Zweiter Teil Winter

Kapitel 1

Als ich mich der Haltestelle näherte, traf mich ein Schneeball am Hinterkopf.

Ich konnte mich einfach nicht daran gewöhnen! Nicht nur, dass es kalt war, so kalt, dass man spezielle Winterkleidung tragen musste, nein, auch dieser Schnee überall! Ich hatte natürlich davon gehört, aber hören ist etwas ganz anderes als sehen, fühlen und auf Schnee zu laufen.

Oder ein in der Hand zusammengeballtes Stück Schnee vor die Brust zu bekommen.

Ich drehte mich um, tänzelte herum, steckte meine Hand in den Kragen und holte den bereits angetauten Schneeball heraus. Rosi und Rossi kamen mir schon entgegengerannt, lachten und schämten sich kein bisschen. Sie waren Zwillinge, aber mit den Namen hatten sie ebenso wenig Glück wie ich.

»Grüß dich, Tikkirej«, sagte Rosi, »habe ich gut gezielt?«

»Ja«, bekannte ich. Vom Schneeball blieb ein nasser kalter Fleck hinter dem Kragen übrig, der aber langsam warm wurde.

»Ich habe ihr gesagt, dass sie es nicht tun soll«, mischte sich Rossi ein, »aber sie ist ein Schwachkopf ohne Bremsen, das weißt du ja.«

Aus unerfindlichen Gründen war ich davon überzeugt, dass die Idee, mich mit Schneebällen zu bewerfen, eigentlich von Rossi stammte. Wenn er auch leiser und ruhiger als seine Schwester war, so ging die Initiative gewöhnlich von ihm aus.

»Macht nichts«, erwiderte ich, »ich bin nur nicht daran gewöhnt. Bei uns hat es nie geschneit.«

»Es ist langweilig ohne Winter!«, rief Rosi aus. Sie konnte nicht eine Sekunde lang ruhig auf einer Stelle stehen. Entweder gestikulierte sie mit den Händen, die in grell orangefarbenen Handschuhen steckten, versteckte sie in den Manteltaschen oder rückte die nach hinten verrutschte Kappe zurecht. Der diesjährige Winter war warm, sagten mir alle. Nur wenig kälter als null Grad.

Ich fror trotzdem.

»Kommst du mit?«, schlug Rossi vor. »Wir wollen Karten spielen, uns fehlt der vierte Mann. Iwan kommt noch.«

»Nein. Ich kann nicht.«

»Was soll das?«

Rosi zog mich an der Hand und schaute mir in die Augen. »Du bist beleidigt, stimmt’s? Verzeih mir, ich werde nicht mehr nach dir schmeißen.«

»Ich muss in zwei Stunden bei der Arbeit sein«, erklärte ich, »heute hab ich Nachtschicht.«

Rossi maulte: »Ach ja, du bist ein viel beschäftigter erwachsener Mensch.«

»Ich bin kein Erwachsener«, erwiderte ich, »aber ich habe die Bürgerrechte und muss für meinen Lebensunterhalt sorgen.«

Es war schon eigenartig, denn wir waren ja gleichaltrig. Wenn ich mir jedoch Rosi und Rossi ansah und auch ihre Mitschüler, dann kam es mir so vor, als wären sie dumme Kinder und ich erwachsen und weise. Vielleicht deshalb, weil ich auf Neu-Kuweit war? Oder weil ich auf Karijer aufgewachsen war? Sie mussten ja noch nie über soziale Dienste und Zahlungen für Lebenserhaltungssysteme nachdenken oder Spione des Inej verfolgen und einem echten Ritter des Avalon helfen. Ihre Eltern lebten, kümmerten sich um sie, liebten sie und halfen ihnen, wenn es nötig war. Und niemand von ihnen musste arbeiten, höchstens zur Aufbesserung des Taschengeldes während der Ferien hinter der Theke von »Mac Robins« stehen.

»Schade«, meinte Rossi. Er war ein guter Junge, nicht boshaft, obwohl seine Streiche manchmal recht gemein waren. »Dann vielleicht morgen? Morgen ist Feiertag, da kann man machen, was man will.«

»Na gut«, erklärte ich mich einverstanden, »wir besprechen das am Morgen, okay?«

Mein Bus kam, ich gab den Zwillingen die Hand und stieg ein. Ich hätte eine Stunde warten und den kostenlosen Schulbus nehmen können. Aber ich hatte es eilig.

Wie Stasj versprochen hatte, arbeitete ich jetzt für die Phagen des Avalon. Genauer, in einer ihnen gehörenden Gesellschaft, die ein kleines Büro im Zentrum von Port Lance, der avalonischen Stadt, in der ich lebte, betrieb. Es war eine Kleinstadt, nicht wie die Hauptstadt von Avalon, Camelot. Mir gefiel sie aber sehr.

Sogar im Winter.

Im Bus hatte ich einen Fensterplatz neben einer pummeligen Dame in einem Mantel aus grauem, synthetischem Pelz. Die Dame schaute ihre Einkäufe durch und rechnete dann etwas auf ihrer Kreditkarte nach. Die Ausgaben stimmten sicherlich nicht, sie schaute immer verbissener. Dann holte sie aus ihrer Tasche eine kleine Schachtel mit Videokassetten, sofort erhellte sich ihre Miene, sie steckte die Kreditkarte weg, legte die Hände in den Schoß und entspannte sich.

Ich hätte es auch nötig, meine Ausgaben zusammenzuzählen. Ich hatte noch einiges von dem Geld, das mir Stasj auf Neu- Kuweit gegeben hatte, und in drei Tagen sollte ich mein erstes Gehalt bekommen, aber trotzdem. Es erwies sich als äußerst schwer, einen eigenen Haushalt zu führen, alle Rechnungen zu bezahlen, Nahrungsmittel und andere Dinge einzukaufen. Mir ist unklar, wie die Eltern damit zurechtkamen!

Ich wandte mich zum Fenster und beobachtete die Straßen von Port Lance. Mama hätte es hier gefallen. Gerade wegen des Schnees. Sie meinte immer, dass der Wechsel der Jahreszeiten etwas sehr Wichtiges sei. Bestimmt hätte es auch Papa gefallen.

Wie ich Karijer hasse!

Ich hätte ja dort mein ganzes Leben verbringen können, ohne zu ahnen, dass die Welt ganz anders aussah. Und immer noch lebten auf Karijer meine Freunde, dort waren Gleb, Dajka und alle anderen. Wenn es bei ihnen Winter wird, heißt das lediglich, dass die Sonne weniger intensiv scheint. Sie zahlen für die Luft, die sie atmen, erzählen sich gegenseitig Geschichten von bösen Mutanten und schauen alte Unterhaltungssendungen an, da die Administration kein Geld für neue hat.

Mir war alles klar: Zum Imperium gehören über zweihundert Planeten und überall lebt man anders. Es gibt reiche und gute, wie die Erde, Edem, Avalon; und es gibt solche wie Neu- Kuweit, wo die Natur auch sehr schön ist, aber dem Planeten ein Unglück zugestoßen ist. Und es gibt Planeten wie meine Heimat. Damals wurden sie kolonisiert, weil man die Schwerverbrecher irgendwohin schaffen und radioaktives Erz fördern musste. Irgendwann wurde weniger Erz benötigt, und auch die Verbrecher im Imperium wurden weniger. Karijer geriet in Vergessenheit. Lebt, wie ihr wollt… Ich verstehe alles. Und ich bin sehr traurig.

»Straße der Fröhlichkeit«, piepste der Lautsprecher am Kopfteil meines Sitzes, »wenn Sie weiterfahren möchten, zahlen Sie bitte zu.«

Ich hatte nicht vor weiterzufahren, ich wohnte hier. Ich zwängte mich an meiner Nachbarin vorbei und stieg aus.

In Port Lance sind alle Bezeichnungen sehr malerisch: Straße der Fröhlichkeit, Sonnenallee, Schattenboulevard, Platz des Abends, Uferpromenade der Nebel. Sowie man diese Bezeichnungen hört, weiß man, dass in dieser Stadt nur gute Menschen leben. Man sagt, dass es hier im Frühling sehr schön sein soll, wenn die Kastanien von der Erde und die einheimischen Bäume mit dem lustigen Namen »Nichtsnutze« blühen. Der Nichtsnutz trägt kleine, leichte Früchte, die auf Wärme reagieren. Wenn jemand vorbeigeht, reißen sie sich vom Zweig los und fallen auf den Boden. Die Samen verstreuen sich in alle Himmelsrichtungen und klammern sich für einige Minuten an den vorbeigehenden Menschen oder Tieren fest. Sie sind nicht klebrig, sondern elektrisch geladen.

Aber das hat noch Zeit. Erst musste der Winter vergehen, bis der Frühling kommen konnte. Und im Frühling würde es wunderschön, da war ich mir sicher.

Ich ging noch in ein kleines Lebensmittelgeschäft neben unserem Haus und kaufte zwei Fertiggerichte, die preiswert waren und schmeckten, ein Weißbrot und zwei Flaschen Limonade. Die Verkäuferin kannte mich, nickte mir freundlich zu und fragte:

»Frierst du nicht, Tikkirej?«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Es ist nicht sehr kalt.«

»Geh trotzdem nicht ohne Mütze.«

»Sie ist in der Tasche«, gab ich zu, »ich bin es nicht gewohnt, etwas auf dem Kopf zu haben.«

»Gewöhn dich daran, Tikkirej.«

Die Frau lächelte und wuschelte meine Haare durcheinander. »Du bist doch ein ernsthafter und selbständiger Mensch.«

Sie kümmerte sich ziemlich um mich, aber nicht von oben herab.

»Ist gut, ich werde mir Mühe geben«, erwiderte ich und steckte die Einkäufe in die Tüte. »Auf Wiedersehen!«

Die Wohnung wurde mir als unfreiwilligem Emigranten von »einem Planeten, der zu einem Katastrophengebiet erklärt wurde« von der Stadtverwaltung zur Verfügung gestellt. Zur temporären unbegrenzten Nutzung. Für die Avaloner galt diese Wohnung bestimmt als klein und ärmlich, aber mir gefiel sie sehr. Sie bestand aus vier Zimmern sowie Küche und verglaster Loggia, von der aus man den Wald und den See sehen konnte. Ich hatte gehört, dass die Bewohner von Port Lance dort im Sommer gern picknicken. Jetzt war der See erstarrt und mit einer dünnen, silbernen Eisschicht bedeckt. In der Nacht spiegelt sich darauf das Mondlicht.

Ich fuhr mit dem Fahrstuhl in den achten Stock. Manchmal nahm ich auch die Treppe — als Sport. Ich öffnete die Tür und betrat die Diele.

Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Ich lauschte:

»Das ist eine Wache der Cyborg, Daimor!«

»Gib mir Deckung!«

Ein Plasmablaster begann zu lärmen. Nach dem charakteristischen Kälteausstoß zu urteilen, handelte es sich um die »Puma« der Armee im Dauerfeuer. Ich wartete drei Sekunden ab, aber bei der »Puma« ging die Munition immer noch nicht aus. Danach wartete ich weitere fünf Sekunden, aber der Kälteausstoß hörte noch immer nicht auf und das Rohr des Blasters machte nicht den Eindruck, dass es schmelzen würde. Bei uns im Laboratorium auf der Versuchsstation hatte es kein einziges Rohr länger als zehn Sekunden überstanden.

Ich schlüpfte aus den Schuhen, zog die Jacke aus und ging ins Wohnzimmer.

Lion saß im Sessel und starrte auf den Bildschirm.

»Grüß dich, Lion«, sagte ich.

»Grüß dich, Tikkirej«, erwiderte er, ohne seinen Blick vom Bildschirm loszureißen. Dort sprangen menschliche Gestalten in schwerer Schutzkleidung herum — in der es sich eigentlich nicht besonders gut springen lässt — und beschossen eine gigantische Spinne, die wild mit den Fresswerkzeugen klapperte. Aus der Spinne stoben nach allen Seiten Fleisch- und Panzerfetzen, aber sie dachte nicht daran, zu sterben.

Ich setzte mich auf die Sessellehne und beobachtete Lion.

Mein Freund schaute konzentriert auf den Bildschirm.

»Musst du auf die Toilette?«, fragte ich.

»Ja«, bestätigte er nach einigem Nachdenken.

»Dann geh, Lion. Steh jetzt auf, geh auf die Toilette und mach alles Nötige.«

»Danke, Tikkirej.«

Lion stand auf und ging hinaus. Ganz wie ein normaler Mensch. Stasj und ich konnten ihn nicht retten, nicht wirklich retten. Der Anschluss an den Bordcomputer hatte zwar das Programm unterbrochen, das Lion von Inej eingepflanzt worden war, aber er hatte seinen Willen verloren. Es ging ihm jetzt ungefähr so wie Keol aus der Mannschaft der Kljasma, vielleicht sogar schlimmer. Man musste ihn an alles erinnern, und das nicht, weil Lion vergaß, sich zu waschen oder zu essen, sondern weil er keinen Sinn in diesen Handlungen sah. Er hatte zu nichts Lust.

Aber das Schlimmste war, dass er alles verstand. Und irgendwo in der Tiefe der Seele quälte er sich deswegen.

Lion kehrte zurück und setzte sich wieder in den Sessel. Als ob ich nicht im Zimmer wäre. Das Einzige, was er nach wie vor gern machte, war fernsehen. Bei den Modulen ist es genauso.

»Hast du gegessen, Lion?«, erkundigte ich mich ohne Hintergedanken.

»Ja.«

Ich sprang von der Lehne herunter und schaute ihm in die Augen. Er schien nicht zu schwindeln.

»Wirklich? Du hast gegessen, ehrlich? Du wolltest essen?«

»Ehrlich, ich habe gegessen«, antwortete Lion. »Ich wollte.«

Ging es etwa so schnell?

Jeder sagte mir, dass sich Lion früher oder später erholen und wie früher sein würde. Das Gehirn, besonders das jugendliche, wäre ein flexibles System und der Wille würde zurückkehren. Zuerst bei den elementarsten Bedürfnissen, den »vitalen«, wie sich der Arzt ausgedrückt hatte. Danach vollständig. Aber niemand hatte erwartet, dass es so bald passieren würde.

»Lion«, flüsterte ich, »hör mal, was bin ich froh! Du bist ein Prachtkerl, Lion!«

Er erwiderte nichts, denn ich hatte ihm ja keine Frage gestellt.

»Vielleicht hast du auch noch abgewaschen?«, wollte ich wissen, um ihn zum Reden zu bringen.

»Nadja hat abgewaschen«, erwiderte Lion bereitwillig.

Und meine ganze Freude verschwand ins Nichts.

»Also hat dir Nadjeschda zu essen gegeben?«

»Ja. Sie kam und fragte, ob ich essen möchte«, antwortete mein Freund ruhig. »Ich sagte, dass ich möchte. Ich aß. Dann wusch sie das Geschirr ab. Wir unterhielten uns. Danach fing ich an, ein Video anzusehen.«

»Du bist ein guter Junge«, wiederholte ich, obwohl keine Freude geblieben war. »Ich gehe zur Arbeit, Lion. Ich werde sehr spät zurückkommen. Wenn sich der Videorekorder ausschaltet -«, ich hob die Fernbedienung auf und programmierte den Timer, »- gehst du schlafen. Du wirst dich ausziehen, dich unter die Decke legen und schlafen.«

»Gut, Tikkirej. Ich habe alles verstanden.«

Ich rannte fast aus der Wohnung. Eigentlich hatte ich noch Zeit, aber ich drängte aus der Tür, verharrte auf dem Treppenabsatz und biss mir auf die Lippen.

Wie enttäuschend! Wie schade!

»Tikkirej…«

Ich wandte mich um und erblickte Nadjeschda. Sie war Krankenschwester und wohnte in der Nachbarwohnung. Deshalb hatten wir auch vereinbart, dass sie nach Lion schaute. Ihr Spion war sicher auf mein Erscheinen programmiert.

»Guten Tag«, grüßte ich. Nadjeschda ist noch nicht sehr alt, etwa dreißig. Sie sieht zwar immer sehr streng aus und hat eine kratzige, verrauchte Stimme, ist aber ein guter Mensch. Nur dass ich immer unsicher werde, wenn sie da ist.

»Ich war bei euch und habe Lion zu essen gegeben.«

»Ich weiß.«

Nadjeschda kam auf mich zu und schaute mir in die Augen:

»Was hat dich so durcheinandergebracht, Tikkirej?«

»Ich… ich dachte, dass er von allein gegessen hätte.«

Sie holte Luft, nahm eine Zigarette, schnippte mit dem Feuerzeug und sagte entschuldigend: »Mein Gott, ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, dass er…«

»Er wird sich trotzdem wieder erholen«, meinte ich starrköpfig.

»Ja, Tikkirej.« Nadjeschda richtete sich auf und sah mich an. »Vielleicht sollte man Lion doch lieber zur Therapie in ein staatliches Krankenhaus bringen? Sie haben sich ja bereit erklärt, ihn kostenlos zu behandeln, und dort gibt es gute Spezialisten, glaub mir!«

»Das glaube ich. Aber ihm geht es besser bei mir.«

»Hast du Bedenken wegen der Schocktherapie?«

Ich nickte. Sie schreckte mich wirklich ab. Ich war zum gesetzlichen Vormund für Lion bestellt worden, und deshalb wurde ich umfassend darüber aufgeklärt, was dort mit meinem Freund gemacht werden würde.

»Zeitweise erscheint das grausam«, stimmte Nadjeschda zu, »alle diese Tests mit Aushungern, Schmerzerregung… aber du musst einsehen, Tikkirej, dass man im Krankenhaus eine reiche Erfahrung mit der Rehabilitation ehemaliger Module hat. Dein Freund würde ein oder zwei Jahre eines vollwertigen Lebens gutmachen. Wenn auch für den Preis einiger unangenehmer Prozeduren.«

»Er wird hungrig dasitzen und vor ihm wird das Essen stehen«, murmelte ich, »so ist es doch? Und nur wenn Lion vor Hunger das Bewusstsein verliert, wird man ihm befehlen zu essen!«

»Ihm wird nicht befohlen. Er wird zwangsernährt. Aber man wird von ihm eigenständige Entscheidungen erzwingen, und er wird lernen, sie zu treffen.«

»Ja, und der Sessel wird ihm Stromschläge verpassen, und er wird beim Lärm und dem Geheule von Sirenen schlafen und…« Ich verstummte, denn es war schon ekelhaft, daran zu denken.

Nadjeschda drückte die Zigarette direkt an der Wand aus, die feuerfeste Farbe zischte und schäumte und die Glut erlosch augenblicklich. Deshalb also sind alle unsere Wände mit aufgeplatzten Bläschen übersät! Und der Hausmeister hatte mich so argwöhnisch angesehen, als er mich danach fragte!

»Tikkirej, als medizinischer Insider kann ich dir nicht zustimmen«, äußerte sie, »aber du machst es richtig. Du bist ein guter Freund. Wenn Lenotschka alt genug ist, werde ich versuchen, sie mit dir zu verheiraten.«

Ich lächelte verdutzt. Lenotschka, Nadjeschdas Tochter, war etwa fünf Jahre alt, und ich wusste nicht, wie ich mich vor ihren Küssen und Umarmungen retten sollte. Sie hatte mich sofort zu ihrem älteren Bruder ernannt, den sie nach Beendigung der Schule heiraten würde. Sie hätte lieber auf Lion fliegen sollen, ihm war sowieso alles egal!

»Schon gut, hab keine Angst! Sie wird schon bald aufhören, dich mit angelutschten Bonbons zu füttern und dich darum zu bitten, Märchen über tapfere Phagen zu erzählen«, versprach Nadjeschda. »Wenn du möchtest, fahre ich dich zur Arbeit.«

»Nein, danke, ich nehme den Bus«, erwiderte ich schnell. »Es wäre schön, wenn Sie abends noch einmal nach Lion schauen könnten. Nicht dass er wieder nicht schlafen geht und nur Fernsehen schaut!«

»Das mache ich auf alle Fälle«, sagte Nadjeschda, »Ich sehe nach ihm und bringe ihn ins Bett. Mach dir keine Sorgen.« Im kleinen Windfang am Eingang zum Office speichelte ich meinen Finger ein und steckte ihn in die Detektoröffnung. Gleichzeitig schaute ich in die Linse der Kamera, die meine Netzhaut abglich, aber das war Blödsinn. Die sicherste Überprüfung ist die genetische, da man Fingerabdrücke fälschen, Fingerkuppen transplantieren oder ein Passwort durch Foltermethoden erfahren könnte. Es ist entschieden tauglicher, die Epithelzellen und Erythrozyten, die generell im Speichel vorkommen, zu überprüfen.

Immer wenn ich den Finger an die Detektorfläche hielt, war ich etwas aufgeregt.

Unter der Kontaktfläche befand sich eine Nadel mit einem Serum, das einen Menschen in zwei Sekunden unschädlich macht. Wenn die Genanalyse ergibt, dass ein Fremdling in den Windfang eingedrungen ist, sticht die Nadel zu.

Es war natürlich alles in Ordnung. Die Tür öffnete sich und über ihr leuchtete ein grünes Lämpchen auf. Ich trat ein und grüßte den Wachmann.

»Hallo, Tikkirej«, erwiderte er, »du bist heute ziemlich zeitig.«

»Ich hatte nichts weiter zu tun«, erklärte ich.

Es gefiel mir sehr, wie man sich mir gegenüber am Arbeitsplatz verhielt. Niemand machte sich über mein Alter oder meine Herkunft von einem anderen Planeten lustig.

Und auch umgekehrt: Niemand behandelte mich mit besonderer Rücksicht.

Als Stasj meinetwegen verhandelte, schlug er mir drei Arbeiten zur Auswahl vor: die erste im analytischen Zentrum, das Informationen über alle Planeten des Imperiums sammelte. Die zweite als Techniker auf dem Kosmodrom der Phagen. Wenn man dort gearbeitet hatte, war es leicht, auf einer Pilotenschule angenommen zu werden. Und die dritte in einer Firma, die Waffen untersuchte und entwickelte.

Ich entschied mich für die Waffenfirma.

Hauptsächlich deshalb, weil ich hier am wenigsten arbeiten brauchte, und das bedeutete, dass ich Lion nicht in ein Krankenhaus geben musste. Im Großen und Ganzen habe ich es nicht bedauert. Ich bekam die Funktion eines Hilfstechnikers und ein Arbeitszimmer — na ja, nicht für mich allein, sondern zusammen mit Boris Petrowitsch Tarassow, der Cheftechniker und mein Vorgesetzter war.

Er war schon anwesend. Dünn, lang, kahl geschoren — lediglich auf dem Scheitel thronte ein langes Haarbüschel. Am Anfang hatte ich mich etwas vor seinem Anblick gefürchtet. Aber nicht lange, denn Tarassow erwies sich als guter Mensch. Auf der Welt gibt es bestimmt mehr gute Menschen als böse.

»Guten Tag, guten Tag…«, murmelte Tarassow, kaum dass ich das Zimmer betreten hatte. Er kroch geradezu in den Bildschirm des Genscanners, auf dem sich eine wundersame Peptidkette drehte.

Hatte er etwa mein Spiegelbild auf dem Bildschirm gesehen?

»Guten Tag, Boris Petrowitsch«, sagte ich laut, »macht es etwas aus, dass ich früher da bin?«

Tarassow hüpfte aus dem Sessel, drehte sich zu mir um und schrie mich an: »Tikkirej? Du kannst dich doch nicht einfach anschleichen, oder willst du, dass mir das Herz stehen bleibt?«

»Sie haben mich doch gegrüßt«, rechtfertigte ich mich verwirrt.

Tarassow hob erstaunt seine Augenbrauen. »Gegrüßt? Ich? Ah… komm mal her, Tikkirej!«

Ich ging zu ihm und schaute mit einem Auge auf die Plattform des Analysegeräts. Dort lag ein Schlangenschwert, ganz ruhig. Das also hat Boris Petrowitsch untersucht…

»Ich habe diese Schöne dort begrüßt«, erklärte Tarassow und tippte mit dem Finger auf den Bildschirm, »siehst du?«

»Ich sehe sie, verstehe aber nichts«, gab ich zu.

»Diese Plasmapeitsche ist Ausschuss«, erläutete Tarassow. »Es ist eine Schande. Eine Peitsche bindet sich an ihren Meister und arbeitet nur mit ihm, das weißt du doch?«

»Ja.«

»Tja, also bei dieser kam es nie zu einem Imprinting. Nicht beim ersten Phagen, nicht beim zweiten, nicht beim dritten. Eine individuelle Abneigung kommt natürlich vor, quasi lebende Mechanismen sind kompliziert. Aber diese hier möchte niemanden annehmen. Ein genetischer Defekt, leider Gottes.IrgendeineUnzulänglichkeitwährenddes Produktionsstadiums.«

»Kann man das heilen?«, wollte ich wissen und warf eine Blick auf die Waffe. Die Plasmapeitsche der Phagen ähnelte wirklich einer Schlange — rund einen Meter lang, mit silbrigen Schuppen bedeckt und mit einem flachen Kopf. Der Kopf erhob sich von Zeit zu Zeit, aber die Schlange lag ruhig da.

»Reparieren, Tikkirej. Die Peitsche ist mehr Maschine als Lebewesen… Nein, das geht nicht. Rein theoretisch…«, Tarassow grübelte, »rein theoretisch auch nicht. Außerdem wäre es ökonomisch unvorteilhaft. Weißt du, warum außer den Phagen niemand Plasmapeitschen benutzt?«

»Es ist ein militärisches Geheimnis.«

»Nun, eine Reihe von Studien ist wirklich geheim, aber wir hatten den Diensten des Imperiums Muster überreicht und manchmal kommen Phagen um… und die Waffe fällt in die Hände des Feindes. Es ist so, Tikkirej, dass die Nutzung der Peitsche äußerst kompliziert und die Herstellung unglaublich teuer ist. Jeder beliebige Terrorist oder Agent zieht es vor, sich mit einer einfacheren und dabei trotzdem starken Waffe auszurüsten.«

»Warum aber benutzen dann die Phagen eine Peitsche?«

»Hast du jemals eine Peitsche im Einsatz erlebt?«, fragte Boris Petrowitsch ironisch, »nicht auf der Versuchsstation, sondern in Wirklichkeit, in den Händen eines erfahrenen Phagen?«

»Ja, hab ich.«

Tarassows Lächeln erlosch. »Verzeih, Tikkirej, ich habe nicht daran gedacht. Also, war das beeindruckend?«

»Und wie!«

»Darum geht es auch. Ein Phag muss von Legenden umgeben sein. Von Achtung, Furcht und Unverständnis. Deshalb ist eine Plasmapeitsche nützlicher als der beste Blaster. Deshalb sind die Phagen mit Plasmapeitschen bewaffnet, von denen jede einzelne so viel wie ein Panzer des Imperiums kostet.«

»Oho!«, rief ich aus.

»Und die Reparatur einer Peitsche«, fuhr Tarassow fort, »würde der Herstellung von zehn Panzern entsprechen. Das ist ja auch Genchirurgie auf höchstem Niveau! Also…«, er senkte seine Hände auf die Tastatur, aus dem Drucker kroch ein Blatt Papier und der Bildschirm erlosch, »schreiben wir das Aussonderungsprotokoll.«

Schreiben mussten wir fast gar nichts. Im fertigen Vordruck waren bereits die vollständigen Angaben über den Defekt der Peitsche, mögliche Gründe für dessen Auftreten sowie eine Empfehlung zur Vernichtung enthalten. Wir ergänzten lediglich einige Punkte (Tarassow ergänzte und ich nickte gehorsam als Antwort auf seine Erklärungen), unterschrieben und setzten unsere Fingerabdrücke an die in der Akte dafür vorgesehenen Stellen.

Danach legte Tarassow das Formular in den Scanner und verschwand in die Kantine, um Kaffee zu holen.

Ich ging näher an die Analyseplattform heran und schaute das Schlangenschwert durch das Sicherheitsglas an. Vielen gefallen Schlangen nicht, mir auch nicht, aber die Peitsche war ja weder ganz Schlange noch ganz Maschine. Sie war eine Legierung aus Biopolymeren, Mechanik und Nervenfasern, übrigens nicht einer Schlange, sondern einer Ratte. Man vertrat die Auffassung, dass Plasmapeitschen vom Intellekt her eher einer Ratte als einer Schlange ähnelten.

»Du hattest kein Glück«, sagte ich der Schlange, »du Unglücksrabe.«

Die Peitsche bildete einen Ring und steckte den dreieckigen Kopf in die Mitte. Als ob sie meine Worte verstanden hätte. Die winzigen Punkte ihrer Sehapparatur blinkten im Lampenlicht.

Der Drucker begann zu summen und spuckte ein neues Exemplar der Abschreibungsverfügung aus. Bereits mit der Stellungnahme der Buchhaltung.

»Trinkst du einen Kaffee, Tikkirej?«, fragte Tarassow, als er zurück war.

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann werde ich eine Tasse mehr trinken«, beschloss mein Chef zufrieden, »heute habe ich schlecht geschlafen. Entweder sind es die Druckschwankungen, oder…«

»Haben Sie zu hohen Blutdruck?«

»Was denn für hohen Blutdruck, Gott behüte! Der atmosphärische Druck schwankt, Tikkirej.«

Ich wurde rot und rechtfertigte mich: »Bei uns leben alle unter Kuppeln, dort ist der Luftdruck stabil. Ich hatte nicht daran gedacht.«

Tarassow lachte auf, trank einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse zurück und öffnete den Analysekasten. Er fasste die Peitsche am Schwanz an und reichte sie mir. »Halt mal! Hab keine Angst, die Hauptbatterie ist entfernt worden, also kann sie kein Plasma spucken.«

Vorsichtig hielt ich die Schlange mit beiden Händen. Sie fühlte sich warm und weich an.

»Wo der Utilisator ist, weißt du?«, fragte mich Tarassow. »Dann vorwärts. Völlige Zerstörung. Bring die Quittung mit.«

Ich nickte und ging aus dem Raum, wobei ich die Peitsche auf ausgestreckten Händen vor mir hielt. Der Utilisator stand am Ende des Korridors in einem kleinen Stübchen neben den Toiletten.

Es wäre besser, wenn Tarassow selbst das Schlangenschwert vernichten würde! Es war trotz allem ein wenig lebendig… Andererseits musste ich alles selber machen, wenn ich hier arbeiten wollte. Sogar wenn es äußerst unangenehm war.

Im Utilisatorraum war niemand. Das große Metallaggregat knurrte zufrieden beim Zermahlen von irgendwelchem Müll. Ich drückte einen Knopf und aus der Aufnahmeluke glitt ein gewaltiges Keramiktablett heraus.

»Niemand kann etwas dafür, dass es so viel wie zehn Panzer kosten würde, dich zu reparieren!«, sagte ich zur Peitsche und legte sie in die Luke. Auf der Anzeige leuchteten sofort Ziffern auf — Gewicht und prozentualer Metallanteil im Objekt. Ich wählte den Modus »völlige Zerstörung«, was bedeutete, dass die Peitsche zuerst von den Cuttern zerkleinert, dann eingeschmolzen und letztendlich zu Feinstaub zermahlen würde. Ich bemühte mich, nicht auf die sich schwach bewegende Schlange zu schauen, bestätigte das Programm und drehte mich weg, um so schnell wie möglich gehen zu können und nichts hören zu müssen.

