Dritter Teil Leben — zweiter Versuch

Kapitel 1

Eine Stunde vor dem Eintritt in die Atmosphäre von Neu- Kuweit gingen wir zur Stealthkapsel. Der kalte, blitzende Eisbrocken nahm fast den ganzen Platz im Schleusenabteil ein.

Tien öffnete die Luke, die ebenfalls aus Eis war und sich von außen oder innen zuschrauben ließ. Er gab uns einen einfachen Stoffsack mit chemischen Reagenzien zum Frischhalten der Luft. Die Reagenzien waren für drei Stunden ausgelegt, das war mehr als ausreichend.

Eine Decke gab er uns natürlich nicht. Eine Decke wäre schon ein Hinweiszeichen auf unsere Herkunft. Stattdessen legten wir uns auf geflochtene Grasmatten. Anstelle von Riemen hatten wir Grasseile.

Das Gras kam von Neu-Kuweit. Genauso wie unsere Kleidung, das Taschenmesser und die Angelrute mit dem Ultraschallblinker. Die Phagen bereiten alles sehr gründlich und gewissenhaft vor.

»Na, ist es gemütlich?«, fragte Tien.

In der Kapsel war lediglich Platz zum Liegen. Ohne Zeit zu verlieren, befestigte Lion gleich seine Füße, indem er die Grasseile in die ins Eis eingelassenen »Ösen«, ebenfalls aus Eis, einband.

»Man kann es aushalten«, meinte ich, obwohl mein Herz rasend schnell schlug. »Mach schon, es ist alles in Ordnung.«

Tien war in Ordnung. Während des Fluges hatten wir mit ihm so etwas wie Freundschaft geschlossen. Er erlaubte uns sogar, das Raumschiff im Zeittunnel zu fliegen, natürlich stand er uns die ganze Zeit zur Seite. Außerdem brachte er uns bei, wie man kämpft. Einige Techniken der Phagen verlangen nämlich nicht die Kraft eines Erwachsenen. Über Inej sprachen wir auch, aber darüber konnte Tien nur wenig berichten.

»Ich werde auf euch aufpassen, Jungs!« Tien deutete auf das Auge der Videokamera in der Decke der Schleusenabteilung. »Wir werden nicht miteinander sprechen können, aber wenn ihr es euch anders überlegt habt und euch nicht aussetzen lassen wollt — erregt meine Aufmerksamkeit! Winkt mit den Händen, klopft an die Wände. Macht aber auf keinen Fall von innen die Luke auf, man weiß nie!«

»Wir überlegen es uns schon nicht anders, Tien«, nuschelte Lion. »Geh schon, du musst zum Steuerpult zurück.«

Tien nickte und begann die schwere Eisluke zu schließen. Wir halfen ihm von innen. Endlich fasste die Schraube und der Phag begann sie festzuziehen. Sofort wurde es still. Man konnte hören, wie Lion schnaufte, als er Tien half. Ich ließ meine Hände hängen und schaute mir den Phagen durch den dicken, transparenten Korpus an. Das Eis veränderte die Gesichtszüge, Tien sah aus wie in einem Zerrspiegel: riesengroße Nase, kleine Äuglein, krummes Kinn. Lustig… Aber wir sahen für ihn ja auch total verkrüppelt aus.

Ich winkte Tien zu.

Als die Luke fest zugeschraubt war, holte Tien aus seiner Brusttasche ein Reagenzglas, brach das zugeschweißte Ende ab und spritzte lässig eine Flüssigkeit auf die Oberfläche der Kapsel. Eigentlich geschah nichts, der Phag machte jedoch einen durchaus zufriedenen Eindruck. Ermutigend klopfte er auf die Kapsel — das Eis antwortete mit einem tiefen, dumpfen Ton — und verließ die Schleusenkammer über eine kurze Treppe. Die innere Luke wurde zugeschlagen. Ein Glück, dass das Licht in der Schleusenkammer nicht ausging!

»Wenn der Katalysator nicht funktioniert, zerbricht die Kapsel in der Atmosphäre!«, ließ sich Lion mit Grabesstimme vernehmen. »Kannst du dir das vorstellen? Peng — und uns gibt es nicht mehr!«

Ich bekam eine Gänsehaut.

»Und du? Ist dir überhaupt nicht unheimlich?«, wollte ich wissen.

»Nein. Ich bin damit schon ausgesetzt worden. Na ja, nicht wirklich, sondern im Traum.«

Ich ahnte, in welchen Träumen, und deshalb fragte ich gar nicht erst nach.

»Mach dir keine Gedanken!« Lion schaute mich beschämt an. »Hyperstabiles Eis ist eine zuverlässige Sache. Es beginnt zu verdampfen, wenn wir in die Atmosphäre eintreten. Vor uns wird sich eine Plasmawolke bilden, aber das verdampfende Eis schafft einen Puffer aus Dampf. Es ist alles durchdacht. Dann bilden sich die Flügelblätter und wir beginnen mit der Autorotation.«

»Und wenn wir auf Felsen stürzen?«

»Das wäre schlecht«, meinte Lion. »Da kann man sich ordentlich was brechen. Tja, und wenn wir mitten im Meer landen und es nicht ans Ufer schaffen…«

Er zog mich natürlich auf. Tien sagte, dass die Landestelle auf zehn Kilometer genau berechnet war und wir im Wald landen würden. Deshalb müsste man sich darum keine Sorgen machen. Jetzt verstummte aber auch Lion. Er konnte immer noch nicht gut schwimmen. Vor der Landung in der Stealthkapsel hatte er keine Angst, aber das Wasser flößte ihm nach wie vor Furcht ein.

»Ich rette dich, wenn es so weit kommen sollte«, versprach ich. »Ich schlage dich bewusstlos und ziehe dich dann an den Haaren heraus.«

»Es darf aber nicht wehtun«, bat Lion mit ernstem Gesicht.

Wir schwiegen. Beide hatten wir eine Uhr, wollten jedoch nicht nach der Zeit schauen. Die Ziffern wechselten unendlich langsam, es schien, als ob sie eingefroren wären.

»Kennst du Horrorgeschichten?«, fragte Lion interessiert.

»Klar!«

»Erzählst du eine?«

Dummerweise fielen mir aber gerade jetzt keine ein! Ich erinnerte mich nur an eine völlig blödsinnige für Kleinkinder.

»Ein Junge kommt von der Schule nach Hause«, begann ich. »Und plötzlich sieht er, dass seine Eltern auf dem Tisch ihre Sozialkarte vergessen hatten. Nicht etwa, dass sie unordentlich waren, sie hatten es nur sehr eilig.«

»Und was ist eine Sozialkarte?«, wollte Lion wissen.

»Das ist… Na, so etwas wie eine Kreditkarte, nur dass dort die Rationen für die Lebenserhaltung aufgezeichnet sind. Du hast doch auf einer Station gewohnt, gab es so etwas bei euch nicht?«

»Nein, bei uns waren Luft und Wärme kostenlos«, erwiderte Lion mit schlechtem Gewissen. »Los, erzähl weiter!«

»Tja… Dieser Junge versteckte also die Sozialkarte im Schrank und fing an im Internet zu surfen. Er kam auf eine Seite mit dem Hinweis: ›Zugang nur für Erwachsene, Zugang für Kinder verboten.‹ Er gab selbstverständlich ein: ›Ich bin ein Erwachsener.‹ Daraufhin wurde ihm erwidert: ›Bitte die Nummer der Sozialkarte eingeben!‹ Er dachte sich nichts dabei und gab die Nummer ein. Tja, und so durfte er allen möglichen Unsinn anschauen… Er saß also am Laptop und hatte alles um sich herum vergessen. Plötzlich klingelte es. Er ging zur Tür, machte auf und sah eine Mitarbeiterin des Sozialdienstes. Die sagte: ›Junge, du atmest zu oft!‹ Der Junge erschrak und versprach, seltener zu atmen. Aber sie nahm ein Pflaster…«

Lion begann zu lachen.

»Was für ein Quatsch! Wenn du seltener atmest, verändert sich die Menge des verbrauchten Sauerstoffes nicht.«

Ich schwieg. Für ihn war die Geschichte wahrscheinlich wirklich nicht zu verstehen.

»Sei nicht beleidigt.« Lion knuffte mich mit dem Ellenbogen in die Seite. »Hör zu! Das ist jetzt eine ähnliche Geschichte, aber viel besser: Ein Junge hatte eine ältere Schwester. Sie durfte auf der Schattenseite spazieren gehen, bekam sogar einen neuen, roten Raumanzug geschenkt, den Jungen aber ließ man nicht. Sein Raumanzug war ganz einfach, einer für Kinder.«

»Wo durften sie spazieren gehen?«

»Auf der Schattenseite, dem äußeren Korpus der Station, auf der Unterseite. Dort gab es weder Gravitation noch Luft.«

»Aha«, sagte ich und stellte mir mit einigem Befremden einen derartigen Spaziergang vor. Was ist denn daran so reizvoll?

»Der Junge bat seine Schwester ständig, ihn mitzunehmen. Die Schwester jedoch antwortete: ›Nein, das geht nicht, du bist noch klein, du vergisst, die Sauerstoffpatrone zu überprüfen.‹ Die Sauerstoffpatrone ist übrigens zum Atmen, ein Regenerator im Raumanzug.«

Lion schüttelte energisch den Stoffsack — unseren hiesigen Regenerator. Er fuhr fort: »Hier ist es irgendwie stickig… Also, der Junge war natürlich beleidigt und setzte eines Tages an Stelle einer vollen — eine leere Patrone in den roten Raumanzug ein. Er dachte sich, wenn bei seiner Schwester der Sauerstoff zu Ende ginge, würde sie es noch mit der Reserve schaffen. Das Mädchen ging mit ihrem Freund auf der Unterseite spazieren, als ihr Freund plötzlich bemerkte: ›Irgendwie geht bei mir der Luftvorrat zu Ende! Kehren wir um!‹ Das Mädchen jedoch wollte nicht und gab ihm ihre Reservepatrone. Sie gingen weiter und plötzlich, du ahnst es, versiegte bei dem Mädchen die Luft. Sie erschrak und bat ihren Freund sofort darum, die Reservepatrone zurückzugeben. Dieser stand jedoch unter Schock. Und so starb das Mädchen. Am nächsten Abend lag ihr Bruder im Bett und weinte, weil es ihm um die Schwester leidtat. Er weinte, weinte und schlief ein. Plötzlich hörte er im Schlaf: ›Gib mir meine Ersatzpatrone!‹ Er öffnete die Augen — und in der Ecke stand der Raumanzug seiner Schwester, aufgeblasen, das Sichtglas von innen voller Blut! Er erschrak, lief zu seinen Eltern und erzählte ihnen alles. Daraufhin gaben ihm die Eltern eine volle Patrone und sagten: ›Wenn deine Schwester wiederkommt, sag ihr, dass das die Reservepatrone sei!‹«

»Haben sie ihn wenigstens kräftig verhauen?«, fragte ich voller Abscheu gegenüber dem Jungen. »Wegen seiner Schwester?«

»Er hat sicherlich etwas abgekriegt«, stimmte Lion zu. »Aber wenn die Schwester tot ist, was ist da noch zu ändern? Also, am nächsten Tag kam der Raumanzug wieder und sagte: ›Gib mir meine Reservepatrone!‹ Der Junge reichte ihm die Patrone, der Raumanzug schloss sie an, sagte lachend: ›Jetzt werde ich gleich genug Kraft haben, um dich zu erwürgen!‹, und öffnete das Ventil, um sich diese Kraft zu holen. Die Eltern ahnten jedoch, was er vorhatte, und gaben keine Patrone mit Sauerstoff, sondern mit Kohlenmonoxid. Der Raumanzug blies sich auf, wurde blau und platzte. Das Dumme war nur, dass der Junge trotzdem nicht überlebte, er starb vor Angst.«

»Bist du verrückt geworden?«, regte ich mich auf. »Was ist das denn für eine Geschichte, so ein Mist!«

»Warum?«

»Wie kann man denn Kohlenmonoxid in eine Pressluftflasche füllen? Hast du denn kein Chemie in der Schule gehabt? Nein, der Raumanzug muss ihn erwürgt haben…«

Lion dachte nach und erwiderte: »Wenn er erwürgt wird, tun einem die Eltern leid. Wenn ihm jedoch nichts passiert, dann wäre er ohne Strafe davongekommen.«

»Na und?«

»Ich glaube, dass sich Erwachsene diese Geschichten ausdenken«, meinte Lion. »Damit die Kinder keine Dummheitenmachen,keineKreditkartennummern herausgeben, nicht mit Sauerstoffflaschen herumspielen… Hör mal, findest du nicht, dass es hier stickig ist?«

Ich schaute angespannt auf das Säckchen.

»Nein, eigentlich nicht.«

»Uns wird von Kindheit an klargemacht, dass man keine Späße mit der Luft treiben darf«, sagte Lion, als ob er sich entschuldigen wollte. »Das ist ungeheuer wichtig. Wir lernen Gedichte darüber. ›Wenn der Wind an den Wänden rüttelt und die Sirenen heulen, weiß jeder — das ist nicht die richtige Zeit für einen Spaziergang. Geht der Sturm zurück und ist die Sirene verstummt, bedeutet das, man kann sich auf seiner Koje ausruhen.‹«

»Auf Karijer haben wir auch so etwas gelernt!«, sagte ich. »›Wenn du einen Riss, ein Loch, eine Kaverne gesehen hast, weiß natürlich jedes Kind — das ist sehr gefährlich!‹ Kennst du den Spruch über den Jungen, der ein Leck entdeckt und es mit seiner Hand zugehalten hat?«

»Hm«, bestätigte Lion.

Das Licht flackerte kurz auf.

»Was ist los?«, fragte Lion erschrocken. Er schaute auf die Uhr. »Tikkirej, noch drei Minuten!«

Wir streckten uns auf den Matten aus und schwiegen. Jetzt, wo wir nicht mehr durch unsere Unterhaltung abgelenkt waren, bemerkten wir ein leichtes Schaukeln des Raumschiffs. Die Gravitationskompensatoren konnten das Schwanken nicht völlig auffangen.

»Wir tauchen schon in die Atmosphäre ein«, kommentierte Lion, als ob ich das nicht selbst gewusst hätte. »O Mann, wer weiß, wie das ausgeht…«

Die Kapsel schien sich auf die Hinterbeine zu stellen. Tien hatte den Gravitationsvektor geändert.

Im nächsten Augenblick öffneten sich unter uns die Panzerklappen der Luke und unsere Kapsel fiel in den freien Raum hinaus. Stille. Absolute Stille.

Normalerweise waren wir ständig von Geräuschen umgeben. Sogar in die geschlossene Kapsel drang der Gerätelärm durch das Eis.

Jetzt hörten wir nur unsere Atemzüge.

Unter uns befand sich der Planet.

Nicht mehr als Kugel, sondern als gelb-grüne Ebene, die mit Wolkenflecken bedeckt war. Obwohl noch zu sehen war, wie sie sich am Horizont krümmte und nach unten verschwand. Die Sonne von Neu-Kuweit ging hinter dem Horizont unter unseren Füßen auf und die Eiskapsel funkelte wie Kristall.

»Mensch…!«, flüsterte Lion.

Die Sterne schienen hier noch hell und strahlend. Die Kapsel bewegte sich gleichmäßig, ohne Schütteln. Aber wir spürten deutlich, dass wir uns schon nicht mehr auf der Umlaufbahn, sondern im Landeanflug befanden.

»Schwerelosigkeit ist prima, stimmt’s?«, fragte Lion.

Ich antwortete nicht. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass Schwerelosigkeit eingetreten war, dass wir in unserer winzigen Eishöhle schwebten, nur mit lächerlichen Grasbändern festgeschnallt. Ich sah auf das Raumschiff der Phagen, das zielstrebig vorwärts und nach unten flog. Das war ein starkes und sicheres Schiff…

»Tikkirej!«

»Was ist?«

»Hey, schläfst du?« Lion drehte sich um und schaute mir in die Augen. »Sieh nur, echt cool! Da ist die Sonne!«

»Welche Sonne?«

»Die von der Erde, wo alle Menschen herstammen… Da, schau doch mal!«

Ich sah hin. Ein ganz gewöhnlicher Stern, nichts Besonderes.

»Ich möchte mal zur Erde«, sagte Lion. »Ich sehe mir unbedingt Australien, Shitomir und London an. Und außerdem möchte ich auf den Edem… Da, schau doch mal, das ist dort… Nein, er ist nicht zu sehen, ist hinter dem Horizont… Und wo ist der Avalon, kannst du ihn erkennen?«

Es war klar, dass er sich doch etwas fürchtete und deshalb ohne Unterbrechung sprach. Das sagte ich natürlich nicht laut, und fünf Minuten lang schauten wir uns Sternbilder an und erörterten, welche Planeten uns und welche den Fremden gehörten. Die Sonne von Neu-Kuweit stieg indessen höher und höher, wir mussten die Augen zusammenkneifen vor diesem grellen Strahlen, das sich über die Kapsel ergoss. Ich fand, dass uns Sonnenbrillen nicht geschadet hätten. Aber auch die Phagen können eben nicht an alles denken.

»Siehst du, dass wir gewendet haben?«, stieß Lion aufgeregt heraus. »Die Atmosphäre bremst… Wir sind jetzt circa fünfzig Kilometer hoch… Nein, noch höher…«

»Schaffen wir es wirklich, zu landen?«

»Das schaffen wir!«

Jetzt flog die Kapsel mit dem Boden nach vorn. Das Eis auf der Unterseite der Kapsel trübte sich ein und schmolz. Das unerträgliche Sonnenlicht wurde schwächer, so als ob es durch mattes Glas gedämpft würde.

Vielleicht denken die Phagen wirklich an alles.

Die Schwerelosigkeit verschwand genauso unmerklich, wie sie auf getreten war. Wir wurden auf die Matten gedrückt. Zuerst schwach, dann genau wie auf einem normalen Planeten.

»Es wächst bis vier ›g‹ an«, teilte Lion mit. Warum er das sagte, war nicht nachvollziehbar, denn ich wusste es ja selbst. Wir hatten einen Belastungstest durchgeführt.

»Wenn es doch schon zu Ende wäre…«

»Die Belastung?«

»Nein, die Landung!«

Der Druck wurde immer stärker. Dann fühlte ich eine leichte Vibration. Das Licht wurde heller, aber es war kein Sonnenlicht mehr, sondern ein in das Auge stechender rötlicher Glanz.

»So, jetzt sind wir in die Atmosphäre eingetaucht«, flüsterte Lion.

Ich drehte den Kopf und schaute auf den Boden der Kapsel. Er war völlig trüb, aber trotzdem konnte man eine Flamme erkennen, die wie ein luftiges Feuerkissen vor uns tanzte. Die Flamme breitete sich aus, schloss die Kapsel ein und flackerte.

Hinter uns entfernte sich ein kurzer Feuerschweif.

»Und das… das wird nicht geortet?«, fragte ich. Mich gruselte es. Nur ein halber Meter tauendes Eis trennte uns von einer Plasmawolke!

»Eigentlich nicht, wir haben speziell für die Landung die Zone des Morgenrots ausgesucht«, antwortete Lion. »Die Sonne hier ist aktiv… Es gibt oft Störungen auf dem Radar und visuell kann man es auch nur sehr schwer feststellen…«

Das Licht begann zu verblassen und die Schwerelosigkeit kam wieder. Das war das erste Eintauchmanöver — wir schlitterten über die Atmosphäre, verloren dabei an Geschwindigkeit, prallten ab wie ein flacher Stein von der Wasseroberfläche und fielen wieder nach unten.

»Beklemmend«, bekannte ich und war über meine eigenen Worte erstaunt. »Lion, hast du überhaupt keine Angst?«

Er antwortete nicht sofort, murmelte aber dann: »Ein wenig schon…«

Um die Kapsel loderte erneut eine Flamme. Dieses Mal wurden wir stärker durchgeschüttelt, die Kapsel vibrierte wie ein altes Auto auf einer schlechten Straße, der Druck wurde stärker.

Erneut schlüpfte die Kapsel für einige Minuten aus der Atmosphäre und bereitete sich auf das nächste »Eintauchen« vor.

»Tikkirej…«, Lion drehte sich zu mir. »Weißt du, woran ich jetzt gedacht habe? Wenn ich meine Eltern wiederfinde… zu ihnen gehe… erkennen Sie mich womöglich nicht.«

»Wieso denn das?«

Er lachte auf, sein Gesicht war ohne jede Freude.

»Mein Traum ist vorbei, und ich weiß, dass es nur ein Traum war. Aber sie? Vielleicht glauben sie, dass dieser Traum Wirklichkeit ist? Dann sind sie davon überzeugt, dass ihr Sohn Lion schon lange erwachsen ist und werden mir sagen: ›Junge, du bist sicherlich krank.‹«

»Eltern sagen so etwas niemals.«

»Glaubst du?«, fragte Lion skeptisch.

»Sicher.«

»Aber sie haben doch eine Gehirnwäsche erhalten…«

»Trotzdem.«

Ich bemühte mich überzeugend zu wirken. »Es könnte sein, dass dich dein Brüderchen nicht erkennt. Oder dein Schwesterchen. Aber deine Eltern werden dich erkennen.«

Lion schien sich zu beruhigen. Er legte sich bequemer hin — der Druck nahm wieder zu. Er sagte:

»Die Kleinen können doch nicht dasselbe geträumt haben. Wie hätten sie das denn verstehen sollen? Also müssen sie ihren eigenen Traum gehabt haben. Einen Kindertraum. So einen mit allen möglichen Tieren, mit Abenteuern für Kinder… Ihr Programm war sicherlich in Trickfilmen versteckt.«

»Den müsste man finden, der das alles ausgeheckt hat«, murmelte ich.

»Und ihm den Kopf abreißen! Wir werden ihn finden«, versprach Lion blutrünstig. »Hauptsache, wir landen erst einmal…«

Er hatte auch Angst.

Das dritte Eintauchen in die Atmosphäre war das letzte. Jetzt hatten wir ernsthaft unter der Fallbeschleunigung zu leiden, ein Gespräch war unmöglich. Die Luft um die Kapsel verwandelte sich in einen riesigen Feuerball. Die Kapsel wurde geschüttelt und knisterte, Eis wurde abgetrennt… jetzt wurden die überflüssigen Teile herausgeschmolzen, um Flügelkörper zu bilden. Ich wusste das, aber mir war ganz mulmig.

Endlich erlosch das Feuer, der Druck wich von uns und wir sahen unter uns den Planeten. Schon genau so wie aus einem Flugzeug. Die Kapsel glitt durch die Luft, senkte sich allmählich, drehte sich jedoch noch immer nicht um die eigene Achse.

»Wir sind noch zu hoch«, nahm Lion an, der erriet, woran ich dachte. »Oder…«

Ich erfuhr nicht, was das »Oder« bedeuten sollte. Wir hatten Glück. Lion richtete sich auf und betrachtete die Oberfläche durch die Seitenwände, nicht durch den verdunkelten Boden. Die Kapsel schaukelte und fing an sanft zu kreisen.

»Hurra!«, rief Lion. »Es hat geklappt!«

Unsere Kapsel war längst nicht mehr die akkurate Linse wie zuvor. Von oben und von unten war ein Teil des Eises weggeschmolzen, verdampft, sodass ihre Form jetzt sehr an einen Kleesamen erinnerte. Und in diesen Eisflügelchen drehten wir uns jetzt immer schneller.

Zuerst war es lustig. Die Welt herum drehte sich, die Sonne kreiste am Himmel über uns, das gleichmäßige Rauschen der Luft übertönte unsere fröhlichen Schreie.

Dann wurde uns schlecht. Wir flogen an entgegengesetzte Enden der Kabine und wurden an die Wand gedrückt.

»Mach die Augen zu!«, schrie Lion.

Ich schloss meine Augen. Trotzdem war es ekelhaft. Die Zentrifugalkraft drückte schlimmer auf uns als bei der Landung. Und außerdem wurde uns übel… ich hielt es aus, solange ich konnte. Dann hörte ich, wie sich Lion erbrach, und konnte es selbst nicht mehr zurückhalten. Ein Glück, dass wir gestern einen halben Tag nichts gegessen hatten. Aber im Mund spürte ich einen ekelhaft sauren Geschmack.

Es war wie auf einem außer Kontrolle geratenen Karussell… Vor zwei Jahren war ich mit Freunden auf dem Rummel. Unsere Klasse hatte damals den Mathematikwettbewerb der Stadt gewonnen, alle bekamen Freikarten für die Karussells. Auf dem Rummel gab es wenige Besucher. Wir liefen sofort zum interessantesten Karussell, dem »Himmelsschiff«, das sich nach oben, unten und um die eigene Achse drehte, sodass man zwanzig Meter nach oben flog — und dann mit fürchterlicher Geschwindigkeit kopfüber nach unten fiel. Dabei rechnete man jeden Augenblick damit, dass der Kopf auf dem Betonboden zerschellte. Ein ganz Schlauer, eventuell sogar ich, hatte die Idee, den Betreiber des Karussells darum zu bitten, uns länger fahren zu lassen. Der lachte auf und befahl allen, sich anzuschnallen…

Anstelle von drei Minuten ließ er uns zehn fahren. Danach hatte ich die Zeit verglichen. Fünf Minuten lang war es lustig, dann begannen alle zu schreien und darum zu bitten, dass er das Karussell anhalten sollte. Der Mann tat jedoch so, als ob er uns nicht verstehen würde, winkte uns zu und lächelte. Als er das »Himmelsschiff« endlich anhielt, hatten zwei Jungs nasse Hosen. Laufen konnte niemand, wir mussten abgeschnallt und nach draußen geschleppt werden.

Einer hatte geheult und damit gedroht, sich bei der Stadtverwaltung zu beschweren. Aber der Betreiber des Karussells meinte, dass wir selber schuld wären. Wir wollten mehr vom Allgemeingut bekommen, als uns zustand. Also erhielten wir eine nützliche Lehre — niemals etwas Überflüssiges einzufordern.

Wir beschwerten uns nicht.

Jetzt gab es niemanden, bei dem wir uns hätten beschweren können. Wir wurden gedreht, durcheinandergeschüttelt und — geschaukelt. Ich hätte liebend gern die Augen geöffnet und geschaut, ob es noch weit bis zur Erde war und was sich unter unseren Füßen befand — Wald, Wasser oder Felsen. Aber mit offenen Augen wurde mir noch schlechter…

Trotzdem fühlte ich die Annäherung an die Oberfläche. Als ob sich etwas in der Bewegung der Kapsel veränderte, vielleicht wurde das Schütteln stärker, vielleicht verlangsamte sich die Drehbewegung.

Auf einmal schabte etwas an uns — die zirkulierende Kapsel riss Zweige ab. Einige Minuten flogen wir über dem Wald und schnitten die Baumkronen ab wie die Klinge eines riesigen Rasenmähers. Dann drehte sich die Kapsel auf die Seite, knickte Baumstämme, wobei uns jeder Schlag schmerzte, und rollte wie ein Rad durch den Wald. Jetzt öffnete ich die Augen und erblickte gigantische Baumstämme, Gras, dichte Sträucher und einen unergründlich blauen Himmel (waren wir wirklich eben noch da oben?) sowie über dem Wald kreisende Vögel… Die Kapsel rollte, fällte dabei noch einige Bäume, kam zum Stillstand und kippte langsam mit dem Boden nach oben um.

Wir hingen in unseren Grasgurten. Alles vor unseren Augen war verschwommen und drehte sich, vor uns tanzten helle, bunte Sterne.

»Lebst du noch?«, fragte Lion leise.

»Hm…«, erwiderte ich und mir wurde erneut schlecht. In diesem Zustand hingen wir bestimmt noch fünf Minuten. Wir waren nicht fähig, uns zu bewegen.

Dann begannen wir, die Riemen zu lösen. Es fiel uns schwer, aber wir schafften es. Es gelang uns jedoch nicht, die Luke aufzuschrauben. Sie war von außen zugeschmolzen und hatte sich fest mit dem Körper der Kapsel verbunden.

