Stanis Osik war in Zabari eingetroffen. Er war in diesen drei Taigen gealtert. Die dicken Augensäcke hingen wie Trauben auf seine Wangen herab. In seinen Augen stand eine Traurigkeit, deren Ausweglosigkeit erschütterte.
Mit Osik war ein Spezialkommando der Belgrader Geheimen Polizei mitgekommen, vier große, ernste Männer und ein Offizier, der zunächst nichts anderes tat, als über das Lager, die Bauplätze und die gesamte Umgebung eine strenge Quarantäne und ein Ausgehverbot zu verhängen. Ab 10 Uhr abends mußten alle arbeitsfreien Kolonnen im Lager sein. Die ausrückenden Gruppen wurden von Militärposten begleitet; es herrschte eine Art Standrecht über Zabari. Auf jeden, der sich ab 10 Uhr abends außerhalb des Lagers befand, in den Bergen, im Wald oder sogar auf der Dorfstraße, durfte ohne Anruf geschossen werden.
Das Zimmer Elenas war an dem Morgen noch, an dem der Überfall entdeckt worden war, versiegelt worden. Nun öffnete Hauptmann Vrana die Tür. Die Spezielbeamten aus Belgrad untersuchten jeden Zentimeter des Zimmers, Osik saß in Meerholdts Wohnung und jammerte. Das Ergebnis war mager . es hatte ein Kampf stattgefunden zwischen Elena und dem Entführer, bei dem einer verletzt worden war. Das Blut an der Fensterwand bewies es. Dann war der Entführer mit dem anscheinend ohnmächtig gewordenen Mädchen aus dem Fenster gestiegen und in der Dunkelheit verschwunden. Von da ab verloren sich alle Spuren . die Spürhunde hatten den Weg verfolgt... bis zum Wald zogen sie an den langen Suchleinen, dann ging der Boden in Felsgeröll über und verwischte die Witterung der Hunde. In den Felsen versagte die beste Spürnase, und die Felsen reichten bis nach Zabari!
Auch die Verhöre ergaben nichts. Keiner hatte den Überfall gesehen, niemand hatte zwei Gestalten bemerkt, die in der Nacht zum Wald hinaufstiegen. Pietro Bonelli vielleicht war der einzige, der etwas aussagen konnte: Er hatte in der Nacht einen Schrei gehört. Aber in Erinnerung an seine blauen Augen hatte er sich vorgenommen, sich niemals mehr in fremde Angelegenheiten zu mischen, und hatte sich auf die Seite gewälzt, um weiterzuschlafen. Daß er damit die Entführung möglich machte und sie nicht verhinderte, machte ihn verwirrt und innerlich zwiespältig. Er philosophierte über das Land und dessen Dummheit - einmal wird man bestraft, weil man sich einmischte, einmal ist man schuldig, weil man sich nicht einmischte! Was soll man tun? Wie ist es richtig? Bonelli fand darauf keine Antwort und entdeckte, wie schwer die Philosophie ist.
Am vierten Tag nach der Entführung begann die große Suchaktion. Hundert Soldaten unter Leitung von Hauptmann Vrana, zweihundert Arbeiter unter Leitung der Spezialbeamten aus Belgrad durchkämmten systematisch die schwarzen Berge. Um alle Schluchten und Pässe, Täler und Winkel zu erfassen, hatte man aus Titograd einen Hubschrauber der Luftwaffe kommen lassen, der das Gebiet nach Planquadraten abflog und fotografierte. Nach diesen Fotos wurden die Suchkolonnen eingesetzt.
Das Wichtigste aber war, daß alle Bewohner von Zabari mithalfen. Sie kannten die Berge, sie kannten fast jeden Winkel der unerforschten Gegend. Vor allem aber sicherten sich die Spezialbeamten aus Belgrad eines Führers, der die ganze Suchaktion bestimmte und als der beste Kenner der Berge galt.
Es war der Schäfer Jossip Petaki.
Mit unendlichem Fleiß durchstöberte er die Schluchten, die bisher noch kein Fremder betreten hatte . er führte die Kolonnen in Gegenden, die einem Mondgebirge glichen, und in Täler, deren unberührte Schönheit selbst die alten Montenegriner staunen ließ. Immer aber führte er sie um ein kleines verstecktes und auf keiner Flugfotografie erkennbares Plateau herum, wo, an einen Felsen geklebt, seine Hütte stand, geschützt durch einen Felsenring, der diesen kleinen Flecken ebener Erde wie einen Wall umgab.
Hauptmann Vrana und Osik saßen vor den großen Karten, die nach den Fotos gezeichnet worden waren, und bestimmten die neuen Gebiete für den kommenden Tag. Ralf Meerholdt rauchte nervös eine Zigarette, während die Beamten aus Belgrad das saure Bier Bonellis tranken. Der Offizier der Geheimen Polizei war noch unterwegs . er ging einem unbestimmten Gefühl nach und überprüfte das Leben jedes Bauern und Hirten aus Zabari.
Jossip stand am Fenster und rauchte eine dicke, selbstgeschnitzte Pfeife. Wortkarg wie immer beobachtete er, wie Hauptmann Vra-na die neuen Gebiete mit bunten Fähnchen absteckte. Sie lagen weitab seines Versteckes.
Jossip lächelte still.
»Wie weit kann man in einer Nacht kommen, Jossip?« fragte Vrana und sah den Schäfer kurz an. Jossip wiegte den Kopf.
»Wenn er gut läuft, ein schönes Stück. Man muß allerdings die Berge kennen. Ein Fremder verirrt sich leicht und kommt nicht weit. Felsspalten sperren ihm den Weg, Bergwände oder steil abfallende Hänge.« Er stieß den Rauch aus seiner Pfeife in dicken Wolken aus. »Man muß die Berge kennen.«
Stanis Osik hüstelte. »Ein Kraut raucht der Kerl! Ob er Gras schneidet und es trocknet? Es ist nicht zum Aushalten!«
Hauptmann Vrana kratzte sich den Kopf. »Am Tage kann er nicht flüchten?« fragte er. Jossip hob die Schultern.
»Wenn er in der Nacht weit genug gekommen ist, hindert ihn niemand daran. In den Bergen begegnet ihm keiner.«
»Wir haben am Morgen nach der Entdeckung des Überfalls sofort den ganzen Umkreis abgesucht. Der Täter hatte einen Vorsprung von etwa acht Stunden!«
»Das ist viel«, sagte Jossip.
Vrana schüttelte den Kopf. »Mir will es nicht einleuchten, daß er das Mädchen tagelang durch die rauhen Felsen schleppt! Wozu? Wo will er hin? Alle Orte, alle Dörfer der Umgebung sind alarmiert. Es gibt keinen Bergbauern mehr, der nicht wachsam ist. Herr Osik hat die Belohnung auf 100.000 Dinare hinaufgesetzt... dafür verrät man unter Umständen seinen eigenen Bruder!«
»Bei uns nicht«, sagte Jossip gleichgültig. »Vielleicht sollten wir gar nicht mehr suchen . nach den Lebenden! Vielleicht sollte man nach einer Toten suchen?!«
Stanis Osik wurde bleich und setzte sich schwer. »Der Kerl raucht nicht nur Gift, er hat auch Gift im Gehirn«, stöhnte er. »Warum soll meine Tochter tot sein?« schrie er Jossip an.
Jossip hob die breiten Schultern. »Weiß ich, warum sie geraubt wurde.?«
Osik stützte den schweren Kopf in die Hände. »Dieser Kerl bringt mich um den Verstand«, stöhnte er. »Ich werfe ihn gleich hinaus.«
Hauptmann Vrana hob begütigend seine Hände. »Wir brauchen ihn. Ohne seine Hilfe und Führung kommen wir trotz der Flugaufnahmen nie in die unwegsamen Schluchten. Wenn einer ihre Tochter finden kann, so ist es Jossip Petaki.«
Stanis Osik nickte und seufzte. Mit starrem Gesicht, wie mit einer Maske bekleidet, stand Jossip am Fenster und rauchte. Er hat recht, dachte er triumphierend. Aber keiner wird sie finden, keiner.
Am fünften Tage wurde die Suche eingestellt. Stanis Osik brach zusammen und wurde mit einem Krankenwagen von Zabari weg nach Sarajewo gebracht. Dort legte er Trauerkleider an und floh weiter nach Zagreb. In seiner weißen Villa vergrub er sich, empfing niemanden, stellte das Telefon ab und saß stundenlang vor einem Bild Elenas, das sie in einem engen Reitdreß zeigte, lachend, gesund und hübsch. Dann weinte der dicke Mann und büßte für die Sünden, die er in seinem Leben angesammelt hatte.
Ralf Meerholdt schenkte Jossip für seine Hilfe bei der Suche einen guten Gummimantel, feste, derbe Gebirgsschuhe und 1.000 Dinare. »Kauf dir davon, was du willst«, sagte er stockend. »Ich weiß, daß dir 100.000 lieber gewesen wären.«
Jossip dankte mit einem Brummen und verließ die Baracke. Auf der Lagergasse steckte er die 1.000 Dinare ein und ging weiter. Vor Bonellis Kantine zögerte er, dann betrat er sie und ging an die Theke. Bonelli stand selbst dahinter und nickte Jossip zu.
»Suche aufgegeben?« fragte er. »Ein Jammer um das Mädchen! Wenn man jemals den Kerl bekommt, der das getan hat - ich hänge ihn eigenhändig auf!«
Jossips Augen wurden starr. »Halt das Maul.« Er warf die 1.000 Dinare auf den Tisch und wies auf die Regale. »Pack mir ein: Mehl, Zucker, Tee, Wurst, Salz, ein paar Büchsen mit Gemüse, eine Flasche Slibowitz.«
Bonelli blickte auf die 1.000 Dinare und pfiff durch die Zähne. »Dein Führergeld?« Er schob es weg. »Spare es dir und verfriß es nicht sinnlos.«
Jossip beugte sich vor. »Pack ein, Idiot!« schrie er.