Etwas klammerte sich an mein Handgelenk!

Ich schrie auf und drehte mich um. Die Luke war schon dabei, sich zu schließen, aber die Peitsche schlängelte sich plötzlich heraus und wickelte sich fest um meinen Arm. Für eine Sekunde vor Schreck unfähig, einen Gedanken zu fassen, befürchtete ich, dass ich jetzt gemeinsam mit ihr in den Utilisator gezogen oder mir die Hand abgerissen würde!

Aber der Utilisator war nicht von Dummen geschaffen worden. Als der Verschluss auf den Körper der Schlange stieß, stoppte er sofort und ging wieder auf. Auf der Anzeige erschien der Hinweis: »Überprüfen Sie die Lage des Objektes in der Luke, ein hermetischer Verschluss ist nicht möglich!«

Die Schlange jedoch schlängelte sich eiligst aus der Luke und kroch unter meinen Pullover!

Mein erster Gedanke war: Schreien! Entweder war die Schlange verrückt geworden oder sie hatte verstanden, und zwar wirklich verstanden, dass sie vernichtet werden sollte. Aber sie war doch nicht dermaßen intelligent!

Ich schrie nicht. Und das war auch gut so, denn die Schlange drückte sich schon an mich und umwand in weichen, fast unbemerkbaren Ringen meinen Arm. Für einen Augenblick schaute der Kopf aus dem Ärmel. Das Loch der Plasmakanone öffnete und schloss sich, als ob ein Ungeheuer das Maul aufriss und den Utilisator anzischte…

Das Schlangenschwert hatte sich an mich gebunden!

In ihr hatte ein Imprinting auf mich stattgefunden!

Ich stand versteinert da und versuchte herauszufinden, was nun zu tun war. Sich an Tarassow wenden? Für die Peitsche gab es nur einen Weg — in den Utilisator. Sie war ja kein Lebewesen, sondern eine Maschine… und wenn sie sich erst einmal jemandem angeschlossen hatte, würde sie sowieso niemand anderem mehr dienen… Aber ich war kein Phag und würde nie einer sein… und nur die Phagen dürfen Peitschen besitzen…

Meine Knie wurden weich.

Ich schwenkte den Arm in der Hoffnung, dass die Schlange abgehen und herunterfallen würde. Von wegen! Es wäre einfacher gewesen, die Finger zu verlieren!

»Hau ab! Geh weg!«, schrie ich.

Und die weichen Ringe fielen plötzlich von meinem Arm ab. Die Schlange begann langsam herauszukriechen und sich in die Luke zurückzulegen. Folgsam und hörig. Nicht wie eine Maschine, sondern wie ein gehorsamer Hund.

»Bleib…«, flüsterte ich, »bleib!«

Die Schlange zog sich augenblicklich zurück. Sie fing schon an, meine Befehle zu verstehen!

Die Ziffern, die das Gewicht des Schlangenschwerts anzeigten, leuchteten noch auf dem Bildschirm. Eilig holte ich meine Kreditkarte heraus, stellte den Taschenrechner an und speicherte:

»607 g, 9 %«. Das Gewicht in Gramm und den prozentualen Metallanteil.

Neben dem Utilisator stand ein Müllkübel, in den allerlei nicht geheimer Müll geworfen wurde, um abends alles mit einem Mal zu entsorgen und das Aggregat nicht wegen jeder Kleinigkeit anschalten zu müssen. Daraus begann ich zerrissenes Papier, Kaffeebecher, Schokoladenverpackungen und irgendwelche Schräubchen mit zerkratzter Windung sowie kaputte Platinen zu holen. Was machte ich da? Ich würde vor Gericht kommen! Sie würden mich vom Planeten jagen!

Aber ich konnte doch jetzt nicht das Schlangenschwert in den Utilisator werfen!

Ich hatte nie ein Haustier besessen. Für einen Hund oder eine Katze musste man einen großen Sozialanteil bezahlen. Meine Eltern konnten sich das nicht leisten. Sie versprachen, mir zum vierzehnten Geburtstag ein echtes lebendes Mäuschen zu kaufen, dafür war die Zahlung ganz gering. Aber daraus wurde bekanntlich nichts…

Ich beschickte die Luke so lange, bis das Gewicht wieder 607 Gramm betrug. Schwieriger war es, den prozentualen Metallanteil zu erreichen. Ich wusste nicht, ob es mir gelungen war. Aber als ich versuchte, ein Stahlrohr zu zerbrechen (ein echter Phag hätte es leicht geschafft, vielleicht sogar ein gewöhnlicher Erwachsener), kroch die Schlange aus dem Ärmel, fiel für einen Moment auf das Rohr und dieses zerbrach in zwei Hälften.

»Neun Prozent«, bestätigte die Anzeige.

Ich stand davor, hielt den Finger am Knopf und versuchte mit dem Durcheinander in meinem Kopf fertig zu werden. Doch da ertönten Schritte im Korridor und unwillkürlich drückte ich den Knopf.

Die Luke schloss sich und der Utilisator lärmte fröhlich mit seinen Cuttern.

Die Quittung über die Zerstörung erschien.

Mit steifen Beinen stelzte ich zurück. Die Schlange träumte ruhig an meinem rechten Arm, ganz wie bei einem Phagen. Flach und unauffällig. Normale Detektoren spüren sie nicht auf, sie ist sehr clever konstruiert. Die Metallteile sind so verteilt, dass es einem Uhrenarmband oder einer Armbanduhr ähnelt, wenn sich die Schlange um den Arm legt. Und meine eigene Uhr ist ganz billig: ein Plastikaufkleber auf der Hand, darin ist überhaupt kein Metall…

»Hier, nehmen Sie, Boris Petrowitsch.« Ich reichte Tarassow die Quittung.

Mein Chef sah das Papier nachdenklich an. Bedächtig klebte er es in die Abschreibungsverfügung ein. Er fragte: »Hat es dich mitgenommen, Tikkirej? Hat dir die Peitsche nicht leidgetan?«

»Das war ja nur eine kaputte Maschine…«, murmelte ich.

Tarassow nickte: »Ja, du hast Recht. Setz dich und bearbeite die Ergebnisse des gestrigen Experiments. Hast du die Methodik verstanden?«

»Ja, habe ich.«

»Das ist nichts Dringendes, aber wenn du heute fertig wirst, wäre es gut. Ich habe noch etwas zu tun…«

Tarassow nahm die Abschreibungsverfügung und ging hinaus. Ich setzte mich an meinen Computer und schloss das Kabel an den Neuroshunt an.

Ich zitterte am ganzen Körper.

Was hatte ich nur angerichtet?

Kapitel 2

Ich kam erst spät am Abend nach Hause. In der Wohnung war es ruhig, also hatte Nadjeschda vorbeigeschaut, Lion zu essen gegeben und ihn schlafen gelegt.

Die Schlange umschlang immer noch meinen Arm.

Sie wurde von den Detektoren der Auslasskontrolle nicht bemerkt, ich ging bewusst ruhig hinaus und trug doch eine äußerst teure und geheime Waffe an mir. Ich hatte gestohlen! Schlimmer noch, ich hatte meine Freunde, die Phagen vom Avalon, die mich auf Neu-Kuweit gerettet und auf einem guten Planeten untergebracht hatten, bestohlen.

Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, hätte ich das Schlangenschwert wahrscheinlich nicht genommen. Aber es war nichts mehr zu ändern. Absolut gar nichts. Ich hätte natürlich versuchen können, es zu zerstören, aber wieso hatte ich sie dann erst gestohlen?

Das hieß also, ich war jetzt ein Verbrecher, der aus seiner Beute nicht einmal einen Nutzen ziehen konnte. Wenn mich jemand mit dem Schlangenschwert sehen würde, gäbe es sofort Gerüchte. Auf einem Planeten wie dem Avalon trugen Kinder keine Waffen.

Ich strich lange durch die Wohnung. Versuchte Fernsehen zu schauen — es liefen verschiedene Unterhaltungssendungen, aber davon fühlte ich mich nur noch elender. Ich schmierte mir Brote und kochte Tee, hatte aber keinen Appetit. Dann ging ich ins Schlafzimmer.

Lion schlief friedlich in seinem Bett. Ich deckte mein Bett auf, zog mich aus und legte mich hinein. Die Schlange am Arm war fast nicht zu spüren. Die Phagen gewöhnen sich sicherlich auch an ihre Waffe und spüren sie bald gar nicht mehr.

»Gute Nacht, Lion!«, sagte ich in die Dunkelheit. Aber er antwortete nicht.

Daraufhin bohrte ich meinen Kopf ins Kopfkissen und begann zu heulen. Leise, damit Lion nichts hörte. Wie gern hätte ich Mama und Papa an meiner Seite gehabt! Um ihnen alles zu beichten, damit sie einen Ausweg finden konnten. Die Erwachsenen haben es einfacher, sie wissen immer, was zu tun ist.

Aber auch Erwachsene machen manchmal Fehler. Oder finden keinen Ausweg und tun dann so, als ob ihr Fehler eine richtige Entscheidung war.

Ich versuchte erst gar nicht, vor dem Schlaf zu beten. Ich betete jetzt sehr selten. Vielleicht, weil ich verstanden hatte, dass ein Gebet vor nichts retten kann. Gegen Morgen erwachte ich durch ein Gemurmel. Ich öffnete die Augen und schaute auf das andere Bett, in dem Lion schlief. Natürlich war er es, der sprach. Das passierte ihm manchmal im Schlaf. Aber normalerweise sprach er unverständlich, während ich jetzt aber Worte unterscheiden konnte:

»Gleich… gleich… gleich…«

Mich schauderte. Lion redete im Schlaf, und ich erinnerte mich daran, dass ich einige Male genauso versucht hatte, meine Mutter loszuwerden, wenn sie mich nicht in Ruhe ließ.

»Gleich… gleich stehe ich auf… noch eine Minute…«

»Lion!«, rief ich laut.

»Ja, gleich…«, brummte er unzufrieden.

Es schien, als wäre er völlig normal.

»Lion!«, schrie ich, sprang auf, lief zu seinem Bett und rüttelte ihn an den Schultern. »Wach auf, es ist höchste Zeit!«

Er öffnete die Augen.

»Lion, steh auf«, bat ich kläglich.

Und er stand gehorsam auf. Er gähnte und zitterte vor Kälte — für die Nacht hatte ich eine zu niedrige Zimmertemperatur eingestellt und die Heizung war noch nicht angesprungen.

»Lion…«

Er wartete geduldig.

Ich setzte mich auf sein Bett und sagte: »Verzeih mir, ich dachte, dass es dir besser gehen würde. Verstehst du?«

Lion schwieg.

»Du verstehst alles, das weiß ich«, erklärte ich und schaute dabei nicht auf ihn, sondern durch das Fenster auf die Morgenröte, »du verstehst alles und quälst dich. Lion, bitte, kämpfe! Zwinge dich, Lion. Du wirst auf alle Fälle gesund, das sagen alle. Aber es kann einige Jahre dauern. Wir werden erwachsen und verändern uns. Dabei haben wir uns doch gerade erst angefreundet. Stimmt’s?«

Er schwieg.

»Setz dich«, bat ich und Lion setzte sich. Ich warf ihm eine Decke über die Schultern und sagte: »Weißt du, ich habe doch überhaupt niemanden. Da sind Gleb und Dajka, das sind meine Freunde vom Karijer. Aber sie sind weit weg, so, als ob es sie nicht gäbe. Es bleibt nur die Erinnerung. Und Mama und Papa sind gestorben. Damit ich leben kann. Stasj ist auch noch da, aber er lebt sein eigenes Leben und hat zu tun, ich habe ihn schon zwei Wochen nicht gesehen. Dann kenne ich noch Tarassow, ich habe dir von ihm erzählt, er ist mein Arbeitskollege. Es gibt Rosi und Rossi, aber sie sind… sie sind total kindisch, verstehst du? Ehrlich gesagt, haben sie von nichts eine Ahnung. Sie leben auf einem zu guten Planeten. Ich würde auch gern so sein, aber ich kann nicht, ich bin schon geboren worden. Du aber bist anders, du verstehst mich, das spüre ich.«

Lion sagte kein Wort.

»Und dann habe ich auch noch eine Dummheit gemacht…«, flüsterte ich, »eine fürchterliche, idiotische Dummheit.«

Ich hob meine rechte Hand und zeigte Lion die Schlange, die sich darumwand. Als ob ich eine Äußerung erwartete.

»Sie werden es herausfinden«, meinte ich, weil ich dessen auf einmal sicher war, »sie werden es herausfinden. Früher oder später werden sie alles herausfinden. Und dann bleibt mir niemand mehr übrig. Stasj wird nicht einmal mehr mit mir reden wollen. Und entlassen werde ich auch. Lion, streng dich bitte an! Versuch, schneller wieder auf die Beine zu kommen! Vielleicht fällt uns beiden gemeinsam etwas ein.«

Lion schwieg.

»Leg dich hin«, bat ich, »leg dich hin, schlaf noch ein wenig, wenn du willst. Wir werden heute Rosi und Rossi besuchen und zusammen spielen. Du hast doch nichts dagegen, sie ärgern dich doch nicht etwa?«

»Sie ärgern mich nicht«, antwortete Lion, weil er meine Worte als richtige Frage verstanden hatte.

Ich zog seine Decke zurecht und lief ins Wohnzimmer. Ich stellte den Fernseher an und zog die Füße auf den Sessel.

Im Wohnzimmer war es wärmer.

Was sollte ich jetzt nur tun?

Die Schlange an meinem Arm hob den Kopf, als ob sie herausfinden wollte, aus welcher Richtung Gefahr drohte.

»Wenn du wenigstens weg wärst!«, sagte ich durch meine Tränen. Zu Rosi und Rossi gingen wir nicht.

Rossi rief gegen acht Uhr an. Wenn er gewusst hätte, dass ich schon um fünf Uhr morgens wach war, hätte er auch um fünf angerufen.

»Tikkirej, wir haben eine Idee!«, legte er los, ohne Guten Tag zu sagen.

»Ich bin mit allem einverstanden«, erwiderte ich. Ich hatte keine Lust mehr, vor dem Fernseher zu sitzen.

Rossi kicherte. »Vater hat uns das Auto gegeben! Wollen wir in den Wald fahren und picknicken?«

»Hast du etwa die Fahrerlaubnis?«, wunderte ich mich.

»Ich nicht«, meinte Rossi sauer. »Rosi kann fahren, sie hat die Fahrerlaubnis. Aber eine eingeschränkte, nur in Begleitung eines Erwachsenen.«

»Und wer fährt mit?«, äußerte ich mein Unverständnis.

»Idiot! Du fährst mit! Juristisch gesehen bist du erwachsen, also kann uns niemand etwas anhaben!«

»Dafür habt ihr die Erlaubnis bekommen?«

Rossi kicherte wieder. »Warum nicht? Weißt du, wie dir unsere Eltern vertrauen? ›Ein sehr ernst zu nehmender junger Mann, und nur um weniges älter als ihr!‹«

Es gelang ihm gut, die Stimme seines Vaters nachzuahmen.

»Ich bin wirklich ernst zu nehmen«, erwiderte ich nach eiligem Überlegen. »Einverstanden!«

»Wir kommen in einer Viertelstunde vorbei«, meinte Rossi, »Vater fährt mit uns zu dir, damit alles seine Ordnung hat. So. Nein, nicht in einer Viertelstunde, in einer halben Stunde, ruft er, er muss sich noch rasieren.«

»Gut, bis dahin ist Lion fertig«, willigte ich ein.

Rossi war das, so glaubte ich, nicht ganz recht. Aber er antwortete würdevoll:

»Richtig, frische Luft tut ihm sehr gut. Nimm ihn mit. Und zieht euch warm an! Und außerdem…« Er senkte seine Stimme zu einem kaum verständlichen Flüstern: »Nimm etwas zu trinken mit!«

»Was?«

»Na ja, Bier… Ich weiß nicht, was. Bier oder Wein, entscheide selbst! An dich wird es doch verkauft! Also, bis gleich.«

Ich beendete das Gespräch und lachte auf. Dachten sie etwa, dass ein Trinkgelage interessant wäre?

»Kinder«, sagte ich und ging Lion wecken. Bier hatte ich im Kühlschrank, eine ganze Packung. Nicht für mich, sondern falls sich Stasj entschließen würde, bei uns vorbeizuschauen. Lion sah normal aus. Wie ein wohl erzogenes Kind, das im Hauseingang steht, warm angezogen, und geduldig auf jemanden wartet.

Ich trug eine Schultertasche mit Bier, belegten Broten und einer Packung mit einem sich selbst erhitzenden geräucherten Hähnchen.

Rosi und Rossi ließen uns nicht warten, sie fuhren nach genau einer halben Stunde vor. Am Lenkrad saß voller Stolz Rosi mit einer Strickmütze und einer grellen Wolljacke. Aufgedonnert war sie, als ob sie ins Konzert wollte und nicht zum Picknick an den See. Rossi war einfacher und praktischer angezogen. Er trug eine synthetische Kombination, in der man ruhig in den Schnee fallen oder im Eiswasser baden konnte.

Ihr Vater saß vorn neben der Tochter. Er war sehr groß, breitschultrig und hatte eine dichte Haarmähne. Bei ihm würde man nie denken, dass er einen friedlichen und beschaulichen Beruf hatte: Theaterkritiker. So stellte er sich allen vor, mir auch: »Theaterkritiker mit den tolerantesten Ansichten.«

Er stieg als Erster aus dem Auto. Rosi bummelte beim Abschnallen herum. Rossi verhedderte sich meines Erachtens in seinen eigenen Armen und Beinen, während mir ihr Vater bereits die Hand drückte und seinen Bass erklingen ließ:

»Guten Morgen, junger Mann.«

»Guten Morgen, William«, erwiderte ich. Er verlangte, ihn nur mit dem Vornamen anzureden und »nicht auf den Altersunterschied zu achten«. Als ob ich mich dadurch unbefangener fühlenwürde. Stasjignorierte den Altersunterschied nicht und mit ihm war es wesentlich einfacher.

William räusperte sich und flüsterte verschwörerisch: »Ein herrlicher Morgen, um meinen Taugenichtsen eine kleine Lektion im Erwachsenwerden zu verabreichen, stimmt’s, Tikkirej?«

»Ja, William«, antwortete ich nachgiebig.

William warf einen Blick auf seine Taugenichtse, zwinkerte mir zu und sagte leise: »Sicher habt ihr Bier oder Wein mitgenommen. Nein, du musst nicht antworten, Tikkirej, ich erinnere mich noch gut daran, wie ich selbst als Jugendlicher war. Aber ich bitte dich als selbständigen und verantwortungsbewussten Menschen, darauf zu achten, dass sich Rosi nicht eher als drei Stunden nach Alkoholgenuss ans Steuer setzt!«

»Ich werde mich darum kümmern«, sagte ich.

Erst danach wandte sich William Lion zu und sagte: »Guten Morgen, Junge!«

Ein »junger Mann« war nur ich für ihn.

»Guten Morgen«, erwiderte Lion artig.

»Hm. Gut, ich werde euch nicht länger mit meinen altertümlichen Anweisungen stören.«

William umarmte Rosi und Rossi. Sein Lächeln war dabei dermaßen verschmitzt, dass sofort klar war: Er würde sich auch in zwanzig Jahren nicht für einen Greis halten.

»Papa, wir fahren«, sagte Rosi schnell.

»Der Sicherheitsblock im Auto ist eingeschaltet«, zählte William in der Zwischenzeit auf, »die Apotheke am Platz. Habt ihr alle eure Telefone mit? Vergesst nicht, euch anzuschnallen!«

»Okay, okay«, rief Rosi und hüpfte auf der Stelle. »Papa, du kommst noch zu spät!«

»Das Stück beginnt in anderthalb Stunden«, murmelte William.

»Aber das Theatercafé hat schon geöffnet«, meinte Rosi unschuldig und schaute in den Himmel.

Ihr Vater lächelte ziemlich gezwungen. »Was soll man da machen, die eigene Tochter jagt einen fort. Schönes Wochenende, ihr jungen Leute!«

Er tätschelte Rosi und Rossi die Wangen, reichte mir die Hand, und Lion wurde eines leichten Klapses auf den Hinterkopf für würdig befunden. Dann entfernte sich der tolerante Theaterkritiker.

»So ein Langweiler«, maulte Rosi, als ihr Vater gerade einmal zehn Meter entfernt war, »alle einsteigen!«

Ich hatte meinen Vater nie als Langweiler bezeichnet. Früher.

Aber ich machte keinen Versuch, das Rosi zu erklären, sie hätte es sowieso nicht verstanden.

»Komm, Lion«, sagte ich und nahm ihn an die Hand.

Das Auto war toll. Ein Jeep, nicht sehr groß, aber mit Automatik voll gestopft bis zum Gehtnichtmehr. Nun war mir klar, warum die Eltern keine Bedenken hatten, meine Freunde zum Picknick fahren zu lassen — im Jeep war ein Autopilot, der die Führung übernehmen würde, sollte Rosi etwas nicht richtig machen. Mit so einem Auto durften sogar Betrunkene fahren. Vielleicht hatte es William deshalb gekauft.

Ich setzte mich mit Lion auf den Rücksitz. Rosi und Rossi richteten sich vorne ein.

Während Rosi den Motor anließ — warum sie ihn überhaupt anlassen musste -, wandte sich Rossi zu uns um und sagte hämisch: »Habt ihr eine Vorstellung davon, zu welchem Stück unser Papachen gegangen ist? In die Weihnachtsgeschichte ›Heller Stern, klarer Stern‹. Das ist für die Allerkleinsten, darüber, wie das erste Umsiedlerraumschiff zum Avalon fast verunglückt wäre, und wie der liebe Gott es rettete und es glücklich landete!« Er kicherte.

»Na, na«, äußerte Rosi vorwurfsvoll und streifte ihn mit einem Blick, »jemand hat im vorigen Jahr vor Begeisterung geheult, als er dieses Stück angesehen hat!«

»Das stimmt nicht!«, protestierte Rossi. »Mir kamen die Tränen vor Lachen!«

»Das Raumschiff landete aber wirklich wie durch ein Wunder«, fuhr Rosi fort, »es war ja noch total primitiv, mit einem Atommotor. Es ist vier Monate durch den Zeittunnel geschlichen und der Brennstoffvorrat war falsch berechnet.«

Rossi verstummte. Er stritt sich ständig mit seiner Schwester über Religion. Rosi glaubte, dass es einen Gott gab, und Rossi stritt es ab, höchstens früher hätte es ihn gegeben, aber selbst dann hätte er sich schon seit langem zurückgezogen, sagte er.

Zwischenzeitlich erreichten wir die Schnellstraße. Rosi betätigte unbesorgt allerlei Schalter und das Dach wurde von innen her transparent. Von außen sah der Jeep jetzt einfarbig schwarz aus, aber wir konnten alles sehen wie auf einer offenen Plattform.

»Ja und, hast du Bier mitgebracht?«, erkundigte sich Rossi. Seine Schwester strömte beim Autofahren Energie aus und er brauchte offensichtlich eine Kompensation dafür.

»Habe ich«, erwiderte ich.

»Dann her damit!«

Ich überlegte kurz und entschied, dass es nicht schaden würde. Ich gab eine Flasche Rossi, eine Lion — er würde sicherlich probieren wollen — und nahm eine für mich.

Rosi streckte ihre Hand nach hinten aus.

»Du bekommst keine«, sagte ich, »du fährst.«

»Blödmann, hier ist doch alles voller Automatik!«, protestierte Rosi.

»Ich gebe dir trotzdem nichts. Ich habe deinem Vater versprochen, dass du am Steuer nichts trinkst.«

»Ha, ich habe mir gleich gedacht, dass er dich gehört hat!«, attackierte Rosi ihren Bruder. »Hast ja auch so laut gesprochen, dass man es in der ganzen Wohnung hören konnte! Lass mich mal trinken!«

Rossi schraubte den Verschluss ab, trank den ersten Schluck, lächelte selig und meinte: »Nö, du fährst, Tikkirej hat Recht. Er ist erwachsen und wir müssen auf ihn hören.«

»Na warte!«, drohte ihm Rosi. Sie fuhr mit ihrer Hand in die Jacke und holte eine kleine, flache Flasche, einen Flachmann, hervor. Rossi fielen fast die Augen aus dem Kopf:

»Das ist doch Mamas!«

»Überhaupt nicht Mamas, sondern meine. Mama hat ihre vorige Woche irgendwo verloren.«

Rosi drehte sich um und zwinkerte mir zu. »Voller Cognac, stell dir das vor!«

»Rosi, nicht!«, bat ich.

Sie hätte bestimmt auf mich gehört. Ich sah es ihren Augen an, dass sie schwankte und den starken Cognac eigentlich gar nicht trinken wollte. Aber da sagte Rossi hinterhältig: »Hör auf das, was die Älteren sagen!«

Rosi schraubte augenblicklich den Verschluss ab und nahm einen Schluck. Ihre Augen wurden immer größer, und ich erwartete, dass sie das Lenkrad loslassen würde und die Automatik übernehmen müsste.

Sie aber verschloss die Flasche, schob sie wieder in die Manteltasche und schaute auf die Straße. In dieser Zeitspanne hätte wir gut zehnmal im Straßengraben landen oder auf die Gegenfahrbahn abkommen können, doch der Autopilot verhinderte das.

»Du hast was drauf, Alte!«, rief Rossi begeistert. »Tikkirej, schau dir das an! Ohne etwas dazu zu essen!«

»Und nichts ist passiert«, meinte Rosi heiser.

Das war natürlich Blödsinn. Wir hatten zwar keinen Unfall gebaut, aber ihr würde schlecht werden!

»Rosi, das reicht dann aber bitte«, sagte ich, »ich weiß zwar, dass es einen Autopiloten gibt, aber ich hab trotzdem Angst.«

»Okay, ich höre auf«, stimmte Rosi bereitwillig zu.

Nach etwa zehn Minuten waren wir alle fröhlich. Sicherlich wegen des Alkohols. Rossi öffnete das Fenster auf seiner Seite und begann allen Autos, die wir überholten, zuzuwinken. Lion saß still da, trank von Zeit zu Zeit einen Schluck Bier, und mir schien, dass ihm der Ausflug auch Spaß machte.

»Wir fahren an den See«, entschied Rosi, »ja? Dort ist eine Feuerstelle mit Bänken. Wir picknicken dort.«

Sie sprach etwas lauter als gewöhnlich, hielt sich aber erstaunlich gut. Ich hatte sogar den Verdacht, dass Rosi nicht zum ersten Mal Cognac getrunken hatte.

»Ja«, bestimmte Rossi, »das ist cool! Wir grillen Bratwürste!«

Ich diskutierte nicht. Noch nie im Leben war ich auf einem Picknick gewesen und hatte keine Vorstellung davon, wo und wie man es am besten organisiert.

Bald darauf bogen wir von der Schnellstraße in einen engen Weg ein, wo es sogar Straßenlaternen gab. Dann folgte ein richtiger Holperweg, eine unbefestigte Straße. Rossi erläuterte, dass es verboten war, im Wald normale Straßen zu bauen, um das Ökosystem nicht zu schädigen.

Dem Jeep war es egal, ob Beton, Erde oder Schnee unter den Rädern war. Wir kamen voran, Rosi lenkte eifrig, und wenn sie Acht gab, mischte sich der Autopilot auch nicht ein. Kurz darauf erschien der See.

Ich pfiff vor Überraschung, so schön war es!

Unter der Kuppel hatten wir einen Fluss, der im Kreis herum floss und nur an einer Stelle unterirdisch verlief. Es gab auch einen kleinen See.

Aber das alles war nicht natürlich, sondern von Menschen geschaffen. Und wenn der Fluss auch richtige Ufer und der See eine unregelmäßige Form hatte, man merkte doch, dass sie künstlich angelegt waren.

Hier dagegen war der See fast rund. Und trotzdem natürlich! Auch die alten Bäume am Ufer hatte niemand angepflanzt, sie wuchsen wild: Bäume von der Erde, die sich angepasst hatten, und Überreste der einheimischen Flora. Hier lebten bestimmt auch richtige Tiere: Mäuse, Hasen und Füchse. Und Schnee lag nicht etwa auf den Zweigen, weil die Administration der Kuppel vor den Wahlen beschlossen hatte, allen ein echtes Neujahrsfest zu bescheren, die Temperatur herunterfuhr und die Beregnungsanlagen auf volle Auslastung stellte.

Das waren See, Wald und Schnee. Hier konnte man wirklich spielen. Vielleicht sogar leben: in einem kleinen Haus, das mit Holzscheiten geheizt werden musste, und zu essen gab es Wild, das man im Wald geschossen hatte.

Alles war echt!

»Wunderschön!«, sagte ich.

Das Auto fuhr bereits am Ufer entlang, links war der Wald, rechts eine verschneite Eisfläche.

»Ja, schön«, stimmte Rossi zu.

Sie verstanden es nicht. Sie waren reich, so unendlich reich, dass es einem den Atem verschlug! Neben ihnen lebte eine ganze Welt ihr eigenes Leben.

Sie aber fuhren nur manchmal an den See zum Picknicken.

Ich schaute auf Lion, nahm seine Hand und flüsterte: »Du verstehst mich, das weiß ich. Gerade du verstehst mich.«

Wie schade, dass er mir ohne Befehl nicht antworten, seine Begeisterung nicht äußern und nicht auf dem Sitz herumspringen und sich umsehen konnte. Er hatte es ja früher noch schlechter als ich gehabt, er hatte überhaupt weder Sonne noch Himmel über dem Kopf.

Wir fuhren an zwei oder drei Autos vorbei, die am See geparkt waren. Auch zum Picknicken. Bei den Autos waren Leute, die sogar große, warme Zelte und ein Grillgerät aufgestellt hatten. Vier junge Männer in Badehosen spielten im Schnee Fußball. Alle Achtung! Ich hatte am Morgen aufs Thermometer geschaut, es waren drei Grad unter null!

»Das sind Eisbader«, kommentierte Rossi. »Sie kommen jeden Samstag hierher zum Feiern. Sie werden noch baden, du wirst sehen.«

Nach den Eisbadern fuhren wir noch rund einen Kilometer und hielten an einem verschneiten Holzpavillon mit Tisch und Bänken, alles aus echtem Holz. Etwas weiter zum Wald hin stand das Häuschen einer Biotoilette. Hier war es menschenleer, nur unberührte Natur!

»Hier bleiben wir«, meinte Rosi und fuhr näher an den Pavillon heran. »Hier waren wir letzten Frühling und kamen in ein Gewitter. Erinnerst du dich, wie du die Angelrute verloren hattest, du Träumer?«

Dieses Mal fand Rossi eine Erwiderung: »Ja, ich erinnere mich gut! Das war doch, als eine Heulsuse von einer Biene gestochen wurde und der ganze See voller Geschrei war?«

Rosi verstummte.

Wir packten aus und zogen unsere Taschen unter das Vordach. Am Eingang standen Besen und wir fegten den Schnee von Tisch, Bänken und Boden nach draußen. Rosi wickelte geschickt Plastikgardinen aus, befestigte sie und schirmte dadurch den Pavillon vor dem Wind ab. Danach warf sie einige Heizbriketts in den Ofen und entzünde sie mit speziellen Zündhölzern für Touristen.

