Erster Teil Der falsche Ritter

Kapitel 1

Unser Herbst ist sehr schön.

Ich lag auf einer glatten Steinplatte, die aus unerfindlichen Gründen nicht verbaut worden, sondern ans Flussufer gelangt war, und schaute in den Himmel. Über der Kuppel tobte ein Sturm. Die Sonne war klein und dunkelrot, weil sie vom wirbelnden Sand verdeckt wurde. Die Außenbewohner hatten es jetzt sehr schwer. Bei ihnen herrscht eine erhöhte Radioaktivität, der feine Sandstaub kriecht in jede Ritze.

»Tiki-Tiki!«

Ich drehte mich um, obwohl ich genau wusste, wer das war. Nur Dajka nennt mich Tiki-Tiki. Seit der ersten Klasse. Zuerst wollte sie mich damit ärgern, mittlerweile aber nicht mehr. Das glaubte ich jedenfalls.

»Wohin schaust du?«

»Zum Raumschiff«, schwindelte ich. Es war wirklich ein Raumschiff am Himmel. Sicher ein Erztransporter vom Hafen 2. Es kämpfte sich mit Hilfe seiner Plasmatriebwerke durch den Sturm und zog eine orange Schleife aus Protuberanzen hinter sich her. Nichts Atemberaubendes. Der Sturm an sich war entschieden interessanter.

»Ein schönes Raumschiff!«, rief Dajka. »Ich wäre gern Pilot.«

Sie streckte sich neben mir aus, sodass ich zur Seite rücken musste. Sie trug einen neuen Badeanzug, ganz wie eine Erwachsene. O lala!

»Hm«, sagte ich, »du würdest zu einem Eiszapfen gefrieren!«

Dajka schwieg einige Zeit und erwiderte: »Na und? Du wirst auch kein Pilot.«

»Wenn ich es will, werde ich es«, antwortete ich. Dajka störte mich. Sie war mir zu aufdringlich und konnte einfach nicht verstehen, dass ich allein sein wollte. Ganz allein.

»Weißt du denn nicht, wie viel eine Pilotenausbildung kostet?«

»Viel.«

»So viel wirst du niemals verdienen!«

»Wenn ich Glück habe, verdiene ich genug.« Ich hielt es nicht mehr aus. »Aber du kannst garantiert kein Pilot werden! Du hast kein Y-Chromosom! Dich kann man im Weltraum nur als Gepäck befördern. Tiefgekühlt, mit Eiszapfen an den Wimpern.«

Dajka sprang auf und ging schweigend weg. Das war gemein von mir. Sie begeisterte sich mehr als mancher Junge für den Kosmos. Aber sie hat nun einmal kein Y-Chromosom. Und das bedeutet, dass sie stirbt, wenn sich das Raumschiff im Zeitsprung befindet. Natürlich nur dann, wenn sie nicht in Anabiose liegt. Eben mit Eiszapfen an den Wimpern…

»Dajka!«, rief ich und stützte mich auf die Ellenbogen, »Dajka!«

Aber sie ging weiter, ohne sich umzusehen.

Also räkelte ich mich wieder auf der Steinplatte und folgte mit dem Blick der Flugbahn des Raumschiffs. Der Zeitkanal, den die Raumschiffe für den Flug zwischen den Sternen benutzen, verläuft ganz in unserer Nähe. In einer Stunde würde das Raumschiff in ihn eintauchen und das Erz auf einen Industrieplaneten transportieren. Und danach vielleicht in andere interessante Welten. Natürlich würde ich nie genug Geld verdienen, um mir eine Pilotenausbildung leisten zu können.

Wenn ich überhaupt jemals in den Kosmos fliegen könnte, dann sowieso nur als Bestandteil eines Computers. Als »Gehirn in der Flasche«, wie das landläufig genannt wird.

Aber es ist immerhin eine Art Fliegen. Manchmal verdient man dadurch so viel, dass man ein richtiger Pilot werden kann. Ich drehte mich um und warf ein Steinchen an Glebs Schulter. Gleb sonnte sich nicht weit von mir. Er war es eigentlich, der mich an den Fluss gelockt hatte, denn er hält einzig die Herbstbräune für gesund und echt. Gleb hob den Kopf vom Handtuch und schaute mich fragend an. Entweder hatte er mein Gespräch mit Dajka nicht gehört oder ihm keine Beachtung geschenkt.

Also erklärte ich ihm, was ich vorhatte.

Gleb meinte, ich sei ein Idiot. Der Anschluss eines menschlichen Gehirns an einen Computer als »Modul« würde nämlich Neuronen verbrennen, den freien Willen unterdrücken und einen verdummen. Da sei es schon einfacher, ins »Haus des Abschieds« zu gehen, davon habe wenigstens der Staat noch einen Nutzen…

In diesem Moment erinnerte er sich an meine Eltern und hielt inne. Ich nahm es ihm nicht übel. Erwiderte lediglich, dass viele berühmte Piloten damit angefangen hätten, als Module in Raumschiffen zu arbeiten. Man muss rechtzeitig kündigen, das ist wichtig. Und wenn man es überhaupt riskieren will, dann genau in unserem Alter, solange das Gehirn noch formbar ist und sich entwickelt. Dann kann es alles kompensieren.

Gleb wiederholte, dass ich ein Idiot sei, und räkelte sich unter der trüben orangefarbenen Sonne. Ich sagte auch nichts mehr, legte mich wieder hin und schaute in den Himmel. Er ist bei uns sogar bei schönem Wetter orange. Auf der Erde und dem Avalon ist er blau. Er kann auch grün, dunkelblau oder gelb aussehen. Die Wolken müssen nicht aus Sand sein, es gibt welche aus Wasserdampf. Wenn du aber nur auf dem Karijer bleibst, bekommst du das nicht zu sehen.

Auf einmal wurde mir klar, wie einfach alles war, dass es gar keinen Ausweg gab:

Hier konnte, wollte und würde ich nicht leben. Der Sozialarbeiter unseres Wohngebiets war eine Frau. Vielleicht sorgte sie sich deshalb so um mich, als ich ihr mitteilte, dass ich mich als Modul auf einem Raumschiff verdingen wollte. Sie sah mich lange an, ganz als ob sie erwartete, dass ich rot werden, mich abwenden und die Antragsunterlagen vom Tisch nehmen würde. Aber ich blieb sitzen und wartete, bis sie aufgab und die Aktenmappe öffnete.

Meine Unterlagen waren in Ordnung. Die staatliche Ablösesumme für die Arbeitserlaubnis im Kosmos konnte ich mit meinem Recht auf die Lebenserhaltungssysteme und der Wohnung, die mir die Eltern überschrieben hatten, bezahlen. Drei Zimmer zu acht Quadratmetern, Küche und Sanitärblock… Meine Eltern hatten wirklich einmal gut verdient. Die Mindestgrundausbildung hatte ich erhalten. Die Wohnungsnachbarn gaben mir wirklich sehr gute Beurteilungen. Vielleicht rechneten sie damit, die Wohnung untereinander aufteilen zu können.

»Tikkirej«, meinte die Beamtin leise, »eine Arbeit als Modul ist Selbstmord. Verstehst du das?«

»Ja.« Ich hatte mir vorgenommen, weder zu diskutieren noch etwas zu erklären.

»Du wirst im Koma liegen und dein Gehirn wird Datenströme verarbeiten!«

Sie verdrehte die Augen zur Decke, als ob man ihr selbst die Kabel mit den Datenströmen an den Neuroshunt angeschlossen hätte.

»Du wirst erwachsen, dann älter werden, nur für wenige Tage im Monat erwachen, und dein Körper ist plötzlich gealtert. Verstehst du das? Das ist ungefähr so, als würdest du nicht einhundert Jahre leben wie alle anderen Menschen, sondern nur ein Zwanzigstel davon. Kannst du dir das vorstellen, Tikkirej? Dir bleiben noch fünf Jahre zum Leben!«

»Ich arbeite fünf bis zehn Jahre, dann kündige ich und werde Pilot«, sagte ich.

»Was heißt kündigen!?« Die Beamtin schlug mit der Akte auf den Tisch. »Du willst das dann gar nicht mehr! Dein Gehirn verlernt es, irgendetwas zu wollen!«

»Mal sehen«, erwiderte ich.

»Ich werde nichts unterschreiben, Tikkirej«, erklärte die Beamtin. »Nimm deine Unterlagen und geh in die Schule. Deine Eltern haben sich so um dich gekümmert und du…«

»Sie haben kein Recht, nicht zu unterschreiben«, sagte ich. »Sie wissen das selbst ganz genau. Wenn ich keine Unterschrift bekomme, gehe ich zum städtischen Sozialdienst und beschwere mich über Sie. Wegen grundloser Ablehnung einer Erlaubnis wird man Ihnen das Nutzungsrecht für die Lebenserhaltungssysteme für ein halbes Jahr oder, wenn es ganz schlimm kommt, für ein Jahr entziehen. Das Gesetz muss geachtet werden!«

Das Gesicht der Frau bekam rote Flecken. Sie war ehrlich davon überzeugt, dass sie wusste, was für mich am besten wäre.

»Du hast dich informiert?«, fragte sie.

»Na klar. Ich bereite mich immer vor.«

Die Beamtin öffnete noch einmal die Akte und unterschrieb die Papiere…

»Zimmer 8, dort wird gesiegelt und kopiert«, sagte sie trocken und reichte die Unterlagen zurück.

»Danke«, verabschiedete ich mich.

»Schöne fünf Jahre, Gehirn in der Flasche…«, flüsterte sie giftig.

Mir machte das nichts aus. Vielleicht hat auch sie früher wie Dajka davon geträumt, in den Kosmos zu fliegen. Auf unseren Planeten kamen natürlich keine interessanten Raumschiffe.

Was sollten hier auch reiche Touristen oder Militärs? Jedes halbe Jahr landete ein Passagierschiff, das bis zur Erde flog, aber seine Mannschaft war sicher komplett. Gütertransporter kamen dafür täglich. Und auf jedem Gütertransporter, sogar dem kleinsten, müsste es neben der Mannschaft zehn bis zwölf Module geben.

Also nahm ich das Geld, das von den Eltern übrig geblieben war, meine eigenen Ersparnisse und die Münzsammlung des Großvaters, die zwar keinen großen Wert hatte, deren Münzen aber noch im Umlauf waren. Ich machte mich auf den Weg zum Kosmodrom, ging zuerst unter der Erde aus der Wohnkuppel in die technische und fuhr danach mit dem Bus durch den offenen Raum. Niemand beachtete mich. Vielleicht glaubten alle, dass ich zu meinen Eltern fahren würde, die irgendwo auf dem Kosmodrom arbeiteten.

Als der Bus am Hotel hielt, bezahlte ich und stieg aus.

Wir hatten auf Karijer keine eigene Weltraumflotte und auch keine entsprechende Personalvermittlung. Wenn also ein Flugkapitän Module brauchte, ging er einfach in die Bar des Kosmodroms und wartete dort bei einem Glas Bier. Das hatte ich von Erwachsenen gehört und in den Nachrichten gesehen und wollte es jetzt selbst ausprobieren.

Die Bar sah nicht so luxuriös aus wie im Fernsehen. Obwohl, da war die Tafel mit den Autogrammen berühmter Piloten, ein Stück von der Hülle eines Kampfraumschiffs des Imperiums, ein Tresen mit außerplanetaren Getränken, die ein Vermögen kosteten. Aber all das war klein. In der Bar waren vielleicht zehn Gäste. Dabei dachte ich, dass die Bar riesig sein würde, mindestens so groß wie die Schulturnhalle…

Im Halbdunkel, durch das wunderschöne holographische Bilder schwebten, ging ich zum Tresen. Ich sah auf die Preise und erstarrte. Ein Glas Limonade kostete hier mehr als eine Zweiliterflasche im Geschäft. Aber was blieb mir übrig? Ich suchte meinen größten Geldschein heraus, bestellte ein Glas Ingwerbier, nahm das Wechselgeld entgegen und setzte mich auf einen hohen Drehstuhl.

Der Barkeeper, ein ganz junger Mann mit einem Radio im Shunt beobachtete mich neugierig. Dann schaute er auf die Kaffeemaschine, die summte und eine Tasse betörend duftenden Kaffees zubereitete.

»Entschuldigung, sind hier Flugkapitäne?«, fragte ich.

»Ach so«, erwiderte der Barkeeper, »dass ich das nicht gleich gemerkt habe… Nein, mein Junge. Auf dem Kosmodrom sind gegenwärtig nur zwei Erztransporter, der eine schon auf Startposition.«

»Fliegt er bald los?«, wollte ich wissen und trank einen Schluck. Schmeckte gut.

»In ein paar Minuten, du wirst es hören. Wenn du willst, mache ich den Monitor an.«

»Als ob ich noch keinen Start gesehen hätte! Aber wie finde ich den zweiten Kapitän?«

»Willst du als Modul anheuern?«

Er sagte nichts vom »Gehirn in der Flasche«, deshalb fand ich ihn sofort sympathisch.

»Woher wissen Sie das?«

Der Barkeeper lachte. »Was sollte denn ein Halbwüchsiger sonst in dieser Bar machen? Etwa Ingwerbier trinken, das hier mehr kostet als ein Mittagessen in der Stadt? Du brauchst keinen Flugkapitän, mein Freund. Die Kapitäne heuern richtige Kosmonauten an, für die Module sind die Ältesten zuständig.«

»Aber die Module gehören auch zur Mannschaft!«

»Ja, ungefähr so wie meine Kaffeemaschine. Möchtest du einen Kaffee? Ich lade dich ein.«

Ich hätte gern einen Kaffee getrunken, aber ich schüttelte den Kopf.

Der junge Mann schaute mich an und zuckte nach einer Weile mit den Schultern. »Ich werde dir nicht auf die Nerven gehen, die brauchst du noch. Was hast du für einen Neuroshunt?«

»Kreativ-Gigabit.«

Er schien sich zu wundern.

»Tja, das ist nicht schlecht. Und alle Unterlagen sind vollständig? Und die Eltern sind einverstanden?«

»Die Eltern haben ihr Verfassungsrecht in Anspruch genommen. Vor einer Woche.«

»Alles klar«, er stellte die Tasse zur Seite, »dort in der Ecke, unter dem Eisenteil…«

Er hatte nichts übrig für das ruhmreiche Stück aus der Panzerung des Kampfschiffes.

»Ja, und?«, fragte ich.

»Der Kerl, der Wodka säuft, ist der Älteste des zweiten Erztransporters. Spendiere ihm etwas zu trinken, das gehört sich so. Und biete deine Dienste an.«

Ich schaute sofort auf die Preisliste, aber der Barkeeper verdeckte sie mit seiner Hand.

»Du wolltest keinen Kaffee, also… gib mir einfach ein Zeichen und ich bringe etwas.«

»Danke«, murmelte ich. Die Alkoholpreise hatte ich gesehen. Wenn ich hätte bezahlen müssen, wäre nicht einmal Geld für die Rückfahrt übrig geblieben.

»Dafür bedankt man sich nicht. Wenn du davon überzeugt bist, dass du richtig handelst, dann geh!«

»Danke«, wiederholte ich störrisch.

Auf einmal schwankte die Bar leicht. Durch die verdunkelten Fenster brach ein roter Schein. Der Älteste am Ecktisch erhob das Glas, als ob er mit jemand Unsichtbarem anstoßen wollte, und trank es in einem Zug aus.

»Der ist überladen, fliegt mit dem Hauptmotor«, bemerkte der Barkeeper, »also, entscheide dich, Junge.«

Ich sprang vom Barhocker und ging zum Ältesten. Es war nicht so, dass ich Hemmungen gehabt hätte. Letztendlich war ich dazu bereit, jeden Tag hierherzukommen. Aber der nette Barkeeper würde mir nicht jedes Mal helfen. Ich wollte mir diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen.

Der Älteste hob den Kopf und schaute mich aufmerksam an.

Vor ihm stand eine fast leere Flasche.

Papa hätte niemals so viel getrunken. Der Kosmonaut wirkte nicht einmal betrunken. Er war ungefähr vierzig Jahre alt, ohne besondere Kennzeichen. Keine Narben, keine kosmische Bräune, keine künstlichen Organe.

»Guten Abend«, sagte ich, »darf ich Sie einladen?«

Eine Weile schwieg der Älteste, dann zuckte er mit den Schultern. »Bitte!«

Ich winkte dem Barkeeper zu, der mir mit einem völlig ernsten und undurchdringlichen Gesicht zunickte. Er stellte zwei volle Gläser auf das Cybertablett und sandte es durch den Saal. Der kleine Gravitator des Tabletts blinkte orangefarben, er entlud sich. Aber das Tablett kam problemlos am Tisch an, schaffte es sogar, durch die Hände eines Typs zu schlüpfen, der lachend nach einem Glas griff.

Erst daraufhin nahm ich beide Gläser und realisierte, dass auch ich trinken musste.

Bisher hatte ich nur Hopfenbier und Sekt probiert. Den Sekt allerdings vor so langer Zeit, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, und das Bier hatte mir nicht geschmeckt.

»Das hat beim Start ganz schön gewackelt, findest du nicht?«, sagte plötzlich der Älteste.

Ich erinnerte mich an die Worte des Barkeepers und antwortete: »Fliegt mit dem Hauptmotor. Überladen.«

»Dumm bist du nicht, Junge«, bemerkte der Älteste zufrieden, »na dann, auf einen guten Flug…«

Er trank mit einem Schluck aus und verzog dabei keine Miene.

Ich musste daran denken, wie Vater Wodka trank: Er hielt die Luft an und goss ihn mit einem Schluck in sich hinein. Schleunigst spülte ich mit Ingwerbier nach. Das war Klasse. Die Nase kribbelte vom scharfen Aroma und im Hals wurde es warm. So musste es sein.

»Okay«, sagte der Älteste, »nun sag schon, was du willst!«

»Ich möchte meine Dienste als Modul anbieten«, sprudelte es aus mir heraus.

»Welcher Shunt?«

»Kreativ-Gigabit.«

»Für Dauerbetrieb zugelassen?«

»Vierundachtzigeinhalb.«

Der Älteste kratzte sich am Kinn. Schenkte sich Wodka nach und schaute mich fragend an. Ich nickte und er goss mein Glas halb voll.

»Hast du eine Genehmigung?«

»Ja.« Ich griff in die Tasche, aber der Kosmonaut schüttelte den Kopf: »Nicht jetzt… alles geregelt, alles geklärt, alle Genehmigungen vorhanden, ich glaube dir… aber warum?«

»Ich möchte hier nicht leben«, antwortete ich ehrlich.

»Wenn du gesagt hättest, du könntest ohne den Kosmos nicht leben, hätte ich dir den Riemen zu kosten gegeben«, äußerte sich der Älteste etwas nebulös, »Aber hier leben… ja, das würde ich auch nicht wollen… Weißt du denn überhaupt, was ein Modul ist?«

»Darunter versteht man den Onlineanschluss eines Gehirns als Prozessor der ununterbrochenen Datenverarbeitung, welche die Navigation im Hyperkosmos ermöglicht«, legte ich los. »Da beim Überschreiten der Konstante c die Schnelligkeit elektronischer Datenverarbeitungssysteme direkt proportional zur Geschwindigkeit des Raumschiffs abnimmt, stellt die Nutzung der Fähigkeiten des menschlichen Gehirns die einzige Navigationsmethode im Zeittunnel dar.«

»Du kannst dabei nicht denken!«, erklärte der Älteste. »Du wirst dich nicht einmal an etwas erinnern. Der Stecker wird angeschlossen und du schaltest dich ab. Erst nach der Landung lebst du wieder auf. Der Kopf tut etwas weh, und es kommt dir vor, als ob nur eine Minute vergangen wäre, lediglich ein Bart ist dir inzwischen gewachsen… na ja, bei dir vielleicht nicht gerade. Und? Was ist daran so schön?«

»Ich möchte hier nicht leben«, wiederholte ich. Dieser Grund schien den Ältesten ja überzeugt zu haben.

»Die Bezahlung der Module ist progressiv. Während der fünf Jahre Realzeit kannst du genügend Geld sparen, um in die Kosmonautenschule aufgenommen zu werden«, führte der Älteste aus. »Außerdem hast du das richtige Alter dafür. Die Sache hat aber einen Haken: Die Arbeit im Dauerbetrieb schädigt die Prozesse der Motivation und Zielsetzung im Gehirn. Du möchtest dann nicht mehr weg. Verstehst du das?«

»Ich schon.«

»Nur zwei Prozent der Personen, die als Modul tätig sind, verlassen ihren Platz nach Ablauf des fünfjährigen Standardvertrages. Ungefähr ein Prozent kündigt den Vertrag vorzeitig. Alle anderen arbeiten bis… bis zum Tod.«

»Ich riskiere es.«

»Du liebst das Risiko.« Der Älteste erhob das Glas und trank. Ich zögerte und folgte dann seinem Beispiel. Dieses zweite Mal klappte es nicht so richtig, ich fing an zu husten und der Älteste klopfte mir auf den Rücken.

»Nehmen Sie mich, bitte«, flehte ich ihn an, nachdem ich wieder atmen konnte. »Ich verdinge mich so oder so als Modul. Wenn nicht bei Ihnen, dann eben bei einem anderen.«

Der Älteste erhob sich. In seiner Flasche war noch ein Rest, aber er schien nicht darauf zu achten. Die Kosmonauten sind alle ungeheuer reich.

»Gehen wir!«

Als wir hinausgingen, blinzelte ich dem Barkeeper zu. Er lächelte und winkte mir zu. So, als ob er mir nicht wirklich zustimmen, aber meine Entscheidungsfreiheit anerkennen würde.

Ein wirklich guter Mensch, bestimmt deshalb, weil er auf dem Kosmodrom arbeitete.

Durch das schöne Hotelfoyer gingen wir zu den Fahrstühlen.

Wortlos zeigte der Älteste dem Sicherheitsdienst seinen galaktischen Pass. Der Sicherheitsdienst ließ ihn ebenso wortlos passieren. Neben den Fahrstühlen befand sich in einer Nische noch eine kleine Bar. Dort saßen ungefähr fünf junge Frauen, alle sehr schön und sehr verschieden — eine Asiatin, eine Schwarze und eine Weiße. Sie tranken genüsslich ihren Kaffee. Die Asiatin schaute zu uns herüber und sagte etwas zu ihren Freundinnen, die zu lachen anfingen.

»Kuscht euch, ihr Pack!«, schnappte der Älteste und sein Gesicht färbte sich dunkelrot.

Die Damen lachten noch mehr. Ich schaute sie verstohlen von der Seite an, als wir uns im gläsernen Fahrstuhl in die oberen Etagen bewegten.

»Wir warten erst einmal ab, was der Arzt sagt«, teilte mir der Älteste mit. »Eurem Gesundheitswesen vertraue ich nicht.«

»Hm«, stimmte ich ihm zu, »unser Gesundheitswesen ist gut, aber veraltet.«

Ich folgte dem Ältesten durch eine der Türen. Wir befanden uns in einem luxuriösen Hotelzimmer mit Videoscreen, auf dem gerade ein Historienfilm lief. Im Sessel davor hing ein hagerer, großer Mann, der einen edlen Glaskelch mit irgendeinem Getränk in der Hand hielt.

Das Glas sah ihm sehr ähnlich und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Es lief überhaupt alles wie am Schnürchen!

»Anton«, sagte der Älteste und schubste mich nach vorn, »untersuche den Jungen. Er will als Modul bei uns anfangen.«

Der Mann wandte sich um, stellte das Glas ab und sagte: »Die Dummen werden immer jünger. Hast du ihm wenigstens klargemacht, was es bedeutet, auf Dauerbetrieb zu sein?«

»Habe ich. Er kennt sich aus.« Der Älteste kicherte. »Hat sogar bemerkt, dass die Arizona mit Hauptmotor gestartet ist.«

Anton beugte sich zum Videoscreen vor und schaltete ihn aus. Das Licht im Zimmer wurde heller. Mir fiel auf, dass die Zimmerfenster genauso undurchsichtig waren wie in der Bar. Bestimmt missfällt den Kosmonauten unser Planet dermaßen, dass sie alle Fenster abdunkeln.

»Zieh dich aus!«, befahl er.

»Ganz?«, fragte ich.

»Nein, die Stiefel kannst du anbehalten.«

Er machte sich natürlich über mich lustig. Wer trägt denn Stiefel innerhalb der Kuppel? Ich zog mich nackt aus und legte meine Kleidung über den Stuhl, den mir der Älteste zuschob.

»Was hast du für einen Shunt?«, fragte Anton, »einen Neuron?«

Wie dankbar ich doch meinen Eltern war! In meiner Klasse hatten fast alle einen Neuron, ein fürchterliches Ding. Ich sagte, dass ich einen Kreativ hätte.

»Ein ernstzunehmender Junge«, bestätigte Anton und holte ein kleines Köfferchen hervor.

»Stell dich hierhin!«

Ich stellte mich hin wie gewünscht und bewegte die Arme wie befohlen. Anton holte ein Kabel aus dem Köfferchen und warnte mich: »Gleich wird dir schwindlig!«

Mir war so schon schwindlig, aber das verriet ich ihm nicht. Der Weltraumarzt — Anton war auf alle Fälle einer — schloss das Kabel an meinen Neuroshunt an und stellte vor mir einen Scanner auf ein Stativ.

»Hast du gute Nerven?«, wollte er wissen.

»Sicher!«

»Das ist auch gut so!«

Der Videoscreen leuchtete wieder auf. Nur dass jetzt ich darauf zu sehen war. Der Scanner summte leise, der Detektorkopf vibrierte. Die Abbildung auf dem Screen begann sich zu verändern.

Zuerst kam es mir vor, als ob man mir die Haut abziehen würde. Ich warf einen schnellen Blick auf mich, um mich zu überzeugen, dass sie noch an Ort und Stelle war.

Um mein Abbild leuchteten verschiedene Bezeichnungen und Ziffern auf. Nicht in Lingua, sondern in einer unbekannten Sprache.

»Ernährst du dich vollwertig?«, fragte Anton.

»Ja.«

»Das ist verteufelt gut… Eindeutig, du bist nicht zum Säckeschleppen bestimmt.«

Jetzt verschwanden von meinem Abbild sämtliche Muskeln. Übrig blieben die Knochen und die inneren Organe. Ich krümmte mich und fühlte eine aufsteigende Übelkeit.

»Tut dir oft der Magen weh?«, erkundigte sich der Arzt.

»Nein, niemals.«

»Warum lügst du? Man sieht es ja doch… Pawel! Hast du ihm etwa Wodka eingeflößt?«

»Das ist so üblich. Wir haben ein Gläschen miteinander getrunken.«

»Eine Mannschaft von Schwachsinnigen… Junge, gab es bei dir positive Mutationen?«

»Ja. Den Komplex Inferno.«

Ich hielt die Augen geschlossen und hörte, wie Anton dem Ältesten erklärte: »Siehst du, dass die Organe des Immunsystems vergrößert sind? Die Nieren sind für die Ausschwemmung von Nukliden ausgelegt, Schilddrüse und Hoden geschützt. Der Junge kann ziemlich gut mit Radioaktivität leben. Und auch die üblichen Kleinigkeiten — ein gänzlich von Lymphgewebe ausgefüllter Blinddarm, ein verstärktes Herz…«

»Anton, mir wird gleich übel. Erspare mir den Anblick eines skelettierten Kindes!«

»Wie du willst…«

Ich öffnete wieder die Augen und schaute auf mein eigenes Skelett. Das war mir recht sympathisch, wirkte aber ziemlich mickrig.

»Hattest du dir die Hand gebrochen?«, fragte der Arzt.

»Die rechte«, bestätigte ich. In meinem Gesundheitspass gab es darüber schon keine Eintragung mehr, und ich hatte darauf gehofft, dass niemand davon erfahren würde.