»Ich habe schon befürchtet, dass wir in unsere Einzelteile zerlegt werden«, beklagte sich Lion. »Hast du die Berge gesehen? Zehn Kilometer haben gefehlt.«

»Welche Berge?«

»Sicherlich die Charitonow-Kette«, sagte Lion nachdenklich. »Das bedeutet, dass wir an der Nordgrenze der Landezone aufgesetzt haben. Nicht schlecht, sogar gut… Dann haben wir es nicht weit.«

Ich klopfte die Eishülle ab: »Wenn sie nur schmelzen würde!«

»Wir müssen uns gedulden.« Lion kam mit Mühe und Not in die Hocke und zog den Kopf ein, um sich nicht an der Luke zu stoßen. »Mensch, wie mein Rücken wehtut! Ich habe mich noch ganz zum Schluss gestoßen!«

»Bei mir scheint alles in Ordnung zu sein…«

Wir saßen uns gegenüber und schwiegen. Uns war immer noch schwindlig. Und wir wollten natürlich so schnell wie möglich nach draußen.

Nach ungefähr zehn Minuten fiel mir der erste Tropfen in den Nacken. Das Eis begann zu tauen.

»Tja, wir werden erfrieren!«, meinte Lion fröhlich.

Wir erfroren natürlich nicht.

Der Tropfen verwandelte sich in einen Bach, danach in einen Strom. Das superfeste Eis taute wie ein matschiger Schneeball im warmen Zimmer. Nach zwei Minuten stand uns das Wasser bis zum Knie. Da aber sprang die Kapsel auf und brach in zwei Teile auseinander. Mit einem fröhlichen Aufschrei warfen wir uns ins Freie.

Unter unseren Füßen knirschte Eis. Am Himmel lärmten die Vögel. Das Tauwasser verteilte sich und wurde von der weichen Grasnarbe aufgesogen. Ein breiter Streifen zog sich zwischen den Bäumen hin, als ob man den Wald gepflügt hätte. Die Luft in unserer Umgebung war gesättigt mit dem Geruch von Harz und Wald, was unsere Stimmung sofort hob. Uns wurde leicht und fröhlich zumute. Wir sprangen um die Kapsel herum, die sich in eine Pfütze verwandelte, schlenkerten mit den Armen und lärmten lauter als die Vögel.

Wir waren gelandet!

»Sommer!«, rief Lion fröhlich aus. »Sommer, Sommer, Sommer!«

Alles war gut gegangen, wir waren gelandet. Selbst wenn uns noch schwindelig war, wenn wir schmutzig und nass und die Beine vom Eiswasser taub waren — das Schlimmste lag hinter uns. Sollte auch Neu-Kuweit von einem schrecklichen Feind erobert worden sein, das kümmerte uns jetzt nicht. Wir befanden uns in einem richtigen, unter Naturschutz stehenden Wald, weit entfernt von der Stadt, und vor uns lagen einige Tage echter Waldabenteuer: Übernachtung am Lagerfeuer, Angeln, mit etwas Glück sogar Regenschauer, Stürme und Raubtiere. Was sind schon die Picknicks auf Avalon im Vergleich zu diesen Wäldern?

»Schau mal, dort ist ein See!« Lion zeigte durch die Bäume. »Wir hatten Glück, wir hätten hineinfallen können…«

Durch die Zweige leuchtete blaues Wasser. Und nicht nur dort, wohin Lion zeigte, sondern auch auf der anderen Seite. Ich rief mir die Karte in Erinnerung, die uns gezeigt worden war — wir befanden uns im »unteren Seengebiet« am Nordhang der Charitonow-Gebirgskette. Hier gab es viele winzige Seen, in der Nähe entsprang das Flüsschen Semjonowka, an dessen Delta sich Agrabad befand. Bis zur Hauptstadt waren es ungefähr einhundertfünfzig Kilometer — das würde funktionieren. Vielleicht müssten wir eine ganze Woche durch den Wald laufen!

»Wollen wir baden gehen?«, fragte ich.

Lion zögerte kurz, dann nickte er.

Also liefen wir zum See und ließen die Kapsel vor sich hin tauen.

Der Wald reichte bis ans Wasser. Es störte uns nicht, dass es keinen Strand gab. Der See war klein, rund, vielleicht dreißig Meter im Durchmesser und das Wasser in ihm schien so blau, als ob es eingefärbt wäre. Wir zogen uns schnell aus und sprangen hinein — es war kalt, aber nach der eisigen Dusche erschien es uns regelrecht heiß. Lion tummelte sich am Ufer und ging nicht tiefer hinein als bis zum Hals. Ich schwamm bis zur Mitte und wieder zurück, ohne mich über Lion lustig zu machen.

Wieder am Ufer wollten wir uns in der Sonne trocknen, die jedoch wie zum Trotz von Wolken verdeckt wurde. Es war sofort kalt geworden.

»Machen wir ein Lagerfeuer?«, schlug Lion vor und klapperte dabei übertrieben mit den Zähnen.

»Warum nicht«, stimmte ich zu und frottierte mich mit meinen T-Shirt.

»Und außerdem müssen wir noch eine Hütte bauen«, schlug Lion vor. »Oder?«

Wir schauten uns an.

»Heute gehen wir nirgendwohin«, meinte ich. »Und morgen auch nicht. Wir haben frei.«

»Stimmt. Aber Hunger habe ich schon.«

Wir beschlossen, uns später um das Essen zu kümmern. Zuerst suchten wir trockene Zweige. Die von der Kapsel gefällten Bäume erwiesen uns dabei einen guten Dienst. Das Lagerfeuer errichteten wir in der Nähe des Ufers. Ich besaß eine halbe Schachtel Streichhölzer, Lion ein Feuerzeug. Das Feuer brannte hervorragend, aber lange am Lagerfeuer zu sitzen war langweilig.

»Ich gehe angeln«, meinte Lion. »Und du kannst dickere Zweige für die Hütte zurechtschneiden.«

»Und warum gehst du angeln und ich soll die Zweige schneiden?« Ich war beleidigt. »Kannst du denn angeln?«

»Theoretisch schon«, gab Lion ehrlich zu. »Zu Beginn ist es erforderlich, ein kleines Loch in weicher, feuchter Erde zu graben und die Erdkrumen sorgfältig nach Würmern und Tausendfüßlern abzusuchen. Die gefangenen Insekten werden auf die Spitze des Angelhakens gespießt, wobei darauf zu achten ist, dass sie noch Lebenszeichen von sich geben. Sie werden angespuckt und in einer Entfernung von vier bis fünf Metern vom Ufer ins Wasser geworfen…«

Ich stellte mir das mit den Würmern genauer vor und erwiderte schnell: »Okay, ich kümmere mich um die Zweige.« Es war nicht weiter schwer, die Zweige für die Hütte zuzuschneiden.

Wieder half die Landebahn der Kapsel, die sich mittlerweile in einen nassen Fleck verwandelt hatte. Ich holte einen Berg Zweige und begann neben dem Lagerfeuer eine Hütte zu bauen. Es gelang mir gar nicht so schlecht. Ich hatte nicht die Absicht, Lion so schnell zu rufen. Sollte er sich ruhig davon überzeugen, dass Angeln doch keine so einfache Sache ist. Aus unerfindlichen Gründen stellte ich mir vor, dass es mir besser gelingen würde, Fische zu fangen.

Lion erschien nach einer halben Stunde. In den Händen hielt er zwei große Fische, jeder rund anderthalb Kilo schwer.

»Nicht schlecht!«, meinte ich trocken.

Die Fische wanden sich und schlugen mit den Schwänzen. Lion schaute skeptisch auf seinen Fang, hielt ihn aber kräftig fest.

»Reicht das fürs Erste?«

»Sicher«, bestätigte ich. »Hast du sie mit Würmern gefangen?«

»Nein, ich habe es zuerst mit Ultraschall versucht. Es hat geklappt.«

»Du bist mir ein Freundchen…«, erwiderte ich und schaute auf sein zufriedenes Grinsen. »Also, dann fang an, sie fertig zu machen.«

»Wie?«

»Du musst den Fischen die Köpfe abschneiden, dann den Bauch aufschlitzen und sie ausnehmen, mit nassem Lehm einschmieren und ins Feuer legen.«

Lion erbebte.

»Hilfst du mir denn nicht dabei?«

Ich schüttelte den Kopf. Wir schauten traurig auf die unglücklichen Fische, die lautlos ihre Mäuler öffneten und schlossen. Ihre Schuppen schienen stumpf, die Augen trübe geworden zu sein.

»Da hinten steht ein Nussbaum«, meinte Lion. »Wenn man ein Stück am Ufer entlanggeht. Nüsse sind sehr nahrhaft, stimmt’s?«

Ich nickte. Wir waren noch nicht hungrig genug, um unsere Nahrung wie die Urmenschen zu erbeuten.

»Gehen wir!«, sagte ich. »Und die Fische lassen wir frei. Sie erholen sich im Wasser bestimmt wieder.«

»Und allen anderen sagen wir, dass sich Spinningangeln nicht lohnt«, wieherte Lion. »Komm. Du hast eine gute Hütte gebaut.«

Ich wandte mich um und betrachtete die Hütte. Sie schien mir nicht besonders gelungen, war zu klein und schief. Ein starker Wind wirft sie um, und wasserdicht ist das Dach auf keinen Fall, dachte ich.

»Danke«, erwiderte ich. »Wir bessern sie noch nach. Wir müssen noch viel lernen.«

Die Fische ließen wir gleich am Ufer ins Wasser, einer verschwand sofort in die Tiefe, der andere verharrte an seinem Platz, bewegte aber die Kiemen und erholte sich wieder.

Wir gingen Nüsse sammeln. Sie waren reif und schmeckten gut. Eine volle Stunde verbrachten wir in den Büschen, aßen uns satt und nahmen noch einen Vorrat mit. Wir würden ja kaum Nüsse pflücken, wenn es dunkel wäre.

»Wir müssen trotzdem lernen, Fische zu fangen und sie zu töten«, sinnierte Lion laut. »Und Kaninchen und Hirsche zu jagen.«

»Gibt es hier etwa Hirsche?«

»Keine Ahnung. In der Nähe der Berge müsste es welche geben. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich im Traum alles gegessen habe! Einmal sogar ein totes Pferd. Das war okay, gar nicht so schlimm. Aber in Wirklichkeit…« Er verzog das Gesicht.

»Macht nichts, das lernen wir alles noch«, ermutigte ich ihn. »Wollen wir noch einmal baden gehen?«

Das zweite Mal schien uns das Wasser viel wärmer. Vielleicht hatte es sich während eines halben Tages auch aufgeheizt? Wir balgten am Ufer, dann versuchte Lion zu schwimmen und ein wenig gelang es ihm. Er schwor sogar, dass er einmal im Wasser an einen Fisch gestoßen wäre und diesen ohne jede Angel hätte fangen können.

»Sicherlich denselben, den wir freigelassen haben«, mokierte ich mich, bis zum Hals im Wasser stehend. »Er ist gekommen, um sich zu bedanken.«

»Kannst du dich daran erinnern, ob es hier irgendwelche Ungeheuer gibt?«, erkundigte sich Lion.

»Ich kann mich erinnern, es gibt keine«, erwiderte ich. »Na ja, höchstens ein paar Haie pro See.«

»Stimmt, und sie fressen kleine Jungs.«

»Wieso? Kleine Mädchen mögen sie auch!«

Lion richtete sich furchterregend auf und wedelte mit seinen dürren Armen, wobei er eine Wolke aus Wasserspritzern erzeugte: »Wo sind denn hier die Mädchen? Ich bin ein sehr hungriger Hai! Ich esse keine kleinen Jungs, das sind Schmutzfinken!«

In den Büschen am Ufer, wo wir uns ausgezogen hatten, bewegte sich etwas. Und eine Stimme spottete: »Das stimmt, Schmutzfinken. Und außerdem knochig.«

Lion ließ sich verdutzt fallen und verschwand fast unter der Wasseroberfläche. Ich erstarrte.

Die Sträucher bewegten sich und ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren kam zum Wasser. Sie war übrigens auch dünn, ihr Gesicht und die Hände waren nicht einfach schmutzig, sondern zusätzlich mit grüner Farbe beschmiert. Sie trug Shorts und ein khaki-farbenes T-Shirt, in den Händen hielt sie eine Armbrust.

»Na, du Hai, bist du sprachlos?«, fragte das Mädchen und zeigte mit ihrer Armbrust auf Lion. Als ob sie einen Scherz machte, doch ihre Augen blieben aufmerksam und die Waffe hielt sie gekonnt.

»Es wird sich noch herausstellen, wer hier der größere Schmutzfink ist«, meinte ich. »Wer bist du?«

»Du bist es, der auf Fragen antwortet«, erwiderte das Mädchen ruhig. »Und macht keine Dummheiten, ich schieße gut.«

Lion und ich schauten uns an.

So sieht also die Besinnlichkeit eines Naturschutzgebietes aus!

»Du bist sicherlich die Tochter des Försters?«, erkundigte sich Lion. »Oder ein Girlscout? Aber wir jagen nicht und haben doch überhaupt nichts Verbotenes gemacht…«

»Bleib stehen, wo du bist!«, schrie das Mädchen. Sie bewegte ihren Kopf, als ob sie ihre Haare nach hinten werfen wollte, doch ihre Frisur war ganz kurz, fast wie bei einem Jungen. Sie hatte sicherlich erst vor Kurzem die Haare geschnitten und sich noch nicht daran gewöhnt. »Wie heißt ihr? Woher kommt ihr? Was macht ihr hier?«

»Dir werde ich überhaupt nicht antworten!«, empörte sich Lion. »Dumme Pute! Nimm dein Spielzeug weg!«

Ein kurzer Armbrustpfeil pfiff an seinem Ohr vorbei. Bevor wir richtig zu uns kamen, legte das Mädchen einen neuen Pfeil in die Armbrust ein und spannte sie wieder.

»Schrei nicht herum. Wie heißt ihr?«

»Er heißt Lion, ich heiße Tikkirej«, erwiderte ich schnell. Lion verstummte und hörte auf, die Fronten zu klären. »Können wir vielleicht herauskommen? Das Wasser ist kalt.«

»Kommt raus«, erlaubte das Mädchen und trat einen Schritt zurück.

»Dreh dich um«, bat ich. »Es ist uns peinlich.«

Das Mädchen spottete jedoch lediglich: »Tut nicht so als ob, ihr seid nicht nackt, kommt jetzt raus.«

Mit der Fußspitze warf sie unsere Kleidung näher zum Wasser.

Wir gingen zum Ufer und fühlten uns wie totale Idioten, halbnackt vor einem Mädchen mit einer Armbrust zu stehen, das einen verhört! Und dazu noch so genau zielen kann…

»Wir werden ja sehen…«, murmelte Lion undeutlich, aber drohend, als er seine Jeans nahm. Aus dem Gleichgewicht gebracht hob er seine Augen zu unserem Quälgeist. »Was ist, sollen wir uns nass anziehen? Komm, dreh dich um, hab Verständnis!«

»Ich kann mich schon umdrehen«, lächelte das Mädchen zuckersüß, »aber schämt ihr euch nicht vor den anderen?«

»Vor welchen anderen?« Lion drehte den Kopf.

Das Mädchen pfiff laut durch zwei Finger und im selben Augenblick erschienen die »anderen« aus den Sträuchern!

Mindestens ein Dutzend Mädchen! Was heißt hier ein Dutzend — es waren zwei Dutzend. Die Jüngste vielleicht zehn, die Älteste vierzehn Jahre alt. Alle waren in Khaki gekleidet und mit grüner Farbe beschmiert. Alle waren mit einer Armbrust bewaffnet. Sie sahen uns schadenfroh und ohne jedes Mitgefühl an.

Lion zog schweigend seine Jeans über die nasse Unterhose und nahm seine Jacke.

Kapitel 2

Wir gingen zu dritt. Das Mädchen lief voran, wir folgten. Die anderen Amazonen verschwanden wieder im Wald, nur ab und zu, wenn ich meinen Kopf bewegte, konnte ich eine leichte Bewegung sehen.

»Wie heißt du?«, fragte ich nach etwa fünf Minuten, als mir klar war, dass das Mädchen kein Gespräch mit uns anfangen würde. »Es ist doch unpraktisch ohne Namen!«

»Natascha«, antwortete das Mädchen.

»Wo gehen wir hin?«

»Das wirst du schon sehen!«

Lion und ich schauten uns an. Da war nichts zu machen!

Ich fuhr mit der Hand am Gürtel entlang. Um das Schlangenschwert herauszureißen, benötigte ich einige Sekunden… Und dann? Ich würde das Mädchen entwaffnen, obwohl es mir unangenehm wäre, sie außer Gefecht zu setzen. Und die anderen? Wenn die uns dann aus allen Richtungen mit ihren Armbrüsten beschießen würden? Ich bin ja kein Phag, der die Bolzen im Flug abfangen könnte!

»Hör mal, was habt ihr eigentlich gegen uns?«, wollte ich wissen. »Wem haben wir denn etwas getan? Darf man hier etwa nicht baden? Oder ist das Privatbesitz? Das wussten wir nicht, wir haben uns ganz einfach verirrt!«

»Schon seit einiger Zeit«, nuschelte Lion.

»Schon seit langem?«, zeigte Natascha plötzlich Interesse.

»Seit über einem Monat!«

»Ihr lügt. In eurer Hütte hat niemand auch nur ein einziges Mal übernachtet, ihr habt sie gerade erst gebaut… Und das eher schlecht als recht!«

Das »eher schlecht als recht« traf mich sehr, ich zeigte es aber nicht. »Früher waren wir an einem anderen See. Aber dort gab es keine Fische mehr und die Nüsse hatten wir auch alle abgeerntet. Deshalb haben wir beschlossen umzuziehen.«

»Wieso? Wie, ihr habt es nicht geschafft in einem Monat wieder in die Zivilisation zu kommen? Dafür muss man ja besonders blöd sein!«

»Wir haben Angst…«, murmelte ich.

»Wie bitte?«, Natascha stoppte und schaute uns an.

»Wisst ihr das denn nicht selbst?«, erwiderte Lion aggressiv. »Seid ihr denn total verblödet? Mit den Leuten hier ist irgendetwas passiert! Sie sind alle eingeschlafen! Bestimmt ist der Planet angegriffen worden! Wir sind sofort weggelaufen, wir waren die Einzigen, die nicht eingeschlafen sind…«

»Und ihr wart so erschrocken, dass ihr einen ganzen Monat über nichts herausgekriegt habt?«, rief Natascha. »Und lebt seitdem im Wald?«

Lion und ich verstummten. Wenn wir auch nur so taten, als ob, es war trotzdem peinlich.

»Jüngelchen…«, sagte Natascha verächtlich. »Es wird zu Recht behauptet, dass man von einem einzigen Mädchen mehr erwarten kann als von einem Dutzend Jungen.«

»Und wer sagt so etwas?«, ereiferte sich Lion.

Natascha schnaubte. »Tja… Das sagt jemand, der sich damit auskennt.«

»Man könnte annehmen, dass ihr nicht erschrocken wart?«, wollte Lion wissen. »Ihr versteckt euch hier wohl nicht, spielt Partisanen und kämpft gegen Inej?«

Nataschas Augen schauten böse und zeigten ihren Verdacht.

»Gegen Inej? Und woher wisst ihr, dass es Inej ist? Wenn ihr doch angeblich sofort weggelaufen seid?«

Ich konnte mich mit Mühe und Not beherrschen, Lion nicht eine runterzuhauen.

Er verbesserte sich aber selbstbewusst: »Zuerst sind wir mit dem Auto gefahren. Dort gab es einen Fernsehapparat, wir haben gesehen, wie der Sultan eine Rede hielt. Er sprach davon, dass wir uns Inej anschließen. Das ist sicherlich irgendeine Waffe. Alle haben eine Gehirnwäsche erhalten, sind jetzt wie Zombies, und bei uns hat es offensichtlich nicht funktioniert…«

»Wir werden ja sehen, ob ihr Zombies seid oder nicht…«, Natascha winkte ab. »Geht voran.«

Und so liefen wir noch zwei Stunden, kamen an einem Dutzend winziger Seen vorbei, kämpften uns durch sumpfiges Gelände (hier kamen auch die anderen Mädchen näher heran und bemühten sich bei uns zu bleiben), bis wir endlich das hügelige Bergvorland erreichten.

Auf den Anhöhen standen dichte Büsche, die Hänge waren kahl, dort wuchs kaum Gras. Natascha sah sich vorsichtig um, so, als ob sie einen Hinterhalt erwarten würde. Es war jedoch niemand zu sehen, lediglich die Vögel lärmten auf den Bäumen. Jeden Abend flogen die Meisen aus dem Wald zum Charitonow-Rücken.

»Habt ihr Angst?«, giftete ich. Natascha schaute mich verächtlich an und zischte durch ihre Zähne:

»Ich bin vorsichtig… Maria!«

Eines der Mädchen lief zu ihr.

»Wann öffnet sich ein Fenster?«, erkundigte sich Natascha.

Maria warf uns einen kurzen Blick zu und holte aus ihrer Jackentasche einen Pocket-PC. Sie schaute auf den Bildschirm: »In siebzehn Minuten gibt es ein Fenster für vier Minuten…«

»Das reicht nicht.«

»In zweiundvierzig Minuten öffnet sich ein Fenster für neun Minuten.«

»Das geht.«

Natascha schaute mich an:

»Könnt ihr rennen?«

»Ähm… Na klar!«

»In vierzig Minuten verschwinden über uns die Satelliten für visuelle Aufklärung«, erklärte Natascha. »Die Satelliten für Energiekontrolle können uns nicht orten.«

Deshalb verwendeten sie also diese primitiven Waffen! Ich nickte.

»In neun Minuten müssen wir es bis dort hoch schaffen…« Natascha zeigte auf eine Hecke, die den nächsten Hügel umgrenzte. »Wenn ihr zurückbleibt, erschieße ich euch! Ehrenwort!«

Ich glaubte ihr.

Lion auch. Das war ganz und gar nicht einfach!

Warum hatte ich nur gedacht, dass wir mit Leichtigkeit die Hecke erreichen würden? Ich konnte immer gut rennen, und in neun Minuten kann man sonst wohin laufen. Ich hatte nur nicht berücksichtigt, dass man den Hang hinaufmusste.

Steine, unscheinbare kleine Sträucher, Löcher — all das kam uns wie bestellt unter die Füße. Gleich am Anfang fielen Lion und ich zurück. Und die Mädchen überholten uns allesamt! Woher nahmen sie nur diese Energie?

Lediglich Natascha und noch ein anderes Mädchen hielten sich hinter unserem Rücken, die Armbrust schussbereit. Und sie fluchten dermaßen, dass man sie auf einem anständigen Planeten sofort in eine geschlossene Anstalt zur Besserung und Umerziehung gesteckt hätte. Obwohl Lion und ich unsere letzten Reserven mobilisierten, war es in erster Linie peinlich, schwächer als die Mädchen zu sein. Und jetzt drohten sie uns auch noch an, einen Pfeil »an die Stelle, wo es am meisten stört« zu jagen, wenn wir auch nur stolperten.

Wir schafften es.

Wir schafften es, nachdem alle Mädchen mit Ausnahme unserer Begleitung, schon die Hecke erreicht und die Armbrust auf uns gerichtet hatten. Wir schnappten nach Luft, konnten unsere Beine kaum noch heben und fielen unter die Bäume. Die erbarmungslosen Wächterinnen, die nicht einmal schnell atmeten, standen neben uns. Hinter ihnen erschien noch ein Dutzend Mädchen, die uns neugierig betrachteten.

»Maschka! Alles klar?«, fragte Natascha als Erstes.

»Ja!«, piepste sie. »Zwanzig Sekunden in Reserve.«

Ich lag auf dem Rücken, atmete schwer und schwor mir, dass ich nie heiraten würde. Und wenn überhaupt, dann eine Muslimin. Sie werden wenigstens so erzogen, dass sie auf ihren Mann hören.

Obwohl man auch von den Russen sagt, dass ihre Frauen ruhig und gehorsam wären. Dabei waren diese Mädchen alle, oder fast alle, Russinnen. Es ist also gelogen.

»Steht auf, ihr Schwächlinge!«, befahl Natascha. »Oder sollen wir euch auf den Arm nehmen wie Kleinkinder?«

Alle Mädchen lachten gemein.

Ich stand auf und verteilte Spucke auf meine Wunden. Lion betastete grimmig seine Füße — er war ja barfuß und musste über spitze Steine laufen.

»Macht ihm einen Verband«, meinte Natascha. Ein Mädchen reichte Lion ein Verbandspäckchen, er jedoch winkte ab und stand auf. Seine Fersen waren zerschlagen und bluteten.

»Wie stolz er ist«, schnaubte Natascha.

Dieses Mal fand sie keinen Beifall.

Eingeschlossen von den Mädchen gingen wir auf die Spitze des Hügels. Warum wohl die Bäume hier so eigenartig wuchsen…

»Tut es weh?«, fragte Natascha entweder mich oder Lion. Wir antworteten beide nicht.

Nach einigen Minuten kamen wir ins Lager. In ein echtes Camp, wie bei den Scouts in den Filmen. Die Spitze des Hügels war flach und eben, die Bäume wuchsen hier besonders dicht und zwischen ihnen befanden sich fast unsichtbar Hütten aus Zweigen. Einige Feuerstellen waren von aus Zweigen geflochtenen Matten bedeckt, durch die der Rauch verteilt und die Flammen versteckt wurden. Selbstverständlich gab es hier keine Quellen, aber an einigen Bäumen hingen große, transparente Wasserschläuche. Alles in allem war das Lager sehr gekonnt eingerichtet.

»Halt!«, kommandierte Natascha. Sie ging zu einer der Hütten, die größer und fester als die übrigen war. Die Erde vor der Hütte war eigenartig festgestampft und mit spiralförmigen Zeichnungen bedeckt, als ob dort jemand stundenlang Fahrrad gefahren wäre.

Sicherheitshalber berührte ich die Schlange, als ob ich einfach einen Finger in den Gürtel gehakt hätte. In Wirklichkeit bereitete ich mich auf den Kampf vor.

Natascha klopfte an einen der Hüttenpfeiler wie an eine Tür. Ein bisschen komisch sah das schon aus.

»Ja!«, antwortete aus der Hütte eine unangenehme Zitterstimme.

Natascha nahm den Vorhang, der den Eingang bedeckte, zur Seite und betrat die Hütte. Sie sprach schnell und leise, ich fing lediglich Gesprächsfetzen auf: »… Spione… ein lautes Pfeifen und Krachen… liefen sofort in diese Richtung… eine Landebahn zirka fünfzig Meter lang… behaupten, dass sie sich verlaufen hätten, sie lügen… Spione…«

Das war es also! Sie hatten den Krach unserer Landung gehört! Und glaubten uns natürlich kein einziges Wort…

Der Gesprächspartner Nataschas hörte sich erbost und vorwurfsvoll an.

Er sprach davon, dass man die »Spione« nicht hätte hierherschleppen, sondern sie auf der Stelle befragen sollen, man dürfe keinen Dreck…

Und plötzlich erinnerte ich mich!

»Juri Semetzki der Jüngere!«, schrie ich heraus und fing vor Begeisterung an hin und her zu hüpfen. »Der Schweinezüchter vom Avalon!«

In der Hütte fiel etwas herunter und ging zu Bruch, leise begann ein Motor zu summen. Sämtliche Mädchen richteten ihre Armbrust auf mich. Ich schrie jedoch weiter: »Juri! Das sind Tikkirej und Lion! Sie erinnern sich doch an uns? Auf dem Kosmodrom! Erinnern Sie sich! Ich bin der Junge vom Kosmodrom!«

Aus der Hütte schoss schlingernd ein Rollstuhl. Ein glatzköpfiger Alter im Anzug mit Schlips und Kragen schaute mich an. In seiner linken Handfläche steckte ein kleiner Schraubenzieher und wackelte. Semetzki trug offensichtlich eine Handprothese, und mein Aufschrei hatte ihn von irgendeiner kleinen Reparatur oder Korrektur abgelenkt. Natascha folgte ihm, stellte sich hinter den Rollstuhl und richtete ebenfalls ihre Armbrust auf mich.