»Rosi ist unser Überlebensspezialist«, bemerkte Rossi. Dieses Mal ohne jegliche Häme, sondern mit Stolz auf seine Schwester. »Mit ihr würdest du im Wald nicht umkommen.«

»In einer halben Stunde können wir die Jacken ausziehen!«, erklärte Rosi stolz, »aber jetzt lasse ich euch Jungs für einen Moment allein.«

Sie ging zur Toilette, und Rossi und ich fingen an, die Lebensmittel auf dem Tisch auszubreiten, den tragbaren Fernseher einzustellen und Geschirr und Besteck auszupacken. Rosi und Rossi hatten sich gut vorbereitet und nichts vergessen. Man hätte auch für Lion eine Arbeit finden können, aber dann hätte man ihm jedes Mal eine Aufgabe stellen müssen.

»Wir sind wie die Erstbesiedler«, meinte Rossi, »wie die Pioniere, die den Avalon bezwungen haben! Mit Lasergewehren in den Händen und einer Auswahl von Biokulturen im Reagenzglas — gegen die ganze wilde und feindliche Welt!«

Dieser Satz stammte bestimmt aus einem Lehrbuch und nicht von ihm. Er war viel zu hochgestochen. Rossi vergaß ihn aber augenblicklich und sorgte sich:

»Du kannst die Sandwichs machen. Ich muss noch Mama Bescheid sagen, dass wir gut angekommen sind. Das Telefon ist im Auto!«

Ich legte die Sandwichs in die Mikrowelle, stellte auf Erhitzen und verfolgte, wie Rossi schnell hüpfend durch den Schnee zum Auto rannte. Er ist zwar oft gemein, aber im Großen und Ganzen in Ordnung.

Ich fühlte mich jetzt sehr wohl. Es gelang mir sogar, die Sache mit dem Schlangenschwert zu verdrängen, wegen der mich früher oder später Unannehmlichkeiten erwarten würden.

»Lion, möchtest du essen?«, fragte ich.

»Ja«, antwortete er, »ein Sandwich.«

Das war doch etwas Neues! Früher hätte ich Lion noch eine zusätzliche Frage stellen müssen, was genau er möchte!

»Nimm!«, sagte ich und reichte ihm ein Sandwich mit Schinken.

Er nahm ihn, fing aber nicht an zu essen.

»Möchtest du ein anderes?«, fragte ich.

»Ja. Mit Käse.«

Ich stürzte dermaßen schnell zur Mikrowelle, dass ich fast hinfiel. Ich holte ein Sandwich mit Käse. Es zischte vor Hitze und war mit einer geschmolzenen Käsekruste bedeckt. Das mit Schinken nahm ich mir.

»Lion, dir geht es schon besser! Wirklich besser, das merke ich!«, beschwor ich ihn.

Aber er wirkte wieder, als ob ihm eine Kapuze übergestülpt worden wäre. Schweigend begann er sein Sandwich zu kauen. In dem Moment kehrten Rosi und Rossi zurück.

»Aha, das Essen ist fertig!«, rief Rossi und steckte das Telefon in die Jackentasche. »Das ist Klasse. Tikkirej, rück das Bier raus!«

»Ist es nicht zu früh?«, fragte ich.

Rosi protestierte:

»Du willst doch nicht, dass ich mich betrunken hinters Lenkrad setze?!«

Ich fing nicht an zu diskutieren und gab jedem eine Flasche Bier. Im Pavillon wurde es schon wärmer, wir knöpften unsere Jacken auf und Rossi öffnete den Reißverschluss seiner Kombination.

»Tikkirej, stimmt es, dass du extern die Schule beenden möchtest?«, wollte Rosi wissen.

»Ja«, erwiderte ich, »ich habe mir ausgerechnet, dass ich in drei Jahren den gesamten Mindestkurs absolvieren könnte.«

»Lern lieber regulär«, schlug Rossi vor, »mit uns zusammen. Warum hast du es so eilig?«

Ich zuckte mit den Schultern. Wie sollte ich ihnen auch erklären, dass es für mich lächerlich war, mit ihnen zusammen zum Unterricht zu gehen und einem Lehrer zuzuhören, um dann in ein Rüstungslabor arbeiten zu gehen und einen Haushalt zu führen? Ich würde nie mehr so werden können wie sie.

»Es ist schwer, gleichzeitig zu lernen und zu arbeiten«, äußerte ich, »was ist daran so schwer zu verstehen? Ihr könnt doch auch extern die Schule beenden.«

»In der Schule ist es interessant«, meinte Rossi, »du machst einen Fehler. Es ist interessant und du hast keine unnötige Verantwortung.«

»Kann schon sein«, stimmte ich zu.

Wir diskutierten noch eine Weile, doch unlustig. Im Grunde hatten sie mich verstanden, wollten aber einfach nicht, dass ich sie verließ.

»Du müsstest eine Pilotenausbildung machen«, schlug Rossi vor, »Papa sagte neulich, dass du ein guter Pilot sein würdest, weil du ein Modul warst. Das bedeutet, dass du dich ihnen gegenüber human benehmen würdest. Das wiederum wäre sehr nützlich für die soziale Harmonie in der Gesellschaft.«

Mich erfasste eine stille Wehmut. Als Stasj mich überredete, parallel zur Arbeit in eine normale Schule zu gehen, argumentierte er, dass »der Umgang mit Gleichaltrigen meiner harmonischen Entwicklung zugutekommen würde«. Ich richtete mich danach, war jedoch nicht damit einverstanden. Und jetzt erfasste mich dasselbe Gefühl: Eigentlich ist alles richtig, aber…

Ich wollte nämlich nicht Pilot werden und mich den Modulen gegenüber »human« verhalten. Denn es war ja trotzdem gemein, Menschen zu gestatten, zu schweigsamen Zombies zu werden. Pilot könnte ich höchstens auf einem superkleinen Raumschiff werden wie bei den Phagen. Aber solche Raumschiffe gab es kaum.

»Kommt, wir schlittern auf dem Eis!«, schlug Rossi vor.

»Bist du verrückt, das Auto bricht durch!«, entsetzte sich Rosi. »Das Eis ist dünn!«

»Doch nicht mit dem Auto, nur wir!«

Rosi zuckte mit den Schultern.

»Kommst du mit, Tikkirej?«

»Gehen wir«, stimmte ich zu. Ich war noch nie auf Eis geschlittert. Das würde bestimmt lustig.

Wir zogen den Vorhang hinter uns zu und stürmten aus dem Pavillon.

Lion führte ich an der Hand, damit ich ihm nicht ewig alles erklären musste.

»Hurra!«, rief Rossi und warf die leere Bierflasche zur Seite. Er nahm Anlauf, sprang mit einem Jauchzer auf das mit Schnee bedeckte Eis und schlitterte. Ich schaute aufmerksam zu, um mir zu merken, wie das gemacht wurde.

Es sah alles sehr leicht aus.

Zuerst der Anlauf, dann aufs Eis — und dann die Beine gerade halten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Bestimmt würde es schwerer sein, auf dem Eis wieder Anlauf zu nehmen. Aha, so funktionierte es also: Rossi machte kleine Schritte, hob die Füße, und dann sah es aus, als würde er nach vorn springen.

Rosi stürmte nach vorn, ihrem Bruder hinterher. Sie verlor das Gleichgewicht, fiel hin und rutschte auf dem Hinterteil weiter, wobei sie lachte und sich drehte.

»Lion, bleib hier stehen«, bat ich. Ich nahm Anlauf und begab mich ebenfalls aufs Eis.

Es war gar nicht so schwer und machte wirklich Spaß. Ich erinnerte mich, dass es in der Stadt eine Schlittschuhbahn gab und man dort auf dem Eis mit speziellen Geräten, den Schlittschuhen, fuhr. Ich sollte einmal dorthin gehen, denn es klappte prima.

Und schon knallte ich ebenfalls auf den Rücken, rutschte mit den Beinen voran und traf den lachenden Rossi. Rosi, die bereits aufgestanden war, lachte fröhlich über uns.

»Oh, entschuldige«, sagte ich.

»Macht nichts!« Rossi stellte sich auf Hände und Füße und stand auf. Sein Rücken hatte den ganzen Schnee vom Eis gefegt, und ich bemerkte, dass das Eis durchsichtig war. Sogar den Grund konnte man sehen!

»He, schau mal!«, rief ich aus.

Rossi schaute nach unten und seine Fröhlichkeit verflog sofort. Vorsichtig ging er zurück auf die zugeschneite Fläche.

»Was machst du?«, wollte ich wissen. Ich streckte mich auf dem Eis aus und schaute mir die Unterwasserwelt an. Vielleicht konnte man sogar Fische sehen?

»Das Eis ist total dünn«, meinte Rossi schuldbewusst, »weißt du… Es ist bestimmt gefährlich, zu schlittern.«

Rosi schlitterte geschickt auf uns zu. Sie rief:

»Was steht ihr da herum?«

»Rosi, schau doch, das Eis ist ganz dünn!« Rossi zeigte mit der Fußspitze auf die gesäuberte Fläche. Sofort schrie er auf, sprang zur Seite und rief: »Das Eis unter meinen Füßen hat geknackt! Weg hier!«

»Hör auf«, sagte Rosi ungläubig. »Tikkirej, du hast doch wohl keine Angst?«

»Nein«, erwiderte ich. Ich konnte gar nicht verstehen, wovor man Angst haben sollte. Wenn wir auf dem Eis schlittern und es nicht bricht, was sollte sich da auf einmal verändert haben?

»Siehst du, er hat keine Angst!«, stellte Rosi fest.

»Er versteht es einfach nicht«, Rossi wurde immer panischer. »Erinnerst du dich, Mama hat erzählt, wie ein Klassenkamerad ertrunken ist, als sie ein Kind war? Er ist eingebrochen und ertrunken!«

Ich begann mich aufzurichten.

Rosi meinte genervt: »Das Eis ist doch fest, es ist fest!« Und sprang einige Male auf und ab.

Rossi verstummte und zog seinen Kopf ein.

Ich erstarrte auf allen vieren, weil ich ein leichtes Knacksen spürte.

Rosi hörte es sicher nicht.

»Siehst du?«, fragte sie und sprang noch einmal.

Unmittelbar unter ihren Füßen zog sich plötzlich ein dünner, sich verzweigender Riss durchs Eis. Rosi sprang mit einem Aufschrei zur Seite und rannte zum Ufer.

Ich aber stand nach wie vor auf allen vieren und schaute gebannt auf den Zickzack, der auf mich zukam. Der Riss wurde immer breiter, und es war zu sehen, dass das Eis nur vier Zentimeter dick war. Darunter sah man schwarzes, dampfendes Wasser.

»Tikkirej, lauf!«, rief Rossi und wandte sich ebenfalls dem Ufer zu.

Laufen konnte ich schon nicht mehr. Der Riss verlief gerade unter mir. Die Hände waren auf der einen Seite, die Füße auf der anderen. Und der Spalt wurde langsam breiter.

»Tikkirej, was machst du?«

Rosi stand schon am Ufer ungefähr zwanzig Meter entfernt von mir. »Steh auf!«

»Wie?«, rief ich als Antwort. Ich hatte kein bisschen Angst, aber mir war durchaus bewusst, dass ich nicht aufstehen konnte. Ich bog mich jetzt als Brücke über den Riss, der bereits vierzig Zentimeter breit war.

Und er wurde immer größer.

»Rossi, Rossi, lass dir irgendetwas einfallen!«, schrie Rosi.

Ich sah, dass Rossi vorsichtig aufs Eis trat, auf mich zukam — und sofort wieder umkehrte, weil das Eis unter seinen Füßen zu reißen begann.

»Tikkirej!«, rief Rosi.

Mir dämmerte, dass ich ins Wasser springen musste. Was für ein Pech! Aber wenn ich ins Wasser springen würde, könnte ich danach leicht aufs Eis krabbeln und ans Ufer gelangen. Ich würde meine Sachen trocknen, aber trotzdem könnte ich mich erkälten und krank werden, aber einen anderen Ausweg gab es nicht.

»Leute, ich springe ins Wasser!«, schrie ich, »dann krabble ich heraus!«

»Mach das nicht!«, rief Rossi.

Aber ich war schon gesprungen.

Oi…

Das Wasser schien — zum Verbrühen! Alle Achtung! Dass die Eisbader darin baden können! Mir verschlug es den Atem, ich tauchte mit dem Kopf unter, kam wieder nach oben und stieß schmerzhaft mit der Schulter ans Eis.

»Tikkirej!«

»Gleich«, murmelte ich atemlos.

Das Wasser kam mir nicht mehr heiß vor, sondern wurde betäubend kalt.

Ich hielt mich am Eisrand fest, zog mich hoch und hievte den Körper aus dem Wasser. Zuerst ging alles gut, ich war bereits bis zum Gürtel aus dem Wasser und spürte, wie der Wind meine nassen Haare kühlte.

Dann jedoch knackte das Eis unter meinen Händen, brach ab und ich tauchte wieder unter!

Jetzt bekam ich Angst. Ich realisierte, was passiert war: Ich war mit Müh und Not halb aus dem Wasser gekommen, doch mein Körper war zu schwer für das Eis und es brach.

Was sollte ich jetzt nur machen? Wie kam ich hier heraus?

»Leute, helft!«, schrie ich.

Rosi stand schweigend am Ufer, fasste sich an den Kopf und erstarrte. Rossi dagegen rannte hin und her, lief zum Jeep, kam dann zusammenhangslos stammelnd wieder zurück.

Lion ging schweigend nach vorn.

»Bleib stehen!«, schrie ich. »Lion, bleib stehen, beweg dich nicht!«

Natürlich blieb er nicht stehen. Das würde mir gerade noch fehlen, dass auch er einbrach!

Ich begann vorsichtig, mich seitlich aufs Eis zu schieben. So, dass die Kontaktfläche größer war. Und das wäre mir fast gelungen — ich war sogar vollständig draußen!

Aber die Eisfläche brach ab.

Wieder tauchte ich mit dem Kopf unter Wasser, kam an die Oberfläche…

Erschreckt stellte ich fest, dass mein Körper sich weigerte, auf mich zu hören.

Bestimmt vor Kälte. Vielleicht aber auch vor Angst.

»Ich will nicht…«, flüsterte ich, »ich will nicht…«

Etwas bewegte sich an meinem rechten Arm. Mein nasser Pulloverärmel wurde hochgeschoben und ein silbernes Band schoss nach vorne. Es krallte sich einen Meter vom Rand ins Eis.

Die Schlange!

Ich wusste nicht, über welche Reflexe sie verfügte, vielleicht konnte sie überhaupt keine Ertrinkenden retten, sondern wollte lediglich selbst aus dem eisigen Wasser kommen. Aber sie ließ mich nicht im Stich und ich konnte mich an ihr festhalten. Wenigstens vorläufig.

Sie müssen lediglich ein Seil holen, wurde mir mit einem Mal klar, ein ganz gewöhnliches langes Seil, bestimmt ist eins im Jeep: es mir zuwerfen, ich halte mich daran fest und sie ziehen mich ans Ufer. Das muss ich ihnen sagen.

Aber ich konnte nichts sagen. Es war, als ob mir die Zunge abgestorben wäre. Alles, was ich konnte, war, mich an dem Schlangenschwert festzuhalten und auf das so nahe Ufer zu schauen.

Zu Lion, der auf dem Eis lag und auf mich zukroch.

Das musste ihm einer von ihnen befohlen haben, Rosi oder Rossi. Diese Feiglinge!

Er konnte ja nicht einmal schwimmen!

Lion kroch schnell. Als er nur noch einen Meter von mir entfernt war und seine Hand sich auf den Kopf der Schlange legte, die sich ins Eis gebohrt hatte, nahm ich meine Kräfte zusammen und befahl:

»Kriech zurück!«

Lion schwieg eine Sekunde und schaute mich an. Dann sagte er sehr ernsthaft: »Halt die Klappe!«

Wenn nicht die Schlange gewesen wäre, hätte ich jetzt die Hand geöffnet und wäre wieder untergetaucht. Vor Überraschung.

»Fass mich an«, sagte Lion und reichte mir seine Hand, »und leg dich aufs Eis. Ganz flach.«

Wie im Schlaf streckte ich ihm meine Hand entgegen, erfasste die seine — und Lion zog mich langsam hinter sich her. Ich konnte mich kaum bewegen, blieb aber auf der Oberfläche liegen.

Und hier half mir die Schlange. Ich habe keine Ahnung, wie sie sich am Eis festhielt, wie sie sich ins Eis bohrte — aber sie zog mich genau so, wie es nötig war: stetig und kräftig.

Dann lag ich ganz auf dem Eis. Mit den Schuhspitzen hing ich noch im Wasser, aber das Eis hielt mich.

»Kriechen wir los«, sagte Lion, »schneller.«

Schneller konnte ich nicht. Aber wir kamen trotzdem vorwärts — weiter und weiter, weg von der Einbruchstelle. Die Schlange half mir auf den ersten Metern und zog sich dann in den Ärmel zurück.

Wir krochen so lange, bis wir an die Beine von Rosi und Rossi stießen. Die Zwillinge standen noch immer am Ufer und hatten Angst, auch nur einen Schritt aufs Eis zu machen — obwohl der See dort bis zum Grund gefroren war.

»Tikkirej…«, sagte Rosi erleichtert und verschmierte ihre Tränen im Gesicht. Sie hielt ein Handy in der Hand — offensichtlich hatte sie Hilfe gerufen. Wenigstens darauf war sie gekommen.

Rossi lief nach wie vor hektisch hin und her. Erst versuchte er näher zu kommen, dann machte er einen Schritt zurück.

Ich wandte mich um und schaute auf Lion. Er atmete heftig und leckte sich die Lippen.

»Ist alles okay?«, fragte ich.

»Ja.«

»Lion, du bist ganz normal!«

»Hm«, er lächelte plötzlich, »Tikkirej, bist du etwa mit Absicht eingebrochen?«

Ich fühlte mich wie in einem Kühlschrank. Alle Sachen waren nass und es war Frost. Aber ich spürte die Kälte nicht.

»Nein, nicht mit Absicht«, erwiderte ich. »Aber ich wäre hineingesprungen, wenn ich gewusst hätte, dass das passiert.«

Irgendwie schaffte ich es, mich aufzurichten. Ich half Lion aufzustehen.

Da endlich sprang Rossi auf uns zu, fasste mich an der Hand und rief: »Das hast du prima gemacht, wir werden allen erzählen, dass du ein richtiger Held bist!«

»Und du bist ein Feigling«, sagte ich und lief auf steifen Beinen zum Pavillon. Der Jeep wäre besser gewesen, darin war es wärmer. Aber ich wollte mich jetzt nicht in ihr Auto setzen.

»Tikkirej«, rief mir Rossi kläglich nach, »du bist doch selbst schuld, dass du eingebrochen bist!«

Ich antwortete nicht, sondern sprang in den Pavillon und zog meine nassen Kleider aus. Lion lief hinterher und fragte: »Hast du etwas Trockenes?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Gleich…«

Er wollte schon zurückgehen, aber in diesem Augenblick kam Rossi herein. Voller Scham, mit nassen, roten Augen, den Kopf eingezogen. Er rief: »Tikkirej, da kommt ein Flyer!«

»Zieh deine Kombination aus, du Dämel!«, schrie ihn Lion an. Rossi erstarrte und zwinkerte heftig. Er konnte nicht begreifen, dass Lion normal sprach.

»Hä?«

»Ich poliere dir gleich die Fresse!«, versprach Lion kämpferisch. »Zieh sofort deine Kombination aus!«

Rossi beeilte sich mit dem Ausziehen. Unter der Kombination trug er noch einen warmen Strickanzug. Ich zog mich nackt aus und schlüpfte schnell in Rossis Kombination. Es war schon widerlich, dass mir dieser Feigling half, aber ich konnte ja nicht bei lebendigem Leibe erfrieren! Ich war ja kein Eisbader!

»Hol den Cognac von deiner Schwester und bring ihn her!«, kommandierte Lion Rossi weiter herum. Und der verließ gehorsam den Pavillon. Ich setzte mich auf die Bank und umfasste meine Schultern mit den Händen. Ich zitterte am ganzen Leib. Die Wärme wollte überhaupt nicht in den Körper zurückkehren. Die Schlange bewegte sich unruhig am Arm. War sie von den Zwillingen bemerkt worden oder nicht? Und wenn sie sie bemerkt hatten, verstanden sie dann, worum es sich handelte?

»Tikkirej, ich gieße dir Tee ein.« Lion machte sich an der Thermoskanne zu schaffen.

Wie war er nur darauf gekommen, sich hinzulegen und auf dem Bauch zu kriechen? Das wird ja wirklich so gemacht, ich hatte es in einem Film gesehen, in dem ein Mensch gerettet wurde, der durchs Eis gebrochen war. Danach gab man ihm heißen Tee und Cognac zu trinken.

Irgendwo ganz in der Nähe des Pavillons landete ein Flyer. Über die matten Gardinen huschte ein Schatten und sie erzitterten im Windstoß. Nach einigen Minuten kam noch eine andere Maschine herunter, doch etwas weiter entfernt.

»Da ist also die ›Schnelle Hilfe‹«, murmelte ich. Was sollte ich jetzt mit dem Schlangenschwert machen? Man würde mich ins Krankenhaus bringen, untersuchen, in eine heiße Wanne stecken, was bestimmt alles richtig wäre. Aber dabei würden sie die Schlange bemerken! Sie Lion geben? Das würde bedeuten, ihn in mein Verbrechen hineinzuziehen. Das ging auch nicht…

Für einen Augenblick schaute Rossi durch den Vorhang herein und reichte Lion den Flachmann. Dieser nahm ihn schweigend entgegen, schüttete Cognac in den Tee und reichte ihn mir. Ich trank ihn in einem Zug aus.

Oho! Ich hätte niemals geglaubt, dass Alkohol so guttun könnte!

»Was wird jetzt passieren?«, flüsterte ich. Ich richtete meine Augen auf Lion und sagte: »Aber dafür bist du wieder gesund! Wie kam es nur dazu, Lion?«

»Als ob…«, begann Lion. Aber in diesem Augenblick wurde der Vorhang am Eingang des Pavillons zurückgezogen und Stasj trat ein. Weiter entfernt, hinter seinem Rücken, trieben sich Rosi, Rossi und noch irgendwelche Leute herum.

»Stasj…«, staunte ich. Ich hatte keine Ahnung davon, dass er auf Avalon war.

»Wen hättest du denn gern gesehen? Den Imperator?«, erwiderte der Ritter vom Avalon auf die ihm eigene Art. Er kam zu mir, befühlte die Kombination und nickte zufrieden. Er beschnupperte die Kaffeetasse und nickte nochmals.

»Stasj…«, wiederholte ich.

»Ist noch Cognac da?«, antwortete Stasj mit einer Gegenfrage. »Ich gehe davon aus, dass es sich nicht lohnt, die Mediziner hinzuzuziehen, aber eingerieben werden musst du.«

»Hier«, Lion reichte ihm den Flachmann, »er scheint gut zu sein.«

»Oho!« Stasj schaute eine Sekunde fragend auf Lion und schüttelte dann den Kopf. »Okay, danach. Zieh die Kombination aus! Erfrorene Finger und Zehen wieder zum Leben zu erwecken ist eine langwierige, aber notwendige Beschäftigung.«

»Stasj«, wiederholte ich zum dritten Mal. Und merkte, dass ich losheulte. »Stasj, ich habe so etwas Schlimmes angestellt… Ich brauche jetzt keine Einreibungen.«

»Meinst du die gestohlene Peitsche?«, erwiderte Stasj. »Ich habe aus diesem Grund den Ärzten verboten hereinzukommen. Gerüchte wären das Letzte, was wir jetzt brauchen.«

Er neigte sich über den Cognac, lächelte, schüttelte den Flachmann und meinte danach:

»Lion, sei ein Freund, lauf zu den Ärzten und hol von ihnen eine Flasche Alkohol. Diesen Cognac für Einreibungen zu nehmen, das wäre ein Verbrechen gegen die Weinkultur.«

»Wird gemacht!«, rief Lion und lief los.

Ich sah Stasj in die Augen und fragte: »Komme ich jetzt ins Gefängnis? Wegen der Peitsche?«

Der Ritter vom Avalon holte tief Luft. »An wen wolltest du sie weitergeben, Tikki? Oder wolltest du sie einfach verkaufen?«

»Verkaufen?«, erwiderte ich verwirrt. »Stasj, sie hat sich mir angeschlossen. Ich konnte sie nicht in den Utilisator werfen! Das wäre ja wie Mord!«

»Tikkirej, diese Peitsche wird schon vier Jahre lang für die Zuverlässigkeitsüberprüfung neuer Mitarbeiter benutzt«, Stasj trank den Cognac aus und stellte die Flasche vorsichtig vor sich auf den Tisch, »der Block für das Imprinting ist bei ihr vollkommen entstellt, sie kann sich an niemanden anschließen.«

Ich versuchte gar nicht erst zu antworten, streckte ganz einfach die Hand aus — und die Schlange kroch aus dem Ärmel, wobei sie die winzige Plasmakanone herausgefahren hatte.

Das machte Eindruck! Stasj zuckte zusammen und seine eigene Peitsche schnellte heraus, bereit zum Kampf.

»Das gibt es doch gar nicht!«, sagte der Phag verdutzt und schaute auf die Waffe, die sich an mich gebunden hatte.

Lion kam mit einem durchsichtigen Flakon zurück.

»Komme ich ins Gefängnis?«, fragte ich wieder. »Oder muss ich den Planeten verlassen?«

»Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher«, erwiderte Stasj. »Lion, Junge, ist das reiner Alkohol? Oder ist das eine Lösung zum Einreiben?«

»Sie wollten mir eine Lösung geben, aber ich habe reinen Alkohol verlangt«, erwiderte Lion.

»Bist du etwa von Natur aus so verständig?«, erkundigte sich Stasj und öffnete den Flakon. »Tikkirej, jetzt wirst du das ekelhafteste von allen alkoholischen Getränken schlucken müssen. Ich hoffe, dass es dir auf lange Zeit die Lust nimmt, Alkohol zu trinken.«

Ich nickte. Ich war zu allem bereit.

Kapitel 3

Stasj hatte die Heizung auf volle Kraft gestellt und mittlerweile war mir regelrecht heiß. Ich lag auf dem Sofa, eingewickelt in eine Decke, und hörte dem Phagen zu. Mir war immer noch schwindlig und im Mund hatte ich einen ekelhaften Beigeschmack. Noch schien mir alles so lustig wie in einem Trickfilm zu sein. Es drängte mich danach, die Augen zu schließen und zu träumen. Das kam vom Alkohol… Im Flyer war ich sowieso eingeschlafen.

»Unsere Organisation ist ein offenes System«, erklärte Stasj leise. »Wir nehmen bei uns Leute von den verschiedensten Planeten des Imperiums auf. Aber jeder, sei es ein Hausmeister oder ein Lagerarbeiter, wird verschiedenen Überprüfungen unterworfen. Das ist unumgänglich, verstehst du, Tikkirej?«

Ich nickte träge.

»Gegen dich gab es keine Einwände«, fuhr Stasj fort, »deine Legende wurde vollständig überprüft. Es stellte sich heraus, dass alles stimmte, dass du wirklich der 13-jährige Junge Tikkirej vom Planeten Karijer bist, der zwei Flüge lang als Modul auf dem Raumschiff Kljasma gearbeitet hat. Deine Geschichte ist unglaublich. Aber wir sind an unglaubliche Geschichten gewöhnt. Der Psychotyp eines jeden Phagen enthältgezwungenermaßeneinegewaltigeDosis Sentimentalität.« Er lachte auf. »Anderenfalls würden wir uns in eine Bande selbstgerechter Mörder verwandeln.«

»Gibt es denn auch sentimentale Mörder?«, fragte Lion leise. Er saß neben Stasj im anderen Sessel.

»Nur im Kino«, schnitt ihm Stasj das Wort ab. »Tikkirej, niemand hat übermäßig an dir gezweifelt. Aber es gibt Standardmethoden der Zuverlässigkeitsprüfung. Du hast sechs Tests bestanden. Beim siebten bist du durchgefallen. Da ich dich eingeführt hatte, wurde mir das unverzüglich mitgeteilt.«

»Stasj, was hätte ich denn machen sollen?«, fragte ich. »Ich hatte doch nicht geahnt, dass die Peitsche eine Überprüfung war! Ich dachte, dass sie sich mir angeschlossen hatte und sie jetzt getötet werden würde. Ich bin doch kein Ritter. Ich hab kein Recht, eine Waffe zu tragen!«

»Sie hat sich dir wirklich angeschlossen«, stimmte Stasj zu. »Niemand hatte das erwartet, Tikkirej. Und was jetzt geschehen wird, weiß ich auch noch nicht. Das ist ein ganz spezifischer Vorfall, es gibt keine Präzedenzfälle.«

Ich schwieg.

»Lassen wir das, darüber wird später entschieden werden«, meinte Stasj. »Lion, jetzt muss ich mit dir reden.«

»Ja?« Lion hob seinen Kopf.

»Erzähl mir alles, von Anfang an«, bat Stasj, »seit dem Moment, in dem… wie man dich… wie du…« Er fand nicht die treffenden Worte. »Von dem Moment an, als dich die Waffe des Inej traf.«

Lion überlegte einen Moment. »Ich wollte schlafen. Wollte einfach nur schlafen.«

»So«, ermutigte ihn Stasj. »Übrigens, ich mache dich darauf aufmerksam, dass das ein offizielles Gespräch ist und mitgeschnitten wird.«

Lion nickte. »Aha, ich verstehe. Wir wollten uns sowieso schlafen legen, und da wälzte sich irgendetwas auf uns. Mein Schwesterchen wurde sofort ganz still, und mich haute es um. Ich zog mich aus und legte mich hin.«

Stasj wartete.

»Dann habe ich geträumt«, fuhr Lion leise fort.

»Was für Träume? Erinnerst du dich?«

»Eigenartige. Aber schöne.« Lion wurde auf einmal rot.

»Erzähl nur, du brauchst dich nicht zu schämen«, bat Stasj sanft. »Was hast du geträumt?«

»Na, irgendwelche Dummheiten«, Lion warf den Kopf zurück. »Allen möglichen Blödsinn, Ehrenwort!«

»Lion, das ist wichtig, Verstehst du, bei Jungs in deinem Alter gibt es so manche und ganz verschiedene aufregende Träume…«

Lion begann zu lachen: »Aber nein, Sie haben mich missverstanden! Ich habe davon geträumt…«, er stockte kurz, »also, zum Beispiel, dass ich ein Held bin. Können Sie sich das vorstellen? Ein echter Held, ein Retter des ganzen Weltalls. Dass ich mit irgendwelchen Bösewichten kämpfe, auf der Straße laufe, einer langen dunklen, die Häuser sind halb zerstört und überall wird geschossen. Und ich schieße zurück und habe überhaupt keine Angst, im Gegenteil. Als ob das ein Spiel wäre… Nein, ein Spiel — das ist nicht ernst zu nehmen. Aber im Traum war alles äußerst wichtig!«

»Aha…«, staunte Stasj, »ach so…«

»Außerdem habe ich noch geträumt, dass ich in einer Fabrik arbeite«, fuhr Lion fort. »Wir haben dort irgendetwas gebaut. Im Traum habe ich alles verstanden, und jetzt — schon nicht mehr. Wir haben dort lange gearbeitet.«

»Wir?«

»Ich und noch andere Leute.« Lion zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, Tikkirej war auch dort. Und noch unsere Kumpel von der Raumstation. Gute Freunde. Wir haben irgendetwas gebaut…« Er dachte wieder nach. »Ich war Ingenieur… oder Techniker, ich erinnere mich nicht mehr. Oder beides.«

Stasj schwieg.

