3. Oh, welch verworrenes Netz wir weben...

Es blieb ihnen nichts anderes übrig als die Angelegenheit zu Protokoll zu geben. Jemanden zu finden, der sie zu Protokoll nahm, war schon schwieriger; da das Regiment für seinen neuen Posten aufgestockt und ausgestattet wurde, herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Die übliche Parade war vorerst ausgesetzt, und niemand war, wo er sein sollte. Es war kurz nach Sonnenuntergang am folgenden Tag, als Grey endlich auf Quarry stieß, und zwar im Rauchersalon des »Beefsteaks«.

»Meint Ihr, sie haben die Wahrheit gesagt?« Quarry spitzte die Lippen und blies nachdenklich einen Rauchkringel in die Luft. »Scanion und die Frau?«

Grey, der sich darauf konzentrierte, seine frische Cheroot-Zigarre zum Ziehen zu bringen, schüttelte den Kopf. Als die Zigarre ordentlich zu brennen schien, entfernte er sie von seinen Lippen, um zu antworten.

»Sie ja - zum Großteil. Er nicht.«

Quarry zog die Augenbrauen hoch, dann runzelte er die Stirn.

»Seid Ihr sicher? Ihr habt gesagt, er war nervös; könnte das nicht einfach daran liegen, dass er nicht wollte, dass Ihr Mrs. O'Connell entdeckt - und damit seine Beziehung zu ihr?«

»Doch«, sagte Grey. »Aber auch nachdem wir mit ihr gesprochen hatten, ich kann nicht genau sagen, worüber Scanion gelogen hat - oder auch nur, dass er tatsächlich gelogen hat. Aber er wusste etwas über O'Connells Tod, das er nicht geradeheraus erzählt hat, oder ich fresse einen Besen.«

Quarry grunzte als Antwort und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er zog heftig an seiner Zigarre und starrte konzentriert zur Decke. Von Natur aus träge, hasste Quarry es zu denken, doch er konnte es, wenn er musste.

Aus Respekt vor der Mühe, die ihm dies abforderte, sagte Grey nichts und zog nur dann und wann an der spanischen Zigarre, die Quarry, der eine Vorliebe für dieses exotische Kraut hegte, ihm aufgedrängt hatte. Er selbst rauchte normalerweise nur zu medizinischen Zwecken, wenn ihn ein schwerer Schnupfen plagte, doch der Rauchersalon des »Beefsteaks« bot ihnen um diese Tageszeit die beste Gelegenheit zu einer Unterredung unter vier Augen, da die meisten Mitglieder jetzt beim Abendessen waren.

Greys Magen knurrte bei dem Gedanken an Abendessen, doch er ignorierte das. Später war noch genug Zeit zum Essen.

Quarry nahm die Zigarre gerade so lange aus dem Mund, dass er »Zum Teufel mit Eurem Bruder« sagen konnte, dann steckte er sie wieder hinein und nahm seine Betrachtung der pastoralen Szene an der Stuckdecke über ihren Köpfen wieder auf.

Grey nickte, denn er stimmte mit dieser Aussage zutiefst überein. Hal war Oberst des Regiments und Oberhaupt der Greyschen Familie. Hal war in Frankreich - seit einem Monat. Seine vorübergehende Abwesenheit erwies sich jetzt als unangenehme Bürde für jene, deren Pflicht es war, die Verantwortung zu schultern, die normalerweise die seine war. Doch daran war nichts zu ändern; Pflicht war Pflicht.

In Hals Abwesenheit oblag das Kommando über das Regiment dessen beiden regulären Obersten, Harry Quarry und Bernard Sydell. Grey zögerte keine Sekunde bei seiner Entscheidung, wem er Bericht erstatten sollte. Sydell war ein älterer Herr, mürrisch und streng, der nur wenig über seine Soldaten wusste und sich noch weniger für sie interessierte.

