Jossip stand oben auf den Bergen, Tanja an seiner Seite, als der
Heerwurm der Arbeiter sich über die Paßstraße aufwärts bewegte.
Ungläubig an dem, was er sah, erschrocken vor der Fülle Leben, die sich in seine Einsamkeit und Abgeschiedenheit ergoß, ließ er sich auf die Knie gleiten und kroch bis zum Rand des senkrecht abfallenden Felsens vor. Auf dem Bauch liegend, sah er hinab auf den schmalen Felsenweg und betrachtete die langsam und vorsichtig sich vortastenden Raupenwagen und die Planierschaufler, die alles Gestein vom Wege wegdrückten und seitlich in die Schlucht warfen. So hatten die nachfolgenden Wagen einen freieren und nicht mehr so holprigen Weg. An einer etwas breiteren Stelle, eng an den Felsen gedrückt, stand ein einzelner Wagen und ließ die Kolonnen an sich vorbeiziehen.
Ein kleiner, zweisitziger Wagen.
Jossip kniff die Augen zusammen, als er Ralf Meerholdt am Wege stehen sah. Einen Augenblick hatte er die Versuchung, einen dicken Stein vom Felsen auf ihn hinabzurollen, eine Steinlawine auf diese fremden Menschen hinabregnen zu lassen und den Weg unbegehbar zu machen.
Aber er bezwang sich und lag flach auf dem Bauch, vor Haß und Erregung tief atmend.
Einer gegen tausend, dachte er. Das ist sinnlos, Jossip. Aber einer gegen einen - das ist ein Kampf, von dem die Ahnen sangen. Er ballte die Fäuste und schob sie vor sich her an den Rand des Felsens. Ich treffe dich, du feiner Herr! Für dich hat mich Rosa geschlagen, zweimal geschlagen . du weißt nicht, was das bedeutet, Herr! Du kommst aus einem anderen Land, du bist nicht einmal aus unserem Volk. Was weißt du, was ein Schlag bei uns bedeutet?! Du wirst wiederkommen, hast du gesagt . und nun bist du gekommen, aber mit einem Heer! Doch ich werde dich aus diesem
Heer herausholen, und dann wird die Sonne wegsehen und Gott die Augen schließen.
Er kroch zurück und richtete sich auf. Tanja stand mit gesträubtem Fell beim Leithammel der Herde und sah Jossip entgegen. Er knurrte leise, als er sich näherte und ihm das Halsband überwarf.
»Komm, Tanja«, sagte er leise. »Wir müssen zurück ins Dorf. Wir haben noch viel zu tun, Tanja ... es kommt eine schlimme Zeit für uns.«
Er ging der Herde voran, und der Leithammel folgte ihm mit der Herde. Jossip kannte die Felsen und Wege wie keiner in Zabari, und er führte die Herde zurück über rauhe Schluchten und durch dunkle Täler und erreichte Zabari eher als die ersten Raupenschlepper, die fauchend den Weg hinab ins Dorf ratterten.
Als die ersten Wagen ins Dorf kamen, standen am Eingang von Za-bari kleine Mädchen mit Blumen und schmückten die ersten Fahrzeuge und die Fahrer. Später standen auch die Bauern und Bäuerinnen am Wege und winkten den einzelnen Autos zu, die durch das Dorf knatterten und außerhalb der Häuser, am Rande des kleinen Tales, anhielten und eine Art Wagenburg bildeten. Sie fuhren zu einem großen Kreis zusammen und schlugen in der Mitte des so geschaffenen Platzes Zelte und eine Baracke auf.
Fedor stand in der Tür seiner Hütte, als die ersten Wagen ins Tal kamen. Er sagte nichts . er starrte ihnen entgegen, entgeistert, verständnislos, von Staunen übermannt. Rosa, die hinter ihm aus der Tür sah, rannte zurück in ihre Kammer. »Sie kommen!« schrie sie Marina entgegen. »Sie kommen!« Sie wirbelte die Mutter im Kreise herum, rannte dann aus dem Zimmer und begann, in einer Ecke des Schlafraumes die Kisten zu durchwühlen. Sie warf ihr Festkleid heraus, den bunten Bänderkopfschmuck, die weißen, aus weicher Wolle gewebten Röcke, die schmalen, mit buntem Leder bestickten Festpantoffeln aus reinem Ziegenleder. Mit zitternden Händen
zog sie sich um, schlich aus der Stalltür ins Freie und ging in den Garten. Sie pflückte einen großen Strauß hellroter Lilien und rannte dann an dem sprachlosen Fedor vorbei über die lange Dorfstraße den Wagen entgegen, die vom Eingang des Tales aus den Bergen quollen.
An der Stelle, an der sie Ralf vor vier Monaten zuwinkte und vor seinem Abschied in den Bergwald flüchtete, stellte sie sich aufund starrte die Wagenreihen entlang, lächelte den winkenden Arbeitern zu und schüttelte den Kopf, wenn kecke Rufe und Bemerkungen sie umflatterten.
Auf dem Rand des Kantinenwagens saß Pietro Bonelli und schnalzte mit der Zunge, als er an Rosa vorbeifuhr. »Madonna mia!« rief er enthusiastisch. »Das in solcher Wüste?! Mir wird wohler ums Herz, amici! Ich werde sogar schon heimisch! Cara carissima!« schrie er zu Rosa hinüber und fuchtelte mit den Armen. »In zwei Tagen steht meine Kantine! Dann lade ich dich zum Tanz ein.«
Lachend fuhren die Arbeiter an Rosa vorbei.
Als der kleine Wagen, mehr hüpfend als fahrend, über den Weg aus den Felsen hinausschoß, machte auch ihr Herz einen Sprung. Eine Welle von Glück überspülte sie ... sie drückte den großen Blumenstrauß an ihre Brust, und durch die Blumen hindurch sah sie dem Wagen entgegen. Ihre langen, schwarzen Haare glänzten in der Sonne . sie hatte sie mit den bunten Bändern durchflochten und über ihre Schulter wie einen kostbaren Schmuck gelegt. Es war ihr, als müsse sie zu Boden sinken und sterben vor Glück, als sie die blonden Haare Ralfs über der Windschutzscheibe des Wagens sah. Sie hob die Blumen noch höher an ihre Augen und zitterte vor Seligkeit.
Ralf Meerholdt hatte von der Höhe aus den Einzug der ersten Wagen beobachtet und war erfreut über den Empfang durch die Bauern von Zabari. Er sah nicht Jossip am Rand des Bergwaldes oberhalb des Dorfes stehen, gegen einen dunklen Stamm gelehnt, unsichtbar für das ungeübte Auge des Fremden. Jetzt fuhr er vor sich hinpfeifend den Weg hinab und malte sich aus, wie er Rosa wie-
dersehen würde. Sie saß bestimmt am Herd neben dem Feuer und webte, oder sie briet ein Stückchen Hammelfleisch an dem drehbaren Spieß und legte die Scheiben Brot auf den großen Holzteller, der bei jeder Mahlzeit mitten auf dem Tisch stand.
»Ich bin zurückgekommen!« wollte er sagen. Aber dann verwarf er diesen Satz. Er verpflichtete zu sehr ... er war die Einlösung eines Versprechens. Nein - er würde Rosa die Hand geben und Fedor eine Pfeife schenken und Marina einen Schal. Und dann würde er schnell zu den Arbeitern gehen und den Aufbau der ersten Baracke überwachen und keine Gelegenheit mehr finden, Rosa allein zu sehen. Er spürte, daß die Verpflichtung Elena gegenüber ihn seelisch verkrampft hatte, aber er hatte nicht die Absicht, sich von ihr zu lösen. Die elegante Elena mit der Zärtlichkeit einer schnurrenden Katze ... sie war doch stärker, um so vieles stärker als das Naturkind Rosa, dessen Lippen beim Kusse zitterten und nicht aufblühten wie der heiße Mund Elenas.
Er fuhr ins Tal hinab, pfeifend, die Haare frei im Zugwind flattern lassend.
Am Wege stand Rosa, die Blumen hoch vor dem Gesicht.
Er hielt den Wagen mit einem Ruck an. Sein Herz zerriß bei ihrem Anblick.
»Rosa«, sagte er leise. »Rosa.« Aber sie hörte es nicht ... das Tal war erfüllt vom Gedröhn der Motoren und den Rufen der Arbeiter.
Er sprang aus dem Wagen ... er kam auf sie zu ... er streckte die Hand aus. Sie sah ihn durch die Blumen an, ein Schrei, ein greller Schrei des Glückes würgte in ihrer Kehle, sie wollte ihn ausstoßen, so wie ein Tier aufschreit - aber sie schloß die Augen, sie ließ die Blumen aus den Händen vor die Füße Ralfs fallen und warf sich ihm entgegen. Ihre Arme umschlangen seinen Hals, ihr Mund war wie eine Wunde, die aufriß ... und dann küßte sie ihn, wild, hemmungslos, stammelnd, mit den Händen seine blonden Haare durchwühlend. Sie fühlte sich so ganz eins mit ihm, daß sie die Beine einzog und an ihm hing wie ein Ertrinkender. Und dann weinte sie,
vor Glück und vor Erlösung.
Umarmt, eng aneinandergedrückt gingen sie ins Tal hinab. Verlassen stand der kleine Wagen am Wege. An ihnen vorbei rasselten die schweren Raupenschlepper, die Transporter mit den Barak-kenwänden . sie sahen und hörten nichts, sie sahen nur ihre Augen und ihre Lippen, und sie fühlten einer nur den anderen und vergaßen, was gewesen war, was war und was werden würde. Es gab keine Zeiten mehr, keinen Ort und kein Leben als nur das eigene Leben in der Hand des anderen.
An seinem dunklen Stamm oberhalb Zabaris stand noch immer Jossip und starrte den beiden nach. Er hatte die Fäuste geballt. Sein Gesicht war eingefallen und fahl. Langsam trat er zurück in den Wald und stieg den Felsen hinauf, nach vorn gebückt wie ein Geschlagener, der Zuflucht in der Einsamkeit sucht, um die Wunden zu heilen und die Menschen zu hassen.
Vor der Tür von Suhajas Haus blieb Meerholdt stehen und streckte Fedor die Hand entgegen.
»Ich bin zurückgekommen, Fedor«, sagte er. »Ich will wieder dein Gast sein.«
Fedor sah die Hand an und blickte hinüber zu Rosa.
»Bringst du Glück oder Unglück, Herr?« fragte er leise.
Meerholdt atmete tief auf. »Glück, Fedor.«
Da nahm der Alte die Hand und drückte sie. An der Hand zog er Ralf hinein ins Haus.
Die Barackenstadt wuchs.
Von Tag zu Tag dehnte sich das Lager aus, die Zelte, die in den ersten Tagen als Unterkunft dienten, verschwanden immer mehr. Schon saßen die ersten Bauern und Mädchen in Bonellis Kantine zusammen und tranken Bier und Slibowitz. Ein Mandolinenorchester der Italiener gab sein erstes Konzert am Rande des Waldes, umflackert von romantischen Lagerfeuern. Die Mädchen wiegten sich im Takt der fremden, heißen Melodien, die ersten Schimpfworte wurden ge-wechselt, weil ein Trupp von drei Arbeitern zwei Hühner organisiert hatte.
Pietro Bonelli hatte schon am zweiten Tag sein Glück als unwiderstehlicher Liebhaber versucht. Ihm war auf der Dorfstraße Katja begegnet, Katja Dobor. Sie war ein Bauernmädchen und wohnte drei Häuser weiter als Rosa. Sie war ein strammes Geschöpf mit kräftigen Armen, festem Busen und langen, schlanken Beinen. Bo-nelli war auf der Straße stehengeblieben, hatte seinen lockigen Schädel gerieben und vor sich hingepfiffen. »Cara mia!« hatte er gemurmelt. »Die Welt ist schön!« Und Katja Dobor war stehengeblieben wie er, hatte sich umgedreht und gesagt: »Josef wird dir die Knochen brechen.«
Diese Worte fand Bonelli recht unschön. Er sann auf Rache und bestürmte Meerholdt am nächsten Tag mit einem lauten Klagegesang.
»Ich brauche Hilfe!« stöhnte er und hob beschwörend beide Hände. »Herr Ingenieur . ich schaffe es nicht mehr! Die Küche, der Ausschank, das Spülen, das Einkaufen, das Disponieren, das Überwachen . und alles mit vier Mann! Mit vier Dummköpfen, die zu blöd sind, auf ihre eigenen Sachen aufzupassen. Gestern wurde ein Sack Mehl gestohlen ... heute war es ein Karton mit Eiern! Es ist zum Verzweifeln! Ich brauche Personal, Herr Ingenieur . vor allem weibliches Personal! Küchenmädchen, Spülmädchen, Mädchen, die Kartoffeln, Möhren und Rüben schälen, die backen können. Maria mia ... ich arbeite mich hier tot!«
Er trocknete den Schweiß von der Stirn und sah Ralf Meerholdt treuherzig an. »Ich bin ein gebrochener Mann, Herr Ingenieur . meine Küche steht am Rande des Abgrundes!«
»Ich werde versuchen, Mädchen zu bekommen«, versprach Meerholdt. »Wenn sich keine melden, müssen wir schichtweise einen Küchenhilfsdienst einrichten.«
»Mit Männern? Unmöglich!« schrie Bonelli. »Die klauen mir alles! Ich brauche Mädchen, ehrliche Mädchen.«
»Dann versuche, ob du welche bekommen kannst.«
Bonelli verdrehte die Augen. »Ich werde es versuchen, Herr Ingenieur.« Er rannte aus der Baracke und machte sich auf den Weg zu dem Hause der Dobors.
Katja stand neben dem Brunnen und mahlte zwischen zwei Steinen Hirse, als Pietro heranmarschierte. Sie sah ihm entgegen und drehte weiter die beiden schweren Mühlsteine. Bonelli sah ihr eine Zeitlang zu, indem er sich auf den Brunnenrand setzte und eine Zigarette rauchte.
»Schwer, nicht wahr?« fragte er dann.
Katja blickte wütend auf. »Wenn die Männer nicht alle Flegel wären, hättest du mir längst geholfen!«
»Jeijeijei.« Bonelli warf die Zigarette weg. »Ich bin gekommen, um dich mitzunehmen.«
»Mich?!«
»Ja.«
»Wohin?«
»Zu mir.«
Katja richtete sich auf und stemmte die Arme in die Seiten. Ihre volle Brust spannte das Kleid, und Bonelli schnaubte durch die Nase vor Begeisterung. »Weg!« rief sie. »Weg von hier! Wenn ich es Josef sage, erschlägt er dich!«
»Josef! Wer ist Josef? Um Bonelli zu schlagen, muß man Weltmeister sein! Ich trage einen ganzen Ochsen auf dem Rücken ins Haus.« Er spannte die Muskeln und zeigte Katja seinen Oberarm. Als er sah, daß dieses Schauspiel bei Katja keinen Eindruck hinterließ, senkte er den Arm. »Du sollst mir in der Küche helfen . der Ingenieur sagt es.«
»Der Herr, der bei Rosa wohnt?«
»Ja.«
Sie nickte. Ein verstecktes Lächeln huschte durch ihre Augen. »Nur weil es der Herr sagt.«
»Du kommst?!« Bonelli sprang vom Brunnen. Ich könnte die ganze Welt umarmen, dachte er.
»Weil es der Herr will.«
»Morgen um 7 Uhr. Nein, schon heute ... gleich!«
Sie nickte und ging ins Haus. Beschwingten Schrittes eilte Bonelli in seine Kantinenbaracke zurück und schmückte sein Zimmer mit frischen Blumen. Er vergaß nicht, sein Bett aufzudecken ... ein gutes, stabiles amerikanisches Feldbett, über dessen Bespannung er eine weiche Auflegematratze einladend gebreitet hatte. »Wenn das keinen Eindruck macht«, sagte er sinnend, »gehe ich zur Kolonne und mische Zement.«
Am Abend trat Katja mit sechs anderen Mädchen den Dienst in der Küche an. Da sie nicht allein kam, hatte Bonelli keine Gelegenheit, seine weiche Auflegematratze zu zeigen. Fluchend lief er herum, trat einen kleinen Lehrjungen in den Hintern, weil er Soße beim Auftragen verschüttete, und saß dann mißmutig hinter seinen Flaschen und sah auf die Arbeiter, die ihr Abendessen holten.
Am nächsten Morgen lief Bonelli jammernd mit einem blauen Auge herum. Keiner wußte, wie er dazu gekommen war ... nicht einmal Bonelli selbst. Mit weinerlichem Gesicht erzählte er jedem, der es wissen wollte, wie er am Abend hinter die Baracke ging, um aus dem Vorratsschuppen noch eine Seite Speck zu holen. Dabei sei ihm eine Faust aus der Dunkelheit direkt ins Auge gefahren, und als er wieder vom Boden aufstand, war niemand mehr zu sehen.