Lion aber kam in Fahrt und fuhr mit seiner Erzählung fort. »Und außerdem habe ich geträumt, dass ich erwachsen bin.«

»In den vorhergehenden Träumen warst du ein Kind?«, fragte Stasj schnell.

»Nein. Ich erinnere mich nicht. Es kann sein, dass ich auch erwachsen war. Ich weiß es nicht. Aber jetzt war ich wirklich erwachsen. Ich hatte eine Frau und fünf Kinder.«

Ich kicherte. Aus unerfindlichen Gründen fand ich das sehr unterhaltsam.

»Tja, das war lustig«, stimmte Lion zu. »Ich hatte eine Frau und erörterte mit ihr, wie der Haushalt zu führen sei und wohin wir in den Urlaub fahren würden. Und den Kindern half ich bei den Hausaufgaben und spielte mit ihnen Baseball. Und die Tochter…«, er zog die Stirn in Falten, »nein, ich kann mich nicht an ihren Namen erinnern, heiratete. Sie hatte auch viele Kinder. Und meine anderen Kinder auch. Und danach… Danach… Danach wurde ich alt und starb. Alle kamen zu meiner Beerdigung und sprachen darüber, was ich doch für ein bemerkenswerter Mensch gewesen wäre und was ich für ein gutes Leben gelebt hätte.«

»DU BIST IM TRAUM GESTORBEN?«, fragte Stasj und hob jedes einzelne Wort hervor.

»Ja.«

»Du bist gestorben und warst tot?«

»Na klar, ich erinnere mich sogar an die Beerdigung!«, erwiderte Lion erstaunt.

»Hattest du Angst?«

»Nein… Überhaupt nicht. Ich habe doch verstanden, dass es nur ein Traum war!«

»Die ganze Zeit über?«

»Ja. Die ganze Zeit über. Ich habe sogar einiges mitbekommen, was um mich herum passierte. Wie ihr mich hochgenommen und in eine Decke eingewickelt und getragen habt. Wie wir durch die Stadt gefahren sind; dort waren in den Fenstern Bildschirme und auf ihnen feierten die Leute… Und danach wurde ich an einen Computer angeschlossen und die Träume hörten auf.«

»Alle Träume verliefen so schnell? Bis zum Zeitpunkt deines Onlineanschlusses im Raumschiff?«

»Ja.«

»Dann ist es nicht verwunderlich, dass dein Gehirn dermaßen intensiv gearbeitet hatte. Lion, verstehst du, dass es sich hierbei um die Einwirkung einer psychotropen Waffe gehandelt hat?«

»Das ist logisch«, stimmte Lion zu, »aber mit welchem Ziel? Mir ist doch nichts geschehen!«

»Was passierte danach?«, fragte Stasj.

»Danach gab es keine Träume mehr«, teilte Lion mit. »Alles begann dunkel zu werden… und verschwand. Dann öffnete ich die Augen und Sie sprachen mit mir. Ich war in einem Raumschiff. Sie fragten allerlei Dinge, und ich antwortete und mir war langweilig. Sehr langweilig.«

»Wie viele Jahre hast du in deinen Träumen gelebt, Junge?«, wollte Stasj wissen.

»Ungefähr siebzehn Jahre«, antwortete Lion ruhig. »Zuerst habe ich gekämpft, das dauerte ungefähr fünf Jahre. Dann, als ich in der Fabrik gearbeitet habe, vergingen bestimmt noch einmal fünf Jahre. Dann habe ich wieder gekämpft, etwa fünf Jahre. Und danach lebte ich ein normales Leben.«

»Und an dein ganzes Leben erinnerst du dich?«

»Naja. Fast. Nicht genau, aber ich erinnere mich.«

Stasj nickte. Er streckte seine Hand aus und strich Lion über den Kopf. »Ich verstehe. Du bist ein tapferer Kerl.«

»Warum ein tapferer Kerl?«

»Weil du dich davon befreit hast. Das heißt, im Weiteren war dir langweilig, stimmt’s?«

»Ja.« Lion dachte nach. »Nein… So war es nicht. Nicht nur langweilig… Sondern, als ob es… Als ob alles eine Wiederholung wäre. So, als ob ich jetzt schlafen würde und das Leben träumen würde! Und das, was früher war — das war das reale Leben. Und ich hatte auf nichts Lust. Danach fuhren wir an den See, und da…«

Er verstummte.

»Versuch dich an diesen Augenblick zu erinnern«, bat Stasj. »Das ist äußerst wichtig, das begreifst du doch?«

»Als Tikkirej dabei war, unterzugehen — das war falsch«, sagte Lion leise. »Ganz falsch. Das hätte so nicht passieren sollen, verstehen Sie?«

Stasj nickte wieder und schaute angestrengt auf Lion.

»Und ich stand und schaute…«, jetzt sprach Lion sehr langsam. »So etwas hätte nicht sein sollen. Ich weiß nicht, wie es mir gelang. Doch ich legte mich auf den Bauch und fing an zu kriechen. Und auf einmal kehrte sich alles um. Die Gegenwart wurde zum realen Leben und die Vergangenheit zum Traum!«

»Und bis dahin war dir der Unterschied nicht bewusst?«, fragte Stasj nach.

»Er war mir bewusst!«, schrie Lion auf, und ich sah plötzlich, dass er Tränen in den Augen hatte. »Ich realisierte es, aber es war überhaupt nicht wichtig. Es war wie im Traum — du verstehst, dass es ein Traum ist, na und? Ich verstand durchaus, was alles real war, aber das bedeutete mir nichts. Und plötzlich änderte sich alles! Als ob ich erwacht wäre.«

»Ruhig, ruhig«, sagte Stasj sanft und legte seine Hand auf Lions Schulter. »Wenn es dir schwerfällt, dann sag nichts.«

»Aber ich habe ja schon alles erzählt«, murmelte Lion. »Absolut alles.«

»Du wirst alles noch einmal erzählen müssen. In allen Einzelheiten. Nicht heute, aber es ist notwendig. Für die Spezialisten.«

Lion nickte.

»Okay, ihr beiden.« Stasj stand auf. »Ich komme morgen früh bei euch vorbei. Jetzt muss ich mit einigen Leuten reden.«

»Stasj, was wird mit mir passieren?«, konnte ich mich nicht zurückhalten und fragte noch einmal.

»Nichts Schlimmes«, sagte der Phag bestimmt. »Garantiert.«

»Habe ich darauf das Wort eines Ritters des Avalon?«, wollte ich wissen.

Stasj schaute mich sehr eigenartig an. Aber er erwiderte: »Ja. Das Wort eines Ritters des Avalon. Ich gebe dir mein Wort darauf, dass mit dir alles in Ordnung kommen wird. Ruht euch aus, Kinder. Und gebt euch Mühe, dass ihr heute nicht noch einmal in ein Fettnäpfchen tretet.«

Lion begleitete ihn zum Ausgang. Aber als er wiederkam, war ich schon so geschafft, dass ich ihn nur noch mit Müh und Not anschauen konnte.

»Deine Augen fallen zu«, meinte Lion.

»Ja…«, stimmte ich zu, »das kommt vom Alkohol…«, und schlief ein. Es gelang mir nicht, lange zu schlafen. Ich wurde durch das Klingeln des Telefons, das auf dem Tisch stand, geweckt. Lion war offensichtlich ins Schlafzimmer gegangen, ich dagegen auf dem Sofa eingeschlafen. Mein Kopf war nach wie vor schwer, nach Kichern war mir nicht mehr zumute, die Trunkenheit war vergangen.

Ohne Licht zu machen, sprang ich auf, nahm den blinkenden Telefonhörer und meldete mich:

»Hallo!«

»Tikkirej?«

Mir wurde sonderbar zumute. Es war Rossi. Ich schaute nach der Zeit — zwei Uhr nachts.

»Ja«, sagte ich.

»Tikkirej«, er sprach sehr leise, offensichtlich, damit ihn niemand hörte, »wie geht es dir, Tikkirej?«

»Normal«, erwiderte ich. Es war ja wirklich alles in Ordnung.

»Du bist nicht krank geworden?«

»Nein.« Ich kroch zurück unter die Decke, ohne den Hörer aus der Hand zu legen. »Stasj hat mich Alkohol trinken lassen und mich dann von Kopf bis Fuß eingerieben. Zu Hause saß ich eine halbe Stunde in der heißen Wanne und ging dann ins Bett. Und eigentlich schlafe ich schon seit langem.«

Rossi hielt sich nicht damit auf, dass er mich geweckt hatte. Er schwieg eine Weile und fragte danach: »Tikkirej, und wie wird es weitergehen?«

Mir war klar, worum es ihm ging. Aber ich fragte trotzdem.

»Inwiefern?«

»Was soll ich jetzt machen?«, wollte Rossi wissen.

»Hör mal, es ist doch weiter nichts Schlimmes passiert!«, erwiderte ich, »überhaupt nichts! Vielleicht hole ich mir nicht einmal eine Erkältung!«

»Was wird jetzt aus mir?«, wiederholte Rossi.

Eine Weile schwiegen wir uns an. Dann begann er:

»Tikkirej, glaub nicht, dass ich ein Feigling wäre. Ich bin kein Feigling. Wirklich. Nein, sag nichts, hör einfach zu!«

Ich hörte schweigend zu.

»Ich kann mir nicht erklären, was mit mir los war«, sagte Rossi schnell. »Ich wusste doch, was zu tun war, wenn jemand durchs Eis bricht. Verstehst du das? Das hatten wir bereits in der zweiten Klasse in den Überlebensstunden gelernt. Und als du eingebrochen warst, wusste ich genau, was zu tun war. Ich dachte sofort daran, dass man sich auf den Bauch legen und zu dir kriechen, dir ein Seil oder einen Gürtel zuwerfen oder einen Stock hinhalten müsse…«

Er verstummte.

»Rossi… Ist ja gut…«, beruhigte ich ihn. Als ich alles gerade überstanden hatte, glaubte ich, dass ich ihn hassen würde. Ihn und Rosi, und dass ich auf jeden Fall allen erzählen würde, was sie für Feiglinge und Verräter waren.

Jetzt war ich mir dessen bewusst, dass ich es nicht machen würde.

»Ich wusste doch alles«, wiederholte Rossi. Er hatte eine Stimme, als ob er eine ganze Ewigkeit nicht gesprochen hätte, und jetzt erst wieder damit anfing — und es nicht schaffte, die Worte richtig zusammenzufügen. »Tikkirej, versuch es zu begreifen… Ich wusste alles und konnte nichts machen. Ich lief am Ufer entlang und wünschte, dass alles so schnell wie möglich zu Ende ginge. Egal wie. Damit nichts zu tun wäre. Verstehst du das? Selbst wenn du ertrunken wärst! Ich bin ratlos, Tikkirej!«

Er begann leise zu weinen.

»Rossi…«, murmelte ich. »Was soll das. Du bist einfach durcheinandergekommen. Das kann jedem passieren.«

»Das passiert nicht jedem!«, schrie Rossi auf. »Du hast Lion auf Neu-Kuweit nicht im Stich gelassen!«

»Aber Lion ist doch mein Freund«, erwiderte ich.

Und da wurde mir klar, dass ich Rossi eben unbeabsichtigt sehr wehgetan hatte.

»Ich verstehe«, sagte er leise. »Ich wollte wirklich sehr, dass wir Freunde werden, Tikkirej. Ehrlich. Weil du so… besonders bist. Bei uns in der Schule gibt es niemanden… wie dich. Wir können doch jetzt keine Freunde mehr werden, Tikkirej?«

Ich schwieg.

»Es geht nicht«, wiederholte Rossi bitter. »Weil du dich immer daran erinnern wirst, dass ich dich verraten habe. Ich weiß nicht, warum…«

Mir kam in den Sinn, dass diese ganze Misere für mich bereits beendet war. Sich sogar im Gegenteil in Freude verwandelt hatte — weil Lion normal wurde, weil Stasj gekommen war, weil man vielleicht mein Verhalten mit der Schlange verzeihen wird. Aber für Rossi stellte sich alles auf den Kopf. Für immer. Denn sie leben hier gut, und es passiert selten etwas, wobei man eine Heldentat vollbringen könnte. Na, vielleicht keine Heldentat… aber eine gute Tat. Vielleicht wäre die ganze Schule am Ufer hin und her gelaufen und hätte sich nicht entscheiden können, mir zu helfen! Jetzt aber werden alle davon überzeugt sein, dass sie mir auf alle Fälle geholfen hätten, ohne Angst zu haben. Rossi jedoch weiß genau — er hat wie ein Feigling und Verräter gehandelt. Seine Schwester kam wenigstens noch darauf, zu telefonieren und Hilfe zu holen…

»Tikkirej«, sagte Rossi. »Ich habe heute zu Hause ziemlich etwas abgekriegt. Ich und Rosi… Glaub nicht, dass mein Vater so ein… Schluckspecht und Schwätzer ist. Er hat mich heute richtig zur Brust genommen. Nur… mir ist das alles eigentlich auch so klar. Ich brauche keine Erklärungen. Ich würde alles dafür geben, dass du noch einmal durch das Eis brichst und ich dich retten kann!«

Ich dachte, dass ich durchaus nicht noch einmal einbrechen wollte. Sogar wenn man mich retten würde. Stattdessen sagte ich: »Rossi, wenn du erneut in so eine Situation kommst, wirst du alles richtig machen. Auf jeden Fall!«

»Ja, nur für dich bin ich jetzt ein Feind«, äußerte Rossi bitter.

»Nein!«

»Aber auch kein Freund.«

Darauf schwieg ich.

»Wir werden die Schule wechseln«, flüsterte Rossi, »ich habe die Eltern selbst darum gebeten… Sie waren einverstanden.«

»Rossi, das ist nicht nötig. Ich werde niemandem erzählen, was passiert ist!«

»Ich brauche das«, bekräftigte Rossi.

Und mir war klar, dass er Recht hatte. Trotzdem sagte ich: »Rossi, ich bin dir wirklich nicht böse. Und möchte gemeinsam mit euch lernen.«

»Nein, Tikkirej. Das bringt nichts. Hauptsache, du verzeihst mir, ja? Und entschuldige, dass ich dich geweckt habe. Gute Nacht!«

Er beendete das Gespräch.

Ich legte das Telefon auf den Boden neben das Sofa, kuschelte mich ins Kopfkissen und dachte daran, wie gut es jetzt wäre, ein wenig zu jammern und vielleicht sogar richtig loszuheulen.

Wenn jetzt die Eltern in der Nähe wären, die mein Weinen hören könnten und kommen würden, hätte ich das auch gemacht.

Aber ich hatte keine Eltern mehr. Schon seit zwei Monaten waren sie nicht mehr da.

Deshalb schloss ich einfach die Augen und versuchte einzuschlafen. Ich hatte Glück, ich wurde nicht krank. Als ich am Morgen erwachte, war alles in Ordnung. Ich hatte lediglich großen Durst.

Und außerdem war ich sehr traurig.

Lion fand ich in der Küche. Er saß am Fenster und trank Tee mit Konfitüre.

»Grüß dich«, sagte ich. Es war eine eigenartige Atmosphäre — so wie am Tag nach einem schweren Examen oder… oder wie an dem Tag, an dem meine Eltern für immer gegangen waren. Zu viel war gestern passiert.

»Grüß dich«, Lion wandte sich kurz um. »Hier ist es aber schön, hm?«

Ich nickte, goss mir Tee ein und setzte mich neben ihn. Ich wunderte mich überhaupt nicht, als Lion fragte:

»Was glaubst du, wie es meinen Eltern geht?«

»Na, sie leben…«, murmelte ich.

»Das ist mir klar.« Lion nickte, »sie sind jetzt so, wie ich war? Zombies?«

»Stasj meinte, dass dem nicht so wäre. Dort hätten sich wohl alle normalisiert. Nur dass sie sich jetzt an Inej angeschlossen hätten und der Meinung seien, dass das der beste Planet im Imperium wäre.«

Stasj hatte wirklich berichtet, dass auf Neu-Kuweit alles alltäglich und friedlich erscheine. Die Menschen würden arbeiten und sogar feiern, als ob nichts passiert wäre. An die Nacht, als der ganze Planet einschlief, erinnerten sie sich nicht. Als ein persönlicher Gesandter des Imperators auf Neu-Kuweit ankam, hätte ihn der Sultan begrüßt und erklärt, dass alles seine Ordnung hätte, keine Aggression gegen sie erfolgt wäre und sie sich freiwillig Inej angeschlossen hätten… In jener Nacht hätte es lediglich kleine Unruhen durch Fans des Baseballklubs »Ifrit« gegeben. Die Jugendlichen, die über die Niederlage ihrer Mannschaft wütend waren, hätten sich betrunken und das Kosmodrom und das Zentrum für kosmische Verbindungen besetzt. Es hätte Opfer gegeben. Aber zum Morgen wäre die Ordnung wiederhergestellt gewesen und es gäbe seitdem keine neuen Probleme auf Neu-Kuweit.

Am traurigsten war laut Stasj, dass der Imperator keine Handhabe hätte, sich einzumischen. Denn jeder Planet kann ein Bündnis mit einem anderen schließen, wenn dieses Bündnis freiwillig ist. Aber in diesem Fall gelänge es nicht zu beweisen, dass Neu-Kuweit erobert wurde, dass seine sämtlichen Bewohner programmiert wurden. Das Einzige, was im Imperium gemacht würde, sei die Überprüfung aller Filme und Lehrprogramme, besonders der auf Inej produzierten. Wenn festgestellt wurde, dass in ihnen nicht zu entziffernde Informationen enthalten waren, würden diese Programme verboten.

Derartige Programme hätte man in großer Zahl gefunden. Gut wäre nur, dass auf der Erde, dem Edem und dem Avalon, den am meisten entwickelten Planeten des Imperiums, Filme von Inej nicht so populär waren. Aber sogar hier könnten ungefähr zwanzig Prozent der Bevölkerung innerhalb eines Augenblicks in Zombies verwandelt werden. Und das sei sehr viel…

Deshalb gäbe es keinen Krieg, die Flotte bekäme keinen Befehl, zum Inej zu fliegen, und die Wissenschaftler versuchten immer noch, das Geschehene zu verstehen.

»Der Imperator wird auf alle Fälle herausfinden, was passiert ist«, meinte ich, »und Neu-Kuweit wird befreit werden. Der Imperator kann es doch nicht zulassen, dass so etwas geschieht!«

»Ja«, bestätigte Lion. »Er wird es herausfinden… Ich werde ins Krankenhaus gesteckt und ein ganzes Jahr untersucht…«

»Niemand wird dir das antun!«

Lion zuckte mit den Schultern. »Weißt du, ich werde nichts dagegen einwenden. Wenn das unumgänglich ist, damit alle gerettet werden — bitte.« Lion rührte schweigend mit dem Löffel im kalt gewordenen Tee. »Tikkirej, weißt du, wie schlimm das ist… ein ganzes Leben zu leben.«

»Hast du wirklich gedacht, dass das alles in Wirklichkeit geschah?«

»Ja.«

Er sah mich an und seine Augen waren ganz verändert. Müde. Wie bei einem alten Mann.

»Ich war im Krieg, Tikkirej«, erklärte Lion, »und ich hatte einen Freund…«, er zögerte, »einen wie dich. Nur dass er getötet wurde, als wir in einen Hinterhalt kamen. Aber ich habe ihn gerächt. In meiner Hand, genau hier«, er berührte mit einer sehr eindeutigen Geste sein Handgelenk, »war ein kleiner Strahler im Armband. Ich hob die Hände, als ob ich mich ergeben wollte. Aber dann schaltete ich den Strahl ein und tötete alle. Und wir zogen wieder in den Kampf…«

Für einen Moment zitterten seine Lippen.

»Hast du eine Ahnung, wie viele Menschen ich getötet habe?«, rief er plötzlich leise. »Siebzig!«

Die Tatsache, dass er nicht hundert und nicht tausend sagte, sondern gerade siebzig, erschütterte mich. Sogar meine Hände begannen zu zittern, und ich stellte die Tasse hin, um keinen Tee zu verschütten.

»Und dann hatte ich eine Freundin«, berichtete Lion weiter, »aus der fünften Rotte… Wir heirateten während des Krieges. Ich kann jetzt sogar Kinder erziehen! Ich kann alles wie ein Erwachsener, absolut alles! Feuer löschen, Ertrinkende retten, einen Flyer fliegen! Ich habe bereits ein ganzes Leben gelebt und bin gestorben! Mir… mir ist langweilig, Tikkirej! Und ich habe vor nichts mehr Angst, vor gar nichts!«

»Das wird vergehen«, flüsterte ich.

»Was wird vergehen? Ich erinnere mich an alles, als ob es gestern wäre! Hast du eine Ahnung, wie der Himmel brennt, Tikkirej? Wenn eine Kette von Jagdbombern aus dem Orbit ihre Attacke beginnt und die Fliegerabwehr ein Plasmaschild über ihrer Position errichtet? Du weißt das nicht… Ein Sturm zieht auf, Tikkirej. Der Himmel ist orange, der Sturm heult und bläst direkt nach oben, sodass du dich am Boden festkrallen musst. Und die Luft wird immer trockener. Bei mir gingen die Kapseln im Atemgerät zu Ende und ich verbrannte mir damals den Rachen. Dafür gelang es den Angreifern nicht, sich zurückzuziehen, sie kamen an den Schild und lösten sich auf…

Wie weiße Kometen im orange gefärbten Himmel… Danach kamen wir in ein Dorf, aber die Infanterie des Imperiums hatte es schon verlassen und alle Dorfbewohner getötet, weil sie uns unterstützt hatten… Die Männer waren erschossen worden… Frauen und Kinder in die Moschee getrieben, eingeschlossen und angezündet… Sie schrien noch, als wir einzogen, aber wir konnten das Feuer nicht mehr löschen…«

»We-welche I-infanterie des Imperiums…«, stotterte ich. Lions Stimme war fürchterlich. Er dachte sich nichts aus, erzählte kein Buch oder keinen Film nach. Er erinnerte sich!

»Die sechste Brigade der kosmischen Infanterie des Avalon, Abteilung — Camelot, Kommandierender — General Otto Hammer, Emblem — silberne Sichel, die auf einen brennenden Planeten fällt«, leierte Lion herunter. »Wir haben gegen das Imperium gekämpft, verstehst du das? Ich habe gegen das Imperium gekämpft!«

»Das hast du gestern nicht gesagt…«

»Ich werde es heute berichten«, Lion wandte seine Augen ab. »Ich… hatte Angst, dass sie mich dann sofort mitnehmen würden.«

»Aber das war doch gar nicht die Wirklichkeit! Das war ein Traum!«

»Für mich war das kein Traum, Tikkirej«, erwiderte Lion. Ich hatte auf einmal das Gefühl, mit einem erwachsenen Menschen, der bereits alles gesehen hat, zu sprechen und nicht mit einem Gleichaltrigen von einer Raumstation.

Das dauerte jedoch nur einen Augenblick. Dann veränderte sich Lions Gesichtsausdruck, als ob er jemanden hinter meinem Rücken gesehen hätte. Und er senkte die Augen.

Ich drehte mich um — in der Tür stand Stasj. Er schaute Lion schweigend an und dem Ausdruck auf seinem Gesicht konnte man nichts entnehmen.

»Das wollte ich einfach gestern nicht erzählen…«, murmelte Lion.

Stasj ging auf ihn zu und strich ihm über die Haare. Leise sagte er: »Das verstehe ich. Jemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen werden, mein Junge. Er wird die volle Verantwortung dafür tragen. Hab keine Angst, Lion.«

»Nehmen Sie mich lieber gleich mit und machen Sie Ihre Untersuchungen«, brummelte Lion. »Ich halte das nicht aus. Die Erinnerungen werden immer stärker. Mein Kopf zerspringt… und nicht etwa vor Schmerzen. Ich werde irgendetwas anstellen, entweder mit mir selbst oder…«

»Wir fahren bald«, meinte Stasj. Er dachte fieberhaft nach. »Weißt du… halt noch ein wenig durch. Wenigstens einen Tag.«

»Und dann?«

»Dann wird alles gut. Lion, Tikkirej, zieht euch an. Ihr frühstückt im Auto. Euch beiden steht ein schwerer Tag bevor.« Stasj’ Auto war einigermaßen akzeptabel. Er hatte weder einen coolen Allrad-Jeep noch einen sportlichen »Piranha«, sondern einen großen trägen »Dunaj«. So ein Auto fährt bei uns nur eine dicke und langsame Frau aus der technischen Abteilung.

Aber Stasj schien es wirklich egal zu sein, mit welchem Auto er fuhr.

Ich setzte mich mit Lion nach hinten. Wir schwiegen und versuchten ihn nicht auszufragen. Stasj sprach von allein, größtenteils über alle möglichen Nichtigkeiten. Über Experimente auf dem Gebiet der Gluonen-Energetik, die darauf zielten, neue Raumschiffe zu bauen. Darüber, dass die Existenz von Zeittunneln, die in andere Galaxien führten, theoretisch bewiesen wäre und es Pläne gäbe, sie ausfindig zu machen. Darüber, dass der Imperator einen Erlass über den Wegfall der »Drei-Prozent-Grenze« unterschrieben habe und die Wissenschaftler jetzt in der Lage sein würden, das menschliche Genom wirklich und nicht nur bei Kleinigkeiten zu verbessern. Darüber, dass die Filmaufnahmen des Actionfilms »Der Weise aus Nazareth« über die christliche Religion bald beendet seien und dass in diesem Film alles wirklichkeitsgetreu sein würde: echte Schauspieler, Dekorationen, sogar Spezialeffekte. Es würden keine Computersimulationen vorkommen — alles sei echt! Die Schauspieler würden sogar in Trance versetzt, sodass sie sich nicht in einem Film, sondern in der Wirklichkeit wähnten.

Stasj kann sehr interessant erzählen. Natürlich nur, wenn er will. Jetzt jedoch war mir klar, dass er uns einfach nur ablenken wollte, und deshalb fand ich es überhaupt nicht interessant. Nichts wird sich ändern durch diese Gluonen- Reaktoren, neuen Galaxien und verbesserten Genome. Es ist entschieden wichtiger, was der Rat der Phagen über uns beschließen wird.

Bestimmt hatte Stasj meine Gedanken erraten, denn er verstummte. Schweigend kauten wir unsere Butterbrote zu Ende, tranken unseren Kaffee aus und warteten.

Port Lance ist eine Satellitenstadt von Camelot. Wenn Stasj gewollt hätte, wäre er sogar mit seiner Karre innerhalb von einer Viertelstunde dort gewesen. Stasj jedoch hatte es nicht eilig: Entweder war er in Gedanken oder ihm war eine genaue Zeit vorgegeben. Wir fuhren jedenfalls länger als eine Stunde. Dann kreisten wir noch durch die Stadt, wechselten von den Umgehungsstraßen auf die inneren Verkehrsringe, standen in einigen Staus — es fuhren gerade alle zur Arbeit und die Straßen waren verstopft.

Dann parkte Stasj das Auto vor einem schönen Hochhaus in altertümlichem Stil — mit großen Spiegelfenstern und einem Flyer-Landeplatz auf dem Dach. Hier war ich schon einmal gewesen. Hier befand sich der Hauptsitz der Phagen, der die offizielle Bezeichnung »Institut für experimentelle Soziologie« trägt.

»Was soll ich dem Rat sagen?«, fragte ich, als wir aus dem Auto ausgestiegen waren.

»Wenn du aufgefordert wirst zu sprechen, dann sag die Wahrheit«, erwiderte Stasj schulterzuckend. »Es ist aber nicht sicher, dass du befragt wirst.«

»Und ich?«, interessierte sich Lion.

»Du wirst auf alle Fälle befragt werden«, meinte Stasj. »Mein Rat ist der gleiche, sag die Wahrheit.«

Er besann sich eine Sekunde, danach umarmte er uns. »Es geht nicht einmal darum, Jungs, dass es in der Mehrzahl der Fälle vorteilhaft ist, die Wahrheit zu sagen. Es macht sich niemals bezahlt, die Phagen anzulügen oder ihnen etwas zu verschweigen.«

»Sie fühlen die Lüge«, meinte Lion. Seine Stimme wurde wieder hart und erwachsen.

Stasj schaute ihn aufmerksam an. »Ja, junger Mann. Wir fühlen es.«

Mehr sprachen wir nicht. Wir gingen ins Gebäude — am Eingang stand die Security, aber Stasj zeigte einen Ausweis und wir wurden nicht einmal kontrolliert. Hinter den Türen befand sich eine große Eingangshalle. Ich ging davon aus, dass uns Stasj wie das erste Mal nach rechts führen würde. Dort gab es massenhaft Arbeitszimmer, Büros und einen absolut spitzenmäßigen Wintergarten mit Café. Als sich Stasj um meine Angelegenheiten kümmerte, wartete ich dort drei Stunden und mir war kein bisschen langweilig.

Stasj führte uns zum Fahrstuhlschacht. Nicht etwa zu den allgemein zugänglichen Fahrstühlen, die die ganze Zeit in Bewegung waren, sondern zum Fahrstuhl nur für den Dienstgebrauch, den niemand benutzte.

Das Gebäude hatte ungefähr fünfzig Stockwerke. Als wir jedoch im Fahrstuhl nach oben fuhren, dauerte es entschieden zu lange. Als ob es hier noch weitere fünfzig Stockwerke geben würde, die von außen nicht zu sehen waren. Ich schaute auf Stasj’ Abbild auf der Spiegelwand — er beobachtete uns neugierig.

»Wir fahren nach unten«, meinte ich. »Obwohl es scheint, dass wir nach oben fahren. Hier im Fahrstuhl muss ein Gravitator sein, stimmt’s?«

Stasj lächelte, äußerte sich aber nicht dazu. Und auch sein Lächeln verflog schnell. Er schien das bevorstehende Gespräch im Kopf zu simulieren, prüfte vorab jedes Wort. Irgendetwas schien aber nicht zusammenzupassen, als ob es einen Einwand gäbe, auf den Stasj keine Antwort hatte. Und Stasj fing an, alles aufs Neue zu bedenken…

»Stasj«, sagte ich, »wenn ich wirklich so schuldig bin, dann sollen sie mich ruhig bestrafen. Aber mich nicht zum Karijer zurückschicken, wäre das möglich?«

»Ich habe dir mein Wort gegeben«, erwiderte Stasj. Er sah mich eindringlich an und ergänzte: »Du bist ein sehr verständiger Junge, Tikkirej. Wenn ich nicht an dich glauben würde, dann hätte ich beschlossen, dass du ein sehr gut ausgebildeter Agent wärst.«

»Gibt es etwa Kinderagenten?«, wollte ich wissen.

»Und ob!«, erwiderte Stasj. »Ich selbst arbeite seit meinem zehnten Lebensjahr.«

»Ich bin aber kein Agent«, stellte ich für alle Fälle fest. »Ich bin Tikkirej vom Karijer.«

»Ich habe doch gesagt, dass ich dir glaube«, antwortete Stasj sanft.

Endlich hielt der Fahrstuhl und wir stiegen aus in einen großen und leeren Saal. In seinem Zentrum befand sich ein Wasserbecken mit Springbrunnen, das mit orangefarbenen Gräsern zugewachsen war. Die Springbrunnenfigur erwies sich als Mädchen mit einem Krug in den Händen, aus dem sich das Wasser ergoss. Die Bronzestatue war alt, voller Grünspan, mit Moos und Gräsern bedeckt.