Bonelli flog an das Regal und holte die Waren herab. Er packte sie in einen großen Sack, in dem er die Kartoffeln erhielt, und wuchtete ihn Jossip vor die Nase. »Da, du Rindvieh! Friß dich tot dran und krepier im Wald! Eher legt eine Kuh Eier, anstatt daß ihr Verstand bekommt!«
Jossip nahm den schweren Sack und warf ihn über die Schulter. Wortlos verließ er die Kantine und schritt dem Hang zu. Bonelli sah ihm aus dem Fenster nach, wie er die Rodung hinauftappte und dann im Wald verschwand.
»Ein komischer Kauz«, sagte er laut. »Dem fehlen auch ein paar Drähte im Gehirn.«
Als Jossip die Tür seiner Hütte aufschloß und sie aufstieß, kam ihm zunächst ein dickes Holzscheit entgegengeflogen, dem ein Schemel folgte. Jossip lächelte und benutzte die Tür als Deckung, indem er sie vor sich herschob und um die Ecke blickte.
Elena saß am Feuer, einen Stapel Holz neben sich und wartete darauf, daß Jossip im Türrahmen erschien. Ihre Haare hingen ihr ungepflegt um den Kopf, das Gesicht war bleich und von Wut verzerrt.
»Komm 'rein, du Satan!« schrie sie. »Ich bringe dich um.«
Mit einem Sprung war Jossip in der Hütte und hatte ihr das wurfbereite Holzscheit aus der Hand geschlagen. Sie wollte aufspringen, aber er schleuderte sie auf das Strohlager zurück und nahm von der Wand eine lange, aus Schafshaar geflochtene Peitsche.
»Du bleibst liegen!« sagte er scharf. »Oder ich peitsche dich aus!«
Elena duckte sich und schwieg. Sie beobachtete, wie Jossip den Sack hereinholte und auf den roh gezimmerten Tisch legte. »Für dich!« sagte er dabei. »Das beste Essen, das es unten im Lager gibt. Für 1.000 Dinare.«
»Du lügst! Woher willst du 1.000 Dinare haben!«
»Ich habe sie verdient. Ich habe die Kolonnen geführt, die dich suchen sollten.«
»Du bist der ekelhafteste Schuft, den ich kennengelernt habe!« Sie richtete sich auf und kam näher, Jossip hob die Peitsche, aber er schlug nicht zu. »Warum hältst du mich hier fest?«
»Das hast du schon hundertmal gefragt! Du hast Rosa geschlagen! Du hast sie beleidigt ... ich werde dich dafür bestrafen!«
»Mit Wasser und Brot?«
»Mit dem Tod.«
Jossip sagte es völlig ungerührt, aber Elena spürte, daß es Ernst war. Merkwürdigerweise empfand sie keine Angst, sondern eine Art Neugier, wie er es wohl anstellen wollte, sie zu töten. Zudem verstand sie nicht, warum er sie überhaupt mit in seine versteckte Hütte genommen hatte, anstatt sie in ihrem Zimmer einfach umzubringen.
»Zieh dich um!« sagte Jossip plötzlich.
»Warum?«
»Zieh dich um!« Er hob die Peitsche und ließ sie leicht auf Elenas Schultern fallen. Es war nur ein streichelnder Schlag, aber sie wußte, daß der zweite fester sein würde, und der dritte Striemen durch
ihr Fleisch zog. Sie knöpfte ihr Kleid auf und sah Jossip dann an. Ihre Augen flatterten.
»Dreh dich 'rum, du Hund!« zischte sie.
»Warum? Ich will den Körper sehen, ehe er verfault.«
»Scheusal!« Sie zog das Kleid über den Kopf und stand in der dünnen Unterwäsche vor Jossip. Er nahm das Kleid und nickte. »Das andere auch!«
»Was?« fragte sie entsetzt. Plötzlich begann sie zu zittern.
»Das Seidenzeug!«
»Nein!«
Jossip hob wieder die Peitsche, aber Elena schüttelte wild den Kopf. »Und wenn du mich totschlägst . ich ziehe es nicht aus! Hol es dir doch!« Sie sprang zum Herd und riß einen langen Holzkloben aus dem Stoß. Jossip lachte, seine Zähne leuchteten zwischen den schmalen Lippen.
»Ich fasse dich nicht an«, sagte er. »So schön du auch bist, ich nehme dich nicht!«
Er tappte zu einer Wand, schob einen Balken zur Seite und entnahm aus der Höhlung, die entstand, ein langes Messer und ein altes, langläufiges Gewehr. Damit kam er zu Elena zurück und legte beides auf den Tisch.
»Ich würde mich schämen, dich zu lieben«, sagte er dumpf. »Ich würde Rosa verraten und könnte sie nie wieder ansehen. Dein Körper ist für die feinen Herren in den Städten . ich will ihn nicht.«
»Wie gnädig.« Elena starrte auf das lange Messer. »Du willst mich töten?«
»Noch nicht, mein Schwan, noch nicht!« Er hob die Hand. »Zieh das Seidenzeug aus.«
Zögernd löste sie die Träger . mit geschlossenen Augen zog sie sich aus und stand dann nackt vor dem grinsenden Jossip. Er nahm die dünne Wäsche, befühlte sie, dann ging er zu einem Nagel, an dem ein dicker Lammfellmantel hing, nahm den Mantel und warf ihn Elena zu.
»Zieh ihn an. Ich bringe dir morgen neue Kleider. Diese hier brau-che ich.«
Während Elena in den dicken, weiten Mantel schlüpfte und sich an den Herd drückte, begann Jossip, das Kleid und die Seidenwäsche zu zerreißen. Er tat es mit genauem Nachdenken. Das Kleid riß er am Hals und am Rücken auf und zerfetzte den Rock ... die Unterwäsche zerriß er so, als habe man sie Elena gewaltsam vom Leibe gezerrt. Dann nahm er das Messer und trat zu Elena an den Herd.
»Gib mir deinen Arm«, sagte er.
Sie starrte ihn an . das Grauen stand in ihrem Blick. Ihr Mund verzerrte sich in Todesangst, die in diesem Augenblick ihre gespielte Sicherheit zerriß. Jossip wartete nicht ab, bis sie den Arm gab ... er riß ihn zu sich heran und stampfte mit dem Fuße auf, als sie aufschrie und ihn zurückreißen wollte.
»Halt den Mund!« knurrte er. »Ich tue dir nichts. Ich brauche nur etwas Blut von dir.«
Ehe sie antworten konnte, hatte er mit dem Messer die Haut ihres Unterarmes aufgeschlitzt und preßte die Unterwäsche und das Kleid auf das hervorsickernde Blut. Sie spürte keinen Schmerz, aber das Gespenstische der Handlung nahm ihr fast die Besinnung.
Jossip hielt die Wäsche hoch . große Blutflecken hatten die Seide durchtränkt, das Kleid war übersät mit Blutspritzern. Es sah aus, als habe man die Trägerin dieser Kleidung bestialisch ermordet.
Zufrieden schob Jossip die Wäsche zur Seite und begann, den Sack mit den Lebensmitteln auszupacken.
»Mit diesen Kleidern werde ich sie alle vertreiben«, sagte er dabei. »Es wird keine Talsperre mehr geben ... wie Gehetzte werden sie alle aus den Bergen rennen. Dann ist das Tal wieder unser, dann ist wieder Ruhe in Zabari ... und ich werde Rosa in meine Hütte führen.«
»Und ich?« fragte Elena.
»Dich werde ich vorher töten«, sagte er ungerührt.
Er packte die Lebensmittel Bonellis auf den Tisch ... die Dosen mit Fleisch und Gemüse, die Würste, das Brot, das Mehl, den Zucker, das Salz, den Tee.
»Frierst du?« fragte er.
»Warm ist es hier nicht.«
»Dann trink!« Er warf ihr die Flasche Slibowitz ins Stroh und packte weiter aus.
»Wie soll ich sie aufbekommen ohne Korkenzieher?« fragte Elena.
»Schlag den Hals an der Herdkante ab.«
Sie tat es, setzte vorsichtig die Flasche an den Mund und trank einen kleinen Schluck. Wie Feuer rann der scharfe Schnaps durch ihre Kehle in den Körper. Aber er belebte, er gab Kraft, er machte mutig. Sie trank noch einmal und ein drittesmal. Dann suchte sie den abgeschlagenen Flaschenhals und verbarg ihn im Stroh. Ehe er mich tötet, dachte sie, schneide ich mir mit dem Glas die Pulsadern durch. Aber vorher betrinke ich mich . es stirbt sich leichter im Wahn.
Jossip warf den Sack in eine Ecke. »Kannst du kochen?«
»Glaubst du, ich wäre nur zum Schminken auf der Welt?«
»Hier ist Essen genug für dich! Für eine Woche und länger. Ich bringe dir morgen neue Kleider und lasse dich allein! Verhungern wirst du nicht!«
»Aber verdursten.«
»Ich hole dir zwei Eimer Wasser.«
»Wie einer Kuh.«
»Mehr bist du auch nicht!« Er erhob sich vom Tisch. »Eine Kuh ist mehr wert. Sie gibt Milch ... sie ernährt uns. Du bist zu nichts auf der Welt . selbst Mist ist wertvoller, denn er düngt den Boden, der uns Frucht gibt. Du bist eine taube Nuß, die man wegwirft.«
Elena antwortete nicht darauf. Sie hatte einen Lappen um den Schnitt des Armes gewickelt und löste ihn jetzt. Er blutete noch immer. Jossip blickte herüber und ging zum Herd. Von einem Balken über dem Feuer nahm er ein paar große Blätter, tauchte sie in Wasser und begann, sie mit dem Messer zu zerhacken. Dann mengte er mit den Händen einen Brei daraus und schmierte ihn Elena auf die blutende Wunde.
»Laß es trocknen und drei Tage drauf!« Er richtete sich hoch und schüttelte den Kopf. »Eigentlich sollte man dich verbluten lassen.«
»Und warum tust du es nicht?«
»Ich habe noch vieles mit dir vor«, sagte er geheimnisvoll.
