An einem Nachmittag, drei Tage nach dem Anruf Stanis Osiks, traf Elena in Zabari ein. Es waren drei Tage verzweifelten Wartens und Suchens. Osik in Foca rief jede Stunde an und raufte sich verzweifelt die Haare, als er immer die gleiche Antwort erhielt: Elena ist noch nicht hier. In Foca war sie auch nicht eingetroffen, auch aus Niksic und Plewlja kam die Nachricht, daß auf der Straße in die Berge keine junge Frau gesehen worden war. Osik brütete über der Karte des Gebietes und suchte einen anderen Weg, den Elena genommen haben konnte. Es gab nur eine Straße, die in die Nähe des Durmitor führte . eine Felsenstraße von Goransko aus, ein elender Weg, der jetzt bei der Schneeschmelze gesperrt war und nur unter höchster Lebensgefahr begangen werden konnte. Diesen elenden, gefährlichen Weg konnte Elena von Sarajewo aus erreicht haben!
Osik brach der Schweiß aus bei dem Gedanken, daß Elena auf dieser Höhenstraße um ihr Leben kämpfte . aus Trotz gegen ihren Vater, für eine Liebe, die sie sich einbildete. Am dritten Tage des Wartens schwor Osik sogar im geheimen, daß er ja zu einer Heirat mit Ralf Meerholdt sagen würde, wenn Elena nur lebend wieder auftauchte.
Am dritten Tag, nachmittags, fuhr Elena mit einem alten Jeep, den sie sich in Sarajewo gekauft hatte, in Zabari ein . verschmutzt, zerrissen, mit verfilzten Haaren. Sie war von Goransko tatsächlich über die Berge gefahren, durch unwegsame Schluchten und wilde, fast immer im Schatten der Felsen liegende Täler . sie war umhergeirrt in dem Labyrinth der Berge, sie hatte des Nachts im Jeep geschlafen, zugedeckt mit drei Wolldecken, den Kopf auf ein Bündel Kleider gelegt. Oft war sie unter den Decken hervorgekrochen, steifgefroren in der nächtlichen Kälte, und war um den Wagen herumgelaufen ... stampfend, mit den Armen um sich schlagend, hüpfend, um sich wieder warm zu machen und den Körper durchbluten zu lassen. Ich halte durch, hatte sie sich trotzig zugesprochen. Ich kehre nicht um, ich mache nicht schlapp ... ich will es ihm zeigen! Jetzt gerade! Und sie kroch wieder unter die feuchten Decken, zitternd und zähneklappernd, schlief eine Stunde und lief dann wieder um den Wagen . drei Nächte lang, zäh, verbissen und getrieben von dem Willen, Stanis Osik ihre Liebe zu beweisen.
Nun fuhr sie ratternd und knatternd durch Zabari, bestaunt von den Bauern, angestarrt von den Arbeitern. Ralf Meerholdt lief ihr auf der Straße entgegen ... sie bremste scharf, sprang aus dem Wagen und fiel ihm mit ausgebreiteten Armen um den Hals. Vor allen Umstehenden küßte sie ihn wild und klammerte sich an ihn. Jetzt, am Ende ihrer Reise, in den Armen Ralfs, verließen sie alle Kräfte . sie sank zusammen und weinte haltlos. Durch ein Spalier von Arbeitern trug er sie in seine Baracke.
Am Eingang der Kantine stand Rosa und blickte zu Boden. Sie begriff nicht, was sie gesehen hatte, sie konnte nicht verstehen, daß es ein anderes Mädchen gab, das ein Recht besaß, Ralf um den Hals zu fallen und zu küssen. Ein Mädchen, das plötzlich mit einem kleinen, offenen Auto aus den Felsen herausschoß und das Ralf auf den Armen in sein Haus trug.
Pietro Bonelli kratzte sich den Kopf. Er stand hinter Rosa und putzte ein Bierglas.
»So ist das, Mädchen«, sagte er und nickte weise dazu. »Das Leben ist eine verdammt schwere und verzwickte Angelegenheit.« Er dachte dabei an Katja Dobor, die noch immer im Krankenhaus von Sarajewo auf der Station arbeitete und ihm keine Nachricht gab, weil sie nicht schreiben konnte.
»Wer ist sie?« fragte Rosa leise.
»Elena Osik, die Tochter von Direktor Osik, dem Chef von den staatlichen Bauten. Steinreich, Rosa. Osik könnte euer ganzes Dorf kaufen, und er merkte es noch nicht einmal auf seinem Bankkonto.«
»Und was will sie hier in Zabari?«
»Wahrscheinlich will sie zu Meerholdt. Der Padrone war mit ihr lange in Foca zusammen . sie war seine Sekretärin.« Bonelli lächelte hintergründig. »Man munkelt so allerlei bei uns . aber Genaues weiß ich auch nicht.«
»Liebt sie ihn?«
»Wie soll ich das wissen?«
»War sie seine Geliebte?«
»Kind, als wenn mich das etwas anginge! Geh doch hin und frage sie selbst.«
»Das werde ich auch tun.«
Entsetzt sah ihr Bonelli nach, wie sie durch die Barackengasse lief, dem Hause Meerholdts zu. »Madonna!« stammelte er. »Das ist eine Tragödie.«
Er trat schnell zurück hinter seinen Schanktisch und spülte die Gläser weiter, aber es beruhigte ihn nicht, und er zerbrach zwei Stück zwischen den Händen.
Elena lag tief schlafend in Ralfs Bett. Er hatte ihr die schmutzige Jacke ausgezogen, Gesicht und Hände gewaschen . schon beim Waschen sank ihr Kopf vornüber, und sie schlief ein, an Ralfs Arm festgeklammert. Er legte sie zurück auf das Bett und zögerte. Dann siegte die Notwendigkeit über seine Zurückhaltung, und er entkleidete Elena vollständig, zog dem weißen, schönen und vollendeten Körper seinen Schlafanzug über und deckte sie dann bis zum Hals mit
seiner Steppdecke zu.
Sie lächelte im Schlaf.
Eine Weile saß er noch neben ihr auf der Bettkante und betrachtete sie. Ihre Augenlider zitterten. Der Mund war plötzlich trotzig zusammengezogen, ihr Gesicht hatte etwas Strenges und in der jetzigen Herbheit Berückendes an sich.
Drei Tage und Nächte durch die Berge ... eine große, eine überwältigende Leistung für eine so zarte und verwöhnte Frau wie Elena. Ein Martyrium, freiwillig erlitten, um zu ihm zu kommen. Eine Odyssee aus Liebe.
Er beugte sich über ihr schmales, bleiches Gesicht und küßte sie auf den zusammengepreßten Mund. Ihre Lippen waren kalt und rauh, aber sie zitterten, als er sie berührte.
Während Elena schlief, rief Meerholdt in Foca Stanis Osik an.
Osik war der Verzweiflung nahe und soff ein Glas Slibowitz nach dem anderen. Er hatte sich eingeschlossen und brüllte jeden durch die Tür an, der ihn störte. So verkehrte man nur noch telephonisch mit ihm, denn das Telephon war das einzige Wesen, auf dessen Stimme er sofort reagierte. Aber alles, was nicht aus Zabari kam, wurde von ihm niedergeschrien und abgehängt.
Mit glasigen Augen starrte Osik auf die Tischplatte. Ich saufe mich zu Tode, grübelte er. Alkohol ist Gift für mein Herz. Ich habe die Angina pectoris . ich weiß es. Aber ich pfeife darauf!Ich pfeife! Wenn Elena umgekommen ist, ist das Leben nichts mehr wert! Wofür arbeite ich denn? Wofür habe ich den Reichtum gescheffelt, die Leute betrogen, die Arbeiter ausgebeutet, Material verschoben und falsche Rechnungen buchen lassen? Für wen denn? Für mich? Für den dicken, alten Stanis Osik, dessen Herz in der Brust klappert wie ein ungeschmierter, ausgeleierter Motor? Für den? Er schüttelte den Kopf und goß sich noch ein Glas ein. Mit geschlossenen Augen, als tränke er Gift, stürzte er es ganz hinunter. Ich saufe mich zu Tode, Heilige Mutter von Sarajewo . gib mir Elena wieder.
Er schlief, als das Telephon neben seinem Ohr klingelte. Schlaftrunken fuhr er auf, wischte sich über das schweißige Gesicht und nahm den Hörer ab.
Zabari. Osik fuhr empor. Er schwankte trunken, aber er verstand alles, was Meerholdt sagte. Und dann weinte Stanis Osik - es war möglich, daß aus seiner harten Seele noch ein Gefühl entsprang, das ihm die Tränen in die Augen trieb.