Ich setzte mich auf den Rand des Bassins und planschte mit meinen Händen im Wasser. Fische gab es nicht, obwohl mir das sehr gefallen hätte. Das Wasser an sich war trübe, als ob die Filter im Springbrunnen schlecht funktionieren würden.

Stasj wies mit einer Geste auf die bequemen Sessel an der Wand unter den falschen Fenstern. Die Fenster zeigten den Blick auf die Stadt vom Dach eines Hochhauses aus, ich war aber trotzdem davon überzeugt, dass wir uns unter der Erde befanden.

»Wartet hier, Kinder.«

»Lange?«, fragte ich.

»Wenn ich es wüsste, hätte ich konkretisiert, wie lange zu warten ist«, klärte uns Stasj auf. »Und geht nirgendwohin!«

In der gegenüberliegenden Wand des Saals befand sich eine weitere Fahrstuhltür. Stasj holte den Fahrstuhl und verschwand.

»Hier hätte man zumindest eine Bar einrichten können«, meinte Lion beleidigt. »Dann hätten wir uns mit einem Highball Mut antrinken können.«

»Womit?«, äußerte ich mein Unverständnis.

»Highball. Tja, das ist ein Getränk. Aus Gin Tonic oder Wodka mit Martini.«

»Aha. Das hättest du wohl gern.«

»Übrigens, ich mag Wodka mit Martini«, sagte Lion.

Er machte es sich im Sessel bequem und legte seine Beine auf die Lehne. Er schaute auf das falsche Fenster, schnaufte verächtlich, fand den Schalter und löschte das Bild.

»Das kommt aus den Träumen«, erriet ich.

»Stimmt! Und in der Armee haben wir Wodka bekommen. An Feiertagen Whisky.«

»Na, dann kannst du ja auch im Traum deinen Highball bestellen. Auf dem Avalon ist es nicht üblich, dass Jugendliche Alkohol trinken.«

»Dasmachtnichts.Wennichnichtsofort auseinandergenommen werde, gehe ich in die Bar und betrinke mich«, meinte Lion.

Endlich fiel bei mir der Groschen, dass er sich nur lustig machte.

Sich einen Spaß mit mir erlaubte.

Weil er selbst Angst hatte, mehr Angst als ich.

»Und warum hast du gegen das Imperium gekämpft?«, wollte ich wissen. »Im Traum?«

Lion wehrte ab, als ob er auf diese Frage vorbereitet wäre: »Weil das Imperium ein Überbleibsel überholter Entwicklungsstufen der Menschheit verkörpert. Die Konzentration der Macht in den Händen eines Menschen führt zu Stillstand und Stagnation, zu Misswirtschaft und sozialer Instabilität.«

»Also wie, zum Stillstand oder zur Instabilität?«, entgegnete ich.

»Zum Stillstand in der Entwicklung der Menschheit, aber zur Instabilität im sozialen Leben«, parierte Lion. »Für dich ein einfaches Beispiel:

Als die Menschen auf die Außerirdischen trafen, hatten diese bereits die besten Stücke des Kosmos untereinander aufgeteilt und die Entwicklung des Imperiums stockte. Es war notwendig, sehr schlechte und lebensfeindliche Planeten wie deinen Karijer für die Menschen umzugestalten. Niemand machte auch nur den Versuch, die Fremden von den von ihnen besetzten Planeten zu vertreiben.«

»Aber das bedeutet doch Krieg, Lion!«

»Nicht zwingend. Krieg — das ist ein Extremfall der Lösung von Widersprüchen. Es ist immer möglich, ihn durch ökonomische, politische oder besondere Maßnahmen zu vermeiden.«

»Denkst du wirklich so?« Ich setzte mich in den Nachbarsessel. Lion starrte mich eine Sekunde lang an, lächelte rätselhaft und sagte dann ernsthaft: »Ich denke gar nichts. So wurde es uns erklärt. Und im Traum hatte ich daran geglaubt.«

»Und jetzt?«

»Na, es ist doch etwas dran, oder nicht? Du hast doch selbst auf dem Karijer gelebt und könntest eigentlich auf einem guten Planeten leben, wo jetzt die Tzygu oder Halflinge siedeln, oder etwa nicht?«

»Hast du nun in deinem Traum gegen das Imperium oder gegen die Außerirdischen gekämpft?«

»Gegen das Imperium«, gab Lion zu, »damit in der Galaxis eine neue, gerechte Gesellschaftsordnung entsteht.«

»Und welche?«

Lion dachte einen Augenblick nach.

»Also, in erster Linie eine demokratische. Bei uns ist alles wählbar, jedes beliebige Amt. Einmal in vier Jahren wählen alle den Präsidenten.«

»Und was für ein Mensch ist dieser Präsident?«

»Es ist eine Sie«, erläuterte Lion. »Sie ist… tja, wie soll ich das am besten ausdrücken…«

Sein Gesicht nahm einen entrückten Ausdruck an. Ich wartete und auf meine Brust wälzte sich ein Eisblock.

»Sie… ist sehr gerecht«, stieß Lion endlich hervor. »Sie ist bereit, jeden anzuhören und mit ihm offen zu sprechen. So klug, wie sie ist, trifft sie fast immer die richtigen Entscheidungen. Manchmal irrt sie sich, aber nicht entscheidend.«

Ich konnte nicht an mich halten. »Lion, das ist doch aber nur ein Traum! Kapierst du das? Jemand von Inej hat beschlossen, das Imperium zu erobern, und hat sich eine Gehirnwäsche ausgedacht. Es geht nicht, dass ein Mensch nie einen Fehler macht!«

»Ich habe nicht gesagt, nie«, fiel Lion schnell ein, »aber im Prinzip macht sie keine Fehler.«

»Und außerdem kann ein Präsident nicht mit jedem sprechen. Der Imperator kann es nicht und der Präsident wird es auch nicht können. Sogar bei uns auf Karijer konnte der leitende Sozialarbeiter sich nicht um jeden kümmern und bei uns leben weniger als eine Million Menschen!«

»Auf normalem Weg ist das unmöglich«, sagte Lion, »aber bei uns war alles ganz anders. Man konnte online gehen und mit der Präsidentin kommunizieren.«

»Blödsinn«, kommentierte ich.

»Warum? Das ging ganz einfach. Weißt du, dass es möglich ist, eine menschliche Intelligenz vollständig auf einen Computer zu kopieren?«

»Ja, aber das wurde verboten, es sind nur noch zwei oder drei davon übrig… Sie werden alle verrückt.«

»Sie ist nicht verrückt geworden«, erwiderte Lion leise, »sie hat auf jedem Planeten ihre Kopie. Diese kommunizieren untereinander und entscheiden gemeinsam. Und sie sind bereit, jeden Beliebigen anzuhören und zu helfen. Ich selbst habe jedes Jahr mit ihr geredet. Das gehörte sich so. Und manchmal habe ich um ein zusätzliches Gespräch ersucht. Wenn es wichtig war.«

»Lion, du bist aber ein Idiot!« Ich hielt es nicht mehr aus. »Ein totaler Idiot! Das sind alles Märchen, mit denen sie euch das Gehirn gewaschen haben! Damit alle scharf darauf wurden, Inej zu dienen!«

»Das verstehe ich«, sagte Lion ernsthaft. »Sicher, so wird es sein. Aber wenn es nun die Wahrheit ist? Denn im Imperium ist ja wirklich nicht alles in Ordnung. Wozu gäbe es sonst Armee, Polizei, Quarantänedienst, Phagen?«

»Das kann nicht sein. Das ist alles eine Lüge!«, wiederholte ich starrsinnig.

»Wenn es aber eine Lüge ist — warum glauben denn dann alle daran?«, wandte Lion ein. »Tikkirej, ich bin doch normal! Ich bin doch nicht verrückt geworden, stimmt’s? Mir wurde lediglich gezeigt, welches Leben ich führen könnte, wenn ich mich Inej anschließen würde. Und das war’s. Und es hat mir gefallen!«

»Dein Traum ist unterbrochen worden«, sagte ich, »als du online geschaltet wurdest.«

»Na und? Tikkirej, ehrlich, ich wurde zu nichts gezwungen. Das… das…«, Lion fuchtelte mit den Händen, »das ist wie sehr gutes Kino in einer guten Virtualität, in der du den Unterschied gar nicht spüren kannst. Mir wurde gezeigt, wie mein Leben aussehen könnte, und mir hat es gefallen.«

»Aber das ist doch nicht wahr!«

»Habe ich dir etwa gesagt, dass es wahr wäre?« Lion erhob seine Stimme. »Nein, sag nur, habe ich das gesagt? Ich sage dir, wie alles in meinem Traum war! So! Und dass darin — vielleicht — ein bisschen Wahrheit stecken könnte!«

Er hatte Recht. Ich hatte Lion attackiert wie einen Feind…

»Entschuldige.«

Lion schaute weg. Dann murmelte er: »Schon gut… Weißt du, jetzt bin ich erleichtert. Im Prinzip ist es ein Traum, aber am Anfang war alles sehr wahrhaftig.«

Mir fiel auf, dass er wie ein kleines Kind an seinen Nägeln kaute.

Dann bemerkte er, was er tat, und nahm schleunigst seine Hand vom Mund.

»Ein dummer Traum«, meinte ich.

»Sicher. Ich erinnere mich an mein Haus, Tikkirej. Es stand im Garten, ein Weg aus rotem Ziegelstaub führte zu ihm hin. Sogar das Auto mussten wir vor dem Tor abstellen. Das Haus hatte drei Etagen, ein hohes Fundament, Wände aus alten Steinen, Holzfensterrahmen und -türen. Es hatte breite Stufen, die zur Veranda führten, und abends tranken wir dort Tee und manchmal Bier oder Wein. Die Wände waren mit Wein bewachsen. Er war nicht kultiviert, fast wild, aber man konnte die Trauben trotzdem pflücken und essen. Und die Fußböden waren aus Holz, alt, aber ohne zu knarren. Am Giebel hing eine schmiedeeiserne Laterne. Abends habe ich immer die Lampe angemacht, und die Stechfliegen und Nachtfalter schwärmten im Lichtkegel…«

»Was ist ein Giebel?«, wollte ich wissen.

Lion zog die Stirn in Falten. Unsicher wedelte er mit den Händen, als ob er mit ihnen Dreiecke baute.

»Das ist… na, unter dem Dach, zwischen Dachschrägen und Dachboden, wenn du die Fassade betrachtest. Wieso?«

»Ich kannte dieses Wort nicht«, erklärte ich.

»Ich auch nicht«, gab Lion zu, »ich habe ja gesagt, dass ich viel gelernt habe. Ich habe bei Geburten geholfen, ein kosmisches Raumschiff geflogen, gekämpft…«

Er verstummte erneut.

»Lion, niemand hindert dich doch daran, groß zu werden, so ein Haus zu bauen und darin zu wohnen«, sagte ich.

»Ich habe ja dort nicht allein gelebt.«

»Ja, dann wirst du eben nicht allein sein…«

Lion nickte. Dann ergänzte er zurückhaltend: »Katharina hat beim medizinischen Dienst gearbeitet. Sie hat mich aufgepäppelt, als alle schon davon ausgingen, dass ich sterben würde. Das war nach dem Hinterhalt, in dem du getötet wurdest…« Er unterbrach sich.

»Mich?«, fragte ich nach. »Du hast also mich gemeint, als im Hinterhalt… und dann hast du alle…?«

Lion stimmte zu. »Ja. Das warst du. Wir waren sicher schon um die zwanzig Jahre alt. Wir sind in Neu-Kuweit gemustert worden. Wir sollten in die Armee eintreten. Wir sind zu den Rangern gegangen.«

Er begann wieder, an den Nägeln zu kauen, bemerkte es aber gar nicht.

»Lion, das war ein — Traum«, meinte ich.

»Aber vielleicht war überhaupt alles ein Traum?«, widersprach er. »Weißt du, wie ich meinen ersten Jungen genannt habe? Tikkirej!«

Eine Minute verging, ohne dass ich wusste, was ich sagen sollte.

Aber dann begann sich in meiner Brust ein kleines Lächeln breitzumachen. Ich unterdrückte es, so gut ich konnte. Ich habe mit allen Mitteln dagegen angekämpft, ehrlich!

Aber es wurde immer stärker. Ich fing an zu husten, um es zu ersticken. Dann zu kichern.

Dann wälzte ich mich einfach auf dem Boden herum und lachte aus voller Kehle.

Lion sprang auf und sah mich zutiefst beleidigt an.

»Da… da… danke!«, quetschte ich zwischen meinen Lachattacken heraus, »Lion, danke…«

»Du Ignorant!«, schrie Lion. »Hast du eine Ahnung, was ich durchgemacht habe! Ich habe danach deine Leiche rausgeschleppt…«

Aber ich konnte mich nicht beherrschen. Als Lion von Kriegen, seiner virtuellen Ehefrau und dem nicht existierenden Haus erzählte — das war schon schlimm. Als ob es wahr wäre.

Als er aber sagte, dass ich getötet wurde, verflog die Beklemmung.

Alles, was blieb, war ein dummer Traum.

»Ich polier dir gleich die Fresse!« Lion warf sich auf mich. Ich schaffte es, mich auf dem Boden wegzurollen, und schrie: »Und danach wirst du die… Leiche wegschleppen?«

Lion verfehlte mich und landete auf dem Boden. Er warf sich erneut auf mich. Nun aber nicht, um sich mit mir zu schlagen. Er umarmte mich, und das war komisch: Er führte sich auf wie ein Erwachsener, der ein Kind tröstet.

Nach kurzer Zeit zog Lion sich zurück und fing ebenfalls an zu lachen.

»Zum Teufel mit der Wahrheit!«, rief ich. »Das war ein Traum, ein Traum, ein Traum! Ein dämlicher, blöder Traum. Ich lebe, du lebst und mit Inej wird man ohne uns fertig werden. Und ein Haus wirst du dir schon noch bauen, mit welchem Giebel auch immer, sogar mit Springbrunnen!«

Wir hielten uns an den Händen und lachten noch eine gute Weile, bis uns die Tränen aus den Augen strömten.

Dann wischte sich Lion das Gesicht ab und meinte: »Okay, vertragen wir uns. Sonst fange ich wirklich noch an, mich mit dir zu schlagen, und ich bin ja dazu ausgebildet…«

»Ich bin nicht dazu ausgebildet, aber ich kann es trotzdem«, drohte ich ihm. »Vertragen wir uns lieber. Und wir benehmen uns wie die Idioten. Hier wird doch sicherlich alles von Kameras überwacht!«

Lion wurde sofort ernst.

Und als ob meine Worte bestätigt werden sollten, öffnete sich eine unbemerkt gebliebene Tür. Es schien kein Fahrstuhl zu sein, dahinter war ein Korridor zu erahnen.

»Jungs, wo seid ihr?«

Die Stimme war weiblich und angenehm. Wir sprangen auf.

Ein nettes, junges Mädchen in einem streng geschnittenen Hosenanzug trat in den Saal.

»Wer von euch ist Lion?«, fragte sie lächelnd.

Ich verstand augenblicklich, dass sie wusste, wer von uns wer war.

»Ich«, machte sich Lion bemerkbar.

Das war überflüssig! Ich hätte mich für Lion ausgeben sollen, dann hätte sie zugeben müssen, dass sie nur pro forma gefragt hatte…

»Ich bin Doktor Anna Goltz«, sagte das Mädchen. »Nennt mich einfach Anna, okay?«

Lion nickte.

»Wir müssen miteinander reden, komm mit. Du wirst mir von deinen Träumen erzählen, einverstanden?«

»Hm.« Lion sah sich zu mir um, steckte danach seine Hände in die Taschen und folgte dem Mädchen.

»Ohne dich fahre ich nicht weg!«, rief ich ihm schnell hinterher. »Doktor Goltz, sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie fertig sind?«

»Mache ich, einverstanden.« Das Mädchen nickte mir zu.

»Einverstanden«, äffte ich sie nach, als sich die Tür schloss. Ich setzte mich in den Sessel und legte die Beine auf die Lehne, ganz wie Lion.

Stasj wusste bestimmt, dass Lion geholt werden sollte. Er hätte ruhig etwas sagen können…

Kapitel 4

Allein wurde mir sofort langweilig. Ich dämmerte im. Sessel vor mich hin. Erkundete den Flur — und fand noch zwei unauffällige Türen. Nicht etwa, dass sie versteckt gewesen wären, solche hätte ich nicht entdeckt, sondern Türen, die als »Wand« kaschiert waren.

Danach saß ich eine Weile am Springbrunnen. Ich gab dem Mädchen einen Tatsch aufs Bein — die Bronze fühlte sich kalt und rau an. Dann riss ich ein Stück Moos ab und examinierte es. Es schien echt zu sein, keine Synthetik zur Verschönerung…

Man hätte zumindest Fische ins Wasser setzen können!

Nachdem ich wieder im Sessel saß, versuchte ich mir auszumalen, was gerade mit Lion passierte. Man würde ihn nicht in Stücke schneiden, das war klar. Sicher hatte man ihm einen Helm aufgesetzt und zeichnete alle möglichen Enzephalogramme auf. Und womit war Stasj beschäftigt? Legte er dem Rat der Phagen alles dar, was er über mich dachte?

Ich war dermaßen in Gedanken versunken, dass ich erst gar nicht bemerkte, wie die Schlange vom Arm kroch und ihr Köpfchen unter meinen Kragen steckte. Dann aber spürte ich, wie sie sich in den Neuroshunt einschraubte.

Vielleicht sollte ich besser den Kopf wegziehen? Die verrückte Schlange konnte ja sonst was vorhaben! Aber ich saß nur unbeweglich da und kalter Angstschweiß brach mir aus.

Die Schlange beruhigte sich, vibrierte lediglich etwas, als ob sie sich an meinen Shunt anpassen wollte. Und dann fühlte ich ein heraufziehendes Bild — wie im virtuellen Film oder im Unterricht. Dagegen kann man sich sträuben — man muss lediglich die Augen offen halten und an etwas anderes denken.

Ich aber schloss die Augen und entspannte mich.

Zuerst vernahm ich eine Stimme. Nicht mit den Ohren, sondern im Kopf. Und das war die Stimme von Stasj:

»Deshalb bin ich mir sicher, dass es sich hier lediglich um eineVerknüpfungvonZufällenhandelt.Die Wahrscheinlichkeit eines Imprintings der Peitsche existierte, früher oder später hatten wir mit einem ähnlichen Vorfall zu rechnen.«

»In Ordnung, Stasj…«, diese Stimme kannte ich nicht, »lassen wir es gelten. Die gesamte Geschichte Tikkirejs ist fantastisch, warum sollte man nicht an einen weiteren Zufall glauben?«

Der Sprecher gefiel sich in seiner Ironie.

»Was ist daran so fantastisch? Wir haben Karijer überprüft. Tikkirej verließ ihn mit dem Containerschiff Kljasma. Die Mannschaft hatte wirklich Mitleid mit dem Jungen und entließ ihn auf Neu-Kuweit. Der Taxifahrer wurde ebenfalls von mir überprüft, mein Bericht ist Ihnen bekannt. Der Junge kam zufällig in das Motel.«

Vor meinen Augen baute sich ein Bild auf, zwar unscharf und verwackelt, aber trotzdem zu erkennen: ein langes Zimmer mit einem langen Tisch. In Sesseln sitzende Menschen, genauer Phagen, die Stasj zuhörten. Sah ich etwa alles mit seinen Augen?

Nein! Ich sah und hörte das, was seine Peitsche sah und hörte!

Ich wunderte mich nicht besonders darüber, denn ich wusste, dass die Schlangenschwerter viele Fähigkeiten besaßen. Es war nur erstaunlich, dass meine Schlange und Stasj’ Peitsche in Verbindung getreten waren.

»Letztendlich, was bringt die Entführung der Peitsche?«, fragte jemand anderes. »Ich tendiere dazu, dass Stasj Recht hat… in diesem Punkt. Achtzehn Peitschen der betreffenden Modifikation gingen verloren. In drei Fällen wissen wir mit Sicherheit, dass sie in die Hände asozialer Elemente fielen. Sogar wenn es jemandem gelingen sollte, den Bauplan zu kopieren…« Der Sprecher winkte verächtlich ab.

Einer, der an der Tischmitte gegenüber Stasj saß, äußerte leise, aber nachdrücklich: »Dann schlage ich vor, diesen Punkt abzuhaken. Es ist viel wichtiger, zu entscheiden, was wir mit dem Jungen machen werden!«

Es wurde still. Jemand erhob sich.

Stasj ergriff erneut das Wort: »Warum sollten wir nicht alles beim Alten belassen?«

»Die Peitsche.«

»Im jetzigen Zustand ist es keine Waffe.«

»Stasj, Sie wissen genau, wie einfach es ist, ihr das Kampfpotenzial zurückzugeben.«

»Tikkirej wird das nicht tun. Trotz seiner Jugend besitzt er Verantwortungsgefühl. Das Leben auf Karijer…«

»Stasj, egal wie, wir haben kein Recht dazu, die Waffe einem Menschen zu übertragen. Weder einem Kind noch einem Erwachsenen.«

»Ihm die Peitsche, die sich ihm angeschlossen hat, wegzunehmen bedeutet, die Waffe zu zerstören. Ohne Meister kann sie nicht überleben. Und der Junge versteht das.«

Recht lange erfolgte keine Erwiderung. Ich erblickte ein unscharfes Bild, dann bewegte Stasj seine Hand und ich sah nur noch die Tischplatte. Hören konnte ich nach wie vor nur die müde und erschöpfte Stimme dessen, mit dem Stasj diskutierte: »Die Peitsche verleiht dem Jungen zu viele Fähigkeiten, über die ein gewöhnlicher Staatsbürger nicht verfügen sollte. Die, zum Beispiel, dass Tikkirej bereits seit vier Minuten unser Gespräch verfolgt.«

Ich erstarrte vor Schreck. Riss meine Augen auf und verließ die virtuelle Realität, als ob das jetzt noch etwas ändern könnte. Ich spürte, wie sich die Schlange eilig aus dem Shunt entfernte und unter meine Kleidung kroch.

Und ich erblickte den vor mir hockenden und traurig schauenden betagten Mann.

Er war ein Mulatte, kurz geschoren, ich hatte ihn noch nie gesehen, aber er hatte etwas von Stasj an sich. Auch ein Phag.

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte der Mulatte leise und melodiös.

Ich nickte.

»Kanntest du die Fähigkeit der Peitsche, eine Kommunikation aufzubauen?«, fragte der Mann ruhig und gar nicht ärgerlich.

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf.

»Du besitzt eine bemerkenswerte Gabe, in Fettnäpfchen zu treten, Tikkirej.« Er legte mir seine Hand auf die Schulter. »Gehen wir, Kleiner. Es gibt keinen Grund, dich jetzt noch hier sitzen zu lassen, stimmt’s?«

Ich antwortete nicht, sondern schlich hinter ihm her, ganz wie zu einer Hinrichtung.

Eigenartigerweise verspürte ich keine Furcht.

Die Fahrt im Fahrstuhl dauerte vielleicht eine halbe Minute. Wir kamen in demselben Saal an, den ich vor kurzem in der virtuellen Realität gesehen hatte. Ich suchte Stasj mit meinem Blick — und rannte auf ihn zu. Er schüttelte lediglich vorwurfsvoll den Kopf, sagte aber nichts.

Ich schaute auf die Phagen.

Alles war leicht abgeändert. In der Luft hing ein leichtes Flimmern wie über einer Asphaltstraße an einem heißen Tag. Tisch und Zimmer erkannte ich deutlich. Die an dem Tisch Sitzenden sah ich jedoch nur in groben Umrissen. Auch die Stimmen schienen verändert. Nur Stasj und der Mulatte, der mich hergebracht hatte, waren deutlich zu erkennen.

»Erschrick nicht, Tikkirej«, sagte der, mit dem Stasj diskutiert hatte. Sicher war er einer der Obersten bei den Phagen. »Du musst unsere Gesichter nicht sehen.«

»Ist gut«, sagte ich. »Und ich habe keine Angst. Ist das wegen der Hypnose?«

»Ja. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Du bist dir darüber im Klaren, was gerade vor sich geht?«

»Ja. Sie entscheiden, was aus mir wird.«

»Möchtest du uns irgendetwas sagen?«

Ich schwieg und versuchte, überzeugende Worte zu finden. Es fiel mir nichts Besonderes ein.

»Es tut mir leid, was passiert ist«, äußerte ich mich endlich. »Aber ich bin kein Spion. Und die Peitsche habe ich deshalb genommen, weil sie sich mir angeschlossen hat. Sie hat mir leidgetan… Sie lebt doch.«

»Tikkirej, wir befinden uns in einer äußerst schwierigen Lage. Es geht nicht einmal darum, dass du etwas streng Geheimes erfahren hättest. Glücklicherweise ist das nicht der Fall. Aber wir können dir die Peitsche nicht lassen. Das ist dasselbe, als ob man einem Neugeborenen eine Atombombe in die Hände geben würde.«

»Ich bin kein Neugeborenes«, erwiderte ich beleidigt.

»Du hast mich nicht verstanden«, erklärte der hinter der Luftspiegelung versteckte Phag geduldig. »Die Fähigkeit, eine Peitsche zu beherrschen, ist nicht nur eine schwierige Kunst. Die Peitsche reagiert auf alle deine Wünsche, sogar auf die unbewussten. Wenn du ein fremdes Gespräch mithören willst — die Peitsche fängt das Signal auf. Sogar ohne das Hauptteil der Energieversorgung ist sie eine Waffe — eine gefährliche Waffe im Nahkampf. Deine übermütigen Altersgenossen schubsen dich — und die Peitsche wertet die Situation als Gefahr und schneidet ihnen die Hände ab. Verstehst du das?«

Ich biss mir auf die Lippen und nickte.

»Tikkirej, bist du damit einverstanden, die Peitsche zurückzugeben?«

»Wird sie dann sterben?«, fragte ich. Und fühlte dabei, wie sich etwas auf meinem Arm bewegte.

»Ja. Eine Peitsche schließt sich kein zweites Mal jemandem an. Das ist einer der Verteidigungsmechanismen.«

Ich umfasste mit der linken Hand meine rechte und streichelte die Schlange durch die Kleidung. Dann wollte ich wissen: »Vielleicht könnte man doch etwas machen? Ich könnte ganz allein leben… irgendwo. Um kein Unheil anzurichten. Es gibt doch solche Leute, die isoliert arbeiten, auf Raumstationen oder so ähnlich…«

Die Phagen schwiegen. Dann erklärte mir Stasj: »Tikkirej, du hast nur das Recht, diese Waffe zu besitzen, wenn du ein Phag bist. Du kannst nur dann ein Phag werden, wenn du schon vor deiner Geburt genetisch verändert wurdest. Wir stecken also in einer Sackgasse.«

»Aber man könnte doch eine Ausnahme machen!«

»Nein«, antwortete Stasj, »die ganze Tragik, mein Junge, besteht darin, dass es einige Regeln gibt, die wir Phagen unbedingt beachten müssen. Wir sind genetisch dazu bestimmt, sie einzuhalten: — Ein Phag darf niemals sein Wort brechen. — Ein Phag darf seine Fähigkeiten niemals zur Erringung

persönlicher Macht benutzen. — Ein Phag darf niemals die Treue gegenüber der gesetzmäßig

herrschenden Regierung der Menschheit brechen. — Ein Phag darf einer Zivilperson keine besonders gefährlichen

Ausrüstungsgegenstände übergeben… Dazu gehört auch eine

Plasmapeitsche.«

Beinahe hätte ich angefangen zu lachen. »Aber das ist doch idiotisch! Die Armee hat viel schrecklichere Waffen! Und irgendein Offizier, der wirklich kein Phag ist, kann auf einen Knopf drücken und einen ganzen Planeten zerstören! Was ist im Vergleich dazu ein Schlangenschwert?«

»Du hast Recht«, stimmte Stasj zu. »Aber wir können diese Regel nicht brechen.«

Ich blickte auf die am Tisch Sitzenden. Mir schien, dass ich hinter den verschwommenen Abbildern die Gesichtsausdrücke erraten konnte. Ich tat ihnen allen leid. Sie waren alles andere als erfreut, sich mit einem Jungen herumschlagen zu müssen, der durch ihre eigene Schuld eine Waffe in die Hand bekommen hatte.

»Sie sind doch erwachsene Menschen«, versuchte ich sie zu überzeugen, »intelligent und wohlwollend. Es kann doch nicht sein, dass Sie keinen Ausweg finden! Sie möchten mir doch helfen, dann helfen Sie auch!«

Stasj’ Gesicht verzog sich zu einer Leidensmiene. Jemand anders murmelte: »Wenn wir nur könnten…«

»Tikkirej, gefällt es dir auf dem Avalon?«, fragte plötzlich der Mulatte.

Ich nickte.

»Es gibt eine Regelung für das Amt der zeitweiligen Bevollmächtigten«, stellte der Mulatte in den Raum.

»Ein Teil der Information und Ausrüstungsgegenstände wird übertragen. Bedingung sind Kontrolle und Einschränkung der Anwendungsmöglichkeiten«, zitierte Stasj atemlos.

»In einer Krisensituation«, erwiderte der Mulatte ebenfalls mit einem Zitat aus einem unsichtbaren Dokument. »Genau damit hast du doch schon begonnen, nicht wahr? Als du Tikkirej darum gebeten hattest, dir auf Neu-Kuweit zu helfen.«

»Danke, Ramon. Das könnte man…«

Der Phag, der an der Stirnseite des Tisches stand, räusperte sich und ergänzte: »Wenn dergleichen für die Erfüllung einer operativen Aufgabe von besonderer Wichtigkeit erforderlich ist.«

Daraufhin verstummten alle. Irgendetwas überdachten sie jetzt, und mir gefiel gar nicht, wie konzentriert sie dies taten.

»Tikkirej«, begann Ramon, »es gibt eine Möglichkeit. Aber sie ist nicht besonders empfehlenswert.«

»Sprechen Sie«, bat ich. Ich warf einen Blick auf Stasj. Sein Gesicht war eisern, fast versteinert.

»Ist dir bekannt, was auf Neu-Kuweit vor sich geht?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Uns auch nicht, mein Junge. Wir bereiten gerade einen Einsatz auf diesem Planeten vor. Drei Phagen werden versuchen herauszufinden, was aus der Bevölkerung geworden ist, die der Psychoattacke des Inej ausgesetzt war. Wenn du mit nach Neu-Kuweit gehst, haben wir das Recht, dir den Status eines zeitweisen Bevollmächtigten zuzuerkennen. Und du kannst die Peitsche behalten… natürlich ohne den Hauptakkumulator.«

Ich überlegte.

Ich fühlte keine Furcht, nur Erstaunen darüber, wie einfach sich alles löste.

»Ist das für lange?«, wollte ich wissen.

»Ich gehe von zwei bis drei Monaten aus«, erwiderte der oberste Phag. »Dann holen wir dich wieder heraus. Deine Wohnung, deine Arbeit — all das wird hier auf dich warten.«

»Die Sache mit der Schule werden wir klären können, denke ich«, ergänzte jemand und lachte gutmütig.

»Und worin wird meine Aufgabe bestehen?«, erkundigte ich mich.