Einer der ewig wachsamen Bediensteten, der das sich abzeichnende Inferno beobachtete, trat wortlos vor und setzte

Quarry ein kleines Porzellanschälchen auf die Brust, bevor die qualmende Zigarrenasche seine Weste in Brand setzen konnte. Quarry ignorierte ihn und schmauchte rhythmisch vor sich hin, wobei er ab und zu leise aufgrollte.

Greys Zigarre war ausgegangen, als Quarry schließlich das Porzellanschälchen von seiner Brust entfernte und die nassen Überreste seiner Zigarre aus dem Mund nahm. Er setzte sich gerade hin und seufzte tief.

»Es hilft alles nicht«, sagte er. »Ihr müsst es erfahren.«

»Was denn?«

»Wir glauben, dass O'Connell ein Spion war.«

Erstaunen und Bestürzung wetteiferten mit einem gewissen Gefühl der Genugtuung um einen Platz in Greys Brust. Er hatte gewusst, dass an der Brewster's Alley etwas nicht stimmte.

»Spion für wen?« Sie waren allein; der allgegenwärtige Bedienstete war momentan verschwunden, doch Grey sah sich dennoch um und senkte seine Stimme.

»Wir wissen es nicht.« Quarry drückte seinen Zigarrenstummel in das Schälchen und stellte es beiseite. »Das war der Grund, warum Euer Bruder sich entschieden hat, ihn erst einmal in Ruhe zu lassen, nachdem uns der Verdacht gekommen war - in der Hoffnung, seinen Auftraggeber zu entdecken, sobald das Regiment wieder in London war.«

Das leuchtete ein; zwar war es gut möglich, dass O'Connell unterwegs gut nützliche militärische Informationen gesammelt hatte, doch es musste ihm sehr viel einfacher gefallen sein, diese im wimmelnden Ameisenhaufen Londons weiterzugeben, wo sich tagaus, tagein Menschen aus aller Herren Länder in den Fluten des Handels tummelten, die die Themse entlang geflossen kamen, als in der Beengtheit des Militärlagers.

»Oh, ich verstehe«, sagte Grey und warf Quarry einen scharfen Blick zu, als ihm ein Licht aufging. »Hal hat die

Gerüchteküche über den neuen Standort des Regiments ausgenutzt, nicht wahr? Stubbs hat mir nach dem Essen erzählt, er habe von DeVries gehört, dass wir definitiv wieder nach Frankreich geschickt würden - wahrscheinlich nach Calais. Ich nehme an, das war eine Finte, die O'Connells wegen gelegt wurde?«

Quarry sah ihn ausdruckslos an.

»Gab keine offizielle Verlautbarung, oder?«

»Nein. Und wir können davon ausgehen, dass das Zusammenfallen einer solchen inoffiziellen Entscheidung mit Sergeant O'Connells plötzlichem Ableben hinreichend, äh... interessant ist?«

»Geschmackssache, würde ich sagen«, sagte Quarry mit einem erneuten tiefen Seufzer. »Ich würde es ein verflixtes Ärgernis nennen.«

Der Bedienstete kam lautlos wieder in das Zimmer und trug einen Humidor in der einen Hand, einen Pfeifenständer in der anderen. Die Zeit des Abendessens ging zu Ende, und jene Mitglieder, die gern ein Verdauungspfeifchen rauchten, würden in Kürze den Flur entlangkommen, um ihre Pfeifen an sich zu nehmen und sich auf ihrem Lieblingssessel niederzulassen.

Grey saß einen Augenblick stirnrunzelnd da.

»Warum ist der. fragliche Gentleman denn. unter Verdacht geraten?«

»Erratet Ihr das denn nicht selbst?« Quarry zog eine Schulter hoch und ließ es im Unklaren, ob seine Schweigsamkeit in seinem eigenen Unwissen oder in offizieller Diskretion begründet lag.

»Verstehe. Dann ist mein Bruder also vielleicht in Frankreich - und vielleicht auch nicht?«

Ein schwaches Lächeln ließ die weiße Narbe auf Quarrys Wange zucken.

