Vierter Teil Klone und Tyrannen

Kapitel 1

Hatte ich mir bisher wirklich eingebildet, dass ganz Agrabad nur aus Gärten und Palästen bestehen würde?

Tja, es schien ganz so. Seit dieser ersten Nacht, in der ich in der Hauptstadt war. Als ich hinter Stasj’ Rücken saß, den bewusstlosen Lion festhielt und dabei auf riesige Gebiete mit Wohnhäusern, von Gärten umgebene komfortable Bungalows, festliche Fensterbilder, breite Hauptstraßen und die Schaufenster der Geschäfte schaute.

Agrabad war völlig anders. Hinter den wirklich schönen neuen Stadtteilen standen noch die ersten Häuser der Siedlerpioniere — primitiv, verfallen, an die Erde gedrückt, aber stabil. Auch dort wohnten noch Menschen. Ebenfalls Hirnamputierte. Es war hier genauso wie im neuen Teil von Agrabad und trotzdem anders, wie von Staub bedeckt. Inna Snow wurde hier auch auf völlig andere Art und Weise geehrt — irgendwie grober, mit einem Schnalzen der Zunge und einem Zwinkern, als ob es sich um eine skandalumwitterte populäre Sängerin, nicht jedoch um die »Übermutter« und »Frau Präsidentin« handeln würde.

Genau hier wohnten wir jetzt.

In einem Heim für verhaltensgestörte Kinder namens ›Spross‹.

Natascha hatte alles hervorragend bedacht. Es wäre schwieriger gewesen, sich im Wald zu verstecken. Auf der Straße hätten wir nicht leben können. Eine Einrichtung dagegen — nur nicht die, wohin wir geschickt worden waren, sondern eine völlig andere — erwies sich als ideale Lösung.

Bei diesem Heim handelte es sich um eine lange zweistöckige Baracke, die ganz isoliert stand. Ringsherum dehnte sich ebenfalls ein Garten, aber nicht so gepflegt wie im Pelach, sondern alt und vernachlässigt. Die Schlafzimmer waren für zehn bis zwölf Personen. Insgesamt lebten in diesem Heim ungefähr achtzig Menschen. Wir erledigten fast alles selber, es gab nur sieben Erwachsene: drei Erzieher, einen Koch, einen Arzt, einen Psychologen und einen Wächter.

Mehr als die Hälfte der Heimbewohner waren nicht hirnamputiert. Nicht etwa, dass auf sie die Waffe des Inej nicht eingewirkt hätte, es war nur so, dass diese Jungs und Mädchen anfangs die Trickfilme über den Erfinder Edikjan und den General Ichin, danach »Die fröhliche Familie« und »Anton und seine Mädchen« nicht geschaut hatten. Und die auf dem Inej produzierten schulischen Lernprogramme hatten sie ebenfalls nicht konsumiert. Deshalb fand sich nirgendwo in ihrem Gehirn ein Programm — obwohl ihre Neuroshunts um einiges besser waren als mein alter Kreativ.

Mir schien jedoch, dass es bei ihnen keinen Unterschied machte, ob sie hirnamputiert waren oder nicht.

Die Hirnamputierten herauszufinden war einfach. Sie lobten Inna Snow viel öfter und mit einem Glanz in den Augen, außerdem bemühten sie sich nach Kräften, etwas zu lernen. Die Normalen lobten Inej und seine Präsidentin natürlich auch. Sie saßen ebenfalls in den Unterrichtsstunden vor ihren Computern und versuchten, irgendwie die Tests zu bestehen, um auf das nächste Lernniveau übergehen zu können. Anfangs schien mir, dass sie krank und debil waren, dass sie versehentlich in ihrer Kindheit nicht behandelt und geheilt worden waren. Danach wurde mir klar, dass dies nicht der Grund war. Einige wollten ganz einfach nicht lernen. Andere wiederum wollten, aber durchaus nicht das, was man so in der Schule lernt.

Lion und ich kamen mit falschen Dokumenten in das Heim. Ich hieß jetzt Kirill, Lion hieß Rustem. Den Dokumenten zufolge waren unsere Eltern Fischer von irgendwelchen tropischen Inseln, uns wurden »soziale Verwahrlosung, Ideenlosigkeit und fehlende moralische Adaptation« bescheinigt. Letzteres klang sehr beleidigend, fanden wir.

Natascha blieb Natascha. Nur, dass sie jetzt als meine Schwester galt. Es gab wenige Mädchen im ›Spross‹, weniger als ein Dutzend.

Obwohl wir als asoziale, gefährliche Jugendliche galten, gab es weder einen strengen Tagesablauf noch eine Überwachung für uns. Zuerst sprach ein junger Psychologe mit uns, ein äußerst langweiliger und müder Mann, der alles sofort erläuterte. »Ihr seid erfolglose Mitglieder der Gesellschaft«, sagte er. »Ihr habt alle notwendigen Fähigkeiten für ein vollkommenes und glückliches Leben. Durch euer Verhalten stellt ihr euch außerhalb der Gesellschaft. Der Gesellschaft ist das egal. Niemand wird sich darum bemühen, euch auf das Niveau eines durchschnittlichen Bewohners zu heben. Letztendlich wird immer jemand gebraucht, der den Müll wegräumt, die Kanalisation reinigt und als Versuchsperson für neue Medikamente dient. Aber ausgehend von Gedanken der Humanität bekommt ihr alle noch eine Chance, euch zu vollwertigen Menschen zu entwickeln. Lernt, dann kommt ihr vielleicht an eine bessere Schule. Vielleicht wollen euch eure Eltern sogar wieder zu sich holen…«

Wir versprachen ihm natürlich, uns anzustrengen. Er lobte uns dafür, glaubte jedoch kein Wort.

Im ›Spross‹ versuchte niemand, uns eine »Begrüßung« zu organisieren, obwohl sich einige der Jungs sichtlich gerne prügelten. Es stellte sich aber heraus, dass die Hirnamputierten eine Schlägerei schon für etwas Unrichtiges, etwas Ungutes hielten. Im privilegierten College Pelach war das anders. Dort galt eine Schlägerei mit Neuankömmlingen als Norm, wie im Film. Wenn jedoch hier normale Rowdys eine Schlägerei anfingen, warfen sich alle Hirnamputierten gemeinsam auf sie. Mit glasigen Augen und einer derartigen Wut, als ob sie bereit wären, sich auf Leben und Tod zu schlagen.

Vielleicht waren sie auch wirklich dazu bereit.

Dafür gab es eine Menge Gemeinheiten, bei denen die Hirnamputierten nicht wussten, wie sie reagieren sollten. Zum Beispiel konnte man ein Spiel verlieren und deshalb für eine bestimmte Zeit der Diener des Gewinners werden. Die Diener hatten jeden beliebigen Wunsch ihres Herrn auszuführen: Einige liebten es, zum Beispiel, dass ihnen vor dem Schlaf die Fußsohlen gekitzelt oder interessante Geschichten erzählt wurden. Fast alle jüngeren und schwächeren Kinder waren Diener. Die Hirnamputierten selbst hatten keine Diener, mischten sich aber bei den anderen nicht ein.

Uns versuchte man ebenfalls damit zu kommen. »Kommt, wir spielen…«

Aber Natascha hatte uns vorgewarnt, was im Heim abging, und wir lehnten ab. Niemand beharrte auf diesem Wunsch — wir waren zu zweit, und uns war klar, dass die Hirnamputierten bei einer Schlägerei auf unserer Seite stehen würden.

Also lernten wir, genauer, wir taten so, als ob wir lernen würden, denn alle Lernprogramme hier waren viel zu leicht, und versuchten uns von allem fernzuhalten. Wir wollten nicht auffallen. Wir warteten. Wir hatten einen ein- bis zweiwöchigen Aufenthalt im ›Spross‹ eingeplant, um danach woandershin zu gehen. Natascha meinte, dass es für uns das Beste wäre, in eine andere Stadt zu gehen.

Der Aufenthalt hier war unproblematisch, obwohl das Essen nicht besonders war und wir uns langweilten. Dafür kümmerte sich niemand um uns. Die Erzieher verteilten Aufgaben und nahmen die Resultate der Tests entgegen, der Wächter schritt manchmal faul durch das Gelände, meistens saß er in seinem Zimmerchen oder war in der Turnhalle. Der Psychologe kam überhaupt nicht aus seinem Kabinett heraus, schaute sich dort irgendwelche virtuellen Serien über den Shunt an, und wenn sich jemand an ihn wandte, schien er so unglücklich, als ob er dazu gezwungen wäre, im Steinbruch zu arbeiten.

Nur dass es hier so furchtbar langweilig war…

Am Abend des dritten Tages wäre ich vor Langeweile am liebsten die Wände hochgegangen. Lion ging in die Turnhalle, um etwas an den Fitnessgeräten zu machen, und ich saß im Klassenraum und spielte Tetris. Ich hätte lieber Schach oder etwas Anspruchsvolleres gespielt, aber vielleicht wurden die Computer kontrolliert? Dann hätte ich verraten, dass ich gar kein so großer Dummkopf bin, wie ich es eigentlich sein müsste. Tetris dagegen erfordert lediglich Konzentration und dreidimensionales Denken, Tetris kann man auch gut spielen, wenn im Kopf völlige Leere herrscht.

Der Klassenraum war für zwanzig Schüler groß. Die Wände waren mit Graffiti beschmiert, aber darauf achtete hier niemand. An der Decke leuchteten billige »Sonnenlampen«, die ganz wie die Erdsonne scheinen und deshalb die Stimmung aufhellen sollten. Aber wenn draußen dunkle Nacht war, machten diese Lampen nur noch depressiver. Besonders, wenn im Klassenraum niemand weiter war.

Lediglich am Nachbartisch saß Herbert vor seinem Computer, ein dicker und sommersprossiger Junge, ein oder zwei Jahre älter als ich.

Herbert gehörte zu den Hirnamputierten und war bestrebt, so gut wie nur möglich zu lernen. Aber durch diesen Eifer wurde es für ihn nur noch schlechter — er hätte mit den einfachsten Aufgaben beginnen müssen, versuchte jedoch das, was seinem Alter entsprach. Ich schaute kurz auf seinen Bildschirm und bemerkte, dass er durchaus nicht dumm war. Er war nur niemals richtig zur Schule gegangen. Sein Vater war ein Trapper, der seltene und teure Tiere in der Wildnis fing. Herbert hätte am besten bei seinem Vater bleiben sollen, wozu brauchte er denn Trigonometrie und Physik? Aber als Herbert nach der Invasion wieder aufwachte, strebte er selbst in die Schule. So versuchte er gerade, die Funktionsweise eines Kernreaktors zu verstehen, obwohl er eine Kernspaltung nicht von einer Kernfusion unterscheiden konnte.

Mein Bildschirm war mittlerweile mit Tetrisbausteinen zugepflastert und ich schaute wieder zu Herbert. Er baute jetzt ein neues Reaktormodell zusammen, gab Spannung auf den magnetischen Käfig und tippte auf »Start«. Der Reaktor auf demBildschirmexplodierte,etlicheMetallteile, Wissenschaftler mit herausquellenden Augen, Kabeltrommeln und Neutrinos flogen in alle Richtungen. Herbert seufzte tief und schaute traurig auf die Katastrophe.

»Soll ich dir helfen?«, konnte ich mich nicht zurückhalten.

Herbert nickte. Die Hirnamputierten bemühten sich in der Regel, einander zu helfen, und akzeptierten ihrerseits Hilfe.

»Du musst anders beginnen!« Ich setzte mich zu ihm und ließ den Kurs in Kernphysik zurücklaufen. Bei dieser Gelegenheit änderte ich unauffällig das Alter des Schülers auf acht bis zehn Jahre, damit es keine schwierigen Formeln, dafür aber umso mehr interessante historische Details gäbe.

»Hier. Fangen wir mit der Atombombe an?«

»Na los!«, stimmte Herbert zu.

»Das war vor langer Zeit, im Mittelalter«, begann ich, ohne auf den Bildschirm zu schauen. Ich hatte ein gutes, sehr interessantes Kinderbuch zur Geschichte der Atomphysik besessen. Diese Erzählung kannte ich auswendig: »Damals lebte die Menschheit nur auf dem Planeten Erde. Es gab verschiedene Länder, die einen gut, die anderen böse. Die bösen Länder — Russland, Deutschland und Japan — führten Krieg gegen die guten — die Vereinigten Staaten und Israel. Die Bösen bauten viele Militärflugzeuge und überfielen die Flotte der Guten — nicht die kosmische, natürlich, sondern die Seekriegsflotte. Und es begann ein langer Krieg.«

Auf dem Bildschirm begann ein Film. Leise und nachdrücklich sprach eine Stimme:

»Im Lande namens Vereinigte Staaten wohnte der Junge Albert oder einfach — Alka. Er war ein sehr intelligentes Kind und lernte gern, besonders interessierte er sich für Kernphysik.

Eines Tages kam ein schnelles Flugzeug in die Stadt, in der Alka lebte. Ein tapferer Pilot stieg aus und rief: ›Ein Unglück ist geschehen, wir wurden überrascht. Feinde kamen zu uns von den salzigen Meeren, aus kalten Ländern. Kugeln pfeifen, Granaten explodieren. Wir kämpfen Tag und Nacht gegen die Feinde. Wir sind viele, aber sie sind mehr. Bürger, jetzt ist keine Zeit zum Ruhen!‹

Daraufhin küsste der Vater Alka, setzte sich ins Flugzeug und zog in den Krieg.

Jeden Abend kletterte Alka aufs Dach und schaute: Kommt vielleicht das Flugzeug des Vaters zurück? Nein, nichts war zu sehen… So verging ein Tag, so verstrich ein Jahr. Und wiederum erschien am Horizont ein schnelles Flugzeug, die Tragflächen von Kugeln durchschlagen und die Verglasung des Cockpits gesprungen. Aus dem Flugzeug stieg ein Pilot, abgemagert und müde, mit verbundener Stirn, Händen voller Maschinenöl und rief: ›He, erhebt euch! Zuerst traf uns ein kleines Unglück, jetzt ist es ein großes! Der Feinde gibt es viele, wir aber sind wenige. Kugeln pfeifen, Granaten explodieren. Kommt zu Hilfe!‹ Da umarmte der ältere Bruder Alka zum Abschied, setzte sich ins Flugzeug und flog in den Krieg.

Jeden Abend kletterte Alka aufs Dach und hielt Ausschau: Kommen vielleicht Vater und Bruder zurück? Nein, nichts war zu sehen… Tagsüber lernte Alka besser als vorher und dachte stets: Mit welcher Waffe könnte man den Feind nur besiegen?

Da kam bei Sonnenuntergang wieder ein schnelles Flugzeug: eine Tragfläche war fast abgerissen, die Propeller verbogen, der Rumpf voller Löcher von Granateinschlägen. Aus dem Flugzeug kroch der Pilot und stürzte auf die Erde. Er kam zu sich und sagte: ›Erhebt euch, wer sich noch nicht erhoben hat! Wir haben niemanden mehr für den Kampf. Der Feinde sind viele, von den Unsrigen ist niemand übrig geblieben! Kommt zu Hilfe!‹

Ein alter Opa näherte sich dem Piloten. Er wollte ins Flugzeug steigen, aber seine Beine gaben nach. Er versuchte sich hinter den Steuerknüppel zu setzen, aber seine Hände konnten ihn nicht halten. Er wollte zum Zielgerät, aber seine Augen waren nicht mehr die besten. Da weinte der Alte vor Kummer.

Nun trat Alka nach vorn und sagte:

›Nein, der Feind kann nicht durch Masse besiegt werden, er muss durch Klugheit besiegt werden! Ich habe das wichtigste Kriegsgeheimnis entdeckt — wie es zu schaffen ist, dass alle Feinde auf einmal vernichtet werden!‹

Dann zeigte er dem Piloten ein Stück Papier. Auf diesem stand die Formel: E = mc2.

Daraufhin wurde fieberhaft gearbeitet und die Menschen stellten die zwei ersten Atombomben her. Der Pilot lud sie vorsichtig in sein Flugzeug und flog in den Krieg. Als er die zwei größten feindlichen Stützpunkte erblickte — Hiroshima und Nagasaki -, flog er weit nach oben und warf die Bomben auf sie.

Die Erde fing an zu brennen, der Rauch sammelte sich in einer Wolke. Alle feindlichen Flugzeuge fielen vom Himmel, alle ihr Schiffe gingen unter. Die Feinde erschraken und baten um Gnade.

Endlich kamen Alkas Vater und Bruder aus der Gefangenschaft zurück. Und sie lebten besser als zuvor!«

»Das war interessant«, meinte Herbert. »Aber mir wurde es anders gezeigt…«

»Glaubst du, dass es nicht stimmt?«, fragte ich.

»Nein, da wurde auch gesagt, dass Albert die Bombe entwickelt hat. Aber auf eine sehr langweilige Art.«

»Es ist überflüssig, sich etwas Langweiliges anzusehen«, erwiderte ich. Ehrlich gesagt war es mir sehr angenehm, dass ich einem Jungen, der älter war als ich, so gut helfen konnte. Auch wenn er hirnamputiert war…

»Komm, wir sehen uns an, wie die erste Bombe gemacht wurde…«

Ich half Herbert fast eine Stunde, sich in die Grundlagen der Kernphysik einzuarbeiten. Es tat mir überhaupt nicht leid um die aufgewendete Zeit. Herbert ist ja nicht schuld an seinen Problemen.

Die Atombombe war natürlich eine fürchterliche Waffe. AberdasmächtigsteKriegsgeheimnishatteder Wissenschaftler Albert nicht entdeckt. Noch viel schlimmer war jene Waffe, welche die Feinde nicht tötet, sondern sie einer Gehirnwäsche unterzieht und in Verbündete verwandelt. Welche sie dazu bringt, zu vergessen, was passiert und wie es auf der Welt wirklich zugeht, sie dazu zwingt, eine beliebige Lüge zu glauben. Auf eine derartige Waffe war früher niemand gekommen.

»Kommst du jetzt allein klar?«, wollte ich von Herbert wissen.

»Ja. Danke!«

Ich kehrte auf meinen Platz zurück. Sollte er ruhig lernen. Jetzt bekam er einfachere Erklärungen, mit denen er zurechtkommen würde. Ich startete ein neues Tetrisspiel und nahm mir vor, dieses Mal meinen persönlichen Rekord zu brechen. Es kam nicht dazu — die Tür öffnete sich und Natascha schaute in den Klassenraum.

»Grüß dich, Kirill«, rief sie und sah abschätzig zu Herbert. Natascha mochte die Hirnamputierten nicht. »Hast du etwas zu tun?«

»Nein.« Ich klappte schnell meinen Laptop zu. Nataschas Stimme schien so… viel versprechend. So, als ob sie etwas Gutes erfahren hätte.

»Na dann, komm mit!«, erwiderte Natascha und verschwand im Korridor.

»Ich habe versprochen, ihr auch zu helfen… in Mathematik«, flunkerte ich Herbert vor.

»In Ordnung. Auf Wiedersehen!« Herbert rieb sich die Stirn und schaute angestrengt auf den Bildschirm. Warum hatte ich nur gelogen? Ihm war doch egal, ob ich mit Natascha Mathematik lernte oder mit ihr in einer dunklen Ecke herumknutschte.

Also, das mit dem Herumknutschen spukte nur in meiner Phantasie herum. Erstens schien Natascha vergessen zu haben, dass wir uns in den Bergen geküsst hatten. Zweitens stand sie nicht allein im Korridor, sondern mit einem Mädchen ihres Alters.

»Elli«, stellte Natascha das Mädchen vor. Ich kannte sie nicht. Sie kam sicherlich jemanden besuchen. Das gab es zwar nicht oft, kam aber vor.

»Kirill«, nannte ich meinen Namen. Der fremde Name gefiel mir nicht, aber das war nicht zu ändern.

Elli hatte rote Haare, war dünn und lächelte ständig. Sie war sympathisch, nur dass ihre Augen sehr frech und schadenfroh blitzten. Sie trug Hosen und Pullover wie Natascha. Elli gab mir zur Begrüßung die Hand und fragte Natascha:

»Wohin?«

»In den Garten«, schlug Natascha vor.

Es sah ganz so aus, als ob wir über etwas Geheimes reden würden.

WederNataschasDetektorarmbandnochmein Schlangenschwert hatten im Heim Überwachungsanlagen gefunden. Trotzdem bemühten wir uns, alle wichtigen Gespräche draußen zu führen.

Wir gingen durch den Korridor zum Ausgang. Der Wächter saß in seinem Kämmerchen, nackt bis zur Gürtellinie, ließ seine Muskeln spielen und schaute sich bewundernd an. Uns warf er kurz zu: »Draußen regnet es, nehmt einen Schirm!«

Die Schirme in einem Schränkchen an der Tür waren für alle. Ich nahm einen großen Familienschirm mit anderthalb Metern Durchmesser, schob den Reifen über meinen Kopf, setzte ihn auf und zog die Antenne höher. Die Akkus waren fast leer, aber wir wollten uns ja nicht lange draußen aufhalten.

Es regnete wirklich. Der Regen fiel leise, fast lautlos. Der Schirm schaltete sich ein und über meinem Kopf klopften die Regentropfen an ein unsichtbares Hindernis, wobei sie eine Kuppel nachzeichneten. Die Mädchen drängten sich sofort an meine Seite und hakten sich unter. Ich störte mich nicht daran. Ich stand da und schaute in den von Wolken bedeckten Nachthimmel, aus dem der Regen fiel.

Eigentlich war es warm. Aber dieser feine Nieselregen brachte eine ungewohnte Kälte mit sich. Ein komischer Regen.

»Der Herbst beginnt«, sagte Natascha leise. »Der Herbstregen…«

Stimmt! Das war es also! Das war ja mein erster richtiger Herbst! Auf Karijer wechselten die Jahreszeiten fast unmerklich, auf Neu-Kuweit landete ich im Sommer und auf dem Avalon im Winter.

Und jetzt begann auf Neu-Kuweit der Herbst.

»Schneit es hier?«, erkundigte ich mich.

»Nein, wohl kaum«, erwiderte Natascha.

»Hier ist ein anderes Klima, der Winter ist regnerisch und kühl. Etwas über null Grad. Das ist gut, unsere Leute in den Bergen haben es auch so schon schwer.«

Erschreckt sah ich zu Elli.

»Sie gehört zu uns, zum Widerstand«, beruhigte mich Natascha.

»Hm.« Elli lächelte. »Du bist doch Tikkirej, stimmt’s?«

»Ja.«

»Und ich bin wirklich Elli.«

Wir gingen weiter in den Garten hinaus, bis wir zu einem schiefen Holzpavillon kamen. Daneben leuchtete matt eine Laterne, und es war gut zu übersehen, dass niemand in der Nähe war.

»Hier ist der passende Platz für ein Gespräch«, entschied Elli. Sie gab sich sehr selbstbewusst, als ob sie die Hauptperson wäre.

Wir gingen in den Pavillon und setzten uns auf eine Bank. Der Schirm analysierte die Situation und schaltete sich aus. Dabei überschüttete er uns mit Wassertropfen. Elli lachte.

»Blöde Technik«, meinte ich.

»Jede Technik ist blöd«, stimmte Elli zu. »Ist bei euch alles in Ordnung, Tikkirej?«

»Ja. Und wer bist du?«

»Ich komme vom Avalon.«

»Beweise es!«, forderte ich. Nicht, dass ich es nicht glaubte, mir missfiel jedoch, das sie so herumkommandierte.

»Einen schönen Gruß von Ramon.«

Ich nickte. Wirklich, sie kann ja wohl kaum Dokumente bei sich führen.

»Alles klar. Wie geht es Tien?«

»Tien? Gut. Berichte von Anfang an, Tikkirej!«

Mir gefiel dieses Wort nicht. »Berichte« … Ein Mädchen, ein »Gepäckstück«, aber rumkommandieren…

»Wir sind wie vorgesehen gelandet. Die Kapsel ist getaut, alles wie geplant. Wir entschlossen uns, im See zu baden, dort haben uns die ›Schrecklichen‹ gefangen genommen.«

Natascha lächelte stolz.

»Wir verbrachten einen Tag bei ihnen«, fuhr ich fort. »Aber Natascha kann das besser erzählen!«

»Vorerst berichtest du!«, verfügte Elli.

»Dann brachte uns Natascha mit einem Jetski nach Mendel. Wir hielten ein Auto an und wurden zum Motel mitgenommen. So kamen wir zu Lions Eltern… Und die schickten uns am nächsten Tag in das College Pelach. Ich hatte mich schon gewundert über diese Wohltätigkeit, dort war alles vom Feinsten…«

»Das ist bekannt. Weiter!«

»Am Abend schlich sich Natascha ins College. Sie berichtete, dass sich das Ministerium für Verhaltenskultur für uns interessierte. Am Morgen sind wir dann abgehauen und Natascha hat uns hierhergeführt. Und so verstecken wir uns hier schon den vierten Tag.«

Elli nickte.

»Alles klar. Konntet ihr irgendetwas Wichtiges erfahren?«

»Na ja…« Ich wand mich. »Uns kommt es so vor, als ob Inej das Imperium provozieren würde. Wenn die Armee zuschlägt, dann hofft Inej auf die Hilfe der Fremden. Sicher gibt es eine geheime Übereinkunft, mit den Halflingen zum Beispiel.«

»Ich verstehe.« Elli dachte nach. »Wahrscheinlich kommt der Imperator auch von selbst darauf. Aber hat er etwa eine andere Wahl?«

»Ich weiß nicht«, nuschelte ich. Irgendwie gefiel mir Elli gar nicht mehr.

»Ich weiß auch nicht.« Elli erhob sich und trommelte mit ihren Fingern an den Pfeiler des Pavillons. Ganz wie eine erwachsene seriöse Frau und gar nicht mädchenhaft. »Die Zeit arbeitet für Inej. Die Bevölkerung schließt sich zusammen, sogar diejenigen, die ohne Kodierung geblieben sind. Es werden neue Raumschiffe gebaut. Und im Imperium tauchen nach und nach neue Kodierte auf.«

»Wie das denn?«, wunderte ich mich. »Bei allen sind doch die Radioshunts ausgeschaltet!«

»Viele nutzen die Shunts trotzdem. Um sich Fernsehserien anzuschauen oder für die Arbeit. Und das initiierende Signal kann auch über das normale Netz gegeben werden, man muss lediglich in das Netz eindringen.«

Ich verstand. Und wirklich, wenn Inej auch jetzt nicht in der Lage war, die Planeten im Handstreich zu erobern, nach und nach wäre das durchaus möglich: Ein einziger Agent könnte auf den Planeten eindringen, ein beliebiges Informationsnetz anzapfen und darüber das Codesignal senden… Und schon hätten wir Hunderte und Tausende Hirnamputierte.

»Das ist ungünstig«, äußerte ich. Ich fühlte mich hilflos und unwohl. »Und was wird nun der Imperator machen?«

»Auch ich denke darüber nach, was er machen wird.« Sie seufzte. »Aber gut. Wir sollten uns besser unserer Aufgabe zuwenden.«

»Tja, wir sind bereit…«, begann ich unsicher. »Zu allem, was befohlen wird. Sollen wir vielleicht zu den Partisanen gehen?«

»Das glaube ich nicht.« Elli musterte mich. »Hast du eine Waffe?«

»Eine Peitsche«, bekannte ich.

»Oho!« Elli war sichtlich erstaunt. »Das wusste ich nicht. Eine Peitsche dürfen doch nur Phagen besitzen?«

»Ja, aber ich habe den Status eines Helfers. Und die Peitsche… ist eigentlich ausgemustert. Damit kann man nicht besonders kämpfen.«

»Aber ein, zwei Leute kann man töten?«

Sie sagte das so beiläufig, dass mir unbehaglich wurde.

»Ja. Das geht.«

»Gut. Für euch drei gibt es eine Aufgabe. Gestern landete auf dem Planeten inkognito ein Alexander Bermann, ein Oligarch vom Edem. Bermann-Fond, Bermann-Werften. Habt ihr schon einmal davon gehört?«

Ich hatte noch nie davon gehört, nickte aber sicherheitshalber.

»Bermann«, fuhr Elli fort, »traf eine geheime Abmachung mit Inna Snow. Gegenwärtig stellen seine Werften eine Flotte von Kriegsschiffen für Inej fertig. In allen Unterlagen erscheinen diese Schiffe als Handelsflotte für Avalon. Aber einer der Werftarbeiter, ein früherer Armeeoffizier, fand heraus, dass Raumschiffe mit möglicher Doppelnutzung gebaut werden, die nur noch bewaffnet werden müssen. Er kontaktierte die Phagen… Irgendwelche alten Kontakte. Der Verrat wurde im allerletzten Moment entlarvt, und der Imperator unterschrieb einen geheimen Befehl und verhängte das Todesurteil über Alexander Bermann. Könnt ihr folgen?«

»Und das sollen wir machen?«, fragte ich sicherheitshalber.

»Ja. Ihr sollt Alexander Bermann und dessen Tochter töten.«

»Und wieso die Tochter?«, äußerte ich mein Unverständnis.

»Sie ist die einzige Erbin Bermanns. Wenn sie stirbt, gehen die Werften und das gesamte Vermögen an das Imperium. Mehr noch. Sie ist unsere Altersgenossin, erst dreizehn Jahre alt. Bermann hat eine äußerst seltene Operation durchführen lassen… In das Bewusstsein der Tochter wurden einzelne Fragmente seiner eigenen Persönlichkeit implantiert. Geschäftliche Qualitäten, die Art und Weise, eine Firma zu führen, grundlegende Lebensanschauungen. Kurz und gut — wenn die Tochter am Leben bleibt, wird sich nichts ändern.«

»Und wo ist sie?«, fragte Natascha.

»Mit Bermann zusammen.«

»Und der Grund für den Verrat?«, erkundigte ich mich. »Gehört er zu den Hirnamputierten?«

»Nein.« Elli verzog das Gesicht, als ob das Wort »Hirnamputierter« ihr Schmerzen bereiten würde. »Bermann erkannte früher als andere die Situation auf Inej. Snow war gezwungen,mitihmbereitsvorzehnJahren zusammenzuarbeiten, um den Bau einer Kriegsflotte zu ermöglichen. Nachdem er alle möglichen Varianten durchgespielt hatte, kam Bermann zu der Überzeugung, dass Inej siegen würde. Mehr noch — er war überzeugt von den Ideen des Inej. Er beschloss, das Imperium zu verraten, im Tausch gegen den Posten eines Statthalters auf Edem, eine Teilautonomie und die Möglichkeit, die psychotropen Programme des Inej zu blockieren.«

»Also kann man sich vor ihnen verschließen?«

»Ja, das ist möglich.«

»Und geheilt werden?«

»Das geht auch. Der Mensch behält ein verändertes Bewusstsein, kann aber wieder seine Meinung wechseln.«

Das war eine gute Nachricht. Das heißt, dass man alle Bewohner von Neu-Kuweit und den anderen Planeten der Föderation des Inej würde retten können. Auch Lions Eltern. Das würde ihn freuen.

»Ihr müsst Bermann töten«, wiederholte Elli. Ich fühlte mich wie mit kalten Wasser übergossen.

»Elli, wir sind doch keine Phagen«, gab ich zu bedenken. »Wie kommen wir an diesen Bermann heran? Wenn er wirklich ein Millionär ist…«

»Er ist Milliardär.«

»Desto mehr!«

»Ihr müsst«, antwortete Elli einfach.

Natascha blickte mich enttäuscht an, als ob sie erwartete, dass ich sagen würde: »Das ist für uns ein Kinderspiel!« Aber das dachte ich ganz und gar nicht. Und außerdem wollte ich nicht töten! Nicht einmal einen Verräter! Ich hatte noch niemals jemanden getötet!

»Elli, wir haben die Aufgabe, hier zu leben und zu beobachten! Wir sind für einen Kampf nicht ausgebildet!«, wandte ich schnell ein. Sollte sie denken, was sie wollte. Sollte sie mich ruhig für einen Feigling halten!

»Tikkirej, ich überbringe dir einen Befehl«, erwiderte Elli kalt. »Du kannst natürlich ablehnen. Stasj hat sich für dich verbürgt, und wenn du ablehnst, wird lediglich er Probleme bekommen.«

»Große?«, erkundigte ich mich, um wenigstens etwas zu sagen.

»Sie werden ihn in den Ruhestand versetzen. Ein Phag ohne Arbeit ist ein trauriger Anblick, Tikkirej. Er wird natürlich eine Rente, Wohnraum, alle möglichen Privilegien und irgendeine Auszeichnung bekommen. Aber die Phagen können nicht ohne Arbeit herumsitzen. Das widerspricht ihrer Lebenseinstellung. Gewöhnlich sterben sie sehr schnell.«

Ich befand mich in einer Sackgasse. Nein, nicht in einer Sackgasse… Eine Sackgasse hat nur einen Ausgang.

Und da wurde mir klar, wie sich meine Eltern gefühlt haben mussten, bevor sie ihr Sterberecht wahrnahmen. Dieses Mal verstand ich es wirklich. Das war keine Sackgasse. Das war eher ein Korridor. Man konnte entweder vorwärts oder rückwärts gehen. In eine Richtung fiel es sehr schwer. Und in die andere war es einfach widerlich. Aber dermaßen widerlich, dass es immer noch besser war, den schlimmeren Weg zu gehen.

»Aber wir können das doch gar nicht«, meinte ich. »Elli, wir sind nur zwei Jungen und ein Mädchen. Wir können nicht richtig kämpfen, sogar Natascha kann es nicht richtig. Und eine wirkliche Waffe besitzen wir auch nicht. Und dieser Bermann wird mindestens wie Inna Snow selbst bewacht werden. Wir werden alles versauen.«

»Ich helfe euch«, tröstete Elli. »An Bermann kommt ihr heran. Die Frage ist nur, ob ihr einverstanden seid.«

Ich schwieg. Natascha schaute mich fragend an. Sie war einverstanden, das war klar. Sie musste ja bereits kämpfen.

»Und?« Elli erhob sich und stützte ihre Hände in die Hüften. »Entscheide dich!«

»Wir sind einverstanden«, entschied ich. »Das heißt, ich bin einverstanden. Lion muss noch gefragt werden. Aber wie…«

»Alexander Bermann befindet sich inkognito auf dem Planeten«, schnitt mir Elli das Wort ab. »Deshalb gibt es keine vollständige Bewachung. Bermann wohnt als Gast in einer Vorortvilla der Regierung, umgeben von elektronischen Alarmanlagen. Die werden abgeschaltet sein. Der Patrouilleplan der Wachen wird euch ebenfalls vorliegen. Die Bewachung innerhalb der Villa ist unbedeutend — drei Mann. Zur gegebenen Zeit werden sie unter diesen oder jenen Vorwänden aus dem Wohnbereich des Gebäudes entfernt. Ihr müsst lediglich mit Alexander und Alexandra Bermann fertig werden. Und sie sind ganz und gar keine Kämpfertypen.«

»Wir schaffen das schon«, bekräftigte Natascha. »Elli, es geht alles in Ordnung. Tikkirej möchte nur kein Risiko eingehen, denn das ist eine sehr wichtige Aufgabe. Aber wir werden sie erfüllen.«

»Wir werden sie erfüllen«, bestätigte ich.

»Gut.« Elli sah mich zweifelnd an, schien aber ihre Einwände zurückzudrängen. »Natascha, wir treffen uns morgen früh. Ich teile dann die Einzelheiten mit.«

Sie drückte mir die Hand wie ein Junge, küsste Natascha auf die Wange und verließ den Pavillon. Der Regen fiel nach wie vor in kleinen Tropfen, als ob im Himmel ein engmaschiges Sieb geschwenkt würde.

»Soll ich dich bringen?«, fragte ich und stand auf. Eigentlich hatte ich keine Lust, Elli zu begleiten.

»Nicht nötig, ich bin nicht aus Zucker.« Elli lachte auf, schritt in die Dunkelheit und verschwand nach einigen Schritten. Sie war nicht mehr zu sehen und zu hören, als ob sie sich in Luft aufgelöst hätte.

»Ist sie ein Phag?«, fragte Natascha leise.

»Was? Nein… Eigentlich gibt es unter den Phagen keine Mädchen… Aber wie, du kennst sie gar nicht?«

»Ich war am Tag in der Stadt, um unseren Mann von der Anlegestelle anzurufen. Ich wollte wissen, ob es vielleicht Neuigkeiten von Opa gab. Er sagte mir, dass mich eine Freundin treffen wolle, die vor einem Jahr meine Nachbarin war. Also auf dem Avalon. Das deutete er zumindest an…«

»Und sie ist auch vom Avalon?«

»Hm. Sie sagte mir, dass sie heimlich hergebracht wurde. Sicher ist irgendetwas in Vorbereitung.«

Mir schien, dass Natascha Recht hatte. Das Imperium konnte nicht länger zögern. Der Krieg stand vor der Tür. Und das bedeutete, dass jeder auf seinem Platz kämpfen musste.

Wenn wir den Verräter liquidieren würden (»liquidieren« geht viel leichter über die Lippen als »töten«), dann wäre das ein ziemlich schwerer Schlag gegen Inej. So, als ob wir mit einem Mal Dutzende Kriegsschiffe zerstört hätten!

Denn diese Schiffe könnten Avalon, Edem, Erde und Karijer überfallen…

»Tikkirej, gefällt dir irgendetwas nicht?«, wollte Natascha wissen.

Wir saßen jetzt ganz dicht beieinander und unterhielten uns flüsternd. Daher war uns… war uns ganz eigenartig zumute, als ob wir nicht über den Krieg, sondern über Geheimnisse sprechen würden.

»Ja. Sie hat mich zu meinem Einverständnis gezwungen. Verstehst du das? Nicht ich habe die Entscheidung getroffen, sie hat für mich den Entschluss gefasst.«

»Sie ist doch deine Vorgesetzte.«

»Das glaubst du! Ich bin übrigens nicht in der Armee.«

»Ich denke, es geht um etwas ganz anderes.«

»Und um was?«

»Darum, dass sie ein Mädchen ist.«

Im Hellen wäre ich jetzt rot geworden. Aber wenn du weißt, dass dich sowieso niemand sieht, wird es nichts mit dem Erröten.

»Überhaupt nicht! Wenn schon ein Mädchen, dann hätte sie höflicher auftreten sollen.«

»Das ist sexistisch. Sag nur noch ›Gepäckstück‹ zu ihr!«, giftete Natascha.

»Es steht Mädchen nicht, zu kommandieren!«

»Und was steht ihnen außerdem nicht? Vielleicht sollten wir auch nicht kämpfen? Aber wir kämpfen wenigstens, während andere feige sind! Denk nur, sie können im Zeittunnel fliegen!«

Natascha rückte sogar von mir ab, obwohl wir uns vorher aneinandergepresst hatten, um uns zu wärmen. Ich hatte große Lust, ihr etwas Gemeines und Fieses zu entgegnen. Zum Beispiel, dass ihr ganzer Partisanenkrieg die Menschen nur erboste, dass sie es geschafft hatten, Schulen mit ihren Raketen zu zerbomben.

Ich sagte stattdessen etwas anderes:

»Natürlich können wir im Zeittunnel fliegen. Ich persönlich bin als Modul geflogen.«

»Oh!«, staunte Natascha. Und schwieg.

»Und überhaupt geht es nicht darum, dass sie ein Mädchen ist«, fuhr ich fort. »Wenn du kommandierst, werde ich nicht widersprechen. Denn du hast Kampferfahrung und ich noch nicht. Aber über Elli weiß ich gar nichts. Na gut, vielleicht wurde sie von den Phagen geschickt. Vielleicht ist sie eine wichtige Person. Aber warum muss sie dann solchen Druck ausüben?«

»Hat sie etwa Druck auf dich ausgeübt?«, wunderte sich Natascha.

»Sie sagte, dass man Stasj bestrafen würde. Und er ist mein Freund, mein bester Freund… nein, das ist es nicht. Das ist etwas anderes. Jedenfalls möchte ich nicht, dass er entlassen wird und stirbt. Lieber sterbe ich selber.«

»Aber dieser Stasj ist doch ein Erwachsener, oder? Das heißt doch, du musst dir um ihn keine Sorgen machen!«, erwiderte Natascha hitzig. »Er muss die richtige Entscheidung treffen, und wenn er sich geirrt hat, ist er selber schuld und verpflichtet, die Bestrafung hinzunehmen! Das ist doch allgemein bekannt. Erwachsene müssen sich um Kinder kümmern, sie schützen und die richtigen Entscheidungen treffen! Sie haben doch viel mehr Lebenserfahrung! Also hat alles seine Richtigkeit!«

Ich schaute auf Natascha und fand die Situation lustig. Als ich noch auf Karijer gelebt hatte, wäre ich fraglos ihrer Meinung gewesen. Es ist ja wahr, die gesamte Natur war so eingerichtet und der Mensch war ein Teil der Natur. Im Naturkundeunterricht hatten wir erfahren, wie sich eine Katze aufregt, wenn man ihr die Jungen wegnimmt. Uns wurde erklärt, dass es sich dabei um uralte nützliche Instinkte handelte, dass sich deshalb unsere Eltern um uns kümmern und alle Erwachsenen die Kinder schützen.

Nur dass dies nicht die ganze Wahrheit ist.

Wenn ein Mensch dein Freund ist, dann hast du ebenfalls die Verpflichtung, dich um ihn zu kümmern. Auch wenn er entschieden stärker und klüger ist als du. Sogar wenn er sich geirrt hat. Früher verstand ich das nicht. Vor langer Zeit. Vor drei Monaten. Auf Karijer, als meine Eltern sich für den Tod entschieden. Wir hätten alle zusammenbleiben und notfalls auch die Kuppel verlassen müssen. Zumindest wäre ich verpflichtet gewesen, das zu wollen, und hätte nicht den Eltern zustimmen dürfen.

Aber wie sollte ich das erklären?

»Stasj hat mich gerettet«, begann ich. »Obwohl er das gar nicht hätte tun sollen. Sag mir, wenn deinem Großvater ein Unglück zustieße, würdest du ihn retten?«

»Er ist doch mein Opa…«

»Na und? Dafür ist er alt und invalide. Du bist viel wertvoller für die Gesellschaft, warum solltest du wegen des Großvaters ein Risiko eingehen und dir Sorgen machen?«

»Aber ich mache mir keine Sorgen um ihn!«

»Ach! Aber heute Morgen hast du angerufen, um Neuigkeiten zu erfahren.«

Natascha verstummte. Dann sagte sie: »Aber das ist doch nicht richtig. Dass ich mir um Opa Sorgen mache und du dir um Stasj.«

»Weißt du, ich glaube, gerade das ist richtig«, erwiderte ich.

Natascha nahm meine Hand und meinte: »Du bist ziemlich eigenartig, Tikkirej. Sei nicht beleidigt. Manchmal scheint mir, dass du lediglich ein dummer und feiger Junge bist, der zufällig mit gefährlichen Dingen in Berührung gekommen ist. Und dann wieder denke ich, dass du im Gegenteil viel klüger und mutiger bist als wir alle zusammen.«

»Und was glaubst du jetzt?«, erkundigte ich mich neugierig.

»Dass uns kalt ist und wir uns erkälten werden!« Natascha sprang auf und zog mich von der Bank. »Komm! Lion denkt bestimmt schon sonst was!« Lionwundertesichübergarnichts.Im Gemeinschaftsschlafsaal konnten wir uns natürlich nicht unterhalten, deshalb weckte ich ihn in der Nacht und wir gingen zu den Sanitäranlagen. Das ist so eine Mischung aus Dusche und Toilette — ein riesiger Raum, in dem sich an einer Wand die Toilettenboxen, an der zweiten die Waschbecken und an der dritten die Duschköpfe aufreihten. Mir war unklar, warum alles zusammen installiert war, ganz wie auf einem alten Kriegsschiff. Frühmorgens gab es hier ein fürchterliches Gedränge.

Schnell überprüfte ich die Kabinen, niemand war hier. Wir gingen zum Fenster und ich berichtete Lion vom Besuch Ellis und von unserer Aufgabe.

»Das habe ich mir gedacht«, äußerte Lion sofort. »Noch auf dem Avalon.«

»Was hast du dir gedacht?«

»Warum wohl haben uns die Phagen nach Neu-Kuweit geschickt? Das ist teuer und überhaupt… welchen Nutzen versprechen sie sich von uns?«

»Aber sie haben uns hierhergeschickt.«

»Eben deswegen haben sie uns hergeschickt. Wir sind austauschbare Agenten.«

»Wie das?«, erkundigte ich mich vorsichtig.

»Ich habe im Traum davon erfahren. Ein austauschbarer Agent ist ein normaler Mensch, der ein wenig vorbereitet wird und einen besonders gefährlichen Auftrag erhält. Einen, von dem man nicht zurückkehrt. Die Phagen wussten, dass jemand daran glauben muss… genau dafür sind wir da.«

Lion war sehr ernst. Er saß auf dem Fensterbrett und hielt seinen Vortrag, ich stand vor ihm und hörte zu.

»Warum gerade wir? Wieso?«

»Ha! Das versteht doch jedes Kind! Wir sind von hier, aus Neu-Kuweit! Niemand kann auf die Idee kommen, dass wir Agenten des Imperiums wären. Es gibt keine Beweise.«

»Die Peitsche«, widersprach ich unsicher.

»Wohl kaum… vielleicht hast du sie von Stasj genommen.«

»Stasj hätte es nicht zugelassen, dass wir in den sicheren Tod geschickt werden«, konstatierte ich. »Niemals!«

Lion zuckte mit den Schultern:

»Vielleicht. Aber woher willst du wissen, dass er die ganze Wahrheit kannte? Er ist ein Phag. Das ist strenger als Armee oder Polizei. Das bedeutet nicht einfach Disziplin, sein Gehirn ist darauf ausgerichtet, dass er verpflichtet ist, Befehlen zu gehorchen. Sogar wenn Stasj etwas Verdächtiges bemerkt hätte, was hätte es geändert?«

Ich erinnerte mich daran, wie sich Stasj von uns verabschiedet hatte. Traurigkeit überwältigte mich.

Er hatte wirklich etwas geahnt. Es passte ihm nicht, dass wir nach Neu-Kuweit geschickt wurden. Es gefiel ihm nicht, aber er konnte mit dem Rat der Phagen nicht darüber diskutieren.

»Was sollen wir denn nun machen?«, fragte ich. Lion hatte wirklich alles äußerst schlüssig dargelegt.

»Den Auftrag ausführen«, meinte Lion.

»Aber…«

»Was können wir denn anderes machen?« Lion lachte auf. »Sollten wir uns hier verstecken? Sie finden uns so oder so. Oder die Raumflotte beginnt mit der Bombardierung des Planeten und Schluss… Da ist es schon besser, den Auftrag zu erfüllen. Dann haben wir zumindest eine winzige Chance. Und um gleichzeitig gegen Inej und gegen die Phagen anzutreten, muss man schon ein kompletter Idiot sein!« Er dachte nach und ergänzte bedauernd: »Was mussten wir auch unmittelbar auf den Köpfen der Mädchen landen! Wir könnten immer noch im Wald hausen.«

»Bist du mir böse?«, fragte ich. »Denn meinetwegen… hätte ich das Schlangenschwert nicht genommen…«

»Hör auf, sie hätten uns sowieso hierhergeschickt«, winkte Lion verächtlich ab. »Vielleicht haben sie dir sogar das Schlangenschwert untergeschoben — nicht, um deine Vertrauenswürdigkeit zu überprüfen, sondern als Provokation. Wenn du die Schlange nicht genommen hättest, wäre ihnen etwas anderes eingefallen.«

Die Tür ging auf. Piter, einer derjenigen, bei denen die Waffe des Inej nicht gewirkt hatte, der aber von Natur aus nicht besser als ein Hirnamputierter war, trat ein. Er schaute uns an und fragte:

»Raucht ihr etwa?«

»Nein«, antwortete ich. »Wir stehen nur so herum.«

»Na…« Piter glaubte uns nicht, ging deshalb absichtlich in eine Toilettenbox in unserer Nähe und schnupperte laut. Wir rochen natürlich nicht nach Rauch, Piter wurde gleich noch lebhafter: »Jungs, gebt ihr mir einen Schluck?«

»Mann, wir trinken auch nicht!«, regte ich mich auf. »Hier, sieh nach!«

Ich entfernte mich vom Fensterbrett und drehte mich um. Wo kann man denn eine Flasche verstecken, wenn man lediglich Unterhose und Hemd trägt? Lion drehte sich gar nicht erst um, er rutschte auf dem Fensterbrett zur Seite zum Beweis, dass nichts hinter ihm war.

»Was seid ihr für Deppen«, beschloss Piter und zeigte uns einen Vogel.

Kapitel 2

Elli kam nicht mit uns.

Sie erschien nicht einmal, um herauszufinden, ob Lion einverstanden war, den Befehl auszuführen oder nicht. Als ob sie seine Entscheidung kannte.

Ehrlich gesagt war ich froh darüber. Es hätte gerade noch gefehlt, dass dieses eingebildete Mädchen vom Avalon wieder anfing, zu kommandieren und uns zu erpressen!

Natascha kontaktierte uns am nächsten Tag im Speisesaal.

Wir standen mit den Tabletts in der Schlange vor den Mikrowellen. Es gab leider nur zwei. Vor uns wurde geflucht: Einem Jungen war die Plastiktasse mit Suppe gesprungen. Selber daran schuld, er hatte vergessen, den Deckel darauf zu stülpen.

»Heute«, sagte Natascha lächelnd. Aber ihre Augen waren angespannt und gar nicht fröhlich. »Heute treffen wir uns nach dem Mittagessen im Pavillon.«

Mir verschlug es gleich den Appetit. Natürlich aßen wir etwas — Kartoffelbrei mit Fleischstückchen, Erbsensuppe, Salat und Kompott. Alles vorgefertigt, nur den Salat hatte der Koch selber zubereitet. Wozu wird er eigentlich überhaupt gebraucht, wenn er nur an Freitagen, den freien Tagen, kocht?

Persönliche Sachen besaßen wir nicht, nur das Schlangenschwert, aber das war sowieso immer bei mir. Also gingen wir sofort zum Treffpunkt.

Natascha befand sich nicht im Pavillon. Sie saß im Gras, das noch vom nächtlichen Regen nass war, hatte die Hände hinter den Rücken gestützt, den Kopf nach hinten gelehnt und schaute in den Himmel. Ich folgte ihrem Blick — es gab nichts Besonderes zu sehen. Der Schweif eines Raumschiffes, das zur Landung ansetzte, kroch dahin.

»Wir sind es«, sagte Lion. »Was hast du dort gesehen?«

»Ein Raumschiff«, antwortete Natascha, ohne den Blick abzuwenden. »Ein schönes. Das ist ein Passagierschiff, vom Inej.«

Ich fühlte mich wie mit eiskaltem Wasser übergossen. Ich erinnerte mich an unsere Kuppel. Und an Dajka am Ufer des Flüsschens…

»Natascha, würdest du gern Pilot werden?«, wollte ich wissen.

»Mädchen können das doch nicht, du Dummkopf!«, erwiderte sie nach einiger Zeit.

»Na und. Wärst du es gern?«

»Ja.«

Lion verstand natürlich nicht, worüber wir sprachen. Ich nahm mir in diesem Moment vor, dass ich Mädchen nie als »Gepäckstücke« beschimpfen würde. Nicht einmal die schlimmsten Exemplare von der Art der selbstherrlichen Elli.

»Ich wäre auch gern Pilot«, meinte ich und Natascha schaute mich verwundert an. Es klang so, als ob ich wüsste, dass auch ich niemals Pilot werden könnte.

»Jungs, seid ihr bereit?«, erkundigte sie sich.

Ich nickte.

»Ein Auto wartet auf uns in der Nebenstraße, nicht weit von hier. Es bringt uns zur Villa.«

Aha. Also direkt heute?

Warum auch nicht? Die Phagen vergeudeten nicht sinnlos ihre Zeit.

»Gehen wir«, stimmte ich zu. Ich versuchte zu lächeln. Was sollte das werden, wenn zwei Jungs und ein Mädchen auf einem fremden Planeten, auf dem sie von allen gesucht wurden, vorhatten, einen Milliardär zu ermorden? Standen sie ganz einfach auf und töteten? Mir war gar nicht nach Lachen zumute. Das Auto war ein gewöhnliches Taxi. Ich hatte eigentlich erwartet, dass wir von Untergrundkämpfern abgeholt werden würden, aber es war ein ganz gewöhnlicher orangefarbener »Taimen« des staatlichen Taxidienstes. Der Fahrer gehörte zu den Hirnamputierten, ich konnte sie mittlerweile sicher von normalen Leuten unterscheiden.

»In den Schmetterlingspark?«, erkundigte er sich äußerst freundlich.

»Hm.« Natascha begann gleich zu lächeln. »Dort ist es schön, nicht wahr?«

»Sehr schön«, bestätigte der Fahrer und wartete, dass wir ins Auto gestiegen waren. Lion wollte sich auf den Vordersitz setzen, aber der Fahrer schüttelte streng den Kopf.

»Für Kinder unter sechzehn ist das verboten!«

Natascha stellte ihm noch einige Fragen, und der Fahrer begann, uns begeistert vom Park zu erzählen. Es war relativ einfach, die Hirnamputierten auf ein Thema festzunageln. Wenn sie den Eindruck hatten, es würde die Zuhörer interessieren, konnten sie so lange darüber reden, bis sie alles dargelegt hatten, was sie wussten. Natascha hatte ihn absichtlich darauf gebracht, sodass er durch nichts anderes abgelenkt wurde und keine überflüssigen Fragen stellte.

Es war aber wirklich interessant, etwas über den Schmetterlingspark zu hören. Als die Menschen begannen, Neu-Kuweit zu kolonisieren, lebten hier keine Säugetiere, sondern nur Insekten, Reptilien und primitive Fische. Bald stellte sich heraus, dass die einheimischen Insekten nicht mit Tieren von der Erde zusammenleben konnten. Die Fische starben, als Erdplankton ins Meer gegeben wurde. Daraufhin wurden zwei Naturschutzgebiete eingerichtet — eines auf dem Land und eines im Meer. Sie waren weit von hier entfernt, auf einem anderen Kontinent. Nicht weit von Agrabad errichtete man eine große Kuppel, ähnlich der, unter welcher ich auf Karijer lebte. Dort blieb die ursprüngliche Natur »der vierten Beta Lyra«, also von Neu-Kuweit, erhalten. Einheimische Gräser, Sträucher und Bäume. Einheimische Schmetterlinge, Käfer und Basiliskeneidechsen. Die Schmetterlinge sollen sehr bunt und riesig sein, einige mit einer Flügelspannweite von zwanzig Zentimetern. Und fast alle leuchteten im Dunkeln, weil sie ihre Paarungsrituale in der Nacht abhielten.

»Als ich noch klein war«, erzählte der Fahrer, »bin ich auch gern in den Park gegangen, besonders in der Nacht, wenn es meine Eltern mir erlaubten. Denn wie war es früher, wenn sich die Schmetterlinge zu sehr vermehrt hatten? Du hast eine Lizenz gekauft und konntest mit einem Netz auf sie Jagd machen. Es war natürlich schwer, aber manchmal gelang es uns, einen zu fangen… Ich habe bis heute vier Stück von ihnen. Sehr schöne Exemplare.«

»Und jetzt gibt es das nicht mehr?«, wollte Lion wissen.

»Nein, man hat entschieden, dass das unethisch sei.«

»Schade«, seufzte Lion. »Wir würden auch gern auf die Jagd gehen.«

Und er schaute mich aus den Augenwinkeln an, ob ich seinen Scherz auch gebührend würdigte.

Aber mich machte die bevorstehende Jagd überhaupt nicht froh.

In Wirklichkeit mussten wir nicht in den Park. Aber wir konnten dem Fahrer wohl kaum sagen: »Fahren Sie zum Türkistempel, zum Gästehaus der Regierung. Wir wollen dort spazieren gehen.«

Die Kuppel wurde sichtbar, kaum dass wir die Stadtgrenze hinter uns gelassen hatten. Von weitem erschien sie kleiner, aber ich erkannte sofort, dass es sich um eine Standardkolonialkuppel der Spezifikation 11-2 handelte. Neunhundert Meter im Durchmesser, siebzig Meter hoch. Genau so eine wie unsere Kosmodromkuppel, nur ohne silbrige Schutzschicht gegen Radioaktivität. Ich seufzte, als ich mir unsere Kuppeln, die um sie herum gelegenen Gruben und Täler, die überall herumkriechenden hermetischen Busse vorstellte. Obwohl ich nicht wusste, wonach man sich auf so einem unwirklichen Planeten wie unserem Karijer sehnen könnte.

Ich jedenfalls hatte Heimweh.

»Wollt ihr zum Haupteingang?«, erkundigte sich der Fahrer.

»Ja, bitte!«, antwortete Natascha höflich. Sie übernahm die Rolle der Ältesten. Es war sicherlich ungewöhnlich, dass ein Mädchen das Wort führte, aber der Fahrer wunderte sich nicht darüber. Vielleicht deshalb, weil alle die Präsidentin Inna Snow verehrten?

Das Taxi hielt an der Haltestelle und wir stiegen aus. Die Fahrt war vorab bezahlt worden, der Fahrer winkte uns zu und fuhr fort.

Wir gingen über den Parkplatz, der voller Privatautos und Touristenbusse war. In einem Laden kauften wir Eis, weil das auf Erwachsene eine beruhigende Wirkung ausübt. Wenn ein Jugendlicher einfach so unterwegs ist, wird von ihm irgendein Streich erwartet. Wenn er aber Eis schleckt, sieht man ihn als kleines Kind. Daher beeilten wir uns nicht mit dem Eis. Wir wickelten es nicht ganz aus, die Hüllen hielten es ausreichend kalt und wir würden damit eine ganze Stunde spazieren gehen können.

Um die Kuppel herum verlief ein hundert Meter breiter Sandstreifen, der an vielen Stellen durch Betonwege zerschnitten war. Das war offensichtlich eine Quarantänezone, damit keine Pflanzen von der Erde in die Kuppel gelangen konnten. Danach, hinter dem Sand, befand sich ein entsprechender Streifen grünen Rasens und dahinter grünten Bäume, Hecken und Gärten. Wir nahmen einen dieser Wege.

»Wir gehen rechts um die Kuppel herum«, teilte Natascha leise mit. »Da, bis zu diesem Park. Dort gibt es einen Trampelpfad, dem wir folgen, bis wir das Schild ›Privatbesitz‹ sehen, und biegen dann nach links ab. Wir gehen zum Bach, dann den Bach entlang bis zum Zaun. Um siebzehn null null wird die Alarmanlage an dem Teil des Zaunes, der zum Bach führt, abgeschaltet sein. Um siebzehn Uhr zwölf müssen wir den Zaun überwunden und uns in zwei Minuten einhundert Meter vom Zaun entfernt haben.«

»Ist dort offenes Gelände?«, fragte Lion.

»Ein Park«, erwiderte Natascha kurz. »Dann haben wir zehn Minuten Pause. Wir verstecken uns im Springbrunnen und lassen die Patrouille durch.«

»Was ist das für ein Springbrunnen?«, interessierte ich mich.

»Woher soll ich das wissen? Elli meinte, dass wir den Springbrunnen sehen würden. Wenn die Patrouille vorbeigegangen ist, rennen wir zur Villa, zum Diensteingang. Wir schleichen uns hinein und verstecken uns auf der ersten oder zweiten Etage. Das interne Alarmsystem ist auf Wunsch Bermannsabgeschaltet.ErhatAngstvor Überwachungssystemen an sich. Schleppt sogar immer einen Störsender mit sich herum. Er ist selber schuld. Bermann und Tochter kommen gegen sieben oder acht Uhr abends. Dann beseitigen wir sie«, Nataschas Stimme blieb dabei unbewegt, »und warten dann bis einundzwanzig Uhr dreißig, um auf demselben Wege zu verschwinden. Wenn wir uns an den Plan halten, gibt es keine Probleme. Übernachten werden wir im Heim.«

»Vielleicht sollte man sich Eintrittskarten für den Park kaufen?«, schlug ich vor. »Dann hätten wir ein Alibi…«

»Was denn für ein Alibi? Wenn wir eine Eintrittskarte kaufen, vermerkt der Computer, wann wir reingehen und wann wir die Kuppel verlassen. Damit hätten wir eine gute Spur gelegt.«

»Wenn die Sache ruchbar wird, kann uns der Fahrer damit in Verbindung bringen«, meinte Lion. »Er wird uns verraten. Er ist doch hirnamputiert…«

»Elli hat gesagt, dass sich andere um den Fahrer kümmern würden«, schnitt ihm Natascha das Wort ab.

Ich erschrak.

»Was sagst du da?«

»Was du gehört hast!«

»Das war so nicht abgesprochen!«, schrie ich.

»Wir hatten gar nichts abgesprochen.« Nataschas Augen schauten zornig und wütend. »Es ist Krieg, Tikkirej, richtiger Krieg, verstehst du das?«

Ich verstand.

Wir selbst hatten ja auch nicht vor, mit Bermann und seiner Tochter zu plaudern und Tee zu trinken. Aber trotzdem… Dieser Oligarch wollte das Imperium verraten, der Fahrer war ein Hirnamputierter, ein Kranker, ein Unschuldiger.

»Es ist trotzdem nicht richtig«, meinte ich. »So etwas müssen wir nicht machen.«

»Aber anders würde es nicht gehen«, erwiderte Natascha. »So ist es im Krieg, stimmt’s, Lion?«

Lion wandte sich ab und sagte nichts. Weder zu mir noch zu Natascha.

Ich führte die Diskussion nicht weiter.

Wir gingen an der Kuppel entlang und schauten unwillkürlich auf die Welt hinter der durchsichtigen Wand. Dort wuchsen ungewöhnlich aussehende Bäume mit sehr dunklem Blattwerk und gefiederten ringförmigen Stämmen. Manchmal blitzte zwischen den Blättern etwas Grelles auf — sicherlich die Schmetterlinge, aber es gelang uns nicht, sie richtig zu betrachten. Ich fand, dass es sich lohnte, in den Park zu gehen. Wenn alles gut ausgegangen war.

Und was wäre das im Klartext?

Wenn wir Bermann und seine Tochter getötet hatten?

Ich hätte am liebsten angefangen zu schluchzen, nicht zu weinen, sondern zu schluchzen wie ein kleines Kind. Man weint vor Leid, aber man schluchzt vor Hilflosigkeit.

»Die Wachen werden uns erschießen«, sagte Natascha plötzlich. »Ich glaube nicht, dass bei Elli alles klargeht. Ich glaube es einfach nicht!«

Augenblicklich verschwand meine Unruhe. Und wirklich! Wie kam ich eigentlich darauf, dass wir überhaupt an der Wache vorbeikommen würden? Was uns das selbstgefällige Mädchen Elli nicht alles versprochen hatte… Man würde uns sicher nicht gleich erschießen, wir würden ja nicht gegen die Wache kämpfen, aber wir würden bestimmt verhaftet. Vielleicht war das sogar die beste Variante. Den Befehl würden wir ausführen, aber wenn es uns nicht gelänge, die Aufgabe zu lösen, wäre es nicht unsere Schuld. Sie wären selbst daran schuld und würden in Zukunft solche Missionen nicht mehr Jugendlichen anvertrauen.

»Sei leise«, sagte ich. »Du machst Lärm!«

Natascha schaute mich erstaunt an, ärgerte sich aber nicht. Schweigend folgten wir dem Pfad in die Tiefe des Parks. Hier war niemand, der Weg war zugewachsen, durch grauen Steinsplitt wuchs das Gras hindurch, bereits welk und gelb. Am Himmel zirpte ein unsichtbarer Vogel.

»Wie schön es ist…«, murmelte Lion leise. Ich störte ihn nicht in seinen Betrachtungen.

Das Hinweisschild »Privatbesitz« war alt, die Farbe blätterte bereits ab. Es stand exakt in der Mitte des Pfades auf einem niedrigen Betonsockel. Es gab sogar einen orangefarbenen Lampenkasten für die nächtliche Beleuchtung der Aufschrift, aber sein Deckel war vor langer Zeit zerschlagen und die Glühbirne herausgedreht worden. Wir gingen zum Schild, wechselten wie vorgeschrieben die Richtung und kamen zum Bach.

»Kann man an den Zaun herangehen?«, fragte ich.

»Nicht näher als zehn Meter«, erwiderte Natascha sofort.

Wir folgten dem Bach nur kurze Zeit und vor uns erschien der Zaun der Residenz. Kein sehr hoher, vielleicht anderthalb Meter, aus einzelnen grauen Betonplatten und von unten bereits mit Moos bewachsen. Die Platten waren gerippt, als ob sie absichtlich dazu einluden an ihnen hochzuklettern, doch über dem Zaun verlief eine dünne blinkende Leitung — ein Bewegungsmelder. Die Bäume standen fast unmittelbar neben dem Zaun, aber trotzdem nicht nahe genug, damit man ihn nicht von den Ästen aus überwinden konnte.

»Wir warten«, befahl Natascha.

Wir suchten uns einen Platz hinter den Sträuchern, warteten und aßen dabei unser Eis auf. Natascha schaute die ganze Zeit auf die Uhr, dann nahm sie sie ab und legte sie vor sich hin. Lion schien am ruhigsten zu sein — schmatzend schleckte er das cremige Eis. Er aß länger als wir und schaute nicht auf die Uhr.

»Halten wir uns bereit«, sagte Natascha mit angespannter Stimme. »Minus eine Minute.«

Lion schluckte mit einem Mal den ganzen Rest hinunter, zerknüllte die Hülle, warf sie in den Bach und wusch sich die Hände. Er ging in Startposition.

»Minus zwanzig Sekunden.« Natascha fuhr sich über die Haare, sah uns an und bekreuzigte sich. Ihre Wangen waren gerötet wie vom Frost.

Ich war nicht aufgeregt. Überhaupt nicht. Ich war davon überzeugt, dass wir gleich verhaftet würden und damit alles vorbei wäre.

»Los!« Natascha sprang auf und rannte zum Zaun.

Aber Lion überholte sie. Am Zaun ging er in die Knie und stützte seine Hände gegen die Betonplatte. Natascha verstand, stieg auf seinen Rücken, zog sich hoch und sprang über den Zaun. Ich folgte ihr, Lion ächzte unter meinen Beinen, und ich sprang nicht hinüber, sondern legte mich flach auf die Oberkante, hielt mich mit den Beinen daran fest und streckte Lion meine Hand hin. Er ergriff sie, zog sich hoch und wir sprangen gemeinsam auf die andere Seite.

Wir befanden uns in einer anderen Welt!

Während hinter dem Zaun ein verwilderter Park im warmen Herbstwind lag, kamen wir auf der anderen Seite wieder in den Sommer. Der Park war licht, gepflegt, durchzogen von sauberen Wegen. Sogar das Bächlein, das durch ein Gitter im Zaun floss, rauschte nicht mehr, sondern plätscherte melodisch. Es war sehr warm, fast schon heiß, Schmetterlinge flatterten über den Blumenbeeten, wenn auch nicht so große und grelle wie innerhalb der Kuppel, aber immerhin… Hier gab es bestimmt eine lokale Klimatisation — eine sehr kostspielige Angelegenheit, aber seit wann kümmerte sich eine Regierung um die Kosten?

Natascha schaute sich um und flüsterte: »Vorwärts! Lauft!«

Wir stürzten nach vorn, ohne einen bestimmten Weg zu nehmen, mal über Wege, die mit rauen Steinplatten gepflastert waren, mal einfach zwischen den Bäumen hindurch. Mir schien es, als ob wir die hundert Meter in einer halben Minute hinter uns gebracht hätten, aber ein Springbrunnen war nicht zu sehen. Endlich zeigte Lion nach rechts und schrie:

»Dorthin!«

Ja, diesen Springbrunnen konnte man tatsächlich schwer übersehen. Er war riesig: Das Becken hatte einen Durchmesser von rund zwanzig Metern und war bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Inmitten des Beckens stand eine Skulpturengruppe. Diese erschien recht sonderbar: Ein bronzener Gigant in einem altmodischen Raumanzug kämpfte sich durch das Wasser, mit einer Hand schützte er sein Gesicht vor den herunterfallenden Spritzern, in der anderen hielt er schussbereit einen Strahlenwerfer. Hinter ihm, aus einem Steinhaufen, folgte eine Menschenmenge, hauptsächlich Frauen und Kinder. Einige von ihnen waren vollständig, andere teilweise aus dem Stein heraustretend gestaltet. Der Wasserstrahl an sich war nicht sehr hoch, vielleicht drei Meter, und kam aus ziemlich krummen Rohren. Klatschend schlug das Wasser gegen die Felsen.

»So ein Kitsch!«, rief Lion begeistert aus.

»Ins Wasserbecken!«, befahl Natascha. Wir wateten durch das Wasser und standen bald zwischen den mit Moos bewachsenen, kühlen Bronzefiguren, die nass vom Wassernebel waren.

Natascha entschied: »Hier warten wir.«

Es war lustig, zwischen den Skulpturen zu stehen. Ich berührte die Hand eines Bronzemädchens, das voller Hoffnung mit blinden Augenhöhlen auf den Riesen schaute.

Ich fragte: »Was sind das denn für Figuren?«

Natascha winkte ab, aber nach einer Minute antwortete sie doch: »Das ist zum Gedenken an die erste Landung. Eines der Landeboote zerschellte damals im Dschungel, aber ein unverletzt gebliebener Pilot brachte fast alle Passagiere in die Zivilisation zurück.«

»Aha, das bedeutet, der Wasserstrahl versinnbildlicht den Brennstoff, der aus den Tanks strömt«, kicherte Lion. Die Skulpturen gefielen ihm ganz offensichtlich nicht.

»Leise!«, zischte Natascha und drückte sich an die Steine. Wir verstummten und drängten uns tiefer zwischen die Bronzefiguren. Nach einer Minute erschien die Patrouille auf dem Weg — zwei Männer und eine Frau.

Wenn mir der Bronzepilot wie ein Riese vorkam, dann standen ihm die Wachleute in nichts nach. Nur dass sie an Stelle des alten Raumanzuges eine leichte Kampfpanzerung aus Keramik trugen. Der Bildschirm an den Helmen war ausgeschaltet, die Waffe steckte im Halfter — augenscheinlich erwarteten sie keine Überraschungen.

Die Frau war ohne jegliche Panzerung und ohne Waffe, trug ein gewöhnliches Kleid und Sandalen und hielt eine kleine Plastikreisetasche in der Hand.

In unserem Versteck hörten wir einen Gesprächsfetzen: »Also werden wir weiter unterwegs sein. Solange die neue Linie nicht gelegt wird«, regte sich die Frau auf. Mir schien, dass sie nicht hirnamputiert war, sie hatte eine zu lebhafte Stimme.

»Er hat bloß Angst davor, ein überflüssiges Papier zu unterschreiben!«, wurde die Frau von einem der Wachmänner unterstützt. »Er hat Angst, dass man sich an ihn erinnert und ihn pensioniert.«

»Ich werde eine Meldung schreiben«, schimpfte die Frau weiter. »Wie lange soll das noch so weitergehen, jeden Tag Pannen…«

Sie unterhielten sich und liefen langsam in Richtung des Zaunes, über den wir gesprungen waren. Auf den Springbrunnen achteten sie nicht. Natascha wartete, bis die Gestalten zwischen den Bäumen verschwunden und die Stimmen ganz verklungen waren, danach wandte sie sich an uns:

»Los, an die Arbeit…«

Wir kletterten aus dem Wasserbecken und liefen zu dem Gebäude, das im Inneren des Parks zu sehen war, eine schöne Villa mit Säulen, Türmchen und einer Terrasse genau über dem Haupteingang, auf dem Dach. Ich hatte immer noch nicht die Hoffnung verloren, dass wir gefasst würden, aber eine andere Wache gab es nicht. Wir gingen natürlich nicht zum Haupteingang, sondern liefen um die Villa herum, und Natascha zeigte triumphierend auf eine kleine Holztür — sie war angelehnt.

»Hier!«

Ich glaubte, dass diese Tür absichtlich offen gelassen worden war. Und ich war mir sicher, dass diese junge Frau bei den Wachleuten dafür sowie für das Abschalten der Alarmanlage gesorgt hatte. Sicher war sie der Techniker und für das Alarmsystem verantwortlich.

»Tikkirej, was stehst du herum?«, rief mir Natascha zu, Lion und sie waren schon im Haus.

Ich schaute noch einmal auf den friedlichen Park und ging durch den Diensteingang der Villa in einen kleinen Vorraum. Natascha stieß mich erbost in den Korridor, der ins Innere des Gebäudes führte, beugte sich selbst nach unten und begann die nassen Fußabdrücke auf dem Boden mit irgendeinem Lappen wegzuwischen. Ich erblickte Lion, nackt bis zur Gürtellinie, der sehr ärgerlich schien, und mir war klar, dass dieser Lappen bis eben noch sein Hemd gewesen war.

»Daran hatten wir nicht gedacht«, sagte Natascha und bewegte sich schnell Richtung Korridor, wobei sie gekonnt den Lappen schwang. »Zieht eure Schuhe aus, wir gehen barfuß.«

Durch solche Kleinigkeiten platzen oft die raffiniertesten Pläne: Wenn uns unsere Fußspuren nicht aufgefallen wären, hätte uns auch nicht gerettet, dass die Bewegungsmelder ausgeschaltet waren. Unsere Spuren hätten uns verraten, ganz wie in den mittelalterlichen Überlieferungen über Grenzen und Spione. Diese Gefahr schien uns nicht zu drohen: Natascha blieb wachsam.

Wir liefen an einigen funktionell eingerichteten Zimmern vorbei. In einem befanden sich ein Rednerpult und einige große Bildschirme, in einem anderen Sessel und Sofa zum Ausruhen für die Wachleute. Danach erschien die Möblierung reicher, wenn auch nicht übertrieben. So besichtigten wir kleine Zimmer mit Betten und Schränken, ein Wohnzimmer mit Fernsehapparat und Sitzgarnitur. Die Küche dagegen war riesig und mit einer Menge verschiedener Haushaltsgeräte ausgerüstet. Dort standen Mikrowellen (im Ganzen zwei) und normaleHerdplatten,Wärmeschränke,Fritteusen, Küchenmaschinen und eine Menge Geräte, deren Namen ich nicht einmal kannte.

»Das alles sind Zimmer des Personals«, erklärte Natascha, nachdem sie sich ein Bild gemacht hatte. »In der Villa werden ab und zu große Empfänge abgehalten, Dutzende von Leuten treffen sich hier… Wir müssen dorthin!«

Aus der Küche kamen wir über einen breiten Flur mit zweiflügligen Türen ins Esszimmer.

Hier sah es nun wirklich luxuriös aus!

Ein riesiger ovaler Tisch aus hellem, poliertem Holz, Stühle mit hohen, geschnitzten Lehnen, an den Wänden originale, mit Farben gemalte Bilder. Durch die Fenster sah man den Park sowie den Springbrunnen, in dem wir uns versteckt hatten. Seltsamerweise wirkte das alles aus dem Gebäude heraus noch viel schöner als in Wirklichkeit.

»Wohin jetzt?«, wollte Lion wissen. Er schaute ganz andächtig — rundherum war es allzu weiträumig, hell und edel.

»Wir gehen nach oben«, entschied Natascha, »dort sind noch ein großer Dinnersaal«, Lion erschauerte bei diesen Worten, »und die Gästezimmer.«

Aus dem Esszimmer gingen wir zu einer breiten Treppe mit einem schönen Teppich, der mit goldenen Metallstäben an den Stufen befestigt war. Wir stiegen in den ersten Stock und suchten die Zimmer von Bermann und seiner Tochter. Es war nicht einfach, weil es eine Unmasse von Schlafzimmern gab und die Türen verschlossen waren. Ich dachte gerade darüber nach, dass wir einen Dietrich brauchen könnten, als sich die Schlange am Gürtel bewegte und mir in den Ärmel kroch.

Richtig, wozu ein Dietrich, wenn wir über ein universelles Gerät der Phagen verfügten?

Pro Schloss brauchte die Schlange nicht länger als eine Sekunde, offensichtlich war die Aufgabe nicht schwer. Intuitiv wusste ich, dass das Schlangenschwert zuerst die Struktur des Schlosses scannte und die Restpotenziale in den elektronischen Schaltkreisen bestimmte und danach das Schloss nicht mit einer Ziffernfolge öffnete, sondern den genauen Code wählte.

Die ersten sechs Schlafzimmer erwiesen sich als unbewohnt, das siebte auf den ersten Blick ebenfalls. Aber Natascha, die auf alle Fälle in die Bäder schaute, fand dort eine Zahnbürste, einen Rasierapparat, Eau de Cologne und allerlei Herrenkosmetika. Erst da bemerkten wir, dass das untadelig aufgeräumte Zimmer bewohnt war: Im Schrank hingen einige Anzüge, ein Dutzend Hemden und Krawatten, neben dem Bett lag ein Büchlein des Krimischriftstellers Hiroshi Moto: »Der Raumanzug mit dem verspiegelten Helm«. Das Buch war interessant, ich hatte es selbst gelesen, aber eigentlich war es ein Kinderbuch.

Die nächsten zwei Schlafräume waren leer, aber im neunten, ausgehend von der Kosmetik im Bad, wohnte Bermanns Tochter. Auf ihrem Bett lag ebenfalls ein Buch, aber ein viel ernsteresalsbeimVater:»DieTaktikder Unternehmensentwicklung unter den Bedingungen politischer Instabilität«.

»Sie lernt ein Unternehmen zu führen«, meinte Lion höhnisch. »Ja — ja… Was sind wir doch für Optimisten.«

Natascha und ich blickten Lion unabhängig voneinander zornig an.

»Das ist mir nur so herausgerutscht… Ähm, wegen der Nerven… Entschuldigt.«

»Benutz deinen Kopf, ehe du etwas sagst«, murmelte Natascha. »Was suchst du da?«

Lion wühlte im Kleiderschrank und drehte sich um: »Du hast mir mein Hemd weggenommen, soll ich etwa nackt herumlaufen? Was meint ihr, kann ich dieses T-Shirt nehmen?«

Das baumwollene Muscle-Shirt war zwar grell, Blau mit Weiß, aber nicht mädchenhaft. Ich zuckte mit den Schultern und Lion zog es an. Natascha schimpfte nicht mit ihm. Es gab wirklich keinen Grund, sich jetzt noch wegen eines Diebstahls zu schämen.

»Wenn die Bermanns kommen, werden sie in ihre Zimmer gehen, um sich umzuziehen«, überlegte Natascha laut. »Es sieht nicht so aus, als ob sie Dienstpersonal hätten, also werden sie allein bleiben… Wir können uns in zwei Gruppen teilen. Ich kümmere mich mit Lion um Bermann, und du, Tikkirej, — um das Mädchen!«

»Warum soll ich das Mädchen nehmen?«, begehrte ich auf.

»Du hast die Peitsche.«

»Na und? Ist sie etwa gefährlicher als ein erwachsener Mann?«

Natascha seufzte: »Alexander Bermann ist fast siebzig Jahre alt. Er hat einen Bauch wie ein Nilpferd. Aber du kannst davon ausgehen, dass seine Tochter sportlich und trainiert ist und eine Nahkampfausbildung hat… Vielleicht ist sie sogar bewaffnet.«

»Und wie werdet ihr mit Bermann zurechtkommen?«

»Wir schlagen ihn bewusstlos«, erklärte Natascha kurz. »Dann kommst du zu uns.«

Es hatte keinen Sinn, zu diskutieren. Ich wollte darauf hinweisen, dass ich mich weigerte, ein Mädchen zu töten, auch wenn sie der letzte Dreck wäre und das Imperium verriet. Aber ich schwieg, weil mir bewusst war, dass ich es doch tun würde. Ich hatte keine Wahl.

»Versteck dich im Badezimmer«, schlug Natascha vor. »Vielleicht kommt sie doch nicht alleine ins Zimmer? Wir werden es genauso machen, und wenn Bermann das Badezimmer betritt, schlagen wir von hinten zu.«

»Womit?«, fragte Lion geschäftsmäßig.

»Weiter hinten im Korridor müsste eine Turnhalle sein. Wir nehmen ein Paar Hanteln oder irgendetwas anderes Schweres. Aber leise, die Wache könnte schon zurück sein.«

»Gehen wir.« Lion nickte. »Also dann, Tikkirej. Vermassele es nicht!«

»Wir warten auf dich«, ergänzte Natascha.

Sie gingen hinaus und ich blieb allein. Das passierte so schnell und unerwartet, dass ich nichts erwiderte. Ich tigerte wie ein Idiot durch das Zimmer. Es gab noch eine Tür in ein anderes Zimmer, wahrscheinlich ein Gästezimmer, aber dort schien noch niemand einen Blick hineingeworfen zu haben. Keine Sachen, nichts… Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück, ging ans Fenster und schaute in den Park. Von dieser Seite war der Springbrunnen nicht zu sehen, dafür erblickte ich in der Tiefe des Gartens ein Schwimmbad und kleine gemütliche Gebäude. An Himmel schwebten einzelne Wolken, die Sonne neigte sich zum Horizont. Es war sehr still, fast einschläfernd. Ich ging vom Fenster weg, mit einer bohrenden Neugier zum Kleiderschrank und begann, in den Sachen von Alexandra Bermann zu kramen.

Es stellte sich heraus, dass das Wühlen in fremden Sachen eine sehr interessante Beschäftigung war. Im Schrank hingen Kleider, Blusen, Röcke, Hosen und Pullover. Es hätte ausgereicht, alle Bewohner des ›Spross‹ — Jungen und Mädchen — neu einzukleiden. Allein zehn Paar Schuhe gab es: Halbschuhe,Turnschuhe,Stiefelchenundallerlei Spezialschuhe, entweder für den Sport oder zum Tanzen, die ich nicht einmal benennen konnte. In einem Fach lag eine Masse sauberer, eingepackter Kleidung. Ich nahm ein Packung, fand in ihm rosa Spitzenhöschen, schämte mich und schloss den Schrank.

Teufel nochmal! Einerseits beabsichtigte ich, Alexandra Bermann, die ich noch niemals gesehen hatte, zu töten. Warum dann diese Neugier? Das sind Kleinigkeiten, um die man sich nicht kümmern sollte. Aber andererseits…

Es war mir peinlich.

Aber ich konnte nicht mehr damit aufhören. Und wühlte weiter in den Schränken.

Reiche Leute schleppen sehr viele Dinge mit sich herum. Sicherlich brauchen sie das auch alles. Sogar wenn sie geschäftlich auf anderen Planeten weilen, gehen sie ins Theater, in Restaurants, machen Ausflüge und Safaris… Aber außer Kleidung gab es noch jede Menge andere Dinge. Zum Beispiel ein ganzes Köfferchen mit allen möglichen Friseursachen, darunter allein drei Föns. Und im Badezimmer war auch noch ein guter. In einem kleinen Täschchen befand sich eine Reiseapotheke, als ob es hier keine Ärzte geben würde… Oder vertrauten die Bermanns keinen fremden Ärzten? In einer kleinen, nachlässig hingestellten, offenen Schatulle lag Schmuck. Teilweise aus Gold, Silber und Edelsteinen, zum Teil dermaßen selten und teuer, dass er sogar mir ein Begriff war, da ich den Schmuck in allerlei Fernsehfilmen und Nachrichtensendungen gesehen hatte. Zum Beispiel gab es da ein Collier aus »unsichtbaren Diamanten«, sie hießen wissenschaftlich irgendwie anders, aber das hatte ich vergessen. Ich ging mit dem Collier zum Fenster und schaute es im Licht an. Alle Achtung! Als ob sich in der Platinfassung nichts befinden würde, als ob sich die winzigen Diamantensplitter, die auf die unsichtbaren Diamanten aufgeklebt waren, von alleine in der Luft hielten. Ich berührte sie — da waren sie, die unsichtbaren Steine. Auf dem größten verblieb fast unsichtbar mein Fingerabdruck. Cool.

Außerdem waren da noch Ohrringe mit Empathiesteinen, die ihre Farbe in Abhängigkeit von der Stimmung des Trägers wechselten. Ich führte einen Ohrring an mein Gesicht und der Stein wandelte sich von Milchweiß in Knallrot. Natürlich, ich war ja aufgeregt… Diesen Schmuck zu tragen riskieren nur Leute, die absolut von sich überzeugt sind — denn anderenfalls können alle erkennen, wenn man aufgeregt oder erschrocken ist oder versucht zu lügen.

Nachdem ich den Schmuck in die Schatulle zurückgelegt hatte, stellte ich sie an ihren Platz zurück. Ich war kein Dieb und würde nichts nehmen. Obwohl man für ein beliebiges Teil von diesem Tand…

Was könnte man?

Die Lebenserhaltungssysteme auf Karijer bezahlen?

Mama und Papa würden nie wieder zurückkommen.

Also brauchte ich nichts.

Ich lief durch das Zimmer und blickte auf die Uhr. Es war noch zu früh. Daraufhin untersuchte ich den Nachtschrank und fand dort weitere Bücher — Wirtschaftsliteratur und Romane. Ich nahm ein Bändchen von Hiroshi Moto (jetzt war klar, von wem Alexander den Krimi hatte, um ihn vor dem Einschlafen zu lesen) und schlug die Erzählung »Der Fall des freigiebigen Intellektuellen« auf. Die Kriminalgeschichten von Hiroshi Moto waren deshalb so gut, weil man sie immer wieder lesen konnte, auch wenn man schon wusste, wer der Verbrecher war. Aber dieses Buch kannte ich noch nicht.

Ich wagte nicht mich aufs Bett zu setzen. Es war außergewöhnlich akkurat gemacht und die Sessel sahen zu verlockend bequem aus. Wenn ich mich jetzt hineinsetzen würde, könnte ich mich festlesen und nicht bemerken, dass die Bermanns kamen. Deshalb setzte ich mich auf einen Stuhl neben die Tür, öffnete sie einen Spalt, um die leisesten Geräusche von unten zu hören, und begann, die Abenteuer des im Reagenzglas gezüchteten Detektivs und seines treuen Freundes zu lesen.

Zuerst konnte ich mich nicht darauf konzentrieren, aber bald wurde ich ruhiger und begeisterte mich so an der Handlung, dass ich fast bis zum Ende las. Alles war sehr verwirrend, aber endlich sprach der Detektiv seine berühmten Worte:

»Sicher, ich bin lediglich ein Klon, aber wenn Sie wüssten, zu welchen Gemeinheiten ein echter Mensch manchmal fähig ist! Also stellen wir uns die Bibliothek vor drei Tagen um Mitternacht vor. Das Licht erlischt und in der nächtlichen Stille ist ein leises Rascheln zu hören. Nur Sie, die hier Anwesenden, konnten die Diskette aus dem überstürzt geöffneten Safe nehmen. Nicht wahr, Oberst?«

»Was meinen sie damit?«, schrie der Offizier auf und ließ die Zigarette fallen. »Ich wurde wie alle anderen durchsucht! Wo hätte ich diese verdammte Diskette denn verstecken können?«

»Eben das störte mich, denn den Namen des Verbrechers kannte ich von Anfang an…«

In diesem Augenblick vernahm ich unten Schritte. Kurz darauf war Lärm zu hören… Wurde die Eingangstür geöffnet?

Ich sprang auf und schlug das Buch zu, ohne zu erfahren, wer die Diskette gestohlen hatte — der Oberst Howard, die Nonne Anastasia, der Hacker Owen oder einer der Musikanten des Sinfonieorchesters. Ich schloss die Tür und lief durchs Zimmer, ohne mich entscheiden zu können, ob ich das Buch an seinen Platz legen oder mit mir nehmen sollte. Ich beschloss es zurückzulegen, öffnete das Buch beim Hineinlegen ins Nachtschränkchen aber schnell auf der letzten Seite:

»Ja, genau so, mein Freund. Und das ist das Ende der steilen Karriere der zweiten Posaune.«

Sieh an! Der zweite Posaunist, der in die Dirigentin verliebt war! Das hätte ich nicht gedacht!

Schnell schaute ich mich im Zimmer um, ob alles in Ordnung war und stürzte ins Bad. Ich stellte mich rechts hinter die Tür neben die Wanne. Die Zeit der gelesenen Abenteuer, erregend und lustig, war zu Ende. Jetzt begannen die realen, die entsetzlichen und widerlichen Abenteuer.

Alexandra Bermann betrat das Zimmer fünf Minuten später. Die ganze Zeit über stand ich im Bad in der Dunkelheit und die Schlange umschlang fest meinen rechten Arm. Sie war bereit zu töten. Ich — nicht, sie — schon. Sie hatte es einfacher, sie war dafür geschaffen worden.

Die Zimmertür schlug zu und ganz in der Nähe ertönten Schritte. Etwas fiel auf den Fußboden. So zu stehen und zu warten war unerträglich, ich wollte beobachten, was passierte, ich hielt das Warten nicht aus. Die Tür zum Bad war nicht eingeklinkt, es gab einen schmalen Spalt, durch den ich vorsichtig blickte.

Das Mädchen stand am Fenster und sah nach unten. Von hinten schien sie noch jünger als ich zu sein. Mit hellen, lockigen Haaren in einem Schottenrock und einer sumpfbraunen Bluse. In den Ohren blitzten winzige Ohrringe.

Verdammt, wie ungünstig. Sähe sie wenigstens aus wie ein fetter Kloß, wäre es um sie nicht schade, und mir fiele es leichter, sie zu töten…

Das Mädchen nahm ihre Hände an die Brust. Mir war nicht gleich klar, was sie machte — bis Alexandra Bermann ihre Bluse von sich warf und nachlässig auf den Boden fallen ließ.

Mist!

Da riss ich mich von dem Spalt los. Meine Ohren fingen an zu brennen. Das war einfach widerlich! Nicht nur, dass ich in ihren Sachen gewühlt hatte und sie gleich töten würde, ich beobachtete sie auch noch dabei, wie sie sich umzog!

Als ich wieder hinschaute, zog Alexandra schon den Rock aus und stand nur noch in Höschen und Büstenhalter da. Der BH war übrigens rein symbolisch…

»Wie ich diese Klamotten hasse!«, rief Alexandra plötzlich laut und leidenschaftlich aus. Sie hatte den singenden Akzent des Edem, und deshalb schien es, als ob sie nicht fluchen, sondern ein Gedicht vortragen würde. Alexandra führte ihre Hände auf den Rücken und öffnete den Verschluss des BH. Sofort trieb es mich von der Tür weg, ich trat zurück, bis meine Knie an das Bidet stießen. Ich hielt inne und stützte mich mit der rechten Hand vorn ab.

Es sah ganz so aus, als ob Alexandra duschen wollte und sich deshalb auszog.

Das hieß, ich würde, gleich wenn sie hereinkäme, zuschlagen. Damit sie nicht erschrak und sich schämte…

Warum, warum nur traf es gerade mich, sie zu töten?

Die barfüßigen Schritte auf dem Teppich waren kaum zu hören, aber ich konnte sie spüren. Gleichzeitig federte das Schlangenschwert auf meiner Hand, spannte sich an und vibrierte leicht, um das Plasmageschoss aufzuladen.

Hauptsache, ich erschrak nicht…

Das Licht ging an und gleichzeitig wurde die Tür geöffnet.

Es war das Licht, das mich zurückhielt. Es ließ mich den Bruchteil einer Sekunde zögern und nicht sofort schießen, gleich als die Tür geöffnet wurde.

Ich stand da und hatte den Arm mit dem zum Schuss bereiten Schlangenschwert ausgestreckt.

Und vor mir in der Türöffnung stand ein nackter Junge.

Ein Junge!

Was sollte das denn, führte Bermann etwa alle an der Nase herum, hatte er womöglich gar keine Tochter, sondern einen Sohn?

»Wenn ich dich bei etwas gestört habe, komme ich später wieder«, sagte derjenige kaltblütig, den man für die Tochter Bermanns hielt. »Aber normalerweise schließt man ab.«

Sein singender Akzent war verschwunden. Jetzt sprach er schärfer, so wie auf dem Avalon. Und die Stimme kam mir bekannt vor. Das Gesicht ebenfalls… wenn man sich diese lächerlichen Locken wegdachte…

Ich entfernte mich vom Bidet, zielte aber trotzdem mit dem Schlangenschwert auf das falsche Mädchen. Woher kenne ich sie… ihn nur?, dachte ich.

»Was, zum Teufel, machst du hier, Tikkirej?«, fragte der Junge.

»Wer bist du?«, rief ich aus.

»Der Kerl im Mantel! Planet Avalon, Stadt Camelot, Institut für experimentelle Soziologie, sechster Fahrstuhl, Stockwerk zweieinhalb. Was machst du hier, du Unglücksrabe?«

Ich senkte meinen Arm und die Schlange zog sich in den Ärmel zurück. Ich hatte den kleinen Phagen erkannt, der Lion und mir geraten hatte, nicht nach Neu-Kuweit zu fliegen.

»Was bedeutet das…«, flüsterte ich. »Und wo ist Alexandra Bermann?«

»Unter Hausarrest, zusammen mit ihrem Papachen. Wenn du es dir mit dem Schießen überlegt hast, ziehe ich mich erst einmal an.«

Ich schluckte und nickte. Das heißt… an Stelle des echten Bermann und seiner Tochter sind Phagen eingereist?

Und ich hätte beinahe geschossen…

»Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, wenn die Peitsche bei meinem Erscheinen nicht losging, bedeutet das, dass du nicht bereit warst zu töten«, meinte der Junge aus dem Zimmer, als ob er meine Gedanken gelesen hätte.

Auf steifen Beinen verließ ich das Bad. Der kleine Phag war schon fertig angezogen. Das war mehr als schnell. Statt Rock und Bluse trug er Jeans, Turnschuhe und ein kariertes Hemd — Unisexkleidung, die von Mädchen und Jungs akzeptiert wird. Es war offensichtlich, dass es ihm nicht gefiel, in Mädchensachen herumzulaufen.

»Wie heißt du?«, erkundigte ich mich.

»Alexander«, nuschelte der Junge und befestigte wütend die Ohrclips. »Was machst du hier und wie bist du hier hereingekommen?«

»Der Untergrund hat beschlossen, euch zu liquidieren…«

»Die Ohren sollte man euch abreißen«, meinte Alexander träumerisch, »die Ohren abreißen, durchwalken und in eine Schule für Schwererziehbare stecken.«

»Da war ich schon…« Und da traf mich der Schlag! »Dein Vater! Ist er auch…«

Alexander wurde blass. Er sagte: »Komm! Nein, warte!«

Zuerst schaute er auf den Korridor, dann nickte er mir zu und lief los. Ich folgte ihm.

Die Tür zu Bermanns Zimmer stand offen. Wir stürmten fast gleichzeitig hinein.

Mitten im Zimmers stand ein dicker, glatzköpfiger Alter und schaute nachdenklich auf Lion und Natascha. Sie lagen auf dem Bett, bewegungs- und willenlos, aber lebendig.

»Höhere Gewalt«, sagte der alte »Bermann«. Er schaute mich an und schüttelte den Kopf.

»Und was für eine höhere Gewalt…«

»Dein Tikki hätte mich beinahe erschossen«, beklagte sich Alexander böse. »Wie geht es dir?«

»Das gibt eine Beule«, erwiderte der falsche Oligarch und berührte mit seiner Hand den Hinterkopf. »Lion hat ein erstaunliches Reaktionsvermögen. Für einen normalen Menschen natürlich. Er hat mich ein wenig erwischt.«

»Selber schuld«, erwiderte Alexander ohne jegliche Unterwürfigkeit.

»Kusch dich…«, wies ihn der Alte zurecht und fragte mich: »Tikkirej,kannstdugenauberichten,wie ihr hierhergekommen seid? Oder bleibst du weiter stumm wie ein Fisch?«

»Stasj«, stammelte ich. In meinen Augen brannte es ekelhaft. »Stasj…«

Nur die Augen verrieten ihn. Sie waren ebenfalls gealtert, getrübt, als ob sie Farbe verloren hätten, aber ihr Blick war unverändert.

»Stasj«, wiederholte ich einfältig zum dritten Mal und fing an zu weinen.

Der Phag war mit wenigen Schritten bei mir. Er umarmte mich und drückte mich an sich. Sein Bauch war dick und warm wie ein echter. Sogar die Hände erschienen gealtert, mit hervortretenden Venen und blasser Haut.

»Na, hör schon auf… Es ist alles in Ordnung, Tikkirej. Die anderen kommen gleich wieder zu sich… Beruhige dich!«

»Überhaupt nichts ist in Ordnung. Wir sind umsonst hierhergekommen, haben alles falsch gemacht, hätten euch fast umgebracht…«, murmelte ich. Meine Tränen waren mir peinlich.

Alexander hatte sicherlich noch niemals in seinem Leben geweint.

»Es ist nicht so einfach, uns zu töten, mein Kleiner. Wer ist das Mädchen?«

»Natascha… vom Untergrund.«

»Ihr seid hier völlig verwildert!«, meinte Stasj erbost. »Mädchen sollten nicht töten! Noch dazu im Nahkampf! Ihr macht sie zu psychischen Krüppeln! Das ist nichts für Frauen!«

»Was haben wir denn damit zu tun, sie ist eine Partisanin«, sagte ich, immer noch an Stasj gedrückt. »Sie hatte das Kommando.«

»Alles klar. Also gehört sie zu den ›Schrecklichen‹?« Stasj schob mich etwas von sich weg und schaute mir ins Gesicht. »Geh dich waschen, während ich diese zwei Mörder wieder ins Leben zurückrufe.«

Die Tür zum Bad öffnete ich mit einiger Vorsicht und stellte mir dabei vor, wie Natascha und Lion hier gestanden hatten, bereit, den tödlichen Schlag gegen den Hereinkommenden zu führen. Und wirklich, da lag die Hantel auf dem Boden und dort der Baseballschläger. Und eine Kachel war gesprungen — sicher durch die herunterfallende Hantel.

»Keine Angst, dort sind keine Killer mehr«, stichelte Alexander, der mein Zögern auf der Schwelle bemerkt hatte. Er achtete auf alles…

Ich ließ Wasser ins Waschbecken — ich konnte die Angewohnheit, Wasser zu sparen, nicht ablegen — und wusch mich. Ich schaute in den Spiegel: Meine Augen waren rot, sonst ging es.

Stasj ist auf Neu-Kuweit! So was!

Jetzt erst spürte ich meine Erleichterung. Ein dramatischer Fehler war uns nicht unterlaufen. Auch wenn die Untergrundkämpfer alles durcheinandergebracht hatten, auch wenn wir drei uns nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatten, das war egal. Stasj wird sich etwas einfallen lassen. Wir kommen hier irgendwie raus und kehren nach Avalon zurück. Weit, weit weg von diesem schlimmen und unglücklichen Planeten, weg vom verfluchten Inej und seiner Präsidentin.

Als ich ins Zimmer zurückkam, war Natascha schon wieder bei Bewusstsein, saß auf dem Bett und rieb sich die Stirn. Lion saß ebenfalls aufrecht, hielt jedoch die Augen geschlossen wie eine Puppe. Stasj massierte ihm den Nacken und presste ab und zu bestimmte Punkte. Lion stöhnte, aber sichtlich vor Behagen und nicht vor Schmerzen.

»Wie beschränkt muss man denn sein«, sagte Stasj währenddessen, »um gleichzeitig einen eintretenden Menschen zu überfallen. Dadurch habt ihr euch gegenseitig behindert. Ihr hättet sowieso keinen Erfolg gehabt, aber bei dieser Konstellation…«

»Ich habe dich trotzdem erwischt«, meinte Lion. Also war er schon zu sich gekommen und sich der Situation bewusst.

»Getroffen… natürlich. Gott sei Dank hatte ich erkannt, wer mich da überfällt und nicht mit voller Kraft zugeschlagen. Deshalb hast du mich getroffen. Sind die Kopfschmerzen weg?«

»Es tut noch ein bisschen weh.«

»Das ist nicht zu ändern. Nimm eine Tablette. Ich bin fertig mit dir.«

Lion öffnete die Augen und schaute mich schuldbewusst an.

Natascha äußerte aus unerfindlichen Gründen: »So…«

Alexander grinste schal und beleidigend.

»Das ist nicht zum Lachen«, unterbrach ihn Stasj. »Kinder, nun erzählt mal! Wer befahl euch, uns zu töten, und wann war das? Warum habt ihr auf ihn gehört?«

»Das war Elli«, berichtete Natascha schuldbewusst. »Sie…« Natascha schaute mich an und vergewisserte sich: »Ist er wirklich ein Phag?«

»Ja«, bekräftigte ich.

»Elli gehört zum Untergrund«, fuhr Natascha fort. »Sie sagte uns, dass die Widerstandsbewegung beschlossen hatte, den Edemer Oligarchen Bermann, der zu Inej übergelaufen war, zu liquidieren…«

»Hier gibt es keinen ernst zu nehmenden Widerstand«, widersprach Stasj entschieden. »Außer der Partisanenbrigade des alten Semetzki… und auch er wird nur aus propagandistischen Zwecken geduldet. Jeder Anschlag der ›Schrecklichen‹, jeder Überfall auf Materiallager, sogar eure lächerlichen Sendungen ›Neuigkeiten des Widerstandes‹ werden zum Zweck der Gegenpropaganda ausgeschlachtet.«

Natascha wurde rot.

»Das ist nicht wahr!«

Stasj holte Luft: »Und wie wahr das ist, Mädchen. Ich möchte nichts Schlechtes über euren Chef und über eure Truppe äußern. Aber wenn es Inej für nötig gehalten hätte, euch zu vernichten, wärt ihr nicht einmal einen Tag lang aktiv gewesen.«

»Aber Elli dachte…«

»Kennst du diese Elli schon länger?«

»Nein.« Natascha schämte sich noch mehr. »Aber sie kam von einem zuverlässigen Menschen! Dem Wächter der Anlagestelle, er hilft uns seit langem.«

»Das ist entweder ein Provokateur oder die Wahrheit wurde im Ministerium für Verhaltenskultur aus ihm herausgepresst. Und eure Elli — ist eine Mitarbeiterin des Geheimdienstes vom Inej.«

»Sie ist doch nur ein Mädchen«, trat Lion für Elli ein.

»Wie auch Natascha.« Stasj lachte auf. »Unsere Sache steht schlecht, Leute. Ist euch klar, was hier gespielt wird?«

Mir war es klar und ich sagte laut: »Du bist enttarnt, stimmt’s? Deshalb wurde befohlen, dich zu vernichten!«

»Im Großen und Ganzen hat es den Anschein.« Stasj nickte. »Aber es gibt da bestimmte Feinheiten. Wenn Inej wirklich den Austausch erkannt hätte, hätte man uns liquidiert oder ein doppeltes Spiel gespielt. Euch zu schicken war dumm. Wenn es nicht…«

»Eine Überprüfung ist?«, mutmaßte Alexander. »Wenn wir diejenigen sind, für die wir uns ausgeben…«

»Wären die drei erfolgreich gewesen«, ergänzte Stasj. »Sie hätten Bermanns Tochter und ihn selbst getötet. Aber derartige Überprüfungen gibt es nicht, der echte Bermann ist für Inej viel zu wertvoll.«

»Das heißt, sie wissen, wer wir sind«, folgerte Alexander ruhig. »Das ist unangenehm. Haben sie eventuell eine Genprobe genommen?«

Stasj winkte ab. »Inej besitzt keine Genkartei der Bermanns. Und sie hatten keinen Grund, uns nochmals zu überprüfen, durch die Standardpersonenkontrolle sind wir gekommen.«

»Nur, dass Bermann einen Sohn an Stelle einer Tochter hat«, konnte ich mich nicht enthalten zu sagen.

»Das ist nicht kontrolliert worden.« Stasj lachte. »Eine Wahl hatten wir so oder so nicht. Es gibt keine weiblichen Phagen. Und für unsere Mission war es unabdingbar, dass Alexander während des Fluges im Zeittunnel bei Bewusstsein blieb.«

»Was sitzen wir hier herum?«, machte sich Natascha wieder bemerkbar. »Wenn sie euch verdächtigen oder entlarvt haben, müssen wir fliehen!«

»Eilen sollte man erst dann, wenn man verstanden hat, was vor sich geht«, erwiderte Stasj ruhig. »Wir stehen noch im Dunkeln. Es ist nicht endgültig geklärt, ob wir entlarvt wurden oder nicht. Es ist nicht klar, was von euch, und unklar, was von uns erwartet wurde. Nichts ist klar…«

Er schaute Alexander an. »Nun, Praktikant, was sagt das Lehrbuch, ausgehend von den vorliegenden Präzedenzfällen, wie man sich in einer derartigen Situation zu verhalten hat?«

»Entsprechend der übernommenen Rolle sind die Handlungen weiterzuführen«, antwortete Alexander schnell.

Stasj nickte.

Aber Alexander war noch nicht fertig. »Die echten Bermanns würden, wenn es ihnen gelungen wäre davonzukommen, ihre Gegner eigenhändig verhören, eventuell unter Einsatz von Folter und psychotropen Mitteln. Danach hätten sie die Gegner entweder liquidiert oder sie der Wache übergeben, um genauere Aufklärung einzufordern.«

Stasj hakte interessiert nach: »Du schlägst vor, erst zu foltern und sie danach zu töten?«

Alexander warf einen Seitenblick auf mich. Er antwortete unsicher: »Nicht unbedingt. Es würde ausreichen, als Wahrheitsserum memerotrophe Präparate der Indolonreihe einzusetzen. Grundlage: Tiefenverhör. Nebenwirkungen: retrograde Amnesie für alle Ereignisse der letzten zwei bis drei Wochen.«

Stasj schwieg.

»Ich bestehe auf dieser Variante«, beharrte Alexander, der sich zunehmend an seinen Vorschlägen berauschte. »Unsere Mission ist zu wichtig, um sie in Frage zu stellen. Letztendlich ist das durchaus human.«

»Ich werde dir selbst eine Amnesie verpassen, und zwar ohne Präparate!«, schrie Lion und sprang auf. »Schweinehund!«

»Du hältst die Klappe! Euretwegen ist die ganze Operation…«, begann Alexander sich zu rechtfertigen. Er kam nicht weiter. Lion schnappte sich ein Kopfkissen vom Bett und warf sich auf ihn. Das sah recht lustig aus, als ob sie wie die Kinder eine Kissenschlacht veranstalten wollten. Aber Lion machte durchaus keinen Spaß. Als Alexander, ohne aufzustehen, mit Leichtigkeit das auf ihn zufliegende Kopfkissen fing, hockte sich Lion äußerst elegant hin, drehte sich und warf mit seinen Beinen Alexander zusammen mit dem Stuhl um. Unmittelbar darauf stürzte er sich auf ihn, nahm das Kopfkissen und drückte es kräftig auf das Gesicht des Phagen.

Ich sprang auf und wusste nicht, was ich tun sollte. Mich einmischen? Sie auseinanderbringen? Oder Lion helfen?

Natascha blinzelte. Sie war halt ein Mädchen, was war da von ihr schon anderes zu erwarten.

Und Stasj beobachtete völlig kaltblütig die Schlägerei. Wie konnte er nur!

Alexander wand sich hervor, schüttelte Lion ab und versuchte zuzuschlagen, aber Lion nahm rechtzeitig seinen Kopf zur Seite und der kleine Phag hieb mit aller Kraft seine Faust auf den Boden. Das tat sicher höllisch weh, aber er gab keinen Ton von sich. Er ging Lion an den Hals, während Lion ihn immer noch schweigend und konzentriert mit seinen Fäusten ins Gesicht schlug. Er zielte auf die Nase, traf aber das Jochbein — Alexander verstand es ebenfalls, auszuweichen.

»Aufhören…«, sagte Stasj in diesem besonderen Ton, in dem die Phagen sprechen konnten. Lion und Alexander ließen sofort voneinander ab, sprangen zurück und erhoben sich.

»Der ist ja verrückt!«, beklagte sich Alexander empört. »Ich versuche ihm das Leben zu retten! Und er hat mir auch noch mein T-Shirt zerrissen!«

»In Nahkampf bist du durchgefallen«, bewertete Stasj, als ob wir in der Schule wären. »Du hast mit vollem Krafteinsatz gekämpft und konntest ihn nicht überwältigen. Schlecht, sehr schlecht, Alex!«

Alexander senkte den Kopf, brummelte etwas vor sich hin, begehrte aber nicht auf.

»Der blaue Fleck wird bemerkenswert«, fuhr Stasj fort. »Ich hätte ihn ungern selbst verursacht, gut dass Lion eingesprungen ist. Setzt euch!«

Es setzten sich nicht nur die Raufbolde, sondern auch Natascha und ich.

»Fahr fort, Praktikant«, forderte Stasj auf. »Wie Bermann handeln würde, hast du erklärt. Wie muss ein Phag handeln?«

»Genauso wie Bermann«, erwiderte Alexander beleidigt.

Stasj schüttelte den Kopf. »Und du warst der Beste in der Gruppe? Es sieht ganz so aus, als ob die Phagen aussterben würden. Das wäre zu zeitig. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass wir noch zwei, drei Generationen durchhalten… Wir können nicht wie Bermann handeln, Alex. Das würde nur bestätigen, dass an Stelle von Bermann unbarmherzige Profis nach Neu-Kuweit gekommen sind. Wir müssen so handeln, wie sich weder Bermann noch die Phagen verhalten hätten.«

»Und das wäre?«, erkundigte sich Alexander düster.

»Unlogisch.«

Kapitel 3

Es roch nach verbranntem Fleisch. Es stank entsetzlich. Wenn Fleisch auf dem Herd anbrennt, ist das ein ganz anderer Geruch. Bestimmt kam es daher, dass gemeinsam mit dem Fleisch synthetischer Stoff verbrannte.

Der Kamin im großen Dinnersaal war gigantisch, als ob man ihn zum Braten von Ochsen konstruiert hätte. Jetzt lagen in den orangefarbenen Flammen der Gasdüsen des Kamins drei Säcke, vollgestopft mit Gefrierfleisch und Kleidung. Unserer Kleidung. Nicht nur Natascha, sondern auch Lion und ich mussten uns etwas aus Alexanders Garderobe anziehen — gut, dass sie so reichhaltig war. Ich behielt lediglich das Schlangenschwert — ich stellte mich stur und war durch nichts dazu zu bewegen, es ins Feuer zu werfen.

Wir sollten im Kamin verbrannt werden.

Das wäre ein überaus eigenartiges Vorgehen sowohl für den Multimillionär Bermann als auch für einen Phagen, der sich als Oligarch ausgab. Die Attentäter töten und ihre Körper verbrennen! Wie in einem historischen Roman. Wie in der Kriminalchronik eines zurückgebliebenen Planeten.

Wir standen vor dem Kamin. Ohne besonderen Grund. Das Feuer würde auch so herunterbrennen, warum also sollten wir diesen Gestank einatmen.

Aber wir blieben stehen…

Es wurde an die Tür geklopft. Eine aufgeregte Stimme fragte: »Mister Bermann? Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?«

Stasj zwinkerte mir zu und näherte sich der Tür. Er schnauzte ihn an (Mein Gott, dieser Herr Bermann hatte wirklich eine widerliche Stimme): »Junger Mann, verstehen Sie kein Lingua? Ich meditiere!«

Das war vielleicht eine Erklärung! Bei einem derartigen Gestank hätte man höchstens mit Gasmaske meditieren können! Aber der Diensthabende war nicht geneigt, sich mit dem Ehrengast der Präsidentin anzulegen.

»Es sind zu wenig Knochen«, meinte Stasj beunruhigt, als er zu uns zurückkam. »Das Fleisch ist zu gut.«

»Es verbrennt sowieso alles zu Asche«, maulte Alexander. Er war immer noch böse auf uns, besonders auf Lion, und auch auf Stasj.

Stasj zuckte mit den Schultern. Er drehte am Gasregler des Kamins, die Brenner fauchten und warfen Flammen.

»Vielleicht sollte man Calcium hinzufügen?«, schlug Natascha leise vor. »Na ja… Kreide oder so was… Wenn sie die Asche untersuchen…«

»Das werden sie«, stimmte Stasj zu. »Sascha, Lion! Im Kühlschrank steht Quark. Bringt ihn her. Und außerdem Multivitamintabletten aus unserer Apothekentasche.«

Die beiden schauten sich feindselig an und gingen hinaus. Stasj lachte leise. »Sie sehen sich an wie junge Wölfe. Macht nichts, gegen Abend werden sie Frieden geschlossen haben.«

»Glauben Sie?«, fragte Natascha interessiert.

»Oft beginnt eine Freundschaft mit ein paar blauen Flecken«, meinte Stasj nachdenklich. »Tja, sie werden es natürlich herausfinden. Die genaue Zusammensetzung menschlicher Asche können wir nicht imitieren. Aber wir gewinnen Zeit.«

»Viel?«, wollte ich wissen.

»Nein. Aber viel brauchen wir auch nicht. Am Nachmittag fliegen die Bermanns ab.«

»Und wir?«, fragte ich gespannt.

»Ihr auch. Im Gepäck, anders geht es nicht.«

»Ist Edem ein schöner Planet?«, erkundigte ich mich.

»Ja, in diesem Fall lügt der Name nicht… Warte, wieso Edem?« Stasj schüttelte den Kopf. »Tikkirej, wir fliegen nicht auf den Edem, sondern auf den Inej.«

»Oh!« Natascha war erschrocken.

»Auf den Edem oder einen beliebigen anderen Planeten des Imperiums lassen sie uns nicht«, erklärte Stasj. »Aber auf den Inej… warum auch nicht. Während der Flugdauer werden die Geheimdienste versuchen, endgültig zu klären, was passiert ist. Sollen sie nur…«

Er lächelte.

Lion und Alexander kamen zurück. Sie warfen eine Packung Diätquark, Tabletten und ein tiefgefrorenes Huhn ins Kaminfeuer.

Stasj schüttelte den Kopf, protestierte aber nicht gegen das Huhn. »Wenn alles Kopf steht, kann man sich auch mal eine Dummheit erlauben. Das reicht, Jungs. Geht, ihr habt genügend Qualm eingeatmet. Ich warte hier, bis alles runtergebrannt ist.«

»Die echten hätten noch mehr gestunken«, stichelte Alexander. Es sah ganz so aus, als ob ihn die Niederlage bei der Schlägerei mit Lion sehr mitnahm.

»Warum bist du nur so boshaft?«, fragte Natascha plötzlich. »Du bist doch ein Phag.«

Alexander nahm einen anderen Ausdruck an und schwieg.

An seiner statt antwortete Stasj: »Leider ist er genau deshalb so boshaft. Geht, Kinder.« Nach einer halben Stunde — Stasj war noch im Dinnersaal und verbrannte im Kamin »unsere Überreste« — unterhielten wir uns schon wieder normal mit Alexander. Entweder hatte er sich wirklich beruhigt oder sich zusammengerissen. Er saß im Sessel und schwang Reden. »Das ist ganz einfach, da ist gar nichts dabei. Wenn die Grundausbildung beendet ist, wird ein Praktikant mit einer richtigen Aufgabe betraut. Natürlich versucht man etwas Einfacheres auszuwählen, aber dieses Mal wurde auf jeden Fall ein Junge gebraucht… also ein Mädchen, aber woher sollte man ein ausgebildetes Mädchen nehmen? Ich absolvierte einen Schnellkurs in Maskenbildnerei, als Test verbrachte ich sogar drei Tage im Mädcheninternat der heiligen Ursula. Es ging gut, niemand schöpfte Verdacht, wer ich war. Dann flogen wir zum Edem und verbrachten dort eine Woche in der Villa der Bermanns gemeinsam mit ihnen. Die waren vielleicht wütend… besonders Alexandra. Na und, bald beruhigten sie sich und waren uns sogar behilflich.«

»Und der Ausdruck ›na und‹ — ist der auch von Alexandra?«, machte sich Lion lustig.

»Natürlich. Phagen benutzen keine Füllwörter, die verräterisch sind.«

Lion schüttelte den Kopf, aber dieses Mal vor Begeisterung.

»Alex, darf ich…« Natascha, die schon lange um den Standspiegel herumgeschlichen war, blickte zu den Cremedosen.

»Selbstverständlich«, sagte er. »Von diesem Zeug habe ich massenhaft… Einen ganzen Abend habe ich mir eingebläut, was wohin geschmiert wird. Probier dieses Peeling da, mit zerstoßenen Muscheln und Lotusextrakt.«

»Und, wirkt es irgendwie besonders?«, fragte Natascha.

»Natürlich nicht. Ist doch egal, ob es Muschel oder Nussschale ist. Aber eine Dose kostet vierhundert Kredit.«

Natascha stieß einen Schrei aus und fing sofort an, ihr Gesicht einzureiben.

Alex wandte sich wieder zu uns: »Dann verließen wir heimlich den Edem. Die echten Bermanns planten, an ihrer Stelle Zwillinge dazulassen. Ehrlich gesagt, kamen wir unter dem Deckmantel der Zwillinge auch zu ihnen. Nur, dass wir jetzt alles umgedreht machten — heimlich flogen wir nach Neu- Kuweit, und die Bermanns blieben in ihrer Villa, um sich selbst zu spielen. Sie sind etwas extravagant, also haben ihre Mätzchen niemanden erstaunt.«

»Und was wolltet ihr auf Neu-Kuweit machen?«, erkundigte ich mich.

»Auf keinen Fall euch retten… Ich weiß es nicht, Stasj leitet die Operation. Aber selbst wenn ich es wüsste, würde ich nichts sagen.«

»Ihr wolltet euch sicher mit der Präsidentin des Inej treffen und sie dabei töten?«, überlegte Lion. »Aber…«

»Aber alle sagen, dass man sie nicht töten kann.« Alex nickte. »Das ist es. Es wäre nicht schlecht, das herauszufinden.«

»Und, ist es euch gelungen?«, fragte Lion weiter.

»Gar nichts ist gelungen. Die Präsidentin hat uns nicht empfangen, sie hat ihre Berater vorgeschickt. Um auf dem Platz ihre Prophezeiungen unters Volk zu bringen, dafür hat ihre Zeit gereicht…« Alex’ Gesicht war wütend und angespannt. Er wusste natürlich, wie Tien erniedrigt worden war. Das konnte er Inna Snow nicht verzeihen.

Ich fand, dass Alex eigentlich gar nicht so übel war. Boshaft — das stimmt, aber was konnte man schon erwarten, wenn einer von Geburt an in Zucht gehalten wird und lernt, sich zu verstellen und zu töten. Alex kannte ja nicht einmal seine Eltern, er wurde praktisch im Reagenzglas geboren. Er kannte nur Erzieher und Lehrer. Bis zum dritten Lebensjahr auch noch die Kinderfrauen, sie allein durften liebevoll mit den kleinen Phagen umgehen.

Danach war Schluss.

Sie wurden gelobt, wurden gefördert, doch sie zu umarmen oder zu streicheln wurde nicht empfohlen.

Aber so ist das Leben: Die Kämpfer gegen das Böse haben es nicht einfach. Natürlich nur dann, wenn es keine Streifenpolizisten sind, die für Ordnung in der Stadt sorgen, sondern solche Supermänner wie die Phagen oder die Garde des Imperators. Die wird ebenfalls von Kindesbeinen an ganz besonders erzogen.

Irgendwann einmal hatte Stasj einen Satz gesagt, der mich kichern ließ, dessen Sinn ich in Wirklichkeit aber nicht verstand: »Um gegen das ungeheuer Böse zu kämpfen, muss man ungeheuer gut sein.«

Wenn ich mir Alex jetzt anschaute, verstand ich das. Außerdem wusste ich, dass ihn Stasj niemals streicheln oder ihm eine Kopfnuss geben würde. Höchstens bei einer Aufgabe wie der jetzigen, wo Stasj den besorgten Vater spielte, aber dieses »So tun, als ob« war etwas ganz anderes. Und Alex selbst erwartete auch nicht, dass man ihn umarmen oder ihm etwas Liebevolles sagen würde.

Er war ein Soldat.

Er war die kleine Verkörperung des ungeheuer Guten.

Auch wenn ich auf einem elenden Planeten aufgewachsen war und nicht einmal einen zehnten Teil dessen, was Alex gelernt hatte, wusste oder konnte, auch wenn er jetzt ein Held war und ich nur ein Junge, der den Helden zwischen den Füßen herumlief — er tat mir leid. Er war viel unglücklicher, als ich jemals gewesen war.

Wie gut, dass ich kein Phag war!

»Wisst ihr, wie die Karriere von Inna Snow in Wirklichkeit begonnen hat?«, fragte währenddessen Alex. »Nein? Wir mussten alle Archive durchsieben, um es herauszufinden. Sie beendete ihr Studium der Soziologie, arbeitete als Soziologin und Psychologin und schrieb ihre Magisterarbeit. Dann begann auf Inej eine Wirtschaftskrise, Inna Snow verlor ihre Arbeit, fing aber als Nachrichtensprecherin beim Fernsehen an. Sie war äußerst ansehnlich…«

»Also hat sie ein normales Gesicht?«, fragte Lion interessiert. »Denn sie versteckt es die ganze Zeit unter einem Schleier…«

»Ein hübsches Gesicht«, bestätigte Alex nachdrücklich. »Als Nachrichtensprecherin war sie sehr populär. Aber vor sieben Jahren hörte sie auf, selbst vor der Kamera zu stehen, und übernahm eine Tätigkeit in der Marketingabteilung, um zu erforschen, welche Sendungen den Zuschauern besser gefallen, und dann entsprechende Empfehlungen zu erarbeiten. Danach wurden die Fernsehprogramme vom Inej ungeheuer beliebt. Das waren Kindersendungen wie ›Die Bastion des Imperiums‹, Fernsehserien für Hausfrauen, Shows für Männer und Bildungssendungen, zum Beispiel, wie man in zehn Minuten ein Mittagessen kocht.«

Ich erinnerte mich, dass ich auch manchmal »Lecker!« geschaut hatte — eine Sendung, in der lustige junge Schauspieler allerlei schmackhafte Gerichte zubereiteten und gleichzeitig Mundharmonika oder Gitarre spielten, jonglierten oder auf andere Art und Weise das Publikum unterhielten. Also gab es sogar bei uns einige Programme vom Inej.

»Bestimmt ist sie sehr talentiert«, dachte Alex laut. Wiederholte er die Meinung von Stasj oder hatte er selbst darüber nachgedacht? Ich wusste es nicht. »Sie hatte ein Gespür dafür, was bei den Zuschauern ankam und was nicht. Das konnte man natürlich schon vor ihr feststellen, aber sie war besser als alle anderen. Wie sie jedoch dazu kam, Programme in die Menschen einzuschleusen und wie sie diese in den Sendungen verstecken konnte — das wissen wir bislang noch nicht. Vielleicht hat ihr dabei jemand geholfen. Sie konnte ja auch ohne jegliche Programmierung Menschen davon überzeugen, ihr zu helfen. Und mit den Programmen erst… Zunächst erreichte sie, dass sie zur Präsidentin des Inej gewählt wurde.

Sie war nur sehr wenig als Politikerin in Erscheinung getreten, lediglich einige Male auf dem Bildschirm zu sehen — und mit einem Mal wurde sie von allen verehrt! Der Präsident selbst ging in den Ruhestand und veranlasste vorgezogene Wahlen. Könnt ihr euch das vorstellen? Damals war noch niemandem klar, was vor sich ging. Sie hatte das Programm auf ihrem Heimatplaneten aktiviert. Und es begann…«

»Alex«, meinte ich, »sag mal, hat man bereits herausgefunden, wie diese Programme funktionieren?«

Er nickte. »Ja, man hat es herausgefunden. Durch ihn…« Er nickte in Richtung Lion, der vor Stolz rot wurde. »Das Gehirn des Menschen kann arbeiten wie ein Computer. Dieser Effekt wird bei Onlinerechenoperationen genutzt, aber dabei berechnet das Gehirn eine fünfdimensionale Navigation, und hier schafft es eine virtuelle Welt, in der der Mensch zu leben beginnt. Alle diejenigen, bei denen das Programm funktionierte, bemerkten es nicht. Als sie aufwachten, glaubten sie, dass sie lebten wie zuvor, Inna Snow ihre Präsidentin war und der Imperator plötzlich beschlossen hatte, alle zu verdrängen, worauf der Krieg begann. In einer Nacht durchlebten sie ein ganzes Leben. Und dieses Leben überzeugte sie davon, dass Inna Snow zu den Guten gehörte, dass sie die beste Regierungschefin sei…«

»Und hatten alle die gleichen Träume?«

»Natürlich nicht. Wie können die Träume gleich sein bei einem Akademiker, einer Hausfrau und einem dreijährigen Kind? Alle hatten verschiedene Träume. Diejenigen, die von Abenteuern träumten, zogen in den Kampf. Wer von Reichtum und einem Leben in einem Penthouse träumte, wurde reich und lebte dort. Wer von Liebe träumte, verliebte sich… Aber immer waren Inna Snow und der Imperator präsent. Snow verkörperte das Gute, der Imperator das Böse.«

»Aber dann endete der Traum«, meinte ich und schaute aus den Augenwinkeln auf Natascha. Die war völlig mit den Cremes, Parfüms und Pudern beschäftigt. Wie ist sie nur im Wald ohne das alles zurechtgekommen?

»Der Traum ging zu Ende und geriet in Vergessenheit«, sagte Alex nickend. »Das war auch so vorgesehen. Allerdings hatte bereits eine Charakterveränderung stattgefunden. Am wenigsten wirkten diese Träume auf ältere Menschen. Sie hatten bereits viel erlebt, und es war schwer, deren Ansichten zu ändern. Einige überstanden es nicht, wurden verrückt oder versanken in Katalepsie. Dafür veränderte sich die Jugend, besonders die Kinder, deren Charakter noch nicht ausgeprägt war, sofort so, wie Inej beabsichtigt hatte. Also nicht Inej, sondern Inna Snow!«

»Dann ist sie allein an allem schuld?«, fragte Lion, der Alex aufmerksam zuhörte.

Der junge Phag nickte. »Ja, es sieht ganz danach aus. Das gibt es selten in der Geschichte, dass ein einzelner Mensch dermaßen viel Böses anrichten konnte. Wir haben virtuelle Geschichtssimulatoren, die recht zuverlässig sind. Wenn du einen großen Diktator oder einen Gelehrten aus der Geschichte entfernst, verändert sich wenig. So würde zum Beispiel der Zweite Weltkrieg lediglich fünf Tage kürzer sein. Oder an Stelle von Deutschland würde ein anderes Land den Krieg beginnen… Oder Napoleon hätte in Waterloo gesiegt, dafür aber fast seine gesamte Armee verloren und man hätte ihn im Herbst abgesetzt. Alles in allem bleibt das Resultat ziemlich gleich. Als wir jedoch versuchten, Inna Snow herauszunehmen, änderte sich alles. Inej blieb ein normaler, friedlicher Planet. Keine Aufstände, keine Programmierung der Psyche.« Er schwieg und bekannte dann unlustig: »Und es sieht danach aus, dass man Snow nicht töten kann.«

»Wieso das denn?«, wollte ich wissen.

»Es scheint ganz so, als habe sie sich klonen lassen und ihr Gedächtnis den Klonen überschrieben. Also, wenn man eine Inna Snow tötet, erscheint unmittelbar darauf eine andere. Eine identische. Das ist natürlich keine Unsterblichkeit, aber es gibt keinen Machtwechsel.«

»Ich habe gehört, dass der Großvater unseres Imperators ebenfalls ein Klon war«, äußerte Lion. Herausfordernd schaute er zu Alex. »Es gab solche Gerüchte.«

Der Phag rang mit sich und gab dann zu: »Ja. Uns wurde davon erzählt. Aber das war etwas anderes. Der vorherige Imperator konnte keine Kinder bekommen. Deshalb schuf er einen Klon und erzog ihn wie einen Erben.«

»Und wodurch ist er dann besser als Snow?«, fragte Lion aufgebracht.

»Aber er hat ihm doch nicht sein Bewusstsein übertragen!« Alex regte sich auf. »Sein Klon führte eine völlig andere Politik. Unter ihm schlossen wir Frieden mit den Tzygu und überhaupt… Kennt ihr euch denn nicht in Geschichte aus?«

In Geschichte kannten wir uns wirklich nicht besonders aus. Deshalb stritten wir auch nicht.

Trotzdem fuhr Alex fort uns zu belehren: »Persönliche Unsterblichkeit existiert trotzdem nicht. Dafür wäre es notwendig, dass das Bewusstsein eines Menschen ununterbrochen auf seinen Klon überschrieben wird, der Klon dabei keine eigenen Gedanken fassen würde, sondern in Bereitschaft wäre… na, so wie eine Sicherheitskopie für Dateien im Computer. Solche Technologien gibt es nicht und sie befinden sich bestimmt nicht in der Entwicklung…«

In diesem Moment kam Stasj herein. Ich betrachtete ihn bereits als Stasj, ungeachtet der fremden Stimme, des unbekannten Gesichts und des soliden Bäuchleins.

Kaum im Zimmer widersprach er: »Das ist nicht ganz exakt, Praktikant. Eine entsprechende Technologie wurde theoretisch durchgespielt, aber in der Praxis wäre eine technische Revolution erforderlich, um ihre Umsetzung zu ermöglichen.«

Alex nickte und fragte: »Ist alles verbrannt?«

»Alles. Zu Asche. Seid ihr bereit, Kinder?«

Natascha wischte schnell die überflüssige Creme von der Nase.

»Du brauchst dich nicht zu beeilen«, beruhigte sie Stasj. »Ich werde dir jetzt eine Injektion zur Vorbereitung der Anabiose geben. Wir haben wenig Zeit, also benutze ich eine konzentrierte Lösung, du musst es schon ertragen. Aber geh zuerst noch auf die Toilette… Das betrifft übrigens alle! Alex, sieh mal nach, in der Hausapotheke müssten große Pampers sein.«

»Wozu?«, fragte Lion misstrauisch.

»Ihr müsst fast zwölf Stunden ohne Bewegung überstehen. Toiletten sind in Koffern nicht eingebaut, nicht einmal in den teuersten.«

Alex lachte auf und kroch in den Schrank. Natascha wurde knallrot, sagte aber nichts. Erst jetzt wurde mir klar, dass sich Stasj keinen Illusionen hingab. Ein Kamin voller Asche und das eigenartige Verhalten des Oligarchen konnten die Spionageabwehr des Inej verwirren, aber letztlich nicht an der Nase herumführen. Er handelte aufgrund der winzigen Chance, dass Elli wirklich ein Verbindungsglied der Widerstandsbewegung war, die vom Besuch Bermanns erfahren hatte und ihn zu töten beschloss.

Wir vertrauten Stasj blind. Wenn er sich etwas überlegt hatte, dann würde es funktionieren. Er hatte uns ja schon einmal aus Neu-Kuweit gerettet!

Auch Natascha wurde von diesem Optimismus angesteckt.

Glaubte Alexander an einen Erfolg? Ich wusste es nicht. Als Phag konnte er seine Gefühle verbergen.

Also empfanden wir bis auf ein gewisses Unwohlsein nichts, als wir verpackt wurden. Nicht das kleinste Angstgefühl.

Natascha hatte es am besten getroffen. Sie wurde in die Anabiosekapsel gesteckt, die für Alex vorgesehen war. Diese war bequem, sogar gemütlich mit ihrem einseitig durchsichtigen Fenster in Gesichtshöhe. Das Kleid, das sie sich von dem jungen Phagen geliehen hatte, stand ihr, sie sah in ihm einfach großartig aus. Alex erklärte ihr noch, wie man in der Kapsel die Musik einschalten konnte, um sich bequem die Zeit zu verkürzen, aber Stasj schüttelte streng den Kopf und befahl, den Player nicht zu benutzen.

Lion hatte weniger Glück. Er wurde in eine große Tasche gepackt, musste sich aber hinhocken. Damit er nicht hin und her schwankte und die Gepäckträger keinen Verdacht schöpften, stopfte Stasj etliche Kleidungsstücke um ihn herum. Die engen Jeans, die ihm Alex mit einem Grinsen gegeben hatte, passten natürlich nicht über die Pampers. Also hatte Lion in der Tasche lediglich Pullover und Windel an und hockte auf seiner Hose.

Ich bekam den unbequemsten Platz in einem würfelförmigen Koffer, der an eine alte Truhe erinnerte. Hinhocken konnte ich mich nicht, da er zu niedrig war. Hinlegen war unmöglich, der Koffer war zu kurz. Daher legte ich mich auf den Boden und faltete mich wie ein Taschenmesser zusammen.

»Wirst du es überstehen?«, fragte Stasj besorgt.

»Sicher. Ich bin zäh.«

Stasj schüttelte zweifelnd den Kopf und packte allerlei leichte Sachen auf mich. Ich machte mir keine Sorgen, sondern tröstete mich damit, dass es mir gelungen war, meine weiten Sporthosen über die dämliche Windel zu ziehen. Vielleicht entdeckten sie uns doch? In diesem Fall wäre es extrem peinlich, wie ein Säugling in Pampers aus dem Koffer zu klettern…

Das waren natürlich nur dumme Gedanken. Aber in diesem Augenblick lenkte ich mich gerade damit ab, als ob ich nicht verstehen würde, dass bei unserer Entlarvung die beschämende Windel unser kleinstes Problem sein würde.

Über meinem Kopf schnappten die Schlösser zu, um mich herum wurde es dunkel.

Nur durch die kleinen Löcher drangen feine Lichtstrahlen herein.

»Hört aufmerksam zu«, sagte Stasj mit gedämpft klingender Stimme. »Wir werden jetzt die Gepäckträger rufen, das Gepäck wird aufgeladen und zum Kosmodrom geschafft. Verhaltet euch ruhig. Bewegt euch nicht. Atmet gleichmäßig und ruhig. Sprecht kein einziges Wort. Auch wenn euch scheint, dass ihr entdeckt seid, rührt euch nicht. Was immer passiert — unternehmt nichts! Verlasst euch auf mich!«

Er schwieg kurz und fügte dann hinzu: »In sechs Stunden, wenn das Gepäck in die Kajüte gebracht wurde, könnt ihr herauskommen. Wahrscheinlich noch vor dem Abflug. Aber selbst wenn wir es nicht schaffen sollten, euch bis zum Start herauszulassen, wenn man uns beispielsweise als Ehrenpassagiere in die Kapitänskajüte bittet, haltet aus und schweigt. Die Belastungen werden rein symbolisch sein, das ist eine moderne Touristenjacht mit Gravikompensatoren. Zwischen dem Eintreten in den Orbit und dem Zeitsprung wird mindestens eine Stunde vergehen. Wir werden es also schaffen, Natascha vollständig auf die Anabiose vorzubereiten.«

Ich zuckte innerlich zusammen, als mir klar wurde, dass wir während des Zeitsprungs durchaus auch im Gepäck sein könnten. Und Natascha würde sofort sterben, wenn sie nicht in Anabiose gelegt würde.

»Alles wird gut gehen«, wiederholte Stasj noch einmal. »Vertraut uns.«

Danach umfing uns Stille. Stasj und Alex hatten den Raum verlassen. Ich lag da und überlegte, ob ich mit Lion sprechen könnte — seine Tasche stand direkt neben mir. Ich entschied mich dafür, das Verbot von Stasj nicht zu übertreten. Und das war gut so — ich hatte nicht bemerkt, wie sich eine Tür öffnete, hörte lediglich Stimmen:

»Nein, schau dir das an, so viel Kram… Und das sollen wir alles zu zweit schaffen?«

»Das ist unser Job. Fang an…«

Ich erkannte gleich, dass der erste der Sprechenden ein normaler Mensch, der zweite ein Hirnamputierter war. Sie näherten sich und hoben die Truhe an, wobei der Normale leise fluchte. Und sie schleppten.

Ich wurde so geschaukelt, dass mir sogar ein bisschen übel wurde. Die Truhe stellte man grob und rücksichtslos ab, und außerdem müsste ich mal für kleine Jungs, als ob ich nicht gerade vor zwanzig Minuten war. So ein Pech aber auch! Ich nahm mir fest vor auszuhalten und begann aufmerksam zu horchen.

Um mich herum herrschte ein Durcheinander. Entweder waren wegen der Abreise der Bermanns zusätzliche Dienstboten gekommen oder die wenigen Wachmänner machten so einen Lärm. Die ganze Zeit über befand sich jemand in unserer Nähe. Zwei Stimmen erörterten den Spleen des »alten Kauzes«, im dekorativen Kamin jede Menge Zeugs zu verbrennen.

»Das stank, als ob sie dort Leichen verbrannt hätten«, schimpfte jemand.

»Und diesem Untier gegenüber darf man nicht einmal eine Andeutung machen!«

»Wenn er abgereist ist, verfassen wir einen Bericht.« Diese Stimme kannte ich. Es war die Frau, die bereits damit gedroht hatte, einen Bericht über Unregelmäßigkeiten bei der Alarmanlage aufzusetzen. Und ihre Stimme klang äußerst traurig, als ob sie ahnte, was genau Bermann im Kamin verbrannt hatte, darüber aber nicht sprechen durfte. »Reinigt den Kamin noch nicht, die Asche muss noch untersucht werden.«

Wer mochte sie wohl sein? Eine vom Widerstand oder eine Agentin der Spionageabwehr? Als Untergrundkämpferin würde sie mir sehr leidtun. Dann dächte sie nämlich, dass ihre Kampfgenossen umgekommen und von dem hinterlistigen Oligarchen verbrannt worden waren.

Das übrige Gepäck wurde gebracht — das mit den Sachen und jenes mit Natascha und Lion. Auch Alex erschien… Was er für eine widerliche Stimme hatte, wenn er ein Mädchen spielte! Alex begann sofort zu kommandieren, ließ seinen Launen freien Lauf, forderte einen Koffer zu öffnen und mit den anderen sorgsamer umzugehen. Nach einer Viertelstunde, das Gepäck war nun vollständig im Auto verstaut, empfand ich direkt Erleichterung, seine Stimme nicht weiter ertragen zu müssen.

Und auf Toilette musste ich immer nötiger…

Das Auto setzte sich in Bewegung. Die erste Zeit fuhr es langsam und wendete ständig, bis es endlich die Schnellstraße erreichte. Das Gepäck wurde zwar etwas geschüttelt, aber nicht sehr. Die Straße war gut. Ich versuchte mich zu bewegen, um Arme und Beine zu lockern, aber ich musste feststellen, dass sie mir kaum noch gehorchten.

Wie würde es mir in sechs Stunden gehen? Man müsste mich verkrümmt herausheben, dann auseinanderbiegen und lockern…

Ich versuchte mich abzulenken, dachte an Raumschiffe, die gerade aus allen Ecken und Enden der Galaktik zur Föderation des Inej strebten, an tapfere Elitesoldaten, die sich auf die Befreiung eines Planeten vorbereiteten, an den Imperator, Inna Snow, Stasj, an den Planeten Karijer… dort interessierte sich bestimmt niemand für den Putsch des Inej.

Aber eigentlich hatte ich nur ein Bedürfnis. Und letztendlich hielt ich es nicht mehr aus. Mir war es ungeheuer peinlich, und es fiel mir schwer, in die Windel zu machen, aber es blieb mir nichts anderes übrig.

So eine Schande!

Zuerst war es peinlich, nass und warm.

Dann wurde es peinlich, nass und kalt.

Wie kommt es nur, dass die Kleinkinder jahrelang Windeln ertragen? Und wenn sie ihr Geschäft machen, können sie auch noch übers ganze Gesicht lachen!

Es würde mich schon interessieren, ob meine Freunde das aushielten. Ich war mir aber ziemlich sicher, dass es sie auch auf die Toilette drängte, seitdem das nicht mehr möglich war. Ich stellte mir die tapfere Natascha in dieser schwierigen Situation vor… Wie lange wir auf sie einreden mussten! Stasj führte das Beispiel der Monteurkosmonauten an, die immer Windeln bei ihrer Tätigkeit im Orbit trugen, bevor sie sich damit einverstanden erklärte, sie »für alle Fälle« überzuziehen.

Nein, ich würde sie nicht auslachen und mich erkundigen, ob sie die Windeln gebraucht hätte. Nicht einmal mit Lion würde ich darüber sprechen. Und er würde auch nicht davon anfangen. Ich war mir sicher, dass sie es auch nicht aushalten könnten. Stasj würde es natürlich wissen, aber Stasj wusste auch so alles.

Endlich hielt das Auto an. Ich spürte, wie mein Koffer angehoben und weggetragen wurde. Offensichtlich schon nicht mehr von den Wachleuten, die Stimmen waren unbekannt. Als ich hörte, worüber sie sprachen, blieb mir vor Angst fast das Herz stehen.

»Zum Zoll?«

»Wohin sonst? Äh, nein… warte mal… Das ist doch die VIP- Kategorie, keine Kontrolle. Direkt in den Laderaum.«

Der Koffer wurde abgesetzt.

»Dann hol einen Wagen. So ein schwerer Koffer, verdammt…«

»Vielleicht sollten wir ihn durch den Scanner schicken?«, schlug plötzlich derjenige, der »VIP« erwähnt hatte, vor. »Dann schauen wir mal, was die reichen Tiere so alles dabeihaben.«

»Und was gedenkst du da zu finden?«, wurde ihm voller Ironie erwidert. »Fünfhundert Kilo Rauschgift? Eine zerstückelte Leiche? Einen illegalen Passagier?«

»Gold und Brillanten!« Der zweite Träger lachte. »Es ist einfach interessant.«

»Nein, das ist es nicht wert«, kam die Antwort nach einigen Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen. »Siehst du nicht, wie viel so ein Koffer kostet? Der hat sicher einen Strahlendetektor. Der Besitzer merkt sofort, dass sein Gepäck durchsucht wurde. Oder gefällt dir deine Arbeit nicht?«

»Besser im Dock arbeiten als Koffer schleppen, die zwei Kredit kosten.« Der Sprecher spuckte aus. »Okay, ich hole einen Wagen.«

»Zwei Kredit, da übertreibst du«, erwiderte der andere Träger tief in Gedanken versunken. »Vielleicht anderthalb… und auch das wohl kaum…«

Irgendetwas stieß an den Koffer und fuhr in einigen Zentimetern Entfernung von meinem Gesicht über die Wand. Bestimmt war der Koffer angespuckt worden und wurde abgewischt. Mit der Schuhsohle.

Gut, dass Leute vom Kaliber Bermanns nicht ahnen, wie manchmal mit ihren Sachen umgegangen wird und wie die teuren Gerichte im Restaurant zubereitet werden. Auf Karijer arbeitete eine Bekannte meiner Eltern im ersten Hotel der Stadt. Nicht im Hotel am Kosmodrom, sondern im Hotel neben dem Rathaus auf dem zentralen Platz. Sie erzählte uns, wenn sie in einer Suite putzen musste, die total unaufgeräumt war, wo »sich diese reichen Viecher zu fein waren, auch nur die Spülung zu betätigen«, dann reinigte sie das Toilettenbecken mit der Zahnbürste des Gastes. Sie wurde entlassen. Sie hatte es bestimmt nicht nur meinen Eltern erzählt. Die Sache wurde freilich vertuscht, sie bekam lediglich die Auflage, nicht weiter im Dienstleistungssektor zu arbeiten.

Allerdings sind nicht alle Ekel erregenden Leute so schwatzhaft. Damals hatte ich mich nicht besonders darüber gewundert. Mir schien, dass es die rechte Strafe für Schmutzfinken war.

Ich nahm mir aber vor, im Hotel nie meine Zahnbürste offen stehen zu lassen.

Der Transportkarren kam, sein Motor tuckerte leise. Das Gepäck wurde auf der Ladefläche verstaut und weggebracht. Gleich neben mir waren meine Freunde, das wusste ich, aber wir konnten nicht miteinander reden.

Der Wagen fuhr ewig.

Das Agrabader Kosmodrom war groß. Wie ich damals, nach meiner ersten Landung auf Neu-Kuweit, auf ihm herumgelaufen war! Was für eine unverzeihliche Dummheit! Zu Fuß über die Start- und Landebahn, jeden Augenblick in Gefahr, unter den Kräftestrahl eines Raumschiffes oder einen dummen automatischen LKW zu geraten!

Und wie wir mit Stasj den Planeten verlassen hatten… nachts, den hilflosen Lion auf den Armen… jeden Augenblick konnten die Hirnamputierten zu sich kommen und sich auf uns werfen…

Aber es war gut ausgegangen!

Und auch dieses Mal wird es gut ausgehen, so redete ich mir ein, obwohl ich ein zunehmend unangenehmeres Gefühl nicht unterdrücken konnte: während der Gepäckkarren hielt, während das Gepäck abgeladen wurde und während wir eine lange Zeit in völliger Stille verharrten.

Nur gut, dass Natascha in einer echten Anabiosekammer lag, auch Lion war einigermaßen untergebracht, aber ich konnte meine Beine schon nicht mehr spüren, die Seite, auf der ich lag, tat mir weh, und ich sehnte mich danach, mich auszustrecken und eine bequemere Stellung zu finden.

Genauso gerädert fühlt man sich gewöhnlich am Morgen, wenn man die ganze Nacht über unbeweglich in einer einzigen Stellung geschlafen hat.

Trotzdem hielt ich aus und lag ruhig. Und wieder erklangen Stimmen.

»Wie soll ich das im Raumschiff unterbringen? Vielleicht hättet ihr mich noch später informieren können? Vierhundert Kilogramm! Ich habe eine schnelle Jacht und keinen Fracht- und Passagierliner!«

»Herr Cargomeister, aber das sind VIPs…«

»Mit meinem Raumschiff fliegen keine normalen Leute, Herr Schichtleiter. Ich habe vier Kajüten, kapieren Sie das? Für General Heisenberg mit Familie, er wird zum Generalstab versetzt und überführt seine Sammlung altertümlicher Waffen. Das sind fünfhundertzwanzig Kilogramm Übergewicht! Für Akademiemitglied Kornejulow mit seinen Gesteinsproben… Haben Sie mitbekommen, was er erwiderte, als ich ihm vorschlug, sie im Frachtraum zu transportieren? Und für die Herren Rechnungsprüfer mit ihren Archiven… zum Teufel mit diesen Klonen…«

»Sie sind keine Klone, sie sind natürliche Zwillinge.«

»Worin, zur Hölle mit ihnen, besteht da der Unterschied! Klone oder Brüder…«

»Ich muss doch bitten! Ich habe ebenfalls einen Zwillingsbruder, Herr Cargomeister.«

Es gab eine kurze Pause.

»Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber ich kann nicht noch weitere siebenhundert Kilogramm Gepäck in die Kajüten laden! Es würde das Gleichgewicht des Raumschiffes stören und die Navigation im Tunnel gefährden.«

»Vierhundert Kilogramm.«

»Ihr Mister Smith wiegt fast anderthalb Zentner! Und dazu noch seine Tochter und deren persönliche Sachen mit über einhundert Kilo! Wir müssen sie während des Starts sowieso schon in den Salon treiben. Ich habe eine kleine, schnelle Jacht, kapieren Sie? Gab es bei Ihnen auf dem Kosmodrom schon einmal Havarien?«

»Und was schlagen Sie vor?« Der Schichtleiter drohte zu explodieren. »Den besonders wichtigen Passagieren, die mir vom Präsidialamt avisiert wurden, mitzuteilen, dass ihr Gepäck auf dem Planeten zurückbleibt? Einverstanden, unterschreiben Sie Ihre Weigerung. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Unterschreiben Sie!«

Das also nennt sich höhere Gewalt! Wer hätte denn gedacht, dass einem Multimillionär die Beförderung seines Gepäcks verweigert würde? Ich stellte mir vor, wie die Sachen in die Gepäckaufbewahrung kamen, dort von Stasj abgeholt wurden und wir auf ein anderes Raumschiff warten mussten… Mir wurde allein schon von dem Gedanken daran schlecht, dass nun alle Leiden vergeblich waren.

»Gehen wir doch die Dinge bedächtig an«, meinte der Cargomeister, der für die gesamte Ladung eines Raumschiffs zuständig war, schon ruhiger. »Was haben wir denn hier? Vier Gepäckstücke?«

»Ja.«

»Zwei Koffer, eine Tasche und eine Anabiosekammer… Was sind das nur für Verrückte? In jeder Kajüte ist eine Anabiosekammer der Luxusklasse. Aber nein, sie schleppen ihre eigene Kammer durch die ganze Galaxis mit sich herum! Also in den zweiten Frachtraum würden noch rund dreihundert Kilogramm passen…«

»Wir haben vierhundert.«

»Einen Teil lassen wir hier. Schicken Sie es mit dem Abendflug nach, mit den entsprechenden Entschuldigungen.«

Der Schichtleiter lachte spöttisch. »So? Haben Sie überhaupt eine Ahnung davon, welche Querelen so ein Passagier machen kann, wenn ihm ein Koffer fehlt?«

»Sie können mir glauben, dass ich es ahne. Nehmen Sie eine?«

»Äh… ja. Danke. Von der Erde?«

»Genau. Echter Tabak wächst nur auf der Erde.«

»Ich würde nicht sagen, dass der vom Edem schlechter ist.«

»Er ist nicht schlechter, er ist ganz anders. Andere Sonne, anderer Boden, anderes Wasser… Also was, verstauen wir es in den Laderaum?«

»Wenn ich mich nicht irre, kann man den zweiten Frachtraum während des Fluges nicht betreten.«

»Stimmt. Nicht so schlimm, sie werden es schon mal zwei Tage lang ohne einen zusätzlichen Smoking aushalten. Na los, laden wir diesen Eisschrank ein… soll Miss Smith den dazugehörenden, im Raumschiff eingebauten, benutzen, das schadet nichts. Und noch die Tasche und den Koffer. Und den da schickt ihr abends nach. Vielleicht vermissen sie ihn gar nicht sofort!«

Mir brach der Schweiß aus. Nicht etwa deshalb, weil der Koffer, in dem ich lag, derjenige sein könnte, der auf Neu- Kuweit zurückblieb.

Zum Frachtraum gab es während des Flugs keinen Zutritt! Das bedeutete, dass Natascha zwar in der Anabiosekammer, aber nicht in Anabiose in den Zeittunnel eintreten würde. Ihre Zellen würden spüren, dass sich die Welt um sie herum verändert hat… und sterben.

Was nun?

Was sollte ich nur machen? Schreien? Aber Stasj hatte befohlen, auf keinen Fall Lärm zu schlagen!

Und Natascha ahnte sicher nicht einmal etwas von der drohenden Gefahr! Das Fenster in der Anabiosekammer war schallisoliert.

Was sollte ich machen?

»Sagen Sie, wo haben Sie diese Zigaretten her? Ich bin kein großer Kenner, aber mein Schwiegervater…«

»Sie sind natürlich geschmuggelt. Auf Inej-3 wurde eine große Menge beschlagnahmt und auf einer Auktion zum Nominalpreis ans Personal verkauft.«

»Aha.« In der Stimme des Schichtleiters klang Neid. »Bei uns gibt es so etwas nicht.«

»Beschweren Sie sich bei der Gewerkschaft. Diese Ausverkäufe sind auf Inej üblich. Sie steigern spürbar die Aufmerksamkeit des Personals. Ha-ha!«

Der Schichtleiter fiel in das Lachen ein. Dann sagte er:

»Gerade solche, die nicht kontrolliert werden, schmuggeln.«

»Manchmal. Einmal hatten wir den Botschafter von Geraldika, das ist so ein unbedeutender Planet, befördert… Hallo, kommt hierher! Das, das und das in den Frachtraum, in den zweiten! Festzurren braucht ihr nicht, ich kümmere mich selbst ums Gepäck.«

»Und das«, gemeinsam mit dem Koffer schwankte ich von einem leichten Stoß, »in die Gepäckaufbewahrung, vorübergehend!«

Mir war nach Schreien zumute. Mir war außerordentlich nach Schreien zumute, als der Koffer mit mir irgendwohin getragen wurde, manchmal gegen Türeinfassungen schlug und letztendlich fluchend auf dem Boden abgestellt wurde.

Aber ich schwieg. Stasj hatte befohlen zu schweigen, egal, was passieren würde. Ich schwieg und schaffte es sogar, lautlos zu weinen. Ich bemühte mich um Haltung wie ein Erwachsener, ein richtiger Mann, ein Phag.

Nur dass ich erneut in die Windel machte, ich konnte es nicht länger aushalten.

Kapitel 4

Ich hasse es, hilflos zu sein. Insbesondere dann, wenn es sich dabei um körperliche Hilflosigkeit handelt. Wenn mich zum Beispiel ein älterer Schüler schnappte, den gerade ein Knirps von den oberen Stockwerken aus mit Wasserbomben beworfen hatte, meinen Kopf in ein volles Waschbecken steckte, mich darin festhielt und dabei dozierte: »Das bekommst du nicht dafür, dass du mein Hemd schmutzig gemacht hast, sondern weil ihr kleinen Dummköpfe gutes Wasser vergeudet!« Dann versuchte ich in dieser Situation, den Mund voller Wasser und der ältere Schüler doppelt so groß und stark, zu beweisen, dass ich gar keine Dummheiten gemacht, sondern lediglich daneben gestanden und zugesehen hatte. Das Schlimmste an dieser Hilflosigkeit ist jedoch die Ausweglosigkeit, wenn man ganz genau weiß: Alle Anstrengungen sind umsonst, und ganz egal, was man macht, es ist immer falsch. Nämlich dann, wenn man sein Schluchzen zurückdrängt und dem Fiesling erklärt, dass man überhaupt nicht die Wasserbomben auf ihn geworfen, sondern nur zugesehen hat, dann wird man zur Belohnung nochmals mit dem Kopf ins Becken getaucht. Dieses Mal deshalb, weil man zugesehen hat, ohne die Kleinen von ihrem Tun abzuhalten. Jetzt befand ich mich in derselben Situation. Ich saß im Koffer wie Schrödingers Katze in ihrer Kiste. Solange ich nicht gehandelt hatte, war nicht klar, wie ich hätte handeln müssen. Sollte ich Lärm schlagen, um Natascha zu retten? Oder lieber still bleiben und mich darauf verlassen, dass Stasj alles rechtzeitig aufklärte und in Ordnung brachte?

Ich musste nur einen Laut von mir geben und schon würde Schrödingers Kiste geöffnet. Und sofort würde sich herausstellen, dass ich genau das Falsche gemacht, alles verhunzt und alle verraten hätte.

Wenn ich jedoch keinen Laut von mir gäbe, würde ich trotzdem irgendwann gefunden. Der Koffer würde geöffnet, und ich müsste erfahren, dass ich hätte schreien sollen, um Natascha zu retten, damit Stasj hätte einen Weg finden können, um alle Probleme zu lösen…

Kurz gesagt, ich hatte ganz einfach Angst, eine Entscheidung zu treffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Aber ich hatte mich schon vor langer Zeit davon überzeugen können, dass ich, wenn ich völlig hilflos war und nicht wusste, was ich machen sollte, besser gar nichts machte. Dann war der Schaden am geringsten. Wenn es jedoch eine auch noch so kleine Möglichkeit des Gelingens gab, dann wäre es besser, zu handeln…

Leider sah ich überhaupt keine Möglichkeit. Ganz und gar keine. Mir blieben nur Stasj’ Worte: »Unternehmt nichts! Verlasst euch auf mich!«

Und ich verließ mich auf ihn. Ich krümmte mich im Koffer zusammen, schluckte meine Tränen herunter, spürte die erniedrigend nasse Windel an mir und schwieg. Der Koffer stand bestimmt schon eine halbe Stunde herum, rings um mich war es still, als ob man ihn vergessen hätte. Als Stasj die Kleidung über mich legte, hielt ich meine Hand günstig, sodass sich die Uhr vor meinen Augen befand und ich die Zeit erkennen konnte, ohne mich groß bewegen zu müssen, da ich mit der Nase den Knopf für die Beleuchtung drücken konnte.

Endlich hörte ich Lärm, das Knarren von sich öffnenden und schließenden Türen, schlurfende Schritte. Ich hörte ein Murmeln, als ob jemand Selbstgespräche führen würde.

»So nicht, meine Herrschaften, so geht das nicht… So funktioniert das nicht… Wie kann man bloß ohne Einlagerungsquittung Sachen abstellen? Und wenn Ihr Mister Smith nun behaupten würde, dass in seinem Koffer ein Brillant von einem halben Zentner Gewicht wäre, was dann? Und wenn in seinem Koffer ein Käfig mit dem Lieblingshamster ist und das Tierchen abkratzt?«

Die Stimme war weiblich und alt, vor meinen Augen erschien bildhaft ein Mütterchen von hundert Jahren, das sich in der Gepäckaufbewahrung des Kosmodroms ihre Rente aufbesserte. Beinahe hätte ich gelacht. So sieht also die Immunität des Gepäcks in Wirklichkeit aus! Der Cargomeister hatte es nicht riskiert, hineinzuschauen, der Schichtleiter, die Gepäckträger — alle hatten Bedenken, den Koffer zu scannen.

Aber die Alte, die nichts mehr schrecken konnte, machte sich daran, ein von der Überprüfung ausgeschlossenes Gepäckstück zu öffnen!

Sie würde sich ordentlich wundern, wenn sie gleich den »Hamster« entdeckte!

Ich hegte eine kurze Hoffnung, dass sie mit den Schlössern nicht zurechtkommen würde. Sie waren immerhin mit einem komplizierten elektronischen Code ausgerüstet, eine spezielle Schlüsselkarte war notwendig… Ich hoffte darauf, wünschte aber gleichzeitig, dass der Koffer geöffnet wurde. Alles war besser als diese Ungewissheit.

Die Alte kramte herum, dann vernahm ich ein Klicken, als ob Metall an das Plastikschloss gepresst würde. Stimmt, in der Gepäckaufbewahrung müsste es einen elektronischen Dietrich geben. Vergessene Koffer mussten ja geöffnet werden.

»So was Kompliziertes«, meinte die Alte abfällig, »also, wer sich das ausgedacht hat…«

Eine Minute nach der anderen verging. Mir schien, die Schlange wäre schneller damit fertig geworden. Es genügte, an sie zu denken, und schon regte sie sich, löste sich von der Hüfte und legte sich bequem in den Ärmel. Aber wobei konnte sie mir behilflich sein? Ich würde ja wohl kaum gegen eine Großmutter kämpfen? Oder hätte ich keine Alternative und wäre gezwungen zu schießen?

Ich schaffte es nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Über meinen Kopf klickten die Schlösser und durch die auf mich gehäuften Sachen drang Licht.

»Wer packt nur so seine Sachen!«, sagte die Alte ärgerlich zu sich selbst, »alles zerdrückt…«

Ich spürte, wie sie wühlte, die Sachen herausnahm und wandte den Kopf zur Seite. Gerade rechtzeitig, als ein Hemd von meinem Gesicht genommen wurde und ich auf die Alte blickte.

Na ja, so alt war sie nicht, wie ich dachte, aber auch nicht mehr jung. Sie sah so friedlich aus, wie man sich das nur vorstellen konnte: Sie hatte ein kariertes Kopftuch umgebunden, auf der Nase saß eine altmodische Brille, durchsichtig zum Zwecke der Augenkorrektur bei Fehlsichtigkeit, nicht etwa eine Sonnenbrille.

Die Brille fiel fast von der Nase, als das Mütterchen zurückschreckte.

»Herr im Himmel!«, flüsterte sie fassungslos und griff sich an die Kehle, als ob die Luft knapp würde. »Bei allen Heiligen…«

»Keine Bewegung!«, schrie ich. Wollte ich schreien… Heraus kam ein höfliches, bittendes und ganz leises »Bleiben Sie stehen…«.

»Was?«, fragte die Alte neugierig.

»Bleiben Sie bitte stehen«, sagte ich schon lauter.

Die Alte bekreuzigte sich. Und begann zu schimpfen: »Wer hat dich denn hier reingesteckt, mein Kleiner? Was ist das nur für ein Unmensch… Ich hol gleich die Polizei und ruf einen Arzt…«

»Nein!«, schrie ich. »Bleiben Sie stehen! Sie brauchen niemanden zu holen!«

Wäre die Alte hirnamputiert, hätte sie auf keinen Fall meine Bitte erfüllt. Aber sie war augenscheinlich normal. Sie hörte auf zu krakeelen.

Im Gegenteil, sie verzog ihr Gesicht und fragte: »Bist du etwa von allein… hm?«

»Von allein«, griff ich nach dem Strohhalm. Ich rutschte hin und her, versuchte mich zu strecken und aus dem Koffer zu klettern, aber es wollte mir nicht gelingen. »Ich wollte… Auf den Inej wollte ich.«

»Durchwalken sollte man dich!« Mit diesen Worten fasste mich die Alte an den Schultern. Ihre Hände waren unerwartet kräftig, mit Leichtigkeit zog sie mich aus dem Koffer und ich konnte mich endlich umschauen. Natürlich nicht sofort. Zuerst streckte ich mich und richtete mich auf, die Beine wollten sich nicht bewegen und der Magen krampfte sich zusammen.

Der Koffer stand auf einem langen, Trostlosigkeit ausstrahlenden Metalltisch in der Ecke eines riesigen Raumes. Der übrige Platz wurde von Regalen eingenommen, auf denen sich bis zur Decke Koffer, Taschen, Pakete, Rollen, Container, Kisten und formlose Haufen stapelten. Ich erspähte ein paar Sporträder (mit nach innen gelegten Lenkern und Pedalen), ein zwei Meter langes Stück einer Marmorsäule (umwickelt mit schützenden Flexbändern), ein Kinderauto (ich würde mit Müh und Not selbst hineinpassen, besonders in meiner jetzigen Situation), eine Statue, die einen nackten Jungen mit Pfeil und Bogen darstellte (das war ein antiker Gott, aber ich hatte vergessen, welcher — sicher der Schirmherr der Jagd).

Was die Leute nicht alles auf ihre Sternenreisen mitnahmen!

»Kannst du dich aufrichten?«, fragte die Alte trocken und neigte sich zu mir. Sie war doch schon alt, aber noch stark und das Altmodische an ihr war eigentlich nur das Kopftuch — ansonsten trug sie einen Jeansanzug und Dockers-Schuhe auf hohen Sohlen. Ich versuchte, vom Tisch zu springen, und wäre beinahe gefallen. Stehen konnte ich nur zusammengekrümmt und fühlte mich wie ein altersschwacher Greis während einer Rheumaattacke.

»Wie kann man nur so verrückt sein?«, regte sich die Alte weiter auf. »Bist du eigentlich ganz richtig im Kopf? Wolltest du ein Abenteuer erleben? Und wenn du in den Gütergepäckraum gekommen wärst, was dann? Und wenn sie dich erwischt hätten? Glaubst du, sie hätten dich ausgeschimpft und dann laufen lassen? Weißt du, was jetzt mit deinen Eltern passieren wird?«

»Nichts«, murmelte ich. Ich musste dringend auf die Toilette… Was war heute nur mit mir los? »Sie sind tot.«

Der Zorn der Alten wich augenblicklich ihrem Mitleid. »Lieber Gott… Was hast du nur, mein Kleiner?«

»Gibt es hier eine Toilette?«, brummelte ich.

»Komm mit…«

Die Alte half mir zu einer unscheinbaren Tür. Bevor ich durch die verschwand, bat ich sie so Mitleid erregend wie möglich: »Verraten Sie bitte niemandem, dass Sie mich gefunden haben! Bitte! Ich werde Ihnen gleich alles erklären!«

Nach einigem Zögern nickte die Alte. Irgendwie vertraute ich ihr und ohne weiteres Zögern verschwand ich in der Toilette.

Was für eine Erleichterung war es doch, diese verdammten Pampers loszuwerden!

Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie ich in der Kindheit Windeln trug, aber bestimmt hatte ich es nicht erwarten könne, sie endlich nicht mehr zu brauchen.

Als ich nach einiger Zeit herauskam, hatte die Alte bereits zwei Stühle an den Tisch gestellt. Auf einem saß sie selbst, den anderen wies sie mir zu.

»Sie haben niemandem von mir erzählt?«, vergewisserte ich mich auf alle Fälle.

»Nein. Setz dich und erzähle. Und… wie heißt du, Junge?«

»Tikkirej.«

»Und merke dir, Tikkirej, wenn du mich belügst, übergebe ich dich sofort der Polizei!«

Das war keine leere Drohung. Ich nickte. »Ich werde nicht lügen. Aber glauben Sie mir, alles ist ziemlich verworren.«

»Setz dich und fang an«, forderte die Alte.

Ich setzte mich und begann meine Erzählung. Am Anfang die reine Wahrheit. Über Karijer, meine Eltern, wie ich als Modul arbeitete und den Planeten verließ. Ich erzählte, die Alte staunte und schimpfte, und ich suchte den richtigen Zeitpunkt, um mit den Unwahrheiten zu beginnen.

Sollte ich berichten, dass wir zum Avalon flogen? Die Phagen erwähnen?

Eher nicht, auf keinen Fall, obwohl ich im Grunde genommen gar nicht lügen wollte.

Und so benutzte ich unsere Legende. Erzählte, wie ich mich mit Lion im Wald versteckt hatte, wie wir zurückgekehrt waren, wie die Eltern Lion und mich in einem College für begabte Kinder angemeldet hatten, wir dort geärgert, geschlagen und ausgelacht wurden und letztendlich wegliefen. Wie wir im Heim für schwer erziehbare Kinder unterkamen, dass es dort auch nicht besonders war und wir beschlossen, den Planeten zu verlassen, natürlich Richtung Inej, auf den fortschrittlichsten und besten Planeten, die Heimat der Frau Präsidentin…

Hier geriet ich ein wenig ins Stottern, da ich nicht wusste, ob ich Lion erwähnen sollte. Und was ich zu Natascha sagen sollte, stand erst recht in den Sternen. Deshalb fabulierte ich, dass wir uns zu dritt zum Kosmodrom durchgeschlagen und dort unbeaufsichtigte Gepäckstücke gefunden hatten. Ich stieg in einen Koffer und wurde eingeschlossen, ob es meinen Freunden gelungen war, sich zu verstecken, wusste ich aber nicht.

Die Alte schwieg. Mit der Hand strich sie über ihre welke Wange, als wollte sie die Falten glatt streichen. Dann sagte sie: »Folgendermaßen, mein Junge Tikkirej. Ich spüre, dass du am Anfang die Wahrheit gesagt hast und jetzt angefangen hast zu lügen. Vielleicht war nicht alles gelogen, aber die Hälfte bestimmt.«

»Warum?« Ich ärgerte mich und verbesserte mich gleich darauf: »Warum denken Sie so?«

»Ich kenne kleine Jungs. Habe selbst vier davon großgezogen, ganz abgesehen von Enkeln und Urenkeln… Das gibt es gar nicht, dass zwölfjährige Bengel von zu Hause in den Wald verschwinden und dort einen ganzen Monat lang Robinson spielen.«

»Ich bin fast vierzehn!«, protestierte ich.

»Egal. Du lügst und das nicht einmal besonders schlau. Als ob du auswendig gelernt hättest, was du sagen sollst.«

Vor lauter Schreck brach mir kalter Schweiß aus. Diese Alte! Wohin sollte das führen mit der alten Hexe? Ich wollte nicht auf sie schießen müssen!

»Also entscheide dich, Tikkirej«, fuhr sie fort, »entweder erzählst du mir die Wahrheit, wer du bist und wieso du dich im Koffer versteckt hast, oder ich hole die Polizei. Du hast doch sicher Sachen aus dem Koffer geworfen? Wo sind sie? Und vielleicht bist du ein minderjähriger Dieb und warst nicht umsonst im ›Spross‹?«

»Woher wissen Sie, wie das Heim heißt?«, wollte ich wissen. »Ich habe Ihnen nichts darüber erzählt!«

Die Alte wackelte mit dem Kopf. »Wie sollte ich das nicht wissen? Es gibt ein einziges auf dem ganzen Planeten, darüber berichtet das Fernsehen und die Zeitungen schreiben darüber.«

Mein Drang, bei der Wahrheit zu bleiben, war völlig verflogen. Ich schüttelte den Kopf, stand auf und ging einen Schritt zurück: »Ich werde Ihnen überhaupt nichts sagen!«

»Dann rufe ich die Polizei«, erwiderte die Alte und holte aus ihrer Jackentasche ein einfaches Wegwerfhandy.

Ich kam nicht einmal dazu, einen Gedanken zu fassen, wollte sie lediglich daran hindern — und schon rührte sich die Schlange im Ärmel. Nein, sie feuerte nicht, aber mit einem Pfeifton streckte sie sich zu einem langen, dünnen Band und zerschlug das zerbrechliche Telefon aus Presspappe in zwei Teile.

»Keine Bewegung, sonst passiert dasselbe mit Ihnen!«, drohte ich.

Die Alte machte keine Anstalten sich zu bewegen.

Sie nahm lediglich die Brille ab und zwinkerte mehrmals. Dann fragt sie mit zitternder Stimme: »Junge, bist du etwa ein… Dshedai?«

Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu antworten: »Ein Phag. Ein Dshedai ist eine Märchenfigur aus der mittelalterlichen Mythologie.«

Das Mütterchen lebte auf und entspannte sich. Sie flüsterte: »Herrgott… ist es so weit?«

»Sie sind für den Imperator?«, fragte ich sicherheitshalber nach.

»Ich diene dem Imperium!«, meldete die Alte todernst. »Ich stehe dir zur Verfügung, junger Mann!«

»Junger Mann« genannt zu werden war angenehm, besonders, nachdem sie über mich wie über einen Zwölfjährigen gesprochen hatte.

»Kommt hier niemand herein?«, fragte ich. »Ich… eigentlich sollte ich mich nicht zeigen…«

»Komm mit.« Die Alte lebte auf. Sie erhob sich und fragte ängstlich und zugleich hoffnungsvoll: »Darf ich mich bewegen?«

»Natürlich.« Ich fasste augenblicklich Zutrauen zu ihr. »Das war, weil… ich hatte Angst, dass Sie Alarm auslösen würden… aber ich hätte bestimmt nicht schießen können.«

»Los!« Die Alte setzte sich in Bewegung, schlug eilig den Koffer zu und warf ihn auf das nächstliegende Regal. »Komm schon…«

In der Tiefe des Raums hinter den Stellagen befand sich eine weitere Tür. Dahinter versteckte sich ein gemütliches kleines fensterloses Zimmerchen. Eine schmale Liege, ein Tisch mit einem einfachen Computerterminal und zwei Stühle sowie ein Wandteppich bildeten die Einrichtung.

Auf dem Tisch stand neben einer altmodischen Tastatur ein orangefarbener Teekessel, ich berührte ihn und er war noch heiß, eine Tasse mit Teeresten, ein Teller mit Gebäck…

»Möchtest du Tee?« Die Alte schaute mir in die Augen. »Etwas essen? Oder dich ausruhen? Du brauchst dich nicht zu genieren, sag es ruhig. Außer mir kommt niemand in die Kammer, ich trinke hier Tee und manchmal schlafe ich sogar hier.«

Ich war redlich müde, aber mir war natürlich nicht nach Schlaf zumute.

»Nein, nein, Danke… Entschuldigen Sie, wie ist Ihr Name?«

»Ada. Eigentlich heiße ich Adelaide, aber ich mag keine langen Namen… Ada ist besser. Du kannst mich auch so nennen, Höflichkeitsfloskeln brauche ich nicht.«

Wohl war mir dabei nicht. Ich fand es unpassend, eine alte Frau mit dem Vornamen anzureden.

Sie erriet meine Beklemmungen und lächelte.

»Oder nenn mich Oma Ada. So rufen mich meine Enkel und Urenkel, und du bist wie ein Urenkel für mich.«

Ich konnte mich nicht an meine Großmütter und Großväter erinnern. Die von Papa waren in den Erzgruben oder an einer Krankheit gestorben, so genau wusste ich das nicht. Und die von Mama hatten ihr Sterberecht in dem Jahr wahrgenommen, in dem ich geboren wurde. Manchmal dachte ich, dass sie das für mich getan hatten, um meinen Eltern die Reste ihrer Sozialanteile zu überschreiben. So etwas kam vor, bei vielen meiner Klassenkameraden war es vor oder nach ihrer Geburt so gewesen. Aber meine Eltern wollten nicht darüber reden und ich hatte Angst sie auszufragen.

Deshalb fiel es mir genauso schwer, die Alte »Oma Ada« zu nennen. Das erste Mal zumindest…

»Oma Ada… ich brauche Ihren Rat…«

Sie nickte und setzte sich auf die Liege.

Ich nahm auf einem Stuhl Platz und holte Luft: »Es stimmt, ich habe gelogen. Ich war nicht allein im Gepäck. Meine Freunde haben sich auch versteckt.«

»Phagen?«, fragte die Alte und nickte die ganze Zeit über.

»Nein, sie sind keine Phagen… Lion und Natascha… sind normale Jugendliche. Und, ehrlich gesagt, ich bin auch kein richtiger Phag, ich bin ein zeitweise hinzugezogener Helfer.«

Oma Ada störte sich nicht an meiner anfänglichen Übertreibung und ermutigt fuhr ich fort: »Ein echter Phag ist unser Freund, der uns hilft, vom Planeten zu fliehen. Wir wurden auf Neu-Kuweit als Aufklärer eingeschleust, aber wir konnten eigentlich nichts Wesentliches in Erfahrung bringen, als wir auch schon entlarvt wurden. Wir versuchen zu fliehen…«

»Im Gepäck?« Die Alte schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Und das Mädchen ist auch im Gepäck? Und was wird aus ihr im Zeittunnel?«

»Darum geht es ja gerade!«, rief ich. »Sta…, unser Freund sollte uns in der Kajüte aus den Koffern herausholen und Natascha wäre in Anabiose gelegt worden. Aber diese idiotischen Gepäckträger haben im Raumschiff keinen Platz für das Gepäck gehabt und sich dafür entschieden, alles in den Frachtraum zu laden! Und dorthin gibt es keinen Zugang vom Passagierbereich! Wenn… wenn unser Freund nicht rechtzeitig davon erfährt, stirbt Natascha!«

»Und für dich war wohl kein Platz mehr?«, hakte Oma Ada nach. »Dich haben sie bis zum nächsten Flug zurückgestellt?«

»Hm. Kommt das oft vor?«

»Manchmal.« Die Alte dachte nach.

»Gut, dass ich Sie habe«, meinte ich erleichtert. »Ich weiß nämlich nicht, was ich machen soll. Ich habe Angst, den Phagen zu verraten. Aber er muss doch irgendwie gewarnt werden!«

»Ich werde es versuchen«, sagte die Alte ganz einfach. Das fand ich wirklich mutig.

»Wer ist dein Freund?«

Ich schwankte noch, obwohl das dumm war.

Oma Ada wischte mit folgenden Worten meine Zweifel weg: »Etwa derselbe Mister Smith, dem die Koffer gehören?«

»Ja«, murmelte ich. »Nur, dass er in Wirklichkeit gar nicht Mister Smith ist. Das ist eine doppelte Tarnung, verstehen Sie? Er gibt sich aus für… einen anderen Menschen, und die Regierung des Inej nennt eben diesen Menschen mit anderem Namen, um nicht zufällig publik zu machen, wer zu Besuch kam. Das ist alles sehr verwirrend.«

»Ich verstehe«, erwiderte die Alte ernsthaft. »Eine richtige Spionagegeschichte… Bleib hier, Tikkirej. Und ich versuche, zu deinem Mister Smith Kontakt aufzunehmen. Was soll ich ihm sagen, damit er mir glaubt, dass du mich geschickt hast?«

Ich dachte nach.

»Sagen Sie ihm, dass ich jetzt vor jedem neuen Planeten einen Immunmodulator einnehme und keine Angst vor der Beulenpest habe.«

Oma Ada lächelte.

»Gut. Geh nirgendwohin, Tikkirej! Hierher kommt niemand, ich blockiere die Tür, manchmal schaut jemand in die Lagerhalle… Musst du noch einmal auf die Toilette?«

»Nein«, antwortete ich und wurde rot.

»Dann warte. Trink Tee, iss Plätzchen… hausgemachte, ich habe sie selbst gebacken. Oje, was habt ihr Phagen euch nur dabei gedacht? Zieht kleine Kinder in eure Kriege hinein, versteckt sie in Koffern, gebt ihnen Waffen in die Hände… das ist nicht mehr human… ganz und gar nicht human…«

Sie schüttelte den Kopf, ging hinaus und das Türschloss klickte kurz.

Oma Ada war kaum verschwunden, als ich aufsprang und das Zimmer in Augenschein nahm.

Hatte ich richtig gehandelt, ihr alles zu gestehen? Vor allem, Stasj zu hintergehen? Aber was hätte ich denn anderes tun können, um Natascha zu retten? Und was machte es schon aus, redete ich mir zu, ob sich hinter dem Namen »Mister Smith« ein Phag verbarg oder nicht? Es war so und so klar, wer uns geholfen hatte, sich in den Koffern zu verstecken…

Nicht zu ändern, das war nachvollziehbar. Aber wenn mich die Alte nun verriet? Vielleicht sollte ich besser fliehen? Das Schlangenschwert öffnet das Schloss in zwei Arbeitsgängen.

Aber wohin fliehen? Dieses Mütterchen war nicht hirnamputiert, darin hatte ich Glück, aber die meisten Leute in der Umgebung waren ergebene Diener von Inna Snow.

Wenn Oma Ada Alarm schlägt, fangen sie mich auf alle Fälle. Und wenn sie keinen Alarm schlägt, brauche ich nicht zu fliehen, überlegte ich fieberhaft.

Ich musste sogar lachen, als mir klar wurde, dass von mir gar nichts mehr abhing. Überhaupt nichts! Was waren die Phagen bloß für Dummköpfe! Wie waren sie nur darauf gekommen, dass Lion und ich ihnen nützlich sein könnten? Wertvolle Informationen hatten sie nicht erhalten, die Aktion war aufgeflogen und Stasj unsertwegen ein Risiko eingegangen…

Ich ging zum Tisch zurück und schüttelte den Teekessel. Er war fast voll. In einem winzigen Handwaschbecken spülte ich die einzige Tasse aus und goss mir Tee ein. Ich kostete die Plätzchen — sie schmeckten wirklich gut.

Die letzten Worte Oma Adas gingen mir nicht aus dem Kopf. »Was habt ihr Phagen euch nur dabei gedacht?«

Phagen waren keine Dummköpfe.

Phagen waren alles Mögliche, nur keine Dummköpfe.

Wenn sie Lion und mich nach Neu-Kuweit geschickt hatten, bedeutet das, dass es notwendig war.

Aber warum?

Und auf einmal stieg in meiner Seele eine dumpfe, widerwärtige Wehmut auf. Ich versuchte sie zu vertreiben, an etwas Schönes zu denken, aber in meinem Kopf kreiste ein und derselbe Gedanke.

Phagen waren keine Dummköpfe. Wir wurden eben deshalb geschickt, damit uns die Spionageabwehr des Inej fand.

Ich trank den Tee aus, ohne ihn zu schmecken. Schenkte mir nochmals ein. Wie lange dauerte das denn nur, wo blieb Oma Ada? Sie musste doch lediglich zum zuständigen Terminal gehen, mit der Jacht Richtung Inej Verbindung aufnehmen und um ein Gespräch mit Mister Smith ersuchen…

Warum nur hatten uns die Phagen als Lockvögel benutzt? Es ergab doch keinen Sinn, überhaupt keinen! Viel Aufwand und wenig Nutzen — die Landung organisiert, wertvolle Ausrüstung verschwendet. Allein die Eiskapsel kostete ein Vermögen!

Ich verstand es einfach nicht. Ich war eben wirklich noch ein kleiner, dummer Junge. Das waren alles Erwachsene — Imperium und Inej, Phagen und Agenten der Spionageabwehr -, die ihre Erwachsenenspiele spielten. Und ich war dort hineingeraten, weil Stasj ein guter Mensch war, genau deswegen.

Und sofort erhob sich das dünne, widerliche Stimmchen in der Seele und flüsterte mir zu: »Bist du dir sicher, dass Stasj ein guter Mensch ist?«

Er selbst hatte mir ja erklärt, dass unsere Zivilisation sehr pragmatisch und grausam sei. Natürlich sagte er, dass das nicht in Ordnung wäre, aber vielleicht dachte er in Wirklichkeit ganz anders? Vielleicht hatte ich damals Recht und er nahm mich von Neu-Kuweit nur als Versuchskaninchen mit?

Was so alles durch ein paar unvorsichtig geäußerte Worte bewirkt werden konnte! Ich begann an meinem einzigen Freund, meinem einzigen erwachsenen Freund zu zweifeln!

Vor lauter Zorn schlug ich mit der Faust dermaßen stark auf den Tisch, dass ich beinahe den Tee verschüttet hätte. Zur Ablenkung schaltete ich den Computer an und versuchte mich ins Netz einzuklinken. Leider gab es nur eine Verbindung zum Intranet des Kosmodroms und auch dort nur zur Abteilung Gepäckmanagement. Computerspiele, die gewöhnlich auf allen Computern installiert werden, gab es mit Ausnahme von »Minensucher« und einer Patience nicht. Deshalb durchstöberte ich das Suchsystem nach dem Gepäck des »Mister Smith«, aber das System erwies sich als äußerst unübersichtlich und war deshalb nicht zu verstehen. Mit Müh und Not fand ich die Liste des heute verladenen Gepäcks, aber da hörte ich das Türschloss klicken. Weil mir meine Computertätigkeit peinlich war, schaltete ich ihn aus.

Oma Ada kam herein.

»Ich konnte keine Verbindung aufnehmen«, sagte sie noch auf der Türschwelle stehend. »Die Jacht befindet sich in der Phase der Startvorbereitung, keine Verbindung zu den Passagieren. Sie forderten mich auf, in einer Stunde wiederzukommen, wenn sie auf der mittleren Umlaufbahn ist.«

»In einer Stunde ist es zu spät«, flüsterte ich. »Verstehen Sie das? Zu spät!«

Sie schüttelte den Kopf: »Sorge dich nicht, Enkelchen. Dein ›Mister Smith‹ ist ein großes Tier, nicht wahr? Wenn die Regierung mit ihm schon so geheimnisvoll tut!«

»Ja«, gab ich zu.

»Na, dann muss halt noch einmal gelandet werden. Er behauptet zum Beispiel, dass er eine Nierenkolik habe und sofort zum Arzt müsse oder etwas in dieser Richtung.«

»Und dann landen sie?«, staunte ich.

»Das ist doch ein kleines Schiff, es fliegt speziell für diese eingebildeten Herrschaften. Es kehrt um… Einmal musste ein Passagierschiff wieder landen, weil das Hündchen einer Senatorengattin im Sterben lag.«

»Wurde es gerettet?«, wollte ich aus unerfindlichen Gründen wissen.

»Ist verreckt. Aber das Raumschiff ist gelandet. Hast du wenigstens Tee getrunken?«

»Ja. Vielen Dank.«

Oma Ada setzte sich aufs Bett und stützte ihr Kinn auf eine Hand und schaute mich traurig an. »Oh je… was im Hafen los ist. Überall sind Soldaten, Aktive und Reservisten… fast noch Kinder. Bald gibt es Krieg, merke dir meine Worte.«

»Wirklich?«, rief ich. »Heißt das, der Krieg beginnt?«

Sie lächelte bitter: »Beginnt? Der Krieg… Krieg hört niemals auf. Als es Inej nicht gab, ging es gegen die Fremden. Mit den Fremden wurde Frieden geschlossen und die Planeten begannen sich gegenseitig…«

»Es gab aber schon ewig keinen Krieg mehr«, versuchte ich einen Einwand anzubringen.

»Es gab keinen großen Krieg. Aber im Kleinen… in aller Stille… wurde er immer geführt. Die Flotten wurden natürlich nicht gegeneinander eingesetzt, dagegen sträubte sich der Imperator. Es ist sein heiliges Recht, Kriege zwischen den Planeten zu führen. Aber Kleinkriege entfachen kannst du, soviel du lustig bist. Die Geheimdienste bekämpfen sich, die Magnaten intrigieren, Handelskriege, psychologische Kriege, bakteriologische Kriege… Hast du von der Beulenpest gehört? Das ist auch eine unserer Erfindungen, eine menschliche. Auf einem guten Planeten entwickelt und gegen einen anderen, der die Lebensmittelpreise unterbot, angewendet. Dabei mutierte das Virus, führte zum Aussterben von Kühen und Schafen — und wendete sich gegen die Menschen selbst. Ist das etwa kein Krieg?«

»Das kann nicht sein!«, rief ich aus. »Die Beulenpest ist ein mutiertes Virus der Schweinepest!«

»Richtig, mein Söhnchen, richtig. Nur dass es sich dabei nicht um eine spontane Mutation handelt. Die Ansteckungsmöglichkeit und die Virulenz wurden erhöht, ausgerichtet wurde er auf Menschen als Krankheitsüberträger und schon hatten wir es geschafft.«

»Ich habe nicht gewusst, dass sich die Geheimdienste mit solchen Dingen beschäftigen«, gab ich zu. »Das ist doch extrem gefährlich!«

Oma Ada nickte.

»Es ist ständig Krieg, glaub mir. Ich habe hier schon alles gesehen. Das Kosmodrom ist eine Gerüchteküche. Nimm eure Phagen… Sollen sie ruhig die Menschheit retten und das Imperium verteidigen, niemand hat etwas dagegen! Aber nein, sie sind jedem beliebigen Nabob zu Diensten…«

Ich konnte dem nicht folgen und riss die Augen auf.

Oma Ada schaute mich erstaunt an. »He, Kleiner, du hast wohl von nichts eine Ahnung?«

»Wovon sprechen Sie?«

»Also, die Phagen, die stehen doch im Dienst des Imperators, weißt du das? Von Anfang an hatten sie beschlossen, nur den höchsten Idealen, nämlich dem Imperium und der Menschheit als solches und nicht etwa dem Imperator und dem einzelnen Menschen, zu dienen. Tja, das ist an sich eine gute Sache, aber das Imperium und die Menschheit zahlen kein Geld — im Gegensatz zum Imperator.«

»Ja und?«, flüsterte ich.

»Und — muss die Flotte gewartet werden? Ja! Müssen neue Phagen ausgebildet werden? Ja! Müssen die Kranken und Verwundeten behandelt werden? Ja! Neue Technik, diese ganzen Plasmapeitschen, müssen entwickelt werden? Ja!

Weißt du überhaupt, wie viele ganz gewöhnliche Bürokraten unter den Phagen sind? Buchhalter, die Ausgaben zusammenzählen und Abschreibungsprotokolle der technischen Geräte gegenzeichnen? Wie viele Koordinatoren, Planer, Rechnungsprüfer, Presseattachés, Ärzte, Techniker, Masseure, Psychologen, Sanitärtechniker und Fernmeldetechniker es gibt? Das ist doch keine Gruppe Einzelner, das ist ein Staat im Staate, das sind Zehntausende, wenn nicht sogar Hunderttausende!

Hunderte kämpfender Phagen, das ist lediglich die oberste Spitze des Eisbergs. Und alle wollen gut essen und trinken, ein schönes Haus haben, ihre Familie versorgen. Damit, um Gottes willen, niemand einen Phagen bestechen könnte! Und wie viel kostet eine einzige geheime Landung einer hyperstabilen Eiskapsel auf einem feindlichen Planeten, was glaubst du wohl? Davon könnte man eine kleine Schule bauen! Und jetzt nutze dein Hirn, woher das Geld dafür kommt! Sicher, die Betriebe und Fabriken erwirtschaften gewisse Mittel, die Reichen spenden, Lotterien und Wohlfahrtslose werden genutzt… Aber das sind nur Tropfen auf den heißen Stein. Und vom Imperator wollen sich die Phagen nicht abhängig machen!

Das wäre ein Verstoß gegen ihre Prinzipien, ein Zusammengehen mit der Macht, Korruption und die Umwandlung in einen Apparat der Unterdrückung. Was geschieht also?«

»Was?«, fragte ich flüsternd.

»Dann wendet sich der Botschafter irgendeines Planeten an die Phagen und sagt: ›Ihr heiligen Dshedai-Ritter geltet als Verteidiger der Menschheit… rettet unseren Planeten vor religiösen Fanatikern, wir zahlen gut… besser, wir geben eine Spende…‹ Eine gute Sache! Also fliegt ein Kommando der Phagen los und tötet den geistigen Führer des Putsches.«

Ich war sprachlos. Ich schnappte nach Luft, als ob ich am Ersticken wäre.

»Vielleicht ist es auch umgekehrt«, fuhr Oma Ada erbarmungslos fort. »Zuerst erscheint der Abgesandte der religiösen Extremisten und sagt: ›Ihr heiligen Dshedai-Ritter geltet als Verteidiger der Menschheit… rettet unsere friedliche Sekte des gewaltfreien Glaubens an die göttliche Natur des Positrons vor den feindlichen weltlichen Mächten… wir zahlen gut… besser, wir geben eine Spende…‹«

»Und die Phagen?«

»Die Phagen helfen. Die Menschheit zu retten, ist wohl getan, wer wird das bestreiten. Aber woher nimmst du die ganzen Gefahren, vor denen du sie retten musst? Logischerweise gilt es auf etwas anderes auszuweichen. Deshalb endet der Krieg nie. Jetzt ist er lediglich aufgeflammt und für alle offensichtlich. Und wenn die Wissenschaftler des Imperators als Erste darauf gekommen wären, wie man den Menschen eine Gehirnwäsche verpassen kann, was hätten sie wohl getan?«

»Das glaube ich nicht«, wandte ich ein. »Der Imperator hätte niemals…«

»Was hätte er nicht? Warum nicht alle Menschen besser und ehrlicher machen, wenn das möglich wäre? Damit sich alle gegenseitig helfen, nicht stehlen und nicht töten. Was ist daran so schlecht?«

»Was ist dann schlecht an Inej und Inna Snow?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage.

Oma Ada holte Luft: »Ich weiß es nicht, Kleiner. Ich weiß auch nicht, was daran schlecht ist, außer, dass der Imperator verdrängt wird.«

»Aber Inej erobert doch einen Planeten nach dem anderen«, meinte ich. »Zwingt alle zur Unterwerfung.«

»Die Menschheit lebt sowieso unter einer einzigen Macht«, erwiderte Oma Ada. »Erinnere dich ans Mittelalter, als sie zersplittert war, ein Krieg folgte auf den anderen.«

»Es geht nicht um die einzige Macht«, sagte ich. »Hauptkriterium ist doch, ob sie gesetzlich ist oder nicht.«

»Jede Macht ist zu Beginn ungesetzlich«, antwortete Oma Ada. »Das Imperium gründet sich auf den Bruchstücken der Kosmischen Föderation, die Föderation wiederum war ein Aufbegehren gegen das Matriarchat.«

»Aber die Macht muss ehrlich gewählt werden«, gab ich zu bedenken. »Die Menschen selbst müssen den Wechsel des Machthabers wünschen.«

»Das Volk entscheidet niemals und nichts selbst«, entgegnete Oma Ada. »Das Volk wählt die Macht, die ihnen am besten die Köpfe verdrehen kann.«

»Auch wenn eine Macht betrügt und Versprechungen gibt«, wandte ich ein, »nimmt sie nicht die Fähigkeit zum Denken!«

»Die Mehrheit der Menschen hat niemals von dieser Fähigkeit Gebrauch gemacht«, meinte Oma Ada. »Und diejenigen, die wie auch immer denken können, sie waren und sind die Macht.«

»Immer, wenn ein Machtwechsel nötig war, erfolgte er auch«, argumentierte ich. »Eine ewige Macht wäre das Ende der Menschheit.«

»Es gibt keine ewige Macht, mein Junge«, erwiderte Oma Ada. »Ja, die Föderation des Inej wird lange herrschen, aber auch sie wird abtreten müssen.«

»Die Präsidentin Inna Snow wird niemals jemandem die Macht überlassen«, sagte ich. »Sie hat sich geklont, die Macht wird von einem Klon zum anderen übergehen!«

»Ihre Klone sind selbständige Persönlichkeiten«, antwortete Oma Ada. »Wenn auch der Unterschied zwischen ihnen nicht groß ist, so wird er doch wachsen und die Menschheit wird einen neuen Weg beschreiten.«

»Ist es etwa ehrlich, wenn ein einziger Mensch die Macht immer wieder an sich selbst weitergibt?«, gab ich zu bedenken. »Dagegen hat jeder Bürger die Chance, mag sie auch noch so winzig sein, der neue Imperator zu werden!«

»Die Chance, ein Klon der Präsidentin zu sein, hat auch jeder Bürger«, meinte Oma Ada. »In der ganzen Galaxie leben Männer und Frauen, Jungen und Mädchen mit ihrem genetischen Material.«

An mir zog ein nebelhaftes Gaukelbild vorbei. Ich fragte leise: »Wie geht das?«

»Es betrifft nicht die Klone. Nicht nur die Klone, obwohl mit ihnen alles begann. Vor langer Zeit lebte ein Mensch, der sich vornahm, die Welt zu verändern. Sie besser und sauberer zu machen. Er klonte sich… aber nicht als Mann, sondern als Frau. Du kennst dich doch ein wenig in Genetik aus, mein Junge?«

Ich nickte. Ja, ich wusste, dass Männer sich weibliche Klone schaffen konnten, aber umgedreht war es nicht möglich. Alles wegen des Y-Chromosoms, das bei den Frauen fehlt.

»Einen Klon zu erschaffen ist nicht besonders schwer«, fuhr Oma Ada fort. »Ihn beschleunigt zu einem erwachsenen Wesen zu entwickeln — auch nicht. Schon schwieriger ist es, das eigene Bewusstsein in ein fremdes Gehirn zu übertragen und dabei die geistige Gesundheit zu erhalten. Ihm gelang es. Vielleicht hatte er einfach nur Glück. Vielleicht war auch der Mensch, der sich diese Aufgabe stellte, nicht ganz beieinander.«

Sie lächelte.

»Er selbst, die Matrize, wie die Genetiker sagen, und sein weiblicher Klon wollten nur das Eine: die Menschheit glücklicher machen. Auf ewig Krieg, Krankheit, Armut und Ungerechtigkeit abschaffen. Die Menschen vor den Fremden absichern. Und für die Verwirklichung dieses Plans brauchten sie Macht… die höchste Macht. Verstehst du?«

»Ja.«

»Aber dabei trennten sich ihre Wege. Die Matrize… der Mann… wollte leise und unauffällig die Macht ausüben. Auf die Entwicklung der Welt einwirken, ohne sich mit der Bürde der höchsten Macht zu belasten. Die Frau entschied sich dafür, das politische System der Menschheit zu verändern. Und so trennten sich ihre Wege. Ihnen war klar, dass sie anderenfalls gegeneinander um die Macht kämpfen müssten. Sie blieben Freunde, verabschiedeten sich voneinander und trennten sich für immer. Und gaben sich das Versprechen, zu siegen. Der Mann führte seine stille und unauffällige Arbeit weiter, er erforschte das menschliche Genom, um die Welt von innen heraus zu verändern, die Hülle des Imperiums zu erhalten, sie aber mit einer neuen Menschheit zu füllen. Die Frau ging anders an die Sache heran. Das war vor langer Zeit, etwa vor einem halben Jahrhundert. Die Menschheit verbreitete sich zusehends im ganzen Weltraum. Es wurden Menschen gebraucht. Und die Frau wurde eine Spenderin.«

Oma Ada fing an zu lachen.

»Ich verstehe«, nahm ich ihren Gedankengang auf. »Ich hatte schon Genetik. Ich weiß, dass man oft Kinder im Geschäft kauft, das künftige Kind wird dort aus einer Kartothek ausgesucht.«

»Genau. Die Frau hatte zweitausend Kinder in der gesamten Galaxie. Alle zu verschiedenen Zeiten, die letzten noch vor zehn Jahren. Und obwohl das nicht erlaubt war, hatte sie es ermöglicht, das Schicksal eines jeden Klons zu verfolgen.«

»Eines Klons?«

»Ja. Die Mädchen waren ihre identischen Klone, die Jungen die ihrer Matrize. Sie wuchsen heran… und erhielten zu einem bestimmten Zeitpunkt das vollständige Gedächtnis ihrer Ahnin. Natürlich nicht alle… nur diejenigen, die bereits die ersten Stufen zur Macht erklommen hatten. Diejenigen, die mit der Verschmelzung des Bewusstseins und der Übernahme der Erfahrung ihrer Matrize einverstanden waren. Und eine dieser Frauen, Inna Snow, fand heraus, wie man das Bewusstsein über die Neuroshunts beeinflussen und dadurch nach und nach richtiges Verhalten programmieren konnte.«

»Also ist Inna Snow gar nicht die Matrize«, flüsterte ich. »Was sind wir nur für Idioten…«

»Nein, sie ist nicht die Matrize. Sie regiert wirklich, aber die strategischen Entscheidungen werden von den Klonen gemeinsam getroffen. Wenn Inna Snow stirbt, wird einer der Klone, der ihr in Alter, Temperament und Fähigkeiten ähnelt, ihren Platz einnehmen. Also ist die Präsidentin Inna Snow wirklich unsterblich… so gut wie unsterblich.«

»Dann ist ja klar, warum sie einen Schleier trägt«, sagte ich. »Sie würde so viele Zwillinge haben, dass sich die Leute Gedanken darüber machen würden!«

»Sicher. Die Geheimdienste des Imperators würden sich sofort mit den Klonen befassen, die auf den Planeten des Imperiums leben. Es sind nicht mehr allzu viele, die Mehrheit ahnt nichts davon, aber trotzdem… warum sollte man dem Feind zusätzliche Trümpfe in die Hand geben?«

»Inna Snow…«, sprach ich vor mich hin. »Inna Snow… Alla Neige?«

Oma Ada lächelte:

»Kluges Kerlchen. Die Namen aller weiblichen Klone entsprechen einem gemeinsamen Prinzip — meistens vier Buchstaben, in der Mitte zwei Konsonanten, manchmal auch nur einer. Inna, Inga, Anna, Ada… Die Familiennamen sind auf diese oder jene Weise mit ›Schnee‹ verbunden: Moros, Winter, Snjeg, Eis, Froid — in allen Sprachen der Welt.«

»Elli«, sagte ich. »Sie gehört zu den allerletzten, stimmt’s?«

»Stimmt.« Die Alte nickte. »Elli Cold.«

»Und wie heißen Sie?«, wollte ich wissen. »Ada Eis?«

»Schnee«, antwortete Oma Ada. »Als ich geboren und mir meiner selbst bewusst wurde… und das war ziemlich eigenartig, sich auf einmal in einem fremden Körper wiederzufinden… in einem Frauenkörper… hatte es draußen mächtig geschneit. Eduard nahm mich an die Hand und führte mich aus dem Labor. Wir tranken im Schneegestöber Wodka, starken russischen Wodka, tanzten, hielten uns an den Händen und lachten beim Gedanken an unsere Verrücktheit.«

»Verrücktheit?«, wiederholte ich. Und stellte mir vor, wie Mann und Frau, die in Wirklichkeit ein und dasselbe sind, im Schnee tanzen.

Wie furchtbar.

»Wie soll man es sonst nennen? Natürlich ist das verrückt. Ich wählte den Namen Ada, der gut zum Namen meiner Matrize passte. Den Familiennamen — Garlitzki — beschloss ich zu ändern. Ada Eis klang zu aggressiv. Ich suchte mir Schnee aus.«

»Ich werde Sie töten«, rief ich. Ich streckte meine Hand aus und spürte, dass die Schlange im Ärmel schon seit langem zum Angriff bereit war. »Ich bringe Sie um, Ada Schnee!«

Die Alte lächelte. »Mir hat es entschieden besser gefallen, als du mich Oma Ada genannt hast!«

»Das werden Sie überstehen. Sie sind nicht meine Oma«, flüsterte ich.

»Natürlich bin ich nicht deine Oma. Ich bin deine Matrize, Tikkirej Frost.«

Kapitel 5

Ich hatte nie darüber nachgedacht, warum ich einen anderen Familiennamen als meine Eltern trug. Auch nicht, als ich mit Mama in der »Kinderwelt« gewesen war und wir die Kartothek durchgeblätterthatten,ummireinzukünftiges Geschwisterchen auszusuchen, für den Fall, dass die Eltern reich würden. Alle Kinder in der Kartothek hatten bereits Vor- und Familiennamen, es war üblich, dass diese von den biologischen Eltern gegeben wurden. Deshalb war es nicht schwer, dahinterzukommen… Aber ich hatte niemals derartige Gedanken gehegt. Vielleicht deshalb, weil fast alle meine Klassenkameraden von ihren Eltern im Geschäft gekauft worden waren, da die Ärzte nicht empfahlen, sich auf Karijer natürliche Kinder anzuschaffen.

Mich hat das eigentlich nie interessiert.

Aber ein Klon von Ada Schnee wollte ich nicht sein.

»Das ist nicht wahr«, sagte ich. »Sie lügen.«

»Na ja, ich bin nicht ganz deine Matrize, Freundchen. Eher sind wir Klon-Bruder und Klon-Schwester, da du ein Klon von Eduard Garlitzki, meiner Matrize, bist. Einer seiner letzten Klone.«

»Das ist nicht wahr«, wiederholte ich. Und ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.

Ich hatte keinen Bruder bekommen. Und keine Schwester. Die Eltern schafften es nicht, reich zu werden. Dabei hatten wir uns schon für ein Mädchen entschieden — nach der Computermodellation von Charakter und Aussehen. Sie war sehr lustig und quirlig, sie gefiel den Eltern und mir außerordentlich. Ich hätte lieber eine Schwester als einen Bruder gehabt.

Und hier war nun meine Schwester. Und das ekelhafte Mädchen Elli war auch meine Schwester. Und die nette Anna aus dem Motel. Und die Direktorin des College. Und die Präsidentin Inna Snow.

Und außerdem gab es noch einen Haufen Brüder.

»Es ist die Wahrheit, Tikkirej«, sprach Oma Ada. »Und du weißt, dass ich nicht lüge. Warum hätte ich mich wohl mit dir abgeben sollen, was glaubst du wohl?«

»Ich brauche Sie nicht!« Ich wich zurück, bis ich mit den Ellenbogen an die Wand stieß. Oma Ada saß da, schaute mich kurz an und schwieg. »Ich lasse Sie nicht in mein Gehirn eindringen!«

»Niemand hat vor, dich dazu zu zwingen«, erwiderte Oma Ada, auf einmal erbost. »Alle diejenigen, die es abgelehnt haben, ihr Bewusstsein zu vereinigen, leben ihr eigenes Leben! Das Einzige, was von dir gefordert wird, ist, dass du auf unserer Seite stehst.«

»Wieso?« In meiner Panik glaubte ich, dass man mich in irgendeinen Apparat wie die Flasche für Module stecken könnte. Und mich zwingen würde, für sie zu arbeiten.

»Unser Gehirn ist ein zu kostbares Instrument, um es dem Gegner in die Hände zu geben«, meinte Oma Ada ernsthaft. »Wir alle sind talentiert, jeder auf seine eigene Art, aber talentiert. Wenn du schon aus irgendeinem Grund nicht auf unserer Seite stehen willst, dann sei auch nicht gegen uns.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Setz dich, Tikkirej!«, kommandierte Oma Ada unbarmherzig. Und ich spürte in ihrer Stimme dieselbe Intonation, derer sich sowohl die Phagen als auch Inna Snow bedienen konnten. Das nennt sich imperative Sprache. Zuerst folgt der Mensch, und danach beginnt er zu denken…

Meine Gedanken führte ich auf dem Fußboden sitzend zu Ende.

»Tikkirej Frost, wir haben dich zu spät entdeckt«, fuhr Oma Ada fort. »Erst nach deiner Flucht vom Karijer und deinem Auftauchen auf Neu-Kuweit. Es wurde beschlossen, nichts zu unternehmen, der Planet wurde sowieso auf die Vereinigung vorbereitet. Aber du warst verschwunden. Die Phagen haben trotz allem herausgefunden, wer du bist.«

»Stasj wusste nicht, wer ich bin!«

»Er wusste es nicht? Und ihr wart zufällig im selben Motel? Und er hat sich einfach so dazu entschieden, dir zu helfen?«

»Ja!«

Oma Ada schüttelte voller Zweifel den Kopf. »Und was glaubst du, warum sie dich zurückgeschickt haben? Das schwierige und teure Unternehmen, wieso?«

Ich schwieg.

»Den Phagen war klar, dass ihnen ein Juwel in die Hände gefallen ist.« Oma Ada lächelte. »Aber sie wussten nichts damit anzufangen. Inna Snow erpressen? Das wäre dumm. Wir hätten wegen eines Klons keine Zugeständnisse gemacht. Daraufhin beschlossen sie, dich als Köder zu verwenden. Nach Neu-Kuweit zurückzubringen und zu beobachten, was passieren wird. Wer den Kontakt zu dir sucht, welche Kräfte beteiligt sind. Du wurdest benutzt, verstehst du das? Deine wohlwollenden Phagen haben dich, einen völlig unschuldigen Jungen, benutzt!«

»Was ist ihnen denn anderes übrig geblieben?«, rief ich. »Ihr habt Millionen Menschen zu Zombies gemacht! Die waren auch völlig unschuldig!«

»Die Menschen machen sich seit Hunderten von Jahren selbst zu Zombies. Sie betrügen, übertreiben, lügen, denken sich etwas aus, schwindeln. Jeder Politiker ist regelrecht verpflichtet, seine Wähler zu belügen.«

»Aber nicht so! Nicht auf ewig!«

»Wer hat dir gesagt, Tikkirej, dass diese Menschen für immer Zombies bleiben?« Oma Ada lächelte wieder. »Wenn du möchtest, verrate ich dir ein Geheimnis. Unter Verwandten. Die Programmierung der Persönlichkeit hält ungefähr drei Monate an. Dann verblasst die Wirkung.«

»Sie lügen! Auf Inej sind die Menschen seit langem hirnamputiert, sie sind es bis heute!«

»Das ist alles ganz einfach, Tikkirej. Man muss einem Menschen nicht für ewig das Gehirn zurechtrücken. Es reicht aus, wenn er begonnen hat, ein anderes Leben zu führen, andere Ideale zu schätzen, auf eine andere Flagge schwört, einem anderen Glauben anhängt. Wenigstens ein bisschen — und er gewöhnt sich daran. Weißt du, weshalb? In Wirklichkeit interessiert es niemanden, wer regiert. Für niemanden ist es von Bedeutung, ob die neue Macht die alte auf ehrliche oder unehrliche Weise besiegt hat. Die Hauptsache ist, dass im Teller Suppe und in der Suppe ein Stück Fleisch ist, man ein Dach über dem Kopf hat, im Fernsehen die geliebte Serie läuft und sich auf den Straßen nicht allzu viele Diebe und Rowdys herumtreiben. Das, Tikkirej, ist die Hauptsache. Tierische Instinkte, einfachste Bedürfnisse. Alles andere sind Trägheit und Faulheit. Alle Revolutionen erfolgten, nachdem man den Menschen die Erfüllung der einfachsten Bedürfnisse verweigert hatte. Diese Revolution ist viel humaner. Wir haben das Imperium nicht zerstört, es zu Hunger und Unruhen kommen lassen, obwohl das einfach ist, Tikkirej, ganz einfach! An Stelle dessen lenkten wir die menschliche Trägheit in andere Bahnen. Die Menschen haben sich nicht verändert. Sie sind nicht schlechter geworden.«

»Das stimmt nicht«, erwiderte ich. »Ich habe einen kleinen Jungen gesehen. Er hat Krieg gespielt und seine Spielsachen zertrampelt. Ich habe die Menschenmenge erlebt, als Inna Snow Tien verächtlich gemacht hat…«

»Kleine Jungs spielen schon immer Krieg und zertrampeln ihre Spielsachen. Die Menge verachtet schon immer denjenigen, der sie durchschreitet. In einigen Monaten werden alle Bewohner Neu-Kuweits wieder normal sein. Aber die kleinen Jungs werden weiterhin ihre Spielzeuge zertrampeln. Die Menge wird trotzdem ›Töte!‹ schreien. Genauso verhält sich die Menge auf den Planeten des Imperiums. Genauso spielen die Kinder des Imperiums Krieg gegen Inej.«

Oma Ada erhob sich. Sie kam auf mich zu und dieses Mal versuchte ich erst gar nicht auszuweichen. Vielleicht, weil ich nirgendwohin konnte. Vielleicht war ich einfach nur müde.

»Mein armes, kleines Brüderchen«, sagte Oma Ada zärtlich. »Mein irregeleiteter, verwirrter Kleiner. Du bist auf einem ungeheuer grausamen Planeten aufgewachsen und schuld daran ist dein geliebter Imperator. Du hast dort nur Härte und Grausamkeit kennen gelernt, deshalb hast du dich wegen ein paar Koseworten in einen Mörder und Terroristen verliebt. Aber jetzt wird alles anders…«

Sie streichelte meine Wange. Dabei kamen mir träge und unpassende Gedanken in den Sinn, dass mich meine echten Großmütter nicht einmal gesehen hatten. Höchstens, dass sie mit Mama und Papa in der »Kinderwelt« waren und die Computermodellierung angeschaut hatten. Tikkirej Frost, Junge. Modifiziert für Planeten mit erhöhter Radioaktivität. Voraussichtliches Aussehen bei der Geburt, im Alter von drei, fünf, zehn, fünfzehn Jahren… Intelligent, wissbegierig, leicht störrisch, in Maßen auch selbstbewusst.

Und sehr naiv.

Obwohl nein, Unzulänglichkeiten werden nach Möglichkeit ausgespart. Beziehungsweise wird so formuliert, als ob sie eine Errungenschaft wären. An Stelle von »naiv« hätte man »vertrauensvoll« geschrieben.

Und an Stelle von »willensschwach, wechselt leicht seine Freunde« hieße es »ist leicht zu überzeugen und äußerst kommunikativ« …

»Sterben Sie, Ada Schnee!«, rief ich.

Und die Schlange an meinem Arm spuckte einen beeindruckenden Plasmaklumpen aus.

Die Alte schrie auf, als sie mit ausgerenkter Schulter und einem hilflos herabhängenden rechten Arm von mir weggestoßen wurde. Das Blut floss in mehreren dünnen Rinnsalen. Die Ladung war zu schwach, um die Schulter zu verbrennen, sodass sie wie durch einen starken Beilhieb ausgerenkt wurde.

Im nächsten Augenblick kehrte sich im Zimmer das Innere nach außen.

Die Tür flog auf und einige Gestalten, die an verschwommene graue Schatten erinnerten, glitten ins Zimmer. Hinter den Wänden ertönte Lärm und an einigen Stellen sah ich eine Flammenlinie — mit Hilfe von Brennern wurde sich Zutritt verschafft.

Die Schlange drehte regelrecht durch. Ich schaffte es nicht einmal, einen Gedanken zu fassen, als mein Körper gedreht und in die Ecke, hinter den zweifelhaften Schutz eines Tisches, geworfen wurde. Wie kam das denn zustande? Konnte das Schlangenschwert über meine Muskeln bestimmen?

Die grauen Schatten schossen ihre Flammen ins Leere, dorthin, wo ich eben noch saß, die Steinwand schlug unter den Strahlen der schweren Blaster Blasen wie Asphalt in praller Sonne. Die Schlange schoss erneut auf die Angreifer — mit kurzen, sparsamen Garben, winzigen, weiß glühenden Kügelchen, wie mit feurigem Schrot. Die Masken und Tarnanzüge schalteten sich augenblicklich ab und die Leibwächter von Ada Schnee wurden tödlich getroffen oder verwundet. Ich sprang auf, hechtete über sich krümmende Körper und lief Richtung Tür.

»Nicht töten!«, hörte ich hinter mir die Stimme Oma Adas. »Nicht töten!«

Eine harte, kalte Welle traf mich in den Rücken.

Fühlt es sich etwa so an, wenn man stirbt?

Die Beine knickten ein, die Arme wurden kraftlos, sogar das Atmen fiel schwer. Aber ich lief weiter, die Schlange zog meinen Körper, zwang die Beine weiterzuschreiten — unter immer neuen Schlägen der Paralysatoren.

Ich lief, bis die lähmenden Strahlen meine Nerven dermaßen blockierten, dass auch die Schlange nicht mehr in der Lage war, meine Muskeln zu zwingen, sich zu bewegen. Der Boden kam auf mein Gesicht zu, vor meinen Augen sah ich Blut, das aus meiner zerschlagenen Nase lief, aber ich spürte keinen Schmerz. Fremde starke Hände drehten mich um, durchsuchten mich, rissen mir die Kleidung vom Leib, und einige Gestalten mit Schutzfeldpanzerung rissen mir das Schwert weg, als ob sie eine giftige Schlange gefangen hätten.

Von weit her, wie durch eine dicke Decke, vernahm ich die Stimme Oma Adas: »Bringt den Jungen ins Lazarett! Ihr haftet mit eurem Kopf für ihn!«

Aber nach kurzer Zeit, als sie selbst ins Lazarett gebracht wurde, schlugen sie auf mich ein.

Gut, dass es überhaupt nicht wehtat. An das Lazarett konnte ich mich so gut wie nicht erinnern. Ich hatte den Eindruck, dass es weder die Krankenstation auf dem Kosmodrom noch ein städtisches Krankenhaus war, sondern ein Kriegslazarett auf einem Raumschiff, das im Hafen stationiert war. Dort hatte man entschieden mehr Erfahrung bei der Behandlung Gelähmter — bei Manövern wurden an Stelle echter Blaster stets Paralysatoren verwendet wie auch beim Entern im Kosmos, um die Schutzschicht nicht zu beschädigen.

Als erste neblige Erinnerung spürte ich, wie es in meinem ganzen Körper kribbelte.

Als ob ich in kaltes Wasser gesprungen wäre. Nicht schmerzhaft, eher angenehm.

Danach konnte ich die Augen öffnen. Ich erblickte einige Personen in hellgrünen Kitteln. An meinem Arm war ein Tropf angelegt, über den Körper strichen irgendwelche summenden Geräte. An den Stellen, über die sie geführt wurden, verschwand das Taubheitsgefühl.

»Lieg ruhig«, befahl man mir. Nicht gerade grob, aber ohne jegliches Mitgefühl.

Ich schloss die Augen und lag ruhig.

Ich hatte es nicht geschafft. Ich konnte Ada Schnee nicht töten. Stasj war verhaftet oder gefallen. Inej würde weiter gegen das Imperium kämpfen und wahrscheinlich gewinnen.

Vielleicht sollte es so sein?

Vielleicht hatte Ada Schnee Recht und die Föderation des Inej würde besser als das alte Imperium?

Ich bemühte mich, nicht daran zu denken.

Dann musste ich aufstehen, ich konnte mich wieder selbständig bewegen. Ich bekam Kleidung, einen etwas zu großen Schlafanzug und Hausschuhe und wurde durch Korridore geführt. Danach fehlte ein Stück Gedächtnis, vielleicht wurde ich unter dem Einfluss von Wahrheitsdrogen verhört, vielleicht war ich auch einfach nur in Ohnmacht gefallen.

Die neue Erinnerung kam unerwartet, ähnelte eher einem Traum als der Wirklichkeit: ein kleines Zimmerchen mit Doppelstockbetten, Stasj, Lion und Natascha. Ich wurde ins Bett gelegt und war eingeschlafen, kaum dass mein Gesicht das Kopfkissen berührte.

Ich erwachte durch eine gedämpfte Unterhaltung.

Stasj sprach, und zwar mit seiner normalen Stimme: »Realistisch gesehen hatte ich keine Chance. Die Gegenspionage war daran interessiert, die Handlungen zu beobachten, aber ihnen war klar, dass es zu riskant war, uns in den Kosmos fliegen zu lassen. Ehrlich gesagt, hatte ich lediglich darauf gesetzt, dass das Raumschiff startbereit war.«

»Und man konnte es nicht von Hand starten?«, fragte Lion.

»Es lag nicht am blockierten Computer. Wenn ich es richtig verstehe, wurde der Reaktor abgeschaltet. Daher fehlten dem Raumschiff augenblicklich Geschwindigkeit, Feuerkraft und die Möglichkeit der Selbstvernichtung.«

»Aber das hast du doch nicht vorab gewusst?«, fragte Lion.

»Nein, das wusste ich nicht. Sonst hätte ich den Navigationsraum gar nicht erst erobert. Niemand braucht überflüssige Opfer.«

»Aber du hast ihnen Feuer unter dem Hintern gemacht«, wurde Stasj von Lion gelobt. »Sie wissen jetzt, was ein Phag ist.«