»Ein Dieb!« rief er immer wieder und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ein Dieb, den ich überraschte! Oh - wenn ich den Kerl erwische!«
Der Kerl saß unterdessen bei Katja am Brunnen und kühlte einen Riß in seiner Faust.
»Ich bringe ihn um!« sagte er immer wieder. »Ich schlage ihn zusammen wie einen Stamm!«
Die Bohr- und Ausschachtungsarbeiten nahmen Meerholdts Zeit so in Anspruch, daß er wenig Zeit für Rosa hatte. Selbst in der Nacht setzte er die hektische Tätigkeit fort, die er schon in Foca gezeigt hatte . mit starkem Kaffee, den ihm Bonelli selbst brachte, und Pak-kungen starker amerikanischer Zigaretten hielt er sich wach und arbeitete mit zwei jungen Technikern an den Plänen.
Abwechslung brachte in dieses Einerlei nur Bonelli, der am fünften Tag, an dem das linke blaue Auge sich wieder normal färbte, mit einem rechten blauen Auge erschien.
»Ich habe ihn gesehen!« schrie er dieses Mal. »Es war ein großer Kerl, ein Bulle von einem Kerl! Oh - ich könnte ihn in der Luft zerreißen!«
Daß die Verfärbung seiner Augen mit dem plötzlich erwachten Interesse Katja Dobors für seine Kantine in Zusammenhang zu bringen waren, kam Pietro Bonelli nicht in den Sinn. Auch daß Katja endlich das schöne amerikanische Feldbett gesehen hatte und sich auf die weiche Unterlage setzte - zum Hinlegen war sie noch nicht bereit, was Bonelli sehr bedauerte - und hinterher bei Josef Lukacz davon schwärmerisch erzählte, trug nicht dazu bei, das Leben Bo-nellis ruhiger zu gestalten. Eigentlich war es bisher der einzige, der in Zabari die Mißachtung des Fremdartigen handgreiflich erfuhr, und nur der Gedanke, daß es ein überraschter Dieb gewesen sein könnte, der ihn überfiel, rettete dem Barackenlager die Anwesenheit des lamentierenden Italieners.
Jossip Petaki, der Schäfer, kam nicht mehr ins Tal zurück. Er verkroch sich in seiner Hütte inmitten der Felsen und beobachtete aus der Ferne das ameisenhafte Treiben außerhalb Zabaris an dem kleinen Talkessel. Dann flog ein finsteres Grinsen über seine Züge, und er schaute empor zu dem über Zabari hängenden Felsen, zu dem schützenden Hang, unter dem sich das Dorf vor den Unbilden der Natur geduckt hatte. Ein Schein von Zufriedenheit überflog jedesmal sein Gesicht, wenn er an die Quelle herantrat, die aus dem Felsen kam, und in ledernen Eimern Wasser in seine Holzhütte trug.
Er hatte Zeit, ja, die Zeit arbeitete für ihn. Was wußten die kleinen Menschen dort unten, wie mächtig die schwarzen Berge waren! Sie wühlten die Erde auf, sie rodeten die Wälder, sie gruben Felsen aus, sie sprengten das Gestein und gossen zwischen Eisen und Holz dicke Mauern vor das Tal. Sie wollten die Natur bezwingen, sie woll-ten Gottes Schöpfung korrigieren. Jossip lachte darüber und stand über Zabari in den Felsen, ein einzelner Mensch, der daran glaubte, daß die Neuzeit nicht stärker war als das Gesetz der Berge.
Ralf Meerholdt blieb erstaunt vor dem langen Schanktisch Bo-nellis stehen, als er Rosa mit anderen Mädchen Gläser spülen sah. Er winkte Bonelli herbei und zeigte auf sie.
»Was soll das?«
»Meine Mädchen!« antwortete Bonelli stolz. Sein rechtes Auge war gelb geworden, und jeder im Lager wartete darauf, wann das linke wieder blau erglänzte.
»Was soll denn Rosa dort?«
»Rosa? Die Schwarze? Die kam vor drei Tagen zu mir und wollte Sie sprechen. >Kind<, habe ich zu ihr gesagt. >Der Herr Ingenieur hat keine Zeit! Von morgens bis abends und in der Nacht arbeitet er. Was willst du von ihm?< - >Nichts<, sagte das Mädchen. Und plötzlich besann sie sich und meinte: >Haben Sie keine Arbeit für mich?<« Bonelli hob die Schultern. »Arbeit habe ich immer . und nun ist sie hier.«
Meerholdt nickte. »Es ist gut, Bonelli.« Er ließ den Kantinenwirt stehen und trat an den Tisch heran. Über die Gläser hinweg faßte er Rosas Hand und hielt sie fest, als sie ein Glas ins Wasser tauchen wollte.
Sie sah ruckartig auf. Ihr Blick war traurig.
»Sie kennen mich noch?« Ihre Lippen zitterten.
»Sei nicht dumm, Rosa.« Er nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es zur Seite. »Wenn die Vorarbeiten fertig sind, habe ich mehr Zeit.«
»Ich glaube es nicht.«
»Aber Rosa!« Er versuchte, sie heranzuziehen, aber sie entriß ihm den Arm und trat zurück an die Hinterwand. »Du liebst mich nicht mehr!« In ihre Augen trat jene Dunkelheit, die Ralf schon erschreckte, als er sie zum erstenmal küßte. »Du bist anders als damals. Und ich habe mich so gefreut auf dich.«
»Die Arbeit, Rosa ... der Damm! Er ist wichtiger als wir.«
»Es gibt für mich nichts Wichtigeres als dich.«
Natürlich, dachte er. Was weiß sie von dem, was hier entsteht? Sie ist ein Kind der Natur, sie kennt nur Liebe und Haß, Leben und Vergehen, Geben und Nehmen. Alles in ihr ist einfach, so klar, so unabwendbar wie der Lauf der Sonne und die Schatten des Mondes, wie der Einbruch des Winters und die Trockenheit des Sommers.
Er beugte sich vor und nahm wieder ihre Hand. Sie entzog sie ihm nicht, aber sie rührte sich auch nicht von der Wand.
»Du hast recht, Rosa«, sagte er versöhnlich. »Wir wollen heute abend Spazierengehen. In den Wald oder dorthin, wo du am liebsten sitzt.«
»Wo ich immer an dich gedacht habe.«, sagte sie leise. In ihre Augen trat ein glücklicher Schimmer. »Ich warte auf dich. Wenn der Mond über der Spitze des Waldes steht, bin ich hinter dem Haus im Garten.«
Er drückte ihre Hand und ging.
Wenn der Mond über der Spitze des Waldes steht, dachte er. So etwas gibt es noch auf unserer nüchternen Welt! Keine Uhrzeit, kein Hasten, kein Sklave des schleichenden Zeigers auf einem phosphoreszierenden Zifferblatt. Der Mond ist es, der die Zeit sagt, der Mond über der Spitze des Waldes.
Er ging hinüber zu den Baustellen. Zwei Italiener schrien auf einen Bauern ein, der mit einem Ochsenkarren vom Feld kam und mit der Deichsel eine Tonne mit Kalk umgestoßen hatte. Auf der Sohle des Tales wuchs das Gerüst für den Betonguß empor. Mächtige Bretterwände, durchzogen mit Eisenträgern und riesigen Stahlgeflechten, schoben sich empor. Die Planierraupen zogen die von den Motorsägen gefällten Stämme über den Boden des Tales in eine Seitenschlucht, während an den hohen Kränen die Verschalungen und Träger in die Tiefe pendelten.
Die Schachtmeister und Vorarbeiter, an denen Ralf Meerholdt vorbeikam, meldeten ihm den Fortgang der Arbeit. Auf einem Gerüst, das in halsbrecherischer Art fast frei, nur auf einer Felsnase auflie-gend, über das Tal ragte, stand einer der jungen Techniker und erklärte auf einem großen Bauplan einem Meister die weiteren Teile.
Meerholdt blieb am Rande des Tales stehen und überblickte das Werk. Es waren seine Pläne, seine Gedanken, seine Träume, die hier zu Stahl, Beton und Erde wurden. Er schuf hier eine neue Welt, von der keiner in Zabari ahnte, was sie für das stille, unbekannte Dorf bedeutete. Schon schoben sich die Straßenbaukolonnen meterweise an die Abgeschiedenheit heran . der schmale Weg wurde verbreitert, die Felsen wurden gesprengt, gekappt. Tunnels wurden gebohrt und Brücken - vorerst nur aus Holz - über kleinere Schluchten gelegt. Die Zivilisation fraß sich in die schwarzen Berge hinein, der Fortschritt kannte keine Hindernisse ... ein Märchenreich wurde erobert, ein Dornröschen der Erde gewaltsam aus dem Schlaf gerissen. Es gab nicht mehr den zarten Kuß des Märchens . das Stampfen von Rammern und das Geheul von Dieselmotoren erschütterten die Berge und rissen Wunden in die Erde, damit sie schöner werde, fruchtbarer und schrecklicher.
In Belgrad saß man über den Karten und Plänen und verfolgte den Fortschritt der Arbeiten. Jeden Tag rief Direktor Osik aus Zagreb über die neue, provisorisch gelegte Leitung an. Jeden Tag auch sprach Elena mit Ralf und schickte ihm Küsse durch den Draht. »Ich habe solche Sehnsucht, Sascha«, sagte sie. »Wenn ich dich wiedersehe, erwürge ich dich vor Glück.«
Der Zwiespalt seines Inneren war vollkommen. Er wußte in seinem Hin- und Hergerissensein nur eins: Nie durfte Elena nach Zabari kommen, solange Rosa hier war. Und wenn sie kam, mußte Rosa aus dem Dorfe fort. Er dachte einen Augenblick daran, sie nach Plewlja zu schicken. Dort lagen eine kleine Materialkolonne und ein Ersatzteillager aus Titograd. Rosa konnte dort in einem sauberen Zimmer wohnen, und er hatte manchmal Gelegenheit, sie unter dem Vorwand zu besuchen, die Teile selbst aussuchen zu müssen. Sie würde dann aus der Rauheit der Berge fortkommen, sie würde das Leben außerhalb der Schluchten kennenlernen, jenes Leben, das sie so liebte, ohne zu wissen, wie beschwerlich es war, mit ihm noch ein so herrlicher Mensch zu sein wie Rosa ... ein Mensch ohne Lüge, ohne Intrige, ohne Falsch, ohne Mißgunst und Neid.
Von den Baustellen ging Ralf Meerholdt hinüber zu den Baracken der Arbeiter, zu den Schlossereien, Schmieden, Tischlereien und Autowerkstätten. Der Fahrer des Abschleppwagens saß am Rande eines Baches, der außerhalb der Werkstatt vorbeifloß, und kühlte eine dicke Beule auf dem Kopf.
»Ist dir ein Motor auf den Kopf gefallen?« fragte Meerholdt und lachte. Der Monteur, der an einem Getriebe arbeitete, richtete sich auf.
»Er hat den Motor zu sehr überdreht!« sagte er und lachte mek-kernd. »Er wollte mit Vollgas an die kleinen Mädchen gehen. Aber leider lag was im Weg, nämlich der Bräutigam.«
Das Gesicht Meerholdts wurde ernst. Er winkte den Fahrer heran und nahm ihn bei den Rockaufschlägen. »Das ist eine Sauerei, Kerls, eine verfluchte Schweinerei! Wir sind hier in einem fremden Land. Ihr kennt die Ansichten der Montenegriner, ihr wißt, daß sie allem feindlich gegenüberstehen, was in die Ruhe ihres Lebens einbricht. Für sie sind wir Eroberer, und wir haben die verdammte Pflicht, uns so zu benehmen, daß sie Zutrauen fassen und uns helfen, statt uns das Leben noch schwerer zu machen, als es schon ist.«
»Ich habe eines von den Mädchen nur in den Hintern gekniffen.« Der Fahrer zog ein Gesicht und befühlte seine Beule. »Am Abend kommt so ein dreckiger Kerl in die Werkstatt, so ein richtiger Mistkerl, nach Kuh und Bock stinkend, sieht mich groß an, und ohne ein Wort zu sagen, nimmt er einen Knüppel und haut mir eins über den Schädel, daß ich eine halbe Stunde lang in der Ecke lag.« Er ballte die Fäuste und schüttelte sie vor Meerholdts Augen. »Und wenn Sie hundertmal von Freundschaft sprechen, Herr Ingenieur -ich habe mir diese Visage gemerkt, und wenn ich ihn treffe, schlage ich drauf wie auf kaltes Eisen.«
Kopfschüttelnd wandte sich Meerholdt ab und ging weiter, dem Ersatzteillager zu. Der unzulängliche Mensch, dachte er. Wohin er
kommt, schafft er Unruhe und Streit.
Am nächsten Tag wurde der Fahrer versetzt. Er kam nach Niksic zu seiner Kolonne, die Baubretter und Zement von Cetinje holte und in Niksic stapelte.
Als der Abend kam, verließ Meerholdt seine Ingenieurbaracke und schloß den Raum mit den Kartentischen, den Reißbrettern und den Pausapparaten ab. »Schluß für heute!« meinte er zu den beiden jungen Technikern. »Ruht euch aus, sauft nicht zuviel, sondern geht ins Bett. Morgen raucht euch wieder der Kopf..« Er grüßte und ging langsam dem Wald zu, an dessen Rand ihn Rosa erwarten wollte. Wenn der Mond über den Spitzen des Waldes steht ... er schaute empor in den abendlichen Himmel und sah den Mond noch weit in den Felsen stehen. Eine gute Stunde noch, rechnete er sich aus. Eine Stunde Herzklopfen und Gewissensqual gegenüber Elena.
Während er sich auf einen gefällten Stamm setzte und die Nachtschicht beobachtete, die unter großen Flutlichtscheinwerfern, welche ihren Strom von riesigen Batterien empfingen, die auf Spezialwagen tagsüber aufgeladen wurden, Verschalungen für eine Stützmauer aus Beton zimmerten, hockte Bonelli auf einem Stuhl an der Tür des hinteren Küchenausganges, einen dicken Knüppel in der Hand und zitternd vor Erwartung und Wut. Sein linkes Auge war gut verheilt, und er erwartete den Angriff auf dieses beliebte Objekt seines unbekannten Gegners. Zur Sicherung hatte er am Tage in aller Heimlichkeit Fußangeln und Selbstschüsse rund um die Tür und auf den Weg zum Vorratsschuppen gelegt. Nun wagte er selbst nicht mehr, vor die Tür zu treten, da er in seinem Racheeifer vergessen hatte, wo die Selbstschüsse lagen und wo sich die gefahrlose Gasse zum Vorratsschuppen hinzog.
Die Beule des Fahrers hatte ihn nachdenklich gemacht. Sie war offensichtlich eine Beule der Eifersucht. Diese Erkenntnis nagte schwer am Herzen Bonellis, denn Katja Dobor hatte gestern abend in der Küche Überstunden gemacht, und es war zufällig so, daß sie allein war und die anderen Mädchen von den Überstunden nichts wußten. Bonelli hatte eine Flasche Likör entkorkt, einen süßen Kakao
mit Nuß, und ein Gläschen an Katja gegeben, zur Aufmunterung natürlich und damit sie nicht müde würde bei der schweren Arbeit.
Als Katja Dobor nach einer Stunde ging, hatte er sie geküßt. Weil sie stillhielt und seine Zärtlichkeiten mit einem süßen Lächeln duldete, schwoll der Mut in Bonellis Seele, und er beschloß, die Überstunden ab morgen auszudehnen und seine weiche Matratze vorausschauend frisch zu überziehen.
Das alles trug allerdings nicht zur Sicherheit seiner Person bei. Im Gegenteil erwartete er nach dem Überstundeneifer Katjas einen neuen Angriff des Gegners aus dem Dunkeln, der diesesmal in ein Feld von Selbstschüssen und Fußangeln geraten würde. Bonelli rieb sich die Hände, wenn er sich ausmalte, wie der starke Josef auf dem Boden lag, umgeben von knallenden Feuerwerkskörpern, festgehalten von einer Schlinge um seine Knöchel, und Bonelli stand über ihm und gerbte ihm mit dem dicken Knüppel wortlos und grinsend das Fell.
Bonelli sah auf die Uhr, die an der Wand tickte, eine alte, runde Küchenuhr, die überall auftauchte, wo Bonellis Kantine erschien. Sie war die einzige Erinnerung an sein Elternhaus . sie tickte in der Küche über dem Tisch, an dem er als Kind seine Spaghetti aß. Madonna mia - Spaghetti!
Noch eine Viertelstunde, durchfuhr es Bonelli. Fast auf die Minute genau hatte der Unbekannte zugeschlagen.
Bonelli erhob sich, er klinkte die Tür auf und trat hinaus auf den Hof. Die Dunkelheit umfing ihn schwarz und feindlich ... er blinzelte ein wenig, um seine Augen an den Wechsel zu gewöhnen. Er schloß die Tür, faßte seinen Knüppel fester und drehte sich dann um, um vorsichtig zum Schuppen zu gehen.