»Das müsst Ihr doch besser wissen als ich, Grey.«

Der Bedienstete war wieder aus dem Zimmer gegangen, um die anderen Humidore zu holen; mehrere Clubmitglieder bewahrten ihre persönlichen Tabak- und Schnupftabakmischungen hier auf. Er konnte schon hören, wie im Speisezimmer die Nachtisch-Gespräche lauter wurden. Grey beugte sich vor, bereit aufzustehen.

»Aber Ihr habt ihn natürlich beschatten lassen - O'Connell. Jemand muss ihn in London genau beobachtet haben.«

»Oh, ja.« Quarry schüttelte sich, um seine Kleider ansatzhaft zu ordnen, strich sich die Asche von den Knien seiner Hose und zog seine zerknitterte Weste glatt. »Hal hat einen Mann gefunden. Sehr diskret und in guter Position. Einen Dienstboten, der bei einem Freund der Familie angestellt ist - das heißt, Eurer Familie.«

»Und dieser Freund ist -?«

»Der Ehrenwerte Joseph Trevelyan.« Quarry stand umständlich auf und ging als Erster aus dem Raucherzimmer. Grey blieb es überlassen, ihm nach bestem Vermögen zu folgen, während ihm mehr als nur der Tabakqualm die Sinne betäubte.

Auf grauenhafte Weise war das Ganze einleuchtend, dachte er, während er Quarry zum Ausgang folgte. Trevelyans und Greys Familien standen seit zwei Jahrhunderten in enger Verbindung, und zum Teil war es Joseph Trevelyans Freundschaft mit Hal, die überhaupt zu seiner Verlobung mit Olivia geführt hatte.

Es war keine enge Freundschaft; eine, die in gemeinsamen Bekannten, Clubs und politischen Interessen begründet lag, nicht aber in persönlicher Zuneigung. Dennoch, wenn Hal auf der Suche nach einem diskreten Mann war, den er auf O'Connells Spur ansetzen konnte, hatte er außerhalb der Armee suchen müssen - denn wer wusste schon, mit wem sich

O'Connell zusammengetan hatte, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Regiments? Also hatte er offenbar seinen Freund Trevelyan angesprochen, der ihm seinen eigenen Dienstboten empfohlen hatte. und es war einfach nur perfide Ironie, dass er, Grey, gerade jetzt wiederum gezwungen war, sich in Trevelyans Privatangelegenheiten einzumischen.

Vor dem »Beefsteak« hatte der Türsteher eine Mietdroschke angehalten; Quarry war bereits eingestiegen und winkte Grey ungeduldig.

»Kommt schon, kommt schon! Ich verhungere. Wir fahren zu Kettrick's, ja? Da machen sie eine exzellente Aalpastete. Darauf hätte ich jetzt Lust, und vielleicht ein oder zwei Eimer Starkbier dazu. Um den Qualm herunterzuspülen, was?«

Grey nickte und legte seinen Hut neben sich auf den Sitz, damit er nicht zerdrückt wurde. Quarry steckte den Kopf zum Fenster hinaus und rief dem Fahrer etwas zu, dann zog er ihn ein und ließ sich seufzend auf die schmutzigen Polster sinken.

»Also«, fuhr Quarry mit etwas lauterer Stimme fort, um sich im Rattern und Quietschen der Kutsche Gehör zu verschaffen, »dieser Mann, Trevelyans Dienstbote - Byrd ist sein Name, Jack Byrd -, hat ein Zimmer gegenüber der Schlampe gemietet, mit der O'Connell zusammengelebt hat. Ist dem Sergeant in den letzten sechs Wochen auf Schritt und Tritt durch London gefolgt.«

Grey blickte aus dem Fenster; sie hatten seit einigen Tagen schönes Wetter, doch es war im Begriff umzuschlagen. Donner grollte in der Ferne, und er konnte den nahenden Regen in der Luft spüren, die ihm das Gesicht kühlte und die Lungen erfrischte.