Als er die beiden Eimer Wasser geholt hatte, schloß er die Tür wieder ab. Dann stellte er sie an den Herd und nahm die blutige Kleidung an sich.
»Versuche nicht zu flüchten«, sagte er, ehe er die Hütte verließ. »Es führt nur ein Weg über die Felsspalten ins Tal . und den findest du nicht!« Er stockte und meinte dann: »Vielleicht bleibst du leben, wenn die Fremden vernünftig sind. Vielleicht . das Tier ist oft vernünftiger als der Mensch.«
Er schloß die Tür ab und wälzte einen großen Stein davor. Aufatmend stand er dann auf seinem Plateau und dehnte die Brust in der warmen Frühlingssonne. Von Foca her zogen Wolken über die Berge ... über Zabari kreisten drei Adler, still, in weiten Kreisen, majestätisch mit ihren angespannten Flügeln und den eingezogenen Fängen. Aus der Ferne tönte Donner ... dort wurden Felsen gesprengt und Straßen angelegt. Der Vormarsch der Unruhe, der Tod der herrlichen Einsamkeit kam näher.
Jossip drückte die blutige Wäsche an sich und stieg den verborgenen Pfad hinab ins Dorf. Ehe er aus den Felsen trat, verbarg er die Kleidung unter seinem weiten Umhang auf der Brust und grüßte wenig später freundlich die Arbeiter, die am Waldhang die gefällten Stämme an die Ketten banden, mit denen die Raupenschlepper sie ins Tal zogen.
Am Nachmittag des folgenden Tages wurde das erste Stück von Elenas Kleidung gefunden. Es war das seidene Unterkleid, blutig, zerrissen und verschmutzt. Es lag jenseits der Schlucht neben einem Baum . in einer völlig anderen Richtung, als man den Täter vermutet hatte.
Hauptmann Vrana und Ralf Meerholdt fuhren sofort mit einem Jeep zu der Fundstelle und riefen in Zagreb an. Die Spezialbeamten aus Belgrad mit ihrem forschen Hauptmann, der noch immer die Ausgangssperre verhängt hatte, packten Mikroskope und ein kleines Labor aus und begannen die Arbeit. Es stand außer Zweifel -das Blut an der Wand des Zimmers und das Blut in dem Unterkleid waren das gleiche. Es war das Blut Elena Osiks. Damit hatte man einen klaren Beweis, daß ein Verbrechen geschehen war.
»Ihre Unterwäsche sagt alles! Freiwillig hat sie sie bestimmt nicht ausgezogen ... und das Blut daran!« Hauptmann Vrana hob die Schultern. »Wir müssen uns damit abfinden, daß Fräulein Osik einem Sexualverbrechen zum Opfer gefallen ist! Es heißt jetzt nur noch, ihre Leiche zu finden. Den Täter kann uns nur das Glück bringen. Ein unverschämtes Glück!«
Für den Offizier aus Belgrad war Glück ein zu vager Begriff. Er war ein Mann der Realität. Er sperrte sofort wieder das Lager und begann, die tausend Männer systematisch zu untersuchen.
»Ein Bauer aus Zabari war es nicht!« sagte er bewußt. »In diesen Bergen kennt man keine Sexualmorde. Das ist eine Errungenschaft der Zivilisation! Also muß der Mörder unter den Arbeitern oder auch Soldaten zu finden sein! Und verlassen Sie sich darauf - ich bekomme ihn!«
Ralf Meerholdt erinnerte sich der Aussprache mit Vrana über das Problem des frauenlosen Lagers. Damals hatte er geglaubt, mit Alkoholverbot, Strafen und der Androhung der Sabotage eine straffe Ordnung in das Lager zu bekommen und die Auswüchse eines Lagerkollers zu verhindern. Zehn Arbeiter lagen in den Sarajewoer Gefängnissen in stinkenden Löchern und büßten für etwas, für das man eigentlich die Natur selbst verantwortlich machen sollte . eine ganze Kolonne von dreißig Arbeitern mit einem Truppführer hatte man nach Titograd zurückgeschickt, weil sie meuterten - ihr weiteres Schicksal war unbekannt.
Das schreckte ab . die nächsten Wochen waren ruhig. Bonelli merkte es am Umsatz und schimpfte auf die Moralität, von der er persönlich nicht viel hielt, bis auf eine Ausnahme, die Katja Dobor hieß.
Dann kam der Mord ... ein Mord aus Motiven, gegen die Meerholdt vergeblich ankämpfte. Ein Mord, den er begünstigt hatte, indem er Elena in Zabari behielt und nicht Stanis Osik mitgab. Dieser Gedanke drückte auf ihn wie eine Zentnerlast, und sie wurde zu einem Niederschlag, als der Offizier aus Belgrad Rosa verhörte und die Auseinandersetzung erfuhr!
Einen Hinweis dafür hatte der Offizier von Bonelli erfahren. Bonelli erzählte harmlos, daß Rosa bei ihm eine Flasche Wein gekauft habe. Leider sei sie ihr zerbrochen . er hatte die Scherben am Morgen vor dem Hause des Ingenieurs gesehen.
»Die Flasche ist mir hingefallen«, sagte Rosa. »Sie ist mir aus der Hand gerutscht.«
Der Offizier antwortete nicht darauf. Er ging mit Rosa und Meer-holdt an die Hausecke, eine Ecke, die dauernd im Schatten der anderen Baracken lag. Der Sand war getrocknet, aber er hatte durch die Nässe eine feste Schicht gebildet, und in dieser Schicht waren noch deutlich zwei Fußabdrücke zu erkennen ... ein kleiner, flacher und ein ganz dünner, verwischter, punktmäßiger Abdruck.
»Hier haben zwei Personen gestanden«, sagte der Offizier und sah Rosa scharf dabei an. »Du ... das ist der flache Abdruck ... und ein anderer, der hochhackige Schuhe trug. Hier, siehst du den Abdruck des dünnen Absatzes? Diesen Punkt im Sand? Und wer trägt hier im Lager hochhackige Schuhe? Wer wohl? Na, sag' es schon, Rosa.«
»Elena.« Sie sah hilfesuchend zu Meerholdt, der bleich an der Hauswand stand. »Das ist doch Dummheit, Herr Hauptmann! Sie wollen doch nicht etwa.« Er sprach nicht weiter, sondern legte den Arm um Rosas Schulter. Diese Geste sollte Schutz bedeuten, sie drückte aber auch die Verbundenheit aus, die Meerholdt mit Rosa verband. Der Offizier wiegte den Kopf.
»Keine Dummheit ist so dumm, daß sie nicht von Frauen verbrochen werden könnte. Und eine liebende, eine eifersüchtige Frau kann die Naturgesetze aus den Angeln heben! Mit der ersten eifersüchtigen Frau wurden auch die ersten Bestialitäten geboren«, sag-te er sarkastisch.
»Sie müssen andere Frauen von Rosa unterscheiden lernen. Sie unterstellen hier etwas, ohne es beweisen zu können.«
»Sie haben mich in meiner Beweisführung eben unterbrochen. Es war ein psychologischer Fehler, Rosa das Rückgrat zu stärken. Ein Geständnis ist immer ein Zusammenbruch - ein physischer wie ein psychischer.«
»Sie hat nichts zu gestehen!« rief Meerholdt laut.
Der Offizier nickte. »Natürlich nicht.« Er wandte sich wieder Rosa zu und faßte sie am Arm. »Du hast hier also Elena Osik getroffen? Ihr habt euch über Herrn Meerholdt unterhalten! Fräulein Osik beschimpfte dich, du beschimpftest Fräulein Osik, sie schlug dich, sie schlug dir die Flasche aus der Hand, die du für Herrn Meerholdt gekauft hattest!« Seine Stimme wurde lauter und lauter, am Ende brüllte er Rosa an, die am ganzen Körper zitterte. »Die Flasche lag im Sand ... kaputt... der Wein floß in den Sand, Meerholdts Wein! Und sie schlug dich wieder . da hast du sie genommen, zu Boden geworfen, hast sie erwürgt und dann.«
»Nein!« schrie Rosa auf. »Nein! Nein!« Sie klammerte sich an Meerholdt fest und versteckte ihr Gesicht an seiner Brust. »Sie hat mich geschlagen, immer wieder geschlagen, aber ich habe mich nicht gewehrt. Ich habe ihr nichts getan. Ich schwöre es ... ich schwöre es.«
Ihre Stimme brach.
Der Offizier sah Meerholdt groß an. In seinen Augen stand Mißtrauen. »Ich muß sie mit nach Belgrad nehmen«, sagte er.
»Ich verbürge mich für Rosa!« Meerholdt umfaßte sie und drückte sie schützend an sich. »Sie bleibt im Lager. Ihr sogenanntes Verhör ist eine Schande. Sie legen dem Mädchen Dinge in den Mund, die sie gar nicht kennt. Die außerhalb ihrer Lebenssphäre liegen!«
»Im Zorn sind viele Menschen unberechenbar. Eine Frau, die haßt, ist schlimmer als hundert Tiger, sagt ein indisches Sprichwort. Und es war abgrundtiefer Haß zwischen den beiden Frauen! Haß Ihretwegen, Herr Meerholdt! Auch Sie trifft eine moralische Schuld an dem Tode Fräulein Osiks!«
Ralf Meerholdt sah an dem Offizier vorbei. Er überblickte die halbfertige Talsperre, die Arbeitskolonnen, die gefällten Wälder, die Geburt einer neuen Landschaft, erdacht von ihm und von ihm in die Tat umgesetzt. »Ich werde Zabari verlassen«, sagte er leise. »Ich werde auch Jugoslawien verlassen. Ich gehe zurück nach Deutschland.«
»Es wäre eine Flucht vor dem Gewissen.«
»Nennen Sie es eine Flucht vor der Erinnerung. Ich hatte eine Rechnung aufgestellt . eine mathematische Gleichung mit drei Herzen und einem Unbekannten, das ist Schicksal nannte. Logisch mußte diese Gleichung aufgehen - x, das Schicksal, war rechnerisch vorherbestimmt! Heute sehe ich den Fehler dieser Rechnung - der Mensch! Der Mensch ist keine Zahl, er ist außerhalb jedes logischen Prinzipes. Der Mensch ist trotz Medizin, Physik, Chemie, Psychologie und Philosophie ein ewiges Rätsel, eine fleischgewordene Mystik. Können Sie mit der Mystik mathematisch verfahren? Das war mein Fehler - und ich möchte nicht weiterleben in einer Umgebung, der mein persönlicher Fehler Unglück gebracht hat.« Er hob die Schultern und sah zurück auf den Offizier. »Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Aber ich gehe -«
Rosa blieb in Zabari, als der Offizier nach Titograd fahr, um das gefundene Unterhemd mit einem genauen Bericht nach Belgrad zu schicken. Stanis Osik, dem man die Nachricht vom Tode, vom erwiesenen Tode, seiner Tochter schonend mitteilte, saß apathisch auf der Terrasse seiner weißen Villa und starrte in die schmutziggrauen Fluten der Sava. Tot, empfand er. Tot! Was bedeutet tot? Kein Wiedersehen? Auslöschen, einfach auslöschen, so, wie man einen Bleistiftstrich vom Papier radiert, und es bleibt nichts als wieder eine weiße Fläche?