Der Weg wurde ihm erspart. Als er sich von der Tür wegdrehte, machte es bumm, aus dem Dunkel sauste eine Faust hervor, bohrte sich in sein linkes Auge und erzeugte einen Himmel voller zuk-kender Sterne.
Bonelli brüllte auf, er schwang seinen Knüppel, im ungewissen Licht sah er einen Schatten zum Schuppen rennen. »Halt!« schrie
er. »Lump! Schuft! Dreckskerl!« Er rannte dem Schatten nach und fiel mit einem Schrei der Länge nach auf den Boden. Im gleichen Augenblick umkrachten ihn die Selbstschüsse, ein Feuerwerk umknatterte die liegende und sich windende Gestalt.
Der Schatten war längst in der Dunkelheit untergetaucht, als Bo-nelli endlich auf die Beine sprang und durch sein Minenfeld ins Haus wankte. Er griff nach der schon bekannten Flasche mit 90prozentigem Alkohol, goß Wasser in eine Emailleschüssel, verdünnte den Alkohol und begann, sein sich schließendes linkes Auge mit knirschenden Zähnen zu kühlen.
Ein Blick in den Spiegel ließ ihn fast weinen. Sein Gesicht war aufgedunsen. Der letzte Schlag hatte nicht nur das Auge, sondern auch die Nase mitgetroffen. Es mußte eine große Faust sein, die eine halbe Gesichtshälfte mit einem Schlag deformierte.
Bonelli schlurfte zu seinem amerikanischen Bett und sank auf die frischbezogene Matratze. Morgen wird Katja hierbleiben, schwor er sich. Die ganze Nacht! Und wenn dieser Josef den Mond anheult wie ein Schakal ... sie bleibt! Verdammt, ich liebe sie! Ich werde sie sogar heiraten! Pietro Bonelli ist ein anständiger Mann! Katja Bonelli - das war ein schöner Name ... und dann die Reihe der Bambinos . jedes Jahr ein Bambino . Carissima - was sind dagegen drei blaue Augen und eine schiefe Nase.
An diesem Abend war nicht nur Josef Lukacz unterwegs, sondern auch Jossip strich durch den Bergwald wie ein hungriger Wolf.
Er hatte gesehen, daß Ralf Meerholdt von den Baustellen empor zu den gefällten Stämmen stieg. Daß er allein ging, mußte seinen Grund haben. Mit dem sicheren Instinkt des Naturmenschen dachte Jossip an Rosa. Sein Herz krampfte sich zusammen, und er schlich durch den Wald, lautlos, mit den Schatten des Mondes wandernd, bis er zwanzig Meter oberhalb des Stammes auf dem Boden lag, an den sich Ralf lehnte und auf Rosa wartete.
Vom Tal herauf zog der Widerschein der Flutlichtscheinwerfer an der Staumauer. Über diesem Teil der schwarzen Berge war der Himmel fahl wie über einer Großstadt, die sich mit ihrer nächtlichen
Lichtglocke schon weit dem Ankommenden ankündigt. Das Hämmern und Stampfen der Betonmaschinen, das Motorengeräusch der Lastwagen und das Kreischen der Raupenschlepper tönte dünn durch die Stille.
Meerholdt sah empor. Der Mond war weiter gewandert, jetzt stand er am Ausgang der Felsen und würde bald die Spitzen des Waldes berühren. Er erhob sich und ging den Hang hinab, der Hütte Fedors zu. Im Garten hinter dem Haus wollte Rosa warten. Jossip glitt ihm nach, von Stamm zu Stamm, mit tierhafter Geschmeidigkeit und der Lautlosigkeit einer Katze.
Rosa stand schon zwischen den Blumenbeeten und wartete. Stumm umfing sie Ralf und drückte sich an ihn. So standen sie eine lange Zeit, jeder nur den Körper und die Wärme des anderen fühlend, den Herzschlag und den Atem, der schneller die Brust hob und senkte. Dann küßten sie sich, innig, mit der Hingabe völliger Versunkenheit.
Rosa hatte wieder ihr leinenes Kleid an, aus dessen weitem Ausschnitt die Schultern und der Hals weiß emporwuchsen, umrahmt von den langen, schwarzen Haaren. Aber dieses Haar und die Haut des Gesichtes, des Halses und der Schultern dufteten süß nach Rosen. Ralf legte den Kopf an ihre Brust, und ein Schauer durchfuhr ihn. Sie hat den ganzen Körper mit Rosenöl eingerieben, stellte er schweratmend fest. Den ganzen Körper, wie es die Braut tut, wenn sie das Hochzeitsbett gerichtet hat und den Bräutigam erwartet. Der süße Hauch nahm ihm die Sinne, er vergrub das Gesicht in ihren Haaren und küßte die Beugung ihres Halses und die Schulter, die unter seiner Berührung erschauderte.
»Wir sind wahnsinnig, Rosa«, stieß er hervor. Wieder sprach er in seiner Erregung deutsch, und sie verstand ihn nicht und lächelte selig. »Wir verbrennen uns, und die Asche wird der Wind in die Berge wehen. Wir müssen vernünftig sein, wir dürfen es nicht, Rosa ... und wenn es noch so schwer für uns ist.« Er schloß die Augen und atmete den süßen Hauch ihrer Haut ein.
Er wußte, wie sie das Öl hergestellt hatte. Frische Rosenblätter wer-den zerrieben und einige Tage in einem geschlossenen Behälter, mit Wasser und Wein vermengt, aufbewahrt. Dann filtert man die Flüssigkeit und läßt das meiste Wasser in der Sonne verdunsten, bis nur ein wenig Öl übrigbleibt - das wundervoll duftende, starke Rosenöl, das Brautöl der schwarzen Berge.
Er nahm ihre Arme von seinem Hals und führte sie aus dem Garten fort den Hang hinauf in den Wald. Umschlungen gingen sie durch die helle Mondnacht, schweigsam, denn was soll ein Mund sagen, der sich nach Küssen sehnt.
Sie sahen nicht den Schatten, der vor ihnen den Berg hinaufglitt. Jossip schlich zurück in die dunklen Tannen. Seine Hände bluteten . er hatte die Nägel seiner Finger in die Innenflächen gegraben, zitternd, sich beherrschend, aufgelöst in einen Vulkan aus Rache und Eifersucht. Er rannte geduckt von Stamm zu Stamm, bis er in den Tannen stand, nahe dem Felsen, der Zabari schützte. Dort bückte er sich und ergriff einen großen Stein. Er wog ihn in der Hand. Das Blut seiner aufgerissenen Handflächen färbte ihn rot.
Ralf und Rosa hatten sich gesetzt. Die Köpfe aneinandergelehnt, sahen sie hinab ins Tal, über das dunkle, lichtlose Dorf, die erleuchteten Baracken und die Baustelle unter dem Flutlicht der Scheinwerfer.
»Wie lange wirst du bei uns bleiben?« fragte Rosa und streichelte seine Hände, die auf ihren Knien lagen.
»Vielleicht zwei Jahre.«
»Zwei Jahre?« Sie hielt den Atem an. »Zwei ganze Jahre?«
»Ja.«
Auch ihm kam die Zeit unendlich vor . zwei Jahre, welch eine Fülle von Schicksal umschloß dieser Begriff. Welche Seligkeit von Liebe und Hingabe, welche Gefahren und welches Meer von Tränen, die geweint werden würden. Elena kam ihm in den Sinn - wirklich, er konnte an Elena denken, während er neben Rosa saß und ihre Schultern liebkoste. Das machte ihn verwirrt. Elena ... sie hatte vor zwei Stunden wieder angerufen. »Ich bin krank«, hatte sie gesagt. »Ich bin krank vor Sehnsucht, Sascha. Ich sitze am Fenster und starre auf das schmutzige Wasser der Drina. Eine Brücke geht über sie, eine alte, gebogene Steinbrücke, und die Steine bröckeln ab und fallen ins Wasser. Eines Tages wird sie einstürzen, Sascha. So wie diese Brücke bin ich . jeder Tag ohne dich bricht ein Stück aus mir heraus. Ich schlafe nicht mehr - ich weine, ich esse nicht mehr -ich sitze am Fenster und träume von dir. Sascha, wann kommst du. Wann darf ich zu dir ... mein lieber, lieber Sascha.«
Rosa rührte sich an seiner Seite. Wie ein Reh lauschte sie in die Nacht. Sie hatte ein Geräusch gehört, ein Scharren, das Hinabrollen von losgelösten Steinen. Sie wollte aufspringen, aber der Anblick, den sie beim Herumdrehen hatte, lähmte sie. Eine dunkle Gestalt hob sich gegen den Nachthimmel ab. Sie hob einen Arm, der Arm schnellte vor - mit einem grellen Schrei warf sich Rosa über Meer-holdt und riß ihn mit sich zu Boden. Klatschend fiel der schwere Stein neben ihnen auf den Waldboden und rollte dann den Hang hinab.
Meerholdt schleuderte Rosa zur Seite und sprang auf. Er sah eine Gestalt, die den Hang hinauflief. Keuchend lief er hinterher, stolpernd übersprang er die gefällten Baumstämme und hetzte dem Walde zu. Die Gestalt blieb einen Augenblick stehen und blickte zurück. Dann rannte sie weiter und tauchte im Walde unter.
Als Meerholdt den Waldrand erreichte, ausgepumpt und mit Schweiß bedeckt, umgab ihn die Stille der Einsamkeit. Er lehnte sich an einen Baum und atmete schwer.
»Komm hervor, wenn du kein Feigling bist!« rief er laut. »Komm - wir sind allein! Wer seinen Gegner von hinten anfällt, ist ein erbärmlicher Schuft!«
Er lauschte. Nichts rührte sich zwischen den dunklen Stämmen. Zehn Schritte vor ihm, hinter einem Busch, kniete Jossip und hielt den Atem an. Seine Hände bluteten und schmerzten. Hätte ich ein Messer, dachte er. Mein Schurmesser, mein schönes, langes Schurmesser. Aber er war wehrlos, und mit seinen blutenden Händen wagte er nicht, dem Feind gegenüberzutreten. So kauerte er hinter einem Busch und sah zu, wie Meerholdt sich abwandte und hinab-stieg zu Rosa.
Er traf sie im Garten hinter der Hütte Fedors wieder. Sie saß auf einer Bank und weinte. »Er wollte dich töten«, sagte sie leise. »Er hat den Stein nach dir geworfen.«
Ralf nickte. »Wenn ich nur wüßte, wer es war! Ich habe keine Feinde im Ort.«
Von der Seite her blickte Rosa auf sein Gesicht. Es war bleich im Mondlicht, kantig und ernst. Die blonden Haare lagen um seinen Kopf, klebrig von Schweiß. Er weiß nichts von Jossip - woher sollte er es auch wissen? Niemand hatte ihm gesagt, daß sie Jossip seinetwegen abwies und ihn schlug, als er den fremden Herrn beleidigte. Sie schämte sich, es ihm zu sagen, und Fedor und Marina schwiegen aus Angst vor der Rache Jossips. Noch lagen die Felle hinter dem Haus. Niemand rührte sie an. Und immer, wenn Fedor an der Stelle vorbeikam, an der er die abgestochenen Lämmer Jos-sips in der Nacht vergraben hatte, durchschauderte ihn Angst, daß dieses Blut einmal über sein Haus käme wie ein Fluch, der sich von Geschlecht zu Geschlecht vererbt.
»Du hast keine Feinde«, sagte sie langsam.
Meerholdt setzte sich zu Rosa und nahm ihre Hände.
»Du mußt von Zabari fort. Ich werde dich nach Plewlja bringen. Dort kannst du ruhig wohnen und niemand verfolgt uns.«
»Und du? Du kommst mit.«
»Ich muß hier bei meiner Arbeit bleiben«, wich er aus.
»Ich soll allein in die fremde Stadt gehen?«
»Ja.«
Ihre Augen waren traurig, sie schüttelte den Kopf. In diesem Schütteln lag eine Festigkeit, die keine Widerrede duldete. »Ich gehe nicht ohne dich.«
»Ich komme dich jede Woche besuchen, Rosa. Ich muß oft nach Plewlja und neue Hölzer kaufen.«
»Ich gehe nicht ohne dich«, sagte sie starrköpfig. »Wer soll dich schützen, wenn er dich wieder angreift.«
»Er wird es nicht wieder wagen.« Er sah hinauf zu dem Wald, der dunkel im Schatten der Felsen lag, feindlich und fremd. »Hast du erkennen können, wer es war?«
Sie schloß die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie mühsam. »Nein ... es war zu dunkel.« Dann weinte sie und barg den Kopf an seiner Brust. »Ich lasse dich nicht allein«, flüsterte sie. »Ich lasse dich nie mehr allein. Wer dich tötet, tötet auch mich! Es gibt kein Leben mehr ohne dich.«
Sie weinte und verbarg den Kopf aus Scham. Sie hatte gelogen, sie hatte den Unbekannten gesehen, sie wußte, daß es Jossip war. Und sie log, weil sie Angst hatte. Angst vor Jossip und Angst um das Leben Ralfs.
Es war die erste Lüge in ihrem Leben, und sie empfand sie wie eine ungeheure Sünde.
Bevor Ralf Meerholdt die Tür seiner Konstruktionsbaracke aufschloß, ging er noch einmal hinüber zur Kantine und klopfte an die Tür Pietro Bonellis.
Zunächst geschah nichts. Bonelli saß hellwach im Bett und tastete leise nach seinem Knüppel, der neben ihm auf der Erde lag. Auch als es ein zweites Mal klopfte, öffnete Bonelli nicht, sondern schlich aus seinem Bett zur Tür, sah kurz auf die Uhr und kämpfte mit seiner Feigheit, entweder nicht zu öffnen oder aus dem Fenster um Hilfe zu rufen. Wer sollte nachts um 1 Uhr an die Tür hämmern, wenn nicht der Beschützer Katjas?! Das linke, blaue Auge stach und klopfte, die Nase war geschwollen und juckte. Das genügte vollauf, ihn vorsichtig zu machen.
Es klopfte wieder. Bonelli seufzte auf. Die Liebe ist ein hartes Ding, stellte er fest und nickte weise zu diesem Gedanken.
»Wer da?« stotterte er und hob den Knüppel, als könne der Unbekannte durch die Türfüllung kommen.
»Meerholdt«, sagte Ralf laut.
»Der Ingenieur?« Bonelli lachte leise. »Das ist ein dummer Witz, Freundchen. Der Herr Ingenieur liegt längst im Bett. Mach, daß du fortkommst, sonst schlage ich dir den Schädel ein!«
Es hebt das Selbstbewußtsein, solche Worte hinter einer sicheren und fest verschlossenen Tür zu sprechen. Auch Bonelli fand, daß er heldenhaft gesprochen hatte und ließ den Knüppel in seiner Hand wippen.
Ralf schüttelte den Kopf und klopfte noch einmal an der Tür. »Bonelli«, sagte er laut. »Machen Sie auf und geben Sie mir eine Flasche Kognak. Ich weiß, Sie haben einen Napoleon in Ihrer Geheimkiste.«
Bonelli riß die Augen auf, so gut er das noch vermochte, und ließ den Knüppel fallen. Napoleon, durchfuhr es ihn. Das kennt nur einer - der Ingenieur. Die anderen können das nicht einmal aussprechen. Aber der Ingenieur, ja, das ist ein gebildeter Mann. Er schloß die Tür auf und knipste das Licht an. Verblüfft betrachtete ihn Meerholdt und trat ins Zimmer.
»Wieder das linke, Pietro?« sagte er. Was er früher als eine scherzhafte Abwechslung des täglichen Rhythmus betrachtet hatte, gewann jetzt, nach dem eigenen Erlebnis, eine andere Perspektive. Er zog Bonelli, der leicht widerstrebte, unter die grelle Lampe und betrachtete sein Gesicht. »Die Nase auch?«
»Er hat eine verdammt große Faust, Padrone«, jammerte Pietro.
»Und du weißt, wer es ist?«
»Ich ahne es.«
»Es geht also um ein Mädchen, Bonelli?«
»Ja.« Er stockte und sah Meerholdt treuherzig an. »Sie haben mir selbst erlaubt, Katja in die Küche zu nehmen.«
»In die Küche, ja!« schrie Ralf. »Aber nicht ins Bett!«
»Es steht so nahe bei der Küche«, verteidigte sich Bonelli. »Sie hat ein solches Bett noch nicht gesehen.«
»Mein Gott, was seid ihr alles für Kerle?!« Meerholdt setzte sich auf einen Stuhl und schüttelte den Kopf. »Bonelli wechselt die Augenfarbe wie ein Chamäleon, der Fahrer vom Ersatzlager läßt sich eine Beule schlagen, auf andere wird mit Steinen geworfen . alles wegen der Weiber!«
Bonelli seufzte. »Es ist eine rauhe Gegend, Padrone. Aber man gewöhnt sich an sie.«
»Wer hat dich geschlagen?!« fuhr Meerholdt den Italiener an.