»Nicht so schlimm, ist ganz gut zusammengewachsen«, beruhigte mich Anton. Er nahm sich einen Handdetektor, kam näher und untersuchte mich mit dem Schallkopf, ohne einen Blick auf den Screen zu werfen.

»Annehmbar?«, interessierte sich der Älteste. Er saß im frei gewordenen Sessel, trank bedächtig Antons Getränk aus und rauchte eine Zigarette.

»Der Körper ist in Ordnung«, gab Anton zu, »jetzt prüfen wir den Shunt auf Durchgängigkeit… Wann warst du das letzte Mal auf Toilette, mein Junge?«

»Hä?«, ich verstand den Zusammenhang nicht.

Anton zog eine Grimasse: »Okay, vielleicht bleibt es ihm erspart.«

»Sicher bleibt es ihm erspart«, bekräftigte der Älteste fröhlich.

Anton fasste mich kräftig unter die Oberarme, hob mich hoch und empfahl: »Halt es zurück!«

Das Kommando gab er sicherlich über seinen Shunt. Ich verlor nämlich sofort das Bewusstsein. Als ich nach einem Augenblick wieder zu mir kam, tat mein Kopf weh und die Hände zitterten leicht. Anton hielt mich noch immer fest. Meine Beine waren nass und über den Boden kroch eine Reinigungsschildkröte, die ab und zu an meine Hacken stieß.

Ich hatte mich bepinkelt!

»Geh duschen, diese Tür da«, sagte mir Anton. »Wasch dich und zieh dich an.«

Er verzog zwar das Gesicht, war mir aber anscheinend nicht böse. Ich nahm meine Sachen und verschwand im Bad, rot wie ein Krebs und davon überzeugt, dass nun alles zu Ende sei.

Ein schönes Modul, bei dem die Schließmuskeln nichts aushalten… Unter der Dusche dachte ich traurig, dass ich besser gleich verschwinden sollte, ohne mich noch einmal bemerkbar zu machen.

Ich ging aber doch zurück.

Anton saß wieder in seinem Sessel, das Köfferchen war verstaut, über die Wände liefen künstliche bunte Verzierungen. Der Älteste rauchte. Der Boden war sauber und trocken.

»Verzeihung«, murmelte ich.

»Ich bin ja selber schuld«, äußerte Anton plötzlich, »hatte dich zu lange unter Spannung.«

»Lange?«, fragte ich irritiert.

»Eine Viertelstunde. Es waren zu interessante Werte. Du hast nicht vierundachtzigeinhalb, wie es im Attest steht, sondern neunzig Komma sieben. Hervorragende Werte. Damit wirst du in die Kriegsflotte aufgenommen, Abteilung Pilot und Raumschiffkapitän.«

Der Älteste schien meine Angst zu verstehen.

»Aber wir nehmen dich doch, wir nehmen dich«, sagte er, »wenn du unbedingt willst, bist du als Modul eingestellt.«

»Obwohl ich empfehlen würde, das Gehirn zu schonen«, bemerkte Anton. »Verstehst du, mein Freund, die Stirnhirnlappen sind nicht für den Dauerbetrieb geschaffen. Sie… wie soll ich das ausdrücken… schlafen ein. Sie fangen an zu faulenzen. Mit allen unangenehmen Folgen…«

Plötzlich fing er an zu lachen. Ich ahnte den Grund und wurde wieder rot.

»Zusammengefasst, ich würde dir abraten«, fuhr Anton schon ernster fort, »ehrlich. Aber wenn du darauf bestehst, nehmen wir dich mit Kusshand. Wir brauchen immer Module.«

»Ich… ich bin bereit.«

»Musst du noch irgendwelche Dinge regeln?«, fragte mich der Älteste.

»Ja.«

Ich konnte ja nicht ahnen, dass sich alles so schnell entscheiden würde!

»Dann komm morgen früh hierher. Wir starten am Abend… Wobei dir das eigentlich egal sein kann.«

Ich nickte und zog mich zur Tür zurück.

»Warte!«, rief Anton plötzlich. »Ich möchte dir noch eine Sache erklären, mein Junge. Jetzt unterhalten wir uns mit dir, und das ist für uns angenehm, denn du bist ein kluger, tapferer Kerl. Der durchaus unser Kollege werden könnte… unser echter Kollege. Wenn du aber ein Modul wirst, wird sich alles verändern. Wir werden uns dir gegenüber völlig anders verhalten. Auch wenn du dir nach der ersten Reise das Kosmodrom des anderen Planeten anschauen wirst, noch fröhlich, neugierig und interessiert. Wir werden uns mit dir dann nicht mehr unterhalten, Späße machen und lachen. Wir haben nämlich Hunderte von solchen wie dich gesehen, am Anfang noch klug, mutig und gut. Und wenn man euch wie normalen Menschen begegnen würde, nachdem ihr an den Dauerbetrieb angeschlossen wart, dann würden das die stärksten Nerven nicht aushalten.«

Ich fühlte mich wie nach einem Schlag ins Gesicht. Ich würgte an einem nicht existenten Brocken im Hals, denn ich mochte den Ältesten und sogar den gemeinen, fiesen Arzt.

Jetzt jedoch sahen sie mich sehr ernsthaft an und…

Genau wie ich die Eltern, als sie mir vom »Haus des Abschieds« erzählten.

»Als Mannschaftsmitglied und Miteigentümer des Raumschiffs, der damit seinen Lebensunterhalt verdient, möchte ich dich sehr gern als Modul anwerben«, sagte der Älteste und hüstelte, »aber als Mensch, der selbst Söhne großzieht, würde ich dir nicht zuraten.«

»Ich komme«, flüsterte ich.

»Hier, nimm!« Der Älteste kam auf mich zu und gab mir einige zusammengeheftete Blätter.

»Das ist unser Arbeitsvertrag für Module. Es ist ein Standardvertrag, genau wie er von der Gilde empfohlen wurde. Lies ihn dir trotzdem sorgfältig durch. Alles Weitere ist dann deine Entscheidung.«

Ich nahm den Vertrag an mich und verließ den Raum. In meinem Kopf summte es und die Haut über dem Ohr um den Shunt herum juckte ein wenig. Das kam von der Aufregung.

Außerdem war mir unheimlich, dass sowohl der Älteste als auch der Arzt ehrlich zu mir gewesen waren. Dass sie gute Menschen waren.

Dass ich vorhatte, sie alle zu betrügen.

Kapitel 2

Lediglich Gleb begleitete mich zum Abschied.

Schwänzte die Schule und kam mit.

Bis zur letzten Minute nahm er mich nicht ernst, obwohl er die leere Wohnung gesehen hatte, aus der das städtische Mobiliar abgeholt und alles, was den Eltern gehörte, in einem kleinen Container im Keller eingelagert war.

»Du bist geisteskrank«, stieß Gleb aus, als der Bus zum Kosmodrom einbog. Er begann mir zu glauben. »Dabei verblödest du doch! Sag mal, hast du nie alte Module gesehen?«

»Die haben nicht rechtzeitig aufgehört«, sagte ich. Meinen Koffer mit den Sachen hielt ich auf den Knien. Laut Vertrag standen mir zwölf Kilogramm Gepäck zu.

»Auch du wirst nicht rechtzeitig den Absprung schaffen. In fünf Jahren verkalkt das Gehirn!« Gleb leckte sich über die Lippen. »Ich habe ein Los der Imperiumslotterie, weißt du das eigentlich?«

Ich wusste es. Gleb hatte eine Chance von eins zu zwanzig, eine kostenlose Ausbildung auf einem beliebigen Gebiet zu gewinnen. Er wollte natürlich Pilot werden.

»Willst du es haben?«

»Deine Eltern schlagen dich tot!«, erwiderte ich.

»Nein. Sie schlagen mich nicht tot. Ich habe bereits mit ihnen gesprochen. Ich kann das Los auf dich überschreiben lassen. Willst du?«

Ein Los der Imperiumslotterie — das ist schon was. Ich hätte nicht mal davon träumen können. Dafür habe ich einen Neuroshunt Kreativ und Gleb nur einen Neuron.

»Danke, Gleb. Ist nicht nötig.«

Er klimperte verstört mit seinen feuchten, weißen Wimpern. Gleb ist nämlich äußerst blass und hat ganz helle Haare. Das ist bei ihm keine Mutation, sondern Erbmasse.

»Tikkirej, ehrlich…«

»Gleb, am Abend bin ich im Kosmos.«

»Das bist nicht du«, flüsterte Gleb.

Als der Bus am Hotel hielt, reichte er mir zögernd seine Hand. Ich drückte sie und fragte: »Kommst du mit rein?«

Gleb schüttelte den Kopf, und ich versuchte erst gar nicht, ihn zu überreden. Ein langer Abschied würde nur überflüssige Tränen bedeuten.

Auf mich wartete der Kosmos. Ich wusste nicht, wo der Älteste und die anderen Mannschaftsmitglieder wohnten. Deshalb ging ich zum Zimmer des Arztes.

Die Zimmertür war wieder nicht geschlossen und die Badtür weit geöffnet. Anton stand in der Unterhose vor dem Spiegel und rasierte sich mit einem uralten mechanischen Rasierapparat. Als ob man sich nicht seine Haarfollikel ein für allemal wegreißen lassen könnte.

»Aha«, sagte er, ohne sich umzusehen. Ich sah nur seine Augen im Spiegel, aber mir schien, als ob sich ihr Ausdruck verändert hätte.

»Alles klar. Zimmer 73. Da ist der Kapitän.«

»Wer ist das?«, erklang eine feine Mädchenstimme aus dem Zimmer.

»Niemand für uns«, rief Anton. Aus dem Zimmer schaute eine dunkle Schönheit, eines der Mädchen, die gestern gelacht hatten. Bei meinem Anblick begann sie erst zu lächeln, dann schaute sie deprimiert. Vielleicht deshalb, weil sie ganz nackt war und sich im Bettlaken verheddert hatte.

»Guten Tag«, sagte ich.

»Was bist du nur für ein Dummkopf!«, meinte das Mädchen. »Mein Gott, woher kommen nur…«

»Kusch dich, du Pack!«, zischte ich. Es funktionierte. Fast wie beim Ältesten. Das Mädchen schwieg und zwinkerte nervös. Anton hielt einen Augenblick mit dem Rasieren inne, machte aber gleich weiter. Hoch — runter.

Ich drehte mich um und ging zum Zimmer 73. Der Kapitän war jünger als der Älteste und der Arzt. Er hatte sicher eine Elite-Kosmonautenschule absolviert, da man ihm bereits das Kommando über ein Raumschiff anvertraute. Er war kräftig und sah gut aus in seiner weißen Paradeuniform.

»Tikkirej«, begrüßte er mich, als ich ins Zimmer trat. Intuitiv wusste ich, dass er den Bericht über meine gestrige Untersuchung gelesen hatte, und ich schämte mich. Vor Anton oder dem Ältesten schämte ich mich nicht. Aber vor einem echten Kapitän, der sogar alleine im Hotelzimmer seine Paradeuniform trug, schämte ich mich.

»Ja, Kapitän.«

»Du hast es dir also nicht anders überlegt?«

»Nein, Kapitän.«

»Den Vertrag hast du dir angesehen?«

»Ja, Kapitän.«

Den Vertrag hatte ich bis drei Uhr nachts gelesen. Es war wirklich ein Standardvertrag, aber ich überprüfte alles.

»Tikkirej, denkst du eventuell daran, uns zu betrügen«, fuhr der Kapitän fort, »einen oder zwei Flüge mitzumachen, einen passenden Planeten zu finden und dort zu kündigen?«

»Geht das denn?«, wunderte ich mich gekonnt.

»Natürlich, aber was hättest du davon?«

Der Kapitän sah mich einige Sekunden lang durchdringend an: »Okay, ziehen wir das Ganze nicht unnötig in die Länge.«

Er setzte sich an den Tisch und sah schnell meine Papiere durch, kontrollierte die Echtheit der Siegel mit einem Handscanner, unterschrieb den Vertrag und gab mir ein Exemplar zurück. Er reichte mir die Hand: »Ich beglückwünsche Sie, Tikkirej. Nunmehr sind Sie ein Mitglied der Recheneinheit des Raumschiffs Kljasma.«

Mir missfiel die Tatsache, dass er mich nicht Mitglied der Mannschaft, sondern der Recheneinheit nannte. Noch weniger gefiel mir die Äußerung: »Aber was hättest du davon?« Trotzdem lächelte ich und gab ihm die Hand.

»Hier hast du einen Vorschuss«, der Kapitän holte einige Geldscheine aus der Tasche. »Er steht nicht im Vertrag, ist aber eine schöne Tradition vor dem ersten Start. Sieh aber zu, dass du das Geld nicht…«

Für eine Sekunde fiel der Kapitän in Schweigen, dann begann er zu lachen: »Nein, nein, ich glaube, du wirst es nicht vertrinken.«

»Ich werde es nicht vertrinken«, versprach ich. Nach dem Wodka gestern musste ich mich im Bus übergeben. Vielleicht war das aber auch nur eine Folge der Überprüfung meines Arbeitsvermögens…

»Wir treffen uns um fünf Uhr unten im Foyer«, teilte mir der Kapitän mit, »und, das steht auch nicht im Vertrag, aber wenn du dort fehlen solltest, werde ich dich nicht verklagen. Dann zerreiße ich einfach den Vertrag.«

»Ich komme.«

»Gut, Tikkirej.«

Ich verstand, dass das Gespräch jetzt beendet war, und verließ das Zimmer. Unten in der Bar war es wieder genauso leer und der Barkeeper war derselbe. Er lächelte mir zu, und ich ging zu ihm und legte einen Geldschein auf den Tresen.

»Das ist für gestern. Und… haben Sie Milchshakes?«

»Na klar, haben wir.« Der Barkeeper gab mir das Wechselgeld. »Und, haben sie dich genommen?«

»Ja. Ich hatte gute Werte. Wirklich.«

»Schön! Aber hör rechtzeitig mit dieser Arbeit auf, ja! Was möchtest du für einen Shake?«

»Mit Apfelsine«, bestellte ich, ohne nachzudenken.

Der Barkeeper runzelte die Stirn und beugte sich zu mir vor. Verschwörerisch flüsterte er: »Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis: Die einfachsten Milchshakes sind immer die besten. Zum Beispiel mit Schokolade und einem Hauch Vanille.«

»Den nehme ich«, antworte ich ebenso flüsternd.

Er schmeckte wirklich gut.

Auf diese Art und Weise saß ich bis fünf Uhr in der Bar. Meinen Koffer hatte ich zum Barkeeper hinter den Tresen gestellt, um nicht auf ihn aufpassen zu müssen. Mehrmals ging ich auf die Toilette, damit sich der gestrige Schlamassel später nicht wiederholen konnte. Obwohl das auf dem Raumschiff sicherlich geregelt ist.

Den letzten Cocktail trank ich hastig, immer mit Blick auf die Uhr. Dann verabschiedete ich mich vom Barkeeper und ging ins Foyer.

Die ganze Mannschaft war schon versammelt. Der Kapitän, der Älteste, der Arzt und noch zwei, die ich nicht kannte — sicher Navigator und Lademeister.

»Du kommst zu spät, Modul«, bemerkte der Arzt eisig. Er hielt sein Versprechen — für ihn war ich schon kein braver Junge mehr.

»Entschuldigung, das kommt nicht wieder vor«, murmelte ich und umfasste krampfhaft den Griff meines Koffers. Der Älteste nahm mir schweigend den Koffer aus der Hand, prüfte das Gewicht und gab ihn mir zurück.

»Gehen wir«, sagte der Kapitän. Alle drehten sich um und gingen zur Schleuse, bei der schon ein Kleinbus wartete.

Niemand beachtete mich. Die Türen des Busses gingen zu, kaum dass ich meinen Fuß auf die Stufen gesetzt hatte.

Der Älteste und der Arzt saßen zusammen, Lagermeister und Navigator ebenfalls. Neben dem Kapitän war ein freier Platz, aber auf diesen legte er sehr sorgfältig seine Mütze.

Ich ging nach hinten und setzte mich in eine freie Reihe.

Der Kapitän nahm seine Mütze und setzte sie auf.

Der Bus folgte den orangen Markierungen. Die Kljasma war ein Gütertransporter der Standardklasse, wie sie bei uns ständig verkehrten. Der keramische Körper war zweihundert Meter lang und erinnerte an ein übermäßig in die Länge gezogenes Ei. Zur Landung hatte es Stützen ausgefahren, die im Vergleich zum Raumschiff fast unsichtbar schienen, so winzig waren sie. Es hatte den Anschein, als ob die Kljasma direkt auf dem Sand, der im Laufe der Jahre zu einer Steinkruste zusammengebacken war, auflag.

Die Ladeluke war bereits geschlossen, aber in der Ferne schwebte noch die Staubwolke der Schwerlasttransporter, die das angereicherte Erz zum Raumschiff gebracht hatten.

»Der letzte Flug in dieses Schlangennest«, sagte der Älteste, »Gott sei Dank!«

»Aber was für eine Menge Geld«, wandte leise derjenige ein, den ich für den Navigator hielt. Ein betagter dicker Schwarzer mit gutmütigem Gesicht.

»Richtig, der Verdienst ist gut«, stimmte der Arzt zu, »außerdem haben wir ein gutes Modul eingestellt.«

»Das müssen wir noch überprüfen«, widersprach der Älteste säuerlich.

»Ein gutes, ein gutes«, wiederholte der Arzt, »oder denkst du, dass ich das Testen verlernt hätte?«

Beide sprachen über mich, als ob ich ein Einkauf wäre, der auf dem Rücksitz lag. Ich biss die Zähne zusammen und schwieg eisern. Das ist bestimmt ein Test. Um festzustellen, ob ich ernsthaft mit ihnen arbeiten will oder anfange zu jammern und mich zu beklagen, dachte ich.

Der Bus fuhr an die Schleuse heran, ein durchsichtiges Rohr, das sich von oben herabneigte. Zu sechst pressten wir uns mit Mühe in den kleinen Fahrstuhl. Ich wurde gegen den Kapitän gequetscht.

»Entschuldigung, Kapitän«, sagte ich.

Er schwieg. Der Älteste tippte auf meine Schulter und belehrte mich eisig: »Gestatten Sie eine Äußerung, Kapitän…«

»Gestatten Sie eine Äußerung, Kapitän«, wiederholte ich.

»Ich gestatte.«

»Wo sind denn die anderen Mitglieder des Rechenzentrums? Sind sie früher zurückgekommen?«

Mir wurde auf einmal ganz seltsam zumute. Ich dachte, dass sie überhaupt keine anderen Module hätten und deshalb mein Gehirn ununterbrochen arbeiten müsste.

»Sie haben das Raumschiff nicht verlassen«, antwortete der Kapitän.

Ich stellte keine weiteren Fragen.

Aus der Schleusenkammer heraus verteilten sich sofort alle entsprechend ihren Aufgaben. Die Schleusenkammer selbst war ziemlich groß, mit Raumanzügen in verglasten Nischen und einer in den Boden eingelassenen Flugkapsel.

Der Kapitän sagte, ohne jemanden konkret anzusprechen: »Start in fünfzig Minuten, Onlineregime für alle in vierzig Minuten.«

Ich stand da, sperrte den Mund auf und verstand nur Bahnhof.

Und wohin musste ich?

Die Finger des Arztes bohrten sich in meine Schulter. »Komm mit!«

Wir nahmen den Fahrstuhl nach oben und gingen durch einen Flur. Der Arzt schwieg, er wirkte ernst und konzentriert.

»Verzeihen Sie, aber was muss ich jetzt machen?«, begann ich.

»Für deine Arbeit musst du überhaupt nichts wissen«, unterbrach mich der Arzt, »du bist ein ›Gehirn in der Flasche‹, kapiert? Tritt ein!«

Er stieß mich nach vorn und ich ging als Erster in einen großen Saal. Hier gab es einen Tisch, eine große Videowand und gemütliche, tiefe Sessel. In den Sesseln saßen Menschen — die restlichen Module. Es waren fünf — drei ältere, einer in den mittleren Jahren und ein Junge von vielleicht siebzehn.

»Guten Tag, Recheneinheit«, sagte der Arzt.

Alle fünf fingen an sich zu bewegen. Die Älteren nickten. Der Mann mittleren Alters brummte etwas vor sich hin. Der Junge grüßte: »Hallo, Doc.«

Sie sahen überhaupt nicht debil aus. Eher wie Leute, die vom Film auf dem Bildschirm fasziniert waren. Irgendetwas Abenteuer- und Actionmäßiges, eine junge Frau bewies gerade jemandem, dass sie den Zeitsprung aushält, da man ihr extra dafür ein Y-Chromosom implantiert hatte. So ein Unsinn, wie kann man denn ein Chromosom in jede einzelne Zelle implantieren?

»Das ist euer neuer Freund«, stellte mich der Doktor vor. »Er heißt Tikkirej… falls das jemanden interessieren sollte.«

»Grüß dich, Tikkirej«, erwiderte der junge Mann, »ich heiße Keol.«

Er lächelte sogar dabei.

»Hast du das Raumschiff verlassen?«, fragte der Doc.

Keol verzog sein Gesicht.

»Nein. Ich mag diesen Planeten nicht.«

»Du wolltest aber doch…«, der Arzt winkte ab, »egal. Jeder an seinen Platz! Start in vierzig Minuten.«

Sofort erhoben sich alle. Der Bildschirm wurde dunkel. Aus den Nischen kamen einige Reinigungsschildkröten und krochen über den Boden. Ich bemerkte, dass überall Popcorn verstreut war und Schokoladenkrümel und andere Abfälle herumlagen.

»Soll ich dem Neuen helfen?«, wollte Keol wissen.

»Ich erkläre ihm alles selber. Achte auf die Alten.«

»Gut, Doc«, erwiderte Keol.

»Er ist von allen am besten erhalten«, äußerte der Arzt, ohne die Stimme zu senken. Keol reagierte nicht. Der Arzt sah mich an.

Ich schwieg und mich überkam ein leichtes Zittern.

»Der Bus ist noch nicht weg«, meinte der Arzt, »ich habe den Fahrer gebeten, noch zwanzig Minuten zu warten. Wenn du willst, bringe ich dich zur Schleuse.«

Mein Mund war wie ausgetrocknet, aber ich bewegte mühsam die Zunge und sagte: »Nein.«

»Das war der letzte Versuch«, sagte der Arzt, »gehen wir also.«

Im Saal waren ungefähr zehn Türen, sieben davon waren breiter und wirkten massiv. Durch diese Türen gingen die Module. Der Arzt führte mich zur äußeren und hieß mich die Handfläche auf die Sensorplatte legen. Er erklärte: »Das ist jetzt deine Flasche.«

Der Raum erinnerte wirklich an eine liegende Flasche… Sogar Decke und Wände krümmten sich entsprechend. Innen war nichts außer einem eigenartigen Ding, das aussah wie ein Krankenbett für einen Schwerkranken. Die Oberfläche war elastisch, glänzend und flexibel. Fast in der Mitte befand sich ein Abfluss.

»Zieh dich aus«, sprach der Arzt, »alle Sachen. Die Kleidung hier rein.«

Ich entkleidete mich, packte die Sachen in den Wandschrank, der ebenfalls durch ein Sensorschloss verschlossen wurde. Legte mich schweigend auf das Bett. Es war recht weich und bequem.

»Also folgendermaßen«, begann der Arzt, »die schwierigsten Probleme für ein arbeitendes Modul… weißt du, welche das sind?«

»Weiß ich«, antwortete ich.

»Du kannst das Wasser nicht halten«, fuhr der Arzt fort, »dafür ist ein Bidet im Bett eingebaut, das sich automatisch einschaltet. Wenn bei dir die Darmtätigkeit gestört ist, beginnt der Shunt selbständig Kommandos an das periphere Nervensystem zu geben. Jede Stunde massiert dich das Bett. Einmal am Tag sendet der Shunt einen Befehl zum Zusammenziehen der Muskulatur aus, um Muskelschwund zu verhindern. Der Gesundheitszustand wird ständig kontrolliert, wenn etwas sein sollte, komme und helfe ich… So… Die Ernährung…«

Er fuhr mit seiner Hand unter das Bett und holte aus irgendeinem Behälter einen Schlauch mit einem verbreiterten Ende.

Der Arzt sah meine erschrockenen Augen und sagte: »Das ist nicht für die Ernährung, das ist der Urinschlauch. Leg ihn dir selbst an.«

Ich tat es.

Das Erniedrigende bestand gerade darin, dass der Doktor danebenstand, Ratschläge gab und alles kommentierte. Als ob er es auf mich besonders abgesehen hätte, weil ich unbeeindruckt ihre Ratschläge in den Wind geschlagen hatte und ins Raumschiff gekommen war.

Der zweite Schlauch, den er holte, war dann aber für die Ernährung. Der Arzt suchte mir schnell ein passendes Mundstück aus. Ich nahm es in den Mund.

»Flüssignahrung, wird in kleinen Portionen gleichzeitig mit der Stimulierung des Schluckreflexes verabreicht«, erklärte der Arzt, »willst du mal probieren?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Richtig so. Schmeckt nicht. Ist wirkungsvoll, leicht verdaulich und gibt ein Minimum an Endprodukten. Mehr aber auch nicht.«

Dann schnallte er mich mit vier breiten Riemen auf dem Bett an und fuhr fort: »Merke dir die Reihenfolge. In Zukunft wirst du das alles selber machen. Das ist wirklich bedienungsfreundlich, deine Hände bleiben frei bis zum Schluss. Dann steckst du sie in diese Schlingen, die sich automatisch zusammenziehen. Das System ist einfach, leicht zu handhaben und schon seit einem halben Jahrhundert unverändert. Möchtest du noch etwas sagen?«

Ich nickte und der Doktor nahm mir das Mundstück aus dem Mund.

»Wenn wir ankommen, werde ich dann ins Kosmodrom gehen dürfen? Spazieren gehen…«

»Natürlich!«, der Arzt war erstaunt. »Oder hältst du uns für Verbrecher, die Module mit Gewalt festhalten? Tikkirej, das Traurigste dabei ist, dass eben das gar nicht erforderlich ist. Ich versichere dir, Tikkirej, wenn es für die Eroberung des Kosmos notwendig gewesen wäre, den Menschen das Gehirn zu amputieren und wirklich in Flaschen zu füllen, hätten wir genau das gemacht. Die menschliche Moral ist wundersam dehnbar. Das war aber gar nicht nötig, denn das beste Glas ist dein eigener Körper. Ihm wird Nahrung zugeführt, die Endprodukte werden entsorgt und in den Shunt wird ein Kabel gesteckt. Das ist alles, Tikkirej. Und die Tatsache, dass es wirklich einige Module gibt, die nach Vertragsende aufhören, erlaubt es den Menschen, ein für allemal ihr Gewissen zu beruhigen. Hast du das verstanden?«

»Ja. Danke.« Ich lächelte ein schales Lächeln. »Ich… ich bin ein bisschen erschrocken. Dachte, dass man mich nicht aus dem Raumschiff lassen würde, bis ich genauso geworden bin… wie diese.«

Doktor Anton lächelte ebenfalls.

Er ging neben dem Bett in die Hocke und fuhr mir über den Kopf.

»Vergiss das! In unserer idiotischen, mit Gesetzen voll gestopften Welt gibt es praktisch keine Notwendigkeit für die Anwendung von Gewalt. Vielleicht wäre es besser andersherum, hm?«

Er erhob sich und holte ein weiteres Kabel heraus. Ich schaute aus den Augenwinkeln — das war das Kabel für den Neuroshunt. Fragte: »Ich bin dann sofort abgeschaltet?«

»Ja, Tikkirej. Nimm dein Mundstück.«

Folgsam nahm ich den Schlauch in den Mund. Er hatte überhaupt keinen Geschmack, obwohl er schon unzählige Male sterilisiert worden war. Vielleicht sollte ich doch um eine Kostprobe bitten…

»Guten Zeitsprung, Modul«, sagte der Doktor.