»Der Junge aus dem Kosmodrom?«, rief Semetzki erstaunt aus. »Bist du der, der mit dem…« Er unterbrach sich.

Sein jung gebliebener lebhafter Blick musterte mich aufmerksam. Dann schaute Semetzki auf Lion.

»Wohin verschleppen Sie dieses Kind!«, rief ich ihm in Erinnerung. »Na? Erkennen Sie mich?«

»Herr im Himmel!«, krächzte der Unternehmer. »Mädchen, nehmt sofort die Waffen runter! Das sind Freunde!«

Ich weiß nicht, warum, vielleicht vor Überraschung, aber mir stiegen Tränen in die Augen. Ich warf mich auf Semetzki, drückte mein Gesicht an seine eingefallene Brust und begann zu heulen. Die brillantenbesetzte Krawattennadel stach mir schmerzhaft in die Wange, aber das störte mich nicht. Semetzki duftete nach teurem Eau de Cologne, Rauch und Maschinenöl. Die trockene Greisenhand streichelte mir zärtlich über den Kopf.

»Also, Mädchen…«, regte sich Semetzki auf, als ob er nicht selbst vor kurzem noch gefordert hätte, uns am Tatort zu verhören. »Wie konntet ihr nur?«

»Opa… Wir…« Nataschas Stimme erkannte ich mit Mühe und Not wieder, so schuldbewusst klang sie.

»Ei-jei-jei!«, fuhr Semetzki vorwurfsvoll fort. »Und mich trifft es, ich habe euch erzogen, euch minderjährige Amazonen… Weine nur, weine dich nur aus!«, sagte er zu mir gewandt. »Wegen dieser Tunichtgute kommen auch mir oft die Tränen.«

Als ich die Erlaubnis zum Weinen erhielt, war mir gleich nicht mehr danach. Ich fing an mich zu schämen, stand auf und schaute mich um. Kein einziges Mädchen lachte und alle sahen beschämt aus.

Besonders Natascha.

Semetzki gab dessen ungeachtet seine Befehle. »Erster Zug: Lagerfeuer und Abendbrot. Zweiter Zug: Aufklärung, Überwachung des Funkverkehrs. Dritter: Freizeit. Die Sanitäter säubern die Wunden der Jungs. Natascha, ich erwarte dich in fünfzehn Minuten mit einem vollständigen Bericht.«

Er nickte uns ermutigend zu und fuhr in seine Hütte zurück. Wir kamen gar nicht zur Besinnung, als sich schon zwei Mädchen um uns kümmerten. Jetzt lehnten wir ihre Hilfe nicht ab.

Der Verband brannte, als er auf unseren Kratzern und Schürfwunden trocknete. Wir wurden gegen Wundstarrkrampf geimpft, Lion bekam fast neue Sportschuhe und Socken — alles ziemlich grell, mädchenhaft, aber er zog sie trotzdem an.

Natascha war vor Ärger ganz rot. Sie dachte an die Abreibung, die sie erwartete.

»Natascha, wir sind dir überhaupt nicht böse«, sagte ich. Jetzt, nachdem sich alles zum Guten gewendet hatte, wollte ich großmütig sein, ganz wie ein Romanheld. »Es ist völlig klar, dass wir verdächtig gewirkt haben.«

Das Mädchen nickte und warf einen Blick auf die Hütte Semetzkis.

»Sie kriegt trotzdem gehörig was vom Opa ab«, erklärte eine Sanitäterin mitleidig und desinfizierte mir einen Kratzer mit einem antibakteriellen Tupfer. »Er ist jetzt sehr streng zu ihr.«

»Warum?«

»Damit niemand denkt, dass er seine Enkelin bevorzugen und verwöhnen würde. In Wirklichkeit ist es seine Urenkelin, aber er nennt sie Enkelin.«

Ich ahnte, dass es um Nataschas Sache ziemlich schlecht stand. Es hatte sicherlich keinen Sinn, sich einzumischen, Semetzki würde nur noch strenger sein.

»Ich bin froh, dass ihr keine Spione seid«, fuhr die Sanitäterin fort. Sie war hübsch, aber dünn wie alle anderen auch. »Einmal haben wir richtige Spione gefangen.«

»Na und?«, fragte ich.

»Wir haben sie verhört und danach erschossen«, erwiderte das Mädchen angespannt. »Wir hätten sie doch nicht freilassen können!« Es wäre mir unangenehm gewesen, Semetzki anzulügen, das war aber gar nicht nötig. Als wir in seine Hütte gingen und uns auf die Matten vor dem Rollstuhl setzten, packte der Viehzüchter sofort den Stier bei den Hörnern.

»Erstens: Ihr müsst mir nichts erzählen. Ist das klar?« Er beehrte uns mit einem Blick. »Ich verstehe die Situation… Und überhaupt…«

Semetzki zwinkerte uns plötzlich zu. »Mir war schon auf dem Kosmodrom alles klar. Ein Phag hätte niemals gewöhnliche Jungs gerettet. Dass die Phagen schon als Kinder tätig sind, weiß auf dem Avalon jeder. Also, meine Brigade steht zu eurer vollen Verfügung.«

So ein Pech!

Semetzki hielt uns für junge Phagen.

Aber welche anderen Schlüsse hätte er sonst ziehen sollen?

»Wir müssen in die Hauptstadt kommen«, erklärte ich. »Helfen Sie uns dabei?«

»Ja.« Semetzki nickte. »Natascha, ist der Jetski einsatzbereit?«

»Wird aufgeladen«, antwortete seine Enkelin knapp. Sie stand hinter Semetzki und stocherte konzentriert mit einem Tester im aufgeklappten Bedienpult des Rollstuhls herum. »Opa, hast du wieder online gearbeitet?«

»Psst!« Semetzki zwinkerte uns zu. »Keine Angst, ich bin kein Psychopath! Aber einige Berechnungen kann man leichter in zehn Minuten Direktanschluss an die Maschine machen. Also Natascha, wann wird der Jetski aufgeladen sein?«

»Am Morgen.« Natascha schüttelte den Kopf, als ob sie erneut die nicht existenten Haare vom Gesicht wedeln wollte. Aus den Augenwinkeln schaute sie mich an.

»Ist euch das recht?«, wollte Semetzki wissen.

»Ja… Ja, das passt«, murmelte ich. Das war’s dann wohl mit der Abenteuerwoche im Wald… Aber daran war nichts zu ändern.

»Gibt es Befehle für uns?«, fragte Semetzki sachlich. Es machte ihm überhaupt nichts aus, dass er Jungs nach Befehlen fragte.

»Können Sie uns darüber berichten, was das hier für eine Brigade ist?«, fragte Lion.

»Eine gute Brigade.« Semetzki lächelte zärtlich. »Das Hip- Hop-Ensemble ›Lustige Tollkirschen‹.«

»Opa!« Natascha war peinlich berührt.

»Diese Jungs haben das Recht, alles zu erfahren«, schnitt ihr Semetzki das Wort ab. »Ich kam ursprünglich nach Neu- Kuweit, um meine Enkelin anzufeuern. Sie ist Solistin im Ensemble… Sie war es. Hier fand ein interplanetares Festival statt, und ich bin der Sponsor der ›Lustigen Tollkirschen‹«, krächzte er. »Na ja, offen gesagt, der kommerzielle Direktor, der Besitzer. Wir wollten gerade abfliegen, als alles begann. Gott sei Dank ist keinem Mädchen etwas passiert, das Zeug wirkte nicht auf sie. Nach der Begegnung mit euch begann ich nachzudenken… Und als mir klar wurde, dass wir es nicht schaffen würden, den Planeten zu verlassen, brachte ich meine Mädchen in Sicherheit. Wir hätten sofort starten und nicht das Raumschiff voll stopfen sollen!« Er schlug mit der Faust kräftig auf die Armlehne des Rollstuhls.

»Das hatte ich dir auch gesagt«, warf Natascha schnell ein.

»Tja, so sind wir also mit den ›Lustigen Tollkirschen‹ in die Berge gegangen…«

»Opa!«

»Ist ja schon gut. Jetzt ist es die Sonderbrigade des Imperiums ›Die Schrecklichen‹. Nach den Vorschriften des Gesetzes über den Ausnahmezustand habe ich als ehemaliger Offizier des Sicherheitsdienstes das Recht, beliebige Bürger des Imperiums zur Erfüllung von Spezialaufgaben zu verpflichten.«

»Sie haben im SD gedient?« Lion war begeistert.

»Vor langer Zeit.« Semetzki nickte. »Aber altes Eisen rostet nicht. Bei uns, mein Freund, geht man nicht in Rente.«

»Also habt ihr früher Hip-Hop getanzt?«, wandte ich mich an Natascha. »Und jetzt seid ihr Partisanen?«

»Was erstaunt dich daran so sehr?«, erwiderte Semetzki an ihrer Stelle. »Weißt du, welchen Belastungen die Mädchen im Ensemble ausgesetzt sind? Das ist anstrengender als Grundwehrdienst.«

»Versuch doch mal eine dreifache Drehung auf einer Hand zu machen…«, murmelte Natascha und wurde rot.

Ich rief mir in Erinnerung, wie problemlos die Mädchen mit der Armbrust zurechtkamen und sich im Wald bewegten. Tja, das war kein schlechtes Ensemble!

»Außerdem haben alle Mädchen eine Ausbildung in Selbstverteidigung«, fuhr Semetzki fort. »Das ist gut für Atmung und Reaktionsschnelligkeit. Ich will nicht übertreiben, aber im Einzelkampf kann Natascha einen beliebigen erwachsenen Mann auf den Boden werfen. Natürlich nur, wenn er keine Spezialausbildung hat.«

»Und was haben sie bereits erreicht?«, hakte ich nach.

Semetzki und Natascha schauten sich an. Der Schweinebaron nickte und Natascha begann:

»Vernichtet wurden circa siebzig Mann der Streitkräfte des Feindes. Außer Gefecht gesetzt wurden drei Kampfwagen der Infanterie, ein schwerer Panzer, zwei Aufklärungsskooter, vier automatische Sonden. In die Luft gesprengt wurden zwei militärische Vorratslager, sieben Kilometer eingleisiger Strecke, zwei Bergtunnel mit einer Gesamtlänge von neunundsechzig Metern sowie eine einhundertundachtzig Meter lange Brücke. Verteilt wurden circa vierzigtausend Flugblätter, dreimal gelang uns mit unserer Sendung ›Neues vom Widerstand‹ ein Eindringen in das gesamtplanetare Informationsnetz. Versandt wurden mehr als dreihundert Millionen E-Mails, in der die Bevölkerung zum Widerstand aufgerufen wird. Mehr als vierzig Witze, welche die Armee und die herrschende Schicht des Inej bloßstellen, wurden ausgedacht und verbreitet.«

Lion und ich begannen zu lachen, Semetzki schaute uns daraufhin vorwurfsvoll an.

»Das ist falsch, Jungs! Zehn Witze, die zur rechten Zeit erzählt werden, können dem System mehr Schaden zufügen als ein Atomsprengkopf! Wie man so sagt: Steter Tropfen…«

»Gesammelt wurde eine bedeutende Menge an Nachrichtenmaterial«, fuhr Natascha fort. »Mit der Bevölkerung wird Aufklärungsarbeit durchgeführt. Wir planen…«, sie zögerte, »eine Einschüchterungsaktion in besonders großem Maßstab. War’s das, Opa?«

»Der Raketenschlag«, erinnerte Semetzki. »Und über die Abteilung an sich.«

»Auf die Hauptstadt wurde eine Rakete abgefeuert, aber die Folgen sind unbekannt.« Natascha bedauerte das offensichtlich. »Als wir ein Vorratslager der Armee eroberten, fanden wir dort ›Samum‹-Raketen… Wir haben keine Verluste an Kämpfern, jedoch Kranke und Leichtverletzte, die Stimmung ist gut, wir sind bereit, unseren Dienst für das Imperium weiterzuführen.«

»Prächtige Mädchen habe ich«, bekundete Semetzki stolz. »Früher hatte ich eine Enkelin, und jetzt — fünfunddreißig.«

»Sagen Sie bitte, was geht eigentlich auf dem Planeten vor?«, fragte ich. »Im Imperium weiß man kaum etwas über die Ereignisse.«

Semetzki holte tief Luft. »Wir verfolgen die Nachrichten… wissen also Bescheid. Es steht schlecht um den Planeten, Jungs. Unserer Meinung nach wurde die Bevölkerung einer Gehirnwäsche über die Neuroshunts unterzogen. Stimmt das?«

Ich nickte.

»Die Grundlagen dafür sind als Trojaner mit den auf Inej produzierten Programmen eingedrungen, der Neuroshunt diente als Detonator?«

Ich nickte erneut.

»Das ist schlimm.« Semetzki atmete ein. »Die Situation stellt sich folgendermaßen dar: Die Gehirnwäsche erfasste 85 bis 90 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Unter Erwachsenen verstehe ich alle Menschen, die älter als zehn Jahre sind, obwohl die Kleinen ebenfalls teilweise infiziert wurden. Diese Schweinehunde haben ihre Programme auch in Trickfilmen versteckt! Sogar in Lehrprogrammen für kleine Kinder. Retten konnten sich nur jene, die selten Unterhaltungssendungen oder populärwissenschaftliche Beiträge schauten. Leute, die an anderen Dingen interessiert waren, begeisterte Touristen, Sektenmitglieder, Workaholics, Naturliebhaber der Liga ›Zurück zur Natur‹. Aber auch sie konnten sich nicht lange halten. Erstens: Was kann man gegen die allgemeine Liebe zum Inej setzen? Gegen Mütter und Väter, Ehemänner und Ehefrauen, Kinder, Freunde, alle, die dich davon überzeugen, dass die Unterwerfung unter Inej der Sinn unserer Existenz sei? Zweitens: Es gibt so etwas wie Psychoinduktion. Wisst ihr, was das ist? Wenn ein gesunder Mensch in die Gesellschaft ausschließlich psychisch Kranker gebracht wird, dann wird er glauben, dass diese im Recht seien. Bedingung dabei ist, dass der Unsinn folgerichtig erscheint und von geachteten Leuten ausgeht. In ein paar Monaten wird die gesamte Bevölkerung von Neu-Kuweit Inej und dem Präsidenten ergeben sein.«

»Ist der Präsident eine Frau?«, wollte ich wissen.

Semetzki nickte. »Ja. Inna Snow.«

Unwillkürlich musste ich lächeln.

»Ein viel sagender Name« stimmte Semetzki zu. »Aber die Dame… Oho, die ist nicht unkompliziert…«

»Und wie sieht sie aus?«, fragte ich nach.

Semetzki fasste in seine Jackentasche und holte ein Blatt Papier heraus. Man konnte erkennen, dass es aus einer guten Zeitschrift herausgerissen war, das Foto war nämlich dreidimensional…

Es zeigte eine mittelgroße Frau in weiter, weißer Kleidung inmitten fröhlich lächelnder Menschen: Militärs in Uniform, Zivilisten in Anzügen, Kosmonauten in Raumanzügen… An der einen Hand hielt die Frau einen kleinen Jungen in einem grellen Anzug, die andere legte sie einem Invaliden im Rollstuhl auf die Schulter. Aus den Augenwinkeln schaute ich auf den Rollstuhl Semetzkis — seiner war besser.

Das Gesicht der Frau war jedoch von einem dichten, weißen Schleier bedeckt.

»Was, hat niemand ihr Gesicht gesehen?« Ich wunderte mich.

Semetzki nickte schweigend.

»Vielleicht ist sie eine Fremde!«, rief ich. »Eine stinkende Tzygu im Raumanzug! Oder irgendwer anders!«

»Das interessiert niemanden!«, erwiderte Semetzki. »Alle, die eine Gehirnwäsche erhalten haben, glauben daran, dass sie eine nette, gute und kluge Frau mittleren Alters ist. Siehst du, sie beäugen sie, wie die Hammel ein neues Tor.«

»Schwachköpfe«, meinte ich. Ein unklares Gefühl drängte mich, zu Lion zu blicken.

Lion war in das Foto versunken und lächelte verzückt, fast wie die Menschen um die Präsidentin Inna Snow herum.

Ich zerknüllte das Blatt und gab es Semetzki zurück. Lion erbebte und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.

»So sieht es also auf dem Planeten aus«, meinte der Unternehmer. »Warum lasst ihr euch so viel Zeit?«

»Wir treffen keine Entscheidungen«, antwortete ich. »Wir haben unsere eigene Aufgabe…«

»Ich verstehe.« Semetzki holte Luft. »Jedem Töpfchen sein Deckelchen… In Ordnung, Jungs. Ihr habt uns Mut gemacht, das könnt ihr glauben. Allein durch die Tatsache, dass ihr hier seid… Erholt euch, macht es euch gemütlich. Und morgen früh bringen wir euch in die Hauptstadt.«

»Opa, ich fahre den Jetski«, sagte Natascha bestimmt.

Semetzki atmete tief ein.

Diskutierte jedoch nicht. Abends saßen wir am Lagerfeuer. Alle außer Semetzki: Er schaute in seiner Hütte Fernsehen.

Entweder suchte er wirklich irgendeine Information im Propagandastrom des Inej oder er wollte die Mädchen nicht stören.

Die mutigen Kämpfer der Sonderbrigade des Imperiums Die Schrecklichen lauschten unseren Erzählungen über den Avalon. Sie kamen ja alle von dort. Einige Mädchen hatten schon feuchte Augen, aber noch heulte niemand.

»Es ist neuer Weihnachtsschmuck auf dem Markt«, berichtete Lion und wedelte mit den Händen. »Polimorph, er ändert nicht nur die Farbe, sondern auch die Form. Der Weihnachtsbaum ist mal mit Kugeln, mal mit Glocken und mal mit Leuchten geschmückt. Und zu Silvester gab es die ganze Nacht lang über Camelot eine Lasershow…«

Unfassbar! Lion war zu Silvester noch gar nicht normal. Trotzdem erinnerte er sich an alles. Zuerst saßen wir zu zweit, dann kam Stasj, danach Rosi und Rossi… wir fuhren nach Camelot…

Ich dachte an meine avalonischen Freunde und wurde traurig. Die dichte Matte aus Zweigen, die an Stricken über dem Lagerfeuer hing, warf das Licht auf die Gesichter der Mädchen zurück. Rötliche Schatten zuckten, der Qualm umtanzte die Matte und ging als Ring zum Himmel.

Eine kleine Partisanin, die begeistert auf Lion schaute, sank in sich zusammen und legte ihren Kopf auf die Knie der Freundin, um zu träumen.

Leise stand ich auf und entfernte mich vom Lagerfeuer. Ich schaute in die Hütte Semetzkis, aber der Alte hatte den Fernsehbildschirm vor die Augen geklappt und schaute konzentriert, wobei er ab und zu schmatzende Geräusche von sich gab.

Ich lief durchs Gebüsch und achtete darauf, nicht den Baumkronenschutz zu verlassen. Am Waldrand hielt ich inne. In der Ferne sah man dunkel die Charitonow-Kette, auf dem höchsten Berg blinkte ab und zu ein rotes Licht.

»Dort sind eine meteorologische Station und der Ersatzfernsehturm von Agrabad«, sagte jemand neben mir.

Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Mit Mühe und Not erkannte ich in der Dunkelheit Natascha. Sie saß da, hatte ihre Knie zum Kinn gezogen und beobachtete die Berge.

»Was machst du denn hier?« Vor Schreck wurde ich grob.

Aber Natascha antwortete friedlich: »Ich schaue auf die Berge. Das sind schöne Berge. Aber sie sind tückisch. Kalt und steil.«

Ich setzte mich neben sie und fragte: »Hast du keine Angst zu kämpfen?«

»Ich habe Angst«, antwortete Natascha ehrlich. »Fast alle haben Angst. Diana nicht, sie ist irgendwie gefühllos. Kira und Myrta behaupten ebenfalls, dass sie vor nichts Angst hätten. Aber ich glaube, dass sie lügen.«

»Du hast einen tapferen Großvater«, meinte ich.

»Ja. Und einen klugen. Er hat sich ausführlich mit uns unterhalten, bevor wir uns dazu entschieden, Partisanen zu werden. Über Inej… und überhaupt.«

»Und hat euch überzeugt.«

»Er hat uns überzeugt. Er erklärte uns, dass die größte Freiheit schon immer innerhalb des Menschen lag. In der Seele. Sogar die schlimmsten Tyrannen konnten die Menschen nicht daran hindern, auf eigene Art und Weise zu denken. Aber Inej versucht genau das, und deshalb ist es egal, ob wir getötet oder in Zombies verwandelt werden. Wir würden nicht mehr wir selbst sein können.«

»Ja«, erwiderte ich. Obwohl ich dachte: Wenn ein Mensch sein Leben im Gefängnis verbringen muss, ist das sicherlich viel schlimmer. Die Zombies verstehen wenigstens nicht mehr, dass ihnen die Freiheit genommen wurde.

»Ist es schwer, ein Phag zu sein?«, fragte Natascha plötzlich.

»Was? Na ja… Je nachdem.«

»Stimmt es, dass ihr vor nichts Angst habt?«

Ich wollte bekennen, dass ich überhaupt kein Phag war, aber das war unmöglich.

»Auch Phagen haben Angst«, sagte ich deshalb. »Besonders um andere.«

Natascha nickte kaum merklich in der Dunkelheit.

»Tikkirej…«

»Was?«

»Weißt du, ich glaube, dass wir alle sterben werden«, sagte sie. »Wir können uns doch nicht die ganze Zeit verstecken… Man braucht nur eine Rakete auf uns zu richten — und das war’s.«

»Ihr versteckt euch doch.«

»Sie werden uns trotzdem finden. Wir treffen natürlich alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen… Wir machen jetzt nur ein Lagerfeuer, weil wir auf dem Gipfel des Hügels sind. Das sind nämlich Hügel mit Geysiren, hier gibt es viele heiße Quellen. Aber früher oder später wird man uns finden. Falls das Imperium nicht eingreift.«

Ich schwieg.

Ich konnte nichts dazu sagen, ich wusste nicht, wann es Krieg mit Inej geben würde.

»Tikkirej… küss mich!«, bat Natascha plötzlich.

Mir blieb die Luft weg.

»Ich habe noch nie geküsst«, eröffnete mir Natascha. »Weißt du, es wäre doch schade, wenn wir getötet werden, und ich hätte noch niemanden geküsst. Wirst du mich küssen?«

»Äh…«

»Gefalle ich dir nicht?«

»Du gefällst mir«, beruhigte ich sie, obwohl an Natascha nichts Besonderes war.

»Dann küss mich! Nur ein einziges Mal!« Und Natascha wandte sich mir zu.

Den Phagen wird vielleicht beigebracht, wie man küsst, aber ich war ahnungslos, denn ich hatte ja bisher auch noch niemanden so richtig geküsst! Ich empfand das Bedürfnis, aufzuspringen und wegzulaufen, schämte mich aber, als feige zu erscheinen. Dann bemerkte ich, dass Natascha die Augen geschlossen hatte und wurde etwas mutiger.

Letztendlich zwingt mich ja niemand dazu, sie zu heiraten!, dachte ich beherzt.

Vorsichtig berührte ich mit meinen Lippen ihren Mund. Es war gar nichts Außergewöhnliches… Nur mein Herz begann schneller zu schlagen.

»War das schon alles?«, flüsterte Natascha.

»Ja…«

»Danke«, sagte Natascha unsicher.

Und da schien mich etwas anzustoßen. Ich wandte mich zu ihr und küsste sie erneut. Eigentlich genau so, aber es war wie ein Stromschlag. Natascha fühlte sicherlich ebenso und schrie leise auf.

Ich sprang auf und lief zum Lagerfeuer. Einige Schritte vom Lichtkreis entfernt blieb ich stehen: Im Prinzip saßen alle noch genau so da und hörten den Erzählungen Lions zu. Hinter meinem Rücken raschelten Zweige — auch Natascha war geflohen, aber nicht ans Lagerfeuer, sondern in die Hütte zum Opa. Mit klopfendem Herzen setzte ich mich wieder ans Feuer. Niemand beachtete mich. Es gab ja genug Gründe, für kurze Zeit das Lagerfeuer zu verlassen.

Kapitel 3

Unter den Kuppeln auf Karijer gab es auch einen Fluss. Er floss allerdings im Kreis und das Wasser wurde gefiltert. Auf dem Avalon und Neu-Kuweit gab es echte Flüsse, ich hatte mich schon daran gewöhnt und sie gefielen mir entschieden besser.

Der Gebirgsfluss, den wir nun hinunterfuhren, erwies sich als etwas ganz Besonderes.

Wir verließen das Lager noch im Dunkeln, um vier Uhr morgens. Ich, Lion und Natascha mit zwei Freundinnen. Semetzki verabschiedete sich von uns im Lager, umarmte uns und gab uns folgende Worte mit auf die Reise:

»Einen Vogel erkennt man am Flug, ein Pferd am Trab, einen Menschen an seinen Taten. Ich wünsche euch Glück!«

Nach rund vierzig Minuten waren wir bereits am Fluss, der sich zwischen den Hügeln entlangschlängelte. Die Strömung war hier nicht so stark wie oben in den Bergen, aber der Fluss brodelte und schäumte über die Felsbrocken. Eine Stromschnelle folgte der anderen, durch das absolut saubere Wasser konnte man den steinigen Grund erkennen. Es war unmöglich, hier mit einem Boot hinunterzufahren, aber am Ufer, in den Felsen versteckt, stand ein kleiner Jetski. Er ist für eine Person ausgelegt, für einen Erwachsenen.

»Setzt euch auf den Sitz«, kommandierte Natascha, als wir den Jetski ins Wasser schoben. Lion und ich setzten uns hintereinander, sie stellte sich vor uns an den Lenker. Sie winkte den Mädchen zu, die nur mit uns gekommen waren, um uns zu verabschieden. Nataschas Freundinnen machten besorgte Gesichter. Es war anscheinend nicht so einfach, den Fluss hinunterzufahren.

»Haltet euch gut fest!«, riet uns Natascha. »Wenn ihr runterfallt, ist alles aus.«

»Kann man sich hier nicht anschnallen?«, fragte Lion.

»Sag mal, bist du vom Mond gefallen? Wenn der Jetski umkippt und du bist angeschnallt, wirst du über den Grund geschleift!«

»Rettungswesten?«, fragte Lion.

»Haben wir nicht. Das Wasser ist sowieso eisig, du bekommst sofort einen Krampf. Also haltet euch fest!«

Natascha stand angespannt da und lockerte ihre Hände an den Hebeln. Sie bereitete sich vor.

Mir wurde mulmig.

»Los geht’s!«, schrie Natascha schallend. Mir fiel auf, wie angespannt ihr Rücken war, die Schulterblätter zeichneten sich unter dem dünnen Pullover ab. Natascha beugte sich etwas nach vorn, hinten senkten sich die Motordüsen ins Wasser und der Jetski sprang nach vorn.

Das war eine Fahrt! So etwas hatte ich bisher nur im Kino gesehen.

Das Gefährt raste mit der Strömung nach unten, zeitweise ragten die Düsen aus dem Wasser und der Lärm der Wasserstrahltriebwerke wurde unerträglich. Natascha neigte sich geschmeidig nach rechts und nach links und folgte den Bewegungen des Jetskis. Uns war klar, dass wir es genauso machen müssten. Aber es war sehr schwer, den Wunsch zu unterdrücken, so weit wie möglich dem Wasser fernzubleiben, statt fast die brüllenden Wellen zu berühren, unter denen spitze Steine zu erahnen waren! Und das alles im unsicheren Halbdunkel der Morgendämmerung!