»Der Freund von Katja Dobor. Josef heißt er. Josef Lukacz.«
»Und warum zeigst du ihn nicht an? Warum bist du nicht längst zu mir gekommen? Sprich mit ihm am Tag, dann wird er dich in der Nacht in Ruhe lassen!«
»Mit ihm sprechen?« Bonelli schnaufte und betastete seine geschwollene Nase. »Bei dieser Faust sprechen.?«
Es war ein Argument, das Meerholdt überzeugte. Er ließ sich die Flasche Kognak geben und ging zurück in seine Baracke.
Das Erlebnis des Überfalls auf ihn beschäftigte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Er hatte keine Feinde in Zabari, das wußte er. Fedor und Marina hatten ihm immer wieder bestätigt, daß der Bau der Talsperre das Dorf zwar aus seiner Einsamkeit gerissen hatte, in der es seit Hunderten von Jahren verborgen war, aber es war Reichtum in die Hütten gekommen oder das, was die Bauern als Reichtum betrachteten. In Bonellis Kantine und Magazin gab es alles zu kaufen, was die Herzen der Zabariner höher schlagen ließ. Stoffe, bunt bedruckt mit wundervollen Mustern, Seidenschals, merkwürdige leichte und feste Schuhe, Anzüge, wie sie die Männer noch nie gesehen hatten, Hüte aus Filz und Stroh, Hemden aus weißem, leichtem Stoff und Seide, und Slibowitz, herrlichen Slibowitz, der in der Kehle brannte wie hundert Lagerfeuer und nach vier Glas Gesang in die Kehlen der rauhen Bauern zauberte. In vielen Hütten gab es jetzt anstatt der Graslager schon Feldbetten, teuer gekauft mit einigen Hammeln und einem Schwein, das Bonelli dringend brauchte, weil er Katja ein Eisbein mit Sauerkraut vorsetzen wollte, ein Gericht, das niemand in ganz Jugoslawien kannte und das Bonelli auf einer Baustelle in Deutschland kennengelernt hatte.
Es lag also Freude über Zabari. Nur die italienischen Arbeiter waren nicht nach dem Geschmack der Bauern. Sie waren zu feurig und rannten jedem Weiberrock nach, der sich in der Nähe ihrer Baracken zeigte. Nicht Bonelli allein litt das Los verfolgter Kavaliere, auch einige Arbeiter schlugen sich nach der Arbeit mit den jungen Burschen von Zabari herum, wenn der Wein die Gemüter erhitzte und die Beine der Mädchen um die Lagerfeuer wirbelten, die von den Italienern außerhalb des Lagers angezündet wurden. Dort saßen sie dann in der Nacht mit ihren Gitarren und Mandolinen und sangen die melodischen Lieder ihrer Heimat, umstanden von den Bauern und angehimmelt von den Mädchen.
Aber diese kleinen Streitereien verdunkelten nicht die Freude an der Arbeit. Auch die Beule des Fahrers und das wechselnde Auge Bonellis waren kein Alarmsignal einer beginnenden Front der Bauern gegen die Sperrbauten. Man sah in Bonelli so etwas wie den zirkushaften Mittelpunkt des Lagers, sein Auge und neuerlich seine Nase wurden berühmt und waren bald bekannt in Foca und Nik-sic. Die Fahrer trugen seinen Liebesruhm von Ort zu Ort.
Gefährlich allein war der nächtliche Angriff auf Meerholdt, der schwere Steinwurf, der ihn töten sollte. Dieser Stein konnte eine Lawine auslösen, die das ganze Projekt unter sich begrub. Er konnte das Werk vernichten, noch ehe es zu leben begonnen hatte. Dieser Stein war ein Wurf des Hasses, des unbedingten Vernichtungswillens aus dem Dunkeln heraus. Das war es, was Meerholdt quälte. Wer konnte ein Interesse daran haben, ihn zu vernichten? Wer war der unbekannte Feind? Warum aber war er ein Feind?
Es gab Fanatiker, gerade in diesen Bergen, die jeden Fortschritt haßten. Stolze Bergbauern, die lieber ein Leben der schrecklichsten Not erdulden, als die Neuzeit in ihre Hütten kommen zu lassen.
Einmal - es war vor vier Jahren - zog ein kleiner Trupp in die Berge von Sjenica. Landmesser, Geologen, Meteorologen. Sie sollten das Gebiet erforschen und eine Straße von Sjenica nach Budimlje am Lim planen. Ihre letzte Nachricht kam aus Stavaij, einem Dorf am Dugapaß. Von diesem Tage an blieb der Trupp verschollen. Hubschrauber suchten das Gebiet ab, Militär und Polizei kämmten die Dörfer durch, die in der Einsamkeit vegetierten! Nichts! Es blieb ein Geheimnis der schwarzen Berge und der finsteren Bauern, die sich zurückzogen in die Höhlen, wenn das Militär kam.
Lebte in Zabari auch ein Fanatiker, der mit Meerholdt den Bau der Sperre vernichten wollte? Sollte der Stein nur eine Warnung sein vor einem Ereignis, das kommen würde?
Ralf saß am Tisch vor seinen Zeichnungen und grübelte.
Rosa kannte den Täter nicht. Das erschwerte eine Lösung der Probleme. Wenn es ein Bauer des Dorfes gewesen war, hätte ihn Rosa erkennen müssen. Er kam also von außerhalb Zabaris. Ein Sabotageakt? Eine fremde Macht, die kein Interesse daran hatte, daß in Jugoslawien große Elektrizitätswerke entstanden und das Wirtschaftspotential hoben? Ein politisches Attentat?
Meerholdt stand einer Fülle von Fragen und Rätseln gegenüber. Er sah auf die Uhr. Zwei Uhr nachts. Von der Baustelle herüber dröhnte Motorenlärm. Durch die Lagergassen tappten Schritte, Stimmen flogen durch die Dunkelheit. Die Verstärkung der Nachtschicht ging ins Tal zum Betonguß.
Nachdenklich nahm Meerholdt den Hörer ab und rief Zagreb an. Er mußte lange warten, bis sich eine verschlafene Stimme meldete. Die Stimme eines Hausmädchens.
»Bei Direktor Osik.«
»Hier Meerholdt in Zabari. Ich muß sofort Herrn Osik sprechen!«
»Um diese Zeit?«
»Es ist dringend.« Es knackte im Apparat, er wartete wieder eine Zeitlang, bis das verschlafene Organ Stanis Osiks an sein Ohr klang.
»Verrückt, Meerholdt! Mitten in der Nacht! Was ist denn los? Ist der Bau zusammengefallen?« Es sollte ein billiger Scherz sein, aber Osik wurde hellwach, als die Stimme aus Zabari sagte:
»Noch nicht! Aber es kann sein.«
»Reden Sie keinen Blödsinn!« Osik richtete sich im Bett auf und knipste das Licht an. Er blinzelte in die grelle Lampe und gähnte. »Die Berechnungen stimmen doch? Die besten Statiker haben sie geprüft!«
»Der Bau wird sabotiert!«
»Was?« Osik zuckte auf, die letzte Müdigkeit fiel von ihm ab. »Das ist doch nicht möglich!«
»Das habe ich auch gedacht.« Meerholdts Stimme war eindringlich. »Noch ist an dem Bau selbst nichts geschehen. Aber heute nacht wollte man mich töten . mit einem schweren Stein.«
Osik riß die Augen auf, Unglauben spiegelte sein dickes, fleischiges Gesicht mit den Tränensäcken unter den kleinen, hellen Augen. »Sie?« fragte er gedehnt. »Aber das ist doch.« Er schluckte. »Mit einem Stein?«
»Er wurde auf mich geworfen. Mein Begleiter, der mich zu Boden riß, weil er den Täter werfen sah, rettete mich.«
»Und man hat ihn nicht erkannt?«
»Nein! Es muß ein Fremder sein! Das ist es, was mich so besorgt macht! Warum hat ein Fremder ein Interesse daran, mich umzubringen? Ich habe keine Feinde in Zabari, und außerhalb des Dorfes überhaupt nicht! Ein persönliches Motiv scheidet also völlig aus! Es kann sich deshalb nur um ein gelenktes Attentat handeln, dem andere, und ich befürchte, folgenschwerere, nachkommen werden.«
Stanis Osik saß in seinem Bett. Er spürte, wie es ihn heiß überlief. Der Staudamm . das ganze Werk . die Millionen Dinare, die es kostet . Sabotage . das konnte er nicht zulassen.
»Ich rufe sofort in Belgrad beim Ministerium an. Ich werde eine Kompanie Soldaten zur Bewachung der Anlagen beantragen! Bilden Sie sofort einen Werkschutz, Meerholdt! Haben Sie Waffen dort?«
»Nur drei Gewehre und einige Revolver.«
»Ich schicke Ihnen morgen Waffen und Munition. Ich werde sofort mit Belgrad sprechen.«
Er hängte ein und sprang aus dem Bett. Sein Gesicht war in den wenigen Minuten fahl geworden. Es ist unmöglich, sagte er sich immer wieder, während er auf die Verbindung mit Belgrad wartete. Es kann gar nicht sein. So wichtig ist dieser Staudamm nicht, daß eine fremde Macht an seiner Zerstörung interessiert ist. Oder war es nur der Anfang einer Kette von Vernichtungen, die sich fortsetzen würde an den anderen, großen Objekten im Süden des Landes und bei Sarajewo?
Das Gespräch mit Belgrad war kurz. Eine Kompanie Gebirgsjäger wurde nach Zabari verlegt. Am Morgen schon flogen sie mit Transportmaschinen nach Foca ab . gegen Mittag würde die Kompanie in Zabari sein.
Befriedigt legte Osik den Hörer auf. Zabari wurde Sperrgebiet, abgeriegelt für alle, die nicht einen Ausweis besaßen. Ein Dorf, der Einsamkeit entrissen und der Einsamkeit zurückgegeben wie Los Alamos in Amerika, das geheimnisvolle Atomdorf nördlich der großen Sandwüste von New Mexico.
Gleich nach dem Weggang Meerholdts war Rosa wieder aus dem Garten geschlichen und stieg den Berg empor zum Wald. Sie brauchte nicht weit zu gehen, als ein Schatten aus den Stämmen trat und ihr entgegenkam. Das fahle Mondlicht hob die Gestalt gegen den schwarzen Wall der Bäume ab.
Rosa blieb stehen und sah der Gestalt entgegen. Kurz vor ihr blieb sie stehen . ein gefällter Baum lag zwischen ihnen wie eine Grenze, die nicht zu überspringen war, wie eine Schlucht oder ein Strom, über den hinweg ihre Stimmen schallten.
»Du warst es also, Jossip?« sagte Rosa.
»Ja.« Er sah sie aus seinen brennenden Augen groß und leidenschaftlich an. »Geh jetzt ins Tal und sag es dem Herrn! Er hat Waffen, ich weiß es ... er wird mich abschießen wie einen Adler.«
»Ich habe dich schon vorhin erkannt, Jossip. Ich sah dich den Stein werfen.« Ihre Stimme war sanft. Verwundert sah Jossip sie an. »Du wolltest ihn töten?«
»Ja!« rief er wild. »Ich werde ihn töten!« Dann schien eine große Frage durch seinen Kopf zu gehen, er beugte sich über den Stamm vor. »Warum hast du mich nicht verraten, Rosa?«
»Ich will nicht, daß Blut zwischen uns ist. Ralf ist stärker als du.«
»Nie!« schrie er grell. »Nie!« Er ballte die Fäuste und hob sie hoch empor. »Damit werde ich ihn vernichten, mit diesen Händen.«
»Ich liebe ihn, Jossip.« Rosas Stimme zitterte. »Wenn du ihn vernichtest, tötest du auch mich. Ich gehöre zu ihm wie das Wasser zu den Felsen und der Wald zum Berg und die Wiese zu den Hängen.« »Du gehörst zu mir!« schrie Jossip. Sein Atem war laut und keuchend. »Du bist mir in der Wiege versprochen worden! Ich verzichte nicht darauf!«
»Es ist doch sinnlos, ein solches Versprechen. Die Welt ist anders geworden, Jossip.«
»Nicht die Welt unserer Berge!«
»Aber der Mensch, Jossip, der Mensch! Versteh es doch! Wie kann ich mit dir kommen, wenn ich dich nicht liebe, nie lieben kann? Es wäre eine Qual, Jossip, für beide. Wir würden unglücklich werden wie ein Lamm, das sich verirrte und sich verzweifelt in eine Schlucht stürzt.«
»Du würdest mich nie fortgeschickt haben, wenn der Fremde nicht ins Dorf gekommen wäre.«
»Aber er ist gekommen, Jossip. Wir dürfen nicht daran denken, was gewesen wäre, sondern nur daran, was ist. Wenn im Frühjahr der Schnee schmilzt, und die Bäche stürzen von den Bergen und reißen alles mit sich fort, den Wald, die Wiesen, die Herden und die Häuser . kannst du sie aufhalten, Jossip? Nein, du flüchtest mit der Herde auf den höchsten Platz und wartest zitternd, bis Gott die Sonne schickt und die wilden Wasser im Tal versickern. Ist der Mensch anders als die Natur, Jossip? Kannst du die Liebe aufhalten, wenn sie wie ein reißender Strom unser Herz zerstört? Du willst gegen Gott kämpfen, Jossip.«
»Gegen Gott und die Welt!« schrie Jossip wild.
»Du wirst daran zugrunde gehen.«
»Und ich werde euch mitreißen«, sagte er dumpf. »Dich und deinen blonden Wolf.«
Rosa wandte sich ab. Die Nutzlosigkeit ihrer Worte zeichneten ihr den Weg vor, den sie zu gehen hatte.
»Leb wohl, Jossip«, sagte sie traurig.
»Jetzt wirst du mich verraten!« Er stellte sich auf den Stamm. Einen Augenblick durchfuhr ihn der Gedanke, sich auf sie zu stürzen, sie zu überwältigen und dann zu töten. »Du wirst mich wie einen Bären hetzen lassen?«
»Nein!« Sie wandte noch einmal den Kopf und sah ihn groß an. In ihre Augen trat ein Schein von Mitlied und Verstehen. »Du tust mir leid, Jossip. Laß uns in Ruhe, und niemand wird erfahren, wer den Stein geworfen hat.«
Sie ging den Hang hinab, mit schnellen, kleinen Schritten. Ihr Haar flatterte im Nachtwind wie eine Fahne, wie eine schwarze Fahne der Trauer. Jossip stand auf dem Stamm und hatte die Fäuste auf den Mund gepreßt. Er mußte schreien, schreien vor Qual und Schmerz, und er drückte diesen Schrei in seinen Mund zurück und sah ihr nach. Jeder Schritt, der sie näher ins Tal brachte, war wie ein Hieb des Schicksals, er spürte es körperhaft und krümmte sich unter den Schlägen.
»Rosa.«, keuchte er und preßte die Fäuste gegen die Lippen. »Rosa.«
Ihre schmale Gestalt trat in den Mondschein . jetzt lief sie, ihre langen Haare wehten hinter ihr her. Wie eine Elfe, die auf einer Wiese tanzt, sah es vom Wald her aus. Wie ein Berggeist, ein Kobold. Da warf Jossip die Hände vor das Gesicht und weinte.
Und jede Träne, die er vergoß, war ein Tropfen Haß gegen das Fremde.
Am frühen Nachmittag kreisten Flugzeuge über dem Tal von Zabari. Die Bauern standen vor den Hütten und auf den Weiden und starrten empor in den blauen Himmel, an dem die Riesenvögel entlangzogen. Sie hatten die Münder aufgerissen und verstanden nicht, was sie sahen.
Über den notdürftig ausgebauten Weg von Foca her rückten auf Lastwagen die Soldaten heran. Eine Kompanie Gebirgsjäger mit Maschinengewehren, Granatwerfern und 7,5 cm Gebirgsgeschützen auf Spreizlafetten.
Josef Lukacz wurde blaß, als er die Soldaten ins Dorf fahren sah. Er dachte, sie seien seinetwegen gekommen und wollten ihn erschießen. Er rannte in seine Hütte, packte ein Bündel Sachen zusammen und wollte in die Berge fliehen, als er hinter dem Haus Pietro Bonelli stehen sah. Er wurde weiß, ließ sein Bündel fallen und hob die Arme empor. Vielleicht sind sie gnädig, wenn ich mich ergebe, durchfuhr es ihn. Vielleicht komme ich nur in die Stadt in ein Gefängnis und sie lassen mir das Leben.
Bonelli grinste, als er den großen, starken Lukacz mit in den Himmel gestreckten Armen hinter dem Haus stehen sah. Die Anwesenheit der Soldaten hatte sein Herz ungemein gestärkt. Sie hatte bewirkt, daß er dem Rate Meerholdts folgte und sich bereit fand, mit Josef zu sprechen. Die Wirkung seines Besuches verblüffte ihn zunächst selbst, er sah sich um, ob jemand hinter ihm stand.