»Was sagt dieser Byrd denn, was in der Nacht geschehen ist, als O'Connell umgebracht wurde?«

»Nichts.« Quarry setzte sich die Perücke fester auf, und ein feuchter Windstoß fuhr durch die Kutsche.

»Er hat O'Connell aus den Augen verloren?«

Quarrys kantige Gesichtszüge verzogen sich ironisch.

»Nein, wir haben Jack Byrd aus den Augen verloren. Seit der Nacht, in der O'Connell umgekommen ist, hat man von ihm nichts mehr gehört oder gesehen.«

Die Droschke wurde langsamer, und der Kutscher trieb seine Pferde erneut an, als sie in die Straße am Fluss einbogen. Grey zog sich in Erwartung ihrer Ankunft seinen Umhang um die Schultern und ergriff seinen Hut.

»Auch kein Leichenfund?«

»Nein. Was sehr darauf hindeutet, dass das, was O'Connell zugestoßen ist, keine einfache Wirtshausrauferei war.«

Grey rieb sich das Gesicht und spürte das Kratzen der Bartstoppeln an seinem Kinn. Er hatte Hunger, und sein Leinenhemd war schmutzig nach dem anstrengenden Tag. Es war klamm, und er fühlte sich schäbig und gereizt.

»Was wiederum darauf hindeutet, dass das, was geschehen ist, nicht Scanions Schuld war - denn warum sollte er sich für Byrd interessieren?« Er war sich nicht sicher, ob ihn diese Schlussfolgerung freuen sollte oder nicht. Er wusste, dass der Apotheker ihn angelogen hatte - doch gleichzeitig hatte er Mitgefühl mit Mrs. O'Connell. Es würde ihr schlecht ergehen, wenn Scanion wegen Mordes festgenommen und verurteilt wurde - und noch schlechter, wenn man sie der Mitwisserschaft bezichtigte.

Die gegenüberliegende Sitzbank wurde in Licht und Schatten getaucht, als sie nun langsam an einigen Fackelträgern vorbeiklapperten, die einer Gruppe von Fußgängern heim leuchteten. Er sah, wie Quarry mit den Achseln zuckte. Offenbar machte ihn der Hunger genauso reizbar wie ihn selb st.

»Wenn Scanion gesehen hatte, dass Byrd O'Connell beschattet hat, ist es gut möglich, dass er Byrd auch aus dem

Weg geschafft hat - doch warum sollte er sich die Mühe machen, es zu verheimlichen? Eine Prügelei kann doch genauso gut mit mehreren Leichen enden wie mit einer. Kommt weiß Gott oft genug vor.«

»Aber wenn es jemand anders war?«, sagte Grey langsam. »Jemand, der O'Connell entweder aus dem Weg schaffen wollte, weil der zu viele Fragen stellte, oder aus Angst, verraten zu werden.?«

»Sein Auftraggeber? Oder zumindest jemand, der in dessen Auftrag gehandelt hat. Könnte sein. Und wiederum - warum die Leiche verstecken, wenn er Byrd auch auf dem Gewissen hat?«

Die Alternative lag auf der Hand.

»Er hat Byrd nicht umgebracht. Er hat ihn gekauft.«

»Verdammt wahrscheinlich. Als ich von O'Connells Tod erfahren habe, habe ich sofort einen Mann auf sein Zimmer geschickt, aber er hat nicht das Geringste gefunden. Und Stubbs hat sich genau in der Wohnung der Witwe umgesehen, als Ihr dort wart - nichts, sagt er. Nicht ein Fetzen Papier.«

Er hatte Stubbs herumstöbern sehen, während er die Absprachen zur Auszahlung von O'Connells Pension an dessen Witwe traf, hatte jedoch zum damaligen Zeitpunkt nicht besonders darauf geachtet. Doch es stimmte; Mrs. O'Connells Zimmer war spartanisch möbliert und enthielt keinerlei Bücher oder sonstige Papiere.

»Wonach haben sie denn gesucht?«

Das Bärengrollen, das als Erwiderung aus dem Dunklen kam, hätte von Quarry stammen können, hätte aber auch nur sein Magen sein können, der seinem Hunger Ausdruck verlieh.