»Es ist nichts Außergewöhnliches: Beobachten und daraus Schlüsse ziehen. Jede beliebige Information wird für uns äußerst nützlich sein… für euch… für das Imperium.«

»Und das Schlangenschwert? Danach, wenn ich zurück bin?«

Ramon hob seine Schultern: »Fristen für die Rückgabe eines begrenzt zur Verfügung gestellten Ausrüstungsgegenstands sind im Gesetz nicht geregelt. Du kannst sie behalten!«

Ich schaute zu Stasj. Sein Gesichtsausdruck gefiel mir nicht.

»Und Lion?«, fragte ich.

»Was hat Lion damit zu tun?« Ramon war genervt.

»Was wird aus ihm?«

»Unsere Wissenschaftler versuchen festzustellen, welchen Einfluss das Programm, das du so erfolgreich unterbrochen hast, auf ihn hatte. Dann werden wir ihm bei der Erlangung der Staatsbürgerschaft behilflich sein und…«

»Lion wird mit mir kommen«, sagte ich.

Eine leichte Unruhe ging durch den Saal.

»Warum?«, erkundigte sich Ramon mit Unverständnis in der Stimme.

»Weil sie Freunde sind«, antwortete Stasj für mich, »und weil Lions Familie auf Neu-Kuweit zurückgeblieben ist.«

»Würde er denn zurückkehren wollen?« Ramon zog seine Stirn in Falten. Ich hatte den Eindruck, als ob sich auf einmal zwischen Stasj und Ramon eine negative Stimmung aufgebaut hätte, zwischen ihnen etwas unausgesprochen blieb.

»Das wird man ihn fragen müssen«, meinte Stasj.

Erneut ergriff der Phag an der Stirnseite des Tisches das Wort: »Meine Herren, meinen Sie nicht auch, dass wir die Dinge übereilen? Soll Tikkirej erst einmal über unseren Vorschlag nachdenken, ehe er eine Entscheidung trifft. Ich hoffe trotz allem, dass er sich dazu entschließt, die Peitsche abzugeben und auf dem Avalon zu bleiben. Sein Freund wird ebenfalls eine Entscheidung treffen müssen. Wenn die Jungs trotzdem beschließen sollten, nach Neu-Kuweit zu fliegen, dann schlage ich vor, dass Ramon die Vorbereitung dieser Operation in die Hand nimmt.«

Ein Stimmengewirr erhob sich. Alle vertraten die Meinung, dass es nicht nötig sei, etwas zu übereilen, und dass »das Bürschchen« Zeit zum Nachdenken bräuchte.

»Ich bringe den Jungen nach Hause«, sagte Stasj und berührte meine Schulter. »Ich danke… allen.«

Er sah wieder zu Ramon und einige Sekunden lang examinierten die zwei Phagen einander. Dann zuckte Ramon unbeholfen mit den Schultern und wandte seinen Blick ab. Unten in einer gemütlichen Bar warteten wir noch zwei Stunden auf Lion. Stasj machte einen fröhlicheren Eindruck und sprach nicht mehr über Dienstliches. Er sagte, dass er heute nicht weiter an der Beratung teilnehmen müsse, und bestellte sich einen Cocktail nach dem anderen.

Ich trank Saft, in den der fröhliche Barkeeper »für ein besseres Aroma« einen Teelöffel Apfelsinenlikör gab. Dann fing Stasj an, mir beizubringen, wie man vom äußeren Erscheinungsbild eines Menschen auf seine Stimmung und seinen Charakter schließen könne. Ich glaube, er meinte das nicht ganz ernst, aber wir hatten Spaß.

Es waren nur wenige Gäste in der Bar, vielleicht zehn Personen, aber keine Phagen. Über jeden erzählte Stasj etwas Lustiges.

Und nicht ein einziges Mal etwas Anstößiges.

Lion kam gemeinsam mit Doktor Anna Goltz nach unten (oder nach oben, wenn es unterirdische Stockwerke waren). Er hatte keine Angst mehr und sah nicht bedrückt aus.

Im Gegenteil, er lachte, und als ihn Anna zum Abschied umarmte, wurde er rot.

»Na, wie ist er?«, fragte Stasj kurz und nickte Anna wie einer alten Bekannten zu.

»Ich glaube«, Anna wurde sofort ernst, »dass es dieser junge Mann rechtzeitig geschafft hat.«

Ich begriff, dass sie über mich sprach.

»Ist etwas dabei herausgekommen?«, wollte Stasj wissen.

Anna schüttelte den Kopf.

Der Phag schien auch keine andere Antwort erwartet zu haben. Wir gingen zum Parkplatz.

»Bist du schlimm gequält worden?«, erkundigte ich mich leise bei Lion.

»Wir haben uns unterhalten«, antwortete Lion ernst. »Über meinen Traum.«

»Na und?«

»Anna meint, dass er keine wertvollen Informationen enthalten würde. Er wäre ein Propagandaprogramm, das unterbrochen wurde, bevor es aktiv werden konnte. Jetzt würde es allmählich verblassen und in Vergessenheit geraten wie ein gewöhnlicher Traum. Am Ende hätte etwas Wichtiges kommen müssen… weswegen die Leute an Inej glauben. Aber bei mir hat dieser Teil nicht funktioniert.«

»Also bist du wieder normal?«, wollte ich wissen und ergänzte schnell: »Sie halten dich nicht für einen Feind?«

»Nein«, Lion schüttelte energisch den Kopf. »Ich werde noch einen ausführlichen Bericht über meinen Traum verfassen, Fragebögen ausfüllen und einige Tests bestehen müssen. Und das ist alles, mehr wird nicht gefordert.«

Stasj dirigierte ihn zum »Dunaj«.

Ich setzte mich neben Lion auf den Rücksitz, Stasj nahm hinter dem Lenkrad Platz und stellte die Automatik an. Gleich darauf fragte er: »Wirst du den Vorschlag des Rats annehmen, Tikkirej?«

»Welchen Vorschlag?«, fragte Lion flüsternd. Vorläufig würde ich ihm noch nichts verraten.

»Ja, Stasj.«

»Ich glaube nicht, dass das Spiel seinen Einsatz lohnt, Tikkirej.« Stasj schüttelte zweifelnd den Kopf. »Eine Peitsche ist kein Lebewesen. Sie ist eine Sache. Verwechsle das nie!«

»Nicht ganz«, sagte ich störrisch.

Stasj holte Luft und rieb seine Stirn.

»Selbst wenn! Sei es eine Verbindung aus Mechanik, Elektronik und lebendem Gewebe… Das ist nicht von Bedeutung. Was glaubst du, Tikkirej, wäre es denn vernünftig, sein Leben für die Rettung seines… na, sagen wir, geliebten Hündchens zu riskieren?«

»Es wäre unvernünftig.«

»Warum bist du dann dazu bereit, nach Neu-Kuweit geschickt zu werden?«

Lion starrte mich an.

»Soll ich die Wahrheit sagen?«, fragte ich. »Damit Lion die Möglichkeit hat, dorthin zu kommen.«

»Und was hat Lion davon?«

»Dort sind doch meine Eltern!«, mischte sich Lion ein. »Geht das? Ist es möglich auf Neu-Kuweit zu gelangen? Der Planet ist doch in Quarantäne, oder nicht?«

Stasj erwiderte zunächst nichts. Dann fing er an zu sprechen, wobei er seine Worte sorgsam wählte: »Lion, ich verstehe deine Erregung und deine Sehnsucht nach deinen Eltern. Aber glaub mir, auf den von Inej eroberten Planeten gibt es weder Massenverhaftungen noch Blutbäder unter der Bevölkerung. Und auch keine Repressionen…«

»Wovor sollten wir uns dann fürchten?«, fragte Lion.

Und ich fügte hinzu: »Stasj, stell dir vor, du wärst dreizehn Jahre alt. Und deine Eltern wären irgendwo auf einem anderen Planeten… Und du könntest dorthin gelangen…«

Der »Dunaj« fuhr gemächlich über die Straßen, die Automatik hatte die am wenigsten befahrene Strecke gewählt, vorbei an erleuchteten Gebäuden, luxuriösen Büros, Hochstraßen — und Stasj’ Gesicht erschien ungewöhnlich weich vor dieser Kulisse.

»Die Mehrzahl der Phagen hat überhaupt keine Eltern, Tikkirej. Aber ich hatte einen Vater. Er verschwand während einer Mission auf dem… auf einem kleinen Planeten. Ich war da gerade elf Jahre alt und schon damals hätte ich ein Raumschiff entführen und einen Rettungsversuch unternehmen können. Aber mir war völlig klar, dass ich keine Chance hatte. Und ich blieb auf Avalon, um meine Ausbildung fortzusetzen.«

Er schwieg eine Zeit lang und ergänzte dann:

»Du könntest nun sagen, dass ich ihn nicht geliebt habe. Aber das wäre falsch.«

»Ich glaube dir, Stasj.« Ich fühlte plötzlich einen Kloß im Hals. »Du hast aber doch selber gesagt… dass unsere Zivilisation viel zu vernünftig und logisch sei. Das hast du bemängelt. Und meine Eltern… gerade sie haben immer richtig und logisch gehandelt. Anders wäre es nicht gegangen. Aber ich werde sie nun nie mehr wiedersehen… Es gibt sie nicht mehr. Und wenn wir jetzt wieder logisch handeln würden, dann wird auch Lion seine Eltern nicht wiedersehen. Vielleicht gibt es Krieg und er wird auf seinen kleinen Bruder schießen…«

»Das werde ich nicht!«, ereiferte sich Lion.

»Aber er wird schießen!«, schrie ich und wandte mich zum Fenster.

Stasj äußerte sich nicht sofort.

»Tikki, ich verstehe dich«, sagte er dann. »Weißt du, ich bin doch überhaupt nicht dagegen, dass Lion nach seinen Eltern sucht. Und es wäre gut, wenn du uns auf Neu-Kuweit helfen könntest…«

Er verstummte.

»Was hast du dann dagegen?«, fragte ich, ohne den Kopf zu wenden.

»Ich weiß es nicht. Irgendetwas gefällt mir nicht«, beendete Stasj das Gespräch.

Er betätigte einen Knopf, und die Scheibe, an die ich meine Nase drückte, glitt nach unten. Der Fahrtwind war kühl, trocken und roch nach Stadt.

»Jetzt werde ich dieser Kutsche aber die Peitsche geben!«, meinte Stasj. »Zieht es?«

»Nein«, erwiderte ich.

Doch der Wind blies mir ins Gesicht. Stasj brachte uns nach Hause, wollte aber nicht mit hinaufkommen. Er verabschiedete sich per Handschlag und fuhr in seinem einfachen, überhaupt nicht heldenhaften Auto weg. Ich stand mit Lion im Hauseingang. Wir hatten keine Lust, in die Wohnung zu gehen.

»Komm, wir besuchen Rossi«, schlug ich vor.

»Was?«, fragte Lion, und mir wurde klar: Mit seinen Gedanken war er weit weg. Bei Mutter, Vater, Bruder und Schwester. Darauf hatte ich auch gehofft. Dieser Traum, in dem er ein Erwachsenenleben durchlebte, würde ihn noch lange quälen. Wäre er jedoch wieder bei seiner Familie, würde der Traum nach und nach verblassen.

»Ich muss mit Rossi sprechen«, sagte ich.

»Warum?« Lion zog eine Grimasse. »Lass ihn in Ruhe, er ist bloß eine feige Rotznase!«

»Ich will nichts von ihm. Ich muss mit ihm sprechen.«

Lion schaute mich voller Zweifel an, hob die Schultern und knöpfte seine Jacke zu, die er im Auto ausgezogen hatte.

»Na dann, gehen wir…«

Wir warteten nicht auf den Bus, sondern liefen die Regenbogenstraße entlang. Lion steckte die Hände in die Taschen und pfiff eine Melodie. Doktor Goltz musste sehr talentiert sein, wenn sie Lion so schnell helfen konnte: Er verhielt sich völlig normal.

Die Regenbogenstraße ist eine Schlafstraße. Hier gibt es lediglich Wohnhäuser und einige kleine Geschäfte, wenn jemand nach der Arbeit vergessen hatte, in den Supermarkt zu fahren. Kaum jemand war auf der Straße. Kurz darauf kam uns ein alter Mann im Rollstuhl entgegen, der bei unserem Anblick bedrückt den Kopf schüttelte. Er meinte sicherlich, dass Kinder in die Schule gehörten oder etwas Nützliches tun und sich nicht auf der Straße herumtreiben sollten. Ich erinnerte mich voller Traurigkeit an den tapferen alten Semetzki.

Auf Avalon erstaunten mich in erster Linie die Häuser. Bei uns auf Karijer waren die Häuser groß und ihre Wände dünn wie Fensterglas. Auf Neu-Kuweit, wo es fast überall warm ist, waren die Häuser auch leicht gebaut, aber klein und nur für eine Familie. Hier jedoch waren riesige Gebäude mit vielen Wohnungen und dicken Beton- oder Ziegelwänden üblich. Das war zwar schön wie in einem alten Film, aber eigenartig. Mittlerweile hatte ich mich allerdings daran gewöhnt. Dicke Wände, feste Türen und Fenster mit Doppelverglasung waren für mich normal geworden.

Eigenartig waren auch die Höfe. Auf Karijer standen die Häuser in Reihen aneinandergepresst mit speziellen Plätzen für Spiel und Spaß. Unter den Kuppeln war nicht allzu viel Platz. Auf Neu-Kuweit dagegen war reichlich Raum zwischen den Häusern. Avalon lag dazwischen, jedes Haus hatte sein Eckchen, bepflanzt mit Bäumen, ausgestattet mit Rutschen und Karussells für die Kleinen, Hütten und Wasserbecken, nicht zum Baden, sondern als Dekoration.

Wir kürzten durch einen Hof ab und kamen auf eine Allee mit Kastanienbäumen. Schade, dass jetzt Winter war! Schade, dass ich im Frühling schon auf Neu-Kuweit sein würde, ohne zu sehen, wie hier alles blüht. Das bedauerte ich sehr.

»Wollen wir etwas zu trinken kaufen?«, fragte Lion, als wir an einem kleinen Geschäftchen vorbeigingen.

»Na los.«

Er wartete.

»Ah…«, besann ich mich und suchte Kleingeld in der Tasche zusammen. »Hier!«

Im Weitergehen tranken wir heißen Kaffee. Wir passierten das Vergnügungszentrum mit einem konventionellen und mehreren virtuellen Kinos, einem Aquapark und Sportsälen… ich war einmal dort, es hatte mir gefallen.

»Hier ist es nicht schlechter als auf Neu-Kuweit«, bemerkte Lion. Und berichtigte sich sofort: »Was sage ich da, hier ist es sogar besser… Tikkirej, willst du nur meinetwegen dorthin zurückkehren?«

»Nein.«

»Warum dann?«

Ich war mir nicht sicher. Wir gingen die Straße entlang und niemand konnte uns abhören. Nein! Das war ein blödes Argument! Man konnte sich nie völlig sicher sein. Wenn jemand abhören will, dann kann er sogar mit einem niedrig fliegenden Satelliten die Worte von den Lippen ablesen, eine Wanze unterschieben oder mit einem gewöhnlichen Richtmikrofon aus einem vorbeifahrenden Auto mithören.

»Weißt du, Lion, hier ist mir langweilig. Soll ich etwa wie ein Idiot im Laboratorium arbeiten und dann studieren? Auf Neu-Kuweit können wir den Phagen helfen. Vielleicht werde ich sie davon überzeugen können, dass ich zum Phagen tauge.«

Lion schaute mich eigenartig an. Dann fragte er aus unerfindlichen Gründen: »Du willst ein Phag werden?«

»Selbstverständlich!«

Er versank in Gedanken. In Sekundenschnelle schien in ihm erneut der erwachsene Mann erwacht zu sein, der es geschafft hatte, zu kämpfen, zu heiraten und zu sterben.

Endlich holte Lion tief Luft und sagte traurig: »Aber sie nehmen dich doch nicht… Phagen sind alle genverändert. Ein normaler Mensch kann kein Phag werden.«

»Das ist alles Blödsinn!«, widersprach ich voller Überzeugung. »Was macht es schon aus, dass ich nicht genetisch modifiziert wurde? Wetten, dass ich radioaktive Strahlung besser aushalten kann als ein Phag? Und noch viele andere Dinge. Vielleicht können sie sogar einen Spezialagenten brauchen, der auf radioaktiven Planeten arbeiten kann.«

Lion dachte nach und stimmte zu, dass ein solcher Agent wirklich sogar den Phagen nützlich sein könnte. Und dass ein Spezialagent für die Arbeit unter den Bedingungen einer niedrigen Gravitation und geschlossener Räume ebenfalls benötigt werden könnte.

»Wir müssen dann aber etwas wirklich Wichtiges vollbringen«, grübelte er. »Nicht nur alles beobachten, sondern zusätzlich…«, er schwankte, ob er es aussprechen sollte, und sagte dann: »… zum Beispiel herausfinden, wie die Menschen dekodiert werden können!«

Derart in unsere Träume vertieft, gingen wir zu Rossis Haus. Die Viertel mit mehrstöckigen Wohnhäusern endeten, es folgten Bungalows. Alle wohlhabenden Bürger von Avalon lebten in Bungalows. »Ich gehe nicht mit rein«, nuschelte Lion, als wir uns dem Haus mit einer gepflegten Hecke, die den kleinen Garten umgab, näherten. Alle Bäume waren immergrün und sogar jetzt, mit Schnee bedeckt, sahen sie schön und festlich aus.

»Gut, ich beeile mich.«

Das Gartentor war offen, ich ging hinein und lief neben der betonierten Garagenausfahrt, die mit Sträuchern abgegrenzt war, über den gefrorenen Sandweg zum Haus. Ein Strauch war etwas angeknickt und schneefrei — das Auto war dagegengefahren.

Ich konnte mir selbst nicht erklären, warum ich Rossi sehen und worüber ich mit ihm sprechen wollte. Aber sich nicht zu äußern wäre völlig falsch gewesen.

Man muss alle Fehler vergeben können. Vielleicht wäre es unmöglichgewesen,zuverzeihen,wennetwas Unwiderrufliches geschehen war. Wenn ich ertrunken wäre oder Lion, als er mich retten wollte.

Ich war aber verpflichtet zu verzeihen. Die Phagen hatten mir ja auch meinen Fehler verziehen.

Ich ging auf das Haus zu, blieb aber stehen, als ich Rossi und seinen Vater sah.

Sie räumten mit großen, knallorange Schaufeln den Schnee vor dem Haus weg. Genauer gesagt hatten sie ihn davor weggeräumt, jetzt spielten sie miteinander und bewarfen sich gegenseitig mit Schnee. Rossi schnaufte, hob die Schaufel und versuchte den Schnee auf seinen Vater zu schütten. William, der genauso schnaufte und leise lachte, wich aus und warf von Zeit zu Zeit Schnee auf Rossi. Als Rossi, ohne darauf zu achten, wohin er den Schnee warf, Schwung holte, kam William von der Seite auf ihn zu, klemmte ihn sich unter den Arm und steckte seinen Kopf in einen Schneehaufen.

Rossi lachte, krabbelte heraus und rief: »Das war gemein!«

Ich trat leise einen Schritt zurück.

»Eins zu null!«, meinte William zufrieden.

Er war also mehr als nur ein Trunkenbold, der Tag und Nacht in allen möglichen Theatern und Literaturcafés herumhing. Er hatte auch seine guten Seiten.

Rossi warf sich jauchzend auf seinen Vater, drängte ihn in den Schnee — mir schien, dass William mit Absicht nachgegeben hatte — und begann ihn mit Schnee zu überschütten. »Ergibst du dich? Na, ergibst du dich?«

Ich entfernte mich weiter.

Was hatte ich eigentlich erwartet? Dass sich Rossi in sein Zimmer einschlösse und grübelte, was er für ein Versager wäre? Oder dass seine Eltern nicht mehr mit ihm sprächen oder ihm die Süßigkeiten entzögen und ihn nicht mehr draußen spielen ließen? Wollte ich das etwa? Kommen und erklären: »Es ist alles in Ordnung, es ist nichts passiert, das kann vorkommen…«

Nein.

Oder hatte ich mir vielleicht doch gerade das ausgemalt?

»Ich ergebe mich!«, rief William. Er hob den Kopf — und hielt inne, als er mich sah. Ich erstarrte. Jetzt zu gehen wäre unklug gewesen. Blitzschnell wandte William seinen Blick von mir ab und wandte sich an Rossi, als ob nichts geschehen wäre:

»Hör mal, du hast Mutter versprochen, ihr zu helfen.«

»Aber…«, murrte Rossi, erhob sich und rieb seine rot gefrorenen Handflächen aneinander. »Wir haben doch noch nicht alles geräumt…«

»Rossi!«, William stand auf und klopfte den Schnee von seinem Sohn. »Erstens hast du es versprochen und zweitens bist du schon ganz durchgefroren. Ich räume den Rest selber weg.«

Rossi diskutierte nicht weiter. Unlustig schlenderte er zum Haus, ohne sich umzusehen und mich zu bemerken.

Ich stand da und wartete.

William kam zu mir: »Guten Morgen, Tikkirej!«

»Guten Tag, William!«, grüßte ich.

William nickte und rieb nachdenklich seine Wange:

»Ja, stimmt. Es ist schon Tag… Ich habe Rossi vorerst weggeschickt. Du hast doch nichts dagegen?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Komm mit!«

Er legte seine schwere, feste Hand auf meine Schulter. Wir gingen in ein kleines Gartenhäuschen und setzten uns. Die Bänke dort waren warm, es war angenehm, auf ihnen zu sitzen.

»Alles ist ziemlich unglücklich, sehr unglücklich gelaufen.« William schüttelte den Kopf. Nachdenklich holte er ein Zigarrenetui aus der Tasche, nahm einen dünnen Zigarillo heraus und zündete ihn an. »Weißt du, Tikkirej, ich war davon überzeugt, dass ich der Erziehung meiner Kinder ausreichend Zeit widme…«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, meinte ich. »Rossi war erschrocken. Das ist doch nicht ungewöhnlich! Es ist ja auch wirklich schrecklich, wenn das Eis bricht.«

William widersprach: »Nein, Tikkirej, du musst mich nicht besänftigen! Das ist meine eigene Verfehlung! Ich habe mich zu sehr meiner Arbeit, meinem Künstlerleben, meiner sozialen Verantwortlichkeit hingegeben. Das ist übrigens eine verbreitete Unzulänglichkeit auf unserem Planeten, Tikkirej. Uns geht es einfach zu gut!«

Er begeisterte sich an jedem Wort, so, als ob er einen Artikel schreiben würde, der ihm gut aus der Feder floss.

»Es ist nicht einmal so, dass Rossi und Rosi schlecht erzogen wären, Tikkirej. Es stimmt, teilweise habe ich ihre Erziehung der Schule überlassen und gedacht, dass Literatur, Theater, Fernsehen ihnen die richtige Lebenseinstellung vermitteln würden. Aber ich habe das Wichtigste vergessen! Ihnen fehlt emotionale Wärme, das Gefühl von Liebe und Geborgenheit. Daher kommt auch dieser peinliche Ausbruch von Feigheit. Seelische Härte…« William machte eine resignierende Handbewegung und ein Stück fester, grauer Asche fiel auf den mit Schnee bedeckten Boden des Gartenhäuschens.

»Es ist aber doch nichts passiert«, wandte ich unsicher ein. »Rossi hat einen Fehler gemacht und er ist sich darüber im Klaren.«

»Danke«, erwiderte William und drückte mir fest auf ErwachsenenartdieHand.»Dubisteinsehr verantwortungsvoller und charakterstarker junger Mensch. Ich habe lange über den Vorfall nachgedacht, die ganze Nacht. Und Rossi hat sich große Vorwürfe gemacht. Er ist gerade erst vor wenigen Minuten aufgetaut und wieder fröhlich geworden.«

Ich nickte.

»Ich habe jetzt eine schwierige Aufgabe zu lösen«, fuhr William fort, »nämlich das Verhaltensmuster der Kinder zu korrigieren, negative Tendenzen zu bekämpfen, ohne dabei ihre Seele zu verletzen und pubertäre Protestreaktionen hervorzurufen. Und ich würde dich daher gern um Hilfe bitten.«

»Ich bin ja auch deswegen gekommen…«

»Tikkirej, ich will dir einen ungewöhnlichen Vorschlag machen«, erklärte William, »du musst dich darüber nicht wundern. Hör mir bitte zu und unterbrich mich nicht!«

Ich nickte erneut.

William umarmte mich. »Du bist zwar ein Altersgenosse meiner Kinder, aber entschieden gereifter«, begann William. »Das, was du erlebt hast, die Tragödie deiner Eltern, diese schrecklichen Ereignisse auf Neu-Kuweit, du bist doch im letzten Augenblick evakuiert worden? — Nein, antworte nicht, ich weiß es, die Kinder haben es mir erzählt. Dazu noch dein kameradschaftliches Verhältnis zu deinem Freund, die Sorge um ihn… er ist wieder gesund?«

Jetzt erwartete er eine Antwort und ich nickte. Das graue Aschehäufchen auf dem Schnee zerfiel langsam zu Staub.

»Das ist hervorragend«, meinte William. »Tikkirej, ich kann mir vorstellen, dass es für dich schwer ist, allein zu leben.«

»Ich bin nicht allein«, warf ich ein. »Ich habe Lion. Und alle helfen uns, sogar die Phagen.«

William neigte hochachtungsvoll den Kopf. Auf Avalon betrachtete man die Phagen ohne Ironie. Besonders in Port Lance, wo die gesamte Ökonomie ihrer Versorgung diente.

»Ich verstehe. Aber es ist trotzdem nicht in Ordnung, dass zwei Kinder ohne Erwachsene leben. Deine Persönlichkeit bildet sich gerade aus und das könnte sich negativ auf sie auswirken. Deshalb möchte ich den Vorschlag machen, dass du und Lion zu uns zieht.«

Das hatte ich nicht erwartet. Ich hob den Kopf und schaute William an. Er wirkte sehr ernst.

»Es ist klar, dass es dabei nicht um eine Adoption geht, ihr seid schon große Kinder«, fuhr William fort. »Aber wir wären bereit, eine offizielle Vormundschaft einzurichten und euch dabei zu unterstützen, eine Ausbildung zu bekommen und einen würdigen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Für kindliche Vergnügungen wird noch genug Zeit bleiben, stimmt’s?«

Er lächelte.

»Warum machen Sie das alles?«, fragte ich.

»Ich will ehrlich sein«, meinte William. Er stieß eine Rauchwolke aus und warf seinen Zigarillo weg: »Erstens aus einem Gefühl von Schuld. Ich fühle mich zur Wiedergutmachung verpflichtet… teilweise auch meiner eigenen Schuld. Zweitens wäre das eine gute und nützliche Tat. Und auf welcher Grundlage ist unsere Welt errichtet, wenn nicht auf Güte und gegenseitiger Unterstützung? Drittens, und das ist vielleicht das Wichtigste, euer Beispiel wird Rosi und Rossi helfen, wertvolle und gute Menschen zu werden. Ich habe mit den Kindern gesprochen und mit ihrer Mutter. Sie würden sich alle freuen. Na… was sagst du dazu?«

Er wartete. Er roch nach Tabak und einem teuren, würzigen Eau de Cologne.

»Die Vorteile für dich und Lion, die ich schon kurz aufgezählt habe, muss ich nicht erläutern, nicht wahr?«

Mein Vater hat nie geraucht. Das war teuer, man benötigte eine spezielle Genehmigung… hätte eine spezielle Genehmigung benötigt…

»Danke«, fing ich zu sprechen an, »aber…«

»Mir ist klar, Tikkirej, dass du mein Verhalten mit einiger Ironie betrachtest«, sagte William. »Meine Art und Weise, mich zu benehmen und Gedanken zu äußern… Ist es nicht so? Aber glaube mir, das ist lediglich eine Folge meiner spezifischen Arbeit. Wir sind durchaus nicht solche leichtsinnigen Gesellen, wie du vielleicht denkst.«

»Ich glaube nicht, dass Sie leichtsinnig sind«, erwiderte ich schnell. »Nein… Na ja, manchmal vielleicht etwas komisch…«

Ich kam durcheinander und verstummte.

Jetzt wartete William geduldig.

»Verstehen Sie… Nein, so wird es nichts.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank, natürlich. Aber wissen Sie, Sie haben mir erklärt, warum Sie uns bei sich aufnehmen wollen.«

»Und hat dich etwas daran gestört?«, fragte William erstaunt.

»Nein, Sie haben alles klar und deutlich begründet, aber eigentlich hätten Sie gar nicht auf meine Frage antworten sollen.«

»Erklär mir das bitte, Tikkirej«, bat William und zog die Stirn in Falten.

»Also, wenn Menschen einander helfen wollen oder wenn sie befreundet sind, dann versteht sich das von selbst. Nicht, weil man etwas wiedergutmachen oder gute Taten vollbringen will. Erklärungen sind da nicht notwendig. Das ist wie mit dem Verhältnis zwischen Moral und Gesetz, verstehen Sie? Gesetze werden geschaffen, um die Menschen zu zwingen, etwas zu tun oder etwas zu unterlassen. Selbst wenn die Gesetze gut sind, beweisen sie, dass die Menschen von sich aus nicht nach ihnen leben wollten. Und Sie suchen eine Begründung dafür, dass Sie uns zu sich in die Familie nehmen wollen, und argumentieren, dass dadurch Rosi und Rossi Güte und Tapferkeit kennen lernen würden.«

William ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Dann fragte er: »Hast du dir das allein ausgedacht?«

»Nein«, gab ich zu. »Das… Einer meiner Freunde ist der Meinung, dass Gesetze lediglich Krücken für die Moral wären. Und dass wir damit aufgehört hätten, mit dem Herzen zu denken. Jetzt würden wir nur noch rational, mit dem Kopf denken. Dabei würden wir ständig versuchen, uns damit zu rechtfertigen, dass ein Herz nicht denken, sondern lediglich fühlen könne. Das stimmt aber nicht, das Herz denkt auch, aber anders.«

»Viele sind der Meinung, dass ein Herz nur geschaffen wäre, um Blut umzuwälzen«, murmelte William. Er schien in sich zusammengesunken zu sein, alles Aufgesetzte war verflogen.

»Sicher hat dein Freund Recht, Tikkirej… Er hat Recht. Ist dir bekannt, dass wir die ganze Zeit über versuchen, alte Schauspiele umzudeuten? Eine moderne Lesart von ›Romeo und Julia‹ … eine neue Deutung des ›Othello‹. Da muss dann alles stimmig sein. Jede einzelne Handlung. Sowohl der Selbstmord Romeos als auch die Eifersucht Othellos…«

Er griff nach dem Zigarrenetui, steckte es aber sofort wieder weg und fragte: »Tikkirej, kannst du dir nicht vorstellen, dass ich einfach nach einer Rechtfertigung gesucht habe? Für meinen Wunsch, dir und Lion zu helfen?«

Ich schüttelte den Kopf:

»Nein. Entschuldigen Sie, aber das glaube ich nicht.«

William saß da und starrte vor sich hin.

»Sie werden ganz bestimmt Erfolg haben«, meinte ich. »Sie haben heute wunderbar mit Rossi gespielt.«

Er hob die Schultern und murmelte: »Ja. Zuerst habe ich mir überlegt, was und wie ich es machen soll, und danach habe ich mit meinen Sohn herumgetobt… Bestimmt ist mein Herz nur eine Pumpe…«

»Machen Sie sich keine Gedanken. Es ist außerdem so, dass wir Avalon verlassen werden…«, ergänzte ich.