»Josef!« sagte er laut. »Geh ins Haus! Ich habe mit dir zu reden.«
»Sofort, Herr!«
Josef drehte sich um und ging mit erhobenen Händen ins Haus zurück. Bonelli folgte ihm, ganz Sieger und bereit, gutmütig zu sein. Wenn es auch in seinen Händen zuckte und er daran dachte, die Schläge in einem Arbeitsgang zurückzugeben, beherrschte er sich und schloß hinter sich die Tür. Sie befanden sich in einem Vorraum des Stalles, in dem das Heu gestapelt war und eine Kiste mit Schweinefutter stand. Bonelli setzte sich auf den Deckel der Kiste und betrachtete Lukacz eingehend, der immer noch mit erhobenen Händen vor ihm stand.
»Du hast mich also dreimal überfallen!« stellte Bonelli fest. Er sah die Angst in den Augen Lukacz' und beschloß, sie auszunutzen. Für Katja ist mir alles recht, rechtfertigte er sich innerlich. Auch ein wenig Betrug und Brutalität.
Lukacz nickte schwer. »Ja. Dreimal.«
»Mal das linke Auge, dann das rechte, jetzt wieder das linke mit der Nase zusammen! Ein bißchen viel, findest du nicht auch?«
Lukacz nickte schwer und seufzte.
»Was soll ich nun mit dir tun?« fragte Bonelli leise und schüttelte den Kopf. »Die Soldaten sind da.«
»Ich habe sie gesehen«, stöhnte Lukacz. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Also doch erschießen, kein Gefängnis. »Du hast mir
Katja weggenommen, Herr.«
»Katja? Bist du mit ihr verheiratet?«
»Nein.«
»Verlobt?«
»Nein.«
»Hat sie dir gesagt, daß sie dich mag?«
»Nein. Aber ich liebe sie.«
»Idiot!« Bonelli schüttelte den Kopf. »Ich liebe sie auch! Ich will sie sogar heiraten!«
»Und Katja will es auch?«
Bonelli wich der Frage aus. Er hatte darüber noch kein Wort bei Katja verloren. Der Gedanke, sie zu heiraten, war ihm erst nach dem zweiten linken blauen Auge und der geschwollenen Nase gekommen, beim Anblick seines deformierten Gesichtes im Spiegel und der Ahnung, daß diese Leiden erst aufhörten, wenn seine Absichten reell wurden.
»Ich hätte genau das gleiche Recht, dich zu schlagen«, meinte er deshalb. In den Augen Lukacz' glomm ein Funken Hoffnung auf.
»Tue es, Herr. Dann sind wir quitt.«
»Und der ganze Tanz beginnt von neuem?! Nein!« Bonelli schlug sich auf die prallen Schenkel. »Es wird jetzt hier, an dieser Stelle, festgelegt, zu wem Katja gehört, verstanden? Und nimm die dämlichen Arme endlich runter«, sagte er irritiert. »Ich bin doch kein Henker.«
Josef Lukacz ließ die Arme sinken und lehnte sich gegen einen Stützbalken des Daches. Schweiß stand ihm auf der Stirn, er hatte das Gefühl, nahe an seinem Tod vorbeigegangen zu sein. Pietro Bonelli war ihm unheimlich. Ein Mann, für den hundert Soldaten über die Berge kommen, nur, weil er ein paarmal geschlagen wurde, mußte mächtig sein. Der Mächtige aber, das war ein altes Gesetz Montenegros, hatte das Recht auf seiner Seite. Wer wollte einen Mächtigen schon stürzen.?
»Ich habe Katja vor dir gekannt«, versuchte er einen leisen Vorstoß des Widerspruchs. Aber eine Handbewegung Bonellis ließ ihn
sofort verstummen.
»Natürlich! Ihr seid aus dem gleichen Dorf, ihr habt als Kinder zusammen gespielt, ihr habt die Kühe und Schafe gehütet, mein Gott - davon kann man doch nicht das Recht ableiten, einen Menschen zu besitzen! Wenn ich alle Mädchen heiraten wollte, mit denen ich als Kind gespielt habe.«
Bonelli hielt den Atem an und schüttelte den Kopf. Madre mia . die Gasse in Neapel, in der er aufwuchs. Wäsche von Wand zu Wand über die Straße gespannt, darunter ein Heer schmutziger Kinder, die im Unrat spielten und aus den fauligen Abfällen der Häuser Torten backten wie andere Kinder aus nassem Sand. Lucia Sergalla sah dann aus dem Fenster und schrie ihrem dreckigen Bambino zu:
»Mach dir nicht in die Hosen, Giulio! Wir haben bis August keine Seife mehr!«
Und es war erst Juni. Und dann die kleine Theresa, der Dreckspatz der Via Solfino. Fünf Jahre war sie damals alt, und wenn sie ein Bedürfnis plagte, setzte sie sich an den Rand der Via Solfino, hob die Röcke hoch und verrichtete ihr Geschäft. Alle standen um sie herum und sahen ihr zu . es war fast wie eine Vorstellung der herumziehenden Bärendompteure oder der Leierkastenmänner mit dem geldsammelnden Äffchen. Und dann Enrico, der Sohn eines Matrosen, dem dauernd die Nase lief und der behauptete, es schmek-ke wie türkischer Honig. Und Marita, das freche Balg, das mit vierzehn ins Krankenhaus ging und einen achtpfündigen Jungen gebar . o Madonna - wenn man das alles hätte heiraten wollen oder müssen.
Josef Lukacz deutete das Schweigen Bonellis falsch. Er hob die Arme über den Kopf. In seine Augen trat wieder der ängstliche, gehetzte Zug.
»Wenn du Katja heiraten willst, Herr, so will ich still sein«, sagte er leise. Man hörte, wie schwer ihm die Worte wurden. Bonelli nickte erfreut.
»Genau das wollte ich hören, mein Freund.« Er sprang von der Schweinefutterkiste und trat vor Lukacz hin. »Hast du schon eine
Arbeit bei uns?«
»Nein.«
»Möchtest du gerne viel Geld verdienen?«
»Schon.« Josef Lukacz lächelte. »Wir sind arme Bauern und haben nichts als unser Leben.«
»Das ist ein winziges Kapital, mein Freund. Das ist fast gar nichts. Darauf bekommst du nirgendwo Kredit. Das Leben - das ist eine Wertsache, die nur von Sekunde zu Sekunde gilt. Ich will dir helfen«, meinte er gönnerhaft. »Ich habe einen Freund, der einen Wagen fährt. Von Zabari nach Niksic und zurück ... jeden zweiten Tag Material und Verpflegung holen. Er braucht einen Beifahrer - ich werde mit ihm sprechen.« Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: »In Niksic gibt es eine Menge hübscher Mädchen. Du wirst staunen, wie anders sie aussehen als eure Mädchen hier! Nach einer Woche denkst du nicht mehr an Katja Dobor.«
Josef Lukacz war angesichts der Soldaten bereit, daran zu glauben und nickte.
»Na also«, meinte Bonelli zufrieden.
Als Sieger verließ er stolz das Haus.
Die Nachricht von dem Attentat auf Ralf Meerholdt war auch nach Foca gekommen. Elena hatte einen Schwächeanfall erlitten und war dann mit dem nächsten Wagen nach Zagreb gefahren.
Stanis Osik ahnte nichts Gutes, als er seine Tochter aus dem Auto springen und durch den Garten rennend auf sich zukommen sah. Er seufzte schwer und legte die Zeitung zur Seite. In den nächsten Stunden würde er nicht mehr dazu kommen, sie zu lesen.
Elena war in völliger Auflösung, als sie vor Osik stand und die Fäuste ballte. »Ist es wahr, Vater?« schrie sie. »Man hat auf Ralf geschossen?«
»Wer ist Ralf?« Stanis Osik zog die Augenbrauen hoch. Diese neue Situation hatte er nicht berücksichtigt, sie überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Sie überfiel ihn mit einer Plötzlichkeit, die ihn ei-nen Augenblick hilflos machte.
»Meerholdt!« Elena Osik sank in den Korbsessel und riß das Kleid über dem Hals auf, als drücke es ihr die Luft ab. »Es ist also wahr!«
»Man hat nicht geschossen - man hat einen Stein auf ihn geworfen!«
»Ob geschossen oder Stein - man hat ihn töten wollen!« Sie sprang wieder aus dem Sessel auf. Mit einem Satz war sie bei Osik und faßte ihn an der Brust. »Du rufst Ralf sofort zurück«, schrie sie wild. »Du läßt ihn nach Zagreb kommen! Ein anderer übernimmt die Bauleitung!« Plötzlich sank ihr Kopf an seine Schulter, es war, als sei ihre Glut ausgebrannt, als falle sie zusammen wie ein ausgebluteter Körper. »Ich liebe ihn, Vater . ich liebe ihn ja so sehr«, stammelte sie.
Stanis Osik schob die Unterlippe vor. Er sah aus wie ein kugelköpfiger Fisch.
»Ich war ein Rindvieh, dich nach Foca zu schicken«, antwortete er grob. »Bist du eine Katze, die jedem Kater jaulend nachläuft? Was soll der Unsinn: Ich liebe ihn?! Jetzt bin ich fast froh, daß er in Za-bari ist und zweitausend Meter hohe Felsen zwischen dir und ihm liegen!«
»Sie sind kein Hindernis! Ich komme auch über sie zu Ralf!« Ihre Augen sprühten Wut und Entschlossenheit. »Du rufst ihn nicht zurück?« Und da Osik sinnend schwieg, stampfte sie mit den Füßen auf. »Gut! Dann gehe ich zu ihm!«
»Verrückt! Du gehst nicht!« schrie Osik. »Ich habe dich erzogen wie eine Prinzessin.«
»Das war ein Fehler«, unterbrach sie ihn schroff.
»Ich habe dich in der Schweiz erziehen lassen, du hattest ein Reitpferd, die schönsten Kleider, den besten Schmuck und die teuersten Pelze, du erbst einmal eine Villa und ein Bankkonto von heute fast einer Million Dinare.«
»Aber ich erbe kein Herz! Ich will nicht der Sklave deines Reichtums werden und ein juwelenbehängter Schatz, den man nur hinter Glas bewundern darf!Ich liebe Ralf, und niemand, niemand,
niemand hält mich ab, zu ihm zu gehen!«
»Ich!« Stanis Osik ging auf der Terrasse hin und her und schnaufte. »Ich werde dich nach Rom schicken!«
»Und ich werde nicht fahren!« antwortete sie trotzig.
»Willst du einen Skandal? Ich werde dich bis an den Zug prügeln!«
Elena sah ihren Vater aus haßerfüllten Augen an. Sie kannte ihn und seinen Zorn, der alle Tünche gesellschaftlicher Bildung und Beherrschung überschrie. Die Gasse, aus der Stanis Osik emporstieg in die Sonne des Geldes, brach in solchen Stunden wieder durch.
Damals, vor 23 Jahren, war er ein arbeitsscheuer Kerl in Karlo-vac gewesen, bis sich seine Spuren verloren und er eines Tages auftauchte als Besitzer von zwei Betonmaschinen und einer eigenen Arbeitskolonne. Er baute einige Siedlungen, er bestach die verantwortlichen Inspekteure der Ministerien und erhielt Staatsaufträge und große Bauten, die ihn bald zu einem der wichtigsten Männer des jugoslawischen Bauplanes werden ließen. Seit diesen Tagen stand er mit allen maßgebenden Staatsbeamten auf freundschaftlichem Fuße und führte in Zagreb ein großes Haus.
Das Wertvollste dieses Hauses, der Glanzpunkt seines dunklen Lebens, die Erfüllung aller seiner Träume war Elena. An sie hängte er alles, was in seiner Jugend die großen Sehnsüchte seines Lebens waren, das Unerreichbare, das er erreichte und an seiner Tochter wie in einem Spiegel betrachtete.
Sein Zorn war echt. Elena empfand die Gefahr, die von ihm ausging, und schwieg. Mit verzerrtem Gesicht wandte sie sich ab und rannte auf ihr Zimmer. Auf dem Weg durch die Halle und die Treppe hinauf zerschlug sie einige Vasen und schloß sich dann ein, als sie Osik brüllend ihr nachrennen hörte.
»Ich werde sie an den Haaren nach Rom schleifen!!« schrie er. »Diese läufige Katze, diese verfluchte!« Er schellte dem Hausmädchen -es kam nicht. Er brüllte nach dem Chauffeur - er war nicht zu finden. Sie waren aus dem Haus geflüchtet, als Osik zu schreien begann. In dem weiten Garten, der hinunter bis zu den flachen Ufern der Sava reichte, hielten sie sich verborgen und warteten über eine
Stunde, ehe sie zurück ins Haus schlichen.
So gingen sechs Monate dahin.
Ein halbes Jahr, in dem der Bau von Zabari in den Himmel wuchs. Sechs Monate, in denen Elena in Zagreb blieb und nur durch das Zimmermädchen heimliche Briefe zu Meerholdt schmuggeln konnte, in denen sie ihre Klage niederschrie und ihn anflehte, sie zu befreien aus dem goldenen Gefängnis von Zagreb.
Seine Antworten erreichten sie nicht. Sie wußte nicht, ob er überhaupt antwortete oder ihre Briefe bekommen hatte. Von Stanis Osik erfuhr sie nichts. Er sprach mit ihr nicht mehr über den Bau von Zabari, er führte sie in die Oper oder in ein Konzert, sie besuchten in Belgrad einen Winterball der Regierung, und Osik gab sich alle Mühe, Elena in die diplomatischen Kreise einzuführen und die jungen Gesandtschaftsräte für sie zu interessieren. Eine Geschäftsreise entführte sie nach Wien ... in der Wiener Burg sah sie die Größen der Schauspielkunst und hörte in der Oper die herrlichen Stimmen von Dermota und Welitsch.
Auch von Wien aus schrieb sie einen Brief an Meerholdt.
»Mein Liebster«, schrieb sie, »was ist Wien, was ist die Welt ohne dich? Sechs Monate haben wir uns nicht gesehen, nicht gesprochen -nicht eine einzige Zeile von dir liegt auf meinem Herzen und tröstet mich, wenn ich an dich denke. Ich weiß, daß deine Briefe mich nie erreichen, und deshalb sollst du wissen, daß jeder Tag, den man mich von dir trennt, mich stärker werden läßt für jenen Augenblick, in dem ich dich wieder in meinen Armen halten kann und unsere Welt nur noch besteht aus dem gemeinsamen Schlag unserer Herzen.«
In Zabari war der Winter längst hereingestürzt. Er war nicht gekommen wie in anderen Breiten unserer Erde, langsam, mit kalten Nächten und Frost, mit rieselndem Schnee und einem fahlen Himmel, dessen Wolken schwer zur Erde hingen. Er war wie eine Naturkatastrophe niedergebrochen, als sei er von den Felsen gestürzt wie eine alles vernichtende Lawine. Nach einem hellen Himmel erbebte der Wald in der Nacht unter einem heulenden Sturm . die Stämme brachen ächzend unter der Gewalt der Winde, die Tiere flüchteten aus dem Wald und suchten Schutz zwischen den Schluchten. Staub und Steine fegte der Sturm über das Tal, die Bauern saßen auf den Dächern ihrer Hütten und beschwerten sie mit dicken Felsbrocken, an den Baustellen kämpften die Arbeiter verzweifelt um die schwankenden Holzverschalungen, die im rasenden Wind schwankten wie Korn unter der Sense.
Gegen Morgen brach eine der Baracken zusammen. Ein Windstoß hatte sie von den Verankerungen gerissen. Die Wände knickten ein wie ein Kartenhaus; Betten, Anzüge, Wäsche und Decken wirbelten durch das Lager.
Zum erstenmal seit sieben Monaten gellten die Einsatzsirenen und Katastrophenhörner. Tausend Arbeiter und Soldaten, Bauern und Frauen kämpften gegen den Sturm um die Erhaltung des Werkes . mit Stahltrossen wurden die Wandverschalungen zusammengehalten, fahrbare Pfeiler stützten die Gußbrücken, ein Kommando der Italiener rückte in den Wald und riß und sprengte mitten im Sturm die angeknickten Bäume um, deren mächtige Stämme bei einem Fall die halbfertige Betonmauer verletzen konnten. Bonelli rannte um seine Kantine herum und schrie nach Hilfskräften. »Meine Kantine fliegt weg!« jammerte er. »Hilfe! Hilfe! Hier hin!« Vier Soldaten blieben stehen und sahen ihn an.
»Los!« schrie einer. »Zieh die Jacke an! Zum Damm! Sofort!«
»Meine Kantine!« schrie Bonelli zurück.