»Sie ist da«, stammelte er. »Sie ist bei Ihnen . gesund, ganz gesund, nur müde . und sie schläft . mein Täubchen, meine Elen-aska. Meerholdt.« Er schluckte. »Ralf. pflege sie gut, hörst du . pflege sie wie eine Mutter. Ich komme sofort nach Zabari.«
Er legte den Hörer auf und schwankte. Sich an der Wand forttastend, torkelte er zu dem Sofa am Fenster und warf sich in die Kissen. Kaum, daß er lag, schlief er schon wieder, und er lächelte im Schlaf wie ein glückliches, beschertes Kind.
Bevor am nächsten Morgen Stanis Osik nach Zabari kam, standen sich in Ralfs Zimmer Rosa und Elena gegenüber.
Nicht feindlich. Rosa putzte den Boden, und Elena nahm keine Notiz von ihr und trank an einem kleinen Tisch mit Ralf Kaffee. Die durchschlafene Nacht in dem warmen Bett Meerholdts, das Bad am Morgen hatten sie wieder in die gepflegte Dame aus Zagreb verwandelt. Wer sie so sitzen sah in ihrem Pariser Frühjahrskleid, mit den hochhackigen Schuhen und den dünnen, nahtlosen Nylonstrümpfen, hielt es für undenkbar, daß diese gleiche Frau vor wenigen Stunden noch den Felsriegel der schwarzen Berge durchbrochen hatte, eine Tat, deren jeder Mann sich stolz rühmen würde.
Während sie Kaffee tranken, sprachen sie kein Wort miteinander. Nur ab und zu legte Elena ihre Hand auf die Ralfs und streichelte sie leicht. Rosa sah es . sie schielte während des Putzens zu dem Tisch hinüber und biß die Zähne aufeinander. Zwischen ihren schwarzen Augen stand eine tiefe Falte. Meerholdt gab sich jegliche Mühe, vor Rosa einen gewissen Abstand gegenüber Elena zu bewahren, aber die stille Zärtlichkeit, die von ihr ausstrahlte, das Glück, bei ihm zu sein, die Freude, Stanis Osik besiegt zu haben, waren so stark, daß Rosa fast körperlich die Gefahr spürte, die von dieser Frau ausging.
Sie beobachtete Elena, wie sie die Tasse hielt, wie sie das Brötchen brach, wie sie das Messer handhabte, als sie Butter und Honig auflegte . sie machte sich in der Nähe des Tisches zu schaffen und betrachtete die schmalen, vorne spitz zulaufenden Schuhe, die dünnen Strümpfe und den seidigen Stoff des Kleides. Meerholdt legte das Messer weg ... ihm schmeckte der Kaffee bitter, als sei er mit Galle aufgeschüttet, jeder Bissen blieb ihm im Halse stecken, als habe er Widerhaken, die sich in seiner Speiseröhre festkrallten. Verstohlen sah er auf die Uhr. Kam Osik noch nicht? Er hatte ihn schon in der Nacht erwartet.
»Sascha«, unterbrach Elena seine Gedanken. »Es ist so schön, wieder bei dir zu sein.«
Rosa verließ das Zimmer. Draußen, im Flur, lehnte sie sich an die Wand und schloß die Augen. Sascha nennt sie ihn. Sascha! Sie war seine Geliebte . jetzt wußte sie es. Niemand hatte sonst ein Recht, einen Menschen Sascha zu nennen. Ich werde sie fragen, dachte sie. Ich werde sie einfach fragen, ob sie ihn wirklich liebt, so liebt wie ich! Und wenn der Abend kommt, werden wir beide an Ralfs Tür stehen, und die stärkere wird siegen! Ich habe das gleiche Recht wie sie!
Sie öffnete die Augen. Es war, als erwache sie aus einem Traum. Sie blickte an sich herunter . das alte, geflickte Kleid, die derben, holzsohlenbeschuhten Galoschen, die handgestrickten, dicken Schafwollstrümpfe. Alles war elend, plump und häßlich gegenüber Elena . nur ihr Haar, das lange, schwarze, seidenglänzende Haar, das bis zur Hüfte hinabfiel und wie ein Schleier um ihre Gestalt wehte, wenn der Bergwind sie ergriff, dieses Haar war Elena überlegen. Das erfüllte sie mit Stolz und Hoffnung.
Bonelli fiel ihr ein. Er hatte für Katja Kleider aus Sarajewo kommen lassen; schöne, moderne Kleider, wie man sie in Zabari noch nicht gesehen hatte. Aber als die Pakete von Sarajewo in Zabari ankamen, war Katja in Sarajewo, und Bonelli fluchte und spielte mit den Paketen vor Wut Fußball. Seitdem lagen sie bei Bonelli in der Ecke des Zimmers, unausgepackt und unbeachtet, denn Bonelli wollte der Dummheit nicht die Krone aufsetzen und sie nach Sarajewo zurückschicken.
»Schicke ich sie weg und sie kommen in Sarajewo an, ist Katja dann gerade in Zabari! Ich bin doch kein Idiot!« schimpfte Bonelli. Und so warteten die Kleider auf die Wiederkehr Katja Dobors.
Rosa stellte den Eimer und den Schrubber in die Ecke des Ganges und rannte über den Platz zu der Kantine. Sie kam gerade herein, als Bonelli mit verträumtem Gesicht vor einem Blatt Papier saß. Ein Fahrer hatte es ihm mitgebracht aus Sarajewo. Schreiben konnte Katja nicht, aber malen. Und so hatte sie Pietro auf das Blatt Papier zwei Lippen gemalt, die sich küßten. Weiter nichts . zwei Lippen. Aber Bonellis Herz zuckte, und er war in Versuchung, wieder ein rauschendes Spaghettiessen zu geben mit viel Chianti und Musik.
»Sie liebt mich, Rosa«, sagte er versonnen, als sie zu ihm trat. »Meine Madonetta liebt mich.« Er zeigte ihr das Papier mit den Lippen und drückte es ans Herz. »Es ist das erste Mal, daß sie es selbst sagt. O Rosa - ich könnte etwas ganz Dummes machen vor Freude!« Bonellis Augen flimmerten.
Er griff nach hinten und holte eine Flasche guten Wein aus dem Regal. Pfeifend goß er Rosa und sich ein Glas ein und hob es gegen die Sonnenstrahlen, die durch die Fenster in den Raum fielen. Der Wein funkelte golden.
»Auf mein Glück«, rief er laut.
Sie tranken das Glas. Rosa atmete schwer, es war das erste Glas Wein, das sie trank. Bonelli sah Rosa von der Seite an, als er das Glas absetzte.
»Kummer?« fragte er.
Sie nickte. »Ja.«
»Mit dem Padrone und der Tochter des Direktors?«
»Ja.«
»Und du liebst ihn?« »Ja - wie dich deine Katja.«
Bonelli biß sich auf die Lippen. Das durfte nicht kommen, das sprach sein weiches Herz an, das ließ ihn mitleiden. Er bunkerte mit den Augen und goß sich noch ein Glas Wein ein.
»Und ich soll dir helfen?«
»Ja.«
Bonelli hob beide Hände und schlug sie gegeneinander. »Womit, Rosa?«
Sie stockte und sah ihn aus ihren großen, schwarzen Augen ängstlich und hilflos an. »Bist du auch nicht böse, wenn ich es sage?«
»Aber nein. Wie kann ich dir helfen?«
»Leih mir die Kleider von Katja«, sagte sie leise. Sie wagte nicht, Bonelli dabei anzusehen. Pietro schwieg eine Weile betroffen. Die Kleider Katjas? Die verfluchten Pakete, die bei ihm in der Ecke lagen und verstaubten? Er wußte selbst nicht, was sie alles enthielten ... er hatte an ein Geschäft in Sarajewo geschrieben und eine vollkommene Frauenausstattung bestellt mit vier Kleidern und dem dazugehörenden >Unterzeug<, wie es Bonelli respektlos vor den zarten Gebilden weiblichen Dessous nannte. Ein wenig Neugier beschlich ihn doch, zumal er an Rosa sehen konnte, wie es bei Katja wirken würde.
»Komm mit!« sagte er. »Aber verrate niemandem, von wem du die Sachen hast! Verstanden?«
Wie Verschwörer verschwanden sie in der Stube Bonellis und schlossen hinter sich die Tür ab. Dann knisterte Papier, und ein staunendes »Ah« drang durch die Tür.
Gegen Mittag traf auch Stanis Osik in Zabari ein. Er fuhr einen schweren Reisewagen und brauste durch die staubige Dorfstraße direkt auf das Barackenlager zu. Die Arbeiter, die ihm begegneten, zogen die Hüte und Mützen, die Bauern standen wie immer am Wege und bestaunten den großen, blitzenden Wagen.
Osik fuhr geradenwegs vor die große Baracke Meerholdts und sprang aus dem Wagen. Er rannte ins Haus und prallte auf einen der Techniker, der erschreckt zur Seite wich.