»Sprung!«, schrie Natascha. Und wir flogen unter dem betäubenden Jaulen der aufgedrehten Motoren durch die Luft, um eine der vielen Stromschnellen zu überwinden. »Entspannt euch!«

Ich hätte mich gerne umgewandt und geschaut, ob die Mädchen noch am Ufer zu sehen waren, ob sie uns zuwinkten. Aber es war Angst einflößend, den Kopf dem vorbeirauschenden Ufer zuzuwenden. Ich sah nur auf Nataschas Rücken, fühlte, wie angespannt Lion hinter mir saß und wie Eiswasserspritzer und der Wind mir kräftig ins Gesicht schlugen.

Ich wusste nicht, wie lange diese verrückte Flussfahrt andauerte. Langsam begann sich die Gegend zu verändern. Eine Ebene ersetzte Felsen und Hügel, die aus dem Wasser ragenden Felsbrocken verschwanden, Stromschnellen wurden immer seltener. Der Fluss verbreiterte sich, die Strömung wurde ruhiger.

»Geschafft, wir werden es überleben!«, schrie Natascha. Sie war nass von Kopf bis Fuß. Uns hatte es auch getroffen, aber weniger.

»Wirst du dich nicht erkälten?«, schrie ich.

»Was?«, sie verringerte etwas die Geschwindigkeit, das Heulen ging in ein Pfeifen über, und es war einfacher, sich zu unterhalten.

»Wirst du dich nicht erkälten?«

»Das werde ich!«, stimmte mir Natascha unbeschwert zu. »Aber es ist nicht so schlimm, Opa macht mich wieder gesund. Tikkirej, bist du uns nicht böse?«

»Weswegen?«, fragte ich, obwohl ich es mir denken konnte.

»Dass wir euch verhaftet hatten«, erwiderte Natascha und begann zu lachen. Sie drehte sich sogar kurz zu mir um und zwinkerte mir zu.

Ich hasse Mädchen! Warum sind sie nur so ekelhaft?

»Das macht nichts, ein Pferd hat vier Beine und stolpert trotzdem«, erwiderte ich.

»Oh, das ist wirklich nicht nötig!«, kreischte Natascha. »Das sind die Sprichwörter meines Großvaters, ich habe mich vielleicht erschrocken!«

Sie fuhr den Jetski näher zum Ufer und wir drosselten die Geschwindigkeit.

»Dauert es noch lange?«, wollte ich wissen.

»Zu Fuß mehr als eine Stunde«, antwortete Natascha. »Tikkirej, lass mich auf deinem Schoß sitzen.«

Ich wusste nicht, warum, stellte aber die Knie auf.

Sie setzte sich sofort darauf, vergaß jedoch nicht zu giften: »Glaub nicht, dass du mir so gut gefällst. Es fällt nur schwer, die ganze Zeit zu stehen.«

»Pass nur auf, wohin du lenkst!«, meldete sich Lion aufgeregt hinter meinem Rücken.

»Da will wohl das Küken die Henne lehren?!«

Langsam wurde es hell. Die Sonne war noch nicht hinter dem Horizont aufgegangen, aber der Himmel im Osten wurde rosa, die dünnen Federwolken weiß. Ein grelles Licht zerschnitt den Himmel — eine große Raumstation auf niedriger Umlaufbahn wurde von den Strahlen der aufgehenden Sonne getroffen.

»Kann man uns nicht orten?«, fragte ich.

»Das gefährlichste Stück haben wir bereits durchquert«, erwiderte Natascha. »Hier fahren schon viele Boote, ich glaube nicht, dass wir verdächtigt werden…«

»Fährst du mit dem Jetski zurück?«

Natascha schüttelte den Kopf:

»Nein. Das Benzin reicht nicht, und tagsüber ist es zu auffällig. Ich bleibe ein paar Tage hier… An einem bestimmten Platz. Wir haben geheime Wohnungen.«

Wo und bei wem sie bleiben würde, sagte Natascha nicht. Und ich fragte auch nicht danach. Das war richtig so, wenn ich gefasst würde, konnte ich nichts verraten.

Wir fuhren an Feldern vorbei. Langsam drehten sich die Sprinkler der Beregnungsanlagen und bewässerten die niedrigen Sträucher mit Regenbogentropfen. Es waren keine Menschen zu sehen, alles lief automatisch.

»Was wird hier angebaut?«, fragte Lion über meine Schulter.

»Tomaten«, erwiderte Natascha kurz angebunden.

»Ich mag Tomaten«, teilte Lion mit.

»Schön für dich! Wir mussten uns hier einmal zwei Tage lang verstecken… Das hat mir fürs ganze Leben gereicht. Weißt du, wie ekelhaft Tomatensträucher in der Hitze stinken?«

Ich erinnerte mich daran, wie ich in meiner Kindheit, in der ersten Klasse, die Lehrerin zum Lachen brachte. Ich sprach über eine Nahrungsmittelfabrik und machte den Fehler, zu sagen, dass dort Milch, Tomaten und Eier produziert würden… Was haben alle gelacht. Tomaten hat man noch nie industriell hergestellt, es ist einfacher, sie anzubauen.

Es war schon richtig hell, als wir an einer kleinen Siedlung vorbeikamen. Auf den Straßen bemerkte ich einige Fußgänger, uns schienen sie nicht zu beachten.

»Wir gehen gleich an Land«, teilte uns Natascha mit. »Die Straße verläuft hier nahe am Fluss… Ich setze euch ab und ihr fahrt per Anhalten Die Straße führt am Kosmodrom vorbei direkt nach Agrabad.«

Lion und ich schauten uns an. Das hieß ja, dass wir am Motel vorbeifuhren! Lion sagte nichts, aber ich wusste sofort, woran er dachte.

Vielleicht sind seine Eltern noch dort?

»Wird uns der Fahrer nicht verdächtigen?«, wollte ich wissen.

»Nein, eigentlich nicht.«, sagte Natascha nachdenklich. »Sagt, dass ihr aus Mendel kommt. Das ist die Siedlung, an der wir vorbeigefahren sind. Dort sind Konservenfabriken. Sagt, dass eure Eltern in der Fabrik arbeiten und ihr… Na, euch wird schon was einfallen. Ihr könntet zu Verwandten nach Agrabad wollen.«

Der Jetski näherte sich gemächlich dem Ufer. Natascha fuhr ihn mit der Spitze auf eine Sandbank und erhob sich von meinen Knien. Wir schauten uns unsicher an.

»Komm… gib mir deine Hand«, sagte ich.

Ihre Handfläche war eiskalt. Sie wird sich ganz bestimmt erkälten.

»Übermittle deinem Großvater unseren Dank!«, schrie Lion und sprang ans Ufer. »Er ist großartig! Tikkirej, bummle nicht herum!«

»Tschüss«, sagte ich zu Natascha. »Lass dich nicht erwischen!«

»Ich passe auf«, versprach sie.

Ich sprang hinter Lion her, erreichte jedoch nicht das Ufer und machte mir die Füße nass. Lion lachte schadenfroh. Natascha zündete die Ersatztriebwerke und der Jetski kroch langsam von der Sandbank. Eine Sekunde lang schaute sie zu uns, beugte sich vor, dann legte sie sich in die Kurve und der Jetski flog wie der Blitz zur Mitte des Flusses.

»Schnittig!«, begeisterte sich Lion. »Und du hast dich in sie verliebt, stimmt’s?«

Ich hätte es ihm beinahe übel genommen, überlegte es mir jedoch anders und sagte nur: »Idiot. Sie hat immerhin ihr Leben riskiert, um uns hierherzubringen. Weil sie glaubt, dass wir Phagen sind.«

»In gewissem Sinne sind wir das ja auch«, sagte Lion nachdenklich. »Wenn auch keine ganz echten, aber trotzdem… Okay, sei nicht eingeschnappt!«

Ich war aber gar nicht beleidigt. Ich überlegte eher, ob wir nicht dafür beten sollten, dass Natascha nichts passierte. Dann erinnerte ich mich daran, wie ich gebetet hatte, dass meine Eltern nicht gehen mussten.

Und ich verwarf diese Idee. Im Fahrerhaus des Lasters duftete es nach frischem Brot. Als Fracht transportierte der Laster Bretterstapel, aber das Brot lag beim Fahrer in der Kabine auf einem langen, bankähnlichen Sitz. Zwei große Laibe mit fester, brauner Kruste und weichem Inneren…

»Greift zu, Jungs, greift zu!«, forderte uns der Fahrer gutmütig auf. »Versteht man es etwa in der Stadt, Brot zu backen? Vor hundert Jahren trat ein Programm zur Sicherstellung der Versorgung in Kraft und das Volk ist satt, aber Brot braucht eine Seele!«

Wir hatten keine Schwierigkeiten gehabt, ein Auto anzuhalten. Der erste LKW — fast so groß wie ein Raumschiff der Phagen, hielt neben uns, als wir am Straßenrand standen und trampten. Ein schwarzhaariger, dunkelhäutiger Fahrer schaute lächelnd heraus und winkte uns zu. »Steigt ein!«

»Onkel Dima, kann man etwa kein Brot in der Mikrowelle zu Hause backen?«, wollte Lion wissen. Es gelang ihm gut, den Dialekt des Fahrers zu imitieren.

»Na hör mal, mein Junge!« Der Fahrer lachte. »Brot gelingt nur im Backofen. Es muss mit den Händen geknetet, der Ofen muss mit Holz geheizt werden! Und du kommst mir mit Mikrowelle, Ultraschall, Elektronen, Positronen… Hier ist Milch, kostet die Milch!«

Lion nahm bereitwillig eine verdächtig aussehende Plastikflasche für Limonade entgegen. In der Flasche war Milch.

»Vorsichtig!«, meinte der Fahrer vergnügt. »Das ist frische Milch. Aus dem Kühlbehälter. Wenn ich synthetische trinke, selbst wenn es die teuerste und qualitativ beste ist, tut mir der Magen weh. Das überstehe ich nicht.«

Er fing wieder an zu lachen.

Ich nahm einen Schluck Milch, nachdem ich sicherheitshalber mit meinem Ärmel den Flaschenhals abgerieben hatte. Nicht etwa, weil ich mich vor Lion ekelte, sondern weil die Flasche an sich einen schmuddeligen Eindruck machte.

Die Milch schmeckte himmlisch! Erstaunlich gut, dickflüssig und irgendwie… irgendwie wie etwas längst Verschollenes, aber im Traum Präsentes.

»Na also!«, rief der Fahrer aus. »Habt ihr den Unterschied geschmeckt? Die ist nicht aus Erdöl und Sägespänen, die ist von der Kuh.«

Ich schluckte erschrocken, aber erstaunlicherweise ekelte ich mich nicht. Es klappte sowieso alles gut. Wir hatten uns umsonst verrückt gemacht, die Menschen auf Neu-Kuweit waren völlig normal, kein bisschen schlechter als die auf dem Avalon. Oder gehörte der Fahrer vielleicht nicht zu den Zombies? Ich schaute aus den Augenwinkeln auf seine Stirn — sein Neuroshunt war moderner als meiner, ein ›Jamamoto- Profi‹ mit Funkaufsatz. Dann ist es unwahrscheinlich.

»In der Stadt setze ich euch schon am Stadtrand ab«, sagte der Fahrer entschuldigend. »Ich darf mit diesem Nilpferd von einem Auto nicht auf die Hauptstraßen, nur in die Fabrik und in die Garage.«

»Wir steigen noch vor der Stadt aus«, erwiderte Lion, »neben dem Motel, in der Nähe des Kosmodroms. Dort ist Papa… arbeitet mein Papa. Und die Milch hat hervorragend geschmeckt. Danke!«

Der Fahrer nickte und sagte unerwartet nachdrücklich: »Danke musst du nicht mir sagen, mein Junge!«

»Danke der Herrscherin!«, antwortete Lion sofort mit einer veränderten Stimme. »Aber Dank auch an Sie, Onkelchen.«

»Oje, sie haben das Imperium ganz nach unten gewirtschaftet«, seufzte der Fahrer. »Wir essen Synthetik, haben unseren Stolz verloren, wissen nichts mehr von der Liebe. Wenn es Inej nicht geben würde…«

Er veränderte sich kein bisschen bei diesen Worten. Er blieb derselbe gutmütige und noble Mensch, der gern fremde Jungs mitnahm und sie sogar noch mit seinem duftenden Brot und der guten Milch bewirtete. Aber in meinen Ohren schienen Alarmglocken zu läuten. Auch Lion sah konzentriert und unruhig aus.

»Was glauben Sie, Onkelchen, wird das Imperium gegen uns kämpfen?«, wollte Lion wissen.

Beim Fahrer traten die Backenmuskeln hervor.

»Es sieht ganz danach aus«, sagte er leicht dahin. »Macht ihr euch aber darüber keine Gedanken, Jungs. Ihr müsst lernen.«

»Wir lernen ja«, erwiderte Lion zustimmend. »Aber wir sorgen uns um die Herrscherin. Wenn es nötig ist, sind wir bereit zum Kampf!«

Der Fahrer hielt das Lenkrad mit einer Hand und streichelte Lion mit der anderen über den Kopf.

»Ach, ihr Jungs…«, sagte er mit trauriger Stimme. »Was denkt sich nur der Imperator? Warum lässt er uns nicht einfach in Ruhe leben? Habt ihr davon gehört? Von der Schießerei?«

»War das, als… eine Samum abgefeuert wurde?«, fragte ich frech, weil ich mich an den Bericht Semetzkis erinnerte.

Der Fahrer nickte: »Mit einer Samum… Das muss man sich mal vorstellen… Jedes Kind weiß das… Meine Tochter ist in diese Schule gegangen.«

Lions Augen sahen aus wie ein alter Neuroshunt — rund und groß. Ich erstarrte ebenfalls. Hatten etwa »Die Schrecklichen« so schlecht gezielt, dass sie eine Schule gesprengt hatten? Mit Kindern?

»Jetzt lernen sie zu Hause«, fuhr der Fahrer währenddessen fort. »Dank der Herrscherin, dass der Beschuss in der Nacht stattfand… Ist eure Schule nicht zerbombt worden?«

»Das ist sie«, erwiderte Lion überraschend.

Der Kraftfahrer nickte: »Zehn Schulen! Dass sie sich nicht schämen, diese Ungeheuer. Was wird es das nächste Mal sein? Ob sie vielleicht ein Krankenhaus in die Luft jagen oder das Vieh vergiften? Gestern kam eine Gesandtschaft an…«

Er verstummte.

»Ja und?«, wollte ich wissen. »Wir haben nichts davon gehört.«

Der Fahrer holte tief Luft: »Tja, was soll man dazu sagen… Während die Herrscherin mit dem Botschafter verhandelte, gingen seine Bodyguards in die Stadt. Und dort wurde einer gefasst, wie er Bakterien ins Trinkwasserreservoir schüttete!«

»Was?«, wunderte ich mich.

»Ein Anschlag wurde vorbereitet, mein Junge!« Das Gesicht der Fahrers war erneut angespannt. »Dieser Mörder, der Attentäter, war ein Phag und kein Bodyguard. Er wollte unsere Wasserleitungen mit Beulenpest infizieren. Damit die gesamte Hauptstadt entvölkert wird. Frauen, Kinder und Alte.«

»Ist er gefasst worden?«, fragte ich und vor meinen Augen erschien das Gesicht Tiens. Er sollte geplant haben, Millionen Menschen zu töten? Eine Woche lang sind wir mit ihm gemeinsam geflogen, er hat Scherze gemacht und sich gleichzeitig darauf vorbereitet, eine Million Menschen umzubringen?! Das kann doch nicht wahr sein!

»Ja«, antwortete der Fahrer. »Morgen Abend wird er hingerichtet, auf dem Platz, laut Urteil des Tribunals. Und die Gesandtschaft des Imperium wurde vom Planeten gejagt. Richtig so! Es war sowieso überflüssig, mit ihnen zu verhandeln. Sie sind alle Mörder, der Herrgott vergebe ihnen! Mörder!«

Sofort war alles anders. Grau. Wie durch Rauchglas gefiltert. Das bedeutet also, Sjan Tien wurde gefasst? Und wird hingerichtet?

Aber das konnte er doch nicht gemacht haben, das stimmte nicht!

»Geht nicht auf den Platz, Jungs«, riet uns der Fahrer. »Das ist nichts für euch.«

»Wir werden nicht hingehen«, versprach Lion.

Er schaute mich an.

In der Ferne sah man schon die Hochhäuser von Agrabad, verschiedenfarbig, halb himmelblau, halb dottergelb, festlich und stolz.

»Natürlich gehen wir nicht hin«, bestätigte ich. »Da, sehen Sie, rechts am Weg ist das Motelzeichen. Wir steigen dort aus!«

Es war alles wie früher. Genauso grün und warm, Häuschen und Zelte, einige Menschen, die ihren Grill vorbereiteten. Im Bungalow mit der Aufschrift »Check-in« war die Tür geöffnet. Daraus klang fröhliches Lachen. Lion und ich schauten uns an und gingen hinein.

Am Tisch saß das nette Mädchen. Ich erkannte sie sofort wieder. Sie war es, die vor einem Monat so nett zu mir war. Ich dachte, dass sie mit jemandem sprach, aber sie war allein. Sie lachte über ein Buch, ein echtes aus Papier. Als wir hineinkamen, schaute uns das Mädchen lächelnd an, nickte und vertiefte sich wieder ins Buch. Aber sofort schaute sie mich aufmerksam an und rief:

»Tikkirej! Du bist der kleine Tikkirej, der seit einem Monat verschollen ist!«

»Ich bin nicht klein!«, protestierte ich.

Das Mädchen schaute beschämt.

»Entschuldige bitte, so haben wir dich in unseren Gesprächen genannt. Natürlich bist du nicht klein. Und du — bist Lion? Du hast auch bei uns gewohnt, mit deinen Eltern?«

Lion nickte ebenfalls und wartete ungeduldig auf die nächsten Worte. Aber das Mädchen interessierte etwas anderes.

»Mein Gott, wo wart ihr denn, Jungs? Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Euch überall gesucht, den Wald durchkämmt, den See. Was wir uns nicht alles ausgemalt haben!«

Ich hatte den Eindruck, dass sie nicht log. Dass sich wirklich alle hier auf die Suche nach uns gemacht hatten.

Wir jedoch mussten lügen.

»Damals, in der Nacht…«, begann ich, »alle waren eingeschlafen und wir hatten Angst… Lion war gerade bei mir, heimlich wegen der Eltern, wir wollten spielen. Da war so ein Kapitän, er wohnte im Nachbarhaus und war auch nicht eingeschlafen. Er sah uns und schrie, dass der Planet überfallen worden wäre und wir in den Wald laufen sollten. Er nahm uns in seinem Auto mit bis zum Wald, er hat uns herausgelassen und ist selbst in die Hauptstadt weitergefahren… Und wir haben im Wald gelebt.«

Das Mädchen schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Jungs… Was sagt ihr da? Man glaubt, dass das ein Verrückter war, ein Mörder! In seinem Zimmer fand man einen ermordeten Polizisten! Mein Gott, dass ihr davongekommen seid!«

»Ich habe es dir doch gleich gesagt!«, schrie mich Lion an und stieß mich schmerzhaft in die Seite. »Er war irgendwie eigenartig, seine Augen waren böse! Gut, dass wir ausgestiegen sind! Er hätte uns in Stücke gerissen!«

»Du bist ja selbst ins Auto eingestiegen!«, wandte ich lautstark ein.

Wir hatten einige dieser Stücke vorbereitet. Es war von Anfang an klar, dass Stasj erwähnt werden musste. Der Agent des Inej hatte ihn beobachtet und seinen Vorgesetzten sicherlich mitgeteilt, wer Stasj war.

»Dann bin ich eben eingestiegen«, wiegelte Lion ab und schien sich zu beruhigen. Erwartungsvoll sah er das Mädchen an. »Sagen Sie bitte, meine Eltern, wo sind sie?«

»Dein Vater ist in die Stadt gefahren«, erwiderte das Mädchen. »Und Missis Anabell und die Kleinen… Du hast ein Brüderchen und ein Schwesterchen, stimmt’s? Sie sind hier. Im selben Cottage. Deine Mutter wollte nicht umziehen, ehe du nicht gefunden bist.«

Sie sah nur noch Lions Rücken, so schnell flitzte er aus dem Foyer.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Er hat sich sehr nach seinen Eltern gesehnt.«

»Und deine Eltern sind auf einem anderen Planeten geblieben, ja?«, fragte das Mädchen.

Ich nickte. »Ja. Sie sind auf einem anderen Planeten geblieben. Ich gehe jetzt. Auf Wiedersehen.«

»Ich heiße Anna.« Das Mädchen lächelte. »Wenn du möchtest, Tikkirej, kannst du in dein ehemaliges Häuschen ziehen. Es ist frei. Übrigens, vor kurzem kam ein Brief vom Ministerium für Migration.«

»Ich… ich hole ihn nachher ab«, murmelte ich und sprang ins Freie.

Lion konnte ich kurz noch sehen — er stürzte gerade durch die Tür seines Cottage.

Wie Lion wohl von seiner Mutter aufgenommen würde? Sie war doch ebenfalls durch Inej zum Zombie geworden…

»Idiot!«, beschimpfte ich mich selbst. »Sie ist trotzdem eine Mutter!« Ich bekam auch einige Zuwendung von Missis Anabell ab. Natürlich viel weniger als Lion. Die Mutter versuchte ihn sogar zu baden — Lion musste sich mit den Händen im Türrahmen verbarrikadieren und schreien, dass seine Mutter nicht ins Bad kommen solle. Trotzdem umarmte Missis Anabell auch mich und Tränen traten ihr in die Augen, als sie sah, wie »dünn und zerkratzt« ich doch war. Danach gab sie mir ein großes Stück Fleischpastete. Im Haus begann ein totales Durcheinander. Lions kleiner Bruder begann zu brüllen, weil er ihn inzwischen vergessen hatte und nicht glauben wollte, dass das sein Bruder sei. Das Schwesterchen wiederum forderte weinerlich, dass Lion so schnell wie möglich aus dem Badezimmer kommen sollte und hämmerte mit den Fäusten an die Tür. Missis Anabell schwirrte in der Küche umher, stellte etwas in die Mikrowelle, schaltete die Backröhre ein, rief ihren Ehemann an, danach etliche Freundinnen und berichtete allen, dass sich ihr Sohn wieder eingefunden hätte. Ich ging leise auf die Veranda und setze mich auf das von der Sonne aufgeheizte Geländer. Kurz darauf erschien Lions Brüderchen. Er hatte aufgehört zu weinen, setzte sich möglichst weit von mir entfernt auf den Fußboden und begann mit seinen Autos zu spielen. Ich schaute ihm zu und grübelte darüber nach, warum Lions Eltern total normal geblieben waren. Ihnen war nichts Schlimmes widerfahren. Vielleicht war Inej auch gar nicht so schlimm — sie hatten halt alle einen Hau weg wegen des Imperiums. Aber in allen anderen Belangen verhielten sich die Leute normal.

»Peng, peng!«, spielte Lions Bruder und ließ die Autos zusammenstoßen. In seiner Phantasie waren das offensichtlich gar keine Autos, sondern Kampfraumschiffe.

»Da hast du es, du verfluchter Imperier… Frau Präsident, der Auftrag ist ausgeführt…«

Aha, also hat man auch schon die Kleinsten manipuliert… Na und? Im übrigen Imperium spielen die Kinder auch Krieg, nur dass bei ihnen die Armee des Imperiums siegt.

»Zu Befehl, Oberkommandierende!«, rief der Junge. »Der Feind wird vernichtet!«

Er erhob sich, warf ein Auto auf den Fußboden und fing an, es kräftig mit seinen Füßen zu bearbeiten. Zuerst dachte ich, dass er wegen Lions Auftauchen so überdreht wäre und erneut in Schreie, Tränen und Geheul ausbrechen würde. Bei Kleinen passiert das manchmal, besonders, wenn sie sehr verwöhnt sind.

Er hatte aber überhaupt nicht vor zu weinen oder zu schreien.

Er zertrampelte das Auto. Unnachgiebig und konzentriert wie ein Erwachsener. Trat mit seinem kleinen Füßchen in der winzigen Sandale, stampfte ununterbrochen auf das Plastikgehäuse. Das Spielzeug war stabil, der Konstrukteur kannte sich offenbar mit ungezogenen Kindern aus. Die Erwachsenen erwarteten jedoch nicht, dass kleine Kinder so ausdauernd sein könnten. Er stampfte und trat, schnaufte vor Anstrengung, drehte das Auto um, als es in die Ecke rutschte und trat abwechselnd mit Ferse und Fußspitze zu.

Endlich zersplitterte das Gehäuse und zerfiel in kleine, runde Stücke. Es war ein spezieller Sicherheitskunststoff für Kinderspielzeuge. Daraufhin setzte sich der Kleine wieder auf den Fußboden und wollte seine Sandalen ausziehen.

Ich sprang vom Geländer, setzte mich neben ihn und half ihm dabei.

»Mein Fuß tut weh«, sagte der Kleine, wobei er mich böse anschaute und seine Ferse rieb.

»Warum hast du denn so fest zugetreten, du Dummerjan?«, fragte ich.

»Ich bin kein Dummerjan«, empörte er sich. »Ich bin Sascha.«

»Tja, warum hast du denn so stark zugetreten, Sascha?«

»Das sind die Feinde, die Imperier«, erklärte er bereitwillig. »Du bist selbst ein Dummerjan. Das sind nämlich General Wolodja Ichin und Professor Edikjan von der Bastion, sie sind die schlimmsten Imperier.«

Ich erinnerte mich an den Trickfilm »Die Bastion des Imperiums« und dessen Helden: den mutigen Wolodja Ichin, der zwischen den Sternen auf einem Zauberpferd ritt, und den weisen Professor Gewa Edikjan, der auf einer Bastion lebte und die ganze Zeit über geniale Ideen hatte. Überall verteidigten sie das Imperium und besiegten alle Feinde. Das zeigt, dass auch dieser Trickfilm auf Inej produziert worden war. Er wirkte, als würde er das Imperium in den Himmel heben, in Wirklichkeit wurden alle kleinen Kinder gegen das Imperium aufgehetzt. Ich hatte mir diesen Trickfilm auch angesehen! Aber nur ganz selten, weil er für sehr kleine Kinder war. Wenn ich mehr geschaut hätte, hätte sich auch in meinem Kopf das Programm festgesetzt…

Vielleicht ist es auch in meinem Kopf und hat nur wegen des alten Neuroshunts nicht funktioniert? Und wenn es aktiviert würde — finge ich dann sofort an, das Imperium, den Avalon und Stasj zu hassen? Und auch die lustigen Strichmännchen aus dem Zeichentrickfilm?

»Warum sagst du nichts?«, wollte Sascha wissen.

»Ich denke nach«, erwiderte ich. »Könnte man die Feinde denn nicht gefangen nehmen?«

»Das geht nicht! Sie fliehen immer aus der Gefangenschaft«, erläuterte der Junge. »Spielst du mit mir?«

»Ich bin schon groß«, sagte ich. »Ich spiele nicht mehr mit Autos.«

Sascha diskutierte nicht. Für ihn war ich wirklich groß.

»Tikkirej!«, rief mich seine Mutter. »Komm rein!«

»Ich komme!«, meldete ich mich und erbebte. Sie hatte mich fast wie meine Mutter gerufen! »Sofort…«

Lion saß schon im Bademantel auf dem Sofa und seine Mutter näherte sich ihm gut gelaunt mit einer Haarschneidemaschine. Lion hatte bestimmt gewisse Vorahnungen, denn er forderte nachdrücklich: »Aber nicht wie das letzte Mal! Mama, nicht so kurz!«

»Schon gut!«, versprach seine Mutter beruhigend. »Nur dass dir die Haare den Mund nicht verdecken, sonst erstickst du noch daran.«

»Aber Mama!«, jammerte Lion. »Bis hier, nicht weiter!«

Missis Anabell zwinkerte mir zu wie eine Verschwörerin.

Lion war auch wirklich ziemlich zugewachsen.