»Deine Kantine kann uns.« Einer trat ihn in den Hintern, und Bonelli sauste durch die Dunkelheit dem Tal entgegen. Ehe er wußte, wie ihm geschah, hatte er ein Drahtseil zwischen den Händen und war dabei, einen Baumstamm den Hang hinabzuziehen. Raupenschlepper ratterten an ihm vorbei, Planierraupen schoben Erdwälle vor sich her, um einen Schutzwall gegen die den Berg hinabrollenden Stämme zu schaffen.
Bonelli ließ das Drahtseil fahren und begann zu zittern. Der An-blick des um ihn herum entfesselten Infernos ließ ihn vor Angst schlottern. »Laßt mich weg!« schrie er grell. »Ich muß zu meiner Kantine! Ich bin Bonelli, der Kantinenwirt!« Er wollte den Hang hinablaufen, aber einige Fäuste hielten ihn fest, er fühlte wieder einen Tritt und stolperte vorwärts. »Anfassen!« brüllte ihm einer ins Ohr. »Und wenn du der Kaiser von Siam bist - anfassen, du Rindvieh!«
Er zog wimmernd vor Angst die Baumstämme durch den Sturm, ein losgerissener Ast schlug gegen seinen Kopf und gegen das rechte Auge.
»Mein Auge!« wimmerte Bonelli. »Oh, mein Auge!« Er drückte beide Hände gegen den Kopf und schwankte. Die Härte des Schicksals übermannte ihn. Nachdem er seine Augen vor der Faust Josefs gerettet hatte, war es ein Ast, der ihm das rechte blau schlug. Das erschütterte ihn maßlos ... er setzte sich mitten im Sturm auf die Erde und schrie eine Tirade bester und edelster neapolitanischer Flüche in die Nacht.
Ralf Meerholdt stand oben am Rand des Talkessels und leitete die Arbeiten. Die Flutlichtscheinwerfer schwankten im Sturm und beleuchteten grell das Gewimmel der Menschenleiber zwischen den Gerüsten, Maschinen und Kränen. Das Heulen des Sturmes wurde in dem engen Tal noch verstärkt. Es wirkte wie ein großer Trichter, der den Schall zu einem einzigen Aufschrei konzentrierte. Ein Aufschrei der Natur, die ihre Kräfte mit den Menschen maß.
Gegen Morgen warf der Wind eine Steinlawine auf das Dorf... sie donnerte am Ausgang des Zabaritales herunter und versperrte die Straße nach Foca. Dann war es plötzlich still, ganz still . so unheimlich lautlos, daß die tausend Menschen stehenblieben, wo sie standen und verblüfft in den Himmel starrten. Jetzt kommt das Ende, empfanden sie. Jetzt folgt der Untergang der Welt in einem einzigen, gewaltigen Aufschrei der Natur.
Und die Welt ging unter . sie starb in herrlicher Schönheit.
Wie eine Schleuse bricht und Wassermassen das Land ertränken, so öffnete sich der Himmel, und lautlos, fast feierlich, fiel der Schnee
auf das Tal.
Es schneite den ganzen Morgen hindurch ... den ganzen Tag, die Nacht ... und wieder den Tag. Es schneite eine Woche lang, still, lautlos, mit dicken, flaumigen Flocken. Die Wälder wurden ein weißes Gebirge, aus dem die schwarzen Felsen hervorstachen wie tote Stämme eines abgebrannten Waldes, wie Grabplatten über einer gestorbenen Landschaft. Die Hütten der Bauern versanken im Schnee ... wie in Rußland verklebten sie die Fenster mit Papierstreifen und schliefen auf und um den gemauerten Ofen. Das Vieh in den Ställen kroch zusammen und wärmte sich. In den Nächten heulten die Hunde ... die ersten Wölfe umstrichen das Dorf, hungrig, noch scheu vor den Menschen . aber am Morgen sah man ihre Spuren in der Nähe des Lagers und am Hang zum Wald hinauf.
Der Winter war nach Zabari gekommen.
Pietro Bonelli hatte sich ein Gewehr besorgt. Die Wolfsfährten in der Nähe seiner Kantine waren ihm unheimlich. »Wenn die Wölfe kommen - ich bin wieder der erste, den sie angreifen!« erzählte er tagelang seinen Zuhörern. »Die Biester kommen dahin, wo es was zu fressen gibt! Und das ist die Kantine!«
Bonelli nahm sich das sehr zu Herzen. Er schlief mit dem Gewehr im Bett, und wenn draußen die Hunde heulten, fuhr er empor, legte das Gewehr an die Backe und zielte auf das Fenster, als könne ein Wolf in sein Zimmer springen.
Katja Dobor war zum größten Schmerz Bonellis nicht mehr in Zabari. Seit drei Monaten lebte sie in dem Außenlager Foca und packte mit drei anderen Mädchen die Lebensmittel für die Kantine ein, ehe sie auf Lastwagen nach Zabari geschafft wurden. Meerholdt hatte Katja für diesen Posten bestimmt, weil er einsah, daß Bonelli trotz seines Sieges über Josef Lukacz so lange nicht außer Gefahr war, wie Katja im Dorf oder sogar in der Kantine arbeitete. Die ersten Wochen hatte Bonelli gestreikt . er kochte nur Eintopf, er versalzte das Essen, aber nachdem man ihm einen ganzen Kessel Suppe in sein Zimmer geschüttet hatte, ergab er sich in sein Schicksal und verzehrte sich des Nachts vor Eifersucht und bei dem
Gedanken, welchen Gefahren gerade ein so hübsches Mädchen wie Katja in einer Stadt ausgesetzt war.
Rosa hatte Jossip nach jener Nacht nicht wieder gesehen. Eine Art Gewohnheit war zwischen sie und Ralf eingetreten. Sie sahen sich jeden Tag, jede Stunde . in den Nächten verkrochen sie sich jeder in sein Haus, als hätten sie Angst vor ihrer eigenen Liebe. Nur manchmal ging das Licht in der Nacht bei Meerholdt nicht aus . dann saß sie auf dem Sofa, das Ralf aus Foca mitgebracht hatte, und sah ihm zu, wie er an den Zeichenbrettern stand oder vor den Bauplänen hockte und rechnete, umzeichnete und verbesserte.
Sie hätte so Nacht um Nacht sitzen können, nichts anderes tuend, als ihn nur anzusehen. Sie war zufrieden, wenn er um sie war. Die Küsse und Zärtlichkeiten, die sie in ausbrechendem Taumel verschwendeten, waren nur Unterbrechung der stillen Stunden, in denen sie spürte, wie nahe ihre Seele der seinen war und wie tief sein Wesen schon in sie gedrungen war. Ihre Gedanken waren seine Gedanken - sie bemerkte es mit seligem Erschrecken, wenn sie beide während einer Unterhaltung nach dem gleichen Gegenstand griffen oder nach einem längeren Schweigen mit dem gleichen Thema begannen.
»Wir könnten nie mehr auseinander gehen«, sagte sie einmal und strich mit den Fingerspitzen über sein Gesicht. Er küßte ihre Hand und war glücklich.
Elena war in Wien. Ihr Brief hatte ihn erreicht - aber es waren Worte, die er las, nichts mehr als Worte. Ihren Aufschrei und ihre Sehnsucht nach Liebe empfand er fade, übertrieben und theatralisch. Er hatte ihr auf die Briefe - schon aus Zagreb - geantwortet; daß sie nie ankamen, erfüllte ihn mit der Befriedigung, die man empfindet, wenn man einer unangenehmen Sache reibungslos aus dem Weg gehen kann. Er war Stanis Osik dankbar, daß er seine Tochter von ihm fernhielt, auch wenn es ihn kränkte, denn die Haltung Osiks bewies, daß er in Ralf Meerholdt nicht einen Mann sah, der es wert war, seine Elena zu heiraten.
Schon damals, vor zwei Jahren, als er in dieses Land kam, wußte er, daß er immer ein Fremder bleiben würde. »Sie werden alle Freiheiten haben«, hatte man ihm versichert. »Wir freuen uns, einen Mann wie Sie für unsere Pläne gewonnen zu haben!« Aber dann begann schon von der Treppe des Ministeriums ab, die er hinunterging, das Mißtrauen, das einem Fremden nach fliegt, wohin er auch kommt. Die Schwierigkeiten häuften sich ... die Bauhandwerkergewerkschaft weigerte sich, ihre Mitglieder unter einem Deutschen arbeiten zu lassen! Die Lieferfirmen verhandelten über seinen Kopf hinweg mit Beamten in Belgrad. Zeichnungen, von denen keiner wußte, woher sie kamen und wer sie entworfen hatte, flatterten auf seinen Tisch mit dem Befehl: So und so soll gebaut werden! Er weigerte sich, er fuhr nach Belgrad, er kündigte seine Stellung, bis Sta-nis Osik kam, der dicke, fischgesichtige Direktor der staatlichen Bauten. Er lud Meerholdt in seine Villa nach Zagreb ein, er trank mit ihm eine ganze Nacht Krimsekt und öligen, rosa schimmernden Tokajer. »Sie bleiben, Meerholdt!« hatte Osik in seiner bestimmten Art gesagt. »Und wenn das ganze Ministerium fliegt - Sie bleiben und bauen nach deutschem Muster unsere Stauanlagen! Ich habe die Möh-nesperre gesehen, die Urftalsperre, die Edersperre, ich war in Ka-prun und habe Augen und Ohren aufgerissen! Was wissen die Idioten, wie es außerhalb Belgrads aussieht? Und außerdem habe ich den Marschall hinter mir ... das genügt.«
Nach diesem Abend blieb Meerholdt weiter in Jugoslawien und baute bei Banja Luka einen Damm. Und er lernte Elena kennen. Elena, die ihn bei der ersten Begrüßung arrogant betrachtete, ihm die Fingerspitzen zum Gruße reichte und ihn stehen ließ, als andere Gäste ins Haus kamen.
Elena, die jetzt in Wien die Kissen umarmte und träumte, es sei Ralf Meerholdt.
Der Schnee und der plötzliche Kälteeinbruch brachten es mit sich, daß der Konsum Bonellis an scharfen Schnäpsen und Grog rapide zunahm. Mit den scharfen Getränken aber kam auch ein schärferer Ton in die tausend Männer, die in die Einsamkeit verbannt waren und nur alle vier Wochen für zwei Tage nach Foca, Niksic oder Plewlja Urlaub bekamen. Tausend Männer in einem engen Tal inmitten von hohen Felsen, in einem grandiosen Gefängnis der Natur, in einem Dorf von hundert Seelen mit dreißig jungen Mädchen. Ralf Meerholdt sah das Problem von der realen Seite und ließ den Hauptmann der Gebirgsjäger zu sich kommen.
»Es muß etwas geschehen, Herr Hauptmann«, stellte er fest und legte dem Offizier eine Liste auf den Tisch. »Innerhalb der letzten zwei Wochen haben wir elf Schlägereien, zwei Messerstechereien und eine Arbeitsverweigerung von einer ganzen Kolonne gehabt. 63 Mann, Herr Hauptmann! Die gesamte Betonmischerei an Sohle 3! Ich habe sie mir vorgenommen. Ihre Antworten waren alarmierend: Wir haben zu fressen und zu saufen, sagten sie. Wir haben ein Bett und wir haben Geld ... aber wir haben keine Weiber! Wir pfeifen auf die tausend Dinare, die wir verdienen, und auf das schönste Fressen, wenn keine Weiber hier sind!« Ralf Meerholdt hob die Schultern. »Was soll ich tun, Herr Hauptmann?«
Der Offizier nahm die Liste und las sie durch. »Ich könnte Ihnen mit einem einfachen Rat dienen, aber er ist undurchführbar. Sie können den Leuten nur mehr Urlaub geben . nicht alle vier Wochen, sondern jede zweite Woche einen Tag und eine Nacht.«
»Auch in Niksic hat es Schlägereien gegeben. Natürlich um Mädchen. Bonelli, dessen Katja ich nach Foca geschickt habe, hat einen Italiener halb lahm geschlagen, weil ein Fahrer ihm berichtete, er habe im Hauptmagazin Katja in den Hintern gekniffen!«
Meerholdt schlug mit der Faust auf den Tisch. »Mein Gott - das ist doch unmöglich! Wir haben der Natur standgehalten, wir haben dem Boden das Werk abgetrotzt, wir haben die Herzen der Bergbauern besiegt - sollen wir selbst, wir, die Erfolgreichen, an uns zugrunde gehen, an unserer menschlichen Unzulänglichkeit, an unseren Leidenschaften?!«
»Es scheint so, Herr Meerholdt.«
»Ich kann es nicht glauben.« Er schüttelte den Kopf und ging in dem großen Barackenraum hin und her. »Ich habe Sie zu mir gebeten, Herr Hauptmann, um mit Ihnen eine Aktion gegen diesen -sagen wir es ehrlich - sexuellen Wahn zu besprechen. Ich bin nicht gewillt, und wenn ich sie mit der Waffe an die Arbeit treiben muß, mich der Zügellosigkeit dieser Leute zu beugen! Ich werde den Schnaps verbieten!«
»Dann wird man ihn aus Foca hereinschmuggeln.«
»Ich werde jeden Schmuggler und jeden Käufer mit Geldentzug bestrafen!«
Der Offizier hob die Schultern. »Man wird Sie eines Tages erschlagen in einem Winkel Ihres grandiosen Baues finden. Ein Unglücksfall, wird es heißen. Er ist den Hang hinabgestürzt. Herr Meer-holdt, Sie kennen doch die Mentalität dieser Männer! Sie arbeiten doch nicht für das Geld ... das Geld ist nur eine Zwischenstufe für die Güter, die sie erarbeiten wollen. Und was sind diese Güter? Fressen, saufen und Weiber! Der primitivste Ausdruck des Lebenswillens, die Erfüllung instinktmäßiger Triebe. Über diese drei Dinge hinaus kommen nur wenige ... aber diese Idealisten - wir wollen sie ruhig so nennen - sind nicht die Masse Ihrer Arbeiter! Sie haben ihnen Essen und Trinken gegeben . aber die letzte Stufe ihres Lebensstandards beginnt erst nach jeweils vier Wochen in drei Städten. Es sind die gleichen ungewaschenen und geilen Mädchen, die einen Tag vorher der Kamerad des Nebenbettes ausführte . glauben Sie, daß dies auf die Dauer gut geht?! Irgendwie verletzt Ihr Bau das Naturgesetz, das sogar ein Tier respektiert!«
Ralf Meerholdt blieb stehen und streckte die Hände vor. »Wir haben im Krieg auch wochen- und monatelang ohne eine Frau gelebt! Es muß einfach gehen!«
»Mußte es wirklich?« Der Hauptmann lächelte entschuldigend. »Wie war es in der Etappe? Die Mädchen der besetzten Dörfer, die weiblichen Militärangehörigen, die Mädchen von der Bahn, der Post, den Lazaretten.«
»Es lagen Monate dazwischen! Im Bunker oder in der Stellung kannten wir nur eine Sorge: Überleben! Wir dachten an die Frauen - aber wir entbehrten sie nicht, weil unsere Umgebung zu schrecklich war, um daran zu denken.«
»Das ist es!« Der Hauptmann trat an das Fenster und blickte hinaus auf den Hof. Die Mittagsschicht strömte in die Kantine, die Blechteller in der Hand. »Sehen Sie einmal aus dem Fenster, Herr Meer-holdt. Da gehen die Jungen zum Essen! Was gibt es? Nicht Kapu-sta mit Wasser, nicht Dörrgemüse oder Trockenfisch, sondern Paprikagulasch mit Klößen! Für alle tausend Mann! Gepfeffertes Fleisch! Und morgen soll es Nudeln geben mit Bouillon. Sehr fetthaltig, sehr nahrhaft. Herr Meerholdt - die Leute platzen aus dem Anzug! Trotz der Arbeit! Trotz Kälte, trotz Schnee, trotz des Schweißes, den sie an der Staumauer vergießen!«
»Dann werde ich das Essen reduzieren.« Meerholdt sah über die Schulter hinweg auf die Schlange, die sich in die große Eßbaracke drängelte. »Man hat mir gesagt, die Italiener wollten aus Niksic mit Transportkisten heimlich Frauen ins Lager holen und verstecken. Das würde die ersten Morde bedeuten!«
Der Offizier nickte. »Darin bin ich mit Ihnen einer Meinung. Mit den Italienern fängt es an und mit einer Schlacht um die Mädchen hört es auf.«
»Was soll ich also tun?« sagte Meerholdt und hob die Arme.
Die Frage blieb offen. Doch die Sorge wuchs und wuchs, je stärker der Schnee fiel und das Tal fast von der Außenwelt abschnitt. Nur mit Kettenfahrzeugen konnte die einzige Straße nach Zabari befahren werden, es war wie der Durchbruch in eine verlorene Welt. Jede Nacht türmten sich die Schneeberge von neuem auf; sie mußten am Morgen mit schweren Räumern zur Seite in die Schluchten gedrückt werden.