»Wo ist Herr Meerholdt?« keuchte Osik. »Wo ist meine Tochter?!«
»Der Herr Ingenieur und das gnädige Fräulein sind auf der Baustelle. Herr Meerholdt zeigt ihr das Werk.«
Stanis Osik wandte sich um und rannte zurück. Ein Lastwagen, der vorüberfuhr, bremste scharf, weil sich Osik mitten auf die Straße stellte. Der Fahrer schrie aus dem Fenster:
»Idiot! Aus dem Wege! Wer ist dieses Riesenrindvieh?! Stellt sich mitten auf die Straße!«
Stanis Osik sprang auf das Trittbrett und schob mit seiner großen, fleischigen Hand den Kopf des Fahrers in das Führerhaus des Autos zurück.
»Fahr weiter!« brüllte er den sprachlosen Mann an. »Zum Wall!«
»Aber ich muß doch zum Materiallager.«
»Zum Wall, du Hornochse - oder du fliegst sofort!«
Der Fahrer schaltete den Gang ein und brauste weiter, machte eine Kurve und ratterte auf das Tal zu. Osik hielt sich am Fensterrahmen und am Rückspiegel fest und sah das gigantische Bauwerk näher und näher kommen. Zum erstenmal sah er selbst die Bauten, die er bisher nur von den Plänen und einigen Fotos her kannte. Die Größe, die gewaltigen Ausmaße, dieser stein- und eisengewordene Gedanke eines Genies erfaßte auch ihn mit Bewunderung und einer ihm fremden Ergriffenheit. Er starrte ins Tal hinab, über die Steinmauer, die Verschalungen, die Betonplanierungen, die Hallen, die unten am Wall begannen, er erkannte die ungeheure Umwandlung der Natur nach dem Willen eines einzigen Menschen und wurde schweigsam.
Auf einer halbfertigen Brücke, die einen Teil des Tales überspannte, erkannte er Elena an der Seite Meerholdts und des Vorarbeiters Dra-go Sopje. Sie standen in schwindelnder Höhe an einem Eisengitter und blickten hinab in das geplante Staubecken. Osik ließ den Wagen halten. »Weißt du, wer ich bin?« fragte er den Fahrer. Dieser schüttelte den Kopf.
»Nein. Auf jeden Fall ein Verrückter.«
Ehe Osik etwas antworten konnte, hatte er den Wagen gedreht und ratterte in Richtung auf das Materiallager davon. Wütend stapfte Osik durch den aufgerissenen Boden, über Kalkgruben, Lehmhalden und Knüppeldämme der Brücke zu. Er betrat gerade das Eisengerüst, als Elena ihn bemerkte und Meerholdt am Arm herumriß.
»Mein Vater!« schrie sie leise auf.
Meerholdt nickte. Eine schwere Last fiel von ihm ab. Wie einer Erlösung sah er Osik entgegen.
»Woher weiß er, daß ich hier bin?« sagte Elena und umklammerte seinen Arm.
»Er hat es angenommen! Wohin solltest du schon geflüchtet sein?«
»Er kommt mich holen, Sascha. Er wird mich schlagen, mich einsperren, mich wieder wegschicken in andere Länder. Schütze mich, Sascha ... schütze mich.« Sie drängte sich an ihn und wandte den Kopf weg.
Stanis Osik schnaufte von der schnellen Fahrt und der ungewohnten Kletterei. Er hielt sich an dem eisernen Geländer fest und blieb stehen. Er wagte nicht, hinab in die Tiefe zu sehen. Er wurde schwindelig und hatte den wahnsinnigen Drang, sich mit dem Kopf zuerst in die Schlucht zu stürzen. Es war, als zöge ihn eine fremde, starke Macht hinab. Tief atmend sah er hinüber zu der kleinen Gruppe von drei Menschen, die allein auf der leicht schwankenden Brücke stand und ihm entgegensah. Er bemerkte, wie sich Elena an Meer-holdt klammerte und den Kopf verbarg. Sie hat mich erkannt, dachte er grimmig. Sie fürchtet meinen Zorn. Das gab ihm Mut, weiterzugehen. Mit tastenden Schritten balancierte er über die schwankenden Bohlen.
Elena richtete sich plötzlich auf und riß sich von Meerholdt los. Ehe Ralf und Drago Sopje sie fassen konnten, rannte sie auf den Teil der Brücke zu, der nur provisorisch befestigt war und an einigen dünnen Stahlseilen hing, bis von unten her die Betonpfeiler emporwuchsen und ihr Halt geben würden.
»Elena!« schrie Meerholdt. Entsetzen lähmte ihn, während Dra-go Sopje vorsichtig der Flüchtenden folgte. »Die Brücke hält das nicht aus! Du stürzt ab, Elena! Halt! Halt!«
Stanis Osik blieb stehen und warf die Arme in die Luft. »Elena!« brüllte er grell. »Elena!«
Sie wandte sich um und umklammerte das Geländer der schwankenden Brücke. »Geh nicht weiter, Vater!« schrie sie zurück. »Noch einen Schritt - und ich springe hinab!«
Osik blieb wie angewurzelt stehen. Meine Tochter, durchfuhr es ihn. Sie ist meine Tochter. Jetzt sehe ich es! Lieber den Tod, als etwas gezwungen tun! Lieber sterben als nachgeben! Mit einem Dickkopf in das Grab ... er wischte sich über das Gesicht. Kalter, klebriger Schweiß war an seinen Händen, als er sie wieder zurückzog. Angstschweiß, der seinen Körper wie mit Wasser durchtränkte.
»Ich schlage dich nicht, Püppchen«, sagte er matt. »Komm zu mir.«
»Ich habe Angst vor dir.« Elenas Stimme war weit und kläglich.
»Ich verspreche dir alles . nur komm zurück von der Brücke.«
»Ich darf in Zabari bleiben?«
»Jaja . komm, Elena.«
»Du schwörst es?«
»Bei der Heiligen Mutter von Sarajewo! Komm jetzt, Elena.«
»Du wirst mir nichts tun? Du fährst morgen wieder weg nach Zagreb.«
»Alles, alles was du willst! Nur komm herunter, mein Püppchen.«
Zögernd kam Elena zurück. Jetzt konnte sie Drago Sopje fassen . er zog sie schnell von den schwankenden Böden weg auf den festeren Teil, der schon auf einem Pfeiler auflag. Osik war jetzt bei Meerholdt angekommen und drückte ihm stumm die Hand. »Gehen wir«, sagte er stockend. »Sonst glaubt sie mir nicht, daß ich mein Wort halte. Ich werde bei Ihnen mit ihr genauer sprechen.«
Sie gingen zurück zur planierten Auffahrt am Rande des Tales, und Elena folgte ihnen mit Sopje, ungewiß, ob Osik seine Versprechungen halten würde.
Am nächsten Morgen schon hielt Stanis Osik sein Versprechen -er fuhr zurück nach Foca und von dort nach Zagreb. Ausschlaggebend waren nicht die Tränen und Anklagen Elenas, sondern eine halbstündige Aussprache mit Ralf Meerholdt unter vier Augen. Meerholdt hatte auf die direkte Frage Osiks ebenso klar geantwortet.
»Lieben Sie Elena?« hatte Osik gefragt.
»Ich empfinde eine tiefe Zuneigung zu Ihrer Tochter, eine Zuneigung, die man einer so schönen Frau entgegenbringen muß. Ob es Liebe ist? Ich glaube es nicht.« Meerholdt hatte sich diesen Satz genau überlegt... er war klar und ließ für Osik alles offen, was zwischen ihm und Elena gewesen war.
Osik nickte verständig. Er hatte den Sinn der Worte verstanden.