»Tikkirej, geh dich waschen, danach schneide ich auch dir die Haare. Ich habe dir ein frisches Handtuch hingehängt, das große grüne, du wirst es finden. Außerdem habe ich saubere Kleidung für dich bereitgelegt, T-Shirt und Slips sind neu, Hose und Hemd von Lion, aber gewaschen und gebügelt. Wäschst du dir deine Haare selbst oder brauchst du Hilfe?«

»Mama!«, heulte Lion auf. »Tikkirej ist schon groß! Und ich auch!«

»Für eine Mutter seid ihr immer klein«, sagte Missis Anabell vorwurfsvoll. »Also, halt den Kopf still und mach die Augen zu.«

Die Maschine in ihrer Hand begann triumphierend zu summen.

Ich ging schnell ins Bad, damit sich Lion nicht noch einmal so aufregen musste. Ich drängte sein Schwesterchen, die am Waschbecken stand und ihre Hände unter einen Strahl kalten Wassers hielt, hinaus und schloss mich ein. Ich ließ Wasser in die Wanne und gab Schaumbad dazu.

Dann lehnte ich mich mit der Stirn an die gekachelte Wand und schloss die Augen. Das Wasser rauschte, hinter der Tür summte die Maschine. Lion beschwerte sich über die kurze Frisur, seine Schwester quengelte.

Und ich erinnerte mich daran, wie ich Lions Eltern kennen gelernt hatte. Sie wussten, dass ich eine Waise war. Und dass ich kein Geld hatte. Und überhaupt… dass ich hier völlig allein war. Aber sie stürzten sich nicht auf mich, um mich zu umarmen, zu küssen, zu baden, die Haare zu schneiden und mir Kleidung bereitzulegen.

Lions Mama hatte sich verändert. Sie war unwirklich. Vielleicht war sie jetzt sogar lieber und besorgter, aber sie hatte sich nicht von selbst geändert.

Sie war dazu gemacht worden.

Kapitel 4

Lion fiel anfangs gar nichts auf. Er freute sich einfach nur: über Mamas Pastete, dass sich seine Schwester nach ihm gesehnt hatte, dass alle Verwandten lebten und gesund waren. Er schaute mich schuldbewusst und gleichzeitig triumphierend an. — Na also, siehst du! Es ist gar nichts Schlimmes passiert.

Missis Anabell sprach erst gar nicht über das Imperium, und als Lion versuchte, das Gespräch auf den gefangenen Phagen, den Attentäter, zu bringen, winkte sie nur überdrüssig ab.

Abends kam dann Mister Edgar.

»Papa!« Schluchzend lief Lion zur Tür. Ich wollte mich abwenden, schaute jedoch zu. Im Hals spürte ich ein Kratzen und Stechen.

Mister Edgar sah aus wie ein echter Nachfahre der Bewohner von Raumstationen, egal, was er von Kosmonauten hielt. Er war groß, hager, mit langen, zupackenden Fingern, dunkelhäutig, hatte einen Kurzhaarschnitt und leicht hervorstehende Augen. Er war luftig angezogen mit kurzärmeligem Hemd und Shorts. Das ist allen Kosmonauten eigen. Bei niedriger Gravitation auf der Raumstation frieren die Menschen, die Haut wird schlecht durchblutet. Deshalb ist es den Kosmonauten auf den Planeten immer warm.

Als sich Lion seinem Vater an den Hals warf, befürchtete ich, dass Mister Edgar zusammenbrechen würde. Aber er blieb standhaft. Er wartete einige Sekunden, dann schob er Lion mit ausgestreckten Armen von sich und schaute ihn aufmerksam an. Er sagte: »Du bist gewachsen, mein Sohn.«

»Papa!«, wiederholte Lion automatisch.

Mister Edgar verwuschelte ihm die Haare.

»Wir haben uns große Sorgen gemacht. Guten Tag, Tikkirej. Wie seid ihr nur darauf gekommen, euch im Wald zu verstecken, mein Sohn?«

Lion erzählte noch einmal unsere Geschichte, sein Vater hörte ihm aufmerksam zu: Wie wir vom Motel mit Kapitän Stasj wegfuhren, der uns dann im Wald herausließ. Dass wir uns immer weiter von der Stadt entfernten, in die Berge gingen, »wie im Film über die außerplanetaren Invasoren«. Wie wir im leeren Haus eines Waldhüters schliefen, Fische fingen und sogar lernten, Kaninchen mit Schlingen zu fangen. Dass wir Angst hatten zurückzukehren, weil wir am Himmel viele Raumschiffe sahen und aus Richtung der Hauptstadt manchmal Explosionen zu hören waren. Wie wir uns trotzdem entschlossen zurückzukehren, auf einem Floß den Fluss herunterschwammen, eine Siedlung erreichten und uns dort davon überzeugten, dass es überall friedlich zuging und alles gut war. Und wie uns ein netter LKW-Fahrer mitnahm und mit Brot und Milch bewirtete.

»Erstaunliche Abenteuer!«, meinte Mister Edgar. Mir schien, als ob er Lion kein Wort glauben und uns gleich entlarven würde. Aber Mister Edgar fuhr fort, als ob nichts geschehen wäre: »Ich denke, du solltest aus dem Geschehenen lernen. Man darf sich nie blind vor etwas Unbekanntem fürchten. Man muss sich seiner Angst stellen und sie besiegen! Du hast einen ganzen Monat verloren, du warst keinen Tag in der Schule. Aber…«, er dachte kurz nach, »andererseits hast du bemerkenswerte Fortschritte beim Überleben im Wald gemacht und wichtige Lebenserfahrung gesammelt. Ich bin dir nicht böse!«

»Papa…«, murmelte Lion.

Ich erinnerte mich daran, wie er noch während des Flugs vom Avalon darüber grübelte, was die Eltern mit ihm wohl machen würden. Zuerst würden sie sich natürlich freuen und ihn dann gehörig durchwalken, obwohl der Vater ein Gegner von Schlägen war.

Es sah ganz so aus, als ob es Lion vorgezogen hätte, bestraft zu werden.

»Also dann, ihr jungen Leute!« Mister Edgar zog die Straßenschuhe aus und bequeme Hausschuhe an. »Setzt euch an den Tisch! Ich wasche mir die Hände und komme zu euch.«

»Ich habe deinen Lieblingsauflauf gemacht«, sagte Missis Anabell. »Und eine Eistorte gekauft, die Lion so gern isst. Sascha, Polina, geht Hände waschen und setzt euch an den Tisch!«

Die Kleinen liefen ihrem Vater ins Badezimmer nach.

Ich setzte mich neben Lion an den Tisch, der mit einer schönen, grünen Tischdecke bedeckt war. Lion wirkte durcheinander und trübsinnig. Da endlich fiel mir ein, woran mich das alles erinnerte!

An eine Fernsehserie! Familienunterhaltung der Art »Vater, Mutter und wir« oder »Komödien und Dramen auf Edem«. In ihnen gab es immer kleine Geheimnisse und nichtige Konflikte, gehorsame kleine Kinder und aufsässige Jugendliche. Ständig lief jemand von zu Hause weg oder ging verloren und bei dessen Rückkehr nach verschiedenen Abenteuern freute man sich auf ihn, las ihm ein wenig die Leviten und setzte sich letztendlich an einen festlich gedeckten Tisch.

Sowohl Mister Edgar als auch Missis Anabell benahmen sich wie die Helden dieser Fernsehserien.

»Ich glaube, dass man den Jungs auch ein Tröpfchen Wein eingießen kann!«, meinte Mister Edgar.

Lion erzitterte kaum merklich. Spät am Abend gingen wir in Lions Zimmer schlafen. Es gab dort nur ein Bett, ich schlief davor auf dem Boden. Das war annehmbar.

Lion jedoch war innerlich zutiefst verletzt und schwieg. Erst als wir das Licht ausgemacht hatten, fragte er leise: »Hör mal, Tikkirej, was ist mit ihnen los? Was soll ich jetzt machen?«

Ich hob die Schultern. »Haben sie sich früher nicht so benommen?«

Lion schüttelte energisch den Kopf.

»Na ja… Sie sind ja nicht schlechter geworden, stimmt’s? Sie lieben dich. Und…«

»Sie haben sich verändert!«, flüsterte Lion und neigte sich von seinem Bett zu mir herunter. »Du Idiot, sie sind ganz anders!«

»Wie im Film«, schlug ich vor, um ihn nicht zu beleidigen.

»Ja! Aber ich will nicht in einer Seifenoper leben! Wenn du solche Eltern hättest…«

Er verstummte und sah mich erschrocken an.

Ich legte mich auf den Rücken und schaute zur Decke.

Nein, ich nahm es ihm nicht übel. Ich dachte darüber nach, was eigentlich schlimmer war: Wenn die Eltern sterben, damit sich in deinem Leben nichts verändert, oder wenn sie sich selbst so verändern, dass man am liebsten tot sein möchte.

Es ist bestimmt trotz allem besser, wenn sie leben!

»Tikkirej…«

»Es ist besser, solche zu haben«, sagte ich. »Ehrenwort.«

»Verzeih mir.«

»Ja… Aber sag das nie wieder, Lion!«

Er schluchzte schuldbewusst auf und warf sich unruhig hin und her. Dann sagte er: »Sie jagen mich doch noch aus dem Haus!«

»Lüg nicht«, erwiderte ich. »Sie werfen dich überhaupt nicht raus.«

Aber eigentlich hatte Lion Recht. Als wir am Tisch saßen, hatten die Eltern ein Gespräch mit Lion begonnen. Dass sie noch »eine gewisse Zeit« in dem Motel wohnen würden, weil viele Migranten vom Inej gekommen waren und der Wohnraum nicht ausreiche. Dass es aber unbequem für Lion wäre, jeden Tag von der Stadt zum Motel zu fahren. Deshalb wäre es das Beste, wenn Lion in Agrabad zur Schule gehen würde, in ein College für Bauern- und Waisenkinder. An den Wochenenden könnte er dann seine Eltern besuchen. Das widersprach ihrem ganzen Verhalten dermaßen, dass Lion zu geschockt war, um widersprechen zu können, obwohl ich an seiner Stelle auf alle Fälle diskutiert hätte. Denn Mister Edgar fuhr ja so oder so jeden Tag nach Agrabad zur Arbeit, er hatte eine Beschäftigung in einem Betrieb für kosmische Antriebe gefunden. Was würde es ihm da ausmachen, Lion in die Schule zu bringen und wieder abzuholen?

»Sie wollen mich weghaben«, meinte Lion starrköpfig. »Und weißt du, warum?«

»Warum denn?«

»Das ist alles wegen des Programms. Weil sie zu Zombies geworden sind! Warum haben denn Eltern Angst, ihre Kinder aus dem Haus zu lassen, besonders für längere Zeit? Sie glauben immer, dass ihre Kinder noch klein sind, dass ihnen etwas passieren könnte.«

»Genau das sagt auch deine Mama…«

»Genau das denkt sie nicht!«, stieß Lion hervor und senkte seine Stimme. »Sie hat mich schon großgezogen, verstehst du das? Und meine Enkel hat sie erzogen. Sie ist schon daran gewöhnt, dass ich erwachsen bin!«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, also in meinem Traum…«

»Also das war ja in deinem. Woher willst du wissen, was deine Mutter geträumt hat? Sie erinnert sich ja an nichts, hat alles vergessen.«

»Vom Verstand her — hat sie es vergessen. Aber sie hatte auch einen Traum. Dass sie in der Föderation des Inej wohnen würde. Dass ich erwachsen war, sie in einem Rüstungsbetrieb arbeitete, dass Sascha im Krieg gefallen war… oder ich… Danach hat sie natürlich alles vergessen. Aber im Unterbewusstsein sind diese Erinnerungen wach. Deshalb macht es ihr überhaupt keine Probleme, mich wegzuschicken.«

Vielleicht war es wirklich so. Ich schwieg und Lion fuhr hitzig fort: »Verstehst du, was dieser Inej anrichtet? Er zwingt die Leute, ein fremdes Leben zu führen, so wie es Inej wünscht. Und wenn man einen Menschen das ganze Leben lang zwingt, etwas zu tun, gewöhnt er sich daran, es wird zu einem Reflex. So ist das nämlich…«

»Vorhin warst du nicht der Meinung, dass das schlecht wäre«, warf ich ein.

»Weil ich blöd war«, nuschelte Lion. »Ich möchte, dass sie wieder wie früher werden! Selbst wenn ich dann was abkriegen sollte, aber sie würden sich nicht freuen, dass ich in eine ›gute Schule‹ komme.«

»Lass uns lieber darüber nachdenken, was aus Tien wird!«

Lion rutschte unruhig hin und her. »Wenn wir zum alten Semetzki Verbindung aufnehmen könnten…«

»Und dann? Können etwa zwanzig Mädchen Tien befreien?«

»Können es denn zwei Jungs?«

»Ich habe die Peitsche!«, erinnerte ich ihn.

»Ha!«, stieß Lion verächtlich aus. »Er hat einen Peitsche! Ohne Energie…«

»Für kurze Zeit kann man eine beliebige Batterie einsetzen. Sogar eine vom Fotoapparat.«

Lion schwieg. Dann dachte er laut:

»Sogar wenn du eine richtige Peitsche hättest und ich eine Neutronenkanone, würden wir nichts machen können. Der Platz vor dem Sultanspalast ist im Stadtzentrum. Ringsherum werden Wachen stehen. Und dazu noch die Menschenmasse. Und in der Menge sind alle Zombies. Sie werden sich in deine Peitsche werfen, um für Inej zu sterben.«

»Und wenn diese — Herrscherin bei der Urteilsverkündung anwesend sein wird? Man könnte sie als Geisel nehmen…«

»Sie kann nicht getötet werden«, wandte Lion ruhig ein. »Das weiß ich genau. Sie ist überall und unsterblich.«

»Wer ist sie denn, etwa Gott? Das ist doch alles Propaganda!«

»Vielleicht ist es Propaganda, aber das wird nicht funktionieren«, erwiderte Lion ruhig. »Ich erinnere mich an einen derartigen Vorfall… Also, im Traum… Die Soldaten des Imperiums nahmen die Herrscherin gefangen, um Inej zu besiegen. Sie aber lachte ihnen ins Gesicht und befahl, auf ihr Raumschiff zu schießen… Kurz gesagt, das Raumschiff mit ihr und den Soldaten des Imperiums explodierte. Am nächsten Tag trat die Herrscherin im Fernsehen auf und verkündete, dass alles in Ordnung sei und auch in Zukunft so verfahren werden würde.«

»Aber das kann doch nicht sein!«, stieß ich hervor.

Lion holte nur tief Luft.

So kamen wir zu keinem Entschluss. Und schliefen ein.

Am Morgen ging es wirklich nach Agrabad. MisterEdgarsAutowareineverschlissene, stromlinienförmige, geglättete »Plastikmühle«. Diese Autos wurden gar nicht richtig repariert; wenn etwas kaputtging, wurden sofort ganze Blocks ausgewechselt: der Motorblock, der Navigationsblock, der Block mit den Vordersitzen, der Räderblock…

»Ein sehr sparsames Auto«, erklärte uns Mister Edgar und setzte sich auf den Fahrersitz. »Habt ihr Platz? Ist es euch nicht zu eng?«

»Ist okay«, sagte Lion. Im Auto war es sehr ungemütlich, sogar wir stießen mit den Knien an die Vordersitze, aber eine entsprechende Bemerkung war sinnlos. Solche Autos wurden auf Inej produziert. Und das bedeutete automatisch, dass sie gut waren.

»Lern fleißig!«, gab Missis Anabell Lion mit auf den Weg. »Du hast viel verpasst, du musst aufholen. Fang keine Schlägerei an, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Halte dich an Tikkirej, er ist ein starker Junge und kann dich verteidigen. Achtet eure Freundschaft, helft euch und steht füreinander ein! Das sind die heiligsten Werte, die es gibt. Wasch dich auf alle Fälle zweimal am Tag, du weißt ja, dass auf dem Planeten aller mögliche Schmutz herumfliegt.«

Lion nickte und wurde knallrot. Er schämte sich für seine Mutter, aber es war nicht zu ändern.

»Bring mir einen Strahlenwerfer mit«, wurde Lion von seinem Bruder gebeten.

Bei Sascha explodierte Lion dann endlich. Er gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und fauchte: »Spiel mit Bauklötzen!«

Unerwartet bekam er Unterstützung von seiner Mutter: »Sascha, sag keine Dummheiten! Lion ist doch noch kein Soldat, er fährt in die Schule, um zu lernen. Er wird dir ein Buch mitbringen. Lion, bring ihm ein Buch mit, okay?«

»Über Spione«, konkretisierte Sascha wichtigtuerisch. Und erst danach erinnerte er sich an den Klaps und begann zu wimmern.

Nur Lions Schwester schien wirklich darunter zu leiden, dass der gerade zurückgekehrte Bruder sie schon wieder verließ. Sie stand da, zog die Stirn in Falten und bohrte mit der Fußspitze Löcher in den Sand des Weges. Deshalb schaute ich lieber nur auf Polina. Aber dann fiel mir ein, dass das auch eine vom Inej aufgezwungene Rolle sein könnte: Die Eltern müssen ihre heranwachsenden Kinder fröhlich ins Erwachsenenleben verabschieden, die Jungs darum bitten, eine Waffe oder Bücher über Spione mitgebracht zu bekommen, und die Mädchen einfach traurig sein.

Aber es sind doch nicht alle so! Semetzki sagte, dass etwa fünfzehn Prozent normal geblieben waren! Wo steckten sie nur?

»Meine Liebe, wir fahren jetzt!« Edgar lehnte sich leicht aus dem Autofenster, Anabell lächelte breit und küsste ihn schnell und akkurat auf die Wange.

Lion wandte sich ab.

Als wir auf den Ausgang des Geländes zufuhren, erinnerte ich mich an den Brief aus dem Ministerium für Migration.

»Mister Edgar, halten Sie kurz an«, bat ich. »Ich muss einen Brief abholen — wegen der Staatsbürgerschaft.«

Er schaute unwillig, fuhr aber an den Straßenrand und hielt an.

»Ich beeile mich«, sagte ich schuldbewusst. »Bin gleich wieder da.« Und ich lief schnell zum Verwaltungsgebäude.

Anna arbeitete auch heute. Ich grüßte sie, und sie griff, ohne zu fragen, in den kleinen Wandsafe, um den Brief zu holen.

»Gleich, Tikkirej, irgendwo hier muss er sein…«, murmelte sie. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, der Safe war weit oben angebracht.

Ich wusste nicht, warum es aus mir herausdrängte, als ich bemerkte: »Aber Sie sind normal.«

Das Mädchen hörte für einen Augenblick auf, im Safe herumzukramen. Dann fand sie den Umschlag und reichte ihn mir:

»Und du bist auch nicht hirnamputiert, Tikkirej.«

»Hirnamputiert?«

Sie nickte. »So nennen wir die, die in der Nacht des Überfalls eingeschlafen sind. Hirnamputierte…«

Ich erstarrte. Ich stand da und blickte Anna an. Sie sah nicht wie ein feindlicher Agent aus. Aber auch nicht wie eine Untergrundkämpferin. Endlich fragte ich: »Wer ist das: Wir?«

»Die, die nicht eingeschlafen sind. Ungefähr jeder Zehnte«, erläuterte Anna. »Der Besitzer des Motels, Mister Parkins, ist auch kein Hirnamputierter. Und unser Elektriker…«

»Also, Sie…« Ich war ganz durcheinander. »Und was machen Sie alle?«

»Wir leben.« Sie lächelte. »Tikkirej, hab keine Angst. Hier passiert nichts Schlimmes. Nur dass der größte Teil der Leute Untertanen des Inej geworden sind. Na und?«

»Wie ›Na und‹?«, regte ich mich auf. »Sie sind doch jetzt alle ganz anders!«

Anna holte Luft und zeigte mit ihren Augen auf das Sofa. Ich nahm Platz und sie setzte sich neben mich.

»Tikkirej, vielen hat es gutgetan. Ich habe zum Beispiel einen Freund, er… Na ja, früher haben wir uns oft gestritten. Wegen jeder Kleinigkeit…« Sie wirkte unsicher. »Dafür ist jetzt bei uns alles in Butter. Viel besser als früher! Und meine Eltern wollten sich scheiden lassen, Vater wollte eine zweite Frau nehmen, Mutter war dagegen. Jetzt verstehen sie sich wieder.«

»Deine Mutter ist nicht mehr dagegen?«, fragte ich bösartig. Es war mir unverständlich, woher meine Wut kam.

Nun wurde es Anna zu viel: »Tikkirej! Wie kannst du nur!?«

»Entschuldigen Sie«, murmelte ich.

»Die Vielweiberei wurde bei uns abgeschafft«, erläuterte Anna. »Und überhaupt lieben sich jetzt alle: Die Ehemänner lieben ihre Ehefrauen und die Ehefrauen ihre Ehemänner. Die Säufer haben aufgehört zu trinken. Die Kinder schwänzen nicht mehr die Schule. Derjenige, der Bestechungsgelder nahm, hat sich dazu bekannt; wer keine Steuern gezahlt hat, hat dem Staat seine Schulden überwiesen.«

»Aber das ist doch alles aufgezwungen!«, schrie ich fast. »Die Leute haben eine Gehirnwäsche erhalten, verstehen Sie das denn nicht?«

»Das war irgendeine Waffe«, stimmte Anna zu, »die auf Inej entwickelt wurde. Sicherlich! Na und? Ist das nicht egal? Ist es nicht egal, Tikkirej, wer bei den Menschen der Höchststehende ist, der Imperator oder Inna Snow? Also mir ist das völlig egal. Hauptsache, mein Freund nimmt keine Drogen. Und Vater und Mutter streiten sich nicht. Und die Menschen achten sich gegenseitig!«

»Wenn es eurer Inna Snow morgen einfallen sollte, dass alle auf den Händen laufen und Spinnen essen müssen, wären Sie dann auch einverstanden?«

Anna lachte nur: »Tikkirej, ihr habt euch im Wald Schauergeschichten ausgedacht. Inna Snow ist eine intelligente Frau. Niemand macht etwas Schlechtes. Das Imperium dagegen…«

»Es wird also Krieg gegen das Imperium geben, oder ist das auch eine Schauergeschichte?«, wollte ich wissen.

»Es wird überhaupt keinen Krieg geben«, erwiderte Anna überzeugt. »Alle Planeten werden sich Inej anschließen. Nach und nach. Wir werden eine Herrscherin an Stelle des Imperators haben. Die Menschen werden sich besser zueinander verhalten. Und mehr nicht. Wenn es doch einen Krieg geben sollte, dann wird es ein gewaltloser.«

Ich neigte zweifelnd meinen Kopf. Sie verstand gar nichts. Niemand sah sich mehr die hinterhältigen Fernsehserien vom Inej an. Die Radioshunts waren jetzt bei allen blockiert. Die Wissenschaftler suchten nach einem Weg, um die »Hirnamputierten« zu heilen. Also wird es Krieg geben.

»Tikkirej, warum schaust du so beleidigt?« Anna tätschelte meinen Kopf. »Wenn du in die Stadt fährst, wirst du selbst sehen, wie positiv sich alle verändert haben.«

»Sie können mich ruhig verpfeifen«, sagte ich, »aber es war trotzdem ein hinterhältiger Überfall!«

»Ich habe nicht vor, dich anzuschwärzen«, meinte Anna wieder ganz fröhlich. »Ich bin ja nicht hirnamputiert. Obwohl denen eigentlich alles egal ist. Benimm dich normal — und du wirst keine Schwierigkeiten bekommen.«

Die Tür wurde geöffnet.

»Tikkirej!«, rief Lion ärgerlich. »Papa ist sowieso schon spät dran!«

Wie ich mich über sein Erscheinen freute!

»Entschuldigen Sie bitte, ich muss los.« Ich sprang auf und drückte den Briefumschlag an mich. »Auf Wiedersehen.«

»Viel Erfolg, Tikkirej«, erwiderte Anna freundlich. »Denk nicht so viel nach! Alles wird gut!«

Mit diesen Begleitworten rannten wir zum Auto.

»Wovon hat sie gesprochen?«, fragte Lion unterwegs. »Mein Vater ist ganz nervös.«

»Ich erzähl es dir später«, sagte ich kurz. »Mister Edgar, entschuldigen Sie, wir konnten das Schreiben nicht finden.«

Mister Edgar schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Wir hatten noch nicht die Türen geschlossen, als das Auto schon losfuhr.

»Na, was ist drin?« Lion griff nach dem Briefumschlag.

Ich riss das feste Papier auf. Im Innern fand ich ein Schreiben mit schöner Unterschrift, Siegel und eine kleine Plastikkarte. Auf der Suche nach der Hauptaussage fing ich schnell an zu lesen: »›Sehr geehrter… auf Ihren Antrag… entsprechend dem Einwanderungsgesetz‹ … Hurra!«

»Genehmigt?«, fragte Lion.

Eigenartig. Was interessierte mich jetzt noch die Staatsbürgerschaft von Neu-Kuweit? Ich hatte ja bereits die Staatsbürgerschaft des Avalon, eine der prestigeträchtigsten, besser war nur die der Erde oder des Edem. Zumal Neu-Kuweit von Inej erobert war, dessen Staatsbürgerschaft in der Galaxis wenig geschätzt wurde.

Aber trotzdem war ich zufrieden. Sehr zufrieden. Denn diese Staatsbürgerschaft verdankte ich mir selber. Ihretwegen hatte ich Karijer als Modul verlassen. Ich hatte riskiert und gewonnen. Wenn es Inej nicht gäbe, wie glücklich wäre ich jetzt! »Mister Edgar, schauen Sie nur!« Ich zeigte ihm meine Karte. Darauf waren mein Foto, der Name, der Biodetektorchip und ein langer Strichcode.

»Glückspilz«, äußerte Lions Vater trocken. Er war sauer wegen der Verspätung. »Ich hoffe, Tikkirej, dass du jetzt verantwortungsbewussterundernsthafterwirst. Einverstanden?«

»Einverstanden«, erwiderte ich. Und dachte: Soll er sich ruhig freuen.

Er hatte ja keine Schuld daran, dass sein Gehirn eingefroren war.

»Das Leben besteht nicht nur aus Freude und Abenteuern«, fuhr Mister Edgar fort. »Das muss man rechtzeitig erkennen. Jetzt vergehen die Tage für dich schnell, aber die Jahre ziehen sich. Du wirst erwachsen und alles kehrt sich um. Die Tage ziehen sich ewig und endlos, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ist es eine ganze Ewigkeit. Und die Nacht ist wie eine doppelte Ewigkeit. Dafür fliegen die Jahre nur so an dir vorbei, von Geburtstag zu Geburtstag, von Silvester bis Silvester. Und die ganze Zeit über fehlt etwas, eine Minute, Stunde, ein Tag, ewige Zeitnot…«

Mir wurde unheimlich zumute.

Mir wurde wirklich unheimlich zumute.

Jetzt war Lions Vater ganz anders. Nicht wie vor dem Überfall des Inej und nicht wie ein Fremder, eine Person aus einer Fernsehserie. Als ob ihn etwas quälen würde, etwas aus ihm herausdrängen wollte, das aber nicht schaffte…

»Papa«, sagte Lion leise.

Mister Edgar schüttelte sich und wandte seinen Blick einen Augenblick lang von der Straße. Dann sagte er mit veränderter Stimme: »Deshalb, Tikkirej, sollte man sich zusammenreißen! Und dich, mein Junge, betrifft das genauso!«

Das war alles. Und er wurde wieder zum Gehirnamputierten.

»Papa, hast du manchmal ein Déjà-vu?«, fragte Lion. »Als ob alles schon einmal geschehen wäre? Als ob wir hier bereits früher gefahren wären, uns unterhalten hätten, als ob wir unser Leben schon gelebt hätten?«

»Natürlich«, erwiderte er besinnlich. »Das ist bei allen so. Das ist völlig normal, davor braucht man keine Angst zu haben. Du kannst mit dem Schulpsychologen darüber sprechen, er wird es dir erklären.«

Lion hörte auf zu fragen.