Er hatte die Zimmer Elenas abschließen lassen, er betrat nicht mehr den Teil des Hauses, in dem sie wohnte. Die Rosen, die sie vor der Terrasse gepflanzt und gepflegt hatte, ließ er herausreißen, das Pony, auf dem sie als Kind ritt, verkaufte er und erschoß den Hund, der Elena immer in Zagreb begleitete. Nichts, gar nichts mehr wollte er sehen ... keine Erinnerung sollte ihn quälen, kein Erkennen, kei-ne Gedanken. Doch je mehr er gegen sein Schicksal kämpfte, um so tiefer sank das Bild Elenas in seine Seele. Er trank wieder; sinnlos betrunken schlug er in seiner Villa gröhlend die Möbel zusammen und bewarf sein Spiegelbild mit Gläsern. Dann saß er wieder apathisch im Sessel, starrte über die Sava und aß wie eine aufgedrehte, mechanische Puppe. Ab und zu schrie er, grell, tierisch, umklammerte seinen Kopf mit beiden Händen, als wolle er ein Auseinanderspringen verhindern. Er brüllte wie ein Stier und stampfte mit beiden Beinen auf die Erde.
»Osik ist wahnsinnig geworden«, hieß es in Belgrad. Man beurlaubte ihn und übertrug die noch auszuführenden Bauten einem Regierungsgremium, das als Leiter Ralf Meerholdt einsetzte. Nach der Fertigstellung der Zabarisperre sollte er von Belgrad aus die Bauten leiten. Eine besondere Ehrung für den Deutschen.
Zwei Tage nach dem Auffinden des blutigen Unterkleides entdeckte ein Transportarbeiter bei Räumungsarbeiten an der neuen Straße ein zusammengeknülltes, zerrissenes und blutbespritztes Kleid.
Wieder fuhren Hauptmann Vrana und Meerholdt zu der Stelle und fanden ihre Vermutung bestätigt: Es war Elenas Kleid, das sie zuletzt trug, ehe sie verschwand. Die Sonderbeamten aus Belgrad brauchten diesesmal nur zehn Minuten zur Feststellung der Blutgleichheit. Sie stimmte.
»Das Kleid«, sagte Meerholdt sinnend, »und die Unterwäsche lagen in genau entgegengesetzter Richtung. Fällt Ihnen das nicht auf, Vrana?«
Hauptmann Vrana betrachtete das zerrissene Kleid. »Warum haben wir es nicht gefunden, als wir Elena suchten? Wir haben mit Hunderten von Leuten jeden Meter abgesucht . auch die Stellen, an denen jetzt die Stücke lagen!«
Meerholdt durchzuckte es heiß. »Der Mörder lebt unter uns!« sagte er heiser. »Er hat die blutigen Kleidungsstücke bei sich ... und Stück für Stück versteckt er sie jetzt, um alle Spuren zu verwischen.«
»Verhängen Sie ab sofort eine neue Ausgangssperre für alle Personen im Lager. Auch für meine Soldaten werde ich das befehlen.
Niemand verläßt die Baracken ... eine Woche lang!«
»Ich werde es anordnen«, sagte Meerholdt dumpf.
Das Lager wurde gesperrt. Militärposten bewachten die Straßen und das Dorf. Als Jossip am Abend hinauf in die Berge stieg, grüßten sie ihn freundlich und riefen ihm Witze nach. Auch Meerholdt und Vrana sahen Jossip.
»Er hat seine Herde auf den Bergweiden«, sagte Ralf. Vrana nickte und rauchte ein türkische Zigarette, die ihm ein Freund aus Ankara schickte.
Am nächsten Morgen fand Vorarbeiter Drago Sopje neben einer Betonmischmaschine das blutbefleckte Seidenhöschen Elena Osiks. An einer Betonmaschine, die am Abend noch in Betrieb war!
In dieser Nacht verzweifelte Ralf Meerholdt und suchte wie ein verstörtes Kind Zuflucht in den Armen Rosas.
Vor der großen >Chefbaracke< standen etwa dreihundert Arbeiter und sahen ernst und nachdenklich auf Ralf Meerholdt, als er am nächsten Morgen zu den Baustellen gehen wollte. Militär riegelte den Lagerplatz ab, Hauptmann Vrana schrie herum, Pietro Bonelli, mit einer weißen Schürze vor dem Bauch, rannte durch die Reihen der stummen Arbeiter und gestikulierte wie ein Wilder.
Verblüfft blieb Meerholdt auf der oberen Stufe des Eingangs stehen. Hauptmann Vrana drängte sich durch die Arbeiter. Er hatte eine entsicherte Pistole in der Hand.
»Eine Revolte!!« schrie er. »Ein Aufstand! Die Kerle weigern sich, weiter in Zabari zu arbeiten! Sie wollen weg! Aber eher schieße ich sie alle nieder! Seht euch um!« schrie er und zeigte nach rückwärts. Einige der Arbeiter drehten sich um, die Mehrzahl blieb stumm und verbissen stehen und sah auf Meerholdt. »Dort stehen drei Maschinengewehre. Mit durchgeladenen Gurten. Ein Wort nur, Kerls, und ihr seid ein Sieb! Los, nehmt die Klamotten und geht an die Arbeit! Los, sage ich!«
Die Arbeiter standen.
Hauptmann Vrana winkte. Die Gurte rasselten durch die Schlösser der Maschinengewehre. »Ich schieße!« schrie er. »Geht auseinander!«
Drago Sopje, der alte Vorarbeiter, trat einen Schritt vor. Er nahm die Mütze ab und sah Ralf Meerholdt aus traurigen Augen an.
»Wir tun es nicht gern«, sagte er stockend. »Aber man hat schon wieder ein Stück Wäsche von Fräulein Osik gefunden und dieses-mal mit einem Zettel.« Er kam zu Meerholdt die drei Stufen hinauf und legte ihm einen Unterrock vor, an dem auf einem abgerissenen Blatt Papier in Druckbuchstaben etwas stand. Neugierig beugte sich Vrana vor.
»Geht nach Hause!« las er laut. »Das war der Anfang - die nächsten seid ihr.«
Die Arbeiter murmelten. Drago Sopje drehte die Mütze zwischen den Händen.
»Es ist ganz einfach, Herr Ingenieur. Wir haben Angst. Ein Mörder lebt unter uns, der einen nach dem anderen umbringen wird. Keiner will der nächste sein - darum wollen wir gehen!«
»Ihr seid also alles Feiglinge?« Meerholdt blickte über die fast dreihundert Männer, die mit verbissenen Gesichtern vor seiner Baracke standen. »Kann nicht ich der nächste sein? Darf ich meine Arbeit verlassen, aus Angst, aus ganz gemeiner Angst? Auf mich hat der Unbekannte einen großen Stein geschleudert, und nur durch ein Wunder entkam ich. Habe ich damals alles hingeworfen und mich verkrochen, wie ihr es wollt?!« Meerholdt hob die Hand. »Geht an die Arbeit, Leute. Wir werden den Mörder finden.«
Die Arbeiter standen. Stumm, mit gesenkten Köpfen. Auf der oberen Stufe des Barackeneingangs lag das blutverschmierte Kleidungsstück. Eine Anklage und eine Drohung.
Drago Sopje rührte sich nicht. »Wir möchten weg aus Zabari«, sagte er.
»Und der Bau? Was soll aus der Sperre werden?«
»Was geht uns der Bau an?« schrie einer aus der Menge. »Wir haben die Nase voll!« »Wir gehen!«
»Hätten wir vorher gewußt, wo der Bau liegt, wären wir gar nicht erst gekommen!«
Hauptmann Vrana ballte die Fäuste, er wollte den Befehl zum Schießen geben, aber Meerholdt legte ihm die Hand auf den Arm.
»Was hätten wir davon, Vrana? Wir können fünfzig ... hundert Mann erschießen . dann laufen uns in der Nacht die anderen neunhundert weg. Sie werden einfach die Wagen stehlen und flüchten. Wer will sie aufhalten?«
»Ich sperre alle Zufahrtsstraßen!«
»Sie werden überrannt und niedergewalzt werden. Ein Raupenschlepper ist ein halber Panzer! Wir müssen vernünftig sein.«
Ralf Meerholdt sah Drago Sopje an. Dieser senkte den Blick und biß die Lippen aufeinander.
»Sie wollen es so«, sagte er stockend. »Wir möchten unseren Lohn haben.«
Meerholdt nickte. »Es ist gut. Ich spreche sofort mit Belgrad . das Geld wird morgen oder übermorgen hier sein.«
»Mit Belgrad?« Sopjes Kopf fuhr hoch. »Die schicken uns Panzer und Flugzeuge, aber kein Geld!«
»Das glaube ich auch!« Meerholdt hob die Schultern. »Aber in der Kasse ist nicht genug. Es könnten nur dreißig von euch den Lohn bekommen. Das Geld kommt jeden Monat direkt aus Belgrad mit dem Nachschub zu uns. Ihr wißt es ja alle! Ich muß also anrufen.«
»Die Hunde in Belgrad erschießen uns alle!« schrie einer aus der Menge.