»Sie wollen sie also nicht heiraten?«
»Nein.«
»Eine klare Antwort, Herr Meerholdt.« Osik war sehr zufrieden. »Aber Elena meint, Sie seien der einzige Mann, der in ihr Leben paßt. Sie will Sie heiraten!«
»Ich weiß es, Herr Direktor. Darum war ich Ihnen dankbar, daß Sie sofort nach Zabari kamen, um Elena abzuholen. Daß sie mit solch massiven Drohungen wie vorhin auffahren würde, habe ich nie und nimmer erwartet. Es wird schwer sein, sie zu überzeugen, daß meine Zuneigung eben nur ein Tribut an ihre Schönheit ist -aber nicht ausreicht, um daraus eine Ehe zu gestalten.« Meerholdt sah aus dem Fenster über das Lager. »Ich glaube jetzt fast, daß es wirklich die beste Lösung ist, Elena hier zu lassen. Sie wird hier eher als aus einiger Entfernung begreifen und vor allem sehen lernen, daß unsere Welten verschieden sind.«
»Das habe ich ihr auch schon gesagt.« Osik faßte es anders auf als Meerholdt und war verwundert über das >Fingerspitzengefühl<, wie er es nannte, das Meerholdt entwickelte. »Ich finde es sehr anerkennend von Ihnen, daß Sie es von selbst einsehen.« Osik griff wieder nach einer seiner dicken Zigarren. »Wenn Sie Elena von dem Gedanken der Heirat abbringen, Meerholdt, will ich in Belgrad für Sie sprechen. Die Entwicklungspläne unserer Regierung sind
groß. Sie könnten eine goldene Zukunft haben.«
Meerholdt stutzte. Er sah Osik von der Seite an und erfaßte plötzlich den Sinn der Betriebsamkeit des Direktors. Er lächelte über die Sorgen, die man in Zagreb seinetwegen hatte, und dachte an Rosa, die er den ganzen Tag über noch nicht gesehen hatte. »Ich hoffe, daß man in Belgrad meine geleistete Arbeit bewertet - wenn sie gut ist - und nicht irgendwelche Konzessionen persönlicher Art«, sagte er bestimmt. »Im übrigen glaube ich, daß die Zuneigung Elenas zu mir mehr eine Laune ist, eine sehr rasch verflammende Leidenschaft, über die Sie sich keinerlei Sorgen zu machen brauchen. Ich werde sowieso eines Tages wieder nach Deutschland zurückkehren . was sollte Elena dann in einem Land, das sie nicht versteht und in dem sie immer eine Fremde bleiben wird?«
Während er es sagte, durchfuhr ihn der heiße Schrecken, daß die gleichen Worte auch Rosa gesagt werden mußten. Mehr noch als Elena würde sie unter der Fremdartigkeit der Menschen und des Landes leiden. Es war, als würde man eine seltene Pflanze in ein anderes Klima umpflanzen, in eine fremde Erde, ohne ein wenig Mutterboden mitzunehmen. Sie würde eingehen, trotz aller Pflege, trotz aller äußeren Umstände, die denen der Heimat glichen. Gleichen! Das war es . etwas Gleiches ist nicht das Naturgetreue, aus dem es gekommen ist. Der innere Kraftstrom der Seele fehlt, jenes Geheimnis Heimat, das geistig nicht zu erfassen ist, sondern das man fühlt, wenn man einsam in der Fremde ist und sich sehnt nach einem Baum, einem Strauch, einem Haus, einer Straße oder auch nur nach einer einzigen Blume, die man einmal zu Hause in der Hand hielt. Das ist die Heimat, die Wiege der Seele. Konnte Liebe sie ersetzen.?
Stanis Osik war mit solchen Gedanken nicht belastet. Er drückte seine Zigarre aus und erhob sich schwer und massig.
»Belgrad weiß, was Sie leisten, Herr Meerholdt. Und wenn Sie von einer Rückkehr nach Deutschland sprechen, so hat dies so lange Zeit, bis alle Bauten, die wir gemeinsam planten, von Ihnen realisiert worden sind. Wir haben große Pläne . und Sie haben eine große Zukunft!« Er reichte Meerholdt die schwammige Hand und drückte sie. »Schicken Sie mir Elena sofort zurück, wenn Sie merken, daß Ihre >Umwelts-Therapie< von Erfolg ist. Lassen Sie nicht zu, daß neue Kleider, Schmucksachen, Schuhe und Strümpfe nach Zabari kommen. Lassen Sie Elena in den Bauernschuhen und Wollstrümpfen herumlaufen . sie wird vor Freude weinen, wenn sie wieder in einem weichen Bett schlafen kann und zehn Paar neue Nylonstrümpfe auf ihrem Nachttisch liegen. Frauen hängen an solchen Kleinigkeiten des Lebens - sie sind ihnen der Inbegriff des Daseins überhaupt! Nimmt man ihnen den Rahmen des Lebens, dann ist ihnen das ganze Leben nichts mehr wert. Elena kennt das noch nicht.« Osik lachte breit. »Sie werden es ihr beibringen, Meerholdt.«
Nachdenklich sah ihm Rolf nach, als Osik in seinem breiten, chromblitzenden Auto wieder durch die Berge zurück nach Foca fuhr. Osik winkte noch einmal zurück, als er in die Kurve bog und hinter den Felsen verschwand ... vom Fenster aus sah es Elena und warf die Lippen etwas vor, trotzig, wie ein beleidigtes Kind. Hinter der Küchenbaracke stand Rosa und blickte dem Wagen nach. Er fuhr ohne die fremde Frau - das beunruhigte sie. Elena Osik würde also in Zabari bleiben, bei Ralf, immer in seiner Nähe, ihn morgens beim Kaffee streichelnd, ihn nie aus den Augen lassend. Sie biß die Lippen aufeinander und lehnte sich gegen die Holzwand der Baracke. Heute abend würde sie Elena fragen, nahm sie sich vor. Heute abend ... und sie würde die Kleider anziehen, die Pietro Bonelli für Katja Dobor gekauft hatte, die schönen, lustigen Kleider aus Sarajewo, in denen sie mit ihren langen Haaren aussah wie eine orientalische Prinzessin.
Ralf Meerholdt ging in sein Zimmer zurück. Irgendwie hinkte die Theorie Osiks im Falle Elena gewaltig, empfand er. Elena hing nicht so sehr an den äußeren Dingen des Glanzes, wie es ihr Vater annahm . sie war drei Tage und drei Nächte lang durch die unwegsamsten Berge geirrt, die es in Europa gibt, völlig allein, über schwindelnde Felspfade fahrend, durch finstere Schluchten und flache Bergbäche, nur der Sonne nach, ohne Karte, ohne zu wissen, wo Za-bari lag ... sie hatte in den eisigen Nächten nur mit drei dünnen Dek-ken geschlafen und hatte sich jede Stunde um den Wagen herum warmgelaufen - drei Nächte lang, bis sie schmutzig, zerrissen, einem Vagabunden gleich, in Zabari ankam. Die elegante Elena, der niemand eine solche Tat zugetraut hätte.
Ob Zabari wirklich abschreckend wirkte? Ob die Einsamkeit und die Rauheit der Umgebung sie wirklich zurücktrieb in die Eleganz Zagrebs und die weiße Villa Osiks am Ufer der Sava? Meerholdt wagte es in diesem Augenblick zu bezweifeln. Er beschloß, alles dem Zufall zu überlassen, der Zeit, die mit ihm war, und den Umständen, die das Schicksal vielleicht zusammenkettete oder entflocht.
Hinter ihm klappte die Tür. Er drehte sich nicht um, er wußte, wer ins Zimmer gekommen war.
»Er ist weg«, sagte Elena leise. »Wir sind endlich allein.« Da er keine Antwort gab, kam sie näher und legte den Arm um seinen Hals. Sie drückte ihren Kopf an seine Wange und sah neben ihm aus dem Fenster. So bemerkte sie Rosa von der Ecke der Küchenbaracke aus und ballte die Hände zur Faust. »Freust du dich gar nicht, Sascha.?«
»Doch, sehr.« Er lächelte sie an, und in ihrem Glück sah sie nicht seine Lüge und hörte sie nicht den dumpfen Klang seiner Stimme.
»Hast du mit Vater gesprochen?« fragte sie.
»Ja.«
»Über uns, Sascha.«
»Auch. Aber meistens über technische Probleme.«
»Und was sagte er über uns?«
»Er will es der Zeit überlassen«, wich er aus. »Er will sehen, wie sich alles entwickelt. Erst der Bau - dann das Privatleben, hat er gesagt, und ich habe ihm diese Abstufung unseres Lebens in die Hand versprechen müssen«, log er geschickt.
Elena nickte. Dabei rieb ihre Wange an der seinen . es war eine Liebkosung, die ihn wie ein Peitschenschlag durchzuckte. Er beugte sich zurück und trat vom Fenster weg. Unruhig ging er im Zimmer hin und her.
»Ich werde wenig Zeit für dich haben«, sagte er dabei und vermied es, sie anzusehen. »Bis zum Einbruch des neuen Winters wollen wir die Staumauer soweit fertig haben, daß wir die Schmelzwasser der kommenden Schneeschmelze bereits auffangen können und so das Becken schnell gefüllt bekommen. Das bedeutet Tag und Nacht Arbeit! Keine Ruhe, keine Ablenkung! Die Brücken über das Tal müssen gelegt werden, die Straße nach Foca muß ausgebaut werden, der Erdwall am anderen Talausgang muß erhöht und mit einem Betonkern ausgegossen werden, die Turbinenhäuser warten auf die Montage - wir bekommen sie in Bauelementen halbfertig von Belgrad! Es wird eine schwere Zeit für dich sein, Elena.«
»Wenn sie nicht zu schwer für dich ist, werde ich sie auch ertragen können!« Sie ergriff eine Schachtel mit Zigaretten, die auf dem Tisch lag, und steckte sich eine an. Ihre Fingernägel waren wieder manikürt und leicht rot getönt, mit dem Perlmutterlack, den sie so liebte und der ihre Nägel schillern ließ, wenn die Sonne darauf fiel. Welcher Gegensatz zu Rosa! Welche Entfernung ihrer Welten ... es war, als läge das All mit sämtlichen Sternen zwischen ihnen, als seien sie Sterne, deren Licht sich im weiten Raum nie treffen konnten und würden.
