spielen! Wie finden Sie das?«

Er hatte damals wenig gesagt. Sie trägt einen Nylonunterrock mit Spitzen, hatte er im stillen festgestellt. Er kostet ein kleines Vermögen in diesem Land. Und sie hat lackierte Fingernägel, nicht grellrot, aber ein deutliches Rose, und es ist Perlmuttlack. Er mußte damals lächeln. Wie gut man sich in der Kosmetik der Frauen auskennt, dachte er.

Es ist merkwürdig, was alles von wenigen verträumten Stunden im Gehirn haften bleibt.

So wurde Elena Osik seine Sekretärin, und sie wurde besser, als er es zuerst geglaubt hatte. Sie arbeitete wirklich, sie tippte die umfangreiche Post, sie kochte ihm sogar seinen Frühstückskaffee, und er bedankte sich bei ihr, indem er mit ihr nach Sarajewo fuhr und amerikanische Filme ansah.

Einmal rief Direktor Osik an: »Na, wie stellt sich meine Elena an, Herr Meerholdt?« Und als er sagte, sie sei besser, als ihr mondänes Aussehen erwarten lasse, lachte Stanis Osik laut und rief: »Um so besser! Dann behalten Sie sie da, Meerholdt!«

Das war Elena, die in Foca auf ihn wartete. Wenn er Rosa mit Elena verglich. Er wischte sich wieder über die Augen. Rosa! Wie konnte er sie vergleichen?

So wurden die Nächte quälend und kurz, und sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, daß Rosa neben ihm schlief, nur getrennt durch eine geflochtene Wand.

An diesem Abend, dem letzten in Zabari, saßen sie nun am Feuer. Fedor und Marina gingen in ihre Kammer. Rosa hielt den Wein gegen die Flammen, denn er muß warm getrunken werden, wenn er würzig schmecken soll.

»Du bist so still«, sagte Meerholdt, als Fedor und Marina gegangen waren.

Sie blickte kurz auf. »Du sagst nichts mehr, Ralf.«

»Ich werde morgen früh fortfahren.« Ralf Meerholdt schluckte. Er hatte das Gefühl, seine Kehle habe sich zugesetzt. »Und ich werde so schnell nicht wiederkommen.«

Rosas Kopf zuckte empor, sie stellte den Wein auf die gemauerte Kante des Herdes.

»Du wirst wiederkommen?« fragte sie. Ihre Stimme war plötzlich dunkel wie ihr Haar und ihre Augen.

»Ja.«

»Das ist schön. So schön.« Sie legte die Hände an die Schläfen. »Dann ist es kein Abschied für immer.«

»Nein, Rosa.«

»Und wann kommst du wieder?«

»Vielleicht in drei oder vier Monaten ... vielleicht früher oder auch später.« Er wollte ihr von den Plänen erzählen, aber er schwieg. Was versteht sie davon, dachte er. Was weiß sie, wie eine Talsperre aussieht, was Turbinen sind, warum man das Wasser staut? »Aber ich komme wieder, das ist sicher«, sagte er laut.

Sie nickte glücklich und reichte ihm den Becher Wein hinüber. »Trink, Ralf. Jetzt ist der Wein gut.«

Als er den Becher aus ihrer Hand nahm, berührte er ihre Finger. Ein Zittern lief durch ihren Körper, sie schloß die Augen und lehnte sich zurück. Über ihr Gesicht zuckten die Flammen des Herdes. Es war, als brenne das schwarze Haar, als stiege sie aus dem Feuer empor. Er starrte sie an, gebannt von der wilden Schönheit, die sie ausstrahlte. Ihre langen Wimpern, durchfuhr es ihn . wie sie Schatten auf ihre Wangen werfen. Und der Mund, dieser rote, volle Mund ... und der Hals, der in diesem rohen Leinenkleid verschwindet, als schäme er sich, so schön zu sein. Ihre Schultern, ihre Brust, der schlanke, biegsame Körper, diese unberührte, wilde und doch gebändigte Natur, dieses Urhafte an ihr - er fühlte, wie er die Hände ineinander verkrampfte und sich zwingen mußte, nicht vorzustürzen und sie an sich zu reißen. Ich bin Gast in diesem Hause, sagte er sich. Alles in diesem Hause steht unter dem Schutz des Gastrechtes! Alles ist unantastbar ... rein ... edel.

Ralf nahm den Becher, setzte ihn an den Mund und stürzte den Wein in einem Zug hinunter. Er durchfuhr ihn mit seiner warmen Schärfe und wühlte sein Inneres auf.

»Rosa.«, sagte er heiser.

»Ralf.?« Sie hielt die Augen geschlossen. Ihre Stimme war nur mehr ein Flüstern, das ihn durch die zuckenden Flammen erreichte wie ein Hauch.

»Der Wein ist gut.« Er stellte den Becher auf den Herdrand und beugte sich vor. Er ergriff ihre Hände und zog sie zu sich heran. Ihr Kopf folgte ihnen ... in dem zuckenden Licht des Feuers waren ihre geschlossenen Augen plötzlich vor ihm, ihr Mund, ihre langen, schwarzen Haare, die wie ein Schleier über ihre Schultern flossen. Er umfaßte ihren Kopf und zog ihn zu sich heran. Und ihre Lippen öffneten sich und waren feucht und zitterten.

»Erzähl mir von deiner Welt.«, sagte sie leise.