»Ich weiß nicht mit Gewissheit, wie es aussieht«, räumte Quarry zögerlich ein. »Aber es muss ein Schriftstück sein.«

»Ihr wisst es nicht? Was ist es - oder darf ich das nicht wissen?«

Quarry betrachtete ihn, während seine Finger bedächtig neben ihm auf den Sitz trommelten. Dann zuckte Quarry mit den Achseln; zum Teufel mit der offiziellen Diskretion.

»Kurz vor unserer Rückkehr aus Frankreich hat O'Connell die Ausrüstungsnachforderungen nach Calais gebracht. Er war spät dran - alle anderen Regimenter hatten ihre Bestellungen schon seit Tagen eingereicht. Der verdammte Idiot, der sie entgegengenommen hat, hat das Ganze einfach auf seinem Schreibtisch liegen gelassen, falls Ihr Euch das vorstellen könnt! Das Büro war zwar abgeschlossen, aber trotzdem.«

Als er aus seiner ausgedehnten Mittagspause zurückkam, hatte der Schreiber die Tür aufgebrochen vorgefunden, den Schreibtisch leer geräumt - und auch der letzte Fetzen Papier war aus dem Büro verschwunden.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ein Einzelner so viel Papier tragen könnte, wie sich normalerweise in einem solchen Büro ansammelt«, sagte Grey halb im Scherz.

Quarry machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Es war nur so ein Schreiberloch, nicht das eigentliche Büro. Es war sonst nichts von Wichtigkeit darin - bis auf die vierteljährlichen Bedarfsmeldungen für jedes britische Regiment zwischen Calais und Prag.!«

Grey spitzte die Lippen und nickte beipflichtend. Die Sache war ernst. Informationen über Truppenbewegungen und -aufstellungen waren streng geheim, aber solche Pläne ließen sich ändern, wenn bekannt wurde, dass die Information in die falschen Hände gefallen war. Der Munitionsbedarf eines Regiments konnte nicht geändert werden - und die Summe dieser Informationen konnte einem Feind fast bis auf das einzelne Gewehr genau verraten, wie stark jedes einzelne Regiment war und über welche Waffen es verfügte.

»Trotzdem«, sagte er. »Es muss eine riesige Menge Papier gewesen sein. Nichts, was ein Mann einfach so verborgen am

Körper tragen könnte.«

»Nein, es war schon ein großer Rucksack oder Seesack -etwas in der Art - notwendig, um es fortzuschaffen. Aber genau das hat irgendjemand getan.«

Natürlich war sofort Alarm geschlagen und eine Durchsuchung in die Wege geleitet worden, doch Calais war ein mittelalterlicher Bienenstock, und man hatte nichts gefunden.

»Unterdessen war O'Connell verschwunden - buchstäblich; er hatte drei Tage Urlaub, nachdem er die Bedarfsanforderungen eingereicht hatte. Wir haben ihm nachgestellt; haben ihn am dritten Tag gefunden. Er hat nach Alkohol gestunken und so ausgesehen, als hätte er die ganze Zeit nicht geschlafen.«

»Was ja nichts Besonderes wäre.«

»Das ist wahr. Aber man kann davon ausgehen, dass ein Mann auch so aussieht, wenn er zwei Tage und Nächte in einem gemieteten Zimmer gesessen hat und eine Zusammenfassung dieser Papiermenge hergestellt hat, um sie in etwas sehr viel Kleineres und Transportableres zu verwandeln - und die Bestellungen dann ins Feuer geworfen hat.«

»Dann hat man sie also nie gefunden - die Originale?«

»Nein. Wir haben O'Connell genau beobachtet; er hat danach keine Gelegenheit mehr gehabt, die Information an irgendjemanden weiterzugeben - und wir halten es für unwahrscheinlich, dass er sie übergeben hat, bevor wir ihn gefunden haben.«

»Weil er jetzt tot ist - und weil Jack Byrd verschwunden ist.«

»Rem acu tetigisti«, erwiderte Quarry und prustete dann selbstzufrieden vor sich hin.