Ralf Meerholdt nahm einen Mantel vom Haken und warf ihn über die Schulter. Nachdem der Morgen sonnig begonnen hatte, stieg jetzt aus den Tälern Nebel die Felsen empor . die nasse Erde dampfte unter den plötzlichen warmen Strahlen, der Bergwald wurde umgaukelt von weißen Wolken, die sich in der Sonne auflösten zu einem Flimmern, das im Blau des Himmels verschwand.
»Du willst zu den Baustellen?« fragte sie. Sie drückte die eben angerauchte Zigarette aus.
»Ja. Meine Leute warten auf die neuen Detailpläne.«
»Ich gehe mit.«
»Das geht nicht!« Er nahm einen Stapel Papier und große zusammengerollte Lichtpausen vom Tisch und klemmte sie unter den Arm. »Ich muß zu den schmutzigsten Stellen - und außerdem ist es zu gefährlich für dich. Vor allem aber will ich nicht, daß die Arbeiter dich sehen ... sie leben seit fast einem Jahr allein und ohne Frauen in dieser Wildnis. Es wäre unfair ihnen gegenüber, auf die ich genauso angewiesen bin wie sie auf mich, wenn ich jetzt mit einer Frau erschiene und zeigte: Seht, mir geht es besser als euch! Ich habe ein Mädchen bei mir! Wir sind hier alle Kameraden, Elena, wirkliche Kameraden. Der eine geht für den anderen durchs Feuer! Keiner verrät den anderen! Soll ich der erste sein, der diese Gemeinschaft stört? Ich, der sie leiten soll? Du mußt das einsehen ... warte hier, bis ich wiederkomme!«
Elena senkte den Kopf. »Und was soll ich in der ganzen Zeit tun?« maulte sie. »Gib mir etwas Arbeit, Ralf.«
»Die Arbeit hier machen zwei Techniker.« Meerholdt hatte die Tür geöffnet und drehte sich noch einmal um. »Suche dir ein schönes Buch aus und lies etwas«, sagte er. »In meinem Zimmer steht eine kleine Bibliothek.«
Er sah nicht mehr, daß Elena enttäuscht die Nase kraus zog, als er die Tür schloß. Zufrieden mit dem Beginn seiner Therapie eilte er über den großen Barackenplatz zu den Baustellen. Langeweile wird sie töten, dachte er. Sie wird vor Langeweile unlustig werden und von selbst Zabari verlassen. Nichts ist schlimmer, als herumzusitzen ohne Aufgabe, ohne Arbeit, ohne Ablenkung . ein Anhängsel des Lebens, ein Appendix der Umwelt. Zuviel Ruhe tötet die Nerven. Elena würde es keine Woche ertragen können.
Ralf Meerholdt hatte bei diesen Überlegungen, die ihn geradezu beschwingten, nicht mit dem Wesen Elenas gerechnet. Sie war in Zabari geblieben, nicht allein, weil sie Ralf liebte, sondern weil sie Stanis Osik beweisen wollte, daß sie das Leben Meerholdts teilen konnte. Dieser Beweis war eine viel stärkere Kraft als die Liebe . hier regierte nicht die empfindsame Seele, sondern der reale Geist, die Nüchternheit eines Charakters.
Was Meerholdt nie vermutet hatte, trat ein, als er noch keine halbe Stunde auf den Baustellen war - Elena begann, die Baracke Ralfs umzugestalten! Sie machte es gründlich . sie verschwendete Phantasie und Energie dabei, sie entwickelte architektonische Fähigkei-
ten - sie verbiß sich in die Idee, Meerholdts Baracke zu einem Schmuckstück zu machen.
Dazu holte sie die Hilfe von vier Mädchen, die ihr Bonelli grinsend und mit zusammengekniffenen Augen herüberschickte.
Eines dieser Mädchen war Rosa Suhaja.
Das Mittagessen nahm Meerholdt auf der Baustelle ein. Große Küchenwagen mit Thermoskesseln fuhren zu den einzelnen Kolonnen und ließen eine dumpfe Sirene über das Tal heulen. Dann warfen die Arbeiter die Spaten, Hacken und Hämmer fort und trotteten über die Knüppeldämme zu den Sammelplätzen. In langer Schlange stellten sie sich an und hoben ihre Blechschüsseln den Austeilern an den Kesseln entgegen. Auch Meerholdt stand in dieser Schlange, ein Arbeiter unter Arbeitern. Das einzige, was ihn von den anderen unterschied, war, daß er keinen Blechteller dem Austeiler hinhielt, sondern ein altes, deutsches Militärkochgeschirr. Es war verbeult, die Farbe war an vielen Stellen abgestoßen. Der Austeiler stutzte, als er das Kochgeschirr sah, und goß es dann mit zwei Kellen voll. Er war ein Italiener und grinste beim Zurückgeben.
»Deutsches Militär. Ich hatte auch eins . drüben, bei Tobruk und in der Cyrenaika. Gutes Geschirr, Herr Ingenieur.«
Meerholdt nickte und ging ein wenig abseits. Er setzte sich auf einen unbehauenen Kunststein und löffelte die Suppe aus dem Kochgeschirr. Es war in Frankreich dabei . in Rußland . vor Berlin -im Ruhrkessel... überall, wo Ralf Meerholdt am Straßenrand stand oder saß, in einem Bunker, in einem Graben, in einem Busch oder einem Wald, in einer Ruine, einem Keller, überall, wo der Oberleutnant Meerholdt rastete und aß, war es dabei, verbeult, mit abgestoßener Farbe. Auch jetzt in Zabari, in den schwarzen Bergen Montenegros. Die halbe Welt kannte es, das Kochgeschirr ... ein Querschläger hatte es an der linken Seite fast zerrissen . bei Troisdorf hatte er es verloren und suchte es sechs Stunden lang im Beschuß amerikanischer Panzer und Jagdbomber. Er fand es im Straßengraben,
und es war merkwürdig - als er es wieder in den Händen hielt, hatte er keine Sorgen mehr, den Krieg nicht überleben zu können. Es wurde eine Art Talisman, dessen Verlust ihn kopflos gemacht hätte.
Während er aß, gesellte sich der Vorarbeiter Drago Sopje zu ihm. Drago hatte die Kolonnen der Waldarbeiter unter sich, die das Holz für die Verschalungen schlugen und vor allem die Brücken über die Seitentäler legten.
»Meine Leute sind unruhig«, sagte er und kaute an einem Stück Wurst, das er in der Suppe fand. »Oberhalb der Schneisen sei es nicht ganz geheuer, sagten sie.«
»Dummheit!« Ralf sah auf. »Eine neue Form von Koller?«
»Nein! Sie wollen Fackeln gesehen haben!«
»Fackeln?« Meerholdt schüttelte erstaunt den Kopf. »Wie sollen Fackeln in die Berge kommen? Hat eine andere Kolonne in der Nacht vielleicht etwas gesucht?«
»Eben nicht! Darum sagen sie, es sei unheimlich.«
»Haben die Bauern etwas gesucht? Ein entlaufenes Schaf oder eine Kuh?«
»Ich habe den Ältesten schon gefragt. Er sagt nein! Ich wollte es Ihnen erst nicht sagen, Herr Ingenieur, weil es mir selbst zu dumm ist ... aber gestern war wieder Fackelschein in den Felsen ... zum viertenmal schon!« Drago schluckte. »Ich habe es selbst gesehen ... und ich habe keinen Koller!«
Meerholdt stellte das Kochgeschirr vor sich in den Schmutz und blickte hinüber zu dem ansteigenden Wald und dem senkrechten Felsen. >Der Steinwurf<, durchfuhr es ihn. Am Rande dieses Waldes wollte mich ein Unbekannter töten. Er kam aus den Felsen heraus und flüchtete in ihre Unwegsamkeit zurück. Hundert Soldaten haben die ganze Umgebung von Zabari abgesucht... sie haben nichts gefunden als einsame, karge Schafwiesen und einige Schäfer mit den Herden.
»Dort oben habt ihr die Fackeln gesehen?« Er zeigte zu dem Wald hinauf. Drago nickte eifrig.