»Sie ist weit, Rosa . so weit in diesem Augenblick. Sie ist nicht schöner als deine, glaube das nicht. Sie ist böser, eifersüchtiger, schneller, herzloser und vergessender - es ist eine Welt der Hast und der Jagd nach dem Geld und dem Ruhm und dem billigen Ansehen.«

»Und das Meer.«

»Kennst du das Meer, Rosa?«

Sie schüttelte den Kopf in seiner Hand. »Nein - ich habe von ihm gehört ... vor langen Jahren.«

Sie öffnete die Augen und sah ihn mit einem flackernden Blick an. Angst war in diesen Augen und eine Hingabe, die Ralf wie eine heiße Welle überspülte. »Du hast so schöne blonde Haare«, sagte sie leise. »Ich habe nur einmal solche blonden Haare gesehen - damals, als ich hörte, daß es ein Meer gab. Es war vor vielen Jahren, und fremde Soldaten zogen durch unsere Berge, Soldaten aus deinem Land. Sie kamen vom Meer, von Dubrovnik, so nannten sie die Stadt. Wie gut ich den Namen behalten habe. Einer der Soldaten mit blonden Haaren schenkte mir etwas Braunes, Süßes . es schmeckte so schön, daß ich die Tafel in ganz kleine Stücke brach und jeden Tag nur ein Stückchen aß. Ich war damals ein Kind, und als die Soldaten gingen, wußte ich, daß es auch andere Menschen gab und andere Länder hinter unseren schwarzen Bergen. Und nun bist du da . ein großer Herr aus dieser fernen Welt, und trinkst unseren Wein, sitzt an unserem Feuer und schläfst auf unseren Fellen. Und du hast blonde Haare, ganz blonde Haare.«

Ihre Finger tasteten über seinen Kopf und fuhren durch seine Haare, leicht, zart, wie ein Windhauch. Da ergriff er ihre Hand und preßte sie an seine Lippen, er küßte ihre Finger und beugte sich zu ihr hinüber, umfing ihre Schulter und drückte sie an sich. Sie lag an seiner Brust und zitterte. Wie ein gefangener Vogel in der geschlossenen Hand duckte sie sich zusammen und schmiegte sich an ihn.

»Rosa«, sagte er heiser. »Rosa - was soll daraus werden.«

Er merkte nicht, daß er in diesem Augenblick deutsch sprach, und sie lächelte ihn an und hob ihr Gesicht zu ihm empor. Da küßte er sie, vorsichtig, als könne sie in seinen Armen zerbrechen. Ein Zuk-ken durchjagte ihren Körper, sie warf die Arme um seinen Hals und drängte sich an ihn, sie umklammerte ihn und öffnete die Lippen unter seinem Kuß. Er spürte ihre Zähne, er fühlte den Druck ihrer Brust - das machte ihn wild und hemmungslos und überspülte den letzten Rest seiner inneren Abwehr.

»Du kommst wieder, du kommst bestimmt wieder?« fragte sie später, als sie neues Holz auf das glimmende Feuer legte und die Flammen neu entfachte.

Meerholdt saß neben ihr und spielte mit ihrem langen Haar. Er nickte stumm auf ihre Frage und lehnte sich zurück an die rauhe Lehmwand. Etwas wie Scham hinderte ihn daran, Rosa anzusehen und mit ihr zu sprechen. Das Gefühl, das Gastrecht verletzt zu haben, schnürte ihm die Kehle zu.

»Wirst du mich mitnehmen in deine große Welt?« fragte sie. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, ihr Atem glitt über sein Gesicht.

Er nickte wieder. Aber dieses Nicken war zögernd und steif. Mitnehmen? durchführ es ihn. Mein Gott - wie kann ich Rosa mitnehmen nach Foca oder Sarajewo oder gar nach Köln? Einmal wird dieser Auftrag in Jugoslawien zu Ende sein, die Staudämme werden sich füllen, die Turbinen werden surren, durch die Leitungen wird der Strom knistern. Was wird dann aus Ralf Meerholdt werden? In Köln werden neue Aufträge warten . vielleicht Bauten in Indien oder Ägypten, in Saudiarabien oder Südamerika. Was wußte Rosa davon, wie wenig gehörte sie in diese Welt, die sie nie verstehen lernen würde! Sie war ein Geschöpf ihrer Berge, verwurzelt mit dem klaren Feld, das ihren Hunger stillte. Er stellte sich Elena vor . die elegante, pariserische Elena Osik, die einen Cocktail mischte und einen Boogie tanzte und die am Abend am Flügel saß und mit der gleichen Ausdauer, mit der sie tanzte, eine Sonate von Haydn spielte oder ein Rondo von Mozart. Und alles an ihr war vollendet ... der Charme, ihre Kleidung, ihr Körper, ihr Lächeln, ihr Tanz, ihre Sprache, ihre Bewegungen, ihr Spiel und ihr Wesen.

Ralf drückte Rosa an sich und blickte über ihren Kopf hinweg in die hohen Flammen des offenen Herdes.

Hier hielt er die Natur in seinen Armen, nichts weiter als die Natur. Sie war da wie das Wasser und die Sonne, die Felsen und die Wiesen, der Wald und der Regen, die Sterne und die Kälte der Nacht. Sie war nichts anderes als ein Teil der Urschöpfung, als ein Stück von Kosmos und Welt - sie war wie eine Pflanze oder wie ein Tier oder wie ein Stein oder wie ein Mensch. Ja, das war sie ... einfach nur ein Mensch. Nicht eine modifizierte Frau, ein gezüchtetes Geschöpf aus den Treibhäusern des Fortschritts, sondern nichts als ein Urstück dessen, was man Schöpfung nannte, ein Mensch, der wie die Natur empfand, der die Seele des >Werden und Vergehen< in sich trug, das einfache Gesetz des Reifens, Tragens und Sterbens. Und sie lag in seinen Armen, weil sie aufblühte und reif wurde unter seinen Küssen . sie, der Mensch Rosa.

»Du mußt Geduld haben, Rosa«, sagte er leise. »Es kann lange dauern, bis ich wiederkomme.«

»Ich werde warten.«

»Eines Tages wirst du einen anderen Mann sehen, einen Mann deines Volkes.«

Er konnte nicht weitersprechen, denn sie legte ihm ihre schmale

Hand auf den Mund und schüttelte heftig den Kopf.

»Ich liebe nur dich . nur dich.«, sagte sie.