Grey musste lächeln. Es bedeutete, >du hast die Angelegenheit mit einer Nadel berührt< - den Nagel auf den Kopf getroffen. Wahrscheinlich das einzige lateinische Zitat, das Quarry aus seiner Schulzeit behalten hatte, abgesehen von cave canem.

»Und war O'Connell der einzige Verdächtige?«

»Nein, verdammt. Das war ja das Problem. Wir konnten ihn nicht einfach festnehmen und die Wahrheit aus ihm herauspressen, ohne einen anderen Beweis zu haben als die Tatsache, dass er dort war. Mindestens sechs andere Männer -alle aus anderen Regimentern, verflucht! - waren zum nämlichen Zeitpunkt ebenfalls dort.«

»Ich verstehe. Also stellen die anderen Regimenter jetzt in aller Stille Nachforschungen über ihre schwarzen Schafe an?«

»Genau. Andererseits«, fügte Quarry folgerichtig hinzu, »sind die anderen fünf noch am Leben. Was uns ja möglicherweise etwas sagt, nicht wahr?«

Die Droschke kam zum Stehen, und die Geräusche und Gerüche von Kettrick's Eel-Pye House drangen zum Fenster herein: Gelächter und Gespräche, brutzelndes Essen und klappernde Holzteller. Der Salzwassergeruch eingelegter Aale, Bieraroma und der Trost herrlicher Pasteten umspülten sie warm und beruhigend.

»Wissen wir mit Sicherheit, wie O'Connell umgebracht worden ist? Hat sich irgendjemand aus dem Regiment die Leiche angesehen?«, fragte Grey plötzlich, während Quarry schwerfällig auf den Bürgersteig trat.

»Nein«, sagte Quarry, der sich nicht umsah, sondern unbeirrt auf den Eingang zuhielt. »Das werdet Ihr morgen tun, bevor sie den Kerl beerdigen.«

Grey wartete, bis ihre Pasteten serviert waren, bevor er den Versuch unternahm, Widerspruch gegen Quarrys Ankündigung einzulegen, dass er, Grey, von Stund an seiner anderen Dienstpflichten enthoben sei, um die Ermittlungen bezüglich der Tätigkeiten und des Todes von Sergeant Timothy O'Connell zu leiten.

»Warum ich? Die Sache ist doch mit Sicherheit ernst genug, um den ranghöchsten Offizier auf den Plan zu rufen - das seid Ihr, Harry«, sagte er, »oder möglicherweise auch Bernard.«

Quarry, der den Mund voller Aalpastete hatte, hatte für einen glückseligen Moment die Augen geschlossen. Er kaute genüsslich, schluckte, dann öffnete er widerstrebend die Augen.

»Bernard - haha! Sehr witzig.« Er strich sich die Krümel von der Brust. »Was mich angeht. normalerweise wäre es wohl meine Sache. Es ist aber so - ich war auch in Calais, als die Listen gestohlen wurden. Ich könnte es selbst gewesen sein. Natürlich war ich es nicht, aber möglich wäre es.«

»Aber Euch würde doch bestimmt kein vernünftiger Mensch verdächtigen, Harry.«

»Ihr haltet das Kriegsministerium also für vernünftig?« Quarry zog zynisch die Augenbrauen hoch und hob seinen Löffel.

»Verstehe. Aber trotzdem.«

»Crenshaw hatte Heimaturlaub«, führte Quarry den Namen eines anderen Hauptmanns an. »Hätte in England sein sollen, aber wer kann sagen, ob er nicht heimlich nach Calais zurückgefahren ist?«

»Und Hauptmann Wilmot? Ihr könnt doch nicht alle Urlaub gehabt haben!«

»Oh, Wilmot war im Feldlager, wo er hingehörte, über jeden Verdacht erhaben. Aber er hatte letzte Woche in seinem Club eine Art Anfall. Apoplexie, sagt der Quacksalber. Kann nicht laufen, kann nicht sprechen, kann keine Leichen begutachten.« Quarry zeigte kurz mit dem Löffel auf Greys Brust. »Tja. Euch hat's erwischt.«

Grey öffnete den Mund, um weiterzudiskutieren, doch da ihm kein gutes Argument mehr einfiel, schob er stattdessen ein Stück Pastete hinein und kaute mürrisch darauf herum.