Bald darauf, nachdem wir ein paar Mal abgebogen waren, näherten wir uns einem langen niedrigen Gebäude, das von einem Park umgeben war. Das Gebäude war vollständig mit hellen, verschiedenfarbigen Klinkern verkleidet, über das Dach erhoben sich Türmchen und Kuppeln. Trotzdem strömte es wie jedes beliebige Schulhaus Langeweile aus.

Mister Edgar teilte diese Meinung übrigens nicht.

»Schön, nicht wahr?«, meinte er. »Wie in dem Märchen, das ich dir früher vorgelesen hatte. Erinnerst du dich, Lion?«

»Ja«, erwiderte Lion und ergänzte skeptisch: »Es ist aber überhaupt nicht ähnlich!«

Sein Vater parkte am Eingang, indem er sein Auto mit viel Mühe zwischen zwei Schulbussen abstellte. Wir stiegen aus und sahen uns um.

Nein, irgendwie hatte Lions Vater Recht. Ein schönes Gebäude. Meine Schule auf Karijer war wie alle Verwaltungsgebäudeeinganzgewöhnlicher Standardplattenbau. Auch die Schule auf Avalon war bescheidener. Außerdem gab es hier sehr viele Blumen, die in runden Gefäßen um die Springbrunnen herum wuchsen, und Fußgängerwege, die mit feinem Kies bestreut waren. Nicht wie gewöhnlich grau, sondern golden und beige. Lion nahm die Tasche mit seinen Sachen, ich hatte kein Gepäck. Ich hatte zwar gestern Kleider zum Wechseln bekommen, aber niemand hatte mir etwas zum Mitnehmen angeboten. Bei den Gehirnamputierten gibt es wahrscheinlich Aussetzer. Sie wissen, wie man sich richtig verhält, aber Kleinigkeiten werden schnell vergessen.

Am Eingang saß ein Wachmann in einem Glashäuschen, der uns weder ansprach noch anhielt. Wir gingen auf einer breiten Treppe in den zweiten Stock und kamen zu einer altertümlichen, nicht automatischen Flügeltür.

Lions Vater schaute nervös auf die Uhr, öffnete die Tür, schaute hinein und fragte unterwürfig: »Herr Sekretär?«

Ihm wurde geantwortet, er schob uns durch die Tür und trat nach uns ein.

Wir befanden uns in einem Empfangszimmer. Ein junger, pickliger Bursche, nicht älter als sechzehn Jahre, saß vor einem Display und schrieb. Uns warf er einen kurzen Blick zu und vertiefte sich wieder in den Bildschirm. Ich schaute genauer hin und bemerkte, dass er eine lustige Tastatur benutzte: eine holographische, die schwach in der Luft über dem Schreibtisch flimmerte. Aus unserem Blickwinkel war die Tastatur fast nicht zu erkennen. Es sah aus, als ob der junge Mann in der Luft mit den Fingern wackeln würde, gar nicht wie Arbeit.

»Tikkirej…«, flüsterte Mister Edgar entnervt und ich folgte ihm. Der junge Mann arbeitete weiter. Das war sicherlich ein älterer Schüler, der sich etwas dazuverdiente. Warum arbeitete er nicht über den Neuroshunt? Diese holographischen Tastaturen gibt es normalerweise an öffentlichen Stellen, um nicht onlinegehen zu müssen.

Die Tür zum Empfangszimmer des Direktors war ebenfalls aus Holz und machte Eindruck. Mister Edgar klopfte, wartete auf Antwort und wir gingen hinein.

»Frau Direktorin?«, fragte Lions Vater mit derselben unterwürfigen Stimme.

»Herein, herein!« Die Direktorin erhob sich hinter dem Schreibtisch. »Das ist sicher Ihr Sohn? Wie er seinem Vater ähnelt… Guten Tag, Lion!«

»Guten Tag!«, sagte Lion ziemlich bedrückt. Er machte sich sicherlich Gedanken wegen seines Vaters.

»Und du bist Tikkirej? Guten Tag, Tikkirej. Machen wir uns bekannt! Ich heiße Alla Neige.«

Die Direktorin war eine kleine, zierliche Frau mittleren Alters. Mit einem sympathischen, guten Gesicht und lächelnden Augen, sodass es die ganze Zeit schien, als ob sie gleich loslachen würde. Sie verstand es ausgezeichnet, gleichzeitig mit uns allen zu sprechen.

»Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe den Jungs bereits ein Zimmer besorgt, im besten Gebäude.« — Das galt Edgar.

»Könntest du einen Vortrag halten über das Leben auf einer Raumstation? Niemand von unseren Zöglingen hat so lange im offenen All gelebt.« — Das betraf Lion.

»Ich habe erfahren, dass du bereits die richtige Staatsbürgerschaft von Neu-Kuweit besitzt. Wir bemühen uns, die Zöglinge mit Staatsbürgerschaft als Sprecher der Lerngruppen einzusetzen. Bist du damit einverstanden?« — Das war für mich.

Einige Minuten lang machten wir Smalltalk. Der traurige, picklige Sekretär kam mit einem Tablett voller Teegeschirr und Pralinen sowie einer Tasse Kaffee für Mister Edgar herein. Edgar schaute betrübt auf die Uhr, setzte sich aber trotzdem und trank den Kaffee. Bei dieser Gelegenheit bekamen wir einen riesigen Prospekt »Das College Pelach«. Es enthielt eine Masse großformatiger Farbfotos: wie man hier lernt, lebt und Sport treibt.

Außerdem wurde mitgeteilt, dass der Gründer des Colleges der große indische Pädagoge Sri Bharama war, der gegen Ende seines Lebens von Ganges-2 nach Neu-Kuweit umgesiedelt war. Deshalb war die Inneneinrichtung hier im nationalen indischen Kolorit gehalten (Indien ist ein uraltes Land auf der Erde). Die vier Teile des Colleges, jeweils für verschiedene Altersklassen, wurden nach bedeutenden indischen Städten benannt: Delhi, Kalkutta, Bombay und Peking.

Ich blätterte durch den Prospekt, als ob er mich interessieren würde, aber in Wirklichkeit beunruhigte mich ein Gedanke. Woher weiß die Direktorin von meiner Staatsbürgerschaft? Der Briefumschlag lag im Safe des Motels, von ihm wussten lediglich Edgar und Lion und Anna… Oh!

Ich hob den Kopf und schaute auf die Direktorin Neige.

»Hast du eine Frage, Tikkirej?«, fragte sie zärtlich. »Frag nur, hab keine Angst.«

»Entschuldigen Sie, es geht nicht um das College. Haben Sie zufällig eine Tochter, die in dem Motel arbeitet?«, fragte ich.

»Tikkirej«, stöhnte Edgar verzweifelt. »Was erlaubst du…«

»Das geht in Ordnung.« Die Direktorin Neige lächelte. »Tikkirej hat völlig Recht. Er meint Anna, nicht wahr?«

Ich nickte.

»Sie sind sich sehr ähnlich.«

»Du hast eine erstaunliche Beobachtungsgabe«, meinte die Direktorin. »Ja, so ist es. Sie war es auch, die Mister Edgar vorschlug, euch in meinem College unterzubringen. Es gilt als das beste auf dem Planeten. Du wirst mich nicht verraten, Tikkirej?«

Zuerst zuckte ich mit den Schultern, dann nickte ich.

»Sie rief mich vor cirka zwanzig Minuten an«, sagte die Direktorin mit gesenkter Stimme, als ob ihre Tochter sie hören könnte. »Du schienst etwas bedrückt zu sein und wolltest eigentlich nirgendwohin… Also bat sie darum, dir besonders viel Aufmerksamkeit zu widmen. Das ist eigentlich überflüssig, denn es gehört zu meiner Arbeit, aufmerksam zu sein. Aber verplappere dich nicht, dass du von diesem Anruf weißt, okay?«

Miss Neige lächelte. Mir war es einerseits unangenehm — wozu nur diese Zärtlichkeiten -, anderseits aber durchaus angenehm.

Sogar auf Neu-Kuweit gab es nette Leute, die sich um mich kümmerten. Nicht, weil ihnen das Gehirn amputiert wurde und sie gezwungen wurden, sich nett zu verhalten, sondern einfach so.

»Ich werde nichts sagen«, versprach ich.

»Das ist hervorragend.« Die Direktorin wandte sich Edgar zu: »Ich sehe, dass Sie in Eile sind. Fahren Sie nur. Es ist alles in Ordnung.«

Mister Edgar umarmte Lion so schnell, als würde er sich verbrennen, klopfte mir auf die Schulter und verließ uns.

»Und wir sehen uns jetzt das College an«, teile Miss Neige mit. »Der Unterricht beginnt bei uns gleich am Morgen, aber ich gebe euch heute einen Tag frei. Schaut euch im College um, macht einen Spaziergang durch die Stadt… ihr wart doch noch nicht in Agrabad, ihr Weltreisenden?«

»Nein«, erwiderte ich. Wieder kamen wir auf gefährliche Themen.

»Und was hat euch in den Wald verschlagen?«, fragte die Direktorin, wobei sie uns um die Schultern fasste und abwechselnd mir und Lion in die Augen schaute. »Ich verstehe schon — Abenteuer, freies Leben, aber trotzdem?«

»Wir hatten Angst«, begann ich. »Alle lagen da wie versteinert…«

Miss Neige schüttelte den Kopf. »Phantasten… ist schon gut, Kinder, was war, ist gewesen. Wir werden die Sache ruhen lassen, einverstanden?«

Hirnamputiert. Sie glaubt uns also nicht, das heißt, sie ist hirnamputiert.

»Gut, seien wir ehrlich«, gab ich mein Einverständnis. »Wir wollten einfach ein paar Tage wie die Urmenschen leben, im Wald. Dann haben wir uns verlaufen.«

»Wir unterrichten hier im Sportunterricht Orientierung im Gelände«, beruhigte uns die Direktorin. »Und ihr werdet richtige Exkursionen machen. Aber jetzt zeige ich euch den Bereich Bombay. Dort wohnen die Jugendlichen im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren.«

Kapitel 5

Indien schien ein interessantes Land. Im Bereich Bombay waren alle Wände mit altertümlichen indischen Malereien bedeckt, grell und geheimnisvoll. Manche der abgebildeten Menschen hatten eine blaue Hautfarbe, manche vier oder sechs Arme. Dazu waren wunderliche Tiere dargestellt — Elefanten, die es nur auf der Erde gibt. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass Elefanten fliegen können. Das hatte ich in einem Zeichentrickfilm für Kinder gesehen. Ob das aber wirklich so war? Es war mir peinlich, danach zu fragen!

Außerdem gab es viele Wintergärten mit üppiger tropischer Vegetation und lebenden Vögeln. Das Sportareal befand sich unter der Erde, dorthin begaben wir uns in einem geräumigen Fahrstuhl. Hier besichtigten wir mehrere Schwimmbäder, ein großes Feld für Ballspiele und einen Raum für Leichtathletik. Im Schwimmbad trainierten gerade die Jungen, auf dem Feld spielten die Mädchen Volleyball.

Wir wurden angeschaut, aber niemand näherte sich uns. Bestimmt deshalb, weil wir mit der Direktorin zusammen kamen.

»Das College Pelach hat sich zum Ziel gesetzt, die zukünftigen Mitarbeiter der Regierung, die Manager von Firmen und Unternehmen sowie die künstlerische Intelligenz zu erziehen«, erläuterte Alla Neige vertraulich. »Das heißt also die Elite. Bei uns ist alles vom Feinsten.«

»Das bedeutet, die Ausbildung bei Ihnen ist sehr teuer?«, erkundigte ich mich.

»Sie wird teilweise vom Staat bezahlt«, wich die Direktorin aus.

Ich beharrte auf eine Antwort: »Und wer bezahlt für uns?«

»Das College. Wir haben Fonds für begabte Schüler.«

Lion und ich sahen uns an.

»Wir sind begabt?«, fragte Lion zweifelnd.

Wir gingen zum Fahrstuhl zurück und fuhren wieder in unseren Wohnbereich. Anna Neige war unsicher, weil sie uns nicht belügen wollte, jedoch auch nicht die ganze Wahrheit eröffnen durfte.

»Ihr seid etwas Besonderes«, äußerte sie endlich. »Ihr habt ein ungewöhnliches Verhalten gezeigt.«

»Weil wir in den Wald gegangen sind?«, fragte Lion.

»Ja. Das neue Imperium braucht solche Leute wie euch. Als meine Tochter mir über eure Rückkehr berichtete, dachte ich sofort, diese Jungs müsste ich zu uns holen.«

Neige betrachtete uns wieder mit ihrem gutmütigen Lächeln.

Und ich dachte: Sie gehört durchaus nicht zu den Hirnamputierten. Sie umgeht es, den Tag zu erwähnen, an dem Inej den Planeten erobert hatte.

Alla Neige führte uns noch durch den Schulbereich von Bombay. Danach überreichte sie uns den Schlüssel zu unserem Zimmer. Hier gab es keine Schlafsäle, wie in den einfacheren Colleges, sondern Zweibettzimmer. Dann verließ sie uns.

Wir blieben allein in der Mitte des Korridors — bedrückt, verloren und angespannt. Mir gefiel das, was hier passierte, immer weniger. Wie schön wäre es, wenn wir jetzt durch den Wald zögen, Fische fingen und in Hütten schliefen…

»Schauen wir uns das Zimmer an?«, fragte Lion.

Die Unterkunft gefiel uns. Das Zimmer wirkte, als bestünde es aus zwei Dreiecken, die diagonal geteilt waren: In jedem Dreieck standen ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch. In einem Teil war alles orange — auch der Teppich, die Tapeten hatten ein orange Muster und sogar die Bettwäsche war orange. Im anderen war alles dunkelblau. Auf den Schreibtischen standen teure Laptops mit einem starken Akku, einem hervorragenden Bildschirm und einer holographischen Tastatur sowie alle Geräte für das Schreiben von Hand. Das heißt, hier erwartete uns ein klassischer Unterricht. Zusätzlich fanden wir noch alle möglichen Kleinigkeiten für die Schule.

»Ich kann gut handschriftlich schreiben«, brüstete sich Lion.

Ich konnte es auch, wusste aber nicht, wie gut, und gab lieber nicht damit an.

»Welche Hälfte nimmst du?«, wollte Lion wissen.

»Die orange«, erwiderte ich.

»Die blaue«, wählte Lion. »Prima. Mann, was für eine schöne Aussicht…«

Das Fenster war in seiner blauen Zimmerhälfte. Dafür war in meiner Hälfte die Badtür. Das Bad war klein, aber sehr komfortabel.

Wir schauten aus dem Fenster. Von unserer fünften Etage sah man den ganzen Garten um das College herum, ebenfalls die Straßen und eine sehr schöne Moschee auf der gegenüberliegenden Seite.

Ich schaute Lion fragend an.

»Gehen wir«, sagte er. Uns beiden war klar, dass man sich hier über nichts Wichtiges unterhalten sollte. In allen Colleges gab es Abhöreinrichtungen, manchmal auch Videokameras, damit die Schüler nicht über die Stränge schlugen.

Vorher schaute ich noch schnell in den Schrank und fand dort zwei Schuluniformen. Eine für jeden Tag mit dunkelblauen Hosen und Anzugjacke, einem hellgrauen Hemd und einem Schlips mit dem Zeichen des Bereichs Bombay — einem Elefanten, der den Rüssel hebt, sowie Käppi und Schuhe. Die zweite Garnitur war ähnlich geschnitten, nur dass Anzug und Hemd weiß waren.

Lion fand die gleiche Kleidung in seiner Garderobe. Er zog sich sofort aus und probierte den Anzug an.

»Hör mal, das ist meine Größe, passt genau!« Er freute sich.

Ich probierte ebenfalls meinen Anzug an. Er saß wie angegossen, als ob man ihn für mich genäht hätte.

»Na ja, sie kannten ja unsere Größe, unser Gewicht«, meinte Lion unsicher und schaute mich an. Er war barfuß, nur in Hosen, und drehte sich, um festzustellen, ob nicht irgendwo etwas drückte oder flatterte.

»Und außerdem wussten sie, welche Farbe wir wählen würden«, stimmte ich zu. »Komm, wir ziehen das später an!«

Lion nickte. Eine Wanze in der Hemdennaht oder in einem Schuh zu verstecken war sehr einfach. Wir würden sie nicht finden. Die Wanze konnte wie ein normaler Faden aussehen und die Informationen einmal am Tag als chiffrierten Datenstrom weiterleiten. Kein Detektor könnte sie orten.

»Okay. Die tragen wir noch oft genug. Und jetzt gehen wir in die Stadt, ja?«

Wir zogen uns wieder unsere eigenen Sachen an und gingen auf den Korridor.

Dort begegneten wir vier Jungen in unserem Alter. Sie mussten gerade aus der Sporthalle gekommen sein, da sie Trainingsanzüge trugen, ihre Taschen über die Schulter geworfen hatten und ihre Haare noch nass vom Duschen waren.

»Neulinge!«, freute sich einer. Es war sofort zu sehen, dass es der Anführer war. Er war größer und stärker als seine Freunde. »Ihr wohnt also auch hier?«

»Ja!« Lion schob mich plötzlich zur Seite und ging voran. »Hier.«

»Na dann, ihr müsst euch noch anmelden«, meinte der Junge. »Ist das klar?«

»Eine Schlägerei?«, fragte Lion ruhig.

Der Junge nickte.

»Ich bin dabei!«, stimmte Lion zu.

Ich bekam einen Schreck. Ich mag keine Schlägereien. Ich hatte mich bisher vielleicht fünfmal geschlagen, na ja, wenn man meine ganz frühe Kindheit nicht mitzählt.

Was für eine dumme Angewohnheit! Bevor man Freundschaft schließt, muss man sich erst einmal schlagen!

»Fangen wir an!«, forderte währenddessen der Junge. Er warf seine Tasche auf den Boden und schritt auf Lion zu.

Irgendetwas war geschehen. Es sah aus, als ob Lion auf der Stelle leicht nach oben gesprungen und wieder erstarrt wäre.

Sein Gegner, einen Kopf größer als er, fiel auf den Boden und drückte beide Handflächen gegen sein Gesicht.

Aus der zerschlagenen Nase floss Blut. Der Junge jaulte leise wie ein beleidigter Welpe.

»Will noch jemand?«, fragte Lion. Seine Stimme hatte sich verändert, wirkte kalt und bösartig. »Dem Zweiten breche ich den Kiefer!«

Die Jungs erstarrten. Auf Lion schauten sie nicht etwa mit Furcht, sondern mit Unverständnis.

»Bringt ihn zum Sanitäter. Du«, Lion zeigte auf einen der Jungs, »bist dafür verantwortlich.«

Weitere Worte wurden nicht gewechselt. Zu dritt fassten sie ihren Freund, halfen ihm beim Aufstehen und schleppten ihn durch den Korridor. Das Blut tropfte in dicken Tropfen aus seinem Gesicht, über den Teppich zog sich eine Spur dunkler Flecken.

»Sag mal, bist du verrückt geworden?«, zischte ich. Ich erinnerte mich nämlich daran, dass mich Lion bei unserem ersten Treffen gefragt hatte, ob wir uns schlagen würden.

Er hätte mich doch nicht etwa so zusammengeschlagen!

Lion wandte sich um. Sein Gesicht war betrübt, zeigte aber kein Schuldbewusstsein.

»Das war notwendig, Tikkirej, lass uns gehen!«

Ich fing keinen Streit mit ihm an. Wir gingen schweigend durch den Korridor nach unten, am Wachmann in seiner Bude vorbei und traten auf den Schulhof.

»Du bist völlig übergeschnappt!«, sagte ich voller Überzeugung und stieß Lion in den Rücken. »Warum hast du das gemacht?«

Lion lief schnell weiter, wedelte mit den Händen und antwortete erst, als wir außerhalb des Geländes waren. Dann murmelte er:

»Das war notwendig.«

»Aber warum denn?«, schrie ich. »Ja, wir hätten uns geschlagen, aber warum denn so…«

»Ich habe mich an meine Träume erinnert«, schnitt mir Lion das Wort ab.

»Was haben die denn damit zu tun?«

»An die Träume«, wiederholte Lion. »Von der Grundausbildung. Wie ich mich genauso… ›anmelden‹ musste. Glaub nicht, dass es ihnen um eine normale Schlägerei ging! Sie wollten uns zusammengeschlagen. Aber so habe ich sie aus dem Konzept gebracht. Jetzt werden sie uns in Ruhe lassen.«

»Du hast trotzdem kein Recht dazu! Vielleicht haben sie auch irgendetwas geträumt?«

»Dasselbe«, bekräftigte Lion. »Das genau braucht Inej, verstehst du? Um Kampfgeist anzuerziehen. Wirkliche, abgehärtete Kämpfer. Und genau das geschah in allen Heldenserien, erinnerst du dich? Wenn ein junger Mann zur Armee kommt, wird er erst einmal zusammengeschlagen und dann schließt er mit allen Freundschaft.«

»Wir sind nicht in der Armee, wir sind im College! Denkst du, jetzt werden wir noch mit irgendjemandem Freundschaft schließen können?«, fragte ich ironisch. »Alle werden sich vor dir fürchten!«

»Kann gut sein«, gab Lion zu. »Aber anderenfalls würden wir jetzt im Krankenhaus liegen. Nicht nur dieser Kerl hier!«

Er hatte letztendlich Recht. Denn Lion erinnerte sich an seine Träume und ahnte, wie sich die anderen Jungs benehmen würden. Aber wenn ich bedenke, wie er mit einem Schlag den kräftigen Kerl umgelegt hatte, war mir schon mulmig zumute.

»Wo hast du gelernt, so zuzuschlagen?«, wollte ich wissen.

»Im Traum.« Lion kicherte. »Sie könnten das auch, verstehst du das? Sie wissen es nur noch nicht. Zeig ihnen jedoch nur einmal die Griffe — und sie können es sofort.«

»Weißt du«, meinte ich, »wenn du dich die ganze Zeit an deine Träume erinnerst und dich genauso benimmst wie in ihnen, dann wirst du irgendwann verrückt. Oder du wirst wirklich… eiskalt.«

Lion blieb endlich stehen und hörte mir zu.

»Gefällt es dir, so zu sein?«, fragte ich. »Nummer eins — die Nase ist gebrochen. Zwei — Kommandos werden erteilt. Dann mach nur weiter Karriere! Erobere das Imperium für Frau Snow!«

»Es gefällt mir nicht«, sagte Lion schuldbewusst. »Mir war, als ob in meinem Kopf irgendeine Verbindung zustande käme. Ich erinnerte mich daran, was alles passieren würde. Dass sie uns zusammenschlagen, danach ins Lazarett schleppen, dann bestraft werden — und zum Schluss werden wir Freunde. Und ich fühlte so eine Wut! Ich werde es nicht noch einmal machen.«

»Komm, wir suchen jetzt lieber ein Geschäft!«, entspannte ich die Situation. »Ich muss noch eine Batterie kaufen.«

»Hm.« Lion nickte und lächelte zustimmend. »Gehen wir!«

Neben der Moschee fanden wir einen Laden. Hauptsächlich wurden dort Bücher, Gebetsteppiche, spezielles Essen für Gläubige und unauffällige Kleidung verkauft. Es gab jedoch auch eine Abteilung mit allem möglichen Kleinkram für den Bereich Elektronik, darunter Batterien. Ich blätterte einen Katalog durch, wählte eine Batterie für Schraubenzieher und andere Werkzeuge aus. Da fiel mir ein, dass ich gar kein Geld hatte.

»Mama hat mir am Morgen etwas zugesteckt«, erriet Lion. »Hier.«

Ich bezahlte und nahm die kleine, schwere Metalltablette in Empfang.

»Du werkelst wohl gern?«, fragte der Verkäufer lächelnd.

»Hm«, erwiderte ich. »Besonders Löcher bohren.«

Wir gingen wieder auf die Straße, fanden eine ruhige Gasse, in der sich niemand aufhielt und auf die keine Fenster hinausgingen. Ich löste meinen »Gürtel« und drückte ihn mit der Hand. Die Schlange lebte auf. Die »Schnalle« verdickte sich langsam und verwandelte sich in einen Schlangenkopf. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich eine Batterie in das Schlangenschwert einsetze, und an der Seite öffnete sich ein enger Schlitz. Dort hinein steckte ich die Batterie.

Es schien, als ob ein Krampf durch den Körper ging. Der Schwanz der Schlange schlug nach oben und berührte meinen Neuroshunt. Plötzlich hörte ich Musik, Gesprächsfetzen — nicht akustisch, sondern über den Shunt. Die wiederbelebte Schlange scannte den Luftraum und übertrug mir Radiosendungen, Telefongespräche und allen möglichen Unsinn.

»Mensch!«, rief Lion begeistert aus.

»Das ist nicht nötig!«, flüsterte ich der Waffe zu. »Geh in Warteposition!«

Die Schlange kroch sofort aus dem Shunt, verflachte sich und erstarrte. Ich band mir den Gürtel wieder um. In diesem Moment hielt ein an der Gasse Vorbeigehender inne und schaute mich Verdacht schöpfend an:

»Ei-ei-ei, schämst du dich nicht? So ein großer Junge!«

»Ich mache den Gürtel weiter, die Hosen drücken!«, rief ich und wurde rot. Der Passant schaute mich zweifelnd an, fand jedoch nichts Verdächtiges.

»Warum beschimpfen Sie ihn?«, setzte sich Lion für mich ein. »Es war ihm ganz einfach peinlich, auf der Straße seine Hosen zu richten!«

Die Erklärung hörte sich glaubhaft an.

»Entschuldige, junger Mann!«, sagte der Passant einsichtig. »Ich wollte dich nicht beleidigen, mein Lieber.«

Lion zwinkerte mir zu und flüsterte: »Wie gut das ist, wenn alle höflich sind!«

Das stimmte. Auf dem Avalon hätte sich ein Erwachsener bestimmt nicht bei einem Jungen entschuldigt, selbst wenn er ihn ohne Grund verdächtigt hatte.

»Schon gut!«, meinte ich. »Ich trage es Ihnen nicht nach!« Bis zum Abend spazierten wir durch Agrabad. Wir gingen auf den Platz, auf dem Tien später hingerichtet werden sollte. In dessen Zentrum erhob sich ein Holzgerüst, umhüllt mit rotem Stoff. Bisher zeigten sich nur wenige Menschen auf dem Platz, und wir versuchten, uns dem Gerüst zu nähern. Vielleicht konnte man sich darunter verstecken und eine Luke unter Tien herausschneiden, wenn er gebracht wurde. Zu uns kam aber ein Polizist, der uns äußerst höflich darüber belehrte, dass hier ein Verbrecher hingerichtet werden würde und das Ganze nichts für Jugendliche sei. Es wäre auch nicht erlaubt, sich hier einfach in der Nähe herumzutreiben, da es sich um eine Sache der Gerichtsbarkeit und nicht um eine Hip-Hop-Show handele.

Das bedeutete für uns, dass wir uns entfernen mussten.

Wir trieben uns noch eine Weile in der Nähe herum und rätselten, auf welche Art und Weise Tien hingerichtet werden sollte. Lion ging davon aus, dass er erschossen werden würde, da auf dem Gerüst weder ein Galgen, noch Handwerker, die ihn aufrichteten, zu sehen waren. Ich war der Meinung, dass er geköpft würde. Das alles brachte uns jedoch überhaupt nicht weiter, da beim Anblick des Platzes klar wurde, dass sich hier ungefähr fünfzigtausend Menschen versammeln würden. Auch ein Schlangenschwert würde uns nicht helfen können, den Phagen zu retten. Selbst wenn der mutige Industrielle Semetzki mit seinen Mädchen erscheinen würde, wäre Tien nicht zu retten.