Er war erschüttert über die Festigkeit ihrer Meinung und schwieg. Nur der Druck in seiner Seele verstärkte sich und legte sich auf sein Gewissen.

»Wir müssen schlafen gehen«, sagte er leise. »Morgen früh müssen wir zurück über die Berge.« Er nahm ihren schmalen Kopf noch einmal zwischen seine Hände und küßte ihren Mund, ihre geschlossenen Augen mit den langen Wimpern und die Stirn. Dann erhob er sich schnell und ging in seine Kammer. Als er die Tür hinter sich schloß, blieb er stehen und lauschte zurück.

Nichts rührte sich. Kein Laut drang aus dem großen Raum. Rosa schien noch am Feuer zu sitzen, so, wie er sie verlassen hatte. Er zog die Jacke aus und warf sich auf das Graslager. Die Wolldecke drückte er zur Seite . es war heiß in ihm, und er knöpfte das Hemd über der Brust auf.

Ein leichter Schritt, er hörte ihn deutlich in der vollkommenen Stille, die ihn umgab. Rosas Schritt ... er kam auf die Tür zu. Ralf richtete sich auf, seine Hände krampften sich um die Schaffelle, auf denen er lag. Wenn sich jetzt die Tür öffnete ... wenn sie ganz leise, Zentimeter um Zentimeter aufgedrückt würde . wenn Rosa in seine Kammer kam, zu ihm, getrieben von der Kraft ihres wilden Blutes ... er wußte, daß es die Entscheidung war; er war sich plötzlich klar darüber, daß es kein Zurück mehr gab, wenn die Tür aufschwang und die Nacht heller wurde als unter tausend Sonnen.

Der Schritt, tappend, tastend, kam näher. An seiner Tür verhielt er . eine endlose Stille dehnte sich aus. Er starrte auf die Tür, er wartete auf den Augenblick, in dem sie sich bewegte, nach innen schwang und im Widerschein der Herdflammen die Gestalt Rosas erschien. Aber dann ging der Schritt weiter und verebbte in der Nebenkammer bei Fedor und Marina.

Aufatmend ließ sich Ralf auf seine Felle zurückgleiten. Eine Leere blieb in ihm zurück, eine unerfüllte Sehnsucht, trotz der Befreiung, morgen früh Zabari verlassen zu können, ohne Fedor um das liebste, was er besaß - sein Kind - betrogen zu haben.

Aber er schlief nicht ein. Er legte das Ohr an die geflochtene und mit Lehm beworfene Wand und lauschte auf das Rascheln in der Nebenkammer.

Jetzt zieht sie das leinene Kleid aus, dachte er.

Jetzt steht sie nackt im Zimmer, in der Dunkelheit, in der ihr Körper wie eine weiße Flamme brennen muß.

Er hielt den Atem an und hörte ein Knirschen nahe der Wand.

Jetzt legt sie sich hin, deckt sich zu mit den rauhen Decken aus selbstgesponnener Wolle, und ihr schwarzes Haar liegt um ihren weißen Leib, die langen lockigen Haare. Sie hat die Augen geöffnet und starrt an die Decke des Zimmers. Sie denkt an mich, sie drückt die Hände gegen ihre Brust, und die Sehnsucht durchrieselt sie und macht sie zu einem Tier, das hinaus möchte in das Leben, aber den Käfig nicht sprengen kann.

Er preßte die Stirn gegen die kalte Wand und seufzte. So schlief er nach einer Weile ein und sank in sich zusammen, halb sitzend und eingehüllt in die Decke, die Rosas Hände gewebt hatten.

Am Morgen war der Taumel vergessen. Der Fahrer und der Monteur standen schon mit dem Abschleppwagen vor der Tür und warteten. Ralf Meerholdt aß zum letztenmal eine Suppe aus Milch und Weizenmehl. Rosa war nicht im Haus. Fedor sagte, sie sei schon ganz in der Frühe in die Berge gegangen. Ralf nickte. Es ist gut so, dachte er. Sie ist klüger als ich. Sie kürzt den Abschied ab, sie rennt wie ein sterbendes Tier in die Einsamkeit und kommt erst zurück, wenn das Herz sich in der Stille ausgeschrien hat.

Der Fahrer saß auf der Bank und rauchte eine Zigarette. Einige Jungen und Mädchen umstanden den Wagen und bestaunten ihn wie ein Wunder. Josef Lukacz, ein junger Bauer, drückte sich durch den Kreis der Neugierigen und rückte an seiner Schaffellmütze, ehe er zu sprachen begann.

»Sag, Kamerad«, meinte er und zeigte auf den Wagen, »wenn dieses Auto den Wagen des Herrn trägt, dann kann es doch auch Stämme tragen.« »Der trägt dir in einem Tag einen ganzen Wald weg!« sagte der Fahrer.

»Und Steine auch?«

»Er schleppt alles weg! Mit dem Wagen könntet ihr alles machen!«

»Und er kann die steilen Wege hinauffahren?«

»Wären wir sonst hier? Steiler als bis zu euch kann's woanders auch nicht sein.«

Josef Lukacz kratzte sich den Kopf. In seine Augen trat eine gespannte Erwartung. »Warum ist der Herr denn hier?« fragte er und rückte näher.

»Weiß ich es?« Der Fahrer warf die Zigarette fort und erhob sich. »Vielleicht soll bei euch in der Nähe gebaut werden! Wir sind eine Baukolonne aus Zagreb.«

»Aus Zagreb.«, staunte Lukacz. Er umging den Wagen, betastete die eisernen Kanten, das Blech der Verkleidungen und die silbern blitzenden Stoßstangen. »So ein Wagen wäre etwas für unser Dorf«, sagte er sinnend. Dann ging er durch den Kreis der Neugierigen zurück und verschwand hinter einem Haus. Der Fahrer sah ihm nach und tippte an seine Stirn. Der Monteur lachte.