»Sie hängen uns auf!«
Meerholdt nickte. »Ihr wollt es nicht anders, Leute. Ihr habt Angst vor einem einzigen Mörder . aber wenn ihr weggeht und streikt, werdet ihr alle getötet! Ob der eine Unbekannte euch angreifen wird, weiß ich nicht, und ihr wißt es auch nicht . aber daß Belgrad euch angreifen wird, gleich, wo immer ihr euch versteckt, das ist sicher! Ihr habt zu wählen: das Vielleicht oder das Sichere!«
Drago Sopje setzte seine Mütze wieder auf. Sein Gesicht war gelb-lich und zerknittert. »Sind wir Verbrecher? Zwangsarbeiter?«
»Ihr seid freie Arbeiter, solange ihr eure Arbeit tut. Aber ihr werdet Zwangsarbeiter, wenn ihr streikt!« Meerholdt schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts dafür, Leute. Ich habe die Gesetze nicht gemacht. Klagt die an, die unter Freiheit der Persönlichkeit die Kollektivierung der Massen und die Einheit der Gehirne verstehen. Was kann ich daran ändern? Ich bin wie ihr nur ein kleiner Mann, den man ebenso schnell an die Wand stellt, wenn ich nein sage und anders denke und arbeite, als es der Befehl von oben will!«
Drago Sopje nickte. Er drehte sich um und ging mit langsamen, schweren Schritten durch die Reihen der stummen Arbeiter. Er nahm an der Barackenecke seinen Spaten auf, warf ihn über die Schulter und ging langsam der Baustelle zu.
Stumm standen die anderen und sahen ihm nach. Dann bröckelte es in den Reihen . einer . drei . fünf . zehn gingen vom Platz, nahmen ihr Arbeitszeug und stapften durch die weiche Erde dem Tal zu. Die letzten fünfzig standen noch immer unbewegt vor der großen Baracke, als Meerholdt an Vrana vorbei um die Maschinengewehre schritt und den Arbeitern zur Baustelle nachging. Er blickte sich nicht um, aber er hörte hinter sich Schritte, viele Schritte, wie den Marschtritt einer Kolonne. Hauptmann Vrana stand allein auf dem Platz und sah verblüfft in die Lagergasse. Hinter Meerholdt her marschierten die letzten fünfzig Rebellen zu der Baustelle, die Spaten und Hacken geschultert. Es fehlte nur noch, daß sie sangen.
»Abbauen!« schrie Vrana seine Soldaten an und trat gegen den Lauf des einen Maschinengewehrs. »Der Dienst laut Dienstplan geht weiter!«
Wütend ging er in seine Wachbaracke und trank ein großes Glas Slibowitz.
Vom Fenster der Kantine Bonellis aus hatte Jossip die unblutige Niederschlagung der Revolte mit angesehen. Jetzt trank er mit bebenden Händen sein Glas Bier und verließ das Lager.
Er ist stärker als ich, dachte er haßerfüllt. Er hat mich geschla-gen, dieser fremde Teufel, dieses Weißgesicht mit dem Madonnenblick! Sie arbeiten weiter ... und wenn ich zehn umbringen würde, sie arbeiten weiter!
Langsam ging er die Dorfstraße hinab, den Kopf gesenkt. Er dachte an seinen eingeschlossenen See, eine Waffe, die ihm niemand aus der Hand schlagen konnte. Auch Meerholdt nicht.
In diesen aufregenden Tagen hatte Rosa eine Entdeckung gemacht. Der Verdacht, der auf ihr lastete, hatte sich als haltlos erwiesen, selbst das strenge Belgrad sah ein, daß ein Mädchen wie Rosa einer solchen Grausamkeit, wie sie Elena Osik zum Opfer gefallen sein mußte, nicht fähig war. Doch das Verschwinden Elenas hatte einen seelischen Graben zwischen Ralf und Rosa ausgeworfen . sie sahen sich jeden Tag, aber sie sprachen nur wenig miteinander, sie küßten sich flüchtig, und die träumerischen Nächte, in denen sie sich sonst in den Armen lagen und glaubten, daß Zabari das Paradies sei, waren Erinnerungen, von denen sie zehrten.
Der Schatten Elenas stand zwischen ihnen. Ihr furchtbares Schicksal bedrückte sie, sie wurden nicht glücklich, wenn sie sich liebten, denn immer meinten sie, aus dem Nebenzimmer, das sie bewohnt hatte, ihren Schrei zu hören. Den Schrei, den sie in jener Nacht überhörten, weil sie sich in den Armen lagen und die Nacht und die Welt untergingen in einem heißen Flüstern dummer und doch berauschender Liebesworte.
Ralf Meerholdt hatte sich mehr denn je in seine Arbeit gestürzt. Rosa holte sein Abendessen wie bisher, sie umsorgte ihn, als sei sie mit ihm schon jahrelang verheiratet - aber wenn die Nacht kam, ging sie. Stundenlang lag sie dann wach auf ihrem Graslager in der Hütte, starrte an die rohe Balkendecke und weinte in das zottelige Schafsfell hinein, mit dem sie sich zudeckte.
Nach der Arbeit bei Meerholdt hackte sie wieder Holz und begleitete den Vater in den Wald, wo sie die Reisigberge der gefällten Bäume zusammenbanden und mit einem Ochsenfuhrwerk nach Hau-se schleppten.
Fedor Suhaja und Marina sagten nichts zu der Liebe Rosas - sie nahmen sie hin wie ein Naturereignis, wie Schnee und Wind, Sonne und Nacht. Sie fürchteten nur die Rache Jossips - das getötete Lamm vor ihrer Tür war nicht vergessen, wenn sie sich auch sicherer fühlten, seitdem sie wußten, daß Jossip sogar in die Dienste Meerholdts getreten war, um Elena Osik zu suchen.
»Vielleicht hat er auf Rosa verzichtet«, sagte Fedor einmal zu Marina und schnitt sich Tabak für seine Pfeife. »Aber solange er nicht kommt und einen Hammel von mir holt, um den getöteten damit zurückzunehmen, habe ich keine Ruhe.«
Doch Jossip kam nicht.
Eines Abends, als Rosa im Bergwald Holz zusammenschichtete, sah sie, daß der Boden neben dem aufragenden Felsen feucht war und ein kleines Rinnsal zwischen dem zerklüfteten Plateau versickerte. Es war der gleiche kleine Bach, den Jossip entdeckt und der ihn zu dem eingeschlossenen See geführt hatte.
Verwundert ging Rosa dem Bache nach. Er war neu ... das sah sie. Sie kannte jedes Wasser um Zabari herum, auch jene Bäche und Fälle, die in der Zeit der Schneeschmelze entstehen und im Frühjahr, wenn aller Schnee von den Felsen geflossen war, ebenso schnell wieder eine steinige Rinne wurden wie vordem. Doch dieser Bach lief ... er hatte Wasser, immer neues Wasser, und längst war kein Schnee mehr auf den Bergen!
Am Fuße des großen Felsens, der Hand, die Zabari schützte, blieb sie stehen und sah dem dünnen Wasserfaden nach, der aus einer Spalte herausrann.
Eine neue Quelle ... neues Wasser für Zabari, für die Felder, die Wiesen, die Herden. Wasser - der Inbegriff allen Lebens.
Als Rosa bei Meerholdt anklopfte, umfing er sie, glücklich, daß sie gekommen war. Er führte sie in sein Zimmer und drückte sie auf einen Stuhl.
»Es ist gut, daß du kommst«, sagte er. »Wir müssen miteinander sprechen. In diesen Tagen hat sich so vieles geändert, so ungeheuer
Schreckliches hat sich ereignet, daß ich Zabari verlassen werde.«
Sie sah ihn an, mit großen, wehmutsvollen Augen. Aber sie sagte nichts. Sie sah ihn nur an wie ein schönes Bild, das weggetragen werden soll.
»Ich werde zuerst nach Belgrad gehen und dann zurück nach Deutschland. Ich kann hier nicht weiterleben.«
»Wegen Elena?« fragte sie.
»Auch wegen Elena. Ich fühle mich mitschuldig an ihrem Tod.«
»Sie ist freiwillig nach Zabari gekommen, und sie ist freiwillig geblieben! Sie hat dich geliebt!« In ihren Augen blitzte es auf. »Oh -ich hasse sie . ich gönne ihr den Tod!«
»Rosa!« rief Meerholdt entsetzt.
Sie schüttelte wild die langen Haare. »Niemand liebt dich so wie ich! Niemand!« Sie sprang auf, warf sich an ihn und umklammerte seinen Hals. Ihr Körper drängte sich an ihn, sie war wie eine Katze und krallte sich an ihm fest. »Wenn du gehst, gehe ich mit! Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, an dem ich nicht mit dir leben könnte! Sag', daß du mich mitnimmst. Sag', daß du nicht allein gehst. Ich sterbe, wenn du fort bist. Du bist mein Atem, mein Blut, mein Herz . du bist alles . alles.«
Er drückte sie an sich, überwältigt von ihrem Ausbruch. Seit jenem Tage, an dem er wußte, daß er Rosa liebte, als er sich klar geworden war über seine Gefühle und sich nicht mehr wunderte, daß er bei allem Denken, bei aller Arbeit, bei jeder Handlung immer nur in der Mehrzahl dachte: Nützt es Rosa und mir . wird es Rosa Freude machen . was wird Rosa dazu sagen . ob es Rosa recht ist . immer Dinge, die eine tiefe Gemeinsamkeit besaßen . seit jenem Tage hatte er oft an die Zukunft gedacht und an die große Frage, ob Rosa wirklich ihr Land verlassen und mit ihm nach Deutschland gehen würde.