Und die Welt verschwand. Mann, tat mir der Kopf weh!

Ich stöhnte auf, als ich den Schmerzen nachspürte. Im Mund spürte ich einen ekelhaften Geschmack, als ob ich salzig-süßen Lehm gekaut hätte.

Der Kopf wollte mir platzen. Das Knie juckte. Die rechte Hand kribbelte, als ob ich versucht hätte, sie aus der engen Schlinge zu ziehen.

Ich lag auf meinem Bett für Module. Das Kabel war noch immer im Shunt, ich aber war offline. Mit der linken Hand, die besser reagierte, zog ich es heraus. Ich spuckte das Mundstück aus.

Zum Teufel!

Das war etwas anderes als der Anschluss an den Schulcomputer.

Die Bänder hielten mich nach wie vor auf dem Bett fest. Ich schaffte es, sie zu lösen, und stand auf. Ich hatte Bedenken, dass mir die Knie weich werden könnten, aber es schien alles in Ordnung zu sein.

Vorsichtig berührte ich die Tür und schaute in den Gemeinschaftraum.

Dort stand Keol — nackt und blass und kratzte sich gerade seinen Bauch. Bei meinem Anblick fing er an zu lächeln: »Ah, Tikkirej! Grüß dich, Tikkirej. Wie ist dein Befinden?«

»Alles in Ordnung«, murmelte ich. Im Großen und Ganzen schien ich unversehrt.

»Am Anfang ist immer alles in Ordnung«, sagte Keol mit ernstem Gesicht, »dann wird alles langweilig, uninteressant. Dagegen muss man intensiv ankämpfen!« Er drohte mir feierlich mit dem Finger und wiederholte: »Intensiv! Hast du das Bett sterilisiert?«

»Nein… wie denn?«

»Schau her«, Keol zwängte sich in meine »Flasche« und zeigte es mir.

Es war wirklich einfach und fast vollständig automatisiert. Wirklich wie für Schwerkranke.

»Das Mundstück spülst du ebenfalls«, erklärte er ernsthaft, »darin sind immer Breireste. Und wasch dich! Das Bett nimmt die Ausscheidungen auf, wenn etwas danebengeht, aber man muss sich trotzdem waschen. Bis du blitzt vor Sauberkeit! Also, öffne das Fach…«

Die Dusche war integriert. Ein biegsamer Schlauch mit einem Duschkopf am Ende und ein Flakon mit antibakteriellem Gel, dem billigsten auf dem Markt, das wir auch zu Hause manchmal kauften.

»Im Boden ist ein Abfluss für das Wasser«, klärte mich Keol auf, »schieb das Bett zurück. Wenn du rausgehst, schalten sich Trocknung und Ultraviolett selbständig ein.«

»Sind wir angekommen, Keol?«, fragte ich.

Er fing an zu zwinkern.

»Wir? Ja, sicherlich. Ich habe nicht gefragt. Aber wenn wir offline sind, heißt das, dass wir angekommen sein müssen. Stimmt’s?«

Keol ging weg und ich begann mich schnell herzurichten. Ich wusch mich mehrere Male und trocknete mich mit einem Handtuch aus demselben Fach ab. Alles war durchdacht. Alles war einfach und zweckmäßig.

Wie schrecklich!

Gut, dass ich nicht vorhabe, mich wieder in dieses Grab zu legen und mich für den Dauerbetrieb anschließen zu lassen. Das will ich doch nicht, oder? Ich horchte in mich hinein und fürchtete sehr, dass meine Entscheidungsfähigkeit schon geschwächt sein könnte.

Nein, alles war normal.

Ich zog meine eigenen Sachen an. Eine Uniform hatte ich nicht bekommen. Ist ja auch nicht nötig. Ich sah mir das Datum auf der Uhr an. Oho, ich war fast zwei Wochen in Dauerbetrieb gewesen!

Dann nahm ich mein Köfferchen und verließ die »Flasche«.

»Tut dein Kopf weh, Tikkirej?«, fragte mich Keol.

»Ja«, gab ich zu.

»Trink!«, er reichte mir ein Glas mit irgendeinem Getränk. »Es ist etwas Spezielles. Nimmt die Schmerzen und erhöht die Spannkraft.«

Er war wirklich normaler als alle anderen Module. Er versuchte noch, sich um die Kameraden zu kümmern. Dazu aber braucht man einen Willen und eine Zielvorstellung.

»Viel Glück«, sagte er und ich ging in den Flur.

Den Weg zur Schleuse hatte ich mir gemerkt. Ich war ihn ja gerade erst mit Doktor Anton gegangen. Klar, nicht gerade erst. Aber ich kann mich nicht an die Flugtage erinnern… Interessant zu erfahren, wie weit wir geflogen sind!?

Kurz und gut, zur Schleuse wollte ich vorerst nicht. Ich hatte nicht vor, Kapitän und Mannschaft zu betrügen. Ich musste jemanden finden — und das gelang mir auch. Ich traf direkt auf den Ältesten, der auf dem Weg zur Schleuse war. Dieser sah mich aufmerksam an, sein Blick ruhte auf dem Köfferchen und er sagte: »Verstehe. Zur Schleuse?«

»Nein, ich möchte den Kapitän finden. Und den Vertrag kündigen. Das ist doch mein Recht?«, erkundigte ich mich.

Der Älteste nickte: »Gehen wir…«

Er brachte mich aber nicht zum Kapitän, sondern in einen Arbeitsraum. Setzte sich vor den Bildschirm und schaltete den Computer ein. Befahl: »Daten über den Vertrag des Moduls Tikkirej.«

Auf dem Bildschirm erschien mein Vertrag.

»Du hast das Recht, den Vertrag zu kündigen und auf einem beliebigen Planeten auszusteigen«, begann der Älteste. »Das ist Gesetz. Wir sind verpflichtet, dir deinen anteiligen Lohn auszuzahlen. Das sind…« — er beugte sich vor — »das sind 1038 Kredit.«

Nicht schlecht!

Ich schwieg.

»Selbstverständlich werden Ernährung und die Leistungen deines Lebenserhaltungssystems extra in Rechnung gestellt, da du den Vertrag vorzeitig kündigst«, ergänzte der Älteste trocken, »also ziehen wir 604 Kredit ab.«

»So viel?«, wunderte ich mich.

»So viel. Weil man deine Nahrung und dein Bett gemeinsam mit dir durch den Kosmos schleppen muss. Selbst wenn man die günstigsten internen Berechnungen der Flotte ansetzt, ist das eine gewaltige Summe. Hast du Einwendungen?«

»Nein«, sagte ich. Alles hatte seine Richtigkeit.

»Es verbleiben also 434 Kredit«, resümierte der Älteste, »nun die Versicherung.«

»Aber das ist nicht nötig«, flehte ich. Es war etwas Unanständiges an der Tatsache, dass ich die Kljasma als Transportmittel benutzte und ihnen dazu noch eine Menge Geld aus der Tasche zog.

»Das muss leider sein«, meinte der Älteste, »du bist für 350.000 Kredit versichert. Wie es sich gehört. Der Versicherungsbeitrag belief sich auf 117.000. Jetzt ist die Versicherunggekündigt,verstehstdu.Der Versicherungsbeitrag wird nicht zurückerstattet. 117.000 minus 434 Kredit…«

Er drehte sich in seinem Sessel um und schaute mich an.

Ich begann zu verstehen. Innerlich wurde mir eiskalt.

»Wenn du den Vertrag kündigst, Tikkirej, müssen zuerst die finanziellen Fragen geklärt sein. Ich denke, sechzig bis siebzig Reisen werden dich in diese Lage versetzen. Du kannst bestimmt nach etwa zwei Jahren das Raumschiff verlassen.«

»Das steht im Vertrag?«, fragte ich leise.

»Natürlich. Soll ich es dir zeigen?«

»Nicht nötig. Ich erinnere mich… Ich hätte nicht gedacht, dass die Versicherung so teuer ist…«

Der Älteste stützte seine Hände auf die Knie, beugte sich nach vorn und giftete:

»Tikkirej, glaubst du, dass nur du allein die kluge Idee hattest, anzuheuern und auf dem ersten besten Planeten das Raumschiff wieder zu verlassen? Sogar wenn unser Flug ins Paradies führen würde, mit Zwischenlandung in der Hölle, hätte sich ein Interessent gefunden, um dorthin abzuhauen. GenauausdiesemGrund,Tikkirej,istdie Versicherungssumme dermaßen hoch. Damit sich die Mannschaft nicht damit abmühen muss, auf jedem Kosmodrom neue Gehirne aufzuspüren. Du hast die Arbeit angenommen, also arbeite! Wir hatten dich gewarnt!«

Ich bemerkte nicht einmal, dass ich anfing zu weinen.

»Also, wofür entscheidest du dich? Kündigst du den Vertrag und bist berechtigt, nach zwei Jahren von Bord zu gehen, oder bleibst du die vereinbarten fünf Jahre und erarbeitest dir eine Drittelmillion?«

Er war wütend, verteufelt wütend auf mich selbstherrlichen Dummkopf, der ihn daran hinderte, das Raumschiff zu verlassen, sich zu vergnügen und in der Bar sein ehrlich verdientes Geld auszugeben.

Ich hatte mir aber doch den Vertrag angesehen! Es war etwas verwirrend, manche Dinge waren kleingedruckt, aber…

Ich setzte mich auf den Boden und versteckte mein Gesicht zwischen den Knien. Für zwei Jahre — das ist mein Ende. So viel halte ich nicht aus. Fünf Jahre auf gar keinen Fall. Ich werde kein Idiot, aber mir wird alles egal sein. Man bekommt zu essen und zu trinken, darf alles unter sich lassen… und…

»Haben wir dich gewarnt oder nicht?«, bellte der Älteste.

»Sie haben mich gewarnt«, schluchzte ich.

Er pflückte mich vom Boden, nahm mich auf den Schoß, presste mir die Zähne auseinander und schob mir einen metallenen Flaschenhals in den Mund: »Trink! Du bist hysterisch wie ein altes Weib.«

Ich schluckte die brennende Flüssigkeit. Musste husten.

»Das ist Cognac«, informierte mich der Älteste. »Was wolltest du denn auf diesem Planeten machen, Tikkirej?«

»Leben«, flüsterte ich.

»Leben? Wie?«

»Ich habe doch die Staatsbürgerschaft des Imperiums…«

»Was nützt dir das? Glaubst du denn, dass ein Mensch in einer unbekannten Welt überleben kann? Zumal — als Jugendlicher? Zumal — ohne Geld? Du hättest deine jämmerlichen vierhundert bekommen und was hätte es dir genützt? Auf deinem Planeten sind einhundert Kredit richtig viel Geld. In einer normal entwickelten Welt reichen sie nicht mal für eine Woche!«

Er stieß mich plötzlich weg: »Die Tür da, wasch dich.«

Dann wandte er sich zum Bildschirm und fauchte böse: »Dienstanweisung. Vertrag mit Modul Tikkirej annullieren. Versicherung nicht abschließen.«

Ich sah ihn an und verwischte meine Tränen.

»Wir haben für dich keine Versicherung abgeschlossen«, der Älteste wandte mir den Rücken zu und nur sein geröteter Nacken verriet seine Gefühle, »es war klar, weshalb du angeheuert hast. Nur Anton hatte auf dich gesetzt, war davon überzeugt, dass du deine fünf Jahre abarbeitest und dir deinen Willen erhältst.«

»Also haben Sie das Gesetz gebrochen!«, schrie ich.

»Was geht dich das an? Was stehst du hier herum? Wasch dich und geh!«

»Wohin?«

»Wohin?«, jetzt tobte der Älteste echt. »Wohin wolltest du denn? Auf den Planeten! Neu-Kuweit, Kolonie des Imperiums, Standardgesetzgebung, beschleunigte Prozedur für die Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis, mittleres Komfortniveau — 104 Prozent! Wir haben dich erst nach zwei Zeitsprüngen abgeschaltet, und weißt du, warum? Weil wir davon überzeugt waren, dass du gleich auf dem ersten Planeten von Bord gehen willst! Ohne sich zu erkundigen, was das für ein Planet ist! Und dort, wohin wir das Erz transportiert haben, ist eine Kloake, noch schlimmer als eure Zwangsarbeit!«

»Warum Zwangsarbeit? …«, murmelte ich.

»Weil Karijer als Planet für Zwangsarbeiter besiedelt wurde. Die Bewohner der Kuppeln sind die Nachfahren der Aufseher. Wasch dich und verschwinde!«

Ich wusch mich. Ich spritzte mir lange kaltes Wasser ins Gesicht und bemühte mich, nicht die geröteten Augen zu reiben. Ich trocknete mich ab und ging hinaus. Der Älteste saß noch immer am Computer und spielte Schach. Sehr schnell, über den Shunt. Die Figuren sprangen nur so über den Bildschirm.

»Hier hast du dein Geld«, sagte er, »434 Kredit.«

Auf dem Tisch lagen sieben Scheine und vier Münzen.

»Hätte… hätte ich fünf Jahre aushalten können?«, wollte ich wissen.

»Niemand kann fünf Jahre ohne Einbußen überstehen. Anton ist ein naiver Optimist! Nach zehn Jahren hättest du verlernt, Entscheidungen zu treffen. Sogar die Wahl zwischen drei Sorten Limonade wäre für dich zu einem quälenden Problem geworden. Nimm das Geld, schau noch bei Anton vorbei und dann verschwinde! Der medizinische Sektor ist zwei Ränge tiefer, die Hinweisschilder sind standardmäßig.«

Er drehte sich nicht mehr zu mir um.

Ich wollte mich bei ihm bedanken. Oder ihn umarmen und wieder losheulen, weil mir nie zuvor jemand eine derart nützliche Lehre erteilt hatte.

Aber ich schämte mich zu sehr. Sogar um »Danke« zu sagen. Ich nahm das Geld vom Tisch, ging zur Tür und flüsterte, schon fast auf dem Flur: »Verzeihen Sie mir…«

Ich wusste nicht, ob er mich überhaupt gehört hatte. Im Flur war es leer und ruhig. Ich hatte keine Ahnung, was es hier für »standardmäßige Hinweise« gab. Der Älteste überschätzte meine Kenntnisse über den Kosmos. Sicher wegen meiner gelungenen Äußerung über die Hauptmotoren. Aber was bedeutet zum Beispiel ein blauer Pfeil unter einem roten Zickzack? Oder die Figur eines Menschen mit ausgestreckten Armen in einem gelben Kreis?

Ich könnte natürlich den Fahrstuhl nehmen, zwei Etagen nach unten fahren und den medizinischen Sektor suchen. Mir widerstrebte es jedoch, Anton in die Augen zu schauen, dem Einzigen, der mich für einen einfachen, ehrlichen Kerl und nicht einen dummen Betrüger hielt.

Also eilte ich zur Schleuse. Wenn das Komfortniveau eines Planeten fünfzig Prozent übersteigt, bedeutet das, dass man ohne spezielle Schutzmaßnahmen auf der Oberfläche überleben kann. Zumindest hatte ich es so im Naturkundeunterricht gelernt. Und hier sind es 104 Prozent! Das heißt, Neu-Kuweit ist besser als die Erde.

Der Fahrstuhl erschien. Ich ging hinein, berührte den Sensor mit dem Pfeil nach unten und der Fahrstuhl senkte sich.

Mein dritter Planet wartete auf mich. Der, auf dem ich nicht geweckt worden war, zählte ja mit, selbst wenn ich das Raumschiff nicht verlassen hatte.

Kapitel 3

Einige Minuten lang stand ich einfach nur unter dem Raumschiff, gerade so, dass es mich ein wenig verdeckte, und schaute in den Himmel. Mir war ziemlich unheimlich zumute.

Hier gab es keine Kuppel. Ich hatte keine Atemschutzmaske vor dem Gesicht. Ich konnte atmen und einfach so in den Himmel schauen.

Er zeigte sich in einer kräftig blauen Farbe, die Sonne war gelb. Nachts sah man bestimmt Tausende von Sternen wie in den Filmen über die Erde. Die Luft roch wie in einer Orangerie — und das, obwohl ringsherum keine Bäume wuchsen, sondern lediglich Betonplatten, auf denen Raumschiffe standen, zu sehen waren: Gütertransporter, kleinere Raumschiffe und Militärraumschiffe. Es schienen auch einige fremde Raumschiffe darunter zu sein, aber sie standen so weit entfernt, dass ich mir da nicht sicher war.

In ungefähr drei Kilometer Entfernung glänzten die Gebäude des Kosmodroms wie Gold. Schöne Kuppeln, Türme, alles aus goldähnlichem Metall, durchsichtigem Glas und weißem Stein. Nicht so wie bei uns, wo sich alle Gebäude ähnelten, da sie aus Standardbauteilen errichtet wurden.

Ich schaute auf das Kosmodrom und begann langsam meine Blamage zu vergessen.

Ja, ich hatte Glück. Weil die meisten Menschen trotz allem gut sind. Bei uns und auf anderen Planeten. Außerdem hatte ich Geld und einen Pass des Imperiums in der Tasche und auf Neu- Kuweit gab es ein vereinfachtes Verfahren für die Erlangung der Aufenthaltsgenehmigung.

Ich fasste den Koffer bequemer und ging direkt aufs Kosmodrom zu.

Es lief sich einfach, und mir schien, als ob der Boden meine Schuhsohlen wie eine Feder abstoßen würde. Die Gravitation entsprach sicherlich der auf der Erde, war vielleicht sogar geringer. Bei uns auf Karijer betrug sie 1,2 Standardeinheiten.

Zeitweise rannte ich sogar. Vor Freude. Mich überholte ein riesiger Containertransporter, der noch größer war als die Kipper auf Karijer. Ein dunkelhäutiger und langhaariger junger Mann lehnte sich aus dem Fahrerhaus und schrie etwas.

Ich winkte ihm zu.

IcherreichtegenauindemAugenblickdas Abfertigungsgebäude, als einige Passagierbusse an den riesigen elektrischen Türen des Terminals vorfuhren. Die lärmende Menge — kaum jemand sprach Lingua, fast alle eine fürchterlich entstellte Variante des Englischen — strömte aus den Bussen. Einige Passagiere zogen niedliche zylindrische Container mit Gravitationsaufhängung hinter sich her. Darin ruhten ihre Frauen, Töchter oder Sekretärinnen, die noch nicht aus der Anabiose erwacht waren… Ich wurde mehrfach angerempelt, wofür man sich entschuldigte. Als ich jemanden mit meinem Koffer anstieß, bat ich ebenfalls um Entschuldigung.

Es gab keinerlei Schwierigkeiten oder Anweisungen. Die Menge teilte sich in ein Dutzend kurzer Schlangen und näherte sich schnell den Kontrollstellen. Ich schloss mich einer der Gruppen an und hielt wie alle meinen Pass bereit. Der Scanner leuchtete grün auf und ich betrat die Zollabfertigung. Das war ein riesiger Saal mit Kristallleuchtern an der Decke — kleine Räume waren hier wohl nicht üblich — und zwei Dutzend Personen in dunkelgrüner Uniform. Erneut bildeten sich kurze Schlangen.

»Waffen, Drogen, Kampfimplantate, potenziell gefährliche veränderte Lebensmittel, Gegenstände mit doppelter Verwendungsmöglichkeit?«, fragte mich lächelnd eine junge Zöllnerin.

»Nein, nichts.«

»Herzlich willkommen auf Neu-Kuweit!«

Und ich trat in die Halle des Kosmodroms hinaus. Mir wurde schwindlig von den neuen Eindrücken. Hier befanden sich Tausende Menschen — ein Teil in Uniform, offensichtlich die Mitarbeiter, die restlichen vermutlich Passagiere. Diese waren grell gekleidet, aufgeregt und in Eile.

Ich musste mich erst ein wenig beruhigen. Auf alle Fälle wollte ich etwas essen. Natürlich nicht im Restaurant, sondern in einer bescheideneren Einrichtung.

Bis ich im Souterrain ein kleines Café fand, dessen Preise nicht gleich Entsetzen hervorriefen, hatte ich das ganze Gebäude durchstreift. Hier verkehrte hauptsächlich das einfache Personal. Man schaute mich verwundert an, aber niemand sagte etwas. Ich wählte ein Beefsteak mit Ei und ein Glas Saft, der sich zwar Apfelsaft nannte, aber aus unerfindlichen Gründen eine bläuliche Farbe hatte, und ging zu einem der Tischchen. Dort standen zwei Wachleute mit einer Waffe am Gürtel und eingeschalteten Funkgeräten, aus denen Gesprächsfetzen tönten. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie mich nicht beachteten:

»Dort war niemand und dort konnte auch niemand sein. Den Fahrer sollte man auf Drogen überprüfen.«

»Gibt es nicht genügend Idioten?«

»Drei Kilometer zu Fuß über die Landebahn laufen? Und wohin ist er danach verschwunden?«

Die Funkgeräte der Wachmänner begannen synchron zu knattern, jemand befahl irgendetwas in einer unbekannten gutturalen Sprache. Sie ließen ihre angefangenen Hamburger liegen und liefen aus dem Café. Ich erstarrte mit dem Glas in der Hand.

Es ging um mich. Es war nicht erlaubt, die Landebahn zu betreten. Wenn ich mein Gehirn nur etwas angestrengt hätte, wäre mir das klar geworden… dort, wo ich fröhlich dahergeschritten war und mein Köfferchen schwenkte, konnte jederzeit ein Raumschiff landen.

Es war klar, dass niemand bei der Ausführung des Landemanövers kurz vor dem Aufsetzen ein Risiko eingegangen wäre. Es hätte mich auf dem Beton breit geschmiert.

Ich Idiot…

Das Beefsteak wollte nicht rutschen. Trotzdem kaute ich hastig das Essen, trank den sauren Saft dazu und lief schnell aus dem Café. Vielleicht hatte mich der Wachdienst gesucht, dann aber aufgehört, weil sie den Containerfahrer für übergeschnappt hielten. Aber vielleicht kamen sie auch darauf, dass ich mich zufällig unter die Touristen aus dem zweiten Raumschiff gemischt hatte.

Ich musste so schnell wie möglich aus dem Kosmodrom weg!

Hier gab es sicherlich eine Art öffentlichen Personenverkehr. Busse oder Bahnen. Ich war aber dermaßen in Panik, dass ich zum Taxistand ging. Hundert grell orange Schienentaxis warteten längs der Einstiegsrampe, die kurze Warteschlange verteilte sich diszipliniert in die bereitstehenden Autos. In der Nähe war auch eine Flyer-Station, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Das war sicher zu teuer. Ich stellte mich an und schaute nach einigen Minuten in ein Taxifenster.

Der Fahrer war hellhäutig und freundlich.

»Ich muss in die Stadt, in ein Hotel…«, murmelte ich.

»Steig ein!« Er sprach Lingua mit Akzent, aber, so schien mir, nicht wie die hiesigen Bewohner.

»Wie viel wird das kosten…«

»Steig schon ein!«

Ich bemerkte, dass ich die Schlange aufhielt und setzte mich in den Fond. Das Auto wendete zur Schnellstraße.

Ich drehte mich um und schaute auf die Kuppeln des Kosmodroms. Geschafft…

»Also, mein Junge, wohin willst du?«

»Ich suche ein Hotel«, antwortete ich schnell, »gut, aber preiswert.«

»Was ist die Hauptsache?«, fragte mich der Fahrer ernsthaft.

»Der Preis…«

»Alles klar. Dann lohnt es sich für dich nicht, nach Agrabad zu fahren. Neu-Kuweit ist ein teurer Planet, die Hauptstadt desto mehr. Es gibt einige Motels mit gemäßigten Preisen in der Nähe des Kosmodroms. Dort wohnen diejenigen, die zum Beispiel auf eine Aufenthaltsgenehmigung warten. Diese Leute sind friedlich und vermeiden jeglichen Konflikt mit den Behörden.«

»Genau das ist das Richtige für mich.«

Er schaute mich aufmerksam an.

»Woher kommst du, Junge?«

»Karijer.«

»Heißt der Planet so?«

»Hm.«

»Ein komischer Name…«

Das Auto befand sich auf einer breiten achtspurigen Straße. Trotzdem war der Verkehr dicht. Auf beiden Seiten der Trasse zogen sich grüne Wiesen dahin. Sie waren, so schien mir zumindest, nicht etwa mit etwas Nützlichem bestellt, sondern wuchsen einfach wild. Wie im Kino!

»Hast du vor, die Staatsbürgerschaft zu erwerben?«, interessierte sich der Fahrer.

»Ja.«

»Das ist machbar«, stimmte er zu. »Ich bin auch nicht von hier. El-Guess… hast du davon gehört?«

»Nein«, bekannte ich.

»Das ist auch so ein Loch. Sicher wie dein Karijer. Das heißt, jetzt hast du ein gewöhnliches Touristenvisum mit unbegrenzter Gültigkeit, richtig?«

»J-ja, doch.«

»Um eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, benötigst du eine Aufenthaltsgenehmigung. Wenn du dich im Motel eingerichtet hast, dann beschäftige dich mit dem Einwanderungsgesetz. Im Prinzip, wenn du nicht straffällig geworden und jung bist, einen anständigen Neuroshunt hast und mit der Beschneidung einverstanden bist…«

»Was?«

»Weißt du nicht, was das ist?«

»Das weiß ich, aber warum?«

»Ich habe ebenfalls darüber nachgedacht, warum.« Der Fahrer lachte. »Aber dann war es mir egal und ich war einverstanden. Glaube mir, das schadet deinem Intimleben nicht.«

Ich lächelte, aber egal war es mir nicht. Was für ein Blödsinn!

»Sagen Sie bitte, was gibt es hier für eine Sozialabgabe?«

»Was?« Dieses Mal war der Fahrer verblüfft.

»Die Bezahlung der Lebenserhaltungssysteme. Für die Luft…«

Er schüttelte den Kopf: »Atme, so viel du willst. Hier gibt es das nicht. Du hast aber eine miese Heimat, oder?«

Ich hob die Schultern.

»Also, lies dir das Gesetz durch, interessier dich für alles, sieh dich um, wie die Leute leben. Wenn dir alles zusagt, beantragst du die Staatsbürgerschaft. In einem halben bis einem Jahr bekommst du die Aufenthaltsgenehmigung. Die vollen Bürgerrechte erwirbst du nach deiner Verheiratung oder der Geburt eines Kindes oder der Adoption eines Staatsbürgers des Planeten oder wenn du von einem dieser Staatsbürger adoptiert wirst.« Er lachte wieder. »Letzteres ist bestimmt wahrscheinlicher.«

»Und wie viel Geld benötigt man, um hier ein halbes Jahr zu leben?«, fragte ich.

»Hm… als Minimum? Ein Dach über dem Kopf… zwanzig Piepen täglich im Motel. Für Ernährung genauso viel. Rechne selbst.«

Ich hatte es schon ausgerechnet. Und es gefiel mir nicht.

»Und Arbeit? Ist es einfach, eine Arbeit zu finden?«

»Das ist möglich«, machte mir der Fahrer Mut. »Der Planet ist reich und noch nicht vollständig erschlossen. Wenn du also die Aufenthaltsgenehmigung hast, kannst du loslegen.«

»Und ohne Aufenthaltsgenehmigung?«

»Versuch es gar nicht erst! Wenn sie dich bei der Arbeit erwischen — auch wenn es nur für Essen und Unterkunft ist -, wirst du sofort des Planeten verwiesen.«

Meinem Gesicht war sicherlich mein Entsetzen abzulesen.