William nickte.

Warum war ich nur so unsensibel? Ich hatte alles versaut!

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Gestatten Sie, dass ich gehe?«

»Natürlich, Tikkirej.«

»Falls… Wenn ich zurückkomme, schaue ich bei Ihnen vorbei, einverstanden?«

William nickte. Als ich den Garten verließ, bombardierte Lion die Gartenpforte vor Langeweile mit Schneebällen. Das gelang ihm sehr gut, sie war weiß vor Schnee.

»Habt ihr euch ausgesprochen?«, fragte er.

»Ja.«

»Und…?«

»Nichts«, erwiderte ich. »Hör mal, warum läuft immer alles schief?«

»Wenn alles glatt läuft, bemerken wir es nicht«, philosophierte Lion. Und wir gingen nach Hause.

Kapitel 5

Agrabad lag still und friedlich im Licht der aufgehenden Sonne.

Am Himmel zeichneten sich Flyer ab und die weißblauen Mosaiksteine der Türme glänzten. Ich lag auf dem Bauch, stützte mich auf meine Ellenbogen und schaute mir die Hauptstadt von Neu-Kuweit durch ein elektronisches Fernglas an.

Ich konnte sogar die Menschen und Autos auf den Straßen erkennen.

»Alles ist ruhig, Lion«, teilte ich mit. Ich drehte meine Baseballkappe mit dem Schild nach hinten, um mir nicht den Nacken zu verbrennen. »Gehen wir?«

Lion hockte neben mir und kaute an einem Grashalm. Er zuckte mit den Schultern und meinte:

»Na los, versuchen wir es.«

Ich stand auf, säuberte die mit Erde verschmierten Ärmel meines Hemds und wir stiegen zur Straße hinunter. Ein sanfter Abhang führte vom Wald, in dem uns gestern ein Raumschiff der Phagen abgesetzt hatte, zu einer der Hauptstraßen, die vom Kosmodrom kamen. Jetzt war sie wie leer gefegt — auf Neu- Kuweit landeten fast keine Raumschiffe. Blockade…

»Meine Eltern wollten in die Hauptstadt ziehen«, sagte Lion. »Wenn sie das geschafft haben, werden wir sie suchen.«

»Unbedingt!«, versprach ich.

Rund zehn Minuten lang schritten wir auf der Straße entlang. Zwei Jugendliche, nichts Ungewöhnliches. Ordentlich angezogen, sogar etwas gekämmt. Was soll’s, dass sie zu Fuß unterwegs waren?

Das erste Auto Richtung Stadt verringerte seine Geschwindigkeit, hielt aber nicht an. Schweigend und teilnahmslos musterten uns zwei Männer auf dem Rücksitz, der Fahrer schaute nur auf die Fahrbahn. Dann beschleunigte das Auto und entfernte sich.

»Treffen wir eine Entscheidung!«, schlug Lion vor. »Irgendetwas gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht«, stimmte ich zu.

Seit wir uns auf Neu-Kuweit befanden, waren wir immer und in allen Sachen einig. So, als ob wir Angst hätten, uns zu streiten — sogar wegen der kleinsten Kleinigkeit.

Wir befanden uns immerhin unter Feinden. Auf dem Territorium des Inej.

Weitere drei Autos fuhren an uns vorbei. Aber nicht eines davon hielt an, obwohl wir nach Kräften Zeichen gaben. Sie versuchten nicht einmal uns zu mustern.

»Als ob sie über uns Bescheid wissen würden«, argwöhnte Lion.

»Genau! Vielleicht sollten wir die Straße verlassen?«

»Kann sicher nicht schaden«, stimmte Lion zu.

Das schafften wir aber nicht.

Der Flyer flog so hoch, dass wir ihn erst bemerkten, als er zur Landung ansetzte. Direkt auf der Straße, ungefähr zehn Meter vor uns. Der Pilot benutzte sogar die Motorbremse und wir wurden spürbar von einer Luftwelle getroffen.

»Wir sind auf dem Weg in die Stadt«, flüsterte ich. »Nur ruhig…«

Vier Gestalten, drei Männer und eine Frau, sprangen aus dem Flyer. Alle jung und sehr, sehr ernst.

»Grüßt euch, Jungs«, sagte die Frau und tastete uns dabei mit ihren Augen ab, vorsichtig und unwillig.

»Guten Tag«, antwortete ich, Lion murmelte auch irgendetwas.

»Warum seid ihr nicht in der Schule?«, fragte die Frau.

Alle vier kamen auf uns zu. Sie schienen zwar keinen Verdacht geschöpft zu haben, hielten sich aber gleichzeitig in einiger Entfernung. Was war denn an uns nur so ungewöhnlich?

»Tja…«, ich warf einen Blick auf Lion. »Wir durften schon nach Hause gehen, der Unterricht war zu Ende.«

Sie sahen sich dermaßen erstaunt an, als ob ich eine unglaubliche Dummheit geäußert hätte.

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, überlegte die Frau laut. »Seltsam! Steigt in den Flyer ein!«

Einer ihrer Begleiter trat vor und hob seine Hand, in der er ein Gerät hielt. Er richtete es erst auf mich, danach auf Lion.

Das Gerät begann einen Pfeifton auszusenden.

»Hinlegen! Hände in den Nacken!«, schrie die Frau.

Die Männer griffen nach ihren Waffen, kleinen Pistolen in ihren Taschen.

»Keine Bewegung!« Blitzschnell hatte Lion sich hingekniet und seine Pistole auf sie gerichtet. Die Frau sprang ihn an und versuchte ihn umzustoßen. Ich schaffte es mit Müh und Not, meine Hand nach vorne zu strecken — und die Schlange, die als flexibles, silbernes Band herausschnellte, schlug sich der Frau als Schlinge um den Hals. Sie stürzte.

Einer der Männer bekam inzwischen seine Pistole zu fassen. Lion schoss — die leisen Schüsse kamen als Salve und alle drei wälzten sich auf der Straße. Die Frau lag am Boden und versuchte gar nicht erst aufzustehen, sondern schaute uns nur hasserfüllt an.

Und vom Himmel näherte sich lärmend im Sturzflug noch ein Flyer!

»Nichts wie weg, Lion!«, schrie ich und fasste ihn an der Schulter. »Schnell!«

Lion schoss mehrmals nach oben, als ob er versuchen wollte, den Flyer mit einer Schockpistole zum Absturz zu bringen. Und wir flüchteten.

So schnell wir konnten.

Etwas Schweres und Heißes fiel mir in den Rücken. In meinem Magen blubberte es und mir schnürte es die Kehle zu. Meine Beine trugen mich nicht mehr, ich stürzte, stieß mir schmerzhaft die Knie auf und streckte mich auf dem heißen Beton aus. Meine Wange streifte über die raue Oberfläche des Betons und Schmerz flammte auf. Mein Herz klopfte wie wild. Mein Hemd wurde schnell von Blut durchtränkt. Mit letzten Kräften wandte ich den Kopf und sah in den Händen der Frau einen Blaster, dessen Lauf noch dampfte.

Dann wurde es dunkel.

»Na, und?«, fragte Ramon.

Zuerst schaute ich auf meinen Bauch. Dann rieb ich mir die Wange. Dann entkoppelte ich den Neuroshunt und stand aus dem Sessel auf.

Im Nebensessel rutschte Lion hin und her. Er schaute mich betrübt an und sagte: »Mir haben sie die Beine gebrochen…«

Wir befanden uns in einem kleinen Zimmer, dem virtuellen Klassenraum. Sicher wurden auch die Phagen hier unterrichtet. Vor den Fenstern hingen Vorhänge, gedämpfte Lampen beleuchteten den Raum. Es gab weitere fünf Sessel mit virtuellen Terminals, aber sie standen leer.

Im Raum befanden sich nur Lion und ich sowie Ramon im Sessel des Lehrers. Ich hatte keine Ahnung, ob er in die Rolle eines unserer Feinde geschlüpft war oder wir mit einem Programm zu kämpfen hatten. Fragen wollte ich jedoch nicht.

»Was habt ihr falsch gemacht?«, fragte Ramon.

»Es war ein Fehler, auf die Straße zu gehen«, antwortete Lion.

Ramon zuckte mit den Schultern. »Ist es nicht egal, wo sie euch erwischt hätten?«

»Es war falsch, dass wir Waffen mitgenommen haben«, gab ich kleinlaut zu. »Es ist unmöglich, zu zweit gegen eine Armee zu kämpfen.«

Ramon nickte. »Das kommt der Wahrheit schon näher! Jungs, denkt daran, die Variante einer totalitären Kontrolle ist recht unwahrscheinlich, aber am gefährlichsten.«

»Aber mir hat die Anarchie noch weniger gefallen«, widersprach Lion.

»Die ist auch unangenehm«, stimmte Ramon zu. »Die Konsequenz ist die gleiche — keine Gewaltakte! Sie bewirken nichts! Ihr seid keine Phagen. Und keine Spezialtruppen des Imperiums. Ihr seid Beobachter! Zwei Jugendliche, auf die das Codierungsprogramm nicht gewirkt hatte. Ihr wart erschrocken, seid in den Wald geflüchtet und habt euch dort über einen Monat aufgehalten. Ihr habt euch verirrt, seid im Kreis gelaufen und habt endlich den Weg zur Stadt gefunden. Ihr dürft keine Angst vor Polizisten haben, ganz im Gegenteil — ihr müsst ihnen entgegenlaufen, euch dem ersten Menschen, den ihr seht, um den Hals werfen, weinen und um Essen betteln!«

Lion blies sich auf. Dieser Rat gefiel ihm überhaupt nicht.

»Wenn wir wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon hätten, was auf Neu-Kuweit vor sich geht…«, Ramon dozierte ruhig und zurückhaltend, wie ein Lehrer, der sich plötzlich entschlossen hatte, die Schüler in die unbekannten Geheimnisse des Weltalls einzuweihen. »Aber wir wissen es nicht. Bekannt ist nur, was nicht passiert. Es gibt keine Konzentrationslager und keine Massenmorde, obwohl fünfzehn, vielleicht zwanzig Prozent der Bevölkerung nicht in Zombies verwandelt worden sein müssten. Das alles gibt es nicht — und trotzdem! Wir können zum Beispiel davon ausgehen, dass auf den Planeten des Inej Kriegszustand oder etwas Ähnliches herrscht. Die Erwachsenen arbeiten also acht, manchmal auch zwölf Stunden am Tag und die Kinder lernen unter den gleichen Bedingungen. Sie bereiten sich auf künftige Kriege vor. Deshalb dürfen wir gar nicht erst versuchen, euch für normale Kinder von Neu-Kuweit auszugeben. Ihr seid genau die, die ihr in Wirklichkeit seid! Lion von der freien Station ›Service-7‹ und Tikkirej vom Karijer. Nur dass euch niemand vom Planeten geholt hat. Ihr habt euch in den Wäldern versteckt, weil ihr vor dem allgemeinen Schlaf Angst hattet, ist das klar?«

Lion stöhnte und meinte unwillig: »Ja. Und wie werden wir aussehen nach einem Monat im Wald?«

Ramon lächelte: »Gleich werdet ihr es sehen!«

Er gab den Befehl über den Radioshunt. Über seinem Schreibtisch bildete sich ein Bildschirm. Auf dem Bildschirm erschienen Lion und ich — genau so, wie wir gerade erst in der virtuellen Realität ausgesehen hatten. Lion in einem neuen Jeansanzug und Turnschuhen. Ich in hellen Hosen, einem Hemd und einer Baseballkappe mit einem Schild, das wie ein Chamäleon seine Farbe der Umgebung anpasste.

»Das sieht gar nicht nach unfreiwilligen Scouts aus«, stimmte Ramon zu. »Und jetzt versuchen wir Folgendes…«

Innerhalb einer Sekunde veränderte sich das Bild.

Es sah ganz so aus, als würde ich die gleichen Hosen tragen, nur waren die jetzt abgetragen, grau von Schmutz und unter dem Knie abgerissen. Die Baseballkappe fehlte und an Stelle des Hemdes erschien ein zerrissenes T-Shirt. Lion verblieb die Jeansjacke, jedoch abgetragen und an den Ärmeln eingerissen, das Hemd verschwand ganz. Die Jeanshosen waren voller Flecke und durchgescheuert. An meinen Füßen sah ich ausgelatschte Sandalen, Lion ging barfuß. Beide waren wir sonnengebräunt, zerkratzt und abgemagert. An mir fiel das besonders auf — Lion war ja sowieso dunkelhäutig und hager.

»Hervorragend!«, meinte Ramon. »Überzeugend, oder?«

Unsere Abbilder drehten sich langsam in der Luft. Bei Lion fand sich noch ein Loch in den Jeans und mein T-Shirt hatte einen Brandfleck.

»Ich muss abnehmen«, meinte ich.

»Ein wenig«, beruhigte mich Ramon. »Ein Kilo, mehr nicht… Sauna und hungern während des Fluges. Ich gehe davon aus, dass ihr Fische gefangen und Nüsse gesammelt habt. Die gibt es in den Wäldern auf Neu-Kuweit um diese Zeit sehr viel.«

»Und die Peitsche?«, wollte ich wissen.

Mein Abbild wurde vergrößert. Ramon zeigte mit seinem Finger auf den Gürtel in der Hose.

»Da ist sie. Das ist eine Variante des versteckten Tragens. Und du, Lion, wirst ein Taschenmesser dabeihaben…«

Lion schniefte verächtlich.

»Und eine Angelrute«, beruhigte ihn Ramon. »Ein Spinning mit Ultraschallblinker. Und genau damit habt ihr Fische gefangen.«

»Werden wir noch andere Varianten ausprobieren?«, erkundigte ich mich.

»Nein. Keine weiteren Proben. Zum Abend wird das Programm für den Simulator fertig sein und in der Nacht geht ihr in die Virtualität.«

Ich wechselte Blicke mit Lion.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Ramon, als ob das nichts Besonderes wäre. »Morgen werdet ihr nach Neu-Kuweit geschickt. Das ist der günstigste Zeitpunkt — der persönliche Inspektor des Imperators kommt auf den Planeten, auf ihn wird die ganze Aufmerksamkeit gerichtet sein. Ihr werdet in eine Stealthkapsel gesteckt und von unserem Raumschiff abgeworfen, das sich in der Eskorte des Inspektors befindet. Das ist völlig ungefährlich, habt keine Angst.«

»Und man wird uns nicht bemerken?«, wunderte sich Lion. »Das ist doch in der Nähe des Kosmodroms, da gibt es massenhaft Beobachtungsstationen!«

»Eine Stealthkapsel wird von keinem der bekannten Lokatoren erkannt.«

»Ramon«, fragte ich, »sind eigentlich die Fremden von Neu- Kuweit abgereist?«

In den zwei Tagen, in denen uns Ramon auf unseren Einsatz vorbereitete, haben wir mit ihm Freundschaft geschlossen. Aber nur ein wenig. Denn ihm all die wichtigen Fragen zu stellen, die mich quälten, war mir nach wie vor unangenehm.

»Ein Teil ist abgeflogen.« Ramon nickte. »Wir haben sie befragt… Das wolltest du doch wissen?«

»Ja.«

»In ihren Augen ist auf dem Planeten überhaupt nichts geschehen. Absolut nichts. Es ist so, Tikkirej, dass die Sozialstruktur der Fremden, seien es Tzygu, Halflinge, Brauni oder Taji, sich völlig von der unseren unterscheidet. Wenn man zum Beispiel auf dem Planeten Tzygu wäre, könnte nur ein Dutzend unserer Spezialisten überhaupt erkennen, dass ein Wechsel der genetischen Dynastie erfolgt ist. Genauso geht es den normalen Fremden. Das sind Händler, Diplomaten, Touristen… sogar Spione. Solche Feinheiten wie die Entstehung von Allianzen innerhalb des Imperiums sind für sie nicht sofort wahrnehmbar.«

Ramon schaute auf die Uhr. Es war nicht ganz klar, wieso, er hatte an und für sich ein sehr gutes Zeitgefühl.

»Pause bis zum Abend, Jungs!«, verkündete er. »Bis… bis zwölf-null-null. Ich erwarte euch hier. Esst etwas und macht euch ein paar schöne Stunden!«

»Zu Befehl!«, rief ich beim Aufstehen. Ich streckte mich. Obwohl der Sessel weich war, sogar eine Vibrationsmassage hatte, war der Körper nach fünf Stunden steif.

Heute hatten wir sieben Varianten unseres Eindringens auf Neu-Kuweit ausprobiert. Und jedes Mal endete es mit einem Misserfolg. Drei Mal wurden wir umgebracht, vier Mal gefangen genommen und ins Gefängnis geworfen.

Wir rannten auf den Korridor. Ramon ließen wir an seinen Gerätschaften beschäftigt zurück.

»Trotzdem ist das nicht ganz ehrlich«, meinte Lion, kaum dass sich die Tür hinter uns geschlossen hatte. »Wir sollen doch nur davon überzeugt werden, dass es sich nicht lohnt, herumzuballern! In Wirklichkeit könnten wir ihnen etwas verpassen. Ratatata — mit einer Plasmasalve! Dann wäre die Sache geritzt!«

»Würdest du das wollen?«, fragte ich. »Denen kräftig etwas verpassen?«

Lion begann nachzudenken und schüttelte den Kopf. Jeglicher Anflug von Leichtsinn war verflogen.

»Nein… Verdammt, das ist überflüssig.«

»Na, dann hör auf! Selbst wenn es manipuliert wird«, meinte ich, »die Phagen wünschen uns nur Gutes.«

Der virtuelle Klassenraum befand sich auf einem gewöhnlichen Stockwerk, nicht im versteckten wie der Sitzungssaal der Phagen. Der Flur hatte sogar ein Fenster mit Blick auf die Stadt.

Nahe am Fahrstuhlschacht, bei dem sich in einer durchsichtigen gepanzerten Kabine der Wachmann langweilte, saß ein Junge auf dem Fensterbrett. Er war etwas jünger als wir, kaute Kaugummi und schaute aus dem Fenster, als ob dort etwas Interessantes zu sehen wäre.

Kurz nachdem wir den Fahrstuhl gerufen hatten, sprang das Kerlchen herunter und kam auf uns zu. Er folgte uns in die Kabine. Lion und ich gingen intuitiv etwas zur Seite, sodass wir dem Jungen gegenüberstanden.

Es war ein eigenartiger Typ. Erstens — sehr feingliedrig, sogar der hagere Lion erschien im Vergleich zu ihm muskulös.

Zweitens — obwohl seine hellen Haare kurz, auf Jungenart geschnitten waren, war sein Gesicht so schön wie bei einem Mädchen.

»Bist du ein Junge oder ein Mädchen?«, fragte Lion neugierig.

Ich stieß Lion in die Seite und sagte: »Blödmann! Das ist ein Phag!«

»Von mir aus ein Phag«, beharrte Lion. »Ich interessiere mich dafür, ob er ein Junge oder ein Mädchen ist.«

Meines Erachtens wollte Lion lediglich einen Streit anfangen und sich mit dem eindeutig jüngeren Phagen schlagen.

Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, warum — es ist doch klar, dass ein Phag stärker ist. Lion hatte aber keinen Erfolg.

»Phagen sind niemals Frauen«, antwortete der kleine Phag, ohne beleidigt zu sein, und nahm seinen Kaugummi heraus. Auch seine Stimme war so fein wie bei einem Mädchen. »Ein Phag kann während eines Fluges nicht in der Anabiose dahindämmern, klar?«

»Klar«, hielt sich Lion zurück.

»Uns verbleiben anderthalb Minuten«, sagte der Phag, als ob nichts geschehen wäre. »Wir haben die Detektoren dieser Kabine vereist und ihre Geschwindigkeit auf ein Minimum reduziert.«

»Wer ist — wir?«, regte sich Lion wieder auf. Ich stieß ihn an, damit er ruhig sein sollte.

»Die zukünftigen Phagen«, erklärte das Jüngelchen höflich.

»Und, seid ihr viele?«, begann Lion.

Der Phag unterbrach ihn. »Das ist unwichtig. Jungs, wann werdet ihr nach Neu-Kuweit geschickt?«

»Das ist auch unwichtig«, erwiderte ich und stieß Lion noch stärker an. »Woher sollen wir wissen, wer du bist und was du willst?«

»Ich möchte euch einen Rat geben«, sagte der Phag. »Tretet zurück!«

»Warum?«, wollte ich wissen.

»Das ist gefährlich! Ihr seid für solche Aufgaben nicht vorbereitet!«

»Und wenn wir zurücktreten, wird dann jemand von euch geschickt?«, hakte ich nach. Und traf genau den wunden Punkt — der kleine Phag zwinkerte und krümmte sich. »Und überhaupt — wir gehen nirgendwohin, wissen nichts und von Neu-Kuweit haben wir nur im Fernsehen gehört!«, fuhr ich ganz inspiriert fort. »Wenn du Spion spielen willst, dann geh zu Ramon und bitte ihn darum.«

»Schöne Dummköpfe!« Der kleine Phag zuckte mit den Schultern. »Na, wie ihr wollt!«

»Los, los!«, redete ihm Lion energisch zu. »Geh mit den Puppen spielen!«

Mit mir hätte man das nicht machen dürfen! Der Phag blieb jedoch ungerührt, er verzog lediglich das Gesicht. Der Fahrstuhl hielt, und der Junge ging hinaus, ohne auch nur ein Wort zu sagen. In eine völlige Dunkelheit — der Fahrstuhl hielt nicht im Erdgeschoss, sondern irgendwo anders… Wenn man der Anzeige glauben wollte — zwischen dem zweiten und dritten Stock. Mir schien, als ob in diesem unbekannten dunklen Raum noch jemand war, aber ich hätte nicht meine Hand dafür ins Feuer gelegt.

»Was für raffinierte Kerle!«, triumphierte Lion, nachdem sich die Fahrstuhltüren geschlossen hatten und wir weiter nach unten fuhren. »Hast du das mitgekriegt, sag?«

»Ich habe überhaupt nichts verstanden.«

»Ach komm, das ist doch offensichtlich!«

Endlich erreichten wir das Erdgeschoss und stiegen aus.

In der Eingangshalle waren viele Leute, aber niemand beachtete uns. Lion fasste mich an den Schultern und flüsterte mir ins Ohr: »Von ihnen gibt es hier doch sicherlich einen ganzen Haufen! Jungs, die zu Phagen erzogen werden. Da ist es doch logisch, dass sie auch mal ein Abenteuer erleben wollen… Und dann so ein Reinfall! Wir werden auf einen feindlichen Planeten entsandt, und sie sitzen an den virtuellen Imitatoren, trainieren ihre Muskeln und lernen. Also haben sie davon geträumt…«

»Es war nicht richtig, dass du ihn geärgert hast«, murmelte ich. »Er hätte dich an der Wand breit schmieren können.«

»Er sieht aber doch ganz schwindsüchtig aus!«

»Na und? Er ist doch ein Phag. Vielleicht lernt er von Geburt an sich zu schlagen.«

»O Gott! Ich bekomme Gänsehaut vor Angst!«, giftete Lion. Dann beruhigte er sich wieder.

»Mir gefällt das nach wie vor nicht«, meinte ich.

»Vielleicht sollten wir es Ramon sagen?«

Ich überlegte und schüttelte den Kopf:

»Nein! Besser Stasj. Aber vielleicht lohnt es sich nicht, darüber zu sprechen.« Wir hätten im Café der Phagen essen können, zumal dort alles kostenlos ist. Wir entschlossen uns aber, in ein normales städtisches Restaurant zu gehen. Das ist viel interessanter — auch auf dem reichen Avalon gehen Jugendliche selten ins Restaurant.

Ein paar Straßen von der Zentrale der Phagen entfernt war der Supermarkt »Marks Spencer« mit einem großen Dachrestaurant. Dorthin gingen wir. Fast alle Tische waren besetzt, doch wir fanden ein kleines Tischchen an der Glaswand. Die Wand war transparent und uneben, so als ob sie das Dachgeschoss wie eine Kuppel mit einer Vielzahl von Ausbuchtungen umgab, unter denen die Tische standen. Das war sehr interessant, sogar der Boden unter den Füßen war transparent. Weit unter uns fuhren Autos, leuchteten Scheinwerfer und bewegten sich winzige Menschen auf den Fußgängerwegen. Es war noch nicht allzu spät, aber es schneite und begann schnell dunkel zu werden.

»Mir gefällt es hier«, meinte Lion.

»Hm.«

»Ich meine nicht das Restaurant«, erläuterte Lion. »Ich spreche vom Planeten allgemein. Was glaubst du, werden meine Eltern die Genehmigung erhalten, hierherzukommen?«

»Wenn wir Erfolg haben, dann wird es erlaubt«, entschied ich. »Wir helfen doch den Phagen und überhaupt dem gesamten Imperium! Für die Phagen bedeutet ein Visum zu bekommen so viel wie einmal in die Hände spucken.«

Lion nickte und schaute verzaubert nach unten. »Das ist sicherlich wegen des Schnees. Ich habe immer gern über den Winter gelesen. Wirst du mich auch nicht auslachen?«

»Wieso? Bestimmt nicht!«

»Bei uns, auf der Station, habe ich einmal ein Gesuch an die Administration gerichtet. Dass sie Winter machen.«

»Ja und?«

»Alles vergebens. Ich bekam eine offizielle Antwort, dass es nicht möglich wäre. Erstens wäre die Klimaanlage dazu nicht ausgelegt. Und dann wären die Gebäude nicht beheizbar. Bei uns ist es ja so — die Station ähnelt einer großen Scheibe, einer sehr großen Scheibe. Innen befinden sich die Lagerräume, Büros und Mechanismen. Die Wohnhäuser stehen fast alle draußen auf der Oberfläche der Scheibe. Oben ist die Scheibe von einer Kuppel und einem Kraftfeld bedeckt…«

Er verstummte. Ich dachte an unsere Kuppel und wurde ebenfalls traurig.

»Das ist wie im Altertum«, meinte ich. »Als die Leute glaubten, dass der Planet flach sei und einer Scheibe ähneln würde.«

»Geht das denn?«, staunte Lion.

»Damals sind sie noch nicht in den Weltraum geflogen. Und auf dem Planeten merkt man ja nicht, dass er eine Kugel ist.«

Lion dachte nach und war einverstanden, dass es wirklich nicht offenkundig ist.

Wir bekamen unser Essen. Lion hatte sich Tortillas mit Fleisch und scharfen Gewürzen, sie hießen Enchiladas, ausgesucht. Ich hatte keinen großen Appetit und mir deshalb nur einen Salat und ein heißes Sandwich bestellt. Der Salat schmeckte gut. Er war in einer großen Kristallschale angerichtet, mit Huhn und Gemüse. Das Sandwich war auch akzeptabel.

»Und morgen werden wir schon im Zeitkanal fliegen…«, flüsterte Lion. »Kannst du dir das vorstellen? Und hier hat niemand eine Ahnung davon, dass wir das Imperium retten werden!«

»Lion…«

»Ich spreche doch ganz leise…«

Tief über dem transparenten Dach flog ein Flyer. Er setzte auf dem Landeplatz auf und wurde sofort von einem Kraftfeld gegen den Schnee abgeschirmt. Eine Frau mit einem kleinen Mädchen stieg aus und sie gingen zum Fahrstuhl. Sicherlich wollten sie einkaufen. Und es interessierte sie überhaupt nicht, dass zwei Jungs sich darauf vorbereiteten, auf den Planeten Neu-Kuweit zu fliegen. Und überhaupt interessierte das auch niemanden im Restaurant. Weil die Leute hierherkamen, um einzukaufen, ein Bier zu trinken und gut zu essen und dann gemütlich wieder nach Hause zu gehen. Und dort würden sie dann fernsehen, mit ihren Kindern spielen, schwimmen gehen, bis zum Morgen mit ihren Freunden feiern.

Wer brauchte denn überhaupt diesen Kick, sich vor Feinden zu verstecken, heimlich auf fremden Planeten zu landen, sein Leben zu riskieren? Wozu das alles?

Sie waren ja nicht in Gefahr! Es gab ja den Imperator, die Armee, die Phagen! Und massenhaft unterentwickelte Planeten, wo man nicht einmal frei atmen konnte.

»Tikkirej…«, fragte Lion leise. »Was ist mit dir?«

Ich schwieg, wandte jedoch meine Augen vom Saal und wischte mit dem Ärmel meine dummen Tränen ab.

»Tikkirej, ich werde nicht mehr angeben«, versprach Lion schuldbewusst. »Das habe ich gemacht, ohne nachzudenken, sicher, weil ich Angst habe. Und deshalb das alles… Auch mit diesem kleinen Phagen, und überhaupt…«

»Das ist nicht der Grund«, flüsterte ich. »Ich finde es nur gemein…«

Er verstand.

»Ich auch, Tikkirej.«

»Ich glaube nämlich… mir scheint, ich kann hier nicht heimisch werden. Alles ist… so fremd. Als ob man mir aus Mitleid geholfen hätte. Deshalb habe ich auch zugestimmt, Lion. Nicht nur wegen deiner Eltern. Und nicht wegen dieser dämlichen Peitsche. Ich möchte nicht, dass man mir aus Mitleid erlaubt, hier zu leben.«

»Was heißt hier aus Mitleid!«, schnaubte Lion. »Mir vielleicht — aus Mitleid. Aber du hast Stasj geholfen! Wenn es dich nicht gegeben hätte, dann hätten sie ihn auf Neu-Kuweit umgebracht. Und die Phagen hätten nichts über Inej erfahren.«

Er hatte Recht, aber trotzdem…

»Ich möchte etwas beweisen«, sagte ich. »Etwas wirklich Wichtiges vollbringen.«

»Bist du etwa verpflichtet, irgendjemandem irgendetwas zu beweisen?«, fragte Lion. »Das ist dumm! Das ist Kinderkram. So!«

Er verzog das Gesicht und streckte mir die Zunge heraus.

»Warum verstehst du das denn nicht?«, murmelte ich. »Es ist… es ist wegen meiner Eltern.«

Ich verstummte und Lion kam mir zu Hilfe:

»Sie sind gestorben, das hast du gesagt. Das tut mir sehr leid, aber musst du deshalb etwa dein Leben riskieren?«

»Du weißt nicht alles. Sie sind nicht einfach gestorben, Lion. Bei uns ist das so… Jeder Mensch bekommt ein bestimmtes Guthaben für die Nutzung der Lebenserhaltungssysteme. Für gefilterte Luft, Wasser und Schutz gegen die Radioaktivität. Das Guthaben ist für ein ganzes Leben bestimmt, deckt aber nur einen Teil der Ausgaben. Den Rest muss man erarbeiten. Meine Eltern hatten ihre Arbeit verloren… und ihre gesamte Sozialration verbraucht. Als ihnen klar wurde, dass sie nie wieder Arbeit finden würden…«

»Sie… wurden ermordet?« Lion bekam große Augen.

»Nein. Man hätte uns aus den Kuppeln vertrieben. Die Eltern und mich. Und außerhalb der Kuppeln lebt man nicht lange. Deshalb gingen meine Eltern ins Euthanasie-Zentrum, es nennt sich Haus des Abschieds. Das restliche Guthaben überschrieben sie auf mich, damit ich groß werden und eine Arbeit finden könnte.«

Lion wurde ganz blass.