»Ja. Gleich neben dem Felsen. Sie bewegten sich am Waldrand entlang und verschwanden dann in dem Geröll.«
»Und wieviel waren es?«
»Immer verschieden. Gestern nacht waren es drei Fackeln. Ich habe es deutlich erkennen können. Sie waren nahe beieinander, so, als gingen die Träger eng zusammen - oder ein einzelner Mann trage die drei Fackeln auf einmal.«
Meerholdt schwieg. Ein einzelner Mann! Der Unbekannte mit dem Stein. Warum geisterte er mit Fackeln des Nachts durch die Felsen? Wollte er die Arbeiter erschrecken? Sollten sie durch einen Schrecken davongejagt werden? Gerade unter den serbischen Arbeitern gab es viele Abergläubische, die noch an die Wirksamkeit von Geistern glaubten und in ihren Dörfern Strohpuppen in den Ecken stehen hatten zur Austreibung böser Hausdämonen.
»Ich danke Ihnen, Drago«, sagte er. »Ich werde mich einmal um die merkwürdigen Fackeln kümmern.« Er sah, daß der Vorarbeiter seinen Teller Suppe schon leergelöffelt hatte und schüttete ihm den Inhalt seines Kochgeschirrs in die Blechschüssel. Dann erhob er sich und ging zum Lager zurück, während Drago Sopje mit schmatzenden Lippen den zweiten Teller Suppe schnell leer aß.
Meerholdt betrat seine Baracke gerade in dem Augenblick, in dem Elena in seinem Wohnzimmer durch zwei der Lagerschreiner eine Wand ausmessen ließ. Zwei Mädchen waren dabei, die Schränke umzustellen, während Rosa im Schlafzimmer auf den Knien lag und den Boden wischte.
»Was ist denn hier los?« sagte er. Es sollte laut klingen, aber es klang grob. Elena fuhr herum und lächelte charmant.
»Ich mache deine Behausung ein wenig schöner, mein Liebling!« sagte sie. »Die Schreiner werden so schnell wie möglich schöne Regale zimmern, die wir hier an die Wand stellen. Eine Bücherwand, mein Schatz. Ich werde mir aus Zagreb alle meine Bücher kommen lassen. Und eine richtige Couch mit drei Sesseln. Und einen Rauchtisch. Und eine Hausbar.«
»Hör auf!Hör bitte auf!« Meerholdt hob die Hand und sah die
Schreiner an, die mit dem Messen aufgehört hatten. »Und ihr da -raus! Auch die Mädchen! Halt - Rosa nicht. Du bleibst.« Er winkte und sah Rosa an, die zögernd, vom Putzen ein wenig erhitzt, näher kam. Ihre langen Haare hingen ihr über das gerötete Gesicht. »Aus dem Regal wird nichts, macht weiter Tische für die Baracken!« rief er den Schreinern nach.
Elena verzog den Mund. »Ich wollte dir eine Freude machen!«
»Indem du die Leute von den dringenden Arbeiten abhältst?«
»Dein Zimmer ist zu kahl, zu unfreundlich! Ich will etwas Leben in diese Räume bringen.«
»Ich habe mich bisher hier wohl gefühlt«, sagte er steif.
»Bisher - aber nun bin ich hier! Ich möchte es wohnlicher haben!«
»Aber nicht auf Kosten des Werkes! Erst kommen die Arbeiten für den Bau, dann für die Baracken, dann für die Ersatzteile ... und dann kommen wir immer noch nicht! Wir kommen zuletzt, das mußt du dir merken!«
Elena war rot geworden. Sie schäumte vor Wut, aber sie verbiß sich alle Bemerkungen. Mit einem Seitenblick streifte sie Rosa, die abseits stand.
»Du hast recht«, sagte sie mühsam beherrscht. »Aber ich möchte dich bitten, das nicht alles vor diesem Trampel da zu besprechen.«
Meerholdt fühlte, wie es in seiner Schläfe zu klopfen begann. Er blickte kurz zu Rosa und sah, daß sie ungerührt in der Tür stand, so, als habe sie die Worte nicht gehört. Ihre Augen sah er nicht, aber er ahnte, daß in ihnen Wut stand und ein unbändiger Haß gegen die fremde Frau.
»Rosa wird nicht mehr putzen«, sagte er laut und hart. »Darum steht sie hier! Die Arbeit für Rosa bestimme ich ganz allein.«
»Ach?« Elena war zusammengefahren wie unter einem Schlag. Mit dem Feingefühl der liebenden Frau empfand sie plötzlich die große Gefahr, die von diesem Mädchen ausging. Sie musterte Rosa mit flammenden Augen und erkannte die Schönheit, die unter den Lumpen verborgen war, mit dem sicheren Blick der Konkurrentin. Ein heißer Strom durchjagte ihren Körper und nahm ihr den Atem.
Schwer atmend lehnte sie sich an die Wand. »Diese Rosa also ist es?« sagte sie keuchend vor Erregung. »Eine kleine Berghure, die sich zu dir ins Bett legte.«
»Schweig, Elena!« schrie er.
Sie schüttelte wild den Kopf. »Warum schweigen? Ist es nicht wahr? Während mein Vater mich in fremde Länder schleppt, damit ich dich vergesse, während ich vergehe aus Sehnsucht nach deinen Küssen, deinen Umarmungen und jede Nacht für dich gelitten habe, schläfst du mit einer Wildkatze im Arm.«
Meerholdt holte tief Luft. »Rosa, geh jetzt«, sagte er leise. »Wir sehen uns heute abend.« Er trat etwas zurück. Rosa ging an ihm vorbei. Zitternd sah ihr Elena nach. In ihren Augen stand blanker Haß.
»Sie stinkt nach Stall!« sagte sie gehässig, so laut noch, daß es Rosa hörte, als sie die Tür schloß.
»Deine Gemeinheit riecht übler«, warf Meerholdt zurück. Elena antwortete nicht. Jetzt, da sie allein mit Ralf war, da die Gegenwart des anderen Mädchens sie nicht mehr hemmte in der Vergabe ihres Stolzes, begann sie zu weinen.
Eine Frau, die weint, die bitterlich weint, kann man nicht anschreien. Elena wußte es, und sie weinte herzzerreißend und laut aufschluchzend wie unter einem Krampf, der ihren zarten Körper schüttelte.
Ärgerlich setzte sich Meerholdt und schob die Beine vor. Er betrachtete die tränenüberströmte Elena und kämpfte gegen das Mitleid an, das ihn bei diesem Anblick überkam.
»Hör bitte auf zu weinen«, sagte er zögernd. »Du hast dich furchtbar benommen . nicht wie eine Dame.«
»Ich habe den Kopf verloren.« Sie schluchzte auf, und plötzlich lief sie zu ihm hin, fiel auf die Knie und umklammerte ihn. »Ich liebe dich so, Sascha ... ich liebe dich, daß es schon Wahnsinn ist! Ich werde dich nie, nie, nie mit einer anderen teilen! So lieb wie ich kann dich gar kein anderes Mädchen haben. Das gibt es nicht, Ralf.« Sie lehnte den tränennassen Kopf an seine Wange und strei-chelte seine Hände. »Wie der Wind über das Kornfeld weht oder der Fluß sich ins Meer stürzt, wie die Sonne dem Mond Licht schenkt, damit er leuchtet, und die Sterne glitzern über Millionen Kilometern, so unendlich, so groß, so unfaßbar ist meine Liebe, Sascha.« Sie umklammerte seine Hände. »Sag, daß du mich auch liebst. Noch immer liebst . trotz dieser Rosa.« Sie rieb ihr tränennasses Gesicht an seiner Wange. »Sag es. Sascha.«
Meerholdt schloß die Augen. Feigling, dachte er. Erbärmlicher Feigling! Du bist nicht wert, daß man dich anspuckt. Und er sagte leise:
»Ja. Elenascha.«
In ihrer kleinen Kammer hinter dem großen Raum der Hütte, mit dem Herd in der Mitte, stand Rosa und zog die Kleider Katjas über. Sie strich sie an sich herunter, sie färbte sich sogar die Lippen und hatte Mühe, sich in den hohen Schuhen gerade zu halten und nicht zu stolpern.
Mit wiegenden Hüften trat sie dann aus der Kammer und ging an Fedor vorbei.
»Heilige Mutter«, stammelte der Alte. »Beschütze unser Haus.« Und Marina in der Herdecke bekreuzigte sich.
Der Wind spielte in ihrem langen Haar, als Rosa aus der Tür trat und die Straße hinabging zum Lager.
Mit Jossip war eine Veränderung geschehen. Seitdem er den unterirdischen See entdeckt hatte, den riesigen See, der bei seiner Entfesselung aus dem Felsen die ganzen Täler überschwemmen konnte und die Welt in einer Flut kristallklaren Wassers ertränkte, fühlte er sich nicht mehr als der Verfolgte, der Geächtete und Vogelfreie, sondern als König der schwarzen Berge, als Herrscher über alle Menschen, die unter seinen Füßen durch das Tal und durch Zabari wimmelten und nicht ahnten, welche Macht er in seinen Händen hielt. Eine Macht, die sie alle vernichten konnte in Sekundenschnelle, wenn er den Felsen aufsprengte und den See wie eine Sintflut über die
Täler kommen ließ.