In diesen Tagen gab es die ersten Toten. Ein Raupenschlepper kam auf der abschüssigen Straße ins Rutschen und stürzte vierzig Meter tief in eine Schlucht. Die vier Männer, die auf dem Weg saßen, fand man erst nach drei Tagen. Wie Granaten hatten sie sich in den tiefen Schnee gebohrt. Sie wurden am Fuße des Bergwaldes begraben. Bedrückt standen die tausend Männer um die offenen Gräber, als Ralf Meerholdt die letzten Worte des Abschieds sprach. »Wir alle stehen an einem Abgrund«, sagte er doppelsinnig. »Wir müs-sen unsere Herzen fest in die Hand nehmen, um unseren Damm nicht mit Blut zu bauen.«
Der Tod der vier Kameraden brachte für einige Tage Stille in die tausend Mann. Pietro Bonelli hatte seit einer Woche keine Nachricht von Katja bekommen und haßte die Welt und alles, was auf ihr herumlief. Er hatte die Transportkolonnen ausgefragt - sie hatten Katja Dobor nicht in Foca gesehen. Bonelli raufte sich die Haare und jammerte. Sie ist mit einem anderen Mann fortgegangen, simulierte er. Sie ist bestimmt weg, denn wo sollte sie hin in Foca? Oh, diese Weiber! Diese verdammten Weiber! Dieses Unglück unserer Erde! Er setzte sich hinter eine Flasche Chianti und starrte traurig in den rieselnden Schnee und auf die dunklen Felsen. Am Abend war er sinnlos betrunken und wurde von zwei Küchengehilfen ins Bett geworfen.
Am Bau wurde von Tag zu Tag weniger gearbeitet. Der Frost in den Nächten verhinderte alle Betongüsse . statt dessen wurden Hindernisse gesprengt, Felsen, die im Wege standen. Das Bersten und Krachen des Gesteins zerriß die weiße Stille. In den Werkstätten wurden die Fahrzeuge und Maschinen überholt. Motorsägen schnitten die eisenharten Stämme zu Rund- und Stützhölzern und zu Brennholz für die großen, runden, eisernen Barackenöfen. In der Schmiede entstanden neuartige Schneeräumer, die jedem Wagen vorgesetzt wurden, der über den steilen Weg hinaus in die Welt fuhr. So erreichte man, daß die Straße einen großen Teil der Tage schneefrei und befahrbar gehalten wurde und weitere Unglücke nicht stattfanden.
Aus Budapest war ein Brief gekommen. Elena war zu Besuch bei einer Tante. Stanis Osik hatte sie dort zurückgelassen und saß wieder in Zagreb in seiner prunkvollen Villa, von der aus er seine Staatsbauten leitete. Er hatte die Klagen Meerholdts genau mit Belgrad besprochen und reduzierte zunächst den Alkoholkonsum um die Hälfte. Dem Essen mußte ab sofort ein bestimmter Prozentsatz Speisesoda zugesetzt werden - alle Randalierenden wurden unter Bewachung von Soldaten nach Foca und von dort nach Sarajewo gebracht, wo sie von einem Schnellrichter abgeurteilt wurden.
»Wer durch Arbeitsniederlegung oder Krawalle den Bau gefährdet, ist ein Saboteur!« ließ Osik als ein Plakat an jeder Baracke anbringen. »Saboteure aber werden in der Volksdemokratischen Republik mit dem Tode bestraft!«
Verbissen, mit finsteren Gesichtern standen die Arbeiter zusammengerottet um die Plakate und lasen sie. Wird zum Tode verurteilt . dieser Satz war eine massive Drohung. Man wußte, daß Belgrad keine Gnade kannte, daß es keine leere Redensart war, sondern blutige Wahrheit. Die ersten sechs Arbeiter, die um ein Mädchen eine Schlägerei begonnen hatten, waren in Sarajewo bereits zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Zehn Jahre . das war schlimmer als der Tod! Das bedeutete zehn Jahre Arbeit unter Fußtritten und Schlägen, in eisigen Winterstürmen und glühenden Sommern, gefüttert nur mit einer dünnen Wassersuppe und klitschigem Maisbrot, das im Magen aufquoll und wie ein Stein auf die Gedärme drückte. Zehn Jahre Arbeit im Steinbruch, im Bergwerk, an den Küstenfelsen, in Marmorbrüchen ... zehn Jahre ein Tier unter Tieren.
Die Arbeiter gingen stumm auseinander. Am Morgen waren Osiks Plakate zwar von unbekannter Hand von den Wänden gerissen, aber es blieb still im Lager. Die tausend Mann duckten sich, die Leidenschaften wurden in der Stille ausgetragen . man erfuhr nicht mehr, wenn sich zwei schlugen oder ein Messer locker saß ... die anderen in der Baracke deckten sie, und die Verletzten bissen die Zähne zusammen, gingen zur Arbeit und vollendeten ihr Tagessoll, als sei nichts geschehen.
Der einzige, der in diesen Wochen wieder Leben in das Grau des Winters brachte, war Pietro Bonelli. Er hatte von einem Fahrer des Nachschubes die Nachricht erhalten, daß Katja Dobor in Sarajewo im Krankenhaus lag.
»Mamma mia!« schrie Bonelli. »Mein Täubchen ist krank?! Mein armes Vögelchen.« Er rannte zu Ralf Meerholdt und bat um Urlaub wegen >Regelung dringender Familienangelegenheiten^ »Sie ist todkrank, meine Katja«, jammerte er. »Sie liegt im Sterben! Noch einen letzten Blick will sie auf ihren Pietro werfen! Haben Sie Gnade, Padrone ... lassen Sie mich für drei Tage nach Sarajewo.«
Ralf Meerholdt rief im Krankenhaus an und erkundigte sich. Der Arzt, den er sprach, lachte laut, als er von den Sorgen Bonellis hörte. »Ihr fehlt gar nichts! Sie kam eines Tages zu uns und fragte, ob sie bei uns arbeiten könne. Sie wollte mehr Geld verdienen, denn sie habe einen Bräutigam, und wenn der Winter vorbei sei, wolle sie zurück in ihr Dorf und ihm zeigen, was sie alles in den Monaten verdient habe! Ich fand das sehr vernünftig und behielt sie hier. Sie arbeitet auf Station und ist sehr fleißig. Ein nettes Mädchen, Herr Meerholdt. Wollen Sie sie wieder haben?«
»Aber nein. Wenn es so ist.«
»Uns fehlt Personal. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Katja hier bliebe.«
»Von mir aus.« Meerholdt sah zu Bonelli hinüber, der in dem Sessel kauerte und vor Aufregung schwitzte. »Bestellen Sie ihr einen schönen Gruß von uns, Herr Doktor.« Er legte den Hörer auf und wandte sich an Bonelli. »Da haben wir's«, meinte er geheimnisvoll.
Bonelli erbleichte. Er sank in sich zusammen und bebte.
»Ist . ist sie . sehr krank?« stotterte er. »Lebt sie noch?!«
Meerholdt nickte ernst. »Was hast du mit ihr gemacht?!« fragte er streng.
Bonelli schnellte aus seinem Sessel empor. »Ich?« jammerte er. »Ich habe sie geküßt.«
»Und?«
»Und wieder geküßt.«
»Und?«
»Dann hat sie mein weiches Bett bewundert. Padrone - so etwas kannte sie nicht! Sie staunte so süß.«
»Und?«
Bonelli schluckte. »Ja ... und. Naja ... und.« Er hob die Schultern. »Ich will sie ja heiraten, Padrone. Ich habe es ihr vorher schwören müssen.«
Meerholdt lächelte. »Jetzt haben wir die Bescherung.«, meinte er
sarkastisch.
Bonelli war einen Augenblick starr, dann sprang er wie ein Gummiball in die Höhe und schrie. Er warf die Arme in die Luft, tanzte durch das Zimmer und verdrehte die Augen.
»Ein Bambino!« brüllte er. »Ein Bambino! Ein Bambino!« Er rannte aus dem Zimmer, über die Lagergasse und tanzte in seiner Kantine. Vergeblich versuchte Meerholdt, ihn zurückzurufen, ihm den Irrtum klarzumachen . vergeblich. Bonelli hüpfte herum und war für die Umwelt zunächst nicht mehr vorhanden.
Am Abend gab er ein rauschendes Spaghettiessen mit Chiantiwein, Slibowitz und Mandolinenmusik. Die Italiener, unter den Jugoslawen sowieso in der Minderzahl, feierten dieses Ereignis wie ein Volksfest. Aus buntem Papier hatten sie Lampions gebastelt und kreuz und quer durch die Kantine gespannt. Als die Mandolinen aufklangen und ein Quartett neapolitanische Lieder sang, kamen Bonelli Tränen in die Augen.
»Freunde«, sagte er weinend. »Wenn das meine kleine Katja sehen könnte.«
Die Bauern standen glotzend an den Fenstern und starrten in den festlichen Saal. Die Mädchen von Zabari tanzten und kamen sich vor wie in einem Märchen. In der Nacht kam es wegen der Mädchen zu schweren Schlägereien zwischen den Italienern und einigen Zabarianern ... die Verletzten wurden in den Baracken verborgen, Freunde machten ihre Schichten mit. Keine Ausfälle, hieß es. Keine Sabotage! Stanis Osik stellt uns an die Wand, wenn ein einziger der Mädchen wegen ausfällt!
Am zweiten Tag nach Pietro Bonellis Vaterfeier klärte sich der Irrtum auf. Bonelli versank in den Boden, er zertrümmerte einen Tisch und einen Stuhl, warf leere Flaschen auf jeden, der ihm zurief: »Wie geht es dem Bambino?« und ließ sich vier Tage nicht mehr in der Kantine blicken.
Das Lager zehrte noch fünfWochen von diesem Ereignis. In Zabari wurde es ein geflügeltes Wort: »Geh nach Sarajewo zu deinem Bambino!« Wenn Bonelli es hörte, wurde er weiß im Gesicht und
blau in den Lippen.
So ging der Winter über Zabari hin ... wochenlang versank es in einer weißen Wüste. Schnee ... Schnee, nichts als Schnee. Die Wölfe umstrichen das Lager . die Soldaten schossen sieben Stück und ließen sie zur Abschreckung vor den Baracken liegen. Am nächsten Morgen waren sie aufgefressen ... die abgenagten Knochen lagen im Schnee. Und in der Nacht heulten die anderen Wölfe und jagten die Hunde, die nicht schnell genug Schutz bei den Hütten suchten.
Drei . vier Monate . kurze Tage und lange Nächte . ein ewig trüber, grauer Himmel und nachts ein Frost, daß die Stämme der Bäume barsten und das Vieh in den Ställen schrie.
Mitte März riß der Himmel auf, ein blauer Fleck stand über Zabari, bestaunt von den Bauern und den tausend Arbeitern. Mit dem blauen Flecken kam ein warmer Wind . er wehte vom Meer her und suchte sich seinen Weg durch die einsamen Felsen. Mit ihm kam auch die Schneeschmelze nach Zabari . es war, als löse sich die Ordnung der Welt auf und ertränke in rinnenden Bächen, reißenden Bergflüssen und wasserbrodelnden Tälern.
Der Kampf gegen das Wasser begann. Es warf sich gegen den halbfertigen Damm, riß an den Verschalungen, unterspülte die Betonmauern.
Rettet den Damm! Die Natur rächt sich an uns!
Als die ersten Verschalungen brachen, stand Rosa neben dem starren Ralf Meerholdt auf dem Rand des Tales und weinte.
In diesen Monaten des Winters war Jossip nicht einmal hinunter nach Zabari gekommen. Er lebte verborgen in seiner aus dicken Stämmen gezimmerten Hütte, schlief auf dem Ofen und lebte von Hammelfleisch, Milch, Käse, Butter und einem Brot, das er sich aus Mehl und zerriebenen Wurzeln buk. Seine Schafherde lag in einem mit Stroh gefüllten Schober und wartete den Schneefall ab. Auch als die Alarmsirenen von Zabari heraufgellten und die tausend Arbeiter und Bauern gegen den Sturm kämpften, blieb er auf seinen Felsen. Er stieg nur, wenn der Schnee etwas nachließ, auf sein Plateau und blickte hinunter auf die weiße Wüste zu seinen Füßen, aus der hier und da eine dünne Rauchfahne emporstieg. Ein Haus, dachte er dann. Das Haus von Dobor. Und dort die Rauchfahne, das ist Bossik. Und dort Semla, Korvicz, Simfecz und Slatina. Direkt unter dem Felsen, das ist Suhaja. Das ist das Feuer, um das jetzt Rosa sitzt und sich wärmt. Vielleicht sitzt sie auch nicht um die offene Flamme, sondern lebt mit dem Fremden in der Baracke dort hinten am Tal. Dann wurde sein Gesicht hart, und er ging zurück zu seiner Hütte und grübelte.
Als der Schnee lag und der Frost die Bäume des Waldes spaltete, begann Jossips geheimnisvolle Suche. Er hatte beim Wasserholen eine Höhle bemerkt, aus deren unterem, zerklüftetem Gestein ein dünnes Wasserrinnsal lief. Es versiegte und vereiste auch nicht, als der Frost fast alle Quellen zufror und das Wasser nur mit Kraft nach außen dringen konnte. Gleichmäßig, dünn, aber stetig lief das klare Wasser aus der Felsspalte und versickerte nicht weit davon in dem zerrissenen Boden.
Jossip kannte seine Berge. Es gab keine Schlucht, die er nicht durchzogen hatte, kein Tal, in dem er nicht schon rastete, keinen Felsen, auf dessen Spitze er noch nicht gestanden hatte. Auch die Quellen kannte er, die Bergbäche und reißenden Stürze, die bei der Schneeschmelze alles mit sich rissen und hinunter in die Schluchten spülten. Dies kleine Rinnsal sah er zum erstenmal. Er hatte die Spalte etwas erweitert und die Hand hineingesteckt . das Wasser lief einen kleinen Gang herab, der sich nach oben fortsetzte.
Nach oben?! Jossip sah den großen Felsen hinauf, den Felsen, der wie eine breite, ausgestreckte Hand das Dorf Zabari schützte. Das Wasser kam von oben?
Jossip kletterte zu dem Eingang der Höhle empor und kroch auf dem Bauch in den engen Eingang hinein. Finsternis umgab ihn . ein mooriger Geruch stieg aus der Tiefe empor, Kälte überrieselte ihn ... größere Kälte, als sie draußen der Frost über das Land schickte. Er tastete mit den Händen vorwärts . ein schmaler Gang, zerklüftet und feucht, führte ins Unbekannte. Jossip hielt den Atem an ... dann schrie er laut und lauschte. Sein Schrei flog weiter ... er pflanzte sich fort . fern, ganz fern war es, als breche er gegen eine Wand, würde zurückgeworfen und verteile sich in einem riesigen, unterirdischen Gewölbe.
Jossip hielt den Atem an und kroch zurück in den Schnee. Dort saß er auf einem Stein, trotz der Kälte vor Erregung schwitzend, und wischte sich über die Augen.
Eine Riesenhöhle. Sollte der ganze Berg hohl sein?! Hohl wie ein alter Baum, morsch und brüchig, von innen zerfressen? Er sah an dem mächtigen Felsen empor und blickte hinunter auf Zabari, das sich in seinem Schutz duckte. In dem Schutz eines hohlen Felsens, der jeden Augenblick zusammenbrechen und ins Tal brechen konnte, das Dorf, die Menschen, die Tiere zermalmend.
Jossip rannte zu seiner Hütte, riß ein paar Späne vom Ofen und hetzte zur Höhle zurück. Er zögerte, noch einmal in den Eingang zu kriechen . er hatte Angst vor der Wahrheit, die er im Schein der Fackeln sehen würde, Angst vor dem Tode, der über Zabari stand, groß, schwarz, in wundervoller Schönheit, von außen wie die Ewigkeit der göttlichen Gesetze aussehend. Er blickte noch einmal auf das Rinnsal, das unterhalb der Höhle aus dem Felsen trat. Da bezwang er seine Scheu und kroch wieder auf dem Bauch in die Höhle, die Fackeln vor sich herschiebend.
Der Gang war eng und niedrig. Der zuckende Feuerschein leuchtete nicht weit... aber so weit er ging, war der Gang leicht nach oben hinansteigend. Keuchend kroch Jossip weiter, die Kälte, die durch die Höhle wehte, ergriff ihn und schüttelte seinen Körper trotz der Wattejacke und Wattehose, die er angezogen hatte.
Nach vielen Metern wurde der Gang höher. Jossip konnte stehen und tastete sich an den feuchten Wänden entlang nach oben. Er kam in eine größere Ausbuchtung, von der aus der Gang, breit jetzt und hoch, wieder nach unten führte. Das Licht der Fackel flak-kerte, als träfe es ein Windzug, hier, unter der Erde! Jossip blieb stehen und lauschte. Er hörte ein Plätschern, ein leises Rauschen, ein Raunen, das durch den ganzen Berg ging.