»Verrückt!« meinte er. »Die hätten den Motor in einer Stunde zu Bruch gefahren.«

Aus dem Hause trat Ralf Meerholdt. Marina trug ihm den Mantel und seine schwere Tasche nach, die ihr der Monteur abnahm. Stolz schritt Fedor neben Ralf zum Wagen und reichte ihm die Hand, als sie vor der Tür standen.

»Ich danke dir, Fedor Suhaja«, sagte Meerholdt. »Ich war sehr zufrieden mit deinem Haus.«

»Das freut mich, Herr. Vergiß uns nicht.«

Meerholdt sah den Alten erstaunt an. Vergiß uns nicht, durchfuhr es ihn. Sollte er wissen, daß ich Rosa küßte? Sollte er wachsamer gewesen sein, als ich glaubte?

»Ich werde wiederkommen«, sagte er vorsichtig.

»Das weiß ich, Herr.«

»Du weißt es? Woher?«

»Von Rosa, Herr. Sie ist ein braves Kind.«

Ein unbekanntes, unangenehmes Gefühl klomm in Ralf empor, das Gefühl von Angst und Schrecken und einer plötzlichen Feigheit.

»Sie hat dir erzählt.«, sagte er stockend.

Fedor nickte. »Sie hat gesagt, daß du wiederkommst.«

»Und was weiter?«

»Sonst nichts, Herr. Aber wir freuen uns, weil du Zabari noch einmal sehen willst.«

Aufatmend drückte Meerholdt Fedor die Hand. Dann stieg er in den Wagen und schloß mit festem Zug hinter sich die Tür. Der Monteur kletterte auf die Plattform und setzte sich neben den am Kran hängenden kleinen Wagen Ralfs, der Fahrer schob die Mütze in den Nacken und ließ den Motor an.

Er heulte auf, er durchrüttelte den ganzen Wagen, er füllte das Dorf mit unbekanntem, fremdem Lärm. Noch einmal hob Ralf grüßend die Hand, dann zog der Wagen an und ratterte über die steinige Dorfstraße dem Pfad entgegen, der Zabari wie durch einen dünnen Faden mit der übrigen Welt verband.

Am Ausgang des Dorfes, dort, wo der Wald die Felsen hinaufkletterte und der Pfad nach einer Biegung begann, sich die schwarzen Felsen hinaufzuschlängeln, stand allein vor einem niedergestürzten großen Stein Rosa und sah dem Wagen entgegen. Als er deutlich zu sehen war, winkte sie mit beiden Armen, und die Tränen liefen ihr über die Wangen den Hals hinab. Sie wischte sie nicht ab ... sie winkte, und ihre langen Haare umflatterten das nasse Gesicht.

Meerholdt fuhr von seinem Sitz empor, als er Rosa am Wege stehen sah. Er faßte die Hand des Fahrers und drückte sie hart. »Anhalten!« rief er laut. Kreischend bremste der Wagen, er riß die Tür auf und sprang auf den Weg. Er wollte auf Rosa zugehen, aber sie wandte sich ab und rannte den Hang hinauf in den Wald. »Rosa!« schrie er. »Rosa! Bleib doch!« Er rannte ihr nach, aber sie war schneller, wie ein Reh sprang sie den Hang hinauf und hetzte den rettenden Bäumen entgegen. »Rosa!« schrie er noch einmal. »Warum läufst du denn fort? Rosa!!« Dann war sie zwischen den Stämmen untergetaucht, und sein Ruf zerflatterte zwischen den Felsen.

Langsam ging er zum Wagen zurück und kletterte auf den Sitz. Der Fahrer grinste ihn breit an.

»Will nichts wissen, was?« sagte er und schaltete den Motor wieder ein. »Ist ein süßes Vögelchen.«

»Fahren Sie und halten Sie das Maul!« schrie Meerholdt unbeherrscht. Der Fahrer stülpte die Unterlippe vor, duckte sich über das Steuer und lenkte den schweren Wagen über den schmalen Pfad. Vorsichtig fuhr er die Serpentinen hinauf und hinab, sich hart an den linken Felsen haltend.

Von einem Vorsprung aus beobachtete Jossip den Abzug der Kolonne. Tanja neben ihm schnupperte in der Luft und knurrte. Da beugte er sich nieder und strich ihm über den Rücken. »Ruhig, Tanja, ganz ruhig, Duscha ... nun sind wir wieder allein. Der Fremde ist fort und wird nicht wiederkommen. Nicht wahr, Tanja - ihn soll der Teufel holen.«

Der Hund knurrte. Das Brummen des Motors durchschnitt die Stille der Landschaft . im Blau des Himmels kreisten wieder die Adler, die weiße Kuppe des Durmitor glänzte in der Sonne. Alles war wie vor vier Tagen . nichts hatte sich geändert, so, wie es sich nicht geändert hatte in den hundert Jahren vorher und sich nicht ändern würde in den hundert Jahren nachher. Nur ein Herz war aufgebrochen in diesen Tagen, ein einsames, sehnsuchtsvolles, glutheißes Herz, und ein wildes Blut war aus dem Damm der Natur gesprungen und hatte die Seele überspült mit Lust und Begehren, mit heißen Träumen und stammelnden Wünschen. Doch wer wußte es? Wer sah in diesen Tälern auf ein Herz?

Fedor ging in den Wald und hackte Holz, Marina molk die Kühe und fütterte die Hühner, Rosa lief durch den Wald und weinte und schrie die Sonne an und breitete die Arme aus und rief: »Ich liebe ihn . ich liebe ihn.«

Doch niemand hörte sie, und es war gut so für den Frieden in Zabari.

Am Sonntag stieg Jossip hinab ins Tal nach Zabari. Er hatte sich den Schnurrbart abgenommen und sein nun glattes Gesicht nach der Art des >Herrn< gewaschen. Genau hatte er von seiner Felsenweide aus beobachtet, wie Meerholdt sich an dem Brunnen wusch und rasierte. Auch Jossip hatte nun sein störrisches Haar glatt gestrichen, und ohne seinen wilden Schnurrbart sah er weniger verwegen und so jung aus, wie er in Wahrheit war.