»So ist das bei uns«, meinte ich. »Na, wir haben nun einmal so einen Planeten, der nicht für Menschen geschaffen ist, verstehst du?«

»Tikkirej…«

»Ist schon gut.« Ich sah wieder aus dem Fenster. »Ich hätte an ihrer Stelle dasselbe gemacht. Und jetzt denke ich mir, ihr Opfer darf doch nicht umsonst gewesen sein!? Nicht nur dafür, dass ich am Leben bleiben konnte. Ich muss etwas Größeres leisten! Etwas wirklich Bedeutendes! Zum Beispiel, den Phagen bei der Beseitigung einer riesengroßen Ungerechtigkeit helfen.«

»Möchtest du denn nicht auf deinen Planeten zurückkehren und allen dort helfen?«, wollte Lion wissen.

»Wie denn helfen? Wir haben eine Demokratie. Jeder kann den Planeten verlassen, wenn es ihm dort nicht gefällt. Wir stimmen selbst über die Sozialleistungen ab. Und die Sozialarbeiter sind durchaus keine Unmenschen. Gegenwärtig wird darüber diskutiert, das Guthaben aufzustocken. Vielleicht werden dann in rund hundert Jahren Luft und Wasser kostenlos sein.«

Lion schüttelte den Kopf: »Soll das eine Rechtfertigung sein?«

»Nein, das ist keine Rechtfertigung. Es hat sich ganz einfach so entwickelt. Schau her, der Avalon ist ein sehr reicher Planet. Und hier gibt es noch massenhaft Platz. Man könnte alle unsere Bewohner hierher umsiedeln. Aber niemand macht das. Soll ich deshalb allen böse sein? Den Phagen, dem Imperator, den Bewohnern des Avalon?«

»Wofür soll man denn dann überhaupt kämpfen? Was haben die Phagen dann gegen Inej? Inej behelligt niemanden!«

»Inej lässt dir keine Wahl. Er nimmt die Freiheit.«

»Man könnte ja glauben, dass ihr auf Karijer eine Freiheit hättet!«

»Haben wir.«

»Und was ist das für eine Freiheit?«

»Eine miese. Aber trotzdem — eine Freiheit.«

Plötzlich begann mein Augenlid zu zucken. Ohne ersichtlichen Grund. Sicher fiel es mir schwer, meine Heimat zu verteidigen. Eine armselige Heimat, die mich Mutter und Vater gekostet hat und doch…

»Tikkirej… sei mir nicht böse«, murmelte Lion. »Vielleicht liege ich falsch, aber es ist schwer zu verstehen.«

»Um das zu verstehen, muss man bei uns leben«, erwiderte ich. »Du, zum Beispiel, hast darum gebeten, dass auf eurer Station eine echte Nacht und echter Schnee eingeführt werden. Und dir wurde erklärt, warum das nicht möglich ist. Ich habe mit Stasj einmal darüber geredet… Wir haben fünf Stunden zusammengesessen. Weißt du, es ist sehr einfach, einem Einzelnen zu helfen. So, wie Stasj mir und dir geholfen hat. Wenn jedoch eine ganze Welt Hilfe braucht, auch so eine kleine wie Karijer, kann ein Mensch allein nichts ausrichten. Nein, er kann nur alles durcheinanderbringen, zerstören, eine Revolution entfesseln. Aber das ändert nichts zum Besseren. Etwas Besseres kann nicht aufgezwungen werden. Es ist notwendig, dass sich die Menschen selbst verändern und ihr Leben aus eigenen Kräften ändern wollen. Du hast doch Unterricht in Geschichte gehabt? Im Zeitalter des dunklen Matriarchats hätten wir beide ein Hundehalsband getragen und uns vor jedem Mädchen verbeugt. Und hätten uns dafür geschämt, dass wir als Männer geboren wurden. Und schon damals gab es die Phagen. Auch sie trugen Halsbänder, kannst du dir das vorstellen? Und verbeugten sich. Und verteidigten die Zivilisation. Obwohl sie eine Revolution hätten auslösen können.«

»Das dunkle Matriarchat war notwendig«, sagte Lion. »Das wird allgemein anerkannt. Damals gab es nämlich Kriege und ohne die Frauen hätte sich die Menschheit selbst ausgelöscht. Und als die feministische Liga die Macht im Arabischen Imperium übernahm…«

»Streber!«, machte ich mich lustig.

»Jedenfalls war das Matriarchat am Anfang fortschrittlich«, fuhr Lion fort. »Aber was hat das mit Karijer und eurer Ordnung zu tun? Wozu wird so etwas gebraucht, kannst du mir das erklären?«

»Es könnte sein, dass die Menschheit irgendwann den Gürtel enger schnallen muss. Wenn uns zum Beispiel die Fremden einen Teil der Planeten abnehmen und die Menschheit auf schlechtere Planeten ohne ausreichende Ressourcen ausweichen muss. Dann wird eine ausgearbeitete soziale Überlebensstrategie notwendig sein. So wie auf Karijer. Stasj meint, dass die ganze Menschheitsgeschichte einem Tanz auf dem Schnee ähneln würde.«

»Wem?«

»Einem Tanz auf dem Schnee. Die Menschheit versucht schön und gut zu sein, obwohl es dafür keine Basis gibt. Verstehst du das? Als ob eine Ballerina im Ballettröckchen versuchen würde, auf Schnee zu tanzen. Aber der Schnee ist kalt. An manchen Stellen verkrustet, an manchen wiederum weich, und an manchen Stellen bricht sie ein und verletzt sich die Füße. Aber trotzdem muss sie versuchen weiterzutanzen, besser zu werden. Wider die Natur, im Kampf gegen alles. Sonst bleibt ihr nur noch übrig, sich in den Schnee zu legen und zu erfrieren.«

»Wenn du meinst… Es ist logisch, dass die Welt nicht von Anfang an perfekt sein kann. Alles Mögliche kann passieren. Aber es geht doch nicht, dass man experimentelle Planeten schafft, auf denen Menschen leiden müssen!«

»Das macht auch niemand mit Absicht«, antwortete ich. »Sie entstehen von selber. Genau das bedeutet Geschichte, Lion. DieMenschenhabenschonimmereigenartige Gesellschaftssysteme geschaffen, schon als sie nur auf einem Planetenlebten.Normalerweisegingendiese Gesellschaftsordnungen wieder unter, aber manchmal erwiesen sie sich als notwendig.«

»Okay, früher waren die Leute eben zurückgeblieben!« Lion machte eine energische Handbewegung. »Aber jetzt haben wir die passende Gesellschaftsordnung. So wie hier!«

»Ja. Und auf Neu-Kuweit ist sie wieder etwas anders. Auf der Erde und dem Edem auch. Und jeder lebt dort, wo es ihm gefällt. Darin ist nichts Schlechtes. Wenn jedoch überall die gleiche Gesellschaftsstruktur bestehen würde, hätten viele Leute Probleme damit. Selbst wenn diese Gesellschaftsordnung die beste von allen wäre. Auf Avalon ist zum Beispiel die Vielehe verboten, aber vielleicht gibt es jemanden, der gleichzeitig zwei Frauen liebt? Und was wird dann mit ihm, soll er das ganze Leben lang darunter leiden?«

Lion kicherte und meinte: »Mein Gott, das sind vielleicht Probleme…«

»Genau aus diesem Grund sind die Phagen wegen Inej beunruhigt«, erläuterte ich. »Vielleicht will Inej wirklich nichts Schlechtes. Und auf ihren Planeten ist die Lebensqualität auch nicht gesunken. Aber wenn das gesamte Imperium identisch sein wird, muss es früher oder später untergehen.«

»Das hast du alles von Stasj.«

»Ja. Denkst du, Stasj wäre ein Dummkopf? Wenn Inej den Menschen nicht das Gedächtnis programmiert hätte, sondern darum geworben hätte, sich ihnen anzuschließen, wäre niemand gegen das Vorhaben gewesen. Alle hätte man nämlich nicht überreden können.«

Lion neigte den Kopf, war aber nicht überzeugt. Sicher erinnerte er sich an seine Träume, in denen er für Inej gekämpft hatte.

»Wir müssen los, es ist Zeit«, sagte ich. »Iss deine Tortillas auf!«

»Ach, ich habe keinen Appetit mehr…« Lion stand auf, streckte seine Arme nach vorn und lehnte sich an die Glaswand. Dort stand er eine Weile und schaute auf den fallenden Schnee. Dann sagte er: »Ich hätte es trotzdem gern, dass es allen gleich gut geht.«

Kapitel 6

Die halbe Nacht durch saßen wir am virtuellen Simulator. Ob es nun wirklich genutzt oder ob die Phagen etwas zu unseren Gunsten geändert hatten, dieses Mal jedenfalls endete alles erfolgreich. Uns glaubte man, abgerissen, schmutzig und hungrig, wie wir waren. Zuerst wurden wir einem strengen Verhör unterzogen, danach in ein Gefangenenlager überstellt, wo wir in einer Chemiefabrik arbeiteten. Nach zwei Wochen hatten wir herausgefunden, dass die Macht auf Inej von Fremden erobert worden war — entweder von den Tzygu oder den Brauni. Eben sie hatten die Versklavung der Menschheit geplant!

Ein Agent der Phagen nahm Verbindung mit uns auf und wir erstatteten ihm über alles Bericht. Nach zwei Stunden kamen Raumschiffe des Imperiums, setzen Luftlandetruppen aus und befreiten uns. Wir nahmen sogar an den Kampfhandlungen teil — wir verbarrikadierten uns in der Werkhalle für Heißpressen und ließen die Soldaten des Inej nicht in die Halle hinein. Sie wurden von uns aus Schläuchen mit flüssiger chlorhaltiger Plastikmasse übergossen.

Alles in allem war es recht lustig.

Als uns Ramon in seinem schicken Sportauto nach Hause brachte, betonte er nochmals, dass es keine Information über Neu-Kuweit gäbe. Deshalb sollte man auch nicht von vornherein vom Schlimmsten ausgehen. Im Gegenteil, so etwas dürfte überhaupt nicht passieren. Aber… sicherheitshalber…

Ich nickte schläfrig und schaute aus dem Fenster. Mein vierter Planet. Und an den zweiten konnte ich mich nicht einmal erinnern. So war es eben. Vielleicht sollte ich dem Kapitän der Kljasma einen Brief schreiben? Um herauszufinden, wo ich war?

Schade, dass ich kein Phag werden kann, dachte ich. Aber ihnen zu helfen ist auch interessant. Obwohl es nicht ganz das dasselbe ist.

»Seht zu, dass ihr ausschlafen könnt!«, riet Ramon. »Schlaft wenigstens ein bisschen. Um zehn wird euch Stasj abholen und zum Kosmodrom bringen.«

»Und wer fliegt das Raumschiff?«, erkundigte ich mich.

»Nicht Stasj. Er hat eine andere Aufgabe«, erwiderte Ramon nach kurzem Zögern. »Ich auch nicht. Aber das ist unwichtig, Jungs. Ein jeder von uns Phagen wird mit dieser Mission klarkommen.«

»Ich weiß. Aber es ist trotzdem besser, wenn dein Freund bei dir ist, oder nicht?«

Ramon zuckte mit den Schultern. »Ich erkenne die Theorie von Stasj. Verstehst du, Tikkirej, persönliche Beziehungen — das ist eine Medaille mit zwei Seiten. Natürlich sind die Menschen keine Roboter, die ohne Emotionen leben können, ohne Sympathie, Freundschaft oder umgekehrt. Wenn du wüsstest, wie viel Leid gerade diese persönlichen Beziehungen den Menschen zugefügt haben!?«

»Wieso denn das?«, wollte ich wissen. »Der erste Sternenflieger, Son Chai, kehrte entgegen der Fügung des Schicksals auf die Erde zurück, nur weil er sich nach seiner Geliebten sehnte! Und der Pilot der Magellan konnte ein havariertes Raumschiff landen, weil seine Familie sich darin befand. Und…«

»Du führst lediglich positive Beispiele an, Tikkirej. Aus dem Lehrbuch für Ethik für die fünfte Klasse, stimmts?«

»Kann sein…« Ich überlegte. »Ich glaube, ja.«

»Du hast damit durchaus Recht«, fing Ramon rhythmisch, als würde er Nägel einschlagen, an zu sprechen. »Im gewöhnlichen menschlichen Leben sind Freundschaft, Liebe, Zärtlichkeit — all das, was wir unter dem Begriff ›positive persönliche Beziehungen‹ verstehen — sehr wichtig. Aber jedes Ding hat zwei Seiten. Ein einfaches Beispiel: Wenn dein Freund Rossi zu dir eine größere Freundschaft empfunden hätte, hätte er dir sofort geholfen.«

»Er wusste aber doch nicht, wie man jemanden rettet, der durch das Eis gebrochen ist!«, wandte ich zu Rossis Verteidigung ein.

»Genau. Und ihr hättet beide sterben können. Je freundlicher die Menschen im ungefährlichen und abgesicherten Alltag miteinander umgehen, desto besser. So kann ein Mensch beim Versuch, ein untergehendes Kind zu retten, sein Leben riskierenodersichSorgenmachenwegen Unannehmlichkeiten, die seinen Freund betreffen! Das ist nicht weiter gefährlich. Es nützt der Gesellschaft. In einigen Berufen jedoch…« Ramon zögerte. »Tikkirej, stell dir zum Beispiel Folgendes vor: Du bist auf Neu-Kuweit in Lebensgefahr. Dir droht der Tod, weil du als unser Agent erkannt wurdest und beschlossen wurde, dich öffentlich hinzurichten. Unter den Zuschauern sitzt Stasj. Er kann versuchen dich zu retten. Er hat ungeachtet aller seiner Fähigkeiten als Phag so gut wie keine Chancen… Stasj besitzt jedoch eine äußerst wichtige Information, die an den Imperator weitergeleitet werden muss. Was wird er machen?«

»Stasj wird das Imperium nicht verraten«, antwortete ich. »Er wird sich nicht einmischen… danach wird er sich Vorwürfe machen. Und das war’s.«

Mir wurde unheimlich zumute bei dieser Vorstellung! Als ob ich wirklich auf dem riesigen Platz in Agrabad stehen würde, auf einem grob zusammengezimmerten Holzpodest, wie in alten Filmen. Ich sah mich da mit auf den Rücken gefesselten Händen stehen, nackt bis zum Gürtel, und ein riesiger Henker mit einem Beil wies mit seinem kapuzenbedeckten Kopf auf den dunklen, zerhackten Richtblock — nimm Platz, mach deinen Nacken frei. Die Menge war erregt, alle standen auf Zehenspitzen und gafften mich an. Und nur ein Mensch, Stasj, lächelte nicht und freute sich nicht über das Geschehen.

»Nehmen wir an«, fuhr Ramon fort, »Stasj ist ein erfahrener und erfolgreicher Phag. Er weiß, dass das Ganze wichtiger ist als das Einzelne. Er lässt den Dingen seinen Lauf und kommt nach Avalon zurück. Und was wird danach aus ihm, Tikkirej, was glaubst du? Wie lange wird er sich quälen? Was wird er in Zukunft noch für ein Mitarbeiter sein?«

Ich schwieg. Ich wusste wirklich nicht, was Stasj dann für ein Mitarbeiter sein würde, wenn ich vor seinen Augen hingerichtet würde und er sich nicht zu erkennen geben dürfte. Vielleicht geschah auch gar nichts Außergewöhnliches. Sogar unsere Nachbarin Nadja sagte mir an einem Abend mehr Koseworte als Stasj in einem ganzen Monat!

Ramon verstand mein Schweigen auf seine Art.

»Und genau darin besteht die Problematik unserer Arbeit, Tikkirej. Das, was dir teuer ist, muss entweder weit entfernt oder in Sicherheit oder in deiner eigenen Seele verschlossen sein. Das ist eine uralte Kundschafterregel. Und wir ähneln in Vielem eben diesen Kundschaftern…«

»Hat Stasj unseretwegen Schwierigkeiten bekommen?«, wollte ich wissen. »Weil er uns aus Neu-Kuweit mitgebracht hat?«

Ramon schaute mich herablassend an.

»Schwierigkeiten? … Aber nein, wieso denn! Alles war professionell gemacht und durchaus begründet.«

»Und warum sagen Sie mir dann solche Dinge? Für alle Fälle? Oder für die Zukunft?«

Ramon warf mir einen Blick zu.

»Deshalb, Tikkirej, damit du nichts Unmögliches erwartest. Und nicht auf Unterstützung durch Stasj oder mich rechnest.«

»Das erwarte ich auch nicht.«

Es schien, als ob Ramon etwas verärgert wäre.

»Tikkirej, halt uns aber bitte nicht für herzlos! Wir können nicht das Schicksal von Millionen wegen eines einzelnen Menschen riskieren. Deshalb bieten wir dir auch an, von der Mission zurückzutreten.«

Ich schüttelte an Stelle einer Antwort meine Hand. Die Schlange steckte ihren Kopf aus dem Ärmel, schaute sich um und verschwand wieder.

Ramon fragte: »Hast du wirklich nicht lange genug mit Spielzeug gespielt? Tikkirej, die Peitsche ist nichts weiter als ein Spielzeug! Wenn auch ein todbringendes.«

»Ich hatte nur wenig Spielzeug«, erwiderte ich. »Spielzeuge gehören nicht zum sozialen Mindestbedarf.«

Ramon schaute weg und meinte: »In Wirklichkeit droht euch keine Gefahr. Selbst wenn sie euch fassen sollten… Die Agenten des Inej können grausam sein, Sie sind aber keine blutrünstigen Mörder.«

Ich erwiderte nichts, erinnerte mich aber an den Agenten, den Stasj getötet hatte, und an dessen Worte: »Dieser Junge hat keine Bedeutung für Inej«.

Bis nach Hause schwiegen wir. Den ganzen Weg über träumte Lion süß und bekam gar nichts von unserem Gespräch mit.

Ramon hielt vor dem Haus, stieg gemeinsam mit uns aus und begleitete uns zur Wohnung. Als ob er einen Hinterhalt im Treppenhaus erwartete. Danach umarmte er uns schweigend und ging, ohne sich zu verabschieden.

Wir legten uns schlafen. Stasj kam früher als vorgesehen, um halb zehn. Ich hatte bereits gepackt, stellte die Wohnungsautomatik auf Warteregime, kontrollierte, ob alle Fenster geschlossen waren, und zog mich für die Fahrt an. Wir nahmen keine Kleidung mit, auf dem Raumschiff würden wir etwas bekommen, das zu unserer Legende passte. Lion bummelte noch im Bad herum. Er war so ein Sauberkeitsfanatiker geworden, dass man verrückt werden konnte: Seine Zähne putzte er dreimal am Tag, war nicht glücklich, wenn er nicht morgens und abends duschen konnte, seine Nägel schnitt er so weit wie möglich herunter und auch seine Haare waren sehr kurz. Es kam mir so vor, als ob das bei ihm eine Folge der Arbeit im Dauerbetrieb wäre, aber ich sprach nicht darüber.

»Seid ihr fertig?«, fragte Stasj ohne wirkliches Interesse, eher der Ordnung halber, und blieb in der Tür stehen.

»Na klar!«, ich wies mit dem Kopf auf die Badtür. »Gleich, er ist gleich fertig.«

Stasj nickte. Aus dem Badezimmer hörte man Wasser rauschen und ein Blubbern — Lion versuchte zu singen, während er die Zähne putzte.

»Habt ihr Angst?«, wollte Stasj wissen.

»Ich hatte niemals Angst vor dem Fliegen«, sagte ich ärgerlich. »Und Lion ist im Kosmos aufgewachsen, auf einer Station…«

»Das weiß ich. Ich frage nicht wegen des Fluges, Tikki. Fürchtet ihr euch nicht vor Neu-Kuweit?«

Ich überlegte und antwortete ehrlich: »Ein bisschen. Dort wurde doch allen ins Gehirn gespuckt. Aber wir haben uns darauf vorbereitet und überhaupt… Ramon sagt, das alles gut gehen wird.«

»Vielleicht werde ich auch auf Neu-Kuweit sein«, sagte Stasj. »Sollte plötzlich…« Er zögerte. »Wenn wir uns zufällig sehen sollten, dann lasst euch nicht anmerken, dass ihr mich kennt.«

»Grüß dich, Stasj!« Lion kam aus dem Bad.

»Hallo!« Stasj nickte ihm zu. »Lion, wenn wir uns zufällig auf Neu-Kuweit treffen, dann denkt daran — wir kennen uns nicht.«

»Hältst du uns für Idioten?«, fragte Lion scharf. »Na sicher!«

»Ich möchte, dass ihr das alles ernst nehmt, Jungs«, sagte Stasj. »Inej ist die größte interne Gefahr für die Menschheit seit der gesamten galaktischen Expansion. Im Vergleich zum Inej waren sogar der katholische Djihad oder die Liga der Wiedergeburtnichtmehralsunwichtigesoziale Abweichungen. Fürchtet euch nicht, denn Furcht löst Panik aus. Aber seid vorsichtig. Immer! Zu jeder Zeit! Wenn ihr euch auf einen Stuhl setzt, seid darauf gefasst, dass er unter euch zusammenbricht! Wenn ihr einem Menschen die Hand gebt, wundert euch nicht, wenn sich seine Hand in eine Schnauze mit scharfen Zähnen verwandelt. Merkt euch, auf Neu-Kuweit könnt ihr nur euch gegenseitig trauen.«

Ich nickte.

»Lion, dich betrifft das ganz besonders!«, fügte Stasj leise mit einem entschuldigenden Unterton hinzu.

Lions Gesicht wurde ernst.

»Ich verstehe. Ich… ich werde nichts Überflüssiges sagen. Nicht einmal meiner Mutter.«

Stasj schaute ihn einen Augenblick lang an und sagte dann: »Gut. Geh dich bitte anziehen.«

Als Lion im Schlafzimmer war, wandte sich Stasj wieder mir zu: »Was ist mit der Peitsche?«

Statt einer Antwort zeigte ich mit meinen Fingern auf den Gürtel in der Jeans. Es war kein außergewöhnlicher Gürtel, silbern und metallglänzend. Der Verschluss hatte die Form eines Schlangenkopfes.

»Das wird gehen«, stimmte Stasj zu. »Hast du sie selbst angelegt?«

»Ja. Das ist ganz einfach. Man muss sich nur vorstellen, was man will…«

Stasj nickte und ich unterbrach meinen Redefluss. Wem erkläre ich denn auch, wie man mit einem Schlangenschwert umgehen muss? Einem echten Phagen!

»Ich hoffe, dass du mit ihr keine Dummheiten gemacht hast!«, erkundigte sich Stasj.

»Wie… Welche?«, erwiderte ich verwirrt.

Vor einem Tag hatte ich herumexperimentiert, überprüft, was das Schlangenschwert zerstören konnte und was nicht. Es stellte sich heraus, dass es ohne Schwierigkeiten Holzstücke in dünne Scheiben zerschlagen, eine zentimeterdicke Stahlstange verbiegen und ohne Probleme Löcher in Glas fressen konnte.

»Die größte Dummheit wäre der Versuch, den Hauptakkumulator in die Peitsche einzulegen«, erklärte Stasj. »Dann entdeckt auch der primitivste Detektor, dass es sich dabei um eine Waffe handelt.«

»Also, das habe ich nicht versucht. Woher sollte ich denn auch einen nehmen?«

»Eine Peitsche ist eine universelle Waffe. Sie passt sich an verschiedene Energiequellen an. Zur Not kann man eine beliebig starke Batterie benutzen, zum Beispiel von einem Staubsauger oder einem Haushaltsschraubenzieher. Sie hält natürlich nicht lange vor, aber zwei bis drei Schüsse kann die Peitsche abgeben.«

Stasj lächelte und zwinkerte mir kaum merklich zu.

Am liebsten hätte ich vor Wut aufgeheult. Das bedeutete ja, dass ich das Schlangenschwert richtig hätte ausprobieren können!

»In einigen Fällen haben ähnlich improvisierte Batterien den Phagen das Leben gerettet«, fuhr Stasj fort. »In deinem Fall bedeuteten sie eine tödliche Gefahr.«

Ich nickte.

»Tikkirej, kann ich mich auf deinen gesunden Menschenverstand verlassen?«, fragte Stasj.

»Das können Sie…«

»Dann ist es ja gut.«

Lion erschien. Er schaute fragend auf Stasj und dieser nickte.

»So, es ist Zeit. Gehen wir, Jungs!« Die Fahrt zum Kosmodrom der Phagen dauerte länger als eine Stunde. Wir sprachen weder über Inej noch über Neu-Kuweit. Stattdessen erzählte uns Stasj über den Planeten Avalon, dessen Kolonisation, die Zeit des ersten Imperiums und der Übergangsregierung, über die Geschichte der Eroberung des Nordkontinents, die einheimische Flora und Fauna des Avalon, die nur in Naturschutzgebieten überlebt hat.

»Diese Art Kolonisation wird jetzt schon nicht mehr durchgeführt«, erläuterte Stasj. »Mittlerweile wird zuerst eine Ausgangsstation mit Wohntrakt errichtet. Man baut ein Kosmodrom und beginnt mit der punktuellen biologischen Bereinigung. Es vergehen mindestens fünfzig Jahre, bis sich der Planet terraformiert, also sich Erdbedingungen annähert. Dafür gibt es keine Überraschungen, keine Ungeheuer, die dich zuerst fressen und danach an der Fleischvergiftung durch außerplanetarisches Eiweiß sterben. Avalon wurde ganz nebenbei kolonisiert, um Camelot herum blühten schon Apfelbäume, weiter entfernt befand sich der Ring der Biobereinigung. Und als der größte Teil der Landgebiete bereits gesäubert war, existierte in den Ozeanen noch die einheimische Fauna. Jetzt findet man sie nur noch im historischen Meer, das vom Ozean durch einen Damm abgetrennt wurde. Dort gibt es natürlich keine Mantelrochen oder Killerwale mehr und das ist auch besser so…«

»Früher wollte ich Biologe werden und Planeten terraformieren«, sagte Lion.

»Eine gute Arbeit«, stimmte Stasj zu. »Und nun?«

Lion schüttelte den Kopf. »Nicht mehr. Es ist viel interessanter als Pilot. Aber ich möchte nicht auf einem Raumschiff mit Modulen fliegen.«

»Wenn du groß bist, wird es sie, so hoffe ich, schon nicht mehr geben«, ermunterte ihn Stasj. »Wenn die Gelkristallprozessoren Erfolg versprechend sind, werden sie die Menschen ersetzen.«

Und er begann über Technik zu sprechen. Vielleicht hatte er auch wirklich Freude daran, aber ich hatte den Eindruck, dass er uns einfach beruhigen wollte.

Warum machen sich die Erwachsenen nur immer größere Sorgen um Kinder als diese selbst? Am Eingang wies Stasj seinen Ausweis vor und wir wurden auf das Flugfeld gelassen. Dort standen vielleicht zwei Dutzend Raumschiffe, hauptsächlich kleine. Unter ihnen waren jedoch auch ein echter Militärkreuzer und ein großes Raumschiff für Luftlandeunternehmungen. Die konnten auf keinen Fall ohne Module in den Zeittunneln fliegen… Aber ich fragte Stasj nicht danach. Ich war ja nicht mehr klein. Ich verstand alles.

Das Auto näherte sich einem Raumschiff. Es war genau so einefliegendeUntertasse,bedecktmitgrauen Keramikschuppen, wie das von Stasj.

Das ist sicherlich der am meisten verbreitete Raumschifftyp bei den Phagen.

Der Pilot stand an der offenen Eingangsluke. Er war älter als Stasj, grüßte jedoch als Erster, und mir schien, dass Stasj sein Vorgesetzter war.

»Hier bringe ich dir also deine Schutzbefohlenen«, sagte Stasj.

»Guten Tag, Tikkirej! Guten Tag, Lion!« Der Pilot gab uns die Hand. »Ich heiße Sjan Tien.«

Es entstand eine unerquickliche Pause. Wir hatten noch Zeit bis zum Abflug, Stasj wollte uns nicht verlassen und wir fanden kein Gesprächsthema.

»Ist die Stealthkapsel in Ordnung?«, bemühte sich Stasj um einen Gesprächsbeginn.

»Ja, ich habe sie überprüft«, erwiderte Tien. »Die Jungs werden unbemerkt landen, niemand wird auf sie aufmerksam werden. Habt ihr euch schon einmal absetzen lassen?«

»Nein«, antwortete ich.

»Ja«, rief Lion aus, »dass heißt, nein!«

Tien hob erstaunt seine Augenbrauen. Dann konzentrierte er sich und gab einen Befehl über den Shunt. Im Bauch des Raumschiffs öffnete sich ein Luke.

Die Stealthkapsel ähnelte am ehesten einer Linse mit einem Durchmesser von zwei Metern. Sie war völlig transparent.

»Ist sie aus Glas?« Ich staunte.

Lion lachte. »Mann, bist du naiv, das ist stabilisiertes Eis!«

»Richtig«, bestätigte Tien und schaute voller Respekt auf Lion. »Das ist Eis-23, eine hyperstabile Form. Vor dem Abwurf wird die Kapsel mit einem Zerfallkatalysator besprengt und in einer Stunde verwandelt sie sich in eine Wasserpfütze. Aber bis dahin seid ihr gelandet.«

»Und wo sind hier die Motoren?«, fragte ich verwundert.

Stasj und Tien sahen sich an.

»Hier gibt es keine Motoren, Tikkirej«, sagte Stasj liebevoll. »Und keine Geräte. Nichts, nur Eis. Beim Abwurf auf einer niedrigen Umlaufbahn wird die Kapsel aerodynamisch abgebremst. Die Belastung kann bis auf drei ›g‹ ansteigen… Das ist normal für Menschen mit einem standardmäßig verbesserten Genotyp.«

»Ich halte auch sechs ›g‹ ohne Probleme aus«, bemerkte Lion stolz.

»Fürchtest du dich, mein Junge?«, fragte mich Tien. »Du brauchst keine Angst zu haben. Die Stealthkapsel ist zuverlässiger als jedes Raumschiff. In ihr kann nichts kaputtgehen, verstehst du? Und sie kann von keinem System der kosmischen Verteidigung erkannt werden. Das ist Eis, einfach Eis.«

Mir wurde klar, dass sie Recht hatten. Und trotzdem war mir eigenartig zumute.

»Ich musste bislang sechs Mal in so einer landen«, erläuterte Stasj. »Zweimal im Training und viermal während einer Mission. Einmal davon auf einem kämpfenden Planeten.«

»Werden wir denn nicht erfrieren in ihr?«, wollte ich wissen.

Die Phagen begannen zu lachen.

»Ich werde euch eine Decke geben«, versprach Tien. »Ihr werdet nicht erfrieren, na… vielleicht bekommt ihr einen Schnupfen.«

»Dann geben Sie mir auch noch ein Taschentuch«, bat ich.

Wir verabschiedeten uns von Stasj. Er umarmte uns kräftig, strich Lion über den Kopf und zwinkerte mir zu, wobei er mit den Augen auf die Schlange wies. Dann setzte er sich in sein eigenartiges und nicht im mindesten heldenhaftes Auto.

»Kommt, Jungs!«, sagte Sjan Tien. »Der Flug dauert fünf Tage, wir schaffen es noch, uns miteinander bekannt zu machen. Es gibt keinen Grund, den Start hinauszuzögern.«

Загрузка...