Mit der üblichen Ironie des Schicksals befreite ihn der Skandal, der ihn in Ungnaden nach Ardsmuir verschlagen hatte, jetzt von jedem Verdacht, da er der einzige einsatzfähige, ranghohe Offizier des Regiments war, der unmöglich etwas mit dem Verschwinden der Listen aus Calais zu tun haben konnte. Harry war ein Genie, wenn es darum ging, unangenehme Aufgaben zu vermeiden, aber in der gegenwärtigen Situation musste Grey zugeben, dass Harry nicht allein daran schuld war.

Wie immer war das Wirtshaus voller Menschen, doch sie hatten eine Bank in einer abgelegenen Ecke gefunden, und ihre Uniformen hielten die anderen Gäste auf Sicherheitsabstand. Das Klappern der Löffel und Pastetenformen, das Rumpeln und Schaben des Bänkerückens und der Lärm der Gespräche, der von den Balken der niedrigen Decke abprallte, lieferte ihnen mehr als genug Deckung für eine Unterhaltung unter vier Augen. Dennoch beugte sich Grey dichter zu Quarry hinüber und senkte die Stimme.

»Weiß der Gentleman aus Cornwall, von dem wir vorhin gesprochen haben, dass sein Dienstbote nicht zu finden ist?«, fragte Grey umsichtig.

Quarry nickte, während er sich mit großem Eifer über seine Aalpastete hermachte. Er hustete, um einen Pastetenkrümel aus seiner Kehle zu lösen, dann trank er einen großen Schluck Bier.

»O ja. Wir dachten, der besagte Dienstbote hätte vielleicht angesichts dessen, was dem Sergeant zugestoßen ist, Angst bekommen - in welchem Fall es seine natürliche Reaktion gewesen wäre. zu seinem Arbeitgeber zurückzuschleichen.« Quarry sah Grey mit gerunzelter Stirn an, um anzuzeigen, dass er die Notwendigkeit zur Diskretion schon verstand - hielt ihn Grey etwa für begriffsstutzig?

»Habe Stubbs losgeschickt, um nach ihm zu fragen keine Spur von ihm. Trevelyan ist bestürzt.«

Grey nickte, und das Gespräch wurde vorübergehend unterbrochen, weil sich beide Männer auf ihre Mahlzeit konzentrierten. Grey schabte gerade mit einem Stück Brot durch seine leere Pastetenform, um sich nur ja keinen Tropfen der herzhaften Brühe entgehen zu lassen, als Quarry, der zwei Pasteten und drei große Humpen Bier verdrückt hatte, gemütlich rülpste und beschloss, zum geselligen Teil überzugehen.

»Wo wir gerade von Gentlemen aus Cornwall sprechen, was habt Ihr in Bezug auf Euren Schwager in spe unternommen? Habt Ihr den Bordellausflug schon arrangiert?«

»Er sagt, er geht nicht ins Bordell«, erwiderte Grey mürrisch, weil er sich nur ungern an das Thema der Hochzeit seiner Cousine erinnerte. Himmel, waren Spionage und Mordverdacht denn nicht genug?

»Und Ihr lasst ihn Eure Cousine heiraten?« Quarry runzelte die Stirn. »Woher wisst Ihr denn, dass er nicht impotent ist oder Sodomit, von krank gar nicht zu reden?«

»Ich bin mir hinreichend sicher«, sagte Lord John und unterdrückte den plötzlichen, wahnwitzigen Drang anzumerken, dass der Ehrenwerte Mr. Trevelyan schließlich nicht ihn beim Pinkeln beobachtet hatte.