Jossip wurde blaß und lehnte sich gegen die kalte, feuchte Wand. Er wagte nicht, den Gang hinunter weiterzugehen - er ließ die eine Fackel ausbrennen und stand dann in der Dunkelheit und zitterte vor Kälte und Angst. Durch die völlige Finsternis hörte er es jetzt nahe und klar . ein Plätschern, ein Rauschen . und er roch es, wie ein Tier witterte er es ... Wasser ... viel Wasser ... eine Welt voll Wasser.
Er überwand noch einmal seine Scheu und ging weiter. Die zweite Fackel loderte ihm voran . an ihr entzündete er eine dritte - in jeder Hand einen feurigen Stab, ging er Schritt für Schritt seiner schrecklichen Ahnung entgegen.
Der Gang wurde feuchter ... breiter ... einmal glitt er aus und fiel gegen die Wand. Dann öffnete sich vor ihm eine Halle, ein Riesenraum ohne Ende. Die Fackeln loderten . sie rissen nicht die Decke der Halle aus der Finsternis, sie reichten nicht hinüber bis zur anderen, in tiefer Schwärze liegenden Wand . so ungeheuer, so weit, so hoch war die Höhle. Aber es gab keinen Boden in diesem hohlen Felsen ... dort, wo sonst das Gestein zerklüftet eine Sohle bildete, war Wasser. Ein gewaltiger See füllte die Halle aus . in dem spiegelklaren Wasser zuckten die Flammen der Fackeln und warfen das Bild des bleichen und zitternden Jossip zurück.
Ein See, ein hohler Felsen mit einem See . ein See, getrennt durch eine Steinwand von Zabari, das unter ihm lag ... ein versunkenes Dorf schon ... ein Atlantis der Berge.
Jossip hielt die Fackeln hoch . er schwenkte sie . ihr Schein erreichte nicht die gegenüberliegende Wand. Von ferne hörte er wieder das Rauschen und Plätschern . die Bäche und unterirdischen Flüsse, die den See speisten, die durch den Felsen rannen und ihn aushöhlten, zermürbten, zerfraßen.
Er bückte sich, ergriff einen Stein und warf ihn vor sich in das stille Wasser. Er beugte den Kopf vor und vernahm nicht den Aufschlag auf den Grund des Sees. Erschüttert setzte sich Jossip auf den nassen Boden und starrte über den schweigsamen, unterirdischen Saal.
Eine Wassersäule von über 100 Metern, umklammert von einem Felsen, stand über Zabari. Es bedurfte nur eines Loches in der Felswand, nur einer Sprengung, und der riesige See würde über das Tal stürzen . alles Leben vernichtend, die Natur umgestaltend . ein jüngstes Gericht.
Entsetzt saß Jossip vor dem See und starrte auf das verzerrte Bild seines Gesichtes, das die Oberfläche des Wassers unter dem zuckenden Fackelschein zu ihm zurückwarf.
Mit dem Beginn des Frühjahrs und dem Abklingen der Schneeschmelze begannen wieder die Arbeiten am Damm. Was die Wassermassen weggerissen hatten, war nur gering im Vergleich zu dem, was halbfertig dem Ansturm standgehalten hatte. Neue Verschalungen wuchsen an den Talwänden empor, der Erdwall wurde verbreitert, der Betonkern verstärkt. Unmittelbar unter der emporwachsenden Sperrmauer wurde der Boden gesprengt, planiert und glattgewalzt . breite Betonplatten mit Eisengeflecht wurden gegossen und in den Boden eingelassen . die Fundamente und Träger der Turbinen, die später in den Hallen des Kraftwerkes eingebaut werden sollten.
Neue Pläne waren in den stillen Monaten entstanden, Verbesserungen, die in Belgrad und Zagreb zur Genehmigung vorlagen. Außer der Ausnutzung des Wasserdruckes für den Antrieb der Turbinen zur Elektrizitätserzeugung hatte Ralf Meerholdt vorgeschlagen, die dicken Wasserstrahlen des abfließenden Wassers nicht einfach als einen kleinen Fluß in irgendeine Schlucht zu leiten und dort weiterzuführen bis zum Tara, sondern mit einem Rohrdrucksystem in jene Gebiete zu drücken, die heute noch unter der Wasserarmut brachlagen, versteppten oder sogar unbewohnt waren. So konnte der Staudamm von Zabari doppelt nützen und restlos ausgewertet werden.
Stanis Osik trug die Pläne wie kostbare Diamanten mit sich herum und schlief mit ihnen unter dem Kopfkissen. »Sie sind Millionen wert!« sagte er zu Elena, die aus Budapest gekommen war und wieder in Zagreb lebte. »Dein süßer Ralf ist ein Genie!«
»Aber nicht wert, dein Schwiegersohn zu sein!« antwortete Elena kampfeslustig.
»Genie und Schwiegersohn sind zwei verschiedene menschliche Begriffe, mein Täubchen! Ein Genie als Schwiegersohn ist das schrecklichste, was einem Vater passieren kann. Es vernichtet ihn mehr als zehn Heuschreckenplagen! Was ich brauche, ist für mein Püppchen ein Mann, der gut aussieht, ein Diplomat ist, eine hohe gesellschaftliche Stellung bekleidet, einen großen Einfluß hat, keinerlei Ambitionen, wenig Geist, möglichst viel Geld und ein gutes Gemüt besitzt und der im übrigen so still ist, daß ich ihn nicht bemerke, es sei denn, er führt mir eure sieben Söhne vor.«
»Ist das alles?« Elena biß die Lippen aufeinander. »Vielleicht schielt er auch noch, hat eine Geliebte, die ihm den Eingang in die Ministerien öffnet -«
»Nicht schlecht«, nickte Osik.
».ist ein Luder, das mich täglich schlägt und sich als Mohammedaner mit der Zeit vier andere Frauen anschafft und als Pascha auf den Kissen sitzt und sich kniend den Kaffee servieren läßt.«
Stanis Osik lächelte breit. »Ein wenig viel, Püppchen. Nicht ganz so schlimm soll man das Leben sehen.«
»Ich werde solch einen Idioten nie und nimmer heiraten!« schrie Elena außer sich.
»Aber ein Genie! Ein wirkliches Genie mit Millionen im Kopf und zehn Dinaren in der Tasche! Einen Fremden! Und auch noch einen Deutschen! Meine Tochter mit einem Deutschen . die Tochter Stanis Osiks, der als Partisan gegen die Deutschen kämpfte, den Tito mit dem höchsten Orden auszeichnete, der bei Zagreb verwundet wurde von einer deutschen Kugel und der in Sarajewo sieben Wochen lang in einem stinkenden Loch von Gefängnis lag, zusammengeschlagen von der SS und zum Tode verurteilt als Partisan . dessen Elena soll einen Deutschen heiraten? Ich machte mich unmöglich!«
»Aber ihr macht euch nicht unmöglich, einen Deutschen, einen solchen schrecklichen Deutschen, als Leiter eurer Bauten einzusetzen, nach seinen Plänen zu bauen, von seinem Geist zu profitieren, mit seinem Wissen euer Land aufzubauen.«
»Es ist eine geistige Wiedergutmachung, wenn du es so willst. Sie haben uns ausgelaugt, die Deutschen, sie haben uns geknechtet, vergewaltigt ... nun kommen sie und bauen wieder auf. für einige tausend Dinare im Monat Lohn, damit die Welt sieht, wie nobel wir sind, wie vergessend, wie großzügig und edel. Wir pumpen ihren Geist für uns aus, wir saugen ihr Genie weg wie ein Vampir das Blut aus dem Körper, wir finden mit ihnen den Anschluß an die Welt wieder, den wir durch sie verloren ... sie werden unser Land groß und unabhängig machen - vom Westen und vom Osten!«
Elena sah ihren Vater mit einer Mißachtung an, die Osik in diesem Augenblick zum erstenmal fast körperlich fühlte.
»Wenn du die Deutschen so haßt, wenn du ihr Genie mißbrauchst, so wäre es das einfachste, Meerholdt mit mir zu verheiraten, um ihn für immer an dein Land zu binden.«
»Es ist auch dein Land, Elena.«
»Gut - dann an unser Land! Als mein Mann wird er für immer hier bleiben und euch seine Pläne geben.«
Stanis Osik hob die Hand. »Was liegt uns daran, Püppchen? Er baut den Damm von Zabari, er wird vielleicht noch drei oder vier andere Stauwerke bauen. Er wird Wasserleitungen entwerfen, Felderbewässerungen . er trägt sich sogar mit dem Gedanken, den Tabak zu veredeln durch große Klimastrahler auf den Tabakfeldern. Eines Tages werden wir ihn ausgenommen haben, wird sein Geist erschlaffen, wird er ein Routinemensch werden, wenn wir alle seine Pläne ausgeführt haben und es nichts mehr gibt, was er verbessern kann. Dann wird er seinen Lohn bekommen: Eine Abfindung von 100.000 Dinaren und einen Tritt in den ausgemergelten Hintern!«
»Du bist ein Schwein!« sagte Elena verächtlich.
»Die Politik ist immer eine Schweinerei!« Osik rauchte eine Zigarre an und betrachtete die kleine, weiße Spitze. Er drehte die Zigarre ein wenig, damit sie gleichmäßig abbrannte. »Aber da die ganze Welt nur eine Suhle ist, dürfen die Schweine ja nicht fehlen.« Er sah Ele-na an, die sprachlos am Fenster stand. »Verstehst du jetzt, warum du Ralf Meerholdt nie heiraten wirst? Sein Kopf ist ein Ei, ein rohes Ei, das ich so lange austrinke, wie etwas aus ihm herauskommt . die Schale werfe ich weg. Willst du eine Schale heiraten?«
»Einen Menschen, einen wirklichen Menschen, den ich liebe!«
»Liebe!« Osik drehte die Zigarre, sie brannte schräg ab, eine Rippe zog sich unter dem Deckblatt hin. »Liebe ist ein dummer Ausdruck für das sexuelle Zueinanderstreben niedriger Kreise! Das gemeine Volk überdeckt damit den Trieb und will ihn in die höhere Sphäre seelischer, vielleicht auch noch göttlicher Gewalt heben. In unseren Kreisen, Püppchen, von einer bestimmten Höhe der gesellschaftlichen Stellung aus, heiratet man mit Vernunft, mit Überlegung, mit Berechnung, mit einer Differenzierung aller Begriffe, die mit Ehe und Moral zusammenhängen. Hier geht es um Posten und Einflüsse, die Ehe wird ein Sprungbrett nach oben, sie soll tragen, nicht hinabziehen . sie soll den Glanz vermehren durch neue Diademe, nicht, indem man die alten mit Putzmitteln blank reibt. Das, was man Liebe nennt, das ergibt sich fast automatisch durch die anatomische Verschiedenheit der Partner.«
Elena legte die Hände gegen die Ohren und wandte sich ab. »Bitte, hör auf!« sagte sie leise. »Ich kann das nicht mehr ertragen!« Sie legte die Stirn gegen die kühle Scheibe des Fensters und schloß die Augen. »Ich habe nie geglaubt, meinen Vater einmal hassen zu können!«
»Weil du jung bist, eine kleine, dumme Gans, deren Gefühle sich regen und die keine Kontrolle über sich selbst gewonnen hat. Im Alter wirst du mir recht geben!«
»Was geht mich das Alter an?« Sie drehte sich herum und schrie: »Ich will eine Jugend haben! Ich will Liebe! Du willst mich um alles betrügen, was andere Mädchen glücklich werden läßt! Du willst mich in ein Glashaus setzen und herumzeigen wie eine Mumie. Seht, das ist meine Nofretete! Seht, nach ihr würde sich Amenophis die Hände geleckt haben! Aber sie ist unverkäuflich, unantastbar . es sei denn, es käme einer, der mich Minister werden ließe und mei-ne Tochter eine Gräfin! Gräfin Elena . dafür öffne ich den Glaskasten, und die Meute kann herein! Wer ist ein Graf, wer kann mich zum Minister machen . wer will . wer will.« Sie trommelte mit den Fäusten gegen ihre Brust. »Aber ich will nicht . ich will nicht! Ich will Liebe . Liebe.«
Stanis Osik nahm die Zigarre aus dem Mund und warf sie fort. »Geile Katze«, sagte er und verließ den Raum.
Am nächsten Morgen war Elena aus dem Haus verschwunden.
Osik brüllte durch die Räume und den weiten Garten, er jagte die Hausmädchen herum, den Chauffeur, den Gärtner ... niemand hatte Elena gesehen. Sie mußte in der Nacht, unbemerkt von allen, das Haus und Zagreb verlassen haben.
Die Polizei, die Osik alarmierte, war ratlos. Ein junger Leutnant schüttelte den Kopf. »Mit drei Koffern ist sie weg?« sagte er gedehnt. »Das sieht wie eine Flucht aus. Hatten Sie Streit miteinander?«
Stanis Osik warf die Polizisten aus dem Haus und telefonierte mit Foca.
»Wenn meine Tochter kommt, sofort festhalten, bis ich nachkomme!« schrie er den Leiter des Nachschublagers von Foca an. Dann überwand er sich und rief Zabari an. Er verlangte Ralf Meerholdt und wartete, bis man ihn von der Baustelle holte.
»Hier Osik«, sagte er, sich mühsam beherrschend. »Wie geht's in Zabari?«
»Alles in Ordnung.« Ralf Meerholdt wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war gerannt und noch etwas außer Atem. »Was machen meine neuen Pläne?«
»Sie werden geprüft . sie sind ganz gut! Vielleicht kommen wir auf sie zurück.« Osik schluckte. »Ist Elena bei Ihnen?« fragte er dann.
Meerholdt fuhr zusammen. »Elena?« rief er verblüfft. »Nein - ich habe sie seit fast dreiviertel Jahren nicht mehr gesehen!«
Osik stöhnte leise. »Dann wird sie morgen oder übermorgen zu Ihnen kommen! Sie ist auf dem Wege nach Zabari. Tun Sie mir den einen Gefallen und rufen Sie mich sofort an, wenn sie eintrifft! Ich reise heute noch nach Foca.«
»Selbstverständlich!« Meerholdt nagte an der Unterlippe. »Ich rufe sofort an, wenn sie kommt.«
Osik legte auf. Seine Stimme war nicht begeistert, grübelte er. Er war sofort bereit anzurufen. Sollte das alles nur ein Hirngespinst von Elena sein? Weiß am Ende Meerholdt gar nichts von ihrer Leidenschaft für ihn? Er rauchte wieder eine Zigarre an und versank in Grübeln. Wenn es wirklich so ist, dann wäre die Reise Elenas nach Zabari die beste Heilung! Die Kühle Meerholdts mußte sie ernüchtern. Er rauchte mit halbgeschlossenen Augen und versuchte, sein aufgeregtes Innere zu besänftigen. In diesem Augenblick glich er einem Orientalen, der im Angesicht eines großen Schicksals ruhig wird, lächelt und an die Allmacht Allahs glaubt.
Ralf Meerholdt hatte den Hörer noch immer in der Hand, als Osik schon längst aufgelegt hatte. Er sah aus dem Fenster hinaus über das Tal und den Weg, den Raupenschlepper von den letzten Steinsperren der Schneeschmelze säuberten.
Elena ist auf dem Wege nach Zabari. Das Schicksal macht nicht halt . es hatte nur eine Pause den Winter über eingelegt. Mit der Sonne des Frühlings kam die Entscheidung zurück, der er ausweichen wollte, bis sich vielleicht alles von selbst in die Bahn lenkte, die eine Zukunft verhieß.
Elena, geflohen aus Zagreb, war auf dem Weg zu ihm. Vielleicht fuhr sie schon über die schlammige Bergstraße, kämpfte sich die Serpentinen empor, wich den letzten Steinschlägen an den Hängen aus.
Und nebenan, durch eine dünne Bretterwand getrennt, saß Rosa am Fenster in der Sonne und stopfte seine schadhafte Wäsche und kochte des Mittags die Gerichte ihrer Heimat und trug sie in sein Zimmer mit dem Lächeln seligen Glücks, ihm dienen zu dürfen. Bevor sie aßen, küßten sie sich, und nach dem Essen küßten sie sich wieder. In der Nacht begegneten sie sich, jeder auf dem Weg zu dem anderen. Sie sahen sich an, stumm, tief atmend, und er nahm sie auf seine Arme und trug sie in sein Zimmer. Als er zum Lichtschalter griff, nahm sie seine Hand und drückte sie zurück auf ihre Brust.
»Kein Licht«, flüsterte sie. »Die Dunkelheit ist so weich wie deine Hand.« Später drehte sie dann selbst das Licht an und beugte sich über ihn. »Ich muß dein Gesicht sehen«, sagte sie zärtlich. »Ich will sehen, wie es aussieht, wenn du glücklich bist.«
Und er war glücklich, löschte das Licht und zog sie zu sich hinunter.
Ralf Meerholdt schloß die Augen und legte den Hörer hin.
Elena kommt nach Zabari -