Jossip berauschte an diesen Gedanken sein aufgewühltes Innere und steigerte seine Rache in die Bereiche göttlicher Vergeltung. Gott hat mir den See gezeigt, dachte er, um damit alle zu strafen, die mir Leid antaten. Aber bevor sie ertrinken, will ich Rosa retten. Rosa, den einzigen Menschen, den ich liebe und der mir gehört ... versprochen in der Wiege von unseren Vätern nach alter Sitte.
Er saß jetzt öfter als sonst in den Schneisen des Waldes oder hinter hervorspringenden Felsnasen und blickte hinunter auf den Bau der Talsperre. Er lächelte über den Eifer der tausend Menschen. Wie schnell würde alles vernichtet werden, wenn er den Felsen öffnete. Wie einst die Posaunen von Jericho die Mauern umbliesen, so würde das Wasser seines Felsens auch diese starken Mauern aus Eisen und Beton zersplittern wie dünnes Reisig. Und nichts würde dann sein als ein riesiger See, über dem er allein der Herr war, ein König in einer gewaltigen Landschaft.
Nachts besuchte er nach der Schneeschmelze oft seinen eingeschlossenen See. Mit Fackeln in der Hand schlich er durch den Wald und verschwand in der kleinen Höhle, die sich erst langsam weitete, bis die riesige Halle mit dem See vor ihm lag. Aus Rinden und Hölzern hatte er sich am Rande des Sees, auf dem glitschigen Felsen, ein Boot gezimmert, überzogen und dicht gemacht mit geschälten Hammelhäuten, die er in flüssigen Tiertalg tauchte und dann trocknen ließ. Mit diesem Boot und einem geschnitzten Ruder fuhr er eines Nachts hinaus auf den See, die Fackel in der einen Hand, mit der anderen rudernd.
Das Wasser war wie Silber ... er sah auf seiner Fläche seine Fackeln wieder, sein Gesicht, den Kiel des Bootes und den Stiel des Ruders. Er ruderte mit Schrecken im Herzen, denn noch immer reichte der Schein seiner Fackeln nicht bis zum anderen Ufer und der gegenüberliegenden Felswand. Auch die Höhe blieb dunkel und geheimnisvoll ... sie war wie die riesige Kuppel eines Domes.
Ab und zu warf er große Steine in die Tiefe ... er hörte ihren Aufschlag nicht, solange er auch zählte. Da unterließ er, von Grauen gepackt, das Zählen und ruderte vorsichtig weiter. Immer geradeaus, der gegenüberliegenden Wand entgegen.
Nach vielen, vielen Ruderschlägen stieß er endlich am jenseitigen Ufer an . einer steilen Wand, die keinerlei Standmöglichkeit bot. Hier war auch das Rauschen stark wie bei einem Wasserfall. Jossip sah an der Oberfläche, daß in diesem Teil des Sees eine Strömung war . ein unsichtbarer Fluß mußte sein Wasser in diese Riesenhöhle abgeben . wohin es wieder abfloß, wußte Jossip nicht . vielleicht in einen langen, unterirdischen Kanal, der irgendwo, kilometerweit entfernt, als starke Quelle zu Tage trat und einen oberirdischen Fluß gebar. Vielleicht die Piva oder die Tara?
Jossip ruderte an der Wand entlang, um den See herum, bis er wieder zu der Stelle kam, an der sein Rock, sein Handwerkzeug und neue Fackeln lagen. Die alten waren niedergebrannt - nur eine einzige leuchtete noch schwach. Mit ihr entzündete er die anderen und verbrannte dann das Boot am Ufer des unterirdischen Sees. Niemand sollte mehr über dieses Wasser fahren - er allein war sein Herr geworden, kannte sein Geheimnis und wußte um seine Größe.
In dieser Nacht schlief Jossip nicht . er starrte durch das Fenster hinaus auf die dunklen Felsen und den klaren Himmel, dem er so nah war wie keiner in Zabari. Das Ungeheure seiner Entdeckung warf auch ihn zu Boden. Er begriff, was es bedeutete, dieses Geheimnis als einziger zu besitzen, ein Geheimnis über Leben und Tod einer ganzen Landschaft.
Das Eintreffen Elenas in Zabari und die Wegfahrt Osiks, allein und ohne die fremde Frau, wie Jossip beobachtete, mußte eine Wendung herbeiführen. Jossip spürte es. Nie würde Rosas Ehre es ertragen, neben Elena zu leben . entweder ging die fremde Frau -oder Rosa ging. Und dann kam sie zu ihm, zu Jossip, dem Hirten, der eine Hütte für sie gebaut hatte und dreißig Schafe hatte, die sie ernähren konnten. Sie, Jossip und viele Kinder.
Am nächsten Abend stieg Jossip von seinen Felsen hinab nach Zabari. Er wollte in der Dunkelheit noch einmal zu der Hütte der Suhajas schleichen und Rosa sprechen. Er wollte ihr erzählen von der Größe seines geheimen Reiches und von dem Wohlstand, den sie beide haben würden, wenn er dieses Geheimnis verkaufte an die großen Herren aus Belgrad. Vielleicht kam sie dann mit ihm, nachdem sie gesehen hatte, daß Ralf Meerholdt eine andere Frau neben ihr hatte, vielleicht wartete sie sogar auf ihn, damit er Rache nehmen konnte für die verlorene Ehre Rosas.
Als die Nachtwolken sich über die Berge schoben und an den Baustellen die Tiefstrahler aufleuchteten, die Lampen der Barackenlagergasse brannten und die Bauern wie seit Jahrhunderten um das Feuer im Herd saßen und die Holzschüssel mit Schafsmilch und Mehl aßen, strich Jossip um das Haus der Suhajas und wartete auf Rosa. Er wußte, daß sie jeden Abend noch einmal in den Garten ging, um nach den Tieren zu sehen, die vom Frühjahr ab in offenen Ställen schliefen. Sie schloß dann mit quergelegten Balken die Ausläufe und schüttete noch etwas Wasser in die Futtertröge.
Aber heute wartete Jossip vergebens. Rosa kam nicht. Das Licht hinter dem Fenster erlosch . die alten Suhajas waren in ihre Schlafkammer gegangen und hatten das Herdfeuer abgedeckt.
Mißtrauisch und wieder von wilder Eifersucht überfallen, schlich Jossip durch die Gärten der Bauern dem Lager zu. In der Nähe der Küchenbaracke Bonellis versteckte er sich hinter einem Stapel Bauholz, der im Schatten einer halbfertigen Baracke lag. Von dort aus beobachtete er das Leben auf den Lagergassen und auch das lange Haus Ralf Meerholdts. Die Fenster waren erleuchtet, aber zugezogene Gardinen versperrten den Blick ins Innere.
Lastwagen und Schlepper kamen an seinem Versteck vorbei, eine Arbeitskolonne, die Ablösung der Spätschicht, trottete ins Lager, einige Bauern aus Zabari kamen aus Bonellis Kantine, unter dem Arm eine Flasche Slibowitz. Sie hatten mit einigen Pferden geholfen, Stämme den Hang hinabzuziehen . nun versoffen sie den Lohn und priesen die Segnungen der plötzlichen Zivilisation.
Von Rosa bemerkte Jossip nichts. Aber er wartete weiter, geduldig und verbissen, denn wenn sie nicht in der elterlichen Hütte war, konnte sie nur bei dem Fremden sein.
Über zwei Stunden hockte er zwischen den Holzstapeln. Dann sah er, wie Rosa aus der Baracke trat und hinüber zu Bonelli ging. Verblüfft starrte ihr Jossip nach. Sie trug die Kleidung der Städter, und nur an ihrem langen Haar erkannte er sie. Kaum hatte Rosa die Kantine betreten, fiel wieder Lichtschein auf die Lagergasse. Die fremde Frau war aus dem Haus getreten und stand nun in der Dunkelheit an der Wand. Sie wartete. Sie zündete sich eine Zigarette an und rauchte sie mit hastigen, nervösen Zügen. Als sich die Tür von Bonellis Baracke wieder öffnete und Rosa herauskam, warf sie die Zigarette weg und trat sie aus. Sie stand jetzt in der Dunkelheit wie ein gefährliches Tier, wie ein Raubtier, das die Beute beobachtet, ehe es sie anfällt.