Man kann einen Baum umpflanzen, wenn er jung ist. Doch immer bleibt es ein Wagnis: Wächst er an oder geht er zugrunde am fremden Boden, an der fremden Luft, den fremden Winden und Regen?! Und man hofft und ist glücklich, wenn die ersten jungen
Triebe erscheinen und aus ihm die neue Heimat hervorbricht, der Lebenswille in der Fremde! Ein Mensch? Ist ein Mensch ein Baum, eine Pflanze, ein Tier, das man exportieren kann? Als in Deutschland die Landarbeiter knapp wurden, warb man Italiener an. Sie kamen auf die großen Höfe Niedersachsens und Westfalens ... und sie vergingen vor Heimweh, lösten die Verträge und zogen zurück in das Elend ihrer Heimat. Lieber in Hütten leben, aber die Sonne Italiens sehen, den Wein an den Hängen, das blaue Meer mit den Delphinen, den Eselskarren, der knarrend über die staubige Straße holpert und das Obst aus den Gärten zu den Märkten bringt. Und Zeit haben, viel Zeit. Gott schuf die Welt, damit man sie erlebt, nicht damit man sie durchrast. Und so kamen sie zurück aus dem kalten Deutschland und von den vollen Schüsseln mit Bratkartoffeln und Schinken und Quark ... und sie aßen in der Heimat vor Glück weinend wieder ihre Handvoll Spaghetti mit der Tomatensoße oder dem zerriebenen Parmesan. Sie alle kamen zurück in das Elend, um zu Hause zu sein . die Ungarn, die Algerier, die Griechen, die Spanier, die Portugiesen und die Jugoslawen. Ein Mensch ist kein Baum, und das beste Wasser der Fremde ist nicht das schlechte Wasser der Heimat, der fruchtbarste Boden im Norden ist nicht der steinige der südlichen Berge ... und auf dem selbstgerupften und getrockneten Gras unter einem Lammfell schläft es sich herrlicher als im weichsten Daunenbett unter dem Sternenhimmel des Nordens.
»Du wirst Heimweh haben«, sagte er leise.
»Du wirst es mir wegnehmen, wenn du mich küßt.«
»Du kennst unser Land nicht. Der Deutsche fühlt sich in der ganzen Welt wohl . aber wenige nur in Deutschland. Große Unruhe wird in dein Leben kommen.«
»Du wirst mir in deinen Armen Ruhe geben.«
Er nickte. Über ihren Kopf hinweg blickte er aus dem Fenster auf die Baustellen, auf das wimmelnde Leben, das seinem Befehle gehorchte. »Ich werde mit Fedor und Marina sprechen«, sagte er.
Mit einem glücklichen Lächeln küßte sie ihn.
Wenig später gingen sie den Berghang hinauf zu dem geheim-nisvollen Bach, der aus dem Felsen kam. Rosa stieg voran . sie hatte den Rock gerafft und stützte sich auf einen dicken Stock. Meerholdt folgte ihr, eine Tasche mit Meßinstrumenten und kleinen Behältern für Gesteinsproben in der Hand. Sie kletterten den Hang hinauf, ließen den Wald links liegen und wandten sich gleich dem Felsen zu, aus dem der Wasserlauf hervorsickerte.
Vom Felsen aus, hinter einem Stein liegend, beobachtete sie Jossip.
Er lag schon seit einer Stunde hinter dem Stein und hatte gesehen, daß Rosa zu Meerholdt ins Haus lief. Ein Sturm von Eifersucht und neuem Haß überwältigte ihn und machte ihn fast sinnlos vor Wut.
Daß sie zusammen in den Wald gingen, betäubte ihn. Er dachte wie ein Tier: Auch die Bären, die Katzen und die Hunde gehen in den Wald, sich zu paaren. Sie verkriechen sich in den Büschen und schreien vor Gier. Daß Meerholdt eine Tasche trug, sah er nicht in seiner seelischen Auflösung. Er sah sie nur in den Wald gehen, das letzte Stück sogar umschlungen und miteinander lachend. Ein glückliches Paar.
Sein Zorn gebar die grauenhaftesten Bilder. Nicht nur Meerholdt sollte sterben, auch Rosa, die läufige Hündin, auch Zabari, das Dorf, das durch die Fremden entehrte und zerstörte Dorf, auch Fedor und Marina, die Herden und die ganze Natur! Alles, alles sollte vernichtet werden! Er wollte seinen Gott befreien, seinen schrecklichen Rachegott, der geheimnisvoll in der Felswand verborgen lag. Mit Wasser wollte er seine Seele reinigen, mit einem Meer, das alle Ufer überspülte und alles mit sich wegriß in einen einzigen Untergang. Der Felsen sollte aufreißen .es würde ein Donnern geben, ein krachendes Bersten und ein Rauschen, als sei der Himmel auf die Erde gefallen. Ein Jüngstes Gericht von Jossip, dem Schäfer. Eine Rache, in der sich Mensch und Natur verbanden und ihre Gesichter umformten.
Er drückte die Stirn an den kalten Stein, verbarg das Gesicht an der Erde und weinte vor Wut. Er sah nicht mehr, daß Rosa und Ralf
Meerholdt in einer Felsspalte verschwanden und an dem zerklüfteten Fuß des Berges standen, aus dem das Wasser hervorkam.
»Hier ist es«, sagte Rosa und bückte sich. »Ich weiß, daß es voriges Jahr noch nicht da war.«
Meerholdt steckte die Hand in den rissigen Felsen und fühlte, wie das Wasser eiskalt und kristallklar durch einen stetigen Druck nach außen gestoßen wurde.
»Irrst du dich auch nicht?« fragte er zweifelnd.
»Nein. Ich kenne jeden Bach um Zabari herum.«
»Es ist keine Quelle.« Meerholdt erhob sich von den Knien und begann mit einem spitzen Hammer den Felsriß zu vergrößern. »Eine Quelle kann doch nicht plötzlich entstehen . wenn das Wasser sich einen neuen Weg suchte, muß es vorher doch woanders zu Tage getreten sein.« Der Riß war jetzt etwas breiter, er konnte den Arm hineinstecken und spürte den ständigen Fluß des Rinnsals. »Es muß ein Bach sein, der irgendwo in den Felsen tritt und sich hier seinen Austritt suchte«, sagte er. »Ein kleiner Bach.«
Er wollte sich schon abwenden und wieder gehen, als er ein wenig weiter von der Felsspalte entfernt einige verkohlte Holzstücke sah. Sie lagen zwischen den Steinen und wären nicht aufgefallen, wenn nicht der Mondschein gerade diese Partie durch eine Waldlichtung beschienen und in helles Licht getaucht hätte.
Meerholdt hob die verkohlten Stücke auf und betrachtete sie genau. Sie sahen aus wie verbrannte Stiele . sie waren rund und genau so dick, daß man sie mit der Hand umfassen konnte.
Die Fackeln fielen ihm ein . die Fackeln, die Drago Sopje und andere Arbeiter des Nachts am Waldrand und in den Felsen gesehen hatten, die Fackeln, die die erste Unruhe unter die Leute brachten und die geistergläubigen Jugoslawen erregten.
Gespenster hinterlassen keine Spuren, am allerwenigsten verkohlte Fackelstiele. Ein Mensch geisterte hier also herum, und er mußte einen tiefen Grund haben, gerade diese Gegend des Nachts zu besuchen.
Meerholdt kniff die Augen zusammen. Die Quelle? War es die Quel-le? Verbarg sich mehr hinter ihr? Er steckte die verkohlten Stiele in die Aktentasche und ging zu der Felsspalte zurück.
Das Wasser rann . unaufhörlich . still . eiskalt und glasklar . so, als ranne aus einem Eimer durch ein winziges Loch ein dünner Wasserstrahl.
Aus einem Eimer . aus einem Felsen . aus einem riesigen Trichter . einem eingeschlossenen See.
Ralf Meerholdt faßte sich an die Stirn und lehnte sich gegen den Felsen. Mein Gott, durchfuhr es ihn, wenn dies war ist! Wenn dieser Felsen hohl ist und einen See verbirgt! Hier läge eine Kraft von mehreren Talsperren, hier könnte er Naturgewalten frei machen, die sich mit elektrischer Erzeugung bis Sarajewo bemerkbar machten! Hier könnte er Turbinen treiben lassen, die ganz Montenegro mit Strom versorgten . ein unerschöpfliches Reservoir, dessen Wasser dann weitergeleitet wurde in den Stausee unterhalb Zabaris.
Meerholdt schloß die Augen vor Erschütterung. Er sah schon die Wirklichkeit: Riesige Rohrleitungen, die das Wasser aus den Felsen in die Turbinenhäuser leiteten, die den Wasserdruck noch mehr komprimierten und die Turbinen rotieren ließen. Turbinen, die dort auf dem Hang stehen würden. Haus an Haus . und von ihnen ausgehend die Stahltürme der Überlandleitungen, singend und brummend voll Strom . kilometerweit über Felsen und Schluchten, Berge und Ebenen . bis nach Sarajewo, Titograd und Novi Pazar. Von dem Hang aus, aus den Turbinen geschleudert, würde das Wasser dann in den Stausee laufen, in das bis zum Rand gefüllte Tal, und dort würde es wieder in die Turbinen stoßen, die unten, unterhalb der hohen Mauer und des Erdwalles, auf der Betonsohle standen . Strom für Belgrad, Titovo Uzice und Mostar. Rohre, in der Sonne blinkend wie die Pipeline vom Persischen Golf nach Haifa; Rohre, die eine Welt veränderten und das Wasser, das Millionen Kilowatt in die Leitungen preßte, auf die dürren Felder der armen Bauern leiteten und einen Garten entstehen ließen, wo vorher Stein und Sand das Gesicht der Landschaft bestimmten.
Die Hand Rosas, die sich auf seine Schulter legte, riß ihn aus seinen Träumen. Er wischte sich über die Augen und blickte auf den kleinen Wasserstrahl zu seinen Füßen.