»Probleme?«, erkundigte sich der Fahrer.

Ich nickte.

»Vielleicht hast du artistische Talente oder eine bemerkenswerte Stimme oder übersinnliche Fähigkeiten? Dann wird das Verfahren beschleunigt.«

Er machte sich nicht lustig, er versuchte ernsthaft, mir zu helfen.

»Nein…«

Der Fahrer holte Luft: »Ja, da steckst du in der Klemme. Und wenn du auf deinen Planeten zurückkehrst und dort genügend Geld verdienst?«

»Auf unserem Planeten sieht es schlecht aus mit Arbeit«, erklärte ich. »Wenn man in der Woche 20 Kredit verdient, ist das gutes Geld.«

»Oh…« Der Fahrer schüttelte verwundert den Kopf und schwieg.

»Wir haben ein gut entwickeltes Sozialsystem«, versuchte ich zu erklären, »Geld wird wenig ausgezahlt, dafür werden Lebensmittel, Kleidung, alle möglichen Dinge kostenlos verteilt.«

»EinebemerkenswerteVersionder Sklavenhaltergesellschaft«, rief der Fahrer aus, »gut ausgedacht. Wie hast du da noch Geld für ein Ticket sparen können?«

»Ich bin als Modul geflogen.«

Das Auto schlingerte und die Augen des Fahrers rundeten sich vor Erstaunen.

»Was? Junge, schwindelst du auch nicht?«

»Ich bin nicht lange geflogen. Lediglich zwei Zeitsprünge. Also ist mit meinem Gehirn alles in Ordnung.«

»Und? Bist du weggelaufen?«

»Nein, ich bekam die Erlaubnis zur Auflösung des Vertrags.«

Der Fahrer pfiff erstaunt: »Da hast du es mit sehr gutmütigen Leuten zu tun gehabt. Geh davon aus, dass du in der Imperiumslotterie gewonnen hast. Eine Chance aus tausend.«

»Eine aus zwanzig…«, verbesserte ich ihn automatisch.

»Nun ja, aus zwanzig, wenn du unsterblich bist. Es gewinnt jedes zwanzigste Los der Imperiumslotterie, aber jedes Los ist 5000 Jahre gültig. Rechne dir selbst aus, welche Chancen du in einhundert Jahren hast.«

Ich fiel in Schweigen.

»Hier ist ein anständiges Motel«, meinte der Fahrer und drehte sich zu mir um, »das, was du brauchst. 24 Kredit.«

Ich stritt natürlich nicht wegen des Preises. Ich zählte genau 24 Kredit ab.

»Eigentlich muss noch Trinkgeld gezahlt werden, zehn Prozent vom Fahrpreis«, erläuterte der Fahrer, »aber von dir nehme ich unter Berücksichtigung der Schwere der Lage nichts. Wir sind alle nur Menschen…«

»Ich stecke in der Klemme, stimmt’s?«, fragte ich.

»Es sieht ganz so aus, mein Freund. Viel Glück!«

Nachdem ich aus dem Taxi gestiegen war, blieb ich stehen und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Vielleicht sollte ich nicht ins Motel gehen, sondern irgendwo im Wald leben wie in den Abenteuerbüchern? Geld nur für das billigste Essen ausgeben…

Aber ich wusste nicht, wie man im Wald überleben kann. Auf Karijer haben wir überhaupt keine Wälder.

Und schon ging ich zum Motel.

Es ähnelte am ehesten unserem Gemeinschaftspark, nur dass zwischen den Bäumen kleine Häuschen und Autos mit Campinganhängern sowie Wohnwagen verstreut standen. Einige Gebäude waren stabiler und größer, sicher das Café und die Verwaltung.

Der Erste, den ich im Motel traf, war ein Nichthumanoid.

Zuerst hatte ich das gar nicht mitbekommen. Es kam mir so vor, als ob mir ein Jugendlicher meines Alters entgegenkäme. Dann dachte ich, es wäre ein extrem kleinwüchsiger Erwachsener. Und fragte höflich: »Entschuldigen Sie bitte, wo kann ich hier ein Zimmer bekommen?«

Mein Gegenüber blieb stehen. Als einzige Kleidung trug er Shorts. Die Beine waren stark behaart und sahen beinahe so aus, als seien sie mit Fell bewachsen. Die Ohren waren klein, die Augen dafür groß.

Ein Halfling!

»Guten Tag, Menschenkind«, sagte er sehr klar und melodiös, »wenn du hier einziehen möchtest, musst du 40 Meter weit zurückgehen und dich in das Gebäude mit dem Schild ›Rezeption‹ wenden. Das dort vorhandene Personal wird auf alle deine Fragen antworten.«

Ich schluckte und nickte.

»Ich warte«, äußerte der Halfling erstaunt.

»D-danke…«

»Ich helfe gern«, antwortete der Halfling und entfernte sich. Ich glaubte sogar seinen Geruch zu spüren — leicht und angenehm, wie nach Blumen.

Vielleicht hatte er aber auch nur Kölnischwasser benutzt. Oder es duftete nach echten Blumen. Davon gab es hier viele; von den Düften war mir schon schwindlig.

Ich wartete ab, bis sich der Halfling entfernt hatte und lief vorsichtig zurück.

Die Einweisung erfolgte durch ein derartig sympathisches und nettes Mädchen, dass ich zeitweise alle meine traurigen Gedanken vergaß. Sie bemerkte sofort, dass ich von einem anderen Planeten kam. Wir unterhielten uns, ich erzählte vom Karijer, davon, dass ich eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen möchte, dafür aber eventuell das Geld nicht ausreichen würde. Letztendlich bekam ich ein Zimmer für lediglich 10 Kredit pro Tag. Zwar ganz am Ende des Motels, weit weg vom Weg, aber was machte das schon? Außerdem lud sie mir das Einwanderungsgesetz aus dem Netz, damit ich keine Ausgaben am Terminal im Zimmer hatte, das nämlich gebührenpflichtig war. Und sie bewirtete mich mit einer Tasse Tee.

Sie selber stammte von Neu-Kuweit, aber ihr Vater war auch eingewandert, erzählte sie. Von der Erde! Und obwohl sie erst 22 Jahre alt war, hatte sie bereits die Erde kennen gelernt — die Abschlussklassen auf dem College besuchen generell Erde, Edem oder Avalon. Das Mädchen hatte keine Komplexe, dass sie in Anabiose fliegen musste. Und wirklich, was ist denn so interessant an einem zweiwöchigen Flug im Zeittunnel? Bei ihnen nutzten sogar einige Jungs die Anabiose, um nicht sinnlos Zeit zu verlieren und so schnell wie möglich die Erde zu sehen. In der Heimat der Menschheit hatten sie London, Kairo, Jerusalem und Shitomir besucht — also alle berühmten historischen Plätze. Danach verbrachten sie und ihre Oma drei Tage in einer kleinen Odessaer Siedlung und gingen auf Löwenjagd. In der Siedlung waren Fremde nicht gern gesehen, es gab also genug Abenteuer, lächelte Sie.

Mit ihr hätte ich sicher noch einige Stunden verbracht, so interessant war es. Es kam aber ein neuer Übernachtungsgast, irgendeine langhaarige Missgeburt, und ich musste gehen. Ich bekam den Schlüssel und einen Prospekt des Motels mit einer detaillierten Karte, sodass ich mein Häuschen ohne Probleme finden konnte.

Es gefiel mir.

Ein schönes Holzbett mit sauberer Bettwäsche, ein Tisch, zwei Stühle und zwei Sessel, ein kleiner Videoscreen. Er war im Zimmerpreis inbegriffen und ich schaltete sofort auf den örtlichen Nachrichtensender. Durch das große Fenster konnte man fast das ganze Motel sehen. Das Häuschen stand auf einem Hügel. Unmittelbar hinter dem Haus begann der Zaun, danach kamen die Felder, dahinter waren die Hochhäuser der Hauptstadt zu erkennen. Die Luft roch sehr süß. Es konnte doch nicht sein, dass ich keinen Ausweg finden würde!

Es war mir gelungen, auf einen anderen Planeten zu fliegen. Ohne mich dabei in einen Zombie zu verwandeln. Ich hatte ein Dach über dem Kopf und etwas Geld in der Tasche.

Ich setzte mich an den Tisch und begann das Einwanderungsgesetz zu lesen. Alles war sehr richtig und vernünftig. Ich erfüllte alle Voraussetzungen — ich war jung, männlich, keine Vorstrafen… hatte lediglich die Landebahn betreten, war aber dabei nicht erwischt worden… Mir war natürlich eigenartig zumute, dass man eine Beschneidung »als Zeichen der Achtung der kulturellen und historischen Traditionen des Volkes« verlangte, aber wenn es sein musste… Außerdem waren hier drei Ehefrauen erlaubt. Ich hatte gehört, dass das auf vielen Planeten üblich sei, aber früher hatte ich eher abstrakt darüber nachgedacht. Jetzt sah es also ganz praktisch so aus, dass ich später drei Ehefrauen haben durfte. Eigenartig, sich das vorzustellen. Wenn Vater drei Ehefrauen gehabt hätte, wie hätte ich sie genannt? Tanten? Und auch Vater hätte sicherlich reichlich Probleme gehabt. Wenn eine Frau ein Geschenk bekommen hätte, wären die anderen beleidigt gewesen…

Dann las ich, dass nur 40 Prozent der Bevölkerung mehr als eine Ehefrau hätten, und beruhigte mich wieder. Nach einer Stunde hatte ich alle Formulare ausgefüllt. Ich aktivierte das Computerterminal und versandte meinen Antrag aufZuerkennungderStaatsbürgerschaftindas Einwanderungsministerium von Neu-Kuweit. In die Spalte für besondere Bemerkungen schrieb ich, dass ich sehr wenig Geld hätte und um »möglichst schnelle Bearbeitung meines Antrags« ersuchte. Die Anmerkung fand ich gelungen, ehrlich und würdevoll. Es war kein Herumjammern, ich erklärte lediglich die Situation.

Das Terminal erstellte mir eine Eingangsbestätigung mit der Bemerkung, dass der Antrag »in der vom Gesetz vorgegebenen Frist« bearbeitet würde. Mir wurde ebenfalls mitgeteilt, dass ich bis zur Entscheidung meiner Sache den Touristenstatus beibehielte und kein Recht auf Arbeit in der »legalen oder illegalen Wirtschaft Neu-Kuweits« hätte.

Danach warf ich mich aufs Bett und schaute mir die Nachrichten an. Hauptsächlich berichteten sie über das Leben auf dem Planeten und waren sehr interessant. Es ging zum Beispiel um den Besuch des Sultans auf einem »nördlichen Archipel«, wo der Bau eines gewaltigen Energiekomplexes geplant war. Gezeigt wurden verschneite Inseln, das kalte, dunkle Meer und der Sultan persönlich — gar nicht alt und mit einem klugen, ehrlichen Gesicht.

Ich schaute mir ungefähr dreißig Minuten lang die Nachrichten an und überzeugte mich davon, dass Neu-Kuweit wirklich ein herrlicher Planet war. Hier gab es Dschungel, aber keine sehr gefährlichen, Meere und Ozeane, Wüsten und Wälder. Nicht wie bei uns, wo das Komfortniveau 51 Prozent betrug. Außerdem wurde der festliche Abschluss des Hip-Hop- Festivals in Agrabad übertragen: Auf der Freiluftbühne vor einem luxuriösen Palast tanzten und sangen die Girls. Um sie herum schwebten bunte holographische Illuminationen, die Zuschauer klatschten in die Hände und sangen mit.

Es kamen auch galaktische Nachrichten. Darüber, dass ein gewisser Planet mit Namen Inej seine Kriegsflotte in einem Maße erweitert hatte, dass die vom Imperium genehmigte Größe überschritten wurde. Es wäre an der Zeit, dass sich die Administration der Erde sowie der Imperator selbst einmischten. Es ging um galaktische Rennen, bei denen klar die Mannschaft der Halflinge gewinnen würde, aber die beste Jacht vom Avalon, Kamelot, und andere fremde Raumschiffe um den zweiten Platz kämpften. Berichtet wurde über eine Beulenpestepidemie, die in irgendeiner kleinen Kolonie ausgebrochen war. Gezeigt wurden Raumschiffe des Quarantänedienstes des Imperiums, die den Planeten von der Außenwelt abschnitten und den Bewohnern das Verlassen des Planetenverwehrten,daesbisherkeine Behandlungsmöglichkeit für die Pest gab. Diese Krankheit verläuft tödlich und ist ansteckend für die Menschheit und fast alle fremden Rassen. Als auf dem Bildschirm Aufnahmen vom Planeten erschienen — überfüllte Krankenhäuser, überforderte Ärzte in hermetisch abgeschlossenen Schutzanzügen, Kranke, die von Geschwüren bedeckt waren: zuerst von einem einfachen, roten Ausschlag, dann von Pusteln, und dann beginnt der Körper zu zerfallen -, schaltete ich den Bildschirm ab. Wie eklig… Seit meiner Kindheit hatte ich Angst davor, an etwas Schlimmem und Unheilbarem zu erkranken. Natürlich findet sich gegen jede Krankheit ein Medikament, aber manchmal dauert das einige Jahre und in der Zwischenzeit sterben ganze Planeten aus. Daran wollte ich gar nicht erst denken, zumal mir sofort schien, dass auch meine Haut zu jucken anfing — das ist das erste Anzeichen der Pest.

Also verschloss ich das Häuschen und ging spazieren. Ich hatte ohnehin nichts zu tun und beschloss, Fremde anzuschauen. Denn wenn hier Halflinge waren, konnte es auch andere Außerirdische geben. Außer Menschen sah ich aber niemanden. Es wurde dunkel und alles begann sofort aufzuleben. Bei vielen Autos und Häuschen wurden Feuer entzündet oder Herdplatten aufgestellt und Essen zubereitet. Die Leute könnten sicher auch im Restaurant essen, aber selbst kochen ist interessanter. Ich besaß keine Lebensmittel, ging also ins Restaurant und bestellte mir Fleischsuppe, Gemüseragout und Apfelsinensaft. In einer Ecke des Restaurants spielte ein junger Mann leise Gitarre, die Kellnerin brachte ihm ab und zu ein Glas Wein, er trank und begann wieder mit dem Spiel. Alles in allem war es schön. Wie ein Feiertag!

Nur dass mein Rücken immer stärker wehtat. Warum bin ich auch so ein dummer Hypochonder? Wo hätte ich mich denn mit der Pest anstecken können? — Es war aber trotzdem sehr unangenehm.

Also trank ich meinen Saft aus und ging schlafen.

Am Himmel leuchteten schon die Sterne — sehr helle und strahlende, hier störte sie ja keine Kuppel. Ich ging und verdrehte mir den Hals auf der Suche nach bekannten Sternbildern, konnte mich aber nicht orientieren.

Wie herrlich es doch ist, dass ich hierhergekommen bin!, dachte ich immer wieder.

Und was die Mannschaft der Kljasma für nette Leute waren!

Wenn ich eines Tages reich wäre, würde ich sie auf jeden Fall suchen. Sie verkehrten ja zwischen verschiedenen Planeten, kämen also auch zu uns auf Neu-Kuweit. Ich würde sie alle in das beste Restaurant einladen und mich für das, was sie für mich getan haben, bedanken. Ich wurde gegen Morgen wach.

Rücken und Hände juckten fürchterlich, die Nase war verstopft, als ob ich erkältet wäre. Eine Minute lang lag ich unter der Decke und versuchte mir einzureden, dass das nur dumme Phantasien waren. Aber ich fürchtete mich mehr und mehr.

Dann stand ich auf, machte Licht und rannte ins Bad, wo ein großer Spiegel hing.

Hände und Bauch waren von einem kleinen roten Ausschlag übersät.

Als ich mich, halb tot vor Entsetzen, umdrehte, sah ich, dass der Ausschlag auf meinem Rücken große rote Flecke bildete.

Genauso wie in der Sendung.

»Nein!«, schrie ich. Ich wollte mich sogar kneifen, vielleicht träumte ich?

Aber ich war mir sicher, dass es kein Traum war.

Beulenpest.

Unheilbar!

Zwei Tage lang würde ich diese Flecken, einen unerträglichen Juckreiz, Schnupfen und Stechen in den Augen haben. Stimmt, die Augen brannten schon, als ob Sand hereingekommen wäre… Dann würden aus dem Ausschlag Pusteln und ich würde ansteckend. Und nach weiteren drei Tagen wäre ich tot.

Aber ich konnte mich doch nicht mit der Pest infiziert haben! Das war doch nicht möglich!

Der Planet mit der Epidemie ist sehr weit von Karijer entfernt!

Oder… Auf einmal kam mir in den Sinn, dass die Kljasma unser Erz eben dahin transportiert haben könnte. Und selbst wenn ich in der »Flasche« gelegen hätte, wäre das etwa ein Hindernis für eine Ansteckung gewesen? Noch dazu dieser Junge, das Modul Keol, hatte der sich nicht am Bauch gekratzt? Vielleicht hatte er mich angesteckt? Oder der Älteste? Bei allen äußert sich die Krankheit verschieden, bei mir könnte sie früher ausbrechen.

Das bedeutete also, dass meine Freunde von der Kljasma schon tot waren. Gut, dass sie Neu-Kuweit schon vorher verlassen hatten. Dann kamen ihre Leichen nicht in Quarantäne, niemand würde von mir erfahren und nach mir zu suchen…

Oder wäre es besser, wenn sie mich finden würden?

Ich würde sicherlich unverzüglich ins Krankenhaus gebracht. Sie würden mich auf die Isolierstation legen und mit der Behandlung beginnen… obwohl es keine Heilung gab. Dort, auf der Isolierstation, würde ich sterben. Das stand fest und war nicht mehr zu ändern.

Jetzt wusste ich, wie sich meine Eltern fühlten, als sie ihr Sterberecht in Anspruch genommen hatten. Eigentlich lebst du noch, aber du weißt schon genau, wann und wie du sterben wirst. Und das war schrecklich. Mir brach am ganzen Körper der Schweiß aus, entweder wegen der Krankheit oder aus Angst. Sogar die nackten Füße rutschten auf den glatten Bodenkacheln. Ich schleppte mich in die Duschkabine, ließ das Wasser laufen und hockte mich hin. Die kalten Wasserstrahlen trommelten auf den Rücken und er hörte endlich auf zu jucken…

Ich will nicht sterben!, dachte ich. Ausgerechnet jetzt, wo alles so gut läuft! Wo ich auf einen Planeten gekommen bin, der der schönste im ganzen Universum ist! Wo ich sogar eine gute Freundin gefunden habe! Wo mein Antrag auf Zuerkennung der Staatsbürgerschaft angenommen wurde!

Warum musste es so kommen? Warum?

Habe ich mich irgendwie schuldig gemacht? Wenn die Eltern mit der Arbeit Glück gehabt hätten, wären sie nicht gestorben. Wenn sie nicht gestorben wären, wäre ich kein Modul geworden! Ich habe doch niemals jemandem etwas Schlechtes getan. Also, etwas wirklich Schlechtes, denn eine zerschlagene Nase oder ein Virus, mit dem ich einen fremden Pocket-PC verseucht hatte, zählten wohl kaum…

Ich ging erst aus der Dusche, als ich völlig durchgefroren war. Erneut schaute ich mich im Spiegel an, als ob das Wasser den Ausschlag hätte wegspülen können.

Er war natürlich nicht verschwunden, erschien sogar noch ausgeprägter, da meine Haut blass vor Kälte war.

Ich werde sterben. Und werde alle im Umkreis anstecken. Weil ich keinen Arzt rufen und nicht in die Isolierstation gesteckt werden will. Ich habe doch mein ganzes Leben unter Kuppeln verbracht und lag zwei Wochen in der »Flasche«. Ich will nicht!

Aber wenn auf Neu-Kuweit jemand überlebt, wird man mich tausend Jahre lang verfluchen. Als feiges und dummes Kind, das sich selbst ansteckte und dann noch andere infizierte.

Sterben werden sowohl der selbstzufriedene Halfling als auch der Taxifahrer, der kein Trinkgeld von mir nahm, die Wachmänner, die mich auf dem Kosmodrom entwischen ließen, das Mädchen, dessen Vater von der Erde stammte, der junge Mann, der am Abend so gut Gitarre gespielt hatte…

Alles wegen mir.

Meine Eltern wollten doch auch leben. Sie hätten gemeinsam mit mir die Kuppel verlassen können und wir hätten noch drei oder vier Jahre gelebt. Aber für sie war es das Wichtigste, dass ich lange und glücklich leben würde. Deshalb opferten sie sich auf.

Und nun stellt sich heraus, dass wegen ihres Opfers ein ganzer Planet aussterben wird.

Weil ich ein Feigling und Egoist bin. Ich möchte nicht einmal einen Arzt rufen, will nicht in einer Zelle sterben…

Ich schaffte es, mich abzutrocknen, sehr vorsichtig, da die Haut unerträglich juckte. Zog Jeans an und setzte mich ans Terminal. Ich schaltete es ein und suchte bei den Hoteldienstleistungen den Notarzt.

Es gab hier keinen Arzt. Man wurde an den städtischen Dienst verwiesen, aber davor graute mir.

Daraufhin ging ich die Liste der Motelgäste durch, die ihre Daten freigegeben hatten. Hier erschien auch der Halfling — er hatte einen außerordentlich schwierigen und langen Namen -, eine Familie »Graf Petrow«, Touristen, Geschäftsreisende und Sportler, die zu einem Quadroballturnier angereist waren. Ärzte fand ich nicht.

Dafür gab es einen Menschen namens Stasj, der in der Spalte »Beruf« als »Raumschiffkapitän« geführt wurde.

Ein Kapitän sollte die ganze Gefahr der Situation erkennen können.

Ich wählte seine Nummer. Es war fünf Uhr morgens, draußen war es noch ganz dunkel, aber das war jetzt egal…

Der Kapitän meldete sich schnell. Auf dem Bildschirm erschienen ein halbdunkles Zimmer, ähnlich dem meinen, und ein hellhaariger Mensch von etwa vierzig Jahren. Er ähnelte irgendwie Glebs Vater. Als er mich erblickte, verzog der Kapitän das Gesicht und fragte vorwurfsvoll:

»Was sind das für Kindereien?«

»Sind Sie Kapitän Stasj?«, fragte ich.

»Ja.«

Sein Gesicht wurde sofort ernst, er verstand offensichtlich, dass ich ihn nicht zufällig und nicht aus Spaß angerufen hatte.

»Ich heiße Tikkirej. Ich wohne im gleichen Motel wie Sie. Bungalow 114.«

»Das sehe ich«, sagte der Kapitän, »und weiter?«

»Könnten… könnten Sie mir helfen?«

»Vielleicht. Was ist passiert?«

Es schien, als ob er nicht davon überzeugt wäre, dass ich einen ernsten Grund hätte, ihn in dieser Frühe zu wecken, und er sich nur aus Höflichkeit zurückhielt. Vielleicht sprudelte es deshalb sofort aus mir heraus:

»Kapitän Stasj, ich habe die Beulenpest. Sie wissen doch bestimmt, was in diesem Fall zu tun ist!«

»Was erzählst du für einen Unsinn, Tikkirej?«, erwiderte der Kapitän entschieden.

»Das ist kein Unsinn!«, schrie ich, sprang auf und ging zurück, damit er die roten Flecken auf meinem Körper sehen konnte. »Ich habe die Beulenpest! Das ist äußerst gefährlich!«

»Woher kommst du?«, wollte der Kapitän nach kurzem Überlegen wissen.

»Vom Karijer. Das ist ein Planet, auf dem Erz abgebaut wird. Ich bin als Modul auf dem Raumschiff Kljasma geflogen, dann landeten wir irgendwo, ohne dass ich ausstieg, kamen hierher, ich durfte den Vertrag lösen, aber wir waren sicherlich auf dem Planeten, wo die Epidemie…«

»Halt für eine Sekunde die Luft an«, erwiderte Stasj sehr ruhig. »Geh zum Bildschirm und sieh in die Kamera. Komm mit dem Gesicht ganz nahe.«

Das machte ich.

»Bleib in deinem Bungalow sitzen und geh nirgendwohin«, befahl Stasj nach einer Pause. »Ich komme gleich zu dir. Verstanden?«

»Ich bin sehr ansteckend«, meinte ich.

»Das habe ich schon gemerkt. Bleib, wo du bist.«

Kapitel 4

Der Kapitän kam nach rund fünf Minuten. Ich hatte vorab die Tür geöffnet, und als die Klingel ertönte, rief ich laut: »Herein!«

Ich hatte erwartet, dass er einen Schutzanzug tragen würde, aber Kapitän Stasj hatte nicht einmal eine Uniform an, sondern ganz gewöhnliche Kleidung — Jeans und Hemd. Lediglich an seinem Gürtel befand sich eine Pistolentasche.

»Stell dich hin, Tikkirej«, sagte Stasj, als er neben der Tür stand.

Ich erhob mich.

»Dreh mir den Rücken zu. Gut. Setz dich…«

Völlig unbeeindruckt kam er zu mir, fasste mich ans Kinn, bewegte meinen Kopf und schaute mir aufmerksam in die Augen. Er fragte: »Hast du starken Schnupfen?«

»Ja…«

»Sag mir, Tikkirej, warst du bei eurem Arzt, bevor du das Raumschiff verlassen hast?«

»Nein.«

»Junge, was bist du dumm…«, meinte Stasj und begann zu lachen. Ich hätte nie gedachte, dass es unter Raumschiffkapitänen solche Sadisten geben würde! Er lachte mir direkt ins Gesicht, mir, der ich an der Pest starb!

»Das ist unbegreiflich. Marsch, ins Bett!«

Ich verstand gar nichts.

Stasj aber holte aus seiner Tasche eine kleine Schachtel, nahm eine schon aufgezogene Einmalspritze heraus und wiederholte: »Leg dich jetzt hin und zieh die Hosen runter.«

»Beulenpest ist unheilbar…«, flüsterte ich.

»Du hast doch gar nicht die Pest!« Er hob mich leicht an und schubste mich ins Bett.

»Na los. Wenn du dich schämst, dann halt die Hand davor, dann tut es aber doller weh.«

»Was wollen Sie mir spritzen?«

»Einen Immunmodulator.«

Es war ihm offensichtlich lästig, mit mir zu streiten. Also bestand er darauf, dass ich mich hinlegte und die Hosen herunterließ, und stach mir die Spritze in die Pobacke.

Ich jammerte.

»Es wird ein bisschen brennen, aber das ist nicht zu ändern«, sagte Stasj und injizierte die Flüssigkeit. »Nimm es als Bezahlung für die eigene Dummheit.«

»Und was habe ich?«

»Eine Allergie. Eine ganz gewöhnliche Allergie auf einen neuen Planeten. Du bist ein wunderlicher Mensch, hast wohl keine Bücher gelesen, bist nie im Kino gewesen, hast den Unterricht geschwänzt? Bevor ein beliebiger Planet betreten werden kann, auch wenn es das Paradies wäre — und dann gerade, weil dort viel Grünzeug ist -, muss ein Immunmodulator eingenommen werden. Hier gibt es Blütenstaub, Staubpartikel, Sporen, Samen, Teilchen der fremden Biosphäre — dein Immunsystem spielt verrückt, verstehst du das?«

Was bin ich nur für ein Idiot!

Ich versteckte meinen Kopf im Kopfkissen, zog die Jeans hoch und schwieg. Am meisten auf der Welt wünschte ich mir jetzt, dass Kapitän Stasj gehen würde. Selbst wenn ich an dieser dämlichen Allergie sterben würde.

Aber der Kapitän ging nicht weg.

»Peinlich?«, wollte er wissen.