Jossip drückte sich näher an das Holz und hielt den Atem an. Als Rosa aus der Kantine trat und sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatte, sah sie den Schatten Elenas an der Hauswand. Sie hatte bei Bonelli eine Flasche Wein und eine schöne Wurst gekauft. Aus ihnen wollte sie Ralf ein gutes Abendessen bereiten, eine kleine Überraschung, wenn er von der Baustelle zurückkam und sich müde auf die Couch fallen ließ. Sie kannte diese Stunden der völligen Erschöpfung und wußte, wie dankbar er sein konnte, wenn sie dann um ihn war und ihn pflegte, als sei er krank und bedürfe ihrer Hilfe.
Elena hatte sie seit dem Auftritt am Mittag nicht mehr gesehen. Sie blieb in ihrem Zimmer hinter dem Zeichenraum und hatte sich eingeschlossen. Die Wandlung Rosas hatte sie vom Fenster aus bemerkt, als sie wütend und rachesinnend im Zimmer hin und her ging. Als sie Rosa in den schönen, neuen Kleidern sah, gefährlich hübsch und mit jenem Hauch Exotik, der Männer fesselt, hatte sie sich in die geballte Faust gebissen und einen Schreikrampf unterdrückt. Rosa verlangsamte ihren Schritt, als sie vor Elena stand und ihre Gestalt in der Dunkelheit sah. Sie blieb stehen und blickte sie an.
»Warum gehst du nicht weiter?« zischte Elena. Sie bebte am ganzen Körper vor Erregung. »Was willst du hier?«
»Das könnte ich dich auch fragen«, entgegnete Rosa.
Elena atmete schwer. »Du duzt mich?!« Sie trat einen Schritt vor; aber so plötzlich, wie es geschah, Rosa wich nicht zurück oder erschreckte sich. »Du Bauerntrampel wagst es, mich zu duzen?«
»Du tust es auch! Ich habe mit dir keine Freundschaft geschlossen!«
»Aber mit Ralf um so mehr, nicht wahr? An den Hals hast du dich ihm geworfen und glaubst, daß er dich heiratet?«
Sie lachte grell auf. es sollte höhnisch klingen, aber es war ein Verzweiflungsschrei. »Ein Bauernmädchen als Frau Ralf Meerholdts? Ein Mädchen mit Kuhgestank in den Villen von Zagreb oder Belgrad? Kannst du überhaupt tanzen? Weißt du, was ein Foxtrott ist? Ein Swing? Kannst du Hummer essen oder einen Chateaubriand? Weißt du, wie man ein Cocktailglas hält oder wie man die Hand hinstreckt zu einem Handkuß? Du bist ein dummes, blödes Frauenzimmer, das nichts hat als eine schöne Larve, einen Schwall von langen Haaren. Haare, wie der Schwanz eines Pferdes! Und unter diesen Haaren ist Stroh!« Elena zitterte, ihre Stimme brach nach jedem Satz vor Gift. »Hast du schon einmal eine Party mitgemacht? Wie nimmt man den Tee ein? Kannst du überhaupt mit Messer und Gabel essen?« Sie lachte höhnisch und spürte, daß ihr Herz frei wurde nach den galligen Worten.
Rosa schüttelte ruhig den Kopf. »Ich werde es lernen«, sagte sie still. »Ich werde alles lernen. Ich glaube nicht, daß die Liebe abhängt von Hummeressen und Foxtrottanzen.«
»Liebe! Glaubst du wirklich, daß Ralf dich liebt?«
Rosa nickte. »Ja, das glaube ich.«
Elena Osik verkrampfte die Hände ineinander. Sie gesteht es. Sie sagt mir ins Gesicht, daß sie mit Ralf geschlafen hat. Mit meinem Sascha! Mit meiner großen Sehnsucht ... dieses Bauernmädchen.
»Mistvieh!« sagte sie verächtlich. »Er hat dich genommen, weil du dich ihm dargeboten hast. Und er bezahlt dich dafür wie eine Hure. Mehr bist du nicht für ihn . eine schöne Bauernhure, die er wegwirft, wenn er Zabari einmal verläßt.«
»Er liebt mich«, sagte Rosa leise.
»Gestern, heute und morgen, und weil ich nicht hier war, darum liebte er dich. Aber das ist jetzt anders! Ich werde ihn heiraten, und du läßt ihn in Ruhe, verstehst du?! Du gehst aus Zabari weg.«
»Aus dem Dorf? Nie!«
»Du gehst in die Stadt und suchst dir eine Stelle! Ich gebe dir ein Schreiben mit - man wird dich sofort anstellen.« Elena nestelte in den Taschen ihres Kleides und schob dann Rosa ihre Hand hin. Zwischen den Fingern quollen Banknoten hervor, Hundert- und Tau-send-Dinar-Scheine. »Hier hast du 5.000 Dinare. Damit kommst du die ersten Monate weiter. Wenn du noch mehr Geld brauchst, gebe ich es dir. Du kannst 50.000 Dinare haben, wenn du Zabari und Ralf verläßt.«
Rosa drückte die Flasche Wein und die Wurst an sich. In ihren Augen glomm ein heller Funken empor. »Ich verkaufe meine Liebe nicht«, sagte sie laut. »Aber du willst sie von mir kaufen ... bist du nicht auch eine Hure?!«
Einen Augenblick hielt Elena den Atem an. Vor ihren Augen flimmerte es grell . es war, als gehe ein Gewitter nieder und die Blitze umzuckten sie und blendeten ihre Augen. Dann schlug sie zu, blindlings, in die Richtung, wo sie Rosa vermutete. Sie spürte Widerstand und schlug weiter, immer wieder ausholend und zuschlagend. Der Triumph, sie zu treffen, dieses schöne Gesicht mit den langen, wallenden Haaren zu zerstören, erfüllte sie ganz und ließ sie taumeln. »Du! Du!« schrie sie bei jedem Schlag. »Du Aas! Du Dirne! Du geile Katze! Du Mißgeburt! Du läufige Hündin!«
Als sie von Rosa abließ und sich zum Gehen wandte, sah sie, wie das Mädchen an der Wand stand, die Haare zerzaust und das Kleid zerrissen. Der Wein war zu Boden gefallen und die Flasche zerschellt. Die kostbare Flüssigkeit versickerte im Sand. Schwankend ging Elena ins Haus zurück und fühlte einen faden Geschmack im Mund. Sie hat sich nicht gewehrt, dachte sie. Sie hat die Schläge erduldet. Sie ist stärker als ich, stolzer, besser.
Sie warf sich auf das Bett, mit dem Gesicht in die Kissen, und weinte laut.
In einem Versteck hatte sich Jossip die Lippen blutig gebissen. Er sah jeden Schlag, den Rosa bekam, und er zählte sie.
Für jeden Schlag würde Elena einmal vor Grauen schreien, schwor er sich. Für jedes Wort sollte sie um Gnade flehen. Er klammerte sich an den Holzstößen fest und zwang sich, nicht vorzustürzen und sie zu erwürgen. Einfach ihren Hals zu nehmen, den weißen, zarten Hals, aus dem so viel Gemeinheit und Haß sprudelten, und ihn zuzudrücken mit seinen großen, braunen Händen, so lange zu drücken, bis sie schlaff zusammenfiel und im Staub neben der zerbrochenen Flasche Wein lag.
Als Ralf Meerholdt in der Nacht zurückkam, schlief Elena und wälzte sich im Traum stöhnend von einer Seite zur anderen. Rosa hatte den Tisch gedeckt . ihr Gesicht war noch gerötet, doch Ralf sah es nicht. Er war müde, ausgemergelt und sehnte sich nach seinem Bett. Er aß schnell, trank eine Tasse Tee und küßte Rosa auf die Stirn.
»Gute Nacht, Liebes.« An der Tür drehte er sich noch einmal herum. »Was macht Fräulein Osik?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube aber, sie schläft.«
»Du hast sie heute nicht wieder gesprochen?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe sie den ganzen Tag nicht gesehen.«
Beruhigt ging Meerholdt schlafen.
Auch am nächsten Tag sprach keiner von dem Vorfall. Elena ging Rosa aus dem Weg.
In der kommenden Nacht verschwand Elena Osik aus dem Lager. Als man am Morgen ihre Tür aufbrach, war das Zimmer durchwühlt, Kleider und Wäsche lagen verstreut auf dem Boden. Nahe dem Fenster war ein kleiner Flecken Blut an der Wand.
Grell zerrissen die Alarmsirenen die morgendliche Stille. Hauptmann Vrana von der Gebirgsjäger-Kompanie rannte zum Hause Meer-holdts. In Zagreb fiel Stanis Osik in eine tiefe Ohnmacht, als man ihm telefonisch die Entführung mitteilte. Dann schrie er und war
nicht zu beruhigen, bis ihm der Arzt eine Spritze gab. Suchkolonnen brachen in die Felsen auf, mit Spürhunden und Bergführern. Elena Osik fand man nicht.