»Wenn es wahr ist, Rosa«, sagte er stockend, »wenn ich recht behalte mit meinen phantastischen Gedanken, dann hast du heute eine neue Welt entdeckt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht.«
Er nickte. »Wie kannst du das auch?« Er atmete tief auf. »Ich kann es ja selbst kaum verstehen. Ich kann es noch gar nicht glauben! Es ist zu phantastisch, um wahr zu sein. Die Vernunft sträubt sich dagegen, solche Träume als wahr anzusehen. Aber ist es wahr, gibt es wirklich das, was ich hier hinter dem Felsen vermute.« Er legte die Hände an den Felsen. »Umarme ich hier die Kraft, die noch kein Mensch gebändigt hat, dann wird man in zehn Jahren Montenegro nicht wiedererkennen.«
»Es ist mehr als eine Quelle?«
»Viel mehr, Rosa ... ungeheuer viel mehr. Weißt du, was ein Ozean ist?«
»Nein.«
»Er ist ein großes Meer . ein Meer, größer als Länder und Kontinente . ein Meer, über das du wochenlang fährst, ohne ein Ufer zu sehen.« Er klopfte an den Felsen. »Hier drin, in dem Felsen, Rosa, liegt ein Ozean im Vergleich zu einer Quelle, wie wir dachten. Ein See, ein unterirdischer, eingeschlossener See.«
Rosas Gesicht wurde bleich. »Ein See über Zabari?« sagte sie leise. Ihre Stimme schwankte. »Wenn der Felsen bricht, sind wir alle vernichtet.«
Einen Augenblick hielt Meerholdt den Atem an. Rosa sprach aus, was außerhalb seiner bisherigen Gedanken lag. Jetzt gewann es Gestalt, jetzt wurde es eine Gefahr, eine riesengroße, allmächtige, überwältigende Gefahr.
Die Fackeln! Der Mann mit den Fackeln kannte den See! Er hatte den Stein auf ihn geworfen, er hatte Elena Osik getötet... er würde auch den Felsen sprengen und die Natur ersaufen lassen in einer neuen Sintflut! Die Natur, Zabari, das Bauwerk, die tausend Arbeiter, ihn und Rosa.
»Wir müssen sofort zurück!« Meerholdt nahm Rosas Hand und rannte mit ihr aus den Felsen dem Walde zu. Hier sah Jossip sie wieder .er sah sie den Hang hinab laufen, Hand in Hand, wie Kinder. Er ahnte nicht, welche schrecklichen Gedanken sie so beflügelten . er sah sie nur zusammen aus dem Wald kommen, zwei Menschen, die sich an ihm versündigten, an Jossip, der einen Anspruch auf Rosa hatte, weil sie ihm in der Wiege nach altem Gesetz versprochen war.
Er erhob sich und ballte die Faust. Drohend hob er sie und schwang sie durch die Nacht. »Ich vernichte euch!« sagte er leise. »Ich ertränke euch wie die Ratten! Euch alle. Alle!«
Meerholdt und Rosa rannten in das Lager. Keuchend riß er die Tür seines Zimmers auf und stürzte auf das Telefon.
»Belgrad!« schrie er. »Geben Sie mir sofort Belgrad. 5 67 98. Blitzgespräch!«
Er sank auf einen Stuhl und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Sein Herz schlug wild gegen seine Rippen.
Eine Stimme schnarrte im Apparat, Meerholdt beugte sich vor. »Ich brauche den Minister!« schrie er. »Sofort! Ob er schläft, ist mir ganz gleich. Wecken Sie ihn! Es ist dringend. Es geht um Millionen.«
Drei Minuten später sprach er mit dem Minister.
Pietro Bonelli hatte Urlaub bekommen.
Die Schweigsamkeit Katjas hatte an seinen Nerven gezehrt, und er war so lange jammernd um Meerholdt herumgestrichen und hatte des Abends traurige Lieder zur Laute gesungen, bis sich Ralf erweichen ließ und sagte: »Hau ab, du Jammerlappen! Aber wehe dir, wenn du Katja nicht heiratest.«
Nun war Bonelli in Sarajewo und ließ sich von einem Barbier rasieren und frisieren. Der Barbier hatte seinen >Salon< nahe dem Krankenhaus und war ein Orientale, ein Serbe mohammedanischen Glaubens.
Barbiere sind schwatzhaft. Das gehört zum Geschäft . ein stummer Barbier wäre wie Sekt ohne Perlen oder eine Frau ohne Raffinesse. Nachdem er mit Bonelli über das Wetter geplaudert hatte, über Sarajewo und den Mord an Erzherzog Ferdinand, von dem der Fremdenverkehr Sarajewos noch heute zehrt, über die neue Brük-ke, die man über die Bosna schlagen wollte, und über die Soldaten, die in Sarajewo alle Mädchen verrückt machten, sagte er etwas, was Bonelli fast aus dem Barbierstuhl trieb.
»Und nebenan, Herr ... nebenan, im Krankenhaus. Oh!« Er verdrehte die Augen und schnalzte mit der Zunge.
»Da ist ein Mädchen ... was sage ich, Mädchen ... eine Wildkatze, eine Pantherin, eine Houri aus dem siebten Himmel Allahs! Sie putzt dort . ein schwarzer Teufel, Herr! Allah hat mir vier Frauen erlaubt ... ich werde sparen ... 10.000 Dinare und mehr und mir dieses Kätzchen fangen!« Der Barbier schnalzte wieder mit der Zunge. »Katja heißt sie.«
»Ka...Katja.«, stöhnte Bonelli. Er wagte nicht, sich zu bewegen, denn der Barbier hatte seine Nase gefaßt und rasierte ihn unter dem Kinn.
»Katja! Oh! Ich schlafe keine Nacht, seitdem ich sie gesehen habe! Ab und zu kauft sie bei mir ein ... ein Fläschchen mit Riechwasser, Lippenstift, Puder, Creme ... oh, ich könnte ihr die Füßchen küssen, wenn sie kommt. Ich bin ihr Sklave, ihr Hündchen, ihr Läus-chen.«
Bonelli seufzte und schloß die Augen. »Und das Kätzchen liebt dich auch?« fragte er mühsam.
Der Barbier stellte sich in Positur. Bonelli sah es im Spiegel ... er zwirbelte seinen dicken Schnurrbart. »Kann man mir widerstehen?« sagte er stolz. »Allah hat mir alle Männlichkeit gegeben, die er bei der Erschaffung der Welt zu verteilen hatte! Ich werde das Berg-löwchen noch erobern.«
Bonelli litt Höllenqualen, ehe er den Salon verließ und Kennif -so hieß der feurige Barbier - sogar noch 20 Dinare Trinkgeld gab. »Auf Wiedersehen, Herr Graf!« schrie ihm Kennif nach. »Allah hal-te schützend seine Hand über Euch!«
»Katja«, dachte Bonelli. Außerhalb der Rasiermesser Kennifs kehrte in ihm die Wut zurück. Katja, du Aas! Nach Sarajewo gehen und die Männer verrückt machen! Und der arme Pietro muß in der Wildnis leben, unter tausend weibertollen Arbeitern und einem Mörder, der nachts blutige Unterwäsche im Lager verteilt! Schöne Blicke nach den Soldaten werfen und mit dem Hintern wackeln, den Lidern klappern und mit dem rotgemalten Mäulchen plappern ... Madonna mia - das hört auf! Das hat Pietro Bonelli nicht verdient. Der liebe, der treue Bonelli!
Er ging geradewegs zum Krankenhaus und wurde am Eingang vom Pförtner aufgehalten.
Pförtner sind in der ganzen Welt gleich. Sie sind berufsmäßig neugierig und, wenn sie alles wissen, abweisend. So wurde auch Bonelli von dem Pförtner angehalten und an der Tür festgenagelt.
»Wohin?« fragte der lange, dürre Bosniake. Er hatte einen weißen Kittel an und wirkte wie ein Arzt. Darauf war er besonders stolz, vor allem, wenn Bauern kamen und ihn unwissend mit >Herr Dok-tor< anredeten. Ein Bauer, der ihn sogar >Herr Professor< nannte, bekam eine Zigarre von ihm ... es war der bisherige Höhepunkt seines Lebens.
Um so mehr war er enttäuscht, entsetzt und wütend, daß der weltgewandte Bonelli in ihm den Portier erkannte und ihn anschrie:
»Das geht dich einen Dreck an, du Idiot!«
Der Portier erstarrte. »Raus!« sagte er laut.
Bonelli zog die Augenbrauen zusammen. »Ich bin der Verlobte von Katja Dobor«, meinte er etwas freundlicher.
Wieder musterte ihn der Pförtner, diesmal mit einem diskreten Kopfschütteln. »Du?« sagte er gedehnt. »Ich hätte der Katja einen besseren Geschmack zugetraut.«
»Vielleicht so ein in der Mangel langgezogenes Handtuch wie dich, was?« Bonelli schäumte. Erst der Barbier, jetzt der Idiot von Portier. O Katja, Katja. Bonelli seufzte und beherrschte sich. »Kann ich vorbei?« fragte er. Seine Stimme war rauh vor Erregung.
»Der Chefarzt wird dich hinauswerfen.«
»Ich werde ihn nicht stören ... ich will zu Katja.«
»Eben deshalb.« Der Pförtner grinste. »Er liebt nämlich Katja.«
Bonelli schwankte. »Ich werde heimlich die Treppen hinaufsteigen, an seinem Zimmer vorbeirennen.«
»Dann trifft dich der Stationsarzt. Er stellt Katja seit zwei Monaten nach.«
Als ein gebrochener Mann schlich Bonelli wie ein Verbrecher ins Krankenhaus und suchte Katja auf Station III.
Vor einer Glastür blieb er stehen.
In Goldbuchstaben stand darauf:Station III.
Und darunter: Männer-Station.
Bonelli schluchzte und trat die Tür auf. Über den Gang kam ihm Katja entgegen ... in einem weißen Kittel, auf den gedauerwellten Locken ein weißes Häubchen, in seidenen Strümpfen und hohen Pumps, mit einem hellrotgeschminkten Mündchen und ein wenig Rouge auf den braunen Wangen.