Unwillkürlich nickte ich, obwohl das schwer ist, wenn man liegt und seinen Kopf im Kopfkissen vergräbt.

»Ist schon gut, das kann jedem passieren«, sagte der Kapitän. »In einem historischen Roman las ich von einem fast identischen Vorfall. Nur dass dort ein Erwachsener zu viele Erdbeeren gegessen hatte, worauf sich sein Körper mit allergischem Ausschlag bedeckte. Er selber hielt es für eine spontane bedingt positive Mutation… Übrigens, du hättest wirklich sterben können. Wenn du noch länger gezögert hättest und es zu einem Lungenödem oder einem anaphylaktischen Schock gekommen wäre. Unangenehm, oder? Wegen irgendwelcher dummer Blütenstaub- oder Samenkörner!«

»Verzeihen Sie mir…«, flüsterte ich.

»Erzähl mir lieber von deinem Leben, Tikkirej vom Raumschiff Kljasma.«

»Ich bin nicht von der Kljasma, ich bin nur zwei Wochen da mitgeflogen.«

»Als Modul, hast du schon gesagt. Erzähl mal, wie du da hineingeraten bist und dich wieder herausgewunden hast.«

Ich setzte mich auf das Bett. Die Spritze tat, ehrlich gesagt, gehörig weh, aber ich ließ mir nichts anmerken. Kapitän Stasj sah mich lächelnd an.

Vielleicht fühlen das alle, vielleicht nur einige, aber ich wusste immer, ob sich ein Mensch wirklich für mich interessiert oder ob er sich nur aus Höflichkeit mit mir beschäftigt. Unsere Psychologielehrerin, bei der es immer interessant war, erklärte, dass es sich beim Erspüren der Stimmung eines Gesprächspartners um eine kompensatorische Verteidigungsfähigkeit der kindlichen Psyche handeln würde. Mit zunehmendem Alter verliere sich diese bei fast allen.

Für Kapitän Stasj war es interessant. Der Kapitän der Kljasma, dessen Namen ich nicht einmal kannte, hätte mir auch eine Spritze gegeben, um mich zu retten, und wäre dann gegangen. Der Älteste der Kljasma hätte mir noch meine Fehler erläutert. Der Arzt Anton hätte mir sicher zugehört.

Aber Stasj wollte sich mit mir unterhalten, obwohl er ziemlich sauer war, dass ich ihn so zeitig geweckt hatte.

Und ich begann zu erzählen. Von Anfang an — also ab dem Zeitpunkt, als Papa entlassen wurde.

Als ich Stasj das verfassungsmäßige Sterberecht eines jeden Bürgers erklärte, fluchte er, nahm eine Zigarette und begann zu rauchen. Bei uns auf Karijer rauchte kaum jemand: Dazu musste ein Zusatzbetrag für die Lebenserhaltung gezahlt werden.

Bis zum Ende meines Berichts rauchte Stasj drei Zigaretten. Es sah so aus, als hätte ihn meine Erzählung sehr stark mitgenommen.

»Weißt du, Tikkirej, anfangs dachte ich, dass es eine Falle wäre«, sagte er endlich.

»Was für eine Falle?«

»Dein Anruf. Wegen der Beulenpest. Es war klar, dass du keine Pest hast — die Pupillen waren nicht geweitet, du hattest keinen Ausschlag über den Augenbrauen… also, Angst vor Ansteckung hatte ich nicht. Und wieso hast du einen Unbekannten angerufen?«

»Ich dachte mir, dass Sie als Raumschiffkapitän…«

Stasj nickte. »Ja, natürlich. Aber das alles ähnelte sehr einer Falle oder einer Provokation. Ist schon gut, Tikkirej, lassen wir das. Es sieht ganz danach aus, als ob ich nach den letzten Tagen ziemlich ausgepowert bin und jetzt Angst vor meinem eigenen Schatten habe. Sag, was hast du nun vor?«

Interessant, wer, und warum, sollte dem Kapitän eines Raumschiffs eine Falle stellen? Ich hatte davon noch nie gehört, entschied mich aber, nicht zu fragen.

»Ich werde auf meine Aufenthaltsgenehmigung warten.«

Er nickte.

»Wissen Sie«, erläuterte ich, »wenn die Regierung von Neu- Kuweit wirklich an Einwanderern interessiert ist, dann müsste sie doch jeden Einzelfall differenziert betrachten? Stimmt’s? Und ich bin jung, gesund, habe einen guten Neuroshunt…«

»Welchen hast du?«

»Kreativ-Gigabit.«

»Chipversion?«

»Eins null eins.«

»Tja…«, Stasj lächelte, »in eurem Schlangennest — du musst schon entschuldigen, mein Freund — kann es vielleicht als gut gelten. Das hier ist ein reicher Planet, der schon seit langem auf modernere Module umgestiegen ist. Ich habe auch einen Kreativ, aber Version eins null vier.«

»Ist das die Wahrheit?«

»Die absolute Wahrheit. Ich bin dagegen, den Schrott jedes Jahr auszuwechseln. Aber auf eine bevorzugte Bearbeitung deines Antrags würde ich nicht eben setzen, Tikkirej.«

»Aber was soll ich machen, Kapitän Stasj?«

Irgendwie spürte ich, dass ich ihm gegenüber völlig offen sein und um Rat fragen konnte, ohne mich schämen zu müssen.

»Ich überlege, Tikkirej. Ich würde dir gern helfen, weiß aber im Augenblick noch nicht, wie sich meine eigenen Sachen entwickeln.« Er lächelte. »Hat sich das Jucken gelegt?«

Überrascht stellte ich fest, dass es wirklich aufgehört hatte.

»Ja!«

»Gut. Ich muss jetzt los, Tikkirej. Wenn du mir Gesellschaft leisten möchtest, können wir gemeinsam frühstücken.« Er lächelte wieder. »Ich lade dich ein.«

Ich lehnte natürlich nicht ab. Ich musste jetzt eisern sparen. Nach einer Stunde, Kapitän Stasj hatte das Motel bereits in eigener Sache verlassen, saß ich mit einer Tasse Kaffee auf der offenen Terrasse des Restaurants und beobachtete den Sonnenaufgang. Der Kapitän hatte mir empfohlen, einige Tage auf Säfte und frisches Obst zu verzichten. Selbstverständlich hielt ich mich daran. Außerdem schmeckten Tee und Kaffee hier besonders gut.

Und zudem gab es keine Kuppel über dem Kopf…

Den eigentlichen Sonnenaufgang konnte ich nicht sehen, der Wald störte.

Es war aber trotzdem beeindruckend, wie der Himmel hell wurde, sich von Schwarz in Tiefblau färbte, wie die Sterne verblassten — alle außer den zwei, drei hellsten, die auch tagsüber zu sehen waren, wenn man genau hinschaute.

Ab und an flogen Linienflugzeuge oder winzige Flyer in großer Höhe vorüber. Raumschiffe starteten mindestens einmal pro halbe Stunde. Ich hatte mich noch niemals so wohl gefühlt. Und die Hauptsache war, dass ich jetzt endgültig davon überzeugt war, dass ich immer und überall guten Menschen begegnen würde. Solchen, wie der Mannschaft der Kljasma oder Kapitän Stasj.

Wie sollte ich da nicht mit meinen Problemen fertig werden?

»He, kann ich mich zu dir setzen?«

Ich wandte mich um und erblickte einen Jungen meines Alters, vielleicht etwas älter. Er stand da mit irgendeinem Getränk und schaute mich recht unfreundlich an.

»Na sicher, setz dich.« Ich rückte sogar etwas meinen Stuhl, um ihm am Tisch Platz zu schaffen.

»Hier ist der beste Platz, um den Sonnenaufgang zu beobachten«, erklärte der Junge, »hast du dich deshalb hierher gesetzt?«

»Ja. Das ist also dein Platz?«

»Meiner. Okay, bleib sitzen, ich habe ihn ja nicht gepachtet.«

Wir beäugten uns vorsichtig. Bei Erwachsenen ist es einfach, herauszufinden, ob sie gut oder schlecht sind. Er jedoch war mein Altersgenosse und ähnelte überhaupt keinem meiner Freunde. Er war dunkel, dünn und sicher floss eine große Portion asiatischen Bluts in seinen Adern.

Seine Frisur war sehr eigenartig, seitlich verschoben, sodass der Neuroshunt über dem rechten Ohr unbedeckt war. Bei uns war es umgekehrt: Alle verdeckten den Shunt mit den Haaren. Er trug einen weißen Anzug, als ob er gerade auf dem Weg ins Theater oder zu einer Versammlung wäre.

»Wie heißt du?«, fragte der Junge.

»Tikkirej. Oder Tik, oder manchmal Kir. Aber das ist für Freunde.«

Er dachte einen Moment lang nach.

Dann sagte er: »Ich heiße Lion. Nicht Leon, sondern Lion. Kapiert?«

»Kapiert.«

Wir verstummten. Die Kellnerin ahnte, dass wir nichts mehr bestellen würden und verschwand in den Tiefen des Restaurants.

»Kommst du von hier?«, wollte Lion wissen.

»Nein, ich bin erst gestern gelandet. Ich komme vom Karijer. Das ist ein Erzplanet.«

Lion sagte lächelnd: »Und ich bin schon seit einer Woche hier. Wir kommen von Service-7, das ist eigentlich gar kein Planet, sondern eine Raumstation im offenen intergalaktischen Raum. Dort gibt es eine bequeme Zeittunnelkreuzung, und deshalb wurde beschlossen, eine Raumstation zu bauen! Die nächste Kolonie von uns ist Dshabber in acht Lichtjahren Entfernung.«

»Oho!«, rief ich aus.

»Meine Eltern haben beschlossen, dass es an der Zeit wäre, auf einen Planeten umzuziehen und nicht weiter als Kosmonauten zu leben. Ich habe noch eine jüngere Schwester und einen Bruder. Wenn du sie ärgerst, poliere ich dir die Fresse!«

»Aber ich habe doch gar nicht vor, sie zu ärgern!«

»Ich sage das für den Fall der Fälle«, teilte Lion mit, »damit du Bescheid weißt. Hast du Geschwister?«

»Nein.«

»Und was sind deine Eltern? Mein Vater ist Ingenieur, meine Mutter Programmiererin.«

»Meine Eltern sind gestorben.« Ich ging nicht ins Detail.

»Oh, entschuldige«, Lion änderte sofort seinen Ton. »Und mit wem bist du hier?«

»Allein.«

»Hast du etwa eine Staatsbürgerschaft?«

»Ja, die des Imperiums.«

Es sah ganz so aus, als ob er mich ein wenig beneidete. Nur warum? Bei uns erhält man die Staatsbürgerschaft, sobald der Verbrauch von Sauerstoff und Nahrungsmitteln die Hälfte der Erwachsenenration beträgt.

»Und du möchtest nach Neu-Kuweit umziehen?«

»Ja.«

»Prima«, Lion streckte mir seine Hand entgegen. »Wir verzichten darauf, uns zu schlagen, Tikkirej, einverstanden?«

»Einverstanden.« Ich war verwirrt. »Wäre das nötig gewesen?«

»Na, zum Kennenlernen. Bei uns ist das so üblich… war das so üblich. Aber wir sind ja auf einem neuen Planeten.«

Wir fingen beide an zu lächeln. Lion war sicher kein Schlägertyp und die Aussicht auf eine Schlägerei wegen einer Bekanntschaft bedrückte ihn.

»Hier ist es schön, stimmt’s«, fragte er.

»Hm. Bei uns lebt man unter Kuppeln, die Atmosphäre ist sehr staubig. Solch eine Morgendämmerung gibt es nicht.«

»Wir hatten überhaupt keine Sonne«, gab Lion zu. »Über der Station hing eine riesige Plasmakugel zur Beleuchtung. Aber das ist nicht das Richtige. Und sie wurde nie ausgeschaltet, nicht einmal nachts. Nur das Spektrum wurde leicht geändert.«

»Unsere Sonne ist sehr aktiv«, erklärte ich. »Deshalb sind wir etwas mutiert, positiv. Um die Radioaktivität auszuhalten. Ich vertrage radioaktive Strahlung hundertmal besser als ein gewöhnlicher Mensch.«

»Ich habe lediglich die allgemeinmedizinische Mutation, die übliche…«, erwiderte Lion sauer auf diese Neuigkeiten. »Und die Knochen sind an niedrige Gravitation angepasst. Tikkirej, kannst du schwimmen?«

»Natürlich kann ich das.«

»Gehen wir!«

Er trank mit einem Zug sein Glas leer und stand auf: »Hier ist ein See, zwanzig Minuten zu Fuß. Ein echter, natürlicher See. Die Ufer sind mit Wasserpflanzen zugewachsen und es gibt Fische. Bringst du mir bei, wie man schwimmt?«

»Ich will es versuchen…«

Lion zog mich bereits hinter sich her und redete ohne Pause: »Ich hab meinen Vater gebeten, es mir zu zeigen, und er meinte, dass er keine Zeit habe. Ich glaube, er kann selber nicht schwimmen. Bei uns auf der Station gab es nur zwei Schwimmbecken, beide total winzig. Ich bringe dir auch etwas bei, willst du? Zum Beispiel, wie man sich bei niedriger Gravitation schlagen muss. Da gibt es eine spezielle Kampfart. Und wieso ist dein Gesicht voller Flecken, ist das auch eine Mutation oder eine Krankheit?«

»Das ist eine Allergie.«

»Ah, die hatte ich irgendwann auf Schokolade und Apfelsinen. Gemeinheit, oder? Warum gerade auf Schokolade und Apfelsinen und nicht auf Blumenkohl und Milch…« Gegen Abend war mir klar, dass ich einen neuen Freund gefunden hatte. An einem Tag konnte Lion natürlich nicht schwimmen lernen, aber am Ufer hielt er sich schon über Wasser. Wir sonnten uns und erklärten diese Stelle zu unserem gemeinsamen Stabsquartier, solange wir im Motel wohnen würden. Lion erzählte, dass es im Hotel noch drei Familien gäbe, die auf die Aufenthaltsgenehmigung warteten, aber in einer wären die Kinder noch ganz klein, in der zweiten gäbe es nur einen Säugling und in der dritten wäre der Junge eine dicke Rotznase, die mit niemandem reden wolle und immer ihrer Mama hinterherlaufen würde.

Wir brüsteten uns gegenseitig mit unseren Shunts — Lion hatte einen viel besseren, mit eingebautem Radio, sodass er sich nicht wegen jeder Kleinigkeit zu verkabeln brauchte. Im Gegenzug prahlte ich, dass ich als Modul auf einem Raumschiff geflogen sei, und Lion wurde echt sauer. Das war ein richtiges Abenteuer, nicht wie ein Flug zusammen mit Mama und Papa im Passagierraumschiff.

Seine Eltern lernte ich ebenfalls kennen. Es schien so, als ob sie sich über unsere Freundschaft freuten und es ihnen sehr leidtat, dass ich derartige Probleme mit der Erlangung der Neu- Kuweiter Staatsbürgerschaft hatte. Wir saßen an einem richtigen Lagerfeuer, ich wurde mit köstlichem Grillfleisch direkt vom Grill bewirtet, und danach versprachen sie, mich mit Lion in einigen Tagen mitzunehmen, um die Hauptstadt zu besichtigen. Seine Geschwister erwiesen sich als noch klein und dumm, aber sie wurden bald schlafen gelegt, sie störten uns fast nicht.

Als ich in mein Häuschen zurückkehrte, war es schon sehr spät. Eigentlich hatte ich darum bitten wollen, dass Lion mitkommen durfte — wir hätten noch weitergeschwatzt, aber ich traute mich nicht.

Und das war sicher auch gut so, denn als ich eintrat, leuchtete auf dem Videoscreen das Rufsignal.

Mein erster Gedanke war völlig absurd: Ich entschied, dass das Einwanderungsministerium meinen Antrag trotz allem bevorzugt behandelt hatte.

Es war jedoch Kapitän Stasj, der mich anrief. Als ich den Empfangsknopf drückte, erschien er fast sofort auf dem Bildschirm. Ziemlich niedergeschlagen und bedrückt.

Als er mich sah, verzog sich sogar unwillkürlich sein Gesicht.

»Wie geht es dir, Tikkirej?«

»Danke, es ist fast alles weg…«

Hatte er sich dermaßen Sorgen um mich gemacht?

»Kannst du jetzt gleich in mein Cottage kommen?«

Ich nickte.

»Dann los, ich warte.«

Meine Müdigkeit verflog sofort. Das Cottage war dasselbe wie meins. Nur dass Kapitän Stasj entschieden mehr Sachen besaß. An das Terminal waren zusätzliche Blöcke angeschlossen, sie verarbeiteten irgendwelche Informationen.

»Gut, dass du gekommen bist«, meinte Stasj ziemlich abwesend. »Hör mal, Tikkirej, möchtest du etwas dazuverdienen?«

Ich lächelte: »Ich möchte schon, aber ich darf nicht.«

»Wenn ich zahle, ist es möglich. Ich bin kein Bürger Neu- Kuweits, also fallen unsere Finanzbeziehungen nicht unter das Gesetz.«

»Wirklich?«

»Ich habe einen Juristen konsultiert.«

»Ich bin bereit!«, rief ich sofort.

Stasj drohte mir mit dem Finger: »Geh niemals auf irgendwelche noch so lockenden Angebote ein, ehe du nicht die Details geklärt hast! Verstanden?«

Ich nickte.

»Also, für mich ist es notwendig, dass du dich morgen von früh bis spät in der Nähe meines Cottage herumtreibst. In einiger Entfernung, aber so, dass du sehen kannst, wer sich ihm nähert.«

»Ist etwas passiert?«

»Ja… ich habe den Verdacht, dass irgendein Dieb versucht hat, hier einzubrechen. Oder es geschafft hat…«

Stasj fiel in Schweigen und schaute nachdenklich zum Terminal. Über den Bildschirm liefen ununterbrochene Ströme von Ziffern und Kleintext.

»Haben Sie etwa kein elektronisches Sicherungssystem?«, wollte ich wissen.

»Tikkirej… für jegliche Elektronik gibt es Blockiergeräte. Viel zuverlässiger ist ein Junge, der in der Nähe spielt.«

»Und was soll ich machen, wenn jemand…«

»Nichts! Absolut nichts! Versuch bloß nicht, Lärm zu machen oder näher heranzugehen. Schau hin und präge dir alles ein, Tikkirej! Am Abend berichtest du dann.«

»Gut«, gab ich mein Einverständnis.

Morgen wollte ich mit Lion wieder an den See gehen. Doch das war nur ein Spiel, und ich benötigte dringend Geld.

Lion würde das sicherlich verstehen…

»Wie viel zahlen Sie?«, erkundigte ich mich für alle Fälle.

»Was — wie viel? Ah…«, Stasj winkte ab, »ich zahle gut, mach dir keine Sorgen. Also, kann ich mich auf dich verlassen?«

»Ja, sicher«, erwiderte ich. Mir schien, dass Kapitän Stasj eine Art Phobie hätte und er sich Widersacher einbilden würde. Aber wenn er dafür bezahlte…

»Ab neun Uhr früh. Und bis zum Abend… vielleicht bin ich gegen acht zurück. Oder gegen neun. Iss frühmorgens reichlich, nimm ein paar Hamburger mit… na, hier ist ein bisschen, aber…«

Er gab mir Geld. Fragte nach: »Eine Kreditkarte hast du nicht? Ich habe fast kein Bargeld.«

»Nein. Aber haben Sie keine Bedenken, dass man die Kreditkarte verfolgen könnte?«

Stasj lächelte: »Tikkirej, halte mich nicht für einen Paranoiker. Der aktuelle Boom des Papiergeldes ist eine Dummheit. Es ist viel einfacher, ein anonymes Bankkonto anzulegen, als die Fingerabdrücke zu wechseln. Außerdem kann ein beliebiger Neuroshunt aus der Entfernung eingesehen werden und den fälschst du nicht. Nein, ich habe keine Bedenken, eine Kreditkarte zu benutzen. Und ich rate dir, bei Gelegenheit auch eine anzuschaffen.«

Ein wenig beschämt nickte ich.

»Geh, Tikkirej«, wies Stasj an, »schlaf dich aus…«

Ich war schon an der Tür, als mich seine Frage einholte:

»Tikkirej… sag mal…«

Ich schaute zurück.

»Hast du wirklich vor, auf Neu-Kuweit zu bleiben? Willst du nicht dein Glück auf einem anderen Planeten versuchen?«, fragte Stasj.

Ich wunderte mich. »Mir gefällt es hier sehr gut. Und für einen neuen Flug habe ich kein Geld. Ist Neu-Kuweit etwa ein schlechter Planet?«

»Ein guter«, stimmte Stasj zu, »ein wenig eingerostet, aber gut. Okay, mach dir darüber keine Gedanken! Gute Nacht.«

Ich ging. Er setzte sich ans Terminal und, so nahm ich an, vergaß mich augenblicklich. Lion war mir nicht böse. Kein bisschen. Im Gegenteil, er war von diesem Abenteuer begeistert.

»Hat er wirklich noch alle Tassen im Schrank?«, fragte er geschäftig. »Es gibt solche Irren, die andauernd glauben, dass sie verfolgt werden. Sie benutzen keine Kreditkarten, an den Terminals schalten sie alle Zugänge aus…«

»Er benutzt eine Kreditkarte«, nuschelte ich. »Nein, er ist eigenartig, aber nicht verrückt. Vielleicht hat er auch wirklich Feinde?«

»Dann ist es gefährlich«, entschied Lion, »aber interessant. Weißt du was? Wir klettern aufs Dach deines Hauses und sonnen uns. Von dort aus müsste alles gut zu sehen sein. Dann gehen wir ins Café am Moteleingang. Von dort aus kann man auch beobachten. Und danach… danach setzen wir uns noch irgendwohin. Wir dürfen nicht den ganzen Tag an einer Stelle bleiben, sonst ist es offensichtlich, dass wir aufpassen.«

»Ich teile das Geld mit dir, das mir Stasj gibt«, versprach ich.

Ich fragte Stasj nicht um Erlaubnis und berichtete Lion alles aus Eigeninitiative. Denn ich vertraute Lion und war mir sicher, dass er niemandem davon erzählte.

Wir kauften Cola und Popcorn, zogen den Videoscreen auf das Flachdach meines Cottage, damit es nicht langweilig wurde, und begannen mit dem Sonnenbad. Ich habe eine ziemlich dunkle Haut, Lion auch, sodass wir keine Angst vor Sonnenbrand hatten. Seine Mutter gab uns trotzdem Sonnencreme.

»Du hast überhaupt Glück mit Abenteuern«, meinte Lion, der in der Hocke saß und sich seine Knie eincremte. »Du besitzt die echte Staatsbürgerschaft des Imperiums, das ist Nummer eins. Ich muss noch zwei Jahre lang wie ein Schwachkopf mit dem Kinderausweis herumlaufen. Dann bist du als Modul auf einem Raumschiff geflogen! Das ist Nummer zwei! Du bist fast an einer Allergie gestorben und hast dabei Freundschaft mit einem echten Kapitän geschlossen! Das sind drei und vier! Und jetzt hilfst du, einen Dieb aufzuspüren. Fünf!«

»Du hilfst auch, einen Dieb aufzuspüren«, beruhigte ich ihn.

»Das ist nur deinetwegen«, erkannte Lion ehrlich. »Klasse, dass wir uns kennengelernt haben, stimmt’s?«

»Natürlich stimmt das!«

Wir fanden einen interessanten Fernsehkanal über verschiedene Planeten, schauten zu und tranken Cola. Lion kommentierte die Übertragung lebhaft. Er war zwar auch noch nicht auf diesem Planeten gewesen, hatte dafür aber auf einer Raumstation gewohnt, an der die verschiedensten Raumschiffe anlegten. Dort hatte er alle Außerirdischen kennen gelernt und sich mit ihnen unterhalten.

Er hatte einen älteren Freund, der früher in der Armee des Imperators gedient hatte und dessen Onkel auf Edem lebte.

»Dort ist es auch schön, der Onkel hat uns ein Video geschickt«, erklärte Lion. »Aber es ist schwer, dorthin einzuwandern, bei ihnen gibt es auch so eine hohe Geburtenrate. Der Onkel hat schon sechs Kinder, aber er muss sich noch drei anschaffen. Das nennt sich Besiedelung des Planeten nach der intensiven Methode…«

Ich hörte ihm schon nicht mehr zu. Ich schaute am Screen vorbei zum Cottage von Stasj.

Ein junger Mann näherte sich ihm, machte sich eine Sekunde lang an der Tür zu schaffen und ging hinein!

»Es ist so weit…«, flüsterte ich, »Lion, hast du das auch gesehen?«

»Was?« Er sprang gleich auf.

»Irgendein junger Mann ist ins Cottage eingedrungen! Als ob er einen Schlüssel hätte, ist er völlig unbefangen zur Tür und dann hineingegangen!«

»Ich habe doch hingeschaut…«, ärgerte sich Lion, »aber ich habe doch hingeschaut! Bei mir ist es immer so, wenn ich ins Erzählen komme, verpasse ich die interessantesten Dinge!«

Mir fiel ein, dass ich diesen jungen Mann schon einmal gesehen hatte. Er hatte gleich nach mir eingecheckt.

»Komm, wir bleiben hier«, sagte ich, »er wird kaum lange drinbleiben…«

Aber er blieb sehr lange im Cottage. Es verging eine halbe Stunde, eine Stunde. Lion begann mich skeptisch anzusehen, dann fragte er:

»Du hast dich nicht geirrt?«

Ich schüttelte den Kopf. Lion seufzte und legte sich auf den Rücken. Ihm war es natürlich langweilig auf dem Dach, zumal er den Verbrecher nicht einmal gesehen hatte.

»Ich werde schlafen und meinen Bauch sonnen«, entschied er, »wenn etwas Interessantes passiert, sag Bescheid.«

In diesem Augenblick wurde die Tür des Cottage geöffnet, der ungebetene Gast ging hinaus und bewegte sich schnell zu einer dichten Hecke, die längs der Hauptallee angepflanzt war.

»Jetzt ist er hinausgegangen«, sagte ich stolz.

Lion drehte sich eilig um und reckte den Hals. »Wo?«

»Na da, er versteckt sich in den Sträuchern!« Ich zeigte mit der Hand dorthin.

»Aber wo denn, ich sehe nichts!«

»Na da!«, heulte ich auf. »Bist du blind?«

Der Verbrecher hatte sich bereits geschickt durch die Hecke gezwängt und hinter den Zweigen versteckt.

»Ich glaube, du hast einen Sonnenstich«, meinte Lion, »ehrlich.«

»Was sagst du da, hast du nichts gesehen?«

»Nö. Niemanden.«

Wir schauten einander durchdringend an.

Lion zweifelnd und beleidigt und ich… ich sicherlich auch zweifelnd.

»Ehrenwort, er kam aus dem Cottage heraus!«, rief ich. »Du hast dich nur zu spät umgedreht, als er sich schon in die Hecke schlug.«

»Ich habe doch diese Hecke gesehen, dort war niemand.«

»Du glaubst mir nicht?«, fragte ich.