»Wir sehen lieber nicht zu«, schlug Lion vor. Er war irgendwie enttäuscht und wurde nervös. »Ich möchte so etwas nicht erleben!«

Ich dachte nach. In meiner Brust breiteten sich Kälte und Widerwillen aus. Ich hatte überhaupt kein Interesse daran, die Hinrichtung mitzuerleben. Die Erinnerung daran war wach, wie wir in Tiens Raumschiff am Tisch gesessen waren, Abendbrot gegessen hatten und er alle möglichen, sicherlich ausgedachten, Phagengeschichten erzählt hatte, denn wer würde uns schon die wirklichen Geheimnisse verraten? Trotzdem hatten wir es interessant gefunden und gelacht.

»Es wäre feige, wenn wir nicht hingehen würden«, äußerte ich. »Er ist doch hier ganz allein. Tien schaut auf den Platz und dort sind nur Feinde.«

»Glaubst du, dass er uns sehen wird?«, fragte Lion und sah sich zweifelnd auf dem Platz um.

»Er wird es fühlen. Er ist ja ein Phag.«

Lion nickte und biss die Zähne zusammen.

»Wir müssen hingehen«, wiederholte ich.

Bis zur Hinrichtung verblieben noch vier Stunden. Wir schlenderten noch einmal durchs Zentrum. Hier war es sehr schön. Die Häuser unterschieden sich voneinander und ähnelten sich nicht so wie in den Wohngebieten. An kleinen Ständen wurde mit allen möglichen Dingen gehandelt, Cafés hatten geöffnet, obwohl in ihnen wenig Gäste saßen. Wir wollten weder essen noch trinken, noch konnten wir uns an der Stadt erfreuen.

»Und wenn unter dem Platz ein Kanalsystem ist?«, brütete Lion eine Idee nach der anderen aus. »Dort hineingehen, bis zum Gerüst kriechen… nein, das ist Blödsinn. Am Besten wäre es, einen Flyer zu entführen…«

Das alles war sinnlos. Wir wussten es beide. Wir konnten nichts machen, außer auf den Platz zu gehen und die Hinrichtung anzusehen.

»Ist das schlimm, wenn ein Mensch stirbt?«, wollte Lion wissen.

»Du hast das doch schon in deinen Träumen gesehen«, konnte ich nicht an mich halten. »Wie ich gestorben bin, zum Beispiel.«

»Das war im Traum«, erwiderte Lion trübselig. »Und in echt? Dieser Spion, den Stasj getötet hat?«

»Es war fürchterlich«, gab ich zu. »Wenn jemand stirbt, ist das schlimm. Aber damals fing ja das ganze Durcheinander an. Deshalb war ich abgelenkt. Und die eine Sache ist ein Spion, der mich töten will, Tien ist eine andere.«

»Was glaubst du, ist das eine Lüge mit der Beulenpest?«

»Eine Lüge!«, sagte ich mit Bestimmtheit.

Obwohl ich tief in meinem Innersten zweifelte. Vielleicht stimmte es doch? Denn die Phagen dienen dem Imperium an sich und nicht einzelnen Individuen oder auch Tausenden Menschen. Wenn ein Phag den Befehl erhält, wirft er auch eine Bombe auf einen Planeten und verseucht Wasserleitungen mit Viren.

Nach einer Stunde waren wir völlig ausgelaugt und begaben uns auf den Platz. Die Menschen kamen zuhauf. Bis sechs Uhr abends war fast niemand da, danach schien es, als ob sich Schleusentore geöffnet hätten und die Leute von überall herströmten. Offensichtlich ging der Arbeitstag zu Ende.

Zuerst kamen Männer und Frauen in streng geschnittenen Anzügen, Mitarbeiter der Regierungsbehörden. Dann erschienen eher sportlich gekleidete Menschen, wahrscheinlich aus der privaten Wirtschaft. Danach Arbeiter aus den Betrieben, die eine lange Fahrt ins Zentrum hatten. Sie waren einfach zu erkennen.

Gegen sieben Uhr schien der Platz schon voller Menschen, trotzdem trafen immer neue ein und die Massen begannen sich zusammenzudrängen. Lion und ich wurden bis zum Gerüst vorgeschoben, obwohl wir gerade dorthin nicht wollten. Viele Erwachsene schauten uns unwillig an, forderten uns jedoch nicht auf wegzugehen. Es war klar, dass man aus so einer Menschenmenge nicht mehr herauskonnte.

»Es ist sinnlos, dass wir hier sind«, murmelte Lion. »Hör mal, ich muss auf Toilette…«

»Wie willst du hier auf Toilette?«, erregte ich mich. »Reiß dich zusammen!«

Viertel vor acht erschien über dem Platz ein riesiger Flyer mit dem Zeichen der Regierung von Neu-Kuweit. Er senkte sich langsam über das Gerüst, ohne vollständig auf der Tribüne aufzusetzen. Sonst hätte er die Balken durch sein Gewicht zum Einsturz gebracht. Die Türen am Bug öffneten sich und ein Dutzend Polizisten, Zivilisten und Tien stiegen aus.

Die Menschenmenge hielt die Luft an.

Tien wurde in die Mitte des Gerüsts gestellt, wo sich eine kleine Erhebung in Form eines Podests befand. Er trug eine triste, graue Robe. An seinen Händen und Füßen sah man die Ringe der magnetischen Fesseln. Der Phag wirkte sehr ruhig und schaute nicht in die Menschenmenge, sondern über die Köpfe hinweg.

Die Polizisten formierten sich seitlich in einer Reihe, jeder hielt in seiner Hand einen Strahlenblaster.

»Sie werden ihn erschießen«, flüsterte mir Lion ins Ohr. »Das ist gut. Das tut nicht so weh.«

Gleichzeitig erhob sich der Flyer in den Himmel und verharrte unbeweglich etwa hundert Meter über dem Gerüst. Ein dünnes, glänzendes Seil wurde aus seinem Rumpf heruntergelassen.

Die Masse staunte.

Tien schaute verächtlich auf den Zivilisten, der das Seil auffing und ihm die Schlinge um den Hals legte. Und wieder schaute er über die Köpfe der Leute hinweg.

»Das ist entwürdigend«, flüsterte Lion. »Es ist ein unehrenhafter Tod, wenn sie ihn aufhängen!«

Während er das äußerte, trat einer der Zivilisten an den Rand des Gerüsts und begann zu reden. Seine Stimme wurde durch unsichtbare Lautsprecher verstärkt und schallte über den ganzen Platz. Und nicht nur über den Platz, sie war sicher in der ganzen Hauptstadt zu hören.

Dieser Zivilist war der Staatsanwalt von Agrabad.

Er verlas das Urteil des Tribunals, wonach Sjan Tien, Bürger von Avalon, sich auf dem zur Föderation des Inej gehörenden Planeten Neu-Kuweit eingeschlichen hätte mit Dokumenten, die ihn als Bodyguard des persönlichen Vertreters des Imperators, der in einer diplomatischen Mission auf Neu- Kuweit weilte, auswiesen.

Aber leider erwiderte der Bürger Sjan Tien, der mit aller der Föderation eigenen Gastfreundschaft aufgenommen worden war, die ihm erwiesene Güte mit Gräueltaten. Heimlich verließ er das ihm zugewiesene Hotelzimmer, verschaffte sich Zutritt zum Territorium der hauptstädtischen Wasserwerke und wurde dort von der Wache beim Versuch, Gift in die Filteranlagen einzubringen, verhaftet. Die daraufhin veranlasste Analyse ergab, dass sich in dem von ihm mitgeführten Reagenzglas Erreger der Beulenpest, einer schrecklichen Seuche, die Millionen Bürger von Neu-Kuweit vernichten würde, befanden. Außerdem stellte sich während der Ermittlungen heraus, dass Sjan Tien ein so genannter Phag, Mitglied einer unmittelbardemImperatorunterstelltengeheimen Terrorgruppe, war. Auf Entscheidung des Tribunals wurde die diplomatische Immunität des Saboteurs Tien aufgehoben, und er wurde verurteilt — hier vergaß die Menschenmenge zu atmen — zum Tode durch den Strang. Das Hängen solle erfolgen durch Anbringung einer Schlinge am Halse Sjan Tiens, wobei diese ein Ende eines festen, einhundert Meter langen Seils bilde, dessen anderes Ende am Gerichtsflyer befestigt sei. Letzterer solle auf einer Höhe von hundert Metern schweben und auf Befehl des Staatsanwalts eine Höhe von zweihundert Metern einnehmen…

Die Worte des Staatsanwaltes waren zwar verständlich, aber sehr geschraubt, wie in alten historischen Chroniken. Auch seine Stimme war festlich und düster, ganz wie in alten Filmen.

Im Anschluss fragte der Staatsanwalt Sjan Tien, ob dieser etwas erwidern wolle oder einen letzten Wunsch hätte — eine Zigarette, Alkohol, Drogen oder die Hilfe eines Angehörigen einer beliebigen allseits anerkannten Konfession.

Der Phag schaute ihn an, schüttelte den Kopf und blickte wieder über die Köpfe der Menge hinweg.

Lion versteckte sein Gesicht an meiner Schulter, und ich wusste, dass er sich die Hinrichtung nicht ansehen wollte und würde. Jetzt war er gar nicht mehr wie am Morgen, als er sich mit dem Jungen aus dem College geschlagen hatte.

Ein anderer Zivilist trat nach vorn und die Menschenmenge reagierte mit Applaus.

Dieser Mensch mittleren Alters war der Sultan, der Herrscher von Neu-Kuweit. Er sprach kurz über Wortbruch, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit und erklärte, dass er sich nach reiflichem Nachdenken dazu entschieden hätte, von seinem Recht auf Begnadigung keinen Gebrauch zu machen. Die Menge applaudierte.

Auf einmal begannen alle dermaßen zu toben, dass sich sogar Lion zum Gerüst umwandte. Das hier war eindeutig noch nicht die Hinrichtung. Hier ging etwas völlig anderes, wahrscheinlich Wichtigeres als jegliche Rechtssprechung vor sich.

Hinter dem Rücken der Zivilisten trat eine kleine Frau in einem langen Kleid, langen Spitzenhandschuhen und einem Gesichtsschleier hervor.

»Die Herrscherin!«, schrie Lion begeistert. »Frau Präsident!«

Die Menschenmenge tobte.

Ich wurde beinahe umgerissen, so eilig strömten alle zum Gerüst. Neben mir wurde vor lauter Begeisterung geschrieen, geweint und gelacht. Frauen und Kinder — es gab trotz allem Kinder in der Menschenmenge — wurden auf den Arm genommen und auf die Schultern gesetzt, damit sie die Präsidentin Inna Snow besser sehen konnten. Auch ich wurde plötzlich gepackt und fand mich auf den breiten Schultern eines solide wirkenden Mannes mit einem vor Begeisterung verzerrten Gesicht wieder. Er weinte und lachte gleichzeitig.

»Schau hin, Kleiner!«, schrie er mir zu. »Schau hin und präge es dir ein!« Und dann, mich sofort wieder vergessend: »Frau Präsident! Frau Präsident!«

Ich war der Situation hilflos ausgeliefert. Ich schaute mich um. Neben mir wurde Lion von einem dürren, jung aussehenden Mann genauso wie ich hochgehoben und auf die Schultern gesetzt. Ich sah mich um und realisierte, dass ich eine allgemeine Hysterie miterlebte: Die Menschen wollten nicht nur selber Inna Snow sehen, sondern auch anderen helfen, sie zu erblicken. Unweit von uns entfernt wurde ein recht erwachsener Mann nach oben gehoben. Er war von kleinem Wuchs und konnte deshalb schlecht sehen, was passierte.

Und wir wollten einen Überfall vorbereiten und Tien befreien!

Wie waren wir nur dumm und naiv… Diese Menschenmenge hätte jeden beim Versuch einer Attacke auf die Personen, die sich auf dem Gerüst befanden, in Stücke, in kleine Krümel, in Moleküle zerlegt!

»Was bist du so schweigsam, du brauchst dich nicht zu schämen!«, schrie mir der mich tragende Mann zu.

Ich wagte es nicht, ruhig zu bleiben.

»Inna Snow! Inna Snow!«, begann auch ich zu schreien. »HERR-SCHE-RIN! FRAU PRÄ-SI-DENT!«

Die Menge schäumte. Inna Snow hob eine Hand und begrüßte ihre Untertanen.

Dann hob sie die zweite Hand und alle verstummten.

»Das Böse schafft Böses, das Gute — Gutes«, verkündete Inna Snow. Ihre Stimme wurde ebenfalls verstärkt, aber sie schien zu flüstern, sehr zu Herzen gehend und nicht mit der Menschenmenge, sondern nur mit mir allein zu sprechen. Außerdem vibrierte ihre Stimme eigenartig, aber mir vertraut, als ob sie die ganze Zeit über Intonation und Timbre wechselte.

»Herrscherin…«, flüsterte auch ich. Ich hörte es nicht, sondern fühlte, wie jeder Einzelne auf dem Platz dieses Wort herausstieß, wie es sich wie ein leichter Sirenenklang durch die Straßen Agrabads verbreitete.

»Dieser Mensch kam zu uns mit dem Tod. Mit einem schlimmen, fürchterlichen Tod für jeden Einwohner Agrabads. Ich habe keine Angst um mich, denn ich kann nicht sterben. Und das Mindeste, das Gerechteste, was man tun kann, ist, diesen Menschen namens Sjan Tien zu richten.«

Die Masse schwieg und wartete.

Inna Snow starrte auf Tien: »Er brachte den Tod zu euch. Meinen Freunden. Meinen Kindern.« Und sie wandte sich von ihm ab.

»Wäre das aber wirkliche Gerechtigkeit? Ich möchte mich mit euch beratschlagen. Dieser Mensch ist ein Phag — ein genetisch modifizierter Mörder, ein Terrorist, herangezogen in den Labors des Avalon. Er hat nie seine Eltern kennen gelernt. Sein Genom ist ein Mosaik aus Genen, die von einem Dutzend Spendern stammen. Seit frühester Kindheit lehrte man ihn zu töten und zu verraten. Man hielt menschliche Gefühle von ihm fern, erzog ihn zu Grausamkeit und Unbarmherzigkeit, unfähig zu lieben, unfähig zu leiden. Er ist lediglich ein Instrument in den Händen einer feigen, käuflichen Macht, die ihr Ende nahen sieht. Ja, das Imperium ist bereit, die gesamte Galaxie mit Strömen heißen Menschenbluts zu überziehen und uns schutzlos und ausgeblutet den fremden Rassen zu überlassen. Aber werden wir auch nur einen überflüssigen Tropfen Blut in diesen Strom einspeisen? Ich weiß, wie gering die Chance ist, dass sich dieser Mensch ändern wird. Aber es gibt diese Chance. Können wir uns diese Barmherzigkeit leisten? Sind wir dafür stark genug? Glauben wir an uns? Sind wir fähig zu verzeihen?«

Die Menschenmenge schwieg. Ich schwieg ebenfalls. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Die Herrscherin sollte mir einen Hinweis geben, mir erklären, was ich wollte — die Hinrichtung Tiens oder Barmherzigkeit.

»Wir erwidern Böses nicht mit Bösem«, flüsterte die Präsidentin ganz leise.

Ich erzitterte und schloss die Augen, als ich kapierte, wie für mich gedacht wurde. Was ist das hier für eine Einflüsterung? Sie faselt doch Unsinn, diese Inna Snow! So etwas ist Demagogie! Was heißt hier »Das Böse erschafft Böses«? Sjan Tien konnte nicht den ganzen Planeten mit einer todbringenden Krankheit infizieren, er hätte so etwas nie gemacht! Wieso benutzte man da einen menschlichen Terroristen? Man könnte viel eleganter aus dem Weltraum eine kleine Eiskapsel auf den Planeten werfen, die im Luftraum über der Hauptstadt schmelzen würde und schon wäre das Ziel erreicht! Und überhaupt sind die Phagen weder gefühllos noch erbarmungslos! Und das Imperium will mit niemandem Krieg führen!

Aus welchem Grund aber hatte ich begonnen genauso zu denken, wie Inna Snow es wollte? Ich gehörte doch nicht zu den Hirnamputierten!

Vielleicht deshalb, weil sich um mich herum Tausende Menschen befanden, die alle das Gleiche dachten? Das wäre dann eine Art Reihenschaltung. Man benötigt keinerlei Apparate, um alle Menschen gleichzuschalten, sie zu Teilen eines Mechanismus werden zu lassen: Mach sie zum Teil einer Menschenmasse! Schau mit den Augen der Masse, höre mit ihren Ohren, schreie mit ihrer Stimme!

Und schon erstirbt jeglicher Gedanke.

»Schenken wir diesem Menschen die Freiheit?«, stellte Inna Snow in den Raum. Sie schaute nach oben auf den schwebenden Flyer und der dunkle Schleier legte sich auf ihr Gesicht und zeichnete die Konturen nach. Die Menge stöhnte, als ob sie das Gesicht der Frau Präsidentin genauer sehen wollte. »Soll er sich zu seinem Herrn scheren, dieser treue Hund des Imperators! Soll er Zeugnis ablegen von unserer Verachtung, unserem Willen und unserer Kraft!«

»Ja!«, jauchzte die Menge. Mir dröhnten die Ohren. Der Mann, der mich hochgehoben hatte, sprang herum wie ein Kind und wedelte mit den Armen. Ich begann herunterzurutschen, er hielt mich fest, setzte mich wieder gerade und rief fröhlich:

»Wie gut sie ist! Junge, wie gut sie ist! Wie gut!«

»Du bist ein hirnamputierter Verrückter«, sagte ich. Er konnte mich sowieso nicht hören. Im selben Augenblick hatte er mich vergessen und fing wieder an mit den Armen zu wedeln. Um uns herum liefen die Leute Amok.

Auf dem Gerüst nahm man endlich Tien die Schlinge vom Hals und stellte eine hölzerne Leiter direkt in die Masse.

»Soll er gehen«, wiederholte Inna Snow. »Lasst ihn passieren, Bürger. Berührt ihn nicht. Soll er zum Kosmodrom gehen, sich in sein Raumschiff setzen und den Planeten verlassen. Niemand soll ihm zu nahe kommen!«

Sjan Tien wartete geduldig. Ihm wurden die Fesseln an Händen und Füßen abgenommen. Er rieb seine Handgelenke, danach ging er auf Inna Snow zu. Er sprach zu ihr. Man hörte seine Worte nicht, wohl aber die Antwort der Herrscherin: »Eure Psychoweisheit hat keine Wirkung auf mich. Ich werde den Schleier an dem Tag lüften, an dem die Menschheit das Joch des Imperators abgeschüttelt haben und eine Familie bilden wird. Geh, Phag, geh zu deinen Herren.«

Tien zuckte mit den Schultern. Langsam stieg er vom Gerüst. Die Menge wich zur Seite und bildete einen Freiraum um ihn. Tien sah sich um. Er ging — und der Freiraum um ihn herum bewegte sich mit ihm. Die Menschen sprangen zur Seite, als ob der Phag selber die Beulenpest hätte.

Ich bekam nicht mit, wer ihn als Erster anspuckte. Es waren gleich ungeheuer viele, die Sjan Tien anspuckten und dabei versuchten, ihn ins Gesicht zu treffen.

Tien schien die Erniedrigung nicht zu bemerken. Er ging weiter. Direkt auf mich zu. Der Freiraum folgte ihm.

Ich zappelte und versuchte ihm aus dem Weg zu gehen, es war aber bereits zu spät. Die Menschenmasse presste sich zusammen und ich wurde direkt gegen Tien geschleudert — in die erste Reihe derer, die sich wie verrückt gebärdeten, schrien und spuckten wie ungezogene Kinder. Tiens Blick glitt über mich, ohne sich zu verändern, aber ich wusste, dass er mich erkannt hatte.

Ich sammelte den Mund voller Speichel und spuckte Tien an. Ich schrie: »Hau ab! Hau ab!«

Dann wurde ich zur Seite gedrängt, der Kreis bewegte sich weiter. Ich spuckte noch einmal, Tien in den Rücken.

Ich hatte mich noch nie in meinem Leben so ekelhaft gefühlt.

Das bedeutete es also, ein Phag zu sein?

Mit einer Schlinge um den Hals dazustehen, wenn frech und schamlos Lügen über dich verbreitet, dir die Worte im Munde umgedreht werden und du jeglicher Sünden bezichtigt wirst — das hieß also auch, »ein Phag zu sein«?

Angespuckt durch eine schreiende Menschenmenge zu laufen und dabei an fremder Spucke fast zu ersticken?

Einem Freund ins Gesicht zu spucken?

Und wenn es Stasj gewesen wäre?

Ich wollte niemals ein Phag sein!

Und ich hasste alle diejenigen, die die Phagen zu so etwas zwangen!

Ich verstand alles, ich war nicht mehr klein. Auch der Imperator war schuld, da er seinen Ratgebern zu sehr vertraute und nicht gegen Ungerechtigkeiten wie bei uns auf Karijer kämpfte.

Vielleicht wollte Inna Snow auch wirklich nur Gutes für alle Menschen und log deshalb.

Aber das, was sie soeben gemacht hatte — das war keine Barmherzigkeit!

Das war niederträchtig.

Denn sie wusste genau: Man würde Tien anspucken. Es ging ihr nicht um seine Hinrichtung, weil die Hinrichtung eines einzelnen Menschen nicht ins Gewicht fällt, wenn Planeten gegeneinander kämpfen. Sie wollte die Phagen, das Imperium und den Imperator erniedrigen.

Als sie Tien einen Hund des Imperators schimpfte, wollte sie Krieg. Aus einem bestimmten Grund brauchte sie einen heißen Krieg! Und zwar einen Krieg, bei dem das Imperium als Aggressor gelten würde!

Warum nur?

»Tikkirej!« Lion fasste mich am Ellenbogen. »Ich hatte dich v-verloren!«

Er zitterte, als ob er krank wäre. Die Menschenmenge um uns herum kochte, aber Lion hielt sich an mir fest und sah mich mit Grauen an.

»Hast du es jetzt verstanden? Ja? Hast du es verstanden?«, schrie er.

»Ich habe es verstanden!«, erwiderte ich. »Lion, beruhige dich! Es ist schon alles vorbei!«

Ja, wir hatten es überstanden. Für Tien war es erst der Anfang. Am Abend sahen wir in den Nachrichten, wie er zu seinem Raumschiff kam — in einem lebenden Korridor, in einem Kreis der Leere, in einem spuckenden menschlichen Ring.

Aber jetzt fassten wir uns fest an. Wir wurden in der Menge hin und her gestoßen, einer freundlichen, aufmerksamen, rücksichtsvollen Menge, in der sich alle bemühten, zwei kleine Jungs zu unterstützen, die man sonst zertrampelt hätte.

Kapitel 6

Auf dem Heimweg zum College beruhigte sich Lion ein wenig. Er schimpfte allerdings pausenlos.

»Hast du bemerkt, wie sie die Menge aufgehetzt hat? Und was sie mit uns angestellt hat? Sogar du hast ihr zugejubelt, ich habe es gehört!«

»Sie hat auf eine besondere Weise gesprochen«, erklärte ich. »Die Phagen können das auch… Wenn du Befehle gibst und man sich dir unterordnet. Ich glaube aber nicht, dass die Phagen gleich eine riesige Menschenmenge beeinflussen können. Und auf Snow hat es überhaupt nicht gewirkt… Ist dir aufgefallen, dass Tien versucht hat, sie dazu zu bringen, ihren Schleier zu lüften?«

»Ha,dieMenge!«,fauchteLionverächtlich. »Hirnamputierte!«

»Ich gehöre nicht zu den Hirnamputierten!«, berichtigte ich. »Und du auch nicht. Aber wir haben mitgejubelt.«

Neben einem Müllkübel fand Lion eine leere Bierdose. Er bückte sich, als ob er sie aufheben wollte, überlegte es sich jedoch anders, schaute sich sichernd um, zog eine Grimasse und stieß mit voller Kraft die Bierdose weg. Sie schepperte so unangenehm, wie nur leere Plastikbehälter scheppern können.

»Wie kindisch«, bemerkte ich.

Ich schritt aus, Hände in den Taschen, und hatte keine Lust, Bierdosen wegzukicken, Flaschen zu zerschlagen oder die Präsidentin Inna Snow zu beschimpfen.

Das war dumm, das war auf dem Niveau von Lions kleinem Bruder, wenn er ein Auto zerstampfte. Wir aber waren nun mal keine Kinder, denen die Föderation des Inej und deren Präsidentin einfach nicht gefiel. Wir waren Aufklärer, Helfer der Phagen.

»Der Imperator muss in den Krieg ziehen«, sagte Lion plötzlich. Er sah mich an und sein Gesicht war wie versteinert. »Es bleibt ihm nichts anderes übrig. Alle werden ihr folgen. Es wird zum Kampf kommen.«

»Und deine Eltern?«, wollte ich wissen.

Lion blinzelte und kam ganz durcheinander.

»Sie werden doch für Inej kämpfen«, erinnerte ich ihn. »Für Inna Snow. Dein Brüderchen wird kämpfen, dein Schwesterchen auch. Und dein Vater wird in den Krieg ziehen. Deine Mutter wird in einer Fabrik schuften oder im Schacht arbeiten.«

»Ich werde darum bitten, dass sie evakuiert werden… Und dass sie eine Gehirnwäsche bekommen!«, sagte Lion kläglich. »Oder sind sich die Phagen dafür etwa zu schade?«

»Die Phagen handeln nicht aus Mitleid«, erinnerte ich ihn. »Nur Stasj ist nicht ganz so wie die anderen.«

»Dann musst du zurückfliegen«, beschloss Lion. »Wir haben schon alles aufgeklärt. Es wird Krieg geben. Der Imperator wird derartige Beleidigungen nicht hinnehmen, er ist zwar alt, aber stolz. Verlass den Planeten und berichte alles, was wir erkundet haben. Und ich bleibe bei meinen Eltern.«

»Du wirst im College bleiben«, berichtigte ich ihn. »Und wirst auch nichts machen können. Tja, und was haben wir hier eigentlich erkundet?«

»Dass Inna Snow gegen das Imperium kämpfen will«, sagte Lion.

»Glaubst du, sie ist nicht bei Trost?«, fragte ich. »Denk doch einmal selbst nach, was das Imperium für eine Flotte hat im Gegensatz zu der von Inej! Wie viele Planeten zum Imperator halten und wie viele zu Inna Snow! Na gut, hier hat sie alle hirnamputiert, sie würden für sie in den sicheren Tod gehen. Aber mit allen anderen wird es nicht so leicht sein! Bei ihnen sind die Radioshunts deaktiviert, das Programm kann nicht mehr so einfach initiiert werden. Sogar wenn es weitere Betroffene geben sollte — sie können jetzt geheilt werden. Wie will sie denn dann kämpfen? Besitzt sie etwa eine Wunderwaffe? Irgendeinen Todesstrahl wie im Film? Eins — und alle Sterne sind erloschen, zwei — und alle Raumschiffe sind verglüht…«

Lion wurde unruhig.

»Und wenn es wirklich so ist? Vielleicht wartet sie nur auf einen Anlass, darauf, dass der Imperator als Erster angreift?«

»Warum?«

»Zum Beispiel, damit die Fremden sie nicht für den Aggressor halten. Ich erinnere mich aus meinem Traum, dass nicht nur wir gegen das Imperium kämpften, die Halflinge hatten uns unterstützt…«

Er unterbrach sich und schaute mich erschrocken an. Ich fasste Lion an die Schultern:

»Hast du das den Phagen gesagt?«

»Äh — ich erinnere mich nicht. Ich glaube…«

»Was ›glaubst‹ du?«

»Ich glaube, ich habe es gesagt…«

»Verdammt!« Etwas anderes fiel mir nicht ein. »Darum geht es also! Sie konspiriert mit den Fremden! Vielleicht wirklich mit den Halflingen, die sind kriegerisch wie alle Zwerge. Und wenn das Imperium Inej überfällt, treten die Halflinge auf Inejs Seite in den Krieg… Sie haben massenhaft Militärraumschiffe! Und dann beginnt ein solches Durcheinander!«

»Das müssen die Phagen erfahren«, meinte Lion.