Carissima - welche Wonne, sie zu sehen. Bonelli hob beide Arme und schrie:
»Madonna! Katja! Süßes! Pietro ist da!«
Was Katja in der Hand trug, sah Bonelli nicht. Er hörte es nur klirren, als es zu Boden fiel, und am Zerschellen vernahm er, daß es etwas Gläsernes gewesen sein mußte. Dann lagen sie sich in den Armen, küßten sich, drückten sich und sagten so viel dumme Worte, daß keiner den anderen verstand, und man sich nur einig war, wenn man sich küßte.
So traf sie der Stationsarzt. Er tippte Pietro auf die Schulter. Bonelli sah zur Seite, bemerkte einen weißen Kittel, dachte, es sei der Portier und schrie: »Geh weg, du Mißgeburt!«
Als er seinen Irrtum bemerkte, war es bereits zu spät. Zwei stämmige Krankenwärter, wie Klötze aus Eichen geschnitzt, faßten ihn und warfen ihn auf die Treppe. Es ging schnell, als habe man es geübt.
»Heute abend im Cafe Mostar!« schrie Bonelli noch, dann roll-te er glücklich die Treppe hinab, vor die Füße des Portiers.
»Chefarzt?« fragte dieser voll Mitleid.
»Stationsarzt!« Bonelli erhob sich und rückte seinen Rock gerade. »Aber sie hat mich geküßt!«
»Katja?«
»Ja.«
»Dann sind Sie wirklich der richtige Bräutigam?«
»Ja.« Bonelli hob stolz seine Brust. »Ich kann für mich in Anspruch nehmen, die schönste Frau Sarajewos zu besitzen.«
Mit stampfenden Schritten verließ er das Krankenhaus. Der Bos-niake sah ihm lange nach, wie er durch den Staub der Straße marschierte, von Kennif, dem Barbier, ehrfürchtig gegrüßt wurde und dann im Gewimmel des Marktes und des Bazars verschwand.
»Die Katja«, sagte er. »Es ist doch merkwürdig, daß die schönsten Frauen die blödesten Männer haben!«
Womit er etwas aussprach, was täglich Tausende von Männern denken.
Am Abend trafen sich Katja und Bonelli im Cafe Mostar. Katja Dobor hatte drei Koffer bei sich und sah sehr unglücklich aus.
»Sie haben mich 'rausgeworfen«, sagte sie. »Sie meinten, sie könnten kein Mädchen beschäftigen, das einen Flegel als Mann hat.«
Bonelli hatte drei Martell getrunken und war sehr mutig. »Ich breche den Ärzten die Knochen!« sagte er selbstbewußt. »Und im übrigen braucht meine zukünftige Frau nicht zu arbeiten! Bonelli hat Geld genug! Wir werden nach Capri ziehen und eine Cafeteria aufmachen. Mit Wein, Musik, Lampions, Gondelfahrten und einer Küche. Katja . sie wird in einem Jahr in der ganzen Welt berühmt sein!«
Sie glaubte es ihm. Ihr Gesicht hellte sich wieder auf. »Wie lange bleibst du in Sarajewo?« fragte sie, indem sie den Kaffee trank.
»Drei Tage nur, angelo mio . dann fahren wir zurück nach Zabari.«
»Ich auch? Ich wollte mir hier eine neue Stelle suchen. Ich muß noch Geld verdienen für deine - wie hieß das?«
»Cafeteria! Aber das ist doch Dummheit, Katja. Wenn die Sperre in Zabari fertig ist, läuft mein Vertrag ab. Dann fahren wir in einem schönen Zug nach Triest, von Triest nach Rom, von Rom nach Capri. Du wirst sie alle übertreffen ... die Amerikanerinnen, die schlanken Engländerinnen, die schmalhüftigen Griechinnen, die grazilen Französinnen und die Deutschen, die gleich, wenn sie ins Lokal kommen, rufen: Herr Ober - ein Pils! Oder: Herr Ober - ein Schnitzel mit Bratkartoffeln! Katja - sie werden dich bewundern und dich umschwärmen wie die Motten das Licht. Und ich werde stolz sein und mich in deiner Schönheit sonnen.«
Was er sagte, glaubte er selbst nicht. Schon der Gedanke, daß die Gäste seines Lokals Katja ansahen, erzeugte in ihm die Übelkeit der Eifersucht. Aber er spielte den Großzügigen und glänzte vor Katja wie ein Pfau, der sein glitzerndes Rad schlägt und nach dem Weibchen gurrt.
Drei Tage wohnten sie in einem kleinen Hotel nahe der Bosna. Sie sahen aus dem Fenster auf den Fluß und die Bogenbrücken, auf die Moscheen des islamischen Teiles der Stadt und den Bazar mit den bunten Wimpeln. Unter ihrem Fenster, am Ufer der Bosna, knieten jeden Morgen die Waschfrauen und schlugen mit Holzklatschen den Schmutz aus der Wäsche, die sie nachher im fließenden Wasser spülten. Ein Limonadenverkäufer rief sein süßes Getränk aus... Brezelbäcker und Silberhändler standen an den Ecken und stürzten sich auf die Fremden. Ein Bettler saß vom frühen Morgen bis zum späten Abend gegenüber dem Hotel auf der Erde und hatte seinen Mund weit offen. Man sah einen zahnlosen Gaumen, besät mit Geschwüren. Wovon er lebte, wie er essen konnte, das wußte niemand und sah keiner. Aber er lebte und saß auf der Erde. Wie sagte doch Kennif? Allah ist groß! Nur der Mensch erkennt es nicht.
Es waren drei Tage aus dem Märchenbuch von 1001 Nacht.
Pietro Bonelli war nach diesen drei Tagen überzeugt, daß er ein Glückspilz sei und daß es überhaupt keinen Menschen auf der Welt
gäbe, der sich mit seinem Glück messen konnte.
»Onassis hat Millionen«, sagte er einmal zu Katja. »Rockefeller hat Milliarden, den Aga Khan beten einige Millionen als Halbgott an ... sie alle sind arm gegen mich! Denn nur Pietro Bonelli hat das Glück, von dir geliebt zu werden.«
Am vierten Tag fuhren sie zurück nach Zabari . die elegante, kokett gewordene Katja Dobor und der vor Stolz wie ein englischer Kröpfer einherstolzierende Bonelli.
Ihr Einzug in das Dorf war überwältigend. Schon die Fahrer der Transportkolonne, mit der sie zurückfuhren, schnalzten mit der Zunge und sagten: »Na, Puppe!«, was Bonelli bereits sehr mißfiel . im Dorf rotteten sich die Bauernburschen zusammen und stierten Katja wie einem Weltwunder nach, als sie trippelnd und hüftenschwenkend in Bonellis Küchenbaracke verschwand. Josef Lukacz kratzte sich den Kopf - es war das Pech Bonellis, daß er gerade aus Plewlja gekommen war, um einen defekten Betonmischer abzuholen.
»Katja«, sagte Lukacz entgeistert. »Es ist, als ob der Mond plötzlich heller ist als die Sonne.«
Um so dunkler wurde es bei Pietro Bonelli. Während sich in seiner Kantine die Arbeiter stauten und die Theke belagerten, hinter der Katja bediente, während es unterirdische Tritte gegen Schienbeine gab und Kämpfe um den Platz vor Katjas Ausschnitt (ein Kleid, das sie sich nach einem Pariser Modenblatt selbst genäht hatte), erlitt Bonelli einen Rückfall in die düstere Zeit der ersten Wochen von Zabari.
Er holte aus dem Magazin gerade einige Flaschen Slibowitz und einige Dosen Würstchen, als wieder aus der dunklen Ecke eine Faust hervorschnellte und Bonellis linkes Auge traf. Brüllend warf er die Flaschen und die Würstchendosen hin . aber der Täter war schon in der Nacht verschwunden, schemenhaft und katzengleich.
Bonelli schrie und kreischte. Er tanzte wie ein Irrer auf dem Hof herum und brüllte Flüche, die auf keinem Index stehen, da sich der Index schämen würde, sie aufzunehmen.
Trotz sofortiger Kühlung mit Alkohol, trotz Borwasser und absoluter Ruhe ... das linke Auge wurde blau und bildete die freudige Sensation von Zabari. Selbst Meerholdt kam in das Zimmer Bo-nellis und drückte ihm sein Beileid aus. Katja saß neben ihm auf dem Bett und kühlte das Auge mit feuchter Watte.
»Es war wieder Josef!« schrie Bonelli und war nur mit Mühe im Bett zu halten. »Ich kenne diesen Hieb! Morgen bringe ich ihn um.«
Am nächsten Tag war Lukacz schon wieder in Plewlja und betrank sich vor Kummer und Wonne. Für Josef aber kamen andere Konkurrenten, diesesmal sogar aus den Reihen von Bonellis Landsleuten. Sie brachten Katja ein Mandolinenständchen, und Mario, der singende Holzfäller, schluchzte eine Arie aus La Boheme und lockte damit Katja im Nachthemd an das Fenster.
Bonelli biß in die Kopfkissen und verfluchte den Einfall, Katja aus Sarajewo wieder nach Zabari gebracht zu haben. Dann fiel ihm der Chefarzt ein, der Stationsarzt, der Barbier Kennif, und er setzte sich seufzend ins Bett und kraulte sich den Kopf.
»Wen Gott strafen will, dem gibt er eine schöne Frau«, sagte er. Dann nahm er einen Eimer Wasser und schüttete ihn über den singenden Mario ... kurz vor dem hohen C, das dadurch kläglich mißlang. »Diabolo!« schrie er aus dem Fenster. »Das nächstemal schieße ich!«
Er riß Katja zurück und schloß das Fenster mit einem Knall. »Im Sommer heiraten wir!« sagte er energisch. »Und dann kaufe ich mir ein Maschinengewehr und schieße auf jeden, der dich nur ansieht!«
Katja Dobor lächelte still.
»Er hat eine so schöne Stimme«, sagte sie.
»Wer?«
»Mario.«
Wie ein Irrer zertrümmerte Bonelli zwei Stühle, ehe er stöhnend ins Bett sank.
Wie sagten doch die Chinesen: Eine kleine hübsche Eselin ist teurer als ein starkes häßliches Kamel.