Lion zögerte. Lustlos sagte er: »Ich glaube dir. Aber ich habe eine normale Sehkraft. Ich hätte es auch gesehen. Vielleicht war das ein Dshedai?«

»Wer?«

»Na, ein galaktischer Ritter, ein Dshedai. Warst du nie im Kino?«

»Ah…«, ich erinnerte mich, »das sind die, die mit Schwertern gekämpft haben und sich unsichtbar machen konnten? Aber das ist doch ein Märchen.«

Lion wedelte mit den Händen: »Nicht doch, das ist kein Märchen! Es gibt solche Spinner, sie leben auf dem Avalon. Sie nennen sich galaktische Ritter, fliegen durchs ganze Imperium und kämpfen für die Gerechtigkeit.«

»Und warum sind sie dann Schwachköpfe? Kannst du mir das bitte erklären?«

»Na deshalb, weil niemand sie braucht. Das ist so eine Art Sekte, verstehst du? In Wirklichkeit gibt es die Flotte des Imperiums, die Polizei, den Hygienedienst und noch vieles mehr. Sie kümmern sich um die Aufrechterhaltung der Ordnung. Aber die Dshedais denken, dass es unbedingt solche Ritter geben muss, die nicht für den Dienst, sondern für die Idee arbeiten.«

»Und das sind Dshedais?«

»Na ja, damit macht man sich über sie lustig«, gab Lion zu, »so als würde man ›Homo‹ zu einem Menschen sagen, das wäre beleidigend. Oder einen Halfling einen ›Hobbit‹ nennen. Oder zu einer Tzygu ›Bienchen‹ sagen. Oder die, die auf einer Raumstation leben, als ›Kosmik‹ bezeichnen.«

»Ich habe es doch kapiert! Und wie war das, sie können sich unsichtbar machen und kämpfen mit dem Schwert?«

»Das mit dem Unsichtbarmachen können sie, glaube ich… aber mit den Schwertern, das weiß ich nicht«, erwiderte Lion ehrlich.

»Und warum habe ich ihn dann gesehen?«

»Na ja, für den einen konnte er sich unsichtbar machen, für den anderen nicht. Vielleicht, weil du ein Mutant bist, der Radioaktivität gut verträgt.«

»Was hat das mit Radioaktivität zu tun?«

»Woher soll ich das wissen?«

Ich sah ein, dass es unmöglich war, Lion umzustimmen, wenn er sich etwas ausgedacht hatte. Und wenn wir uns weiter stritten, würden es in eine Schlägerei ausarten.

»Vielleicht ist es auch so«, äußerte ich. »Und trotzdem hast du ihn nicht gesehen. Du hast ja gelegen und nach oben geschaut. Die Sonne schien dir in die Augen, wenn auch durch die Lider. Deshalb hast du nicht sofort normal sehen können.«

Lion dachte nach und gab zu, dass das möglich wäre. Aber die Version mit dem Dshedai sollte man nicht verwerfen. Das würde aber heißen, dass mein Freund Stasj selbst ein Verbrecher wäre. Wenn die Dshedais auch Schwachköpfe sind, ehrlichen Menschen fügen sie nie einen Schaden zu.

Um uns nicht zu zerstreiten, zogen wir uns an, kletterten vom Dach und gingen Kaffee mit Sahne trinken. Auf dem Weg kratzte ich mich am Hinterkopf. Nicht wegen der Allergie, sondern weil ich einen Sonnenbrand abbekommen hatte.

Kapitel 5

Kapitän Stasj hörte mir sehr aufmerksam zu. Als ich ihm beichtete, dass ich nicht allein, sondern mit meinem neuen Freund auf Wache gewesen war, wurde er überhaupt nicht böse. Sobald er aber hörte, dass Lion den Dieb gar nicht bemerkt hatte, zog er seine Stirn in Falten und vertiefte sich in seine Überlegungen.

»Vielleicht ist er ein Dshedai?«, fragte ich vorsichtig, »dieser Kerl…«

»Was denn für ein Dshedai?«, brummelte Stasj, in Gedanken versunken.

»Na ja, es gibt so eine Sekte auf Avalon…«

Kapitän Stasj runzelte die Stirn. »Tikkirej, erstens lohnt es sich nicht, sie Dshedai zu nennen. Dshedais sind Märchenfiguren aus der Mythologie der Anfangsphase der Eroberung des Kosmos. Einige Bezeichnungen jener Zeit haben sich eingebürgert. Aber mit den Dshedais aus dem Märchen haben die Ritter des Avalon, die Phagen, nichts gemein. Tikkirej, bist du sicher, dass du diesen jungen Mann erkannt hast? Ist es genau derjenige, der gleich nach dir eingecheckt hat?«

»Ja, der. Er hat so ein charakteristisches Gesicht: ein schmales, keilförmiges Gesicht und lange Haare. Und was ist zweitens?«

»Zweitens…«, Stasj erhob sich aus dem Sessel und gab dabei einige Kommandos ins Terminal ein, »zweitens, mein junger Freund, können sich die Phagen nicht unsichtbar machen. Das ist ein verbreiteter Irrtum. Die Ausbildung eines Phagen beinhaltet die Beherrschung der Technik des Maskierens, der Hypnose, der verbalen und nonverbalen Beeinflussung der Psyche, aber das ist alles sehr weit entfernt von der Unsichtbarkeit. Zumal auf große Entfernung. Möglich, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestand, den Phagen nicht zu bemerken, weil du ständig auf ihn geschaut hast, aber nicht bei Lion, der nur schnell und oberflächlich hinsah. Das ist schwer zu erklären, aber glaub mir ruhig.«

»Und gibt es ein Drittens?«, wollte ich wissen.

»Ja. Dieser Mensch gehört nicht zu den Rittern Avalons. Und wenn du zu dem Schluss gekommen sein solltest, dass ich ein Verbrecher bin, dann irrst du dich.«

Beschämt schwieg ich.

»Ist dir bekannt, Tikkirej, warum im Mittelalter der Erde, in der vorkosmischen Ära, das Rittertum als Erscheinung verschwand?«, fragte mich Stasj und beobachtete dabei das Terminal. Er konnte offensichtlich mehrere Dinge auf einmal tun. Zum Beispiel, den Computer bedienen — und das nicht einmal über den Shunt -, also mit den Händen arbeiten und gleichzeitig etwas erklären.

»Tja… ich erinnere mich nicht besonders«, bekannte ich.

»Um es kurz zu machen: Der einzelne Mensch hörte auf, ein ernstzunehmender Kämpfer zu sein. Seine Meisterschaft, die Ausbildung — alles nivellierte sich im Vergleich zu den primitivenFeuerwaffenodersogareinemguten Armbrustbolzen. Tikkirej, mein Freund, was war denn ein Ritter noch wert, wenn ihn ein dummer und schmutziger Söldner aus dem Hinterhalt erschlagen konnte und ihn nicht einmal an sich herankommen ließ? Eine Ritterschaft kann es nur in einer Situation geben, wo ein geübter Einzelkämpfer wirklich eine starke Kampfkraft verkörpert.«

»Aber wie ist es denn dann…«

»Die Geschichte verläuft als Spirale, Tikkirej. Gegenwärtig hat die Entwicklung der Wissenschaften und der Biotechnologien dazu geführt, dass ein einzelner Mensch erneut zu einem entscheidenden Faktor wird. Vielköpfige Mannschaften und teure Raumschiffe sind überflüssig — ein kleines, billiges Raumschiff mit nur einem Piloten ist in der Lage, einen ganzen Planeten zu zerstören. Ein Mensch, der in der benötigten Richtung entwickelt wurde, der bestimmte positive Mutationen erhielt und entsprechend trainiert ist, kann Tausenden von Gegnern widerstehen. Verstehst du?«

»Ich verstehe.«

Stasj lächelte.

»Und so bildete sich eben aus diesem Grund nach der Kolonisierung des Avalon eine Gruppe von Menschen, die sich die Ritter des Avalon oder Phagen nannten. Sie sahen die aufgezeigte Konstellation voraus und beschlossen die Wiedergeburt des Rittertums als nützliche soziale Erscheinung. Sie schufen eine ziemlich komplizierte Struktur, die selbstsüchtige, antisoziale Handlungen einzelner Phagen hemmen kann. Es wurde eine entsprechende Vereinbarung mit dem Herrscherhaus des Imperiums geschlossen, nach der sich die Ritter des Avalon schon mehr als zweihundert Jahre lang bemühen, dem Imperium zu dienen.«

»Aber es gibt doch die Flotte, die Polizei…«, wandte ich ein, mich an die Worte Lions erinnernd.

»Ja. Natürlich. Aber der Sinn der Sache besteht gerade darin, dass die Ritter des Avalon weder an öffentliche Belange noch an Bürokratie oder Dienstvorschriften gebunden sind. An nichts, außer an gemeinsame ethische Regeln, deren Ausarbeitung die Neuschaffung des Rittertums ermöglichte. Auf diese Art und Weise verfügen sie über eine entschieden größere Handlungsfreiheit, und es gibt Zeiten, in denen sie ernste Krisen in der Entwicklung der Menschheit verhindern. Noch Fragen?«

Ich schwieg. Ich wollte eine Frage stellen, wusste aber nicht, ob ich es wagen konnte. Stasj sah mich durchdringend an, dann streckte er seine Hand aus und klopfte mir auf die Schulter:

»Na los! Frag!«

»Warum mögen Sie es nicht, wenn Sie Dshedai genannt werden?«, fragte ich und schaute Stasj in die Augen.

»Weil wir keine Dshedais sind«, antwortete Stasj einfach. »Wir fuchteln nicht mit leuchtenden Schwertern herum, ducken uns nicht unter Laserstrahlen hindurch und können nicht unsichtbar werden.«

»Ich verrate niemandem, wer Sie sind«, versprach ich.

»Das ist nicht wichtig, Tikkirej. Ich wurde auch so entlarvt, leider. Schon vor zwei Tagen. Und selbst wenn ich mich irren sollte und du ein Agent des Gegners bist, habe ich nichts Neues verraten.«

»Und wer ist Ihr Gegner?«, fragte ich leise.

»Das werde ich nicht verraten. Das brauchst du nicht zu wissen.«

Stasj erhob sich und holte aus der Hosentasche einen Haufen Geld:

»Nimm! Ich gehe davon aus, dass es dir reicht, um auf die Staatsbürgerschaft zu warten.«

Ich verstand gar nichts mehr. Schaute auf das Geld — es war viel. Da konnte man wirklich in aller Ruhe auf die Entscheidung warten…

»Habe ich Ihnen etwa so entscheidend geholfen?«, rief ich aus.

»Tikkirej…«, Stasj holte Luft, »weißt du, worin der Hauptfehler unserer Zivilisation besteht?«

»Worin?«, murmelte ich, ohne mich schon entschieden zu haben, das Geld anzunehmen.

Stasj steckte mir das Bündel in die Hosentasche und fuhr fort: »Wir sind eine männlich dominierte Gesellschaft. Das kam dadurch, dass die Frauen den Zeitsprung nicht aushalten. Sie wurden zu ›Gepäckstücken‹ in Anabiosebehältern degradiert. Eine Dummheit, ein Zufall, ein Scherz der Natur — aber unsere Zivilisation entwickelt sich ausschließlich nach dem männlichen Typus. Wir sind alle sehr logisch, ernsthaft, in Maßen aggressiv und abenteuerlustig. Gut und gerecht… im Rahmen unserer Logik. Und das ist ein Fehler. Gerade aus diesem Grund existiert dein unglücklicher Karijer, wo es für die Bürger ein gesetzlich garantiertes Sterberecht gibt. Gerade aus diesem Grund nahm der Taxifahrer einerseits großherzig kein Trinkgeld von dir, wohl wissend, dass ein Jugendlicher, eigentlich noch ein Kind, fast kein Geld und absolut keine Chancen hat, Geld zu verdienen. Andererseits dachte er aber gar nicht daran, ganz auf die Bezahlung zu verzichten. Gerade aus diesem Grund, dummer, kleiner Tikkirej, chauffieren dich Lions Eltern, laden dich zum Grillen ein, aber denken gar nicht daran, für dich eine befristete Vormundschaft einzurichten und dir zu helfen, dich ein halbes Jahr über Wasser zu halten. Wir handeln logisch, Tikkirej.«

»Aber das ist doch normal!«, rief ich aus. »Kapitän Stasj, es ist wirklich ein schweres Leben bei uns auf Karijer! Und der Taxifahrer arbeitet! Und die Eltern von Lion haben ihre eigenen Probleme und selber drei Kinder! Und aus welchem Grund sollten sie etwas für mich tun?«

Stasj nickte und lächelte sehr traurig.

»Richtig, Tikkirej. Genau das will ich ja damit sagen. Die großen Aufstände der Feministinnen, die dunkle Epoche des Matriarchats — all das endete mit dem Beginn der Ära interstellarer Raumflüge. Und das ist gut so, Extreme sind schlecht. Aber wir fielen von einem Extrem ins andere: von einer stabil-emotionalen Zivilisation in eine expansiv-logische Zivilisation. Und deshalb… deshalb, Tikkirej, lass uns annehmen, dass du mir wirklich außerordentlich geholfen hast. Du hast dein Geld ehrlich verdient.«

Ich versuchte, etwas zu sagen, aber er schob mich sanft zur Tür und sagte: »Viel Erfolg, Tikkirej. Morgen fliege ich ab. Etwas ist bei mir schiefgelaufen, wie schade…«

»Vielleicht werde ich Ihnen noch bei irgendetwas helfen können…«, maulte ich. Alles war falsch! Nichts war in Ordnung! Warum hatte er mir so viel Geld gegeben? Und warum flog er ab?

»Nein, Tikkirej. Danke, es ist nicht nötig. Höchstens…« Stasj verzog das Gesicht. »Weißt du, ich würde dir ernsthaft raten, einen anderen Planeten zu suchen. Ich weiß auch nicht, warum. Halt das für die Intuition eines… Dshedai.« Er lächelte: »Viel Glück!«

Ich ging hinaus und Stasj verschloss hinter mir die Tür.

Eine Minute lang stand ich auf der Schwelle, schaute auf die Sterne und versuchte zu verstehen, warum alles im Leben schiefläuft. Wenn Stasj Recht hat, dann ist unsere ganze Welt falsch, und zwar nur deshalb, weil die Frauen keinen Zeitsprung aushalten. Wenn man es sich überlegt, dass es so eine Bedeutung haben soll… Es gibt doch die Anabiose… Vielleicht sind es wirklich nur Spinner, all diese Ritter des Avalon?

Der Packen unverdienten Geldes brannte mir in der Hosentasche. Vielleicht sollte ich einen Schein herausziehen und den Rest unter die Tür zurückschieben.

Aber das konnte ich nicht. Denn in einem hatte Stasj Recht: Niemand weiter wird mich so unterstützen. Helfen wird man mir wie die Kosmonauten der Kljasma, wie der Taxifahrer, wie der Barkeeper auf dem Kosmodrom. Aber einfach so, gegen jede Vernunft einen Haufen Geld zu schenken — aber nicht doch…

In meinem Hals steckte ein dicker Kloß. Ich zog die Nase hoch, machte die Tasche zu und ging zu meinem Häuschen.

In diesem Augenblick sah ich eine Gestalt im Halbdunkel stehen. Ebendiesen Kerl, der nach mir eingecheckt hatte und heute in Stasj’ Cottage eingedrungen war. Den Lion nicht gesehen hatte…

Es sah ganz danach aus, als ob der Dieb davon überzeugt war, dass auch ich ihn nicht sehen würde. Auf alle Fälle zeigte sein Gesicht Erstaunen, als ich innehielt und ihn anschaute.

Aber nur eine Sekunde lang.

Diese Sekunde reichte mir, um aufzuschreien, denn in der Hand des Banditen blinkte schwach Metall auf, und ich erriet, dass er gleich auf mich schießen würde.

Und dieser Schrei genügte, um mich zu retten. Denn die Nacht wurde zum Tag und über meiner Schulter schoss eine blendend weiße Schlange nach vorn.

Der Kerl, der auf mich schießen wollte, begann ebenfalls zu schreien. Die dampfende weiße Schlange verbrannte seinen Arm und die Hand mitsamt der Pistole fiel ins nasse Gras.

Die Feuerschnur tanzte weiter, als ob sie ihn in einen Käfig einschließen wollte, der ihm nicht erlaubte, auch nur einen Schritt zu tun.

Meine Beine trugen mich nicht mehr und ich setzte mich auf die warmen Pflastersteine. Stasj trat aus der Tür des Cottage — die Schlange begann irgendwo an seiner Hand und schlängelte sich wie ein lebendiges Wesen um den Banditen.

»Und da behaupten Sie noch, dass sie keine Schlangenschwerter benutzen…«, sagte ich recht laut. Und mich erfüllte Dunkelheit.

Der Bandit befand sich in einer Zimmerecke — an die Wand geklebt. Er war vollständig nackt — die Kleidung und ein Haufen geheimnisvoll aussehender Technik lagen in der Ecke. Ich wusste gar nicht, dass es einen Kleber gibt, der so schnell trocknet und so fest hält. Der Bandit verlor einige Male das Bewusstsein, kippte nach unten, aber die an der Wand festgeklebten Haare und der Rücken hielten ihn aufrecht.

Stasj tätschelte meine Wangen und fragte:

»Wieder da?«

»Entschuldigen Sie«, erwiderte ich, »ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich bin noch niemals ohnmächtig geworden.«

»Ich habe dich abgeschaltet«, sagte Stasj, »es war ungefährlicher für dich, auf dem Boden zu liegen.«

»Das habe ich gar nicht gemerkt«, äußerte ich ungläubig.

»Das solltest du auch nicht merken.«

Der Bandit fiel erneut in Ohnmacht, hing an der Wand, krümmte sich vor Schmerzen und richtete sich wieder auf. Er schwieg, obwohl es ihm bestimmt wehtat — an Stelle der rechten Hand war nur noch ein Stumpf. Es blutete nicht: Das Feuer hatte wahrscheinlich alle Gefäße verschweißt. Stücke des schönen Blumenhemdes waren im Ärmel verschmolzen und als schwarze Fransen in den Stumpf eingebrannt. Ich wandte mich ab.

»Geh nach Hause, Tikkirej«, sagte Stasj sanft. »Jetzt hast du wirklich dein Geld verdient.«

»Er ist es, der heute bei Ihnen eingedrungen war«, flüsterte ich.

»Ich weiß. Geh, mein Junge.«

Ich erhob mich und fragte trotz allem: »Was werden Sie mit ihm machen?«

»Wir werden uns unterhalten…«, antwortete Stasj.

»Die Polizei muss benachrichtigt werden… ein Arzt muss gerufen werden.«

»Natürlich. Ich werde das auch machen. Geh.«

Ich schaute ihm in die Augen und meinte: »Stasj, Sie belügen mich.«

Der Kapitän atmete hörbar ein und rieb sich die Wange.

»Tikkirej, ich bin sehr müde, ich habe überhaupt keine Zeit, und ich verstehe immer noch nicht, was vor sich geht. Dieser Mensch ist ein professioneller Spion. Kein Killer, sonst würdest du nicht mehr leben, aber er hat getötet. Tikkirej, lass mich meine Aufgabe erledigen. Okay?«

Ich machte kehrt. Er hatte Recht. Mögen diese Ritter-Phagen auch eigenartig sein, das Imperium erklärt sie ja nicht für außerhalb des Gesetzes stehend. Kapitän Stasj hat sicherlich größere Kompetenzen als ein beliebiger Polizist auf diesem Planeten.

»Du hattest Glück, Phag«, sagte der Bandit plötzlich, »du hattest einfach zufällig Glück.«

Seine Stimme war fast normal, wie bei einem gesunden und selbstbewussten Menschen. Ich ging schon auf die Tür zu, hielt es aber nicht aus und blieb stehen. Stasj warf einen kurzen Blick auf mich, sagte aber nichts.

»Meine Tätigkeit besteht gerade darin, das Glück zu nutzen«, äußerte Stasj, »bei dir scheint es umgekehrt zu sein. Wirst du reden?«

»Vielleicht soll ich auch noch tanzen?« Der Bandit grinste.

»Lass es sein, du hast ein schlechtes Taktgefühl.«

Stasj rückte einen Stuhl zurecht und setzte sich dem Gefangenen gegenüber.

»Warum nur wolltest du den Jungen töten? Er war zufällig hier und kein Gegner für dich.«

»Er hat keine Bedeutung«, antwortete der Bandit gleichgültig, »du bist der Feind, er ist ein Niemand.«

»Eine bekannte Logik«, nickte Stasj, »aber bisher galten die Alten als eure ›Niemande‹ und die Kinder ließt ihr am Leben.«

»Es gibt Ausnahmen«, erwiderte der Bandit. »Vielleicht sollte man doch einen Arzt rufen, Dshedai?«

»Wozu brauchst du einen Arzt?«, wunderte sich Stasj. »Es gibt keine Blutungen und mit Endorphinen hast du dich selbst versorgt.«

Der Bandit grinste wieder.

»Ich habe nicht vor, dich zu töten«, sprach Stasj, »du bist nur eine kleine Leuchte, ein Bauer im Spiel. Wenn auch am richtigen Platz. Aber etwas hätte ich gern geklärt. Tikkirej!«

»Ja, Kapitän«, antwortete ich schleunigst.

»Es ist richtig, dass du nicht gehst. Warte noch ein Weilchen.«

Er stand auf, ging nahe an den Banditen heran und legte ihm die Hand auf die Stirn. Vielleicht schien es mir nur so, aber in den Augen des Banditen blitzte plötzlich Angst auf.

»Du bist doch blockiert«, meinte Stasj, »nicht wahr?«

Der Bandit schwieg. Es ruckte, als ob er sich losreißen wollte.

»Wenn ich dir aber bestimmte Fragen stelle, wirst du ein großes Bedürfnis verspüren zu antworten«, fuhr Stasj freundlich fort. »Ganz bestimmt. Und du beginnst zu reden und wirst sterben. Ist es nicht so?«

»Ja.« Der Bandit leckte seine Lippen.

»Ich wiederhole: Du hast eine Chance, am Leben zu bleiben. Ich kann dir auch etwas modifizierte Fragen stellen, deren Antworten nicht zu deinem Tod führen. Also entscheide dich. Der Handel ist nützlich für mich — ich werde zumindest einen Teil der Information erhalten. Und du — du bleibst am Leben. Wenn du ein hochrangiger Agent bist, und mir kommt es so vor, als wäre dem so, dann wurde dein Selbsterhaltungstrieb nicht vollständig gelöscht. Entscheide dich!«

»Was sind es für Fragen?«, wollte der Bandit wissen.

»Dein Rang?«

»Leutnant des Auslandssicherheitsdienstes von Inej.«

»Name?«

»Karl.«

Stasj nickte: »Du könntest diesem Jungen wohl keinen Rat geben, Leutnant Karl? Er hat vor, die Staatsbürgerschaft von Neu-Kuweit anzunehmen. Lohnt sich das für ihn?«

»Diese Frage ist an der Grenze der Blockade!«, erwiderte Karl schnell.

»Aber doch noch nicht hinter der Grenze? Stell dir vor, dass dieses Kind dein Sohn wäre oder dir bei irgendetwas sehr geholfen hätte. Was würdest du ihm empfehlen?«

»Ein Ticket zu kaufen und zum Avalon zu fliegen«, antwortete Karl scharf. »Ist das alles, Dshedai?«

»Sollte er jetzt schlafen gehen oder besser ein Taxi rufen und zum Kosmodrom fahren?«

»Also das weiß ich nicht.« Karl neigte sich nach vorn. »Glücklicherweise weiß ich es nicht, sonst hättest du mich getötet! Phag, das ist ein unfaires Spiel!«

»Gut, gut, wir machen Schluss«, sagte Stasj beruhigend. Seine Stimme veränderte sich plötzlich, vibrierte, als würde sie durch ein Computerprogramm mit Stimmenverzerrer geleitet. »Übrigens, warum ist dieser Junge ein ›Niemand‹ für Inej?«

»Er hat…«, erwiderte Karl ebenso schnell. Und verstummte — seine Augen wurden gläsern, der Kiefer klappte herunter und er hing tot an der Wand.

»So ein Pech«, meinte Stasj und blickte auf den leblosen Leutnant vom Planeten Inej, »was für ein Pech!«

»Sie wussten, dass er durch diese Frage stirbt!«, schrie ich. »Kapitän Stasj, Sie haben ihn getötet!«

»Ja.« Stasj nickte. »Ich hatte gehofft, dass er es schafft, zu antworten, sein Organismus war mit Hormonen voll gestopft. Die Blockade war zu gut.«

»Sie haben ihn getötet«, wiederholte ich.

»Ja, Tikkirej.« Stasj sah mich an. »Er hat Dutzende Leben auf dem Gewissen, glaub mir. Und noch Sachen, die schlimmer sind als einfache Morde.«

Ich wandte mich ab. Der tote nackte Mann mit dem verbrannten Stumpf an Stelle der Hand hing an der Wand, aufgespießt wie ein Schmetterling in einer Sammlung.

Selbst wenn Stasj Recht hatte und er ein Bandit war, man konnte doch einen Banditen nicht ohne Gerichtsverfahren töten! Was ist er denn dann noch für ein Ritter?

»Tikkirej…« Der falsche Ritter kam auf mich zu und fasste mich an die Schultern. Er verstand, was mir im Kopf herumging. »Du wirst dich noch davon überzeugen können, dass ich Recht hatte. Mit Sicherheit. Aber jetzt rufe ich dir ein Taxi, du suchst deine Sachen zusammen und fliegst weg.«

»Wohin?«, flüsterte ich.

»Das versuche ich jetzt herauszufinden. Du brauchst einen jungen, guten und gastfreundlichen Planeten. Einen mit Wäldern, Bergen und Meer. Wo man arbeiten und lernen kann und sich nicht mit solchen Problemen herumschlagen muss, die dem Glück entgegenstehen.«

»Aber warum soll ich denn wegfliegen!«, rief ich aus, »mir gefällt es hier, ich habe hier Freunde!«

»Hast du gehört, was dir Karl geraten hat?«

»Ja…«

»Deshalb fliegst du auch weg. Neu-Kuweit wird in kürzester Zeit von Inej erobert werden.«

Ich äußerte mein Unverständnis.

»Das ist doch ein reicher Planet, hier ist die Flotte des Imperiums im Orbit! Keine Kolonie wird gegen das Imperium putschen!«

»Ja, aber im letzten halben Jahr haben sich vier Planeten der Föderation des Inej angeschlossen. Große, reiche und blühende Kolonien. Wirst du meinen Rat befolgen, Tikkirej?«

Mir war ganz elend zumute.

»Ja, Kapitän Stasj.«

»Geh und such deine Sachen zusammen. Aber schnell, ja? Ich ruf ein Taxi und sehe mir den Flugplan an.« Ich hatte kaum etwas einzupacken: ein Foto, das ich bereits auf den Tisch gestellt hatte: ich mit meinen Eltern vor zwei Jahren in der städtischen Orangerie vor einem Rosenstrauch. Ein Handtuch, das ich ins Bad gehängt hatte, damit es etwas heimischer aussah. Den Pocket-PC, den ich ans Terminal angeschlossen hatte. Und meine alte, dumme Kinderuhr in Form eines Roboters.

Aus unerfindlichen Gründen ging ich noch einige Minuten im Zimmer umher und schaute in Schränke und Regale. Ich bemerkte gar nicht, dass ich dabei schluchzte, nicht weinte, sondern schluchzte — ohne Tränen. Ich hatte mich doch schon in meinem Häuschen eingelebt…

Und was wird aus Lion?

Ich verschloss meinen Koffer, schlug die Tür zu und ging schnell zum Cottage, in dem Lions Familie wohnte. Es war still, sogar aus dem hell erleuchteten Restaurant kam kein Laut. Alle hatten sich schon zurückgezogen und schliefen seit langem. Ich musste mich aber doch von Lion verabschieden… und ihn warnen. Das heißt, nicht Lion selbst, sondern seine Eltern.

Auf mein Klingeln reagierte niemand. Anfangs klingelte ich höflich, kurz — um deutlich zu machen, dass es spät war und ich mir dessen bewusst war. Dann behielt ich den Finger auf dem Sensor und hörte, wie sich drinnen die Klingel überschlug.

Niemand öffnete. Waren sie etwa verreist?

Und Lion wollte mir nichts davon sagen?