Er kam ins Tal, zwei fette Mutterlämmer hinter sich herziehend, vier edle Pelze über der Schulter und in weißen, eng anliegenden Hosen, umwickelt mit bunten Bändern. Von den Ärmeln seiner handgewebten Wolljacke hingen Troddeln herab, und die flache Mütze, die er auf dem krausen Haar trug, zierten breite, auf einem Teppichstuhl gewebte Bänder mit farbenprächtigen Mustern. Eine dicke Wollquaste fiel bis in den Nacken hinab und wippte beim Gehen lustig hin und her.

Vor dem Hause Suhajas band er die Lämmer an der Bank fest und trat dann ins Haus, hoch aufgerichtet, stolz, ein Sohn der schwarzen Berge mit dem Adel des freien Menschen.

Fedor und Marina saßen am Tisch und schnitten Speck, den sie für den Winter einsalzen wollten. Rosa stand am Herd und reihte Tabakblätter auf eine lange Schnur. Sie sollten unter dem Hausdach aufgehängt werden und dort trocknen. Als die Tür aufging, blickte sie kurz auf und beugte sich dann wieder gleichgültig über den Stapel Blätter. Fedor legte das lange Messer hin und wischte die fettigen Finger an der Hose ab.

»Jossip?« fragte er erstaunt. »Im Festkleid? Wo willst du hin?«

»Zu dir, Fedor.« Der Schäfer setzte sich an den Tisch und legte die vier Felle auf die Erde. »Es ist einsam in den Bergen«, sagte er langsam. »Zu einsam für einen jungen Mann.« Er sah kurz hinüber zu Rosa und fahr fort zu sprechen. »Ich habe mir eine Hütte gebaut. Fedor. Eine schöne, feste Hütte aus dicken Stämmen. Und einen Ofen habe ich gemauert, einen großen, warmen Ofen. Ich habe Felle genug und eine eigene Herde von 30 Schafen. Sie können mich ernähren, sie geben mir Milch und Butter und Käse und

Fleisch. Ich bin nicht arm, Fedor. Und doch bin ich arm, weil ich einsam bin. Das ist nicht gut, denn Jahr um Jahr vergeht, und die besten Jahre nahm die Einsamkeit.« Er stockte und beugte sich zu Fedor vor. »Ich möchte Rosa zu mir holen, Fedor.«

Am Herd war es still geworden. Das Rascheln der Blätter war verstummt. Rosa stand im Licht, das durch ein Fenster grell in den Raum fiel. Ihr schwarzes Haar glänzte wie Seide.

»Nein!« sagte sie laut. Nur nein, sonst nichts, aber Jossip zuckte unter diesem Wort zusammen und kniff die Augen etwas zu.

»Sie weiß nicht, was sie sagt, Fedor«, sagte er entschuldigend. »Sie weiß nicht, daß du sie mir und meinen Eltern schon in der Wiege versprochen hast. Wir haben einen Pakt, Fedor, nicht wahr ... es ist das Gesetz der Berge, daß ein Wort gilt bis zum Tod. Stimmt das, Fedor?«

»Ja, Jossip.«

»Du hast mir Rosa versprochen. Jetzt komme ich, sie zu holen. Es wird eine große, eine lustige Hochzeit werden. Ich werde zehn Schafe schlachten und drei Schweine. Am Spieß wollen wir sie braten, und 30 Kannen Wein werde ich verschenken. So reich bin ich, Fedor!«

Suhaja sah hinüber zu Rosa. Sie hatte sich nicht wieder gerührt, es war, als sei sie versteinert. Marina lächelte glücklich vor sich hin. Er ist reich, dachte sie einfältig. Und er will Rosa haben. Rosa wird ein schönes Leben führen, schöner, als ich es bei Fedor hatte.

Sie zuckte auf, als sie Rosas Stimme hörte, laut, hell, eine Stimme, die sie bei ihrer Tochter noch nie vernommen hatte.

»Ich gehe nicht mit Jossip!« sagte sie laut. »Ich liebe ihn nicht!«

»Du bist mir versprochen, Rosa«, entgegnete Jossip sanft.

»Ich wurde nicht darum gefragt.«

»Natürlich nicht. Du lagst noch in der Wiege, und ich hütete die Schafe und schnitzte Flöten. Dein Vater Fedor und mein Vater waren Freunde, und sie versprachen uns.«

»Man kann keinen Menschen verkaufen! Es ist ein altes und ein schlechtes Gesetz!« Und plötzlich stieß sie mit dem Fuß auf und schrie: »Und ich will nicht! Nein!«

Fedor war bleich geworden. Er hob die Hände und sah dabei auf die schönen Felle, die vor seinen Füßen lagen. Er dachte an die dreißig Lämmer, die Jossip in den Bergen hielt, gute, fette Lämmer mit dichtem Pelz. Und eine feste, aus dicken Stämmen gefügte Hütte hatte er sich gebaut, einen großen Herd - was wollte sie mehr?! Er wischte mit der Hand herrisch durch die Luft und sagte laut:

»Es ist abgemacht, Rosa! Ein Wort ist ein Wort! Du wirst Jossip heiraten!« Er bückte sich, um die Felle vom Boden zu nehmen. Wenn er sie aufnahm und auf seinen Tisch legte, war dieses Wort besiegelt. Die Annahme des Werbegeschenkes bedeutet ein Versprechen, das fest und heilig ist wie das Wort des Popen.

»Heb' sie nicht auf!« schrie Rosa grell. Sie stürzte vom Herd zu ihrem Vater und riß ihm die Felle aus der Hand. Vor Jossip blieb sie stehen und warf das Bündel vor seine Füße. »Geh!« sagte sie hart. »Ich heirate nie einen Schäfer.«

»Ach!« Jossip trat die Felle zur Seite. »Hat dir der feine Herr aus der Stadt den Kopf verdreht? Der schöne blonde Herr mit seinen weißen Hemden und blanken Schuhen, seinem glatten Gesicht und seinen weichen Händen, die so zart dein Haar streicheln konnten.«

»Schweig!« schrie Rosa. Sie ballte die Fäuste und stand am ganzen Körper bebend vor Jossip. Ihr Gesicht war rot und im wilden Zorn schöner als je.

»Ich habe es gesehen, droben von den Bergen aus!« Jossips Stimme wurde lauter. Haß schwang in ihr, Wut und Scham über die Abweisung seiner Werbung. »Dort droben bin ich gestanden, über dem Wald, und habe gesehen, wie er dich streichelte, wie du dich wie eine streunende Katze an ihn warfst.« Er fuhr herum und sah Fedor an, der bleich und krumm am Tisch stand. »Er hat das Gastrecht verletzt, der feine Herr! Er hat Rosa verführt . keiner in den Bergen wird sie mehr ansehen, wird ihr die Hand geben, wird mit ihr sprechen! Sie hat das Dorf verraten, Fedor! Deine Tochter ist eine Hure.«

Er sprach nicht weiter. Rosa hatte die Felle vom Boden genom-men, die Tür geöffnet und das Bündel hinaus auf die Straße geworfen. Nun kam sie zurück, nicht schnell, sondern langsam, blieb vor Jos-sip stehen, hob die Hand und schlug ihn mitten ins Gesicht. Es war ein klatschender Schlag, den nur der Aufschrei Fedors unterbrach. Mit weit aufgerissenen Augen stand Jossip im Zimmer, seine Wange brannte. Seinen Körper durchzuckte es wie eine Explosion, die alles in ihm zerriß. Er sah nicht mehr den Herd, die Stube, die aufgereihten Tabakblätter, das Fenster, durch das grell die Sonne fiel. Nebel war um ihn, roter, von Feuer erhitzter Nebel. Er steckte die Hände vor, gegen Rosa, seine Finger krallten sich um ihre Schulter - da schlug sie noch einmal zu, wortlos, mit aller Kraft, die in ihren Armen lag.

Schlaff fielen die Hände Jossips zurück.

»Ich werde ihn töten!« sagte er leise. Fedor verstand ihn kaum, so zitterten seine Lippen. »Ich werde ihn töten, wenn er wiederkommt!«

An Marina vorbei, die weinend die Hände rang, ging er aus der Hütte, band seine beiden Schafe von der Bank und trat das Bündel Felle zur Seite in den Staub der Straße. Doch bevor er zurück in die Berge stieg, nahm er das große Messer aus dem Gürtel seiner Hose, beugte sich über die beiden Schafe und stach sie ab. Die blutenden, zuckenden Körper schleifte er vor die Tür des Hauses und legte sie an den Eingang.

Blut! Blut wird in diesem Hause sein, Blut von meinen Händen, sollte dies heißen.

Er nahm das Messer, wischte es an den noch zuckenden Tieren ab und ging dann die Dorfstraße entlang dem Walde zu, der hinaufstieg zu den Felsen, zwischen denen die Weiden Jossips lagen.

Bleich, mit verstörtem Blick schleifte Fedor die toten Körper von der Tür und deckte sie hinter dem Haus mit Stroh und Ästen zu. In der Nacht lud er sie auf eine Karre, fuhr sie in den Wald und vergrub sie unter einem Gebüsch.

Kein Bauer ißt ein Schaf, das man aus Rache schlachtete.

In Foca lief Elena dem Wagen entgegen, als er um die Ecke des Hofes vor das Verwaltungsgebäude der Baufirma bog. Sie achtete nicht auf ihre hochhackigen Schuhe und die Nylonstrümpfe ... sie rannte dem Wagen entgegen durch den Staub und stürzte an die Tür. Als Ralf Meerholdt ausstieg, fiel sie in seine Arme und küßte ihn vor allen Arbeitern, die herumstanden und ihnen zusahen.

»Es ist dir nichts geschehen«, stammelte sie. Sie umfing ihn, legte den Kopf an seine Brust und weinte plötzlich wie ein kleines Kind, erlöst, haltlos, Schutz suchend. »Du bist wieder da . mein Sascha . mein lieber, lieber Sascha.«

Sie gingen umschlungen ins Haus. Sie weinte noch immer, als sie schon längst in Ralfs Zimmer saßen.

Vor dem Verwaltungshaus kletterte der Fahrer aus dem schweren Wagen und schob die Mütze in den Nacken.

»Die Osik und in dem Nest die wilde Katze ... wenn das gut geht«, sagte er zu dem Monteur, der steif von der Plattform klomm und den Staub von seinem Anzug klopfte.

»Soll das unsere ganze Sorge sein.« Er blickte auf den kleinen Wagen Meerholdts, der am Kran des Abschleppers hing. »Mir ist wichtiger, woher ich für das verfluchte Ding die neue Achse bekomme. Ein Mist, daß es gerade die Achse sein muß.«

»Wir werden wohl nach Zagreb fahren müssen.«

Der Monteur nickte. »Überall hin fahre ich - nur nicht wieder in dieses Zabari! Man sollte solche Fuchsbauten verbieten und auflösen. Wem nützen sie denn was?«

Sie gingen steifbeinig von der langen Fahrt hinüber zur Kantine und bestellten einen Slibowitz. »Aber einen doppelten!« schrie der Fahrer. »Und bis zum Rand, sonst bumst es!«

In seinem Zimmer packte Meerholdt seine Mappe aus und legte seine Papiere und Aufzeichnungen auf den breiten Tisch. Er vermied es, nach der ersten überschwenglichen Begrüßung Elena weiter anzusehen oder sie gar zu umarmen und zu küssen. Er ordnete mit einer ihm sonst fremden Gründlichkeit die Zeichnungen und Vermessungsrechnungen und beugte sich dann über die große Generalstabskarte des Gebietes, in dem die neuen Talsperren geplant waren. Sein Finger zeigte auf eine weiße Stelle inmitten der Berge.

»Hier war ich, Elena. Hier muß es sein.« Sie trat hinter ihn, legte den Arm um seinen Hals und beugte sich neben seinem Kopf über die Karte. Ihre blonden Haare kitzelten an seiner Wange. Sie sah seinem Finger nach, der einen kleinen Kreis auf der Karte beschrieb. Plötzlich nahm sie den Finger und küßte ihn.

»Ich liebe dich, Sascha«, flüsterte sie. »Ich habe es nie so gewußt wie in diesen Tagen, wo keiner sagen konnte, wo du warst und ob du noch lebst. Ich habe in den Nächten geschrien, ich habe gebetet, ich habe geweint, ich habe lauter dummes Zeug getan ... ich weiß gar nicht mehr, was ich alles getan habe. Ich war so verzweifelt, Sascha ... weil ich dich so liebe.«

Er legte den Arm um ihre Schulter und beugte sich wieder über die Karte. »Nun bist du wieder glücklich, Elena.«

»Und ich lasse dich nie wieder allein in die Berge!«

Meerholdts Gesicht wurde ernst. »Du wirst es müssen, Elena. Ich baue einen Damm . hier, wo mein Finger liegt! In diesen Felsenschluchten gibt es ein winziges Dorf. Zabari heißt es. Es liegt in einer ungewöhnlich wasserreichen Gegend, von dem keine Karte etwas sagt. Zufällig habe ich es entdeckt, weil mich ein Hirte - Jos-sip heißt er - in dieses Dorf führte. Ein kleines, rundes Tal kann ohne Schwierigkeiten als Staubecken gefüllt werden, wir brauchen nur den Ausgang mit einer 25 Meter hohen Mauer zu verschließen.« Er blickte auf und sah die hellen Augen Elenas nahe vor sich. Er küßte sie, ehe er weitersprach. »Ich habe selten eine so günstige Lage gesehen. Wenn dein Vater und der technische Beirat die Genehmigungen geben, muß ich wieder zurück in diese schwarzen Berge.«

Elena nickte. In ihrer Kopfbewegung lag eine Unabwendbarkeit. »Ich gehe mit!« sagte sie fest.

»Das ist unmöglich!«

Ralf schob die Karte zur Seite. »Es ist eine Gegend, in der du nicht leben kannst.« »Wenn du es kannst, kann ich es auch!«

»Du wirst auf Gras schlafen müssen. Es gibt nur Hammelfleisch und Milchsuppen. Der Boden ist Stein, die Umgebung nackte, kahle Felsen.«

»Wenn du auf Gras schläfst und Hammelfleisch ißt, kann ich es auch.«

»Du würdest unglücklich werden ... nach drei Tagen schon!«

Elena umarmte ihn stürmisch. »Nicht, wenn du bei mir bist, Sascha«, sagte sie heiß.

»Es ist keine Gegend für Frauen, Elena.« Er versuchte, neue Argumente zu finden, ihr die Trostlosigkeit von Zabari zu schildern, aber sie legte ihre schmale, nach Rosenparfüm duftende Hand auf seinen Mund und küßte ihn auf die Schläfe.

»Leben in Zabari keine Frauen, Sascha? Ist es ein Männerdorf?«

»Nein«, erwiderte er zögernd. »Natürlich leben Frauen dort. Aber sie sind dort geboren, sie sind ein Teil dieser rauhen Natur, sie sind hart wie die Felsen, zwischen denen ihre Herden weiden. Du würdest unglücklich werden, Elena.«

Er dachte an Rosa, an ihre naturhafte Wildheit, die ausbrechen würde, wenn sie Elena an seiner Seite sah. Ihn schauderte innerlich bei dem Gedanken, wie elementar der Zusammenprall sein mußte, wenn sich zwei Welten wie Rosa und Elena begegneten.

»Es geht nicht«, sagte er fest, so, als ob er damit das Gespräch abbrechen wollte. »Wenn der Damm gebaut ist, Elena, wenn wir ihn einweihen, wenn wir neue Straßen gelegt und die Einsamkeit erschlossen haben, dann hole ich dich nach Zabari.«

Und während er es sagte, wußte er, daß auch dies eine Lüge war.

Vier Monate später lagen die Pläne Rolf Meerholdts wieder auf seinem Tisch in Foca. Die Regierung in Belgrad, der Ausschuß für Talsperren, die Baudirektion in Zagreb und Sarajevo hatten die Pläne geprüft und den Auftrag zum Bau erteilt. Von Zagreb, Sarajevo, Titograd, Belgrad und Skoplje rückten die Baukolonnen auf großen

Lastwagen und Raupenschleppern nach Foca.

Sechshundert Arbeiter zogen singend in Foca ein; Räummaschinen, Planierraupen, Betonmischer, Betongießer, fahrbare Sägen, riesige Eisenträger rollten ratternd durch den stillen Ort und bildeten außerhalb der Häuser ein riesiges Heerlager. Einhundert italienische Arbeiter aus Triest fuhren in der Nacht ins Lager ein, mit ihnen kam Musik in den Lindwurm der Technik, Mandolinenklang und Gesang.

An der Spitze seiner Köche marschierte Pietro Bonelli ins Lager. Bonelli, der Kantinenwirt, der in Zabari für das Wohl der siebenhundert Menschen sorgen sollte.

Ralf Meerholdt arbeitete Tag und Nacht. In seiner >Befehlsbaracke<, wie man sie schnell bei den Arbeitern nannte, brannte in diesen Nächten das Licht bis zum Morgen. Elena arbeitete an seiner Seite, still, unermüdlich. Sie war blasser geworden, etwas dünner im Gesicht. Um die Augen lagen die Schatten der Schlaflosigkeit. Aber sie sagte kein Wert der Beschwerde, sie stand an seiner Seite, sie schrieb die langen Listen der Materialien und Geräte, der Personalien und Berichte, und sie kochte starken Kaffee, wenn es gegen den Morgen ging und die Müdigkeit sie übermannte.