Er hatte Trevelyan früher am Tag besucht und ihn zum Abendessen und diversen libidinösen Zerstreuungen eingeladen, um einen zünftigen Junggesellenabschied zu feiern. Trevelyan hatte die Einladung zum Abendessen dankend angenommen, jedoch behauptet, er habe seiner Mutter auf dem Totenbett versprochen, sich niemals mit Prostituierten einzulassen.

Quarrys buschige Augenbrauen schossen in die Höhe.

»Was für eine Mutter redet denn auf dem Totenbett über Huren? Das würde Eure Mutter aber nicht tun, oder?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Grey. »Die Gelegenheit hat sich zum Glück noch nicht ergeben. Aber ich gehe davon aus«, sagte er, um vom Thema abzulenken, »dass es tatsächlich Männer gibt, die auf derlei Vergnügungen verzichten.«

Quarry warf ihm einen Blick voll zynischem Zweifel zu.

»Verdammt wenige«, sagte er. »Und Trevelyan gehört nicht dazu.«

»Ihr scheint Euch da ja sehr sicher zu sein«, sagte Grey leicht pikiert.

»Das bin ich auch.« Quarry lehnte sich zurück und machte ein selbstzufriedenes Gesicht. »Hab mich ein bisschen umgehört -nein, nein, ich war ganz diskret, kein Grund zur Sorge. Trevelyan besucht ein Haus in der Meacham Street. Eine gute Wahl; bin selbst schon dort gewesen.«

»Oh!« Grey schob seine leere Pastetenform beiseite und zog interessiert eine Augenbraue hoch. »Ich frage mich, warum er dann nicht mit mir hingehen will.«

»Hat vielleicht Angst, dass Ihr es Olivia erzählt und dem Mädchen seine Illusionen raubt.« Quarry zog seine breite Schulter hoch, und damit waren Trevelyans mögliche Motive abgetan. »Wie auch immer - wie wär's mit einem Besuch bei den Huren dort? Der Kerl, mit dem ich gesprochen habe, sagt, er sieht Trevelyan mindestens zweimal im Monat dort - also kann Euch das Mädchen, das er zuletzt hatte, mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, ob er die Syph hat oder nicht.«

»Ja, vielleicht«, sagte Grey langsam. Quarry fasste dies als spontane Zustimmung auf, spülte die Überreste seines letzten Biers hinunter und rülpste leise, als er den Krug abstellte.

»Vortrefflich. Dann gehen wir übermorgen.«

»Übermorgen?«

»Muss morgen zum Abendessen zu meinem Bruder - bei meiner Schwägerin steht Lord Worplesdon auf dem Programm.«

»Gedünstet, gekocht oder en croute gebacken?«

Quarry prustete los, und sein ohnehin rotes Gesicht nahm vor angestrengter Belustigung einen noch kräftigeren Farbton an.

»Oh, der war gut, Johnny! Ich werde ihn Amanda erzählen -apropos, soll ich sie bitten, Euch einzuladen? Sie mag Euch schließlich sehr.«

»Nein, nein«, sagte Grey hastig. Auch er mochte Quarrys Schwägerin, Lady Joffrey, war sich aber nur zu gut bewusst, dass sie ihn nicht nur als Freund betrachtete, sondern auch als Beute - als potenziellen Ehemann für eine ihrer Myriaden von Schwestern und Cousinen. »Ich habe morgen schon etwas vor. Aber dieses Bordell, das Ihr entdeckt habt-«

»Tja, am besten würden wir das sofort erledigen, da habt Ihr Recht«, sagte Harry und schob seine Bank zurück. »Aber Ihr braucht heute Nacht Euren Schlaf, wenn Ihr morgen früh auf Leichenschau gehen wollt. Außerdem«, fügte er hinzu, während er sich seinen Umhang um die Schultern schwang, »bin ich nicht der Beste im Bett, wenn ich Aalpastete gegessen habe. Davon muss ich furzen. «

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