Ich ließ den Koffer vor der Tür stehen und ging um das Cottage herum. Das waren die Fenster des Zimmers, in dem Lion mit seinen Geschwistern schlief. Eines war angelehnt.

Ich sprang hoch, hielt mich am Fensterbrett fest, zog mich nach oben und kroch leise ins Zimmer. Oh, wenn jetzt bloß nicht Lions kleiner Bruder wach wird und zu schreien beginnt…

Im Zimmer herrschte Halbdunkel — an der Wand leuchtete ein Nachtlicht in Form eines Dinosauriers. Was es nicht alles gibt, ich hätte bei einem solchen Nachtlicht vor Angst nicht einschlafen können.

Sowohl Lion als auch sein Bruder und sein Schwesterchen schliefen. Ich setzte mich zu Lion ans Bett, rüttelte ihn an der Schulter und sagte flüsternd:

»Ich bin es, Tikkirej. Wach auf!«

Er schlief ja wie ein Stein!

»Lion!«

Von meinem Rütteln pendelte sein Kopf auf dem Kopfkissen schon hin und her. Aus dem halb offenen Mund floss ein Speichelfaden. Lion wurde nicht wach.

In kopfloser Panik warf ich mich auf das Bett seines Bruders. Zog ihm die Decke weg, hob ihn hoch und schüttelte ihn. Jeder andere Junge wäre davon aufgewacht!

Aber Lions Bruder hing in meinen Armen wie eine Wattepuppe. Seine Schlafanzughosen waren nass und seine Stirn schweißbedeckt.

»Mister Edgar! Missis Anabell!«, rief ich, legte das Kind aufs Bett zurück und deckte es — warum auch immer — mit der Decke zu. »Kommen Sie her!«

Aber es passierte nichts. Stille.

Ich lief im Zimmer hin und her, machte das Licht an, schaute ins Wohnzimmer, machte auch dort das Licht an und stürmte dann,daichesnichtlängeraushielt,ins Erwachsenenschlafzimmer. Ich öffnete die Türflügel, obwohl mir klar war, dass ich mich ungezogen benahm.

Lions Eltern lagen auf einem breiten Doppelbett. Ihre Augen waren halb geöffnet, das Weiße war zu sehen.

Ihnen allen war irgendetwas zugestoßen!

»Ich komme gleich wieder, ich beeile mich…«, flüsterte ich im Gehen. »Ehrenwort, euch wird geholfen…«

Vielleicht hatten sie sich irgendwie vergiftet?

Mir war jedoch klar, dass diese einfachen Erklärungen nicht stimmten. Das ähnelte der Überzeugung Lions, dass ich mir den Banditen, den Agenten des Inej, nur eingebildet hatte… Könnte wahr sein, ist es aber nicht.

Ich schloss die Tür auf, sprang aus dem Cottage und rannte zu Kapitän Stasj. Rannte dorthin in der vollen Überzeugung, dass der falsche Ritter vom Avalon ebenfalls auf dem Boden liegen, Speichel aus seinem Mund laufen und er stumpfsinnig ins Nichts starren würde. Kapitän Stasj verbrannte seine Sachen. Aus seiner ausgestreckten Hand entsprang eine dampfende Schnur, tanzte im Zimmer umher wie eine Feuerschlange und hüllte die Computerblöcke, Taschen und Köfferchen ein. Die Flamme schaffte es nicht aufzulodern — alles zerfiel augenblicklich in Asche. Die Rauchmelder hatte er abgeschaltet, denn eine Sirene war nicht zu hören.

»Kapitän Stasj!«, rief ich. Der Ritter wandte sich um, das Feuer erstarb. Ich konnte gerade noch sehen, dass etwas Wendiges, von silbrigen Schuppen Bedecktes im Ärmel seiner Jacke verschwand. Aber das interessierte mich jetzt nicht.

»Dort, dort ist was passiert! Lion schläft und seine ganze Familie schläft und sie wachen nicht auf…«

»Ich weiß.« Stasj nahm die einzige Tasche, die er nicht verbrannt hatte, vom Boden. »Der Taxidienst reagiert nicht. Die Invasion des Inej hat begonnen, Tikkirej.«

»Stasj…«

»Gehen wir, Tikkirej. Wir werden versuchen, uns zum Kosmodrom durchzuschlagen.«

Ich schüttelte den Kopf. Der tote Spion des Inej hing unverändert an der Wand, aber er erschreckte mich nicht mehr.

»Kapitän Stasj, dort sind doch Lion und seine Eltern! Helfen Sie ihnen!«

»Tikkirej!«, erwiderte Stasj betont. »Ich werde dir heraushelfen, da du schon so tief in alles hereingeschlittert bist. Aber ich habe nicht vor, jemand anderen zu retten. Weder Kinder noch Frauen noch alte Leute. Auf diesem Planeten gibt es 700 Millionen Menschen, sie alle benötigen Hilfe. Allen muss geholfen werden, nicht nur deinem Freund.«

»Aber, Kapitän…«

»Keine Diskussionen! Kommst du mit?«

Ich trat zur Tür zurück. Ich hatte Angst, fürchterliche Angst. Und Kapitän Stasj, der Phag vom Avalon, war mein einziger Schutz auf dem wunderbaren Planeten Neu-Kuweit, der innerhalb eines Augenblicks in einen Alptraum gesunken war.

»Sie haben so überzeugend gesprochen, Kapitän Stasj«, flüsterte ich, »davon, dass wir alle logisch handeln würden… und das wäre schlecht. Ich habe Ihnen geglaubt. Wirklich.«

Kapitän Stasj schwieg.

»Verzeihen Sie«, sagte ich.

»Wo wohnt dein Freund?«, fragte Stasj.

»Es ist gleich hier, nicht weit weg!«, rief ich aus. »Kommen Sie, es dauert nur eine Minute!«

Im Wirklichkeit hatte man rund fünf Minuten zu gehen. Mir kam es aber vor, als ob wir eine Viertelstunde bräuchten. Stasj schritt weit aus, ich lief nebenher und hielt mit Müh und Not Schritt. Stasj hielt die ganze Zeit die rechte Hand etwas entfernt vom Körper, und ich war davon überzeugt, dass jederzeit ein Feuerball explodieren könnte.

»Und das ist trotzdem ein Schlangenschwert…«, meinte ich schnell atmend.

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass es kein Schwert ist«, wies mich Stasj zurecht, »eine Plasmapeitsche ist entschieden universeller.«

Die Cottagetür stand noch offen. Stasj schaute schnell ins Schlafzimmer von Lions Eltern, fühlte ihnen den Puls, führte die Handfläche über das Gesicht und schaute dann traurig. Ohne etwas zu sagen, ging er ins Kinderschlafzimmer.

»Ist das dein Freund?«

»Ja!«

»Wir haben noch niemanden in der Phase der Wiedergeburt beobachtet«, meinte Stasj. »Ich hätte den kleineren Jungen bevorzugt, er ist leichter zu tragen. Aber wenn du willst, nehmen wir deinen Freund. Und… und versuchen ihm zu helfen. Es gibt keine Erfolgsgarantien, das verstehst du hoffentlich.«

Ich verstand, dass es zwecklos war, wegen Lions Eltern nachzufragen. Und wegen seines stillen, schweigsamen Schwesterchens und seines unruhigen Brüderchens auch.

Trotzdem fragte ich:

»Und wenn wir noch…«

»Auf diesem Planeten«, wiederholte Stasj müde, »gibt es Millionen von Kindern, die dieses Leid getroffen hat. Man kann allem oder keinem helfen. Ich habe mich schon bereit erklärt, deinen Freund mitzunehmen, Tikkirej.«

»Ich werde ihn selber tragen«, sagte ich mutig.

»Wohl kaum«, meinte Stasj und ließ seine Tasche fallen, »kriegst du sie weg?«

Ich hob sie an. Sie war schwer, aber entschieden leichter als Lion. Das war offensichtlich.

»Ja. Natürlich.«

Mit wenigen Bewegungen wickelte Stasj Lion in eine Decke und warf ihn sich über die Schulter. Schweigend ging er hinaus.

»Verzeiht«, sagte ich zu dem kleinen Jungen und dem kleinen Mädchen, die in ihren Betten einen seltsamen, nicht menschlichen Schlaf schliefen, »verzeiht uns, bitte.«

Mein Köfferchen stand auf der Schwelle, ich schnappte es mir ebenfalls. Gebückt unter der Last folgte ich Stasj. Wir gingen an einigen Autos vorüber, ehe Stasj auf einen bescheidenen Jeep zuging. Er öffnete die Tür — das Schloss gab keinen Piepser von sich, machte sich eine Sekunde lang an der Kontrolleinheit zu schaffen und die Blockade erlosch. Lion legte er auf den Rücksitz und nickte mir zu: »Steig ein!«

Ich setzte mich neben Lion und legte seinen Kopf auf meine Knie, damit er nicht so wackelte. Er befand sich nach wie vor in einem tiefen Schlaf.

»Was ist mit ihm, Kapitän Stasj?«

Das Auto heulte auf und fuhr auf den Weg, der durch das gesamte Motel führte.

»Er ist im Stadium der Wiedergeburt, Tikkirej«, antwortete Stasj lustlos. »Nach unseren Informationen erfasst dieser fünfzehn Stunden dauernde Schlaf die gesamte… fast die gesamte Bevölkerung der von Inej angegriffenen Planeten. Danach schließen sie sich freiwillig Inej an.«

»Kann man ihm helfen?«

»Ich weiß es nicht.«

Das Auto erreichte die Straße, aber zu meiner Überraschung fuhr Stasj nicht zum Kosmodrom, sondern Richtung Stadt.

»Warum fahren wir dorthin?«, fragte ich erschrocken. Ich wollte nur weg, meinetwegen zurück zum Karijer, aber weit weg von Neu-Kuweit.

»Ich möchte einen Blick auf den Sultanspalast werfen. Gestern wurde auf meinen Rat hin die Schutzfeldkuppel eingeschalten. Vielleicht konnte sich die Regierung retten. Dann besteht eine Chance, die Flotte zu Hilfe zu rufen.«

»Sie kennen den Sultan persönlich?«, fragte ich verwundert.

»Ja.«

»Kapitän Stasj, heißt das, Sie hätten einfach darum bitten können, dass man mir die hiesige Staatsbürgerschaft gibt?«

»Ich beschäftige mich nicht mit der Klärung unwichtiger Probleme kleiner Jungs«, erwiderte Stasj müde. »Wenn du glaubst, dass ich während meiner Unterredung mit dem Sultan an deine Existenz gedacht hätte, dann machst du dir etwas vor.«

Ich schwieg, umarmte Lion und hielt ihn fest. Die Straße war hervorragend und Stasj ein guter Fahrer, aber er fuhr mit so hoher Geschwindigkeit, dass wir trotzdem von einer Ecke in die andere geschleudert wurden.

»Es gibt da ein Buch, ›Don Quichotte‹«, meinte Stasj plötzlich. »Dessen Held hielt es für nötig, alle Ungerechtigkeiten, die er auf seinem Weg antraf, zu beseitigen. So schlägt zum Beispiel ein böser Meister den kleinen Jungen, der bei ihm in Dienst stand. Also muss Don Quichotte diesen Herrn bestrafen und danach fährt er weiter. An das, was passieren wird, wenn der Meister wieder mit dem Kind allein ist, daran dachte der naive Ritter nicht. Ist die Analogie verständlich?«

»Ist der Sultan etwa so bösartig?«

»Nein, aber seine Geheimdienste sind argwöhnisch. Da sie mein Vorstoß überraschte und verwunderte, bedachten sie mich mit einer so großen Aufmerksamkeit, dass auch du irgendwann vor Verzweiflung die Wände hochgegangen wärst! Und zweitens, ich beschäftige mich nicht…«

»… mit der Klärung unwichtiger Probleme«, beendete ich. »Danke, Kapitän Stasj.«

Wir fuhren in die Stadt. Wohngebiete mit niedrigen, vielleicht zehn- bis zwölfgeschossigen Häusern zogen sich dahin. Scheinbar war hier alles beim Alten — die Straßenlaternen und Reklametafeln leuchteten, fast alle Fenster waren hell erleuchtet.

Laut rief ich: »Sehen Sie nur, Stasj, hier ist alles in Ordnung!«

Und wirklich, fast in jedem Fenster waren Menschen zu sehen. Sie waren festlich gekleidet, tanzten oder tafelten, unterhielten sich am Kaminfeuer. Sie schmückten Weihnachtsbäume oder bauten Raketenmodelle zum Tag der Raumfahrt…

Ich schüttelte den Kopf und verstand die Welt nicht mehr.

»Du bist auf einem äußerst zurückgebliebenen Planeten aufgewachsen, Tikkirej«, sagte Stasj sanft. »Das sind Projektionsfenster, sie kamen vor ungefähr zehn Jahren in Mode. Auf Neu-Kuweit ist fast jedes Haus damit bestückt. Verstehst du, du zeichnest auf dein Fenster irgendeinen schönen und bedeutenden Feiertag auf, eine Hochzeit, Silvester, Geburtstag, und dann überträgt dein Fenster abends diese Bilder. Jeder ist bestrebt, seiner Umgebung zu zeigen, wie gut er feiern kann, wie schön und gemütlich es bei ihm ist. Wem es an eigener Phantasie oder an eigenem Können mangelt, um eine behagliche Atmosphäre zu schaffen, der bestellt die Bilder bei einem Designer.«

»Aha«, meinte ich, »davon habe ich gelesen. Ich habe es schon kapiert. Auf den Straßen sind weder Menschen noch Autos. Überhaupt keine. Es können ja nicht alle schlafen, stimmt’s?«

Ein Fenster zeigte gerade eine Hochzeit. Eine junge Braut, vielleicht siebzehn Jahre alt, küsste einen ebenso jungen Bräutigam. Das ist eigenartig, denn in Wirklichkeit sind sie schon völlig erwachsene Leute, sie könnten Kinder haben, die älter sind als ich, aber ihre Hochzeit geht weiter. Es wird Hochzeit gefeiert… und sie liegen im Bett und sabbern.

»Gefällt dir diese Mode?«, wollte Stasj wissen.

»Nein«, flüsterte ich.

»Mir auch nicht. Ich mag nicht einmal das gewöhnliche Video, Tikkirej. Auch keine Fotos. Die Erinnerung ist das, was in dir ist.«

Das Auto bog auf eine breite Allee ein und nach weiteren fünf Minuten erreichten wir den Sultanspalast. Er war sehr schön und sehr groß, bestimmt hat nur der Imperator auf der Erde einen größeren Palast.

Stasj stöhnte leise. Lange und deftig fluchte er in einer unbekannten Sprache — ich verstand nicht ein einziges Wort, aber es gab keinen Zweifel daran, dass er fluchte.

»Über allen diesen Türmchen und Kuppeln, Tikkirej«, sprach Stasj, »sollte jetzt ein Kraftfeld blinken. Das ist auch schön, auf seine Art. Und ein absoluter Schutz. Ich habe die Aufklärung von Inej unterschätzt.«

Das Auto wendete auf der Mitte der leeren Allee und jagte zurück.

»Und wenn im Kosmodrom auch alle schlafen?«, fragte ich leise.

»Na, und?«

»Kann man etwa ohne Erlaubnis des Towers losfliegen?«

Stasj lachte unlustig auf. Dann sagte er:

»Die Bedeutung der Worte ›kann‹ und ›kann nicht‹ ändert sich in einer kritischen Situation in ihr Gegenteil.«

»Kapitän Stasj, aber warum ist mit uns nichts passiert?«, wagte ich eine Frage zu stellen, die mich bereits seit einer halben Stunde quälte.

»Das weiß ich nicht, Tikkirej. Ich habe einige besondere Fähigkeiten. Du aber bist ein ganz gewöhnlicher Junge. Dabei konnte sich der Agent des Inej für dich nicht unsichtbar machen und die Waffe, mit der sie die Planeten erobern, hat bei dir nicht gewirkt.«

Ich kam mir vor, als hätte man mich mit eiskaltem Wasser übergossen.

Ich drückte fest die schlaffe, leblose Hand Lions.

Und ich dachte… hatte eigentlich fast gedacht, dass Kapitän Stasj auch mein Freund wäre.

In Wirklichkeit erfüllt er lediglich eine Aufgabe. Er konnte die Agenten des Inej nicht aufhalten, bringt dafür aber zwei Jungs mit. Einen in der »Phase der Wiedergeburt«, beim anderen blieb die Geheimwaffe des Feindes wirkungslos.

»Wie geht es deinem Freund?«, erkundigte sich Stasj.

»Ganz gut«, erwiderte ich, »er schläft.«

»Ich werde jetzt die Geschwindigkeit erhöhen«, teilte mir Stasj mit, als ob wir noch nicht mit annähernd Tempo 200 dahinjagten, »also halt ihn gut fest, okay?«

Ich antwortete nicht einmal. Aber Lion umarmte ich fester. Die Häuser blitzten auf und entfernten sich, in den erhellten Fenstern wurde getanzt, es aßen und unterhielten sich dieselben Menschen, die bald hilflose Marionetten sein würden.

Sie würden sicherlich nicht einmal verstehen, was überhaupt passiert war.

Kapitel 6

Das Kosmodrom war genauso gespenstisch leer wie die Stadt. Hier stießen wir allerdings ständig auf schlafende Menschen: an der Taxihaltestelle, an den Ein- und Ausgängen und in den Securitywachstuben aus mattem, verdunkeltem Glas.

»Sie sind nicht sofort eingeschlafen«, stellte Stasj fest, nachdem er sich umgeschaut hatte. »Siehst du, nirgends sind gerammte oder beschädigte Autos zu sehen und niemand hat sich beim Hinfallen verletzt. Als ob alle schlafen wollten… und sich eiligst auf den ersten besten Platz gelegt hätten.«

Er hatte Recht. Mir fielen einige Leute auf, die auf dem Fußgängerweg lagen und ihre Diplomatenkoffer, Taschen oder Aktenkoffer unter den Kopf gelegt hatten. Ein betagter Mann hatte sogar seinen Mantel auf dem Rasen ausgebreitet und aus dem offenen Koffer seine Nachtmütze herausgeholt — ohne sie noch aufsetzen zu können. Über ihn hätte man lachen können, wenn das Ganze eine Fernsehkomödie gewesen wäre.

Ich eilte Stasj hinterher und sah mich aber um, um mir so viel wie möglich einprägen zu könnte. Warum genau, wusste ich selbst nicht. Deshalb erblickte ich gleichzeitig mit dem Ritter einen normalen Menschen.

Es war ein alter Mann im Rollstuhl. Er kam langsam aus einem der Flughafengebäude und schaute sich um. Als er uns erblickte, rief er sofort erstaunlich kräftig: »Warten Sie! Bleiben Sie stehen!«

Wir stoppten. Mir fiel auf, dass Stasj sehr ruhig blieb, als würde er keinen Hinterhalt erwarten.

Der Rollstuhl erhöhte seine Geschwindigkeit und näherte sich uns. Der Alte schaute Stasj sofort argwöhnisch an und fragte:

»Wohin verschleppen Sie dieses hilflose Kind?«

»Dreimal dürfen Sie raten, wohin man in dieser Situation jemanden verschleppen könnte«, erwiderte Stasj, »vielleicht in ein Heim für durchgedrehte Kinder? Auf den Sklavenmarkt? Oder vielleicht doch egal wohin, Hauptsache weit weg von hier?«

Der Alte nickte. Er war sehr alt, aber nicht hinfällig. Er trug einen teuren Anzug mit Manschettenknöpfen aus Edelsteinen, eine die Farbe ändernde Krawatte und Schuhe aus avalonischem Eidechsenleder, die in der Dunkelheit leuchteten. Und sein Rollstuhl kostete bestimmt mehr als jedes Auto. Nur sein Shunt war so alt wie er selbst: mit fünf Zentimetern Durchmesser und einigen Typenbausteinen, die schon lange nicht mehr eingesetzt wurden. Sogar auf Karijer hatte ich diese Shunts selten gesehen.

»Ich heiße Juri«, sagte der Alte, »Juri Semetzki junior, ganz zu Ihren Diensten.«

»Stasj«, antwortete der Phag, »und das ist Tikkirej, der schlafende Junge heißt Lion. Benötigen Sie Hilfe?«

Der Alte schüttelte den Kopf:

»Nein, vielen Dank. Wir sind im Kosmodrom ungefähr zweihundert Leute, die nicht eingeschlafen sind. Wir nehmen alle den Liner Astrachan, er hat das größte Fassungsvermögen. Da ich kaum in der Lage bin, schwere Sachen zu tragen, fahre ich auf dem Territorium des Kosmodroms herum und suche normale Menschen. Die anderen packen die Schlafenden ins Raumschiff. Soviel wir in der verbleibenden Zeit schaffen. In anderthalb bis zwei Stunden werden wir starten.«

»Oho!«, Stasj war wirklich erstaunt. »Das ist gut so. Viel Erfolg für Sie!«

»Wollen Sie sich uns nicht anschließen?«, wunderte sich der Alte.

»Nein, danke. Ich habe mein eigenes Schiff. Ein superkleines, sodass ich keine Mannschaft benötige. Die Jungs nehme ich auch mit.«

»Wäre es nicht vernünftiger, sich uns anzuschließen?«, fragte Juri. »Wir haben Piloten, Navigatoren…«

»Nein«, beendete Stasj das Gespräch, »Ich ziehe es vor, mich auf die eigene Kraft zu verlassen. Und Ihnen würde ich raten, so schnell wie möglich zu starten und mit dem gefährlichen Samaritertum aufzuhören.«

»Sie sollten das nicht unterbewerten!«, rief der Alte aus. »Wenn es im Maßstab des Planeten auch nur ›Peanuts‹ sind, wir tun, was wir können.«

»Sind Sie wenigstens bewaffnet?«, erkundigte sich Stasj.

Der Alte lachte auf.

»Seien Sie vorsichtig«, sagte er zu Stasj, »sehr, sehr vorsichtig…«

Mit dem letzten Wort änderte sich seine Stimme wieder unmerklich und das Lächeln verschwand vom Gesicht des Alten. Ziemlich durcheinander rückte der das Kabel des Neuroshunts zurecht und rief:

»Teufel, du bist doch ein avalonischer Phag! Was ist hier los? Eine Epidemie? Eine Aggression der Fremden?«

»Ich weiß es noch nicht. Komm, Tikkirej!«

Ich lief hinter Stasj her und wälzte eine Idee im Kopf hin und her, die mir eben gekommen war. Irrsinnig, aber…

»Teilen Sie dem Imperator so schnell wie möglich mit, was passiert ist!«, schrie uns der Alte nach. »Klar? Seit siebzig Jahren spende ich Geld für euren dämlichen Orden! Seid Ihr wenigstens zu etwas nutze?«

Wir gingen ins Gebäude hinein — die Automatiktüren arbeiteten wie gewohnt. Der Alte fuhr weiter.

»Ich habe ihn einige Male auf dem Avalon gesehen«, teilte Stasj unerwartet mit, »ein Tierproduzent, Schweinezüchter. Es hat ihn wirklich in einer unguten Stunde hierherverschlagen…«

»Werden sie es schaffen?«, wollte ich wissen.

»Ich weiß es nicht.«

Durch die mit schlafenden Menschen gefüllten Säle kamen wir zur Kontrolle des Abflugterminals. Hier schliefen die Wachmänner sowie die Mädchen, die als Dispatcher arbeiteten, und ein Kellner mit einem Tablett voller Kaffeetassen. Als das Personal die ungewöhnliche Müdigkeit verspürte, versuchte es sicherlich, sie mit Kaffee zu überwinden…

»Und hier haben wir auch seine Kameraden…«, murmelte Stasj. Und wirklich, in einiger Entfernung durchstreifte ein Dutzend älterer Leute die Schlafenden und hob einige, meist Kinder, auf Tragen.

»Ich weiß, was vor sich geht«, sagte ich, »Kapitän Stasj, ich weiß, wer eingeschlafen ist und wer nicht!«

Stasj holte Luft und entriegelte die Türen zum Warteraum für Passagiere. Dort schlief man auch.

»Willst du sagen, dass es an den alten Neuroshunts liegt? Ohne Funkadapter?«

»J-Ja.« Mein ganzer Enthusiasmus verflog.

Stasj wandte sich mir zu. Er ignorierte mein saures Gesicht und tätschelte mir den Kopf.

»Mach dir nichts draus. Du hast eine prinzipiell richtige Beobachtung gemacht, aber… Der Funkadapter ist ein Gerät, das durch mechanische Effekte beeinflusst wird. Durch Autos, Computer, Rollstühle. Er arbeitet auf Empfang, aber der Durchgangskanal ist dermaßen eng, dass es unmöglich ist, die Psyche der Menschen zu beeinflussen.«

»Wirklich zu eng?«, fragte ich dümmlich.

Stasj zuckte mit den Schultern.

»Unseres Wissens — ganz und gar zu eng. Es wären einige Monate ununterbrochener — ich betone: ununterbrochener — Datenübertragung über den Shunt erforderlich, um einigermaßen spürbar auf die Psyche einzuwirken! Und ein derartiger Informationsfluss, der auf einen Planeten gerichtet ist, wird unausweichlich bemerkt. Als ein Neuroshunt mit kabellosem Anschluss entwickelt wurde, hatte die Sicherheitsfrage höchste Priorität. Genau aus diesem Grund ist der Eingangskanal verschwindend eng. Aber jetzt komm, Tikkirej.«

»Und es hat trotz allem mit dem Shunt zu tun…«, brummelte ich, »denn alle haben doch…«

»Ich habe selbst einen Shunt mit Funkadapter«, teilte mir Stasj mit, »beginnend mit der dritten Chipversion sind alle Kreativ mit einem Funkadapter ausgerüstet. Und nun?«

Jetzt hatte ich endgültig die Lust auf eine Diskussion verloren.

Die Außentüren der Wartehalle ließen sich von Stasj nicht beim ersten Anlauf öffnen. Deshalb schnitt er mit seinem Schlangenschwert einfach ein Stück Glas heraus. Währenddessen stand ich etwas abseits und schaute auf einen Jungen, der ein wenig älter war als ich und im Schlaf einen teuren Synthesizer umarmte. Warum er ihn wohl aus der Schutzhülle herausgenommen hatte? Das Äußere des Jungen entsprach genau dem von jungen Genies, deren Konzerte im gesamten Imperium übertragen wurden und die Hausfrauen in Begeisterung versetzten. Er hatte bestimmt einige Millionen Kredit auf dem Konto, einen persönlichen Leibwächter, ein teures Haus, und Ohren, Finger sowie Shunt waren für eine unglaubliche Summe versichert. Nur dass er besabbert und mit eingenässten weißen Hosen hier lag und ich lebendig und gesund war. Aus welchen Gründen auch immer.

»Tikkirej!«

Ich rannte Stasj hinterher. Lion schaukelte willenlos auf dessen Schulter. Vielleicht kommt er wieder zu sich, wenn wir den Planeten verlassen haben?, überlegte ich.

Am Ausgang stand ein kleiner Bus. Stasj zog den Fahrer heraus, legte Lion auf einen Sitz, ich setzte mich daneben und wir fuhren über das leer gefegte Flugfeld.

»Wir haben nicht genügend empirische Angaben«, meinte Stasj unerwartet, »verstehst du das, Kleiner? Noch nie entkamen von einem eroberten Planeten mehr als fünf bis sechs Menschen. Und die waren völlig verschieden. Keine Gemeinsamkeit. Stimmt, die Mehrheit hatte keinen Funkadapter. Es gab aber welche mit den allerneuesten Shunts, die nicht beeinflusst werden können.«

»Wussten Sie, dass alles genau so vor sich gehen würde?«, erkundigte ich mich und schaute dabei auf die lichtblitzenden Gebäude.