»Noch drei Tage«, sagte Ralf, »dann bist du erlöst.« Er trank hastig den starken, würzigen Kaffee und aß eine Schnitte Weißbrot mit dicker Butter und Schinken. Aber noch während des Kauens diktierte er weiter, meldete ein Ferngespräch nach Zagreb zu Direktor Osik an und bestellte die einzelnen Schacht- und Straßenmeister für sieben Uhr morgens zur Besprechung in den Saal der Kantinenbaracke.

An einem Dienstag setzte sich die Armee der Bauarbeiter mit den Maschinen, Wagen und Kettenfahrzeugen in Bewegung.

Nach einem genauen Plan, wie der Aufmarsch eines Heeres, vollzog sich jede Bewegung der nun fast 1.000 Männer.

Den Vortrupp bildeten drei Raupenschlepper und Planierraupen mit sechs Lastwagen, die den Weg über die schwarzen Berge sichern und festigen sollten, ehe die langen Reihen der Wagen mit den Baracken und Materialien folgten. Zuletzt kamen die Arbeiter auf großen Mannschaftswagen, die von der jugoslawischen Armee geliehen worden waren.

Meerholdt hatte es bei Direktor Osik durchgesetzt, daß Elena in Foca blieb und die >Verbindungsstelle< zwischen Zabari und Zagreb darstellte. So sehr sie bettelte und sogar nach Zagreb zu ihrem Vater fuhr, so sehr sie Ralf umschmeichelte und in der elterlichen Villa die Vasen an die Wand warf und einen kleinen Schreikrampf inszenierte, den Direktor Osik mit einem Eimer kalten Wassers schnell heilte ... sie blieb in Foca zurück und winkte weinend vor Enttäuschung und Zorn dem letzten Wagen nach, der aus dem Tor des Barackenlagers fuhr - der kleine Wagen Meerholdts, beladen mit einem Zelt und einigen Koffern voll Kleidung und Wäsche.

Dann war sie allein in dem großen Lager. Die Baracken starrten sie mit ihren leeren Fenstern an, der Platz, über den sonst das laute Leben der Arbeit flutete, war übersät mit Papier, das der Wind vor sich hertrieb. Ein Hund, den jemand vergessen hatte mitzunehmen, trottete durch die Lagergassen und schnüffelte an den Ecken. Nur aus der >Befehlsbaracke< tönte dünn das Klappern einer Schreibmaschine durch die plötzliche Stille. Zwei Stenotypistinnen hatte Meerholdt zur Unterstützung Elenas noch eingestellt, ehe er wegfuhr.

Wütend ging Elena durch die Lagergassen. Eine ausgestorbene Stadt, ein schreckliches Gefängnis, eine Verbannung, dachte sie. Sie blieb vor dem ehemaligen Materiallager stehen, das noch halb gefüllt war. Der Rest sollte in etwa zwei Monaten nachgeholt werden, wenn in Zabari das neue Barackenlager aufgebaut war und die wertvollen Ersatzteile ein sicheres Dach bekamen.

In zwei Monaten, dachte Elena. In zwei Monaten werde ich mit diesem Material nach Zabari fahren. Und wenn ich mich in eine Kiste legte oder unter Drahtrollen verstecke. Ich komme mit! Ich will Ralf und Vater zeigen, daß ich keine Modepuppe bin, der man nicht zutraut, in einer Wildnis zu leben, wenn man einen Mann liebt! Ich werde es ihnen beweisen! In zwei Monaten.

Zufrieden ging sie zurück zur >Befehlsbaracke< und setzte sich an das Telefon. Sie rief Zagreb an und nickte, als sich Stanis Osik meldete.

»Meerholdt ist vor einer Stunde mit den Kolonnen abgerückt«, sagte sie. »Wir rechnen damit, daß die provisorische Telefonleitung von Zabari bis Foca in drei Tagen fertig ist. Du kannst dann gleich mit Meerholdt sprechen.«

»Sehr schön, mein Püppchen«, sagte Osik zufrieden.

»Nenn mich nicht immer Püppchen«, rief Elena wütend. »Ich bin keine Figur, die man unter Glas setzt!«

»Natürlich nicht.« Osik strich sich über seine Glatze und blickte auf seinen aufgeschlagenen Terminkalender. »Ich komme in zwei Wochen zu euch.«

»Das ist schön, Papa.«

»Siehst du. Und laß den Mut nicht sinken. AufWiedersehen, Püpp-chen.«

Wütend, ohne Antwort, warf Elena den Hörer auf die Gabel und verließ das Zimmer. Sie ging in ihren Schlafraum und warf sich auf das weiche Bett, das Osik für sie von Zagreb nach Foca hatte nachkommen lassen.

In zwei Monaten, grübelte sie. Zwei Monate, bis ich Ralf wiedersehe. Das ist eine lange Zeit, eine zu lange Zeit. Ich werde sie nicht durchstehen . ich werde ungeduldig werden, ich werde eine Dummheit machen! Und wenn ich mit meinem Wagen heimlich durch das Gebirge zu ihm fahre . ich werde keine zwei Monate auf seine Lippen, seine Arme, seine Augen, seine Zärtlichkeiten warten können. Ich kann es nicht.

Sie richtete sich auf und sah sich in dem großen Spiegel, der neben dem Fenster stand und bis zur Erde reichte. Ihre Augen waren umrandet und müde, die Haare lagen unordentlich um den schmalen Kopf, das Rot der Lippen war verwischt. Da warf sie sich wieder zurück aufs Bett und drehte den Kopf zur Wand.

Sie weinte, und jetzt war es ein Weinen des Abschieds und der Sehnsucht.

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