»Und wie? Sollen wir einen Brief zum Avalon schicken?«, fragte ich aufgebracht.

»Warum keinen Brief, wenn er chiffriert ist…«

»Wenn uns jemand den Code verraten würde!?«

Wir standen da und schauten einander verzweifelt an.

Dann äußerte Lion: »Hör mal, warum, zum Teufel, haben sie unsüberhauptohnejeglicheKontaktmöglichkeit hierhergeschickt?«

»Stasj hat gesagt, dass sie uns finden würden.«

»Wann? Und wer? Wenn wir hier wirklich etwas Wichtiges in Erfahrung bringen können, warum haben wir dann keine Verbindung zu ihnen? Egal welche! Ein bestimmtes Zeichen, ein Brief, der geschrieben werden muss… was weiß ich!«

»Sie werden von sich aus Kontakt mit uns aufnehmen!«, wiederholte ich störrisch. »Auf jeden Fall!«

Lion bewegte zweifelnd den Kopf:

»Das ist trotzdem nicht in Ordnung. So etwas darf es einfach nicht geben, Tikkirej!«

Wir hätten noch bis in alle Ewigkeit darüber diskutieren können, ob man uns eine Kommunikationsmöglichkeit mit Avalon hätte einrichten sollen oder nicht. Es war so oder so ein sinnloser Streit. Ich war mir ziemlich sicher, dass uns am Abend Probleme erwarten würden. Zumindest Lion müsste bestraft werden!

Über die Schlägerei verlor jedoch niemand ein Wort und überhaupt versuchten alle, uns nicht zu nahe zu kommen. Im Speisesaal bekamen wir unser Abendbrot, obwohl es schon spät war und sich niemand mehr im Raum aufhielt. In unserem Zimmer fanden wir auf dem Tisch Briefumschläge mit dem Stundenplan für die nächste Woche, den Schulregeln und der Hausordnung des Colleges. Ich las sie mir durch — es gab nichts Unannehmbares in den Regeln. Nur Punkt Nummer sechs-»DieZöglingewerdengebeten,ihre Meinungsverschiedenheiten nicht in Form von Schlägereien auszutragen, bevor nicht alle Möglichkeiten der friedlichen Streitbeilegung ausgeschöpft sind« — war besonders hervorgehoben. Als ob man diese Zeile kräftig mit einem Fingernagel unterstrichen hätte.

Bei Lion fand sich dasselbe.

»Was es nicht alles gibt«, murmelte er. Er wirkte verlegen.

Im Schrank war Kleidung hinzugekommen. Wir hatten jetzt auch Unterwäsche, Schlafanzüge und Sportsachen. Lion freute sich offenkundig und betrachtete die neuen Sachen. Ich setzte mich aufs Bett, legte die Kleidung vor mir zurecht und versank in Gedanken.

Das alles hier ist doch keine billige synthetische Kleidung wie die, die an moralisch nicht gefestigte arbeitsscheue Leute ausgegeben wird. Es ist teure Kleidung aus Pflanzen, aus Baumwolle und Leinen. Und Leinen wächst ausschließlich auf der Erde. Das weiß jeder, überlegte ich.

Als mir meine Eltern echte Jeans aus Baumwolle geschenkt hatten — das war vielleicht ein Feiertag! Natürlich ist Neu- Kuweit viel reicher als Karijer, aber trotzdem… Aus welchem Grund wurden wir mit diesen Geschenken überschüttet?

In Gedanken versunken spürte ich nicht sofort, wie sich die Schlange am Körper bewegte. Sie hatte nach wie vor die Form eines Gürtels und kroch nicht aus den Schlaufen, steckte jedoch das Köpfchen nach vorn und schaute damit in alle Richtungen. Dann erstarrte sie, das Maul geöffnet, aber nicht für eine Plasmagarbe, sondern als ob es ein Miniteleskop als Antenne bilden würde.

Nach einer Sekunde glitt die Schlange über meinen Körper und kroch mir in den Ärmel. Ich blieb still — vielleicht gab es hier nur Abhörgeräte, aber keine Kameras. Ich wartete. Die Schlange kringelte sich um den Arm, kroch danach zur Schulter und berührte den Neuroshunt.

Vor meinen Augen erschien eine virtuelle Leinwand. Das ganze Zimmer war in Miniquadrate unterteilt. Und diese Quadrate füllten sich sehr schnell mit grüner Farbe… bis eines von ihnen, über dem Türrahmen, rot aufleuchtete. Dorthin tastete sich sofort ein dünner, pulsierender Strahl und das Quadrat leuchtete nun gelb. Die restlichen Quadrate färbten sich grün, weitere rote gab es nicht.

Ich war im Bilde.

»Lion, über dem Türrahmen ist eine Wanze.«

»Hä? Was?« Er hörte sofort auf, seinen Schlafanzug mit tanzenden Elefanten zu bewundern, und blickte erschrocken zur Tür. »Woher weißt du das?«

»Das Schlangenschwert«, erklärte ich und hob die Hand.

»Was machst du da?«, flüsterte Lion. »Bist du verrückt geworden?«

»Es ist alles in Ordnung, das Schlangenschwert hat die Wanze ausgeschalten«, beruhigte ich ihn. »Nein, nicht einfach ausgeschalten, sondern viel besser…«

»Na was?«

Die Schlange hatte natürlich nicht mit Worten zu mir gesprochen. Aber ich wusste trotzdem, was genau sie gemacht hatte. Und ich versuchte es, so gut ich konnte, zu erklären.

»Sie hat die Wanze umprogrammiert: Die sendet weiterhin Bild und Ton, aber als Aufzeichnung. Aus Teilen von vorhergegangenen Mitschnitten. Wenn man genau hinschaut, kann man Ungereimtheiten feststellen, aber man muss schon sehr genau hinschauen. Gleich schaltet die Schlange die Wanze wieder ein, und wir müssen uns benehmen, als ob nichts wäre. Und so viel wie möglich bewegen, allen möglichen Blödsinn quatschen… Damit wir für später, wenn die Wanze wieder abgeschaltet werden soll, daraus eine falsche Aufzeichnung zusammenschneiden können.«

»Alles klar«, sagte Lion betrübt. Er hatte sich schon darüber gefreut, dass wir endgültig von der Abhöranlage befreit waren.

»In der Nacht machen wir sie aus«, ermunterte ich ihn. »Dann können wir uns unterhalten. Also, setz dich dorthin, wo du gesessen hast!«

Lion seufzte und beugte sich über den Schlafanzug. Ich gab der Schlange den Befehl und begann ebenfalls meine Sachen anzuschauen.

In der Kleidung waren Gott sei Dank keine Wanzen versteckt. Ziemlich komisch! Vielleicht ging man davon aus, dass wir auf der Straße nicht beobachtet werden mussten, oder wir wurden sogar verfolgt. Und die zweite Variante wäre gefährlich für uns. Wir hatten bisher ohne jegliche Vorsichtsmaßnahmen miteinander gesprochen.

»Ich hatte schon einmal einen Schlafanzug mit Igeln«, sagte Lion. »Einen sehr schönen…«

»Und, ist er kaputtgegangen?«

»Nein, zu klein geworden. Jetzt hat ihn Sascha. Tikkirej, hast du Lust auf Schach?«

Ich wollte erwidern, dass ich nicht gerne Schach spiele, aber Lion fügte mit listiger Stimme hinzu:

»Wir spielen doch eigentlich jeden Tag Schach. Und heute haben wir noch kein einziges Mal gespielt.«

Das war wirklich eine gute Idee! Wenn unsere Überwacher das schlucken, dann kann man die ganze Zeit einen Mitschnitt über die Wanze laufen lassen. Dann sitzen dort zwei Jungs und spielen Schach, von morgens bis abends. Jeder hat nun mal seinen persönlichen Tick!

»Na los«, erklärte ich mich einverstanden. »Schließ deinen Pocket-PC an.«

Ich aktivierte meinen Pocket-PC, Lion seinen. Sie verbanden sich mit einem Strahl und wir luden das Spiel. In den Lehrprogrammen gibt es immer Schachprogramme. Wir begannen zu spielen. Zuerst war es recht langweilig, vielleicht, weil wir wussten, mit welchem Ziel wir uns ans Spiel gesetzt hatten. Dann fingen wir Feuer. Und wir spielten wirklich den ganzen Abend, bis zwölf Uhr, solange auf den Bildschirmen der Pocket-PCs noch nicht »Nachtruhe! Verstöße gegen die Tagesordnung schaden der Gesundheit!« aufleuchtete und dann ständig präsent war.

Jetzt hatten wir eine herrliche Aufzeichnung für unsere Überwacher. Zwei Jungs werfen sich auf ihren Betten herum und spielen über Pocket-PCs Schach. Da soll erst einmal jemand versuchen herauszubekommen, welche Züge wir gerade machten. Wenn ein Tag bereits mit Abenteuern beginnt, dann endet er auch damit.

Wir lagen schon lange in den Betten, schliefen jedoch nicht, sondern unterhielten uns in der Dunkelheit über alles Mögliche. Die Wanze war zuverlässig manipuliert und übertrug lediglich unsere Atemgeräusche im Schlaf.

»Also ich glaube Folgendes«, dachte Lion laut. »Offensichtlich verdächtigt man uns. Wir kannten Stasj, waren zwei Monate lang verschwunden… Es ist unmöglich, dass sie uns nach diesen Fakten sofort vertrauen! Die Behörden haben aber keine wirklichen Gründe, uns festzunehmen. Deshalb wurde beschlossen, uns in dieser Schule unterzubringen, wo man uns leicht überwachen kann…«

»Das ist viel zu kompliziert«, bemerkte ich. »Ich glaube nicht an diese Art Wohltätigkeit!«

Lion setzte sich auf. Ich sah seine dunkle Silhouette vor dem Fenster. Im Park um das College herum war es dunkel, der Himmel war nachts mit Wolken bedeckt, aber entlang den Wegen leuchteten winzige verschiedenfarbige Lampen.

»Warum sollte sich die Direktorin sonst so um uns kümmern?«

»Und warum überwachen sie uns dann so schlecht?«, wandte ich ein. »Eine einzige Kamera, tss!«

»Vielleicht hat deine Peitsche die anderen nicht entdeckt?«

»Blödsinn!« Ich war beleidigt. »Sie hätte sie bestimmt gefunden.«

»Also ich habe gehört…«, begann Lion. Ich sollte aber nicht erfahren, was er so Interessantes gehört hatte, weil im offenen Fenster hinter Lions Rücken ein menschlicher Kopf erschien!

»Ah!«, schrie ich und sprang vom Bett auf. Lion drehte sich um, schrie ebenfalls, warf sich zur Seite und fiel auf den Boden.

»Leise!«, hörten wir eine bekannte Stimme.

Nach dem Kopf erschienen Hände, danach wuchtete sich unser nächtlicher Gast über das Fensterbrett und sprang auf Lions Bett.

»Natascha?«, fragte Lion verblüfft.

Es war wirklich Natascha. Aber in welchem Aufzug! Zuerst dachte ich wirklich, dass sie völlig nackt wäre. Danach erkannte ich, dass sie ein sehr eng anliegendes Trikot aus dunklem Stoff trug.

»Seid leise, hier können Wanzen sein!«, warnte Natascha schnell. »Das habe ich gleich…«

In der Hocke hob sie die rechte Hand — am Handgelenk leuchtete schwach ein Armband.

»Die Wanze ist über dem Türrahmen«, sagte ich. »Aber sie wurde schon unschädlich gemacht.«

»Wo? Wie?«, fragte Natascha und hielt ihre Hand in alle Richtungen. »Oh, wirklich… Wie habt ihr sie ausgeschaltet?«

»Das ist allein unsere Sache«, unterbrach ich sie. »Sag lieber, wie du hierhergekommen bist?«

Die Wände des Gebäudes waren, wenn ich mich richtig erinnerte, glatt, ohne Reliefs, nur mit bunten glatten Kacheln verkleidet.

Nicht einmal ein Alpinist würde hier ohne Gerät hochklettern können.

Anstelle einer Antwort erhob sich Natascha vom Bett, näherte sich dem Fenster, sprang leicht hoch, und schlug mit der Hand auf die Tapete. Sie hing an einer Hand.

»Anisotroper Kleber?«, rief Lion aus. »Den kenne ich, ich habe es im Film gesehen!«

Natascha führte die Handfläche nach oben über die Wand, sie löste sich und das Mädchen stand wieder auf dem Boden.

»Ja, anisotroper Kleber«, bestätigte sie enttäuscht. Sie hatte offensichtlich damit gerechnet, dass uns der Mund vor Staunen offen stehen würde. »Könnt ihr euch vorstellen, wie müde die Arme beim Hochziehen werden?«

»Cool«, begeisterte sich Lion und Natascha fühlte sich ein wenig geschmeichelt. »Und wie hast du uns gefunden? Und wie überhaupt… Was ist passiert?«

»Leute, habt ihr irgendetwas zu essen?«, antwortete Natascha mit einer Gegenfrage. »Ich habe seit dem Morgen kein bisschen gegessen.«

»Ich habe was«, gab ich zu.

Es ist natürlich nicht sehr kultiviert, vom Abendessen etwas mitzubringen. Ich hatte mir aber ein Sandwich mit Schinken und eine Teigtasche mit Kohl mitgenommen, einfach so, sicherheitshalber, für den Fall, dass Lion und ich vielleicht länger aufbleiben und Hunger bekommen würden.

Während ich das Essen holte, gab Natascha Lion eine sehr dünne Schnur, die aus dem Fenster hing. An deren Ende war ein Beutel mit Kleidung angebunden.

»Zieh das hoch!«, befahl sie. »Ich werde mir die Hände mit Seife waschen, Schweiß zersetzt den Kleber… Wo ist das Bad?«

»Einen Moment, ich mache das Licht an«, sagte ich und reckte mich zum Lichtschalter über dem Bett.

»Lieber nicht!«, bat Natascha. Es war jedoch schon zu spät, ich hatte die Lampe bereits angeschaltet.

Aha, das also war es! Natascha trug wirklich ein eng anliegendes Trikot, mit einer über den Kopf gezogenen Kapuze, aber das Trikot war durchaus nicht aus normalem schwarzem Stoff, wie ich anfangs dachte. Den Bruchteil einer Sekunde schien es, als ob das Licht verschwinden, nicht zu ihr herankommen würde. Nataschas Silhouette schien zu erzittern und sich in Luft aufzulösen. Danach wurde sie durchsichtig, man konnte die Wand hinter ihr sehen, lediglich das Gesicht schwamm in der Luft.

Ich streckte die Hand aus und traf sie in den unsichtbaren Bauch.

»Idiot!«, regte sich Natascha auf.

»Wie machst du das?«, wollte Lion wissen.

»Das ist Chamäleonhaut. Ein uralter Scherzartikel, kein Sicherheitsdienst benutzt sie heute noch. Sie reflektiert aber nicht und ist sehr leicht.«

»Woher hast du so eine Ausrüstung?«, fragte ich erstaunt. »Hast du das alles mitgehabt?«

»Jungs, ich möchte mich waschen«, bat Natascha. »Ich habe Angst, das Sandwich anzufassen, es klebt fest.«

»Stimmt, und dann verklebt es den Magen«, stichelte Lion. »Geh dich waschen.«

Er fing an die Schnur hochzuziehen, wickelte sie dabei über den Ellenbogen auf und Natascha verschwand im Bad.

»Das gefällt mir gar nicht«, sagte ich, als das Wasser im Bad rauschte.

»Natascha gefällt dir nicht?« Lion schaute mich unschuldig an.

»Mir gefällt nicht, dass sie hergekommen ist. Wir hatten uns nicht verabredet, also bedeutet es, dass irgendetwas passiert ist.«

Lion nickte. Er wickelte die Schnur zu Ende auf, holte das Päckchen und brachte es zum Bad. Er klopfte, und als Natascha die Tür öffnete, reichte er es ihr durch den Türspalt.

»Vielleicht hat der alte Semetzki eine Verbindung zum Avalon?«, überlegte ich. »Dann könnten wir alles berichten, was wir bisher herausgefunden haben.«

Natascha war schnell mit dem Waschen fertig. Sie erschien normal gekleidet in einem knielangen Rock und einer Bluse.

Im Beutel war sicherlich das Chamäleonkostüm versteckt.

»Iss erst einmal«, sagte ich. Solange sie aß, stellten Lion und ich keine Fragen, obwohl wir sehr gespannt waren. Es war schon zwei Uhr nachts, morgen würden wir unausgeschlafen aufstehen…

Plötzlich wurde mir klar, dass wir hier nicht aufstehen würden. Es war wirklich etwas passiert. Etwas, das unseren gesamten Plan, ruhig auf Neu-Kuweit zu leben und Informationen für die Phagen zu beschaffen, hinfällig machen würde.

»Natascha, wir sind nicht zufällig in dieses College geschickt worden, stimmt’s?«, fragte ich.

Natascha nickte und kaute den Rest des Sandwichs zu Ende. Ungeniert leckte sie sich die Finger ab. Sie hätte sich das sicherlich nicht erlaubt, bevor sie zum Partisanentrupp gekommen war. Wo ihr Großvater ein Millionär vom Avalon war… mit allen Schikanen des guten Tons, Etikette, zehn Gabeln auf dem Tisch…

»Sind wir aufgeflogen?«, fuhr ich fort, sie auszufragen.

»Nicht ganz.« Natascha schüttelte den Kopf. »Bislang nicht ganz… Habt ihr nichts anderes mehr? Jungs, es sieht folgendermaßen aus: Als ich euch am Ufer abgesetzt hatte, bin ich noch etwas weiter gefahren, dort gibt es eine Stelle…«

Sie winkte ab und entschloss sich die ganze Wahrheit zu sagen.

»Dort am Fluss ist eine alte Anlegestelle. Sie wird von fast niemandem benutzt. Der Wächter der Anlegestelle ist einer unserer Freunde, ein Mitglied des Widerstandes. Anfangs wollte ich mich bei ihm ausruhen und dann zurückfahren. Alles war in Ordnung, niemand hatte mich bemerkt, ich hatte mich nicht einmal erkältet, da er mich sofort in die Wanne gesteckt hatte, damit ich mich aufwärmte. Ich habe zwei Stunden darin geschmort!«

»Und außerdem hast du noch geschlafen und gegessen«, ergänzte Lion ungeduldig. »Komm zur Sache!«

Natascha fauchte: »Hast du es eilig? Ihr braucht es nicht eilig zu haben. Also, der Wächter hat eine gute Verbindung zum Netz, Zugang zur Polizeifrequenz. Das ist fast legal, der Wächter der Anlegestelle ist ein inoffizieller Helfer der Polizei. Als ich mich ausruhte, schaute ich die Meldungen durch, es gibt jetzt nur noch wenige, bei den wenigen Verbrechen zurzeit. Ich fand eine Info darüber, dass zwei Jugendliche, die vor zwei Monaten verschwunden waren, mit einer unglaubwürdigen Legende wieder aufgetaucht waren, sie hätten sich im Wald verlaufen.«

»War es genauso formuliert: ›mit einer unglaubwürdigen‹?«, wollte ich wissen.

»›Die einer kritischen Betrachtung nicht standhielt‹«, konkretisierte Natascha. »Ich ging davon aus, dass alles vorbei war, dass man euch geschnappt hätte. Und da las ich die folgende Verfügung: ›Keine Handlungen unternehmen.‹ Die erste Mitteilung war von einem Polizeibeobachter im Motel. Die Anweisung vom Ministerium für Verhaltenskultur.«

Das »Ministerium für Verhaltenskultur« kannte ich durch unsere Ausbildung. So nannte sich die Spionageabwehr des Inej.

»Wenn euch die Polizei festgenommen hätte«, sagte Natascha überlegend, »wäre alles ganz einfach. Entweder ihr werdet verhört und laufen gelassen oder festgesetzt. Aber die Spionageabwehr ist etwas völlig anderes. Das bedeutet, dass man euch folgen und ›bearbeiten‹ wird.«

»Und warum bist du dann hierhergekommen?«, rief ich aus. »Natascha, wenn alles so ernst ist — dann überwacht man uns nach dem vollen Programm! Vielleicht gibt es hier Sender, die wir nicht orten können! Und alles, was wir bereden, wird mitgehört!«

»Vielleicht«, stimmte Natascha zu. »Aber nicht unbedingt. Wenn ein Agent ernsthaft bearbeitet wird, kümmert man sich ein bis zwei Tage nicht besonders um ihn. Damit er seine Wohnung überprüfen, nichts finden, sich beruhigen und entspannen kann. Erst danach wird man euch Zimmer und Kleidung verwanzen und einen Satelliten auf euch richten…«

»Woher weißt du denn das?«

»Von Opa«, antwortete Natascha kurz.

»Und wenn man uns trotzdem beobachtet? Wenn du mit uns geschnappt wirst?«

»Ihr seid wichtiger«, sagte Natascha. »Großvater hat mir befohlen, wenn irgendetwas ist, seid ihr um jeden Preis zu retten. Ich kann sowieso nichts Wichtiges verraten, selbst wenn man mich hundertmal kriegen würde. Unser Lager wurde schon verlegt. Was Großvater weiter vorhat, weiß nur er selbst. Ich habe mich mit unserem Freund beraten, und er sagte mir, dass ich gehen solle. Gab mir die Ausrüstung. Wir fanden heraus, dass ihr hierhergebracht wurdet, und da bin ich…«

Lion und ich schauten uns an.

So ein Pech! Wirkliche Widerstandskämpfer, die ernsthaft gegen Inej kämpfen, riskieren unseretwegen, die wir nichts wissen und nichts können, ihr Leben!

»Natascha, danke!«, sagte ich. »Was sollen wir denn jetzt machen?«

Sie schaute mich erstaunt an.

»Wir haben eine sehr einfache Aufgabe«, murmelte ich. »Uns auf dem Planeten einleben und die Ereignisse verfolgen. Keine Anschläge… Überhaupt nichts… Nur schauen und einprägen. Wir dachten, dass wir hier leben würden, und das war’s.«

»Alles klar. Jetzt könnt ihr aber nicht in der Legalität bleiben.« Natascha schüttelte energisch den Kopf. »Ihr müsst untertauchen!«

»In den Wald?«, schlug ich vor. Ich spürte, wie mein Herz anfing, froh zu schlagen.

Wir werden keine Hirnamputierten spielen, uns nicht vor Kameras und Mikrofonen verstecken, nicht die beängstigende Stimme von Inna Snow anhören müssen! Nicht ständig auf unsere Verhaftung oder eine Provokation warten. Nicht zuschauen, wie gute und ehrliche Leute erniedrigt werden. Wir werden eine Hütte bauen oder eine Höhle suchen, im Wald wohnen, jagen, Fische fangen, manchmal in die Dörfer gehen und Nahrungsmittel und Kleidung requirieren. Wir werden dem alten Semetzki und seinen »Schrecklichen« helfen. Und dann, früher oder später, wird der Imperator alles in Ordnung bringen und die Bösen bestrafen. Lions Eltern werden geheilt und er wird zu ihnen zurückkehren. Ich werde zum Avalon fliegen. Oder wir werden gemeinsam fliegen, denn seinen Eltern wird der Avalon sicher gefallen! Oder wir werden gemeinsam hierbleiben. Nein! Trotzdem wird es besser sein, zum Avalon zu fliegen. Manchmal werden wir Semetzki besuchen und uns an die gemeinsamen Abenteuer erinnern. Mit Natascha werde ich in eine Schule gehen. Stasj wird uns oft besuchen und manchmal über seine Abenteuer berichten. Ich werde wieder bei den Phagen arbeiten und ihnen helfen, den Frieden in der Galaxis zu verteidigen…

»In den Wald auf keinen Fall«, beendete Natascha meine Träume. »Ich weiß nicht, wo die Unseren sind. Und wenn wir verfolgt werden? Wir werden uns in der Stadt verstecken.«

»Gemeinsam?«, wollte ich wissen.

»Ja. Ihr müsst noch heute gehen, solange von euch noch keine Überraschungen erwartet werden.«

»Ach«, meinte Lion bitter und schaute sich im Zimmer um. »Und wie gut wir es getroffen hatten!«

Ich konnte ihn verstehen. Und wirklich: Es war komisch, aus dem College zu fliehen, nachdem wir gerade angekommen waren. Aber Natascha blickte uns ernst und angespannt an. Sie riskierte ihr Leben für uns! Und dieser Widerstandskämpfer vom Anlegesteg auch. Sie gingen ein Risiko ein, um uns aus den Fängen der Spionageabwehr des Inej zu befreien.

Vielleicht hätte ich noch eine Weile geschwankt. Aber urplötzlich erinnerte ich mich an das Cottage von Stasj, an den an die Wand geklebten nackten Menschen und seine kalte, fast unmenschliche Stimme:

»Dieser Junge hat für Inej keinen Wert!«

Ich schüttelte mich.

»Lion, pack deine Sachen zusammen.«

»Können wir wenigstens Kleidung mitnehmen?«, fragte Lion. Da wurde mir bewusst, dass auch er früher nicht so viele schöne, gut aussehende und hochwertige Sachen besessen hatte.

»Nein«, erwiderte Natascha bedauernd. »Ihr braucht nichts.«

»Wir haben überprüft, da sind keine Wanzen…«, meinte ich.

»Das ist es nicht.« Natascha zögerte. »Alles in allem… Ach, ihr werdet schon selber sehen.«

»Mach’s gut, du Elefantenschlafanzug«, seufzte ich und schaute dabei Lion an. Er konnte sich nicht beherrschen und begann zu kichern. »Natascha, wie sollen wir fliehen? Durchs Fenster?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich erhole mich ein wenig und steige dann durchs Fenster. Ihr kommt früh am Morgen auf die Straße, dort treffen wir uns. Dann erkläre ich euch alles.«

»Wir schwänzen die Schule«, zählte Lion auf, »einem Typen haben wir das Nasenbein zertrümmert, uns einen ganzen Tag über in der Stadt herumgetrieben, dann gegessen und geschlafen und zum Schluss sind wir abgehauen. Echt cool!«

Seine Stimme klang nicht wirklich fröhlich.

»Wir müssen der Direktorin eine Nachricht hinterlassen«, überlegte ich laut. »Dass es uns peinlich ist, in einer dermaßen teuren Einrichtung zu lernen und wir deshalb gehen…«

»So ein Quatsch!«, fauchte Lion. »Das glaubt uns doch niemand!«

»Na und? Es ist immer noch besser, als gar keine Erklärungen abzugeben.«

»Jungs, ich schlafe ein wenig, ja?«, unterbrach uns Natascha. »Weckt ihr mich um vier?«

Wir überließen ihr Lions Bett und stellten den Wecker des Pocket-PC auf vier Uhr. Nataschas Kondition war wirklich gut, aber sie hatte sich schon ewig nicht mehr ausruhen können: Ihr Kopf hatte kaum das Kopfkissen berührt, als sie auch schon eingeschlafen war. Lions Augen sah ich an, dass es ihm ebenso peinlich war wie mir. Ein Mädchen, das sich noch dazu früher mit einer so dämlichen Sache wie Tanzen befasst hatte, kämpfte im Unterschied zu uns wirklich für das Imperium!

»Los, wir gehen auch schlafen«, schlug ich vor. »Wer weiß, wann wir wieder dazu kommen…«

Lion deckte Natascha vorsichtig zu und nickte. Er überlegte eine Weile und sagte dann:

»Weißt du, ich bin sogar froh darüber. Das wäre ja wirklich zu doof — auf einem feindlichen Planeten zu landen und dort zur Schule zu gehen. Ich habe sowieso im Traum schon die Schule beendet. Da ist es doch besser zu kämpfen.«

»Gekämpft hast du im Traum auch schon«, bemerkte ich.

»Das ist etwas anderes«, widersprach Lion. »Ans Kämpfen kannst du dich nicht gewöhnen. Jeder Kampf ist, als wäre er der erste.«

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