»Ich bin davon ausgegangen. Aber nun sag mir, mein junger und neugieriger Freund, der ohne Scheuklappen in die Welt schaut: Was verbindet ein junges Computergenie mit dem modernsten Shunt und einen altersschwachen Greis, der überhaupt keinen Shunt hat? Und einen Quäkerprediger, einen erfolgreichen Geschäftsmann, einen reichen jungen Dandy und eine kinderreiche Mutter. Alle besaßen gewöhnliche Shunts der Mittelklasse.«

Ich schwieg und fand keine Erwiderung. Lion atmete regelmäßig. Die Decke, in die er eingewickelt war, rutschte herunter. Da bemerkte ich, dass auch er eingenässt hatte.

»Kapitän Stasj, hören Sie, Lion… also, er…«

»Ich weiß. Ich konnte es spüren, als ich ihn trug«, äußerte Stasj ironisch.

»Nein, das meine ich nicht! Das ist doch wie bei der Arbeit in Dauerbetrieb! Verstehen Sie? Als ich das erste Mal angeschlossen wurde, als Test, ging es mir genauso. Und wenn man in der Flasche liegt, wo man sich nicht unter Kontrolle hat, ist sogar alles speziell dafür hergerichtet, damit…«

Stasj warf mir schnell einen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder aufs Fahren. Dann meinte er: »Könnte sein. Aber wo hast du hier einen Onlineanschluss, Tikkirej?«

»Keine Ahnung. Aber das ist Arbeit in Dauerbetrieb!«, bekräftigte ich. »Ich habe das mitgemacht, ich bin mir sicher!«

»Weißt du, mir gefällt deine Hartnäckigkeit«, sagte Stasj gedankenverloren, »aber was kann man auch von einem Jungen, der vor der Zwangsarbeit flüchtete und die herzlosen Kommerzkosmonauten erweichte, anderes erwarten?«

Das Kompliment war zweischneidig, aber ich fühlte mich geehrt.

»Wir sind da«, sagte Stasj und stoppte den Bus vor einem ganz kleinen Raumschiff mit einem Durchmesser von vielleicht zehn Metern.

»Ich dachte, Sie hätten ein großes Raumschiff«, konnte ich mich nicht zurückhalten.

»Die superkleinen Raumschiffe ermöglichen die Navigation durch einen Einzelnen«, erklärte Stasj, »ohne Module, verstehst du?«

Ich zuckte zusammen. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass — wenn Stasj sein eigenes Raumschiff hatte — dort auch »Gehirne in der Flasche« sein müssten!

»Ich habe keine Module«, meinte Stasj rücksichtsvoll, »entspann dich. Im Notfall können einige Menschen in Dauerbetrieb gehen, aber normalerweise ist das nicht notwendig. Je kleiner das Schiff ist, desto einfacher ist der mathematische Navigationsapparat im Zeittunnel.«

Am Raumschiff öffnete sich eine Luke. Wir betraten die winzige Schleusenkammer, Stasj schloss sofort die Luke, bewegte seinen Kopf — und an den Wänden lebten die verschiedensten Geräte auf. Er hatte wirklich einen Funkadapter.

»Ich verspreche keinen Komfort, aber dafür verschwinden wir«, sagte Stasj. »Aber was machen wir mit deinem Freund…?«

»Verfügen Sie über Geräte zur Kontrolle seines Gehirns?«, fragte ich.

»Zur Feststellung einer Arbeit im Dauerbetrieb?«, konkretisierte Stasj.

Ich nickte.

»Tikkirej, unsere Zeit ist wahrscheinlich äußerst begrenzt…«, begann Stasj. Dann winkte er ab und trug Lion zu einer der Türen.

Dort befand sich der Navigationsraum — ebenfalls klein, mit drei Sitzen vor dem Pult. Hinter den Sesseln sah man eine kleine Nische, die nicht einmal mit einer Wand abgeteilt war. Und in ihr befanden sich zwei halbdurchsichtige Zylinder aus dunklem Glas mit den bekannten Betten.

Ich begann sofort zu zittern.

»Entschuldige,aberdasistdieeinfachste Diagnosemöglichkeit«, stieß Stasj heraus. Er öffnete einen Zylinder, legte Lion hinein, holte ein Kabel und schloss es an Lions Neuroshunt an.

Ich wartete schweigend, schaute auf den Freund und biss die Zähne zusammen. Er hatte mich noch darum beneidet, dass ich auf Dauerbetrieb war, dieser Dummkopf!

»Komm her, Tikkirej«, rief mich Stasj, »schau dir das an…«

Am Kopfende des Bettes leuchtete ein kleiner Bildschirm. Ich verstand keines der Symbole und Stasj erläuterte:

»Sein Gehirn arbeitet. Ich würde nicht riskieren, das als Dauerbetrieb zu bezeichnen, da er ja isoliert arbeitet, aber die Struktur ist der von Onlineoperationen sehr ähnlich.«

»Und was verarbeitet er?«

Stasj zuckte mit den Schultern.

»Wenn man das wüsste… Wir werden jetzt die Belastung messen.«

Seine Finger glitten über die Sensoren.

»Er ist intensiv tätig«, meinte Stasj einigermaßen erstaunt, »oho, wie die Glukose abgefallen ist… dein Freund ist jetzt sehr beschäftigt. Verstehst du, Tikkirej, das menschliche Gehirn arbeitet gern. Denkt gern. Bei der Arbeit im Dauerbetrieb öffnet es alle seine Ressourcen für die Datenverarbeitung. Der Nachteil besteht darin, dass es dabei keinerlei Entscheidungen trifft, und die Gebiete, die für den Prozess der Zielbestimmung verantwortlich sind, erweisen sich als überflüssig. Und beginnen abzusterben als etwas Unnötiges, wandeln sich um… Teufel!«

Er verstummte und schaute auf die Indikatoren.

»Was ist passiert?«, fragte ich kläglich.

»Tikkirej, das ist nicht nur Dauerbetrieb, das ist ein Wasserfall…«

»Geht es ihm schlecht?«

»Er hat großes Pech.«

Stasj nahm meine Hand: »Er arbeitet um drei Ordnungen intensiver als unter Dauerbetrieb. Nun ja, er muss ja auch keine Informationen mit der Außenwelt austauschen. Tikkirej, in einigen Stunden wird dein Freund hilflos sein wie ein Mensch nach zwei bis drei Jahren unter Dauerbetrieb.«

»Kapitän Stasj…«

»Seit vierzig Jahren bin ich Stasj. Tikkirej, ich weiß nicht, was wir machen sollen.«

»Kann man ihn bremsen? Beruhigen?«

»Er schläft ja schon, Tikkirej. Um die Arbeit des Gehirns zu unterbrechen, müsste man ihn töten.«

»Anabiose!«, rief ich, »haben Sie eine Kammer?«

»Ja. Aber auf die Anabiose muss man sich fast einen Tag lang vorbereiten. Man kann ihn nicht einfrieren.«

Hier merkte ich selbst, dass ich einen blödsinnigen Vorschlag gemacht hatte. Damit ein Mensch die Anabiose überlebt, damit er nicht mit »Eiszapfen an den Wimpern« herumliegt, muss das gesamte Wasser im Organismus gebunden werden, indem man es mit speziellen Zusätzen versieht. Auf die Anabiose bereitete man sich mindestens zehn Stunden lang vor.

»Also dann wird er schwachsinnig?«, fragte ich.

»Er wird so, wie ihn Inej braucht.« Stasj richtete sich auf und breitete die Arme aus: »Das ist etwas anderes. Die Veränderung des Bewusstseins ist dem Dauerbetrieb ähnlich, aber doch anders.«

Ich streichelte Lions Hand, sah Stasj an und bat: »Schließen Sie ihn auf Dauerbetrieb an und überhäufen Sie ihn mit Rechenoperationen. Irgendwelchen.«

»Wie bitte?«, Stasj verdüsterte sich.

»Vielleicht wird die eine Aufgabe die andere verdrängen?«

Stasj wich zurück und schaute mit leichtem Zweifel auf Lion.

»Und wenn ihn das umbringt? Bist du bereit, für deinen Freund zu entscheiden?«

»Ich bin bereit«, bestätigte ich, und das waren die schwerwiegendsten Worte, die ich jemals ausgesprochen hatte.

»Tikkirej, ich habe bisher noch niemals mit Modulen gearbeitet…« Stasj hob die Hände. »Kannst du ihn festschnallen?«

»Sicher. Ich habe selbst so dagelegen.«

Nach einigen Minuten war Lion von einer durchsichtigen Haube bedeckt. Stasj setzte sich ans Steuerpult und schloss lässig sein eigenes Kabel an. Das Schiff schien zu erbeben — mit einem Mal begannen alle bis dahin ruhenden Geräte zu funktionieren. Stasj’ Augen schienen wie von einem Tuch verhüllt zu sein — jetzt war er das Schiff, fühlte jeden Geräteblock, jedes Kabel und jeden Prozessor.

»Setz dich, schnall dich an, schließ das Kabel an«, sprach Stasj langsam und gepresst, »wir bereiten uns auf den Start vor, Tikkirej.«

Ich warf mich in den Sitz, der sich langsam an meinen Körper anpasste, und befestigte die Sicherheitsgurte, die sich sofort ausdehnten und mich umschlangen. Ich wusste lediglich aus Filmen, wie man sich in einem echten Pilotensessel zu benehmen hatte. Bis jetzt ging alles gut.

»Geh online…«, sagte Stasj schwerfällig, »ich gebe dir das Außenpanorama, versuche, dich darauf einzustellen.«

Nachdem ich die Haare zurückgestrichen hatte, loggte ich mich in das Bildverarbeitungssystem ein. Und atmete hörbar ein, denn vor mir breitete sich eine vollkommen neue Welt aus.

Der Navigationsraum des Raumschiffes verschwamm und löste sich auf. Mir war so, als ob ich aus einer Höhe von zehn Metern gleichzeitig in alle Richtungen schaute. Ich sah sowohl die Stadt in der Ferne als auch die Menschen, die langsam die Tragen zu einem riesigen Passagierliner schoben, und weitere Raumschiffe — leblos, wie tot.

Außerdem gab es nebenan etwas Körperliches. Jemand Großes, Freundliches und sehr Beschäftigtes — wie eine Flamme blauen Feuers, die am Rand des Gesichtsfelds loderte.

An der Peripherie, obwohl ich jetzt in alle Richtungen schauen konnte.

»Kapitän Stasj?«, flüsterte ich. Und merkte, dass ich gar nicht laut redete.

»Ja, Tikkirej.« Die Flamme wurde etwas auffälliger. »Ich muss mich konzentrieren, schau dich einfach um, okay?«

Ich sah mich um. Ich genoss das Geschehen. Es ähnelte ganz und gar nicht dem Anschluss an den Schulcomputer mit seinem bescheidenen Dutzend veralteter Videokameras. Dort glich die Welt einer Flickendecke, hier wurde sie zu einem Ganzen.

»Schön…«, hauchte ich. Und erschrak: »Stasj, und Lion?«

»Gleich werde ich ihn einbeziehen.«

Beruhigt schaute ich mich weiter um. Sah nach oben — und erblickte ganz weit weg im Himmel den Schlund des Zeitkanals. Er sah aus wie ein Klumpen absoluter Leere inmitten eines Vakuums.

Schön…

»Wenn es das Passagierschiff auch schaffen würde, den Planeten zu verlassen, wäre das ein großer Erfolg«, machte sich Stasj bemerkbar. »Eine neue Statistik.«

»Dann werden Sie mich nicht mehr brauchen«, erwiderte ich.

Stasj antwortete nicht sofort: »Das denkst also…«

»Es stimmt doch?«, fragte ich. »Lion und mich brauchen Sie doch für Untersuchungen?«

»Warum hätte ich dann wohl deinen Freund auf Dauerbetrieb geschalten?«

»Auch als… Experiment.«

Nur hier, im virtuellen Raum des Schiffes, konnte ich Stasj diese Worte sagen. Von Angesicht zu Angesicht hätte ich es nicht riskiert.

Nicht, weil ich Angst hatte, aber es wäre mir nicht möglich gewesen.

»Tikkirej«, sagte Stasj nach einer Weile, »von deinem Standpunkt aus erscheint das alles sicherlich logisch und überzeugend. Aber es stimmt nicht. Wir meinen, dass man in unbestimmten Situationen so handeln sollte, wie es ethisch am besten ist. Es hat sich so ergeben, dass das auch am wahrhaftigsten für unsere Situation ist. Niemand hat vor, dich zu untersuchen und deinen Freund auch nicht. Du willst nicht — das ist dein Recht. Ich werde euch zum Avalon bringen und mit der Staatsbürgerschaft helfen. Das ist alles.«

Und er verschwand aus meinem Gesichtsfeld. Blockierte sich.

Sogar kosmische Ritter können beleidigt sein.

Mit Müh und Not spürte ich den eigenen Körper. Ertastete mit der Hand den Shunt und zog das Kabel heraus — der Kopf machte sich durch Schmerzen bemerkbar. Ich warf einen Blick auf Stasj — er schaute in die Leere, sein Gesicht zuckte. Jetzt muss er das Raumschiff auf den Start vorbereiten. Allein. Wenn er auch — das erste Mal im Leben — ein Modul benutzt. Und dabei muss er sich noch die Vorwürfe eines ängstlichen Jungen anhören.

Gab es denn so etwas überhaupt, dass Stasj dazu bereit ist, mir einfach so zu helfen? Und zwar nicht nur so zu helfen, wie alle anständigen Bürger des Imperiums einander helfen sollten, sondern viel mehr. Unvernünftig, unlogisch und unnütz für die ganze Welt!

Wenn dem so ist, dann ist unsere ganze Welt falsch. Alles in ihr ist falsch. Und meine Eltern hätten überhaupt nicht sterben müssen. Und die biestige Beamtin vom Sozialdienst wollte mir wirklich nur Gutes.

Das bedeutete, dass auch ich anders leben müsste. Leben in einer Welt, in der die wichtigsten Momente durchaus nicht Gesetz und Ordnung sind. Wo man über jede Handlung erst nachdenken muss.

»Kapitän Stasj«, entschuldigte ich mich, »verzeihen Sie mir. Ich bin bestimmt ein großer Dummkopf. Aber ich bessere mich.«

Stasj drehte mir den Kopf zu und erwiderte: »Überprüf die Gurte, Tikki. Wir starten.«

Ich fing schleunigst an, die Gurte zu überprüfen, obwohl ich wusste, dass sie in Ordnung waren. Ich bin sehr lange nicht mehr Tikki genannt worden. Seitdem sich hinter meinen Eltern die Tür geschlossen hatte. Das erste Mal flog ich bei Bewusstsein mit einem Raumschiff. Es war interessant, aber ich hatte trotzdem mehr erwartet. Vielleicht machte ich mir auch zu viel Sorgen wegen Lion, wegen des Planeten, der nun doch nicht zu meiner neuen Heimat geworden war, wegen der totalen Unklarheit, die mich erwartete?

Stasj manövrierte das Schiff zum Zeitkanal und hielt an. In den Kanal musste man in einem bestimmten Winkel und mit einer bestimmten Geschwindigkeit eintauchen, sonst konnte man irgendwo ankommen, wo man eigentlich gar nicht hinwollte.

»Berechnen wir den Kurs?«, wollte ich wissen.

Stasj schüttelte den Kopf. Er hatte offensichtlich das Navigationsregime verlassen und bewegte sich jetzt lebhafter.

»Wir warten auf die Astrachan, Tikkirej. Vielleicht gelingt es ihnen, sich vom Planeten loszureißen…«

»Sind sie denn noch nicht gestartet?«

»Nein.«

Wir warteten lange. Zwei Stunden. Kein einziges Schiff tauchte in den Kanal ein und kein einziges verließ ihn.

Der Liner startete nicht. Der mutige Invalide im Rollstuhl und alle anderen — sie blieben unten.

Stasj wurde immer trauriger. Dann krümmte er sich wie vor Schmerzen und schaltete einen der Videoscreens ein.

Der Informationskanal von Neu-Kuweit übertrug eine Nachrichtensondersendung. Der Sultan kündigte eine Volksabstimmung zur Frage über die Vereinigung des Planeten mit der Föderation des Inej an.

Er sah völlig normal aus. Ich hätte niemals angenommen, dass sich dieser Mensch unter irgendeinem Einfluss befand. Und er brachte sehr kluge Sachen zur Sprache — dass die Föderation aus sechs Planeten (»und das ist noch nicht das Maximum«) Neu-Kuweit erlauben würde, den ihm genehmen Platz im Imperium einzunehmen. Dass zwischen Inej und Neu- Kuweit langjährige freundschaftliche Beziehungen, kulturelle und Handelsbeziehungen bestünden. Wie lange das Volk des Planeten auf diese Entscheidung gewartet hätte.

»Denen haben sie erfolgreich eine Gehirnwäsche verabreicht«, äußerte Stasj. »Das ist also der Grund, warum die Astrachan nicht gestartet ist. Und…«

Er sprach nicht weiter.

»Ist es kompliziert, auf einen Menschen ein solches Programm zu laden, das ihn anders denken lässt?«, erkundigte ich mich.

»Kompliziert, Tikkirej. Darin liegt ja auch der Hund begraben. Das müsste ein unglaublich umfangreiches Programm sein, um den Menschen nicht einfach umzubringen oder willenlos zu machen, sondern seine Psyche vollständig umzugestalten. Sogar mit einem guten Shunt würde die Datenübertragung einige Tage in Anspruch nehmen. Über den Funkadapter ist eine Übertragung gänzlich ausgeschlossen.«

Ich dachte nach. Ich dachte äußerst angestrengt nach. Tagelang… und die gesamte Bevölkerung… Hier würden auch die schlauesten und hinterlistigsten Agenten vom Planeten Inej nichts ausrichten können. Man kann doch keinen Menschen zwangsweise an ein Kabel anschließen!

Es war vorgekommen, dass ich stundenlang mit dem Kabel herumsaß, als ich es überhaupt nicht wollte, aber das war vor den Examen. Und ich selbst hatte mich, wenn auch unwillig, an den Schulcomputer angeschlossen.

»Stasj, was ist der Inej für ein Planet?«, wollte ich wissen. Es war beschämend, zuzugeben, dass ich von unserem Feind fast nichts wusste.

»Ein ganz gewöhnlicher Planet.«

Stasj zuckte mit den Schultern. »Ein mittlerer, schwächer als Avalon oder Edem, ungefähr wie Neu-Kuweit. Das Klima ist allerdings schlechter. Aber immer noch im Rahmen der Norm. Inej produziert, Raumschiffe, schürft nach irgendetwas. Sie haben übrigens auch eine entwickelte Vergnügungsindustrie, stellen virtuelle Fernsehserien her, Seifenopern… die müsstest du doch gesehen haben, zum Beispiel ›Auf den Wegen der Gespenster‹.«

»Habe ich nicht gesehen«, bekannte ich, »bei uns wurden wenige Vergnügungsprogramme gekauft. Ist das eine interessante Serie?«

»Ich habe sie doch auch nicht gesehen«, beruhigte mich Stasj, »ich habe eine Arbeit, Tikkirej, nach der mir nicht nach Soaps zumute ist…«

Er verstummte. Richtete seinen Blick auf mich und ich sah zum ersten Mal einen fassungslosen Phagen. Dann sagte ich schnell, um Erster zu sein:

»Die Serien. Sie laufen doch über den Shunt! Du schließt dich an und sitzt da Stunde für Stunde, jeden Tag. Da werden eine Menge Daten übertragen.«

»Tikki…«, Stasj schlug mit der Faust auf seine Oberschenkel, »wir haben es herausbekommen! Der Radioshunt ist nur die Startrampe.DasSignalfürdenBeginnder Programmanwendung. Sie schmuggeln das Programm frühzeitig Monate oder Jahre vor der Eroberung des Planeten ein. Dann gibt es einen einzigen starken Impuls — und das Programm startet.«

Ich wendete mich um, schaute auf Lion und fragte: »Wird man ihm jetzt helfen können?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber wieso sind wir nicht früher…« Stasj lachte auf einmal bitter auf. »Die Menschheit hat sich seit Jahrhunderten einer Gehirnwäsche unterzogen: als es noch keine Shunts gab, mit Hilfe des gewöhnlichen Fernsehens, über Radio oder durch gedruckte Bücher. Seit Jahrtausenden wurde versucht, die Menschen zu zwingen, etwas zu tun, was sie überhaupt nicht brauchten! Und Inej hat lediglich den nächsten Schritt gemacht.«

Jetzt müsste ich eigentlich der glücklichste Mensch auf der Welt sein.

Wenn ich nicht an Lion, den narkotisierten Planeten und daran gedacht hätte, dass das alles sicherlich erst der Anfang war.

»Dank dir, Tikki«, sagte Stasj. »Vielleicht hast du uns einen Tag, vielleicht eine Woche gespart. Vielleicht auch nur einige Stunden. Aber damit hast du einen Planeten gerettet. Werde jetzt nur nicht überheblich!«

»Warum?«, erwiderte ich frech. »Ich… wir gemeinsam haben ja wirklich herausgefunden…«

»Tikki, niemals wird jemand davon erfahren. So wie niemand je die Gründe für die Verständigung mit der Rasse der Tzygu erfahren hat. Oder auf welche Art und Weise der katholische Djihad auf der Erde beendet wurde.«

»Das haben Sie gemacht?« Ich verlor die Fassung. Stasj sprach über Ereignisse, die jedem schon in der ersten Klasse bekannt waren. »Und wie war das mit Admiral Charitonow, der die Mutter der Tzygu aus dem Raumschiff der Halflinge rettete und deren symbolischer Ehemann wurde? Und der Imam Johann, der sich auf dem Platz verbrannte, als die Aufständischen… Kapitän Stasj!«

»Tikkirej, in deinem Körper sind Millionen winziger Phagozytenzellen. Weißt du etwa, welche davon dich vor einer Geschwulst oder einer Infektion gerettet hat?«

»Ihr seid doch aber keine Millionen!«

»Natürlich weniger. Wir sind weniger als Tausend, und das ist übrigens fast ein Geheimnis. Aber wir sind Phagen, die auf der Suche nach Gefahren still durch den Weltraum streifen. Das ist zugleich Stolz und Unzulänglichkeit: ein unbemerkter Held zu sein und als Anlass für Witze und Heiterkeit zu dienen. Vielleicht wird uns das irgendwann vernichten. Aber unsere Feinde lachen nicht über uns, Tikki. Niemals. Und jetzt — frag.«

Ich richtete meine Augen auf ihn und zögerte. Es ist wirklich dumm, eine Frage zu stellen, wenn sie schon bekannt ist.

»Kapitän Stasj, kann ich ein Phag werden?«

»So gut wie sicher — nein. Es tut mir sehr leid, Tikkirej, aber die Vorbereitung eines Phagen beginnt noch vor seiner Zeugung. Du wirst dich nie mit dieser Geschwindigkeit bewegen können, die im Kampf notwendig ist. Deine Sinnesorgane sind zu schwach. Du bist schon zu alt. Du bist schon geboren.«

Unwillkürlich begann ich zu lachen. Aber Stasj meinte es ernst.

»Es reicht nicht aus, ein ehrlicher, kluger und gesunder Mensch zu sein. Du hast einen starken Willen, bist hartnäckig und verfügst über Intuition, aber es werden zusätzlich die primitivsten physischen Potenziale benötigt: die Fähigkeit, gegen zwei bis drei Dutzend bewaffneter Gegner zu kämpfen, Belastungen auszuhalten, die ein gewöhnlicher Mensch nicht ertragen kann. Etwas in dieser Richtung…«

Er nahm eine Münze im Wert eines halben Kredit aus der Hosentasche. Mit zwei Fingern drehte er sie zu einer Tüte. Dann presste er sie zu einer dünnen Metallscheibe zusammen.

»Fühl mal!«

Ich fing die Münze auf. Das Metall war glühend heiß.

»Bei unserer Tätigkeit gibt es entschieden weniger von diesen Situationen, als allgemein angenommen wird«, sagte Stasj bedächtig, »aber manchmal treten sie auf. Dich kann man trainieren und ausbilden und du wirst viel stärker und pfiffiger als ein gewöhnlicher Mensch oder sogar ein Elitesoldat des Imperiums. Ungefähr so, wie der Agent des Inej, der im Motel zurückgeblieben ist. Aber ein Phag muss einer sein, der niemals dort zurückbleiben würde.«

»Hm«, äußerte ich. »Ich habe es verstanden. Entschuldigen Sie.«

Stasj nickte.

»Ein Phag kannst du nicht werden. Aber du kannst uns helfen. Damit ein einziger Ritter des Avalon zwischen den Planeten umherstreunen, Geld verschleudern und ungestört zu den Herrschenden gehen kann, werden Hunderte Menschen benötigt, die jeden Einsatz vorbereiten. Und ich werde sehr froh sein, wenn du dir irgendwo auf dem stillen und friedlichen Avalon den Kopf über Ungereimtheiten zerbrechen wirst, die in geheimen Dossiers des Imperiums und provinziellen Nachrichten vergessener Planeten auftauchen. Wenn du Anfragen erarbeiten und Analysen erstellen wirst. Und dann gibst du mir einen Befehl und der unbesiegbare Superheld wird sich an die Arbeit machen. In neun von zehn Fällen völlig umsonst.«

Ich lächelte. Ja, es tat mir sehr weh. Aber es tat auch gut.

Stasj wurde ernst.

»Aber jetzt müssen wir losfliegen, Tikkirej. Wir müssen weitergeben, was wir herausgefunden haben. Du wirst einen Flug im Zeittunnel kennen lernen. Das erste Mal ist es durchaus interessant.«

»Warten Sie, Kapitän Stasj«, erwiderte ich eilig und begann, meine Sicherheitsgurte zu lösen, »noch zwei Minuten, ist das möglich?«

Er lächelte und nickte.

»Nein, Sie haben mich missverstanden«, sagte ich, »Ich — ich gehe in Dauerbetrieb.«

Ich glaube, damit war es mir gelungen, ihn wirklich zu überraschen!

»Wieso, Tikkirej?«

»Dort ist doch mein Freund. Er ist allein. Vielleicht, wenn ich neben ihm im Dauerbetrieb liege… Ich weiß ja, dass dort nichts ist, aber eventuell spürt er es. Vielleicht wird ihm das helfen.«

Beim Reden war ich bereits aufgestanden und zog mich neben dem zweiten Platz für ein Modul aus.

»Du verdirbst dir doch dein eigenes Gehirn«, gab Stasj zu bedenken. Er hatte sich nicht einmal umgedreht, sondern blieb angespannt und ratlos sitzen.

»Na, durch einen Zeitsprung verderbe ich es noch nicht, stimmt’s? Sie haben ja selbst gesagt, dass man nicht immer vernünftig handeln sollte…«

Ich legte mich auf das dämliche Bett für Schwerkranke und begann, die Gurte festzuziehen.

»Es tut mir sehr leid, dass du schon geboren bist…«, sagte Stasj leise, »du hättest ein echter Ritter des Avalon werden können. Viel Erfolg, Tikkirej. Ich versuche, so schnell wie möglich zum Avalon zu kommen. Und das nicht nur wegen Inej und Neu-Kuweit.«

Ich nickte, obwohl er mich nicht sehen konnte. Aber er konnte es ja fühlen. Ich holte das Kabel und steckte es in den Shunt. Schaute auf Lion; durch das dunkle Glas schien sein Gesicht lediglich traurig zu sein.

Es erwies sich als gar nicht so schwer, vor jeder Tat nachzudenken. Ziemlich ungewöhnlich, ziemlich eigenartig. Aber nicht schwer.

»Viel Erfolg, Stasj«, verabschiedete ich mich und schloss die Augen.

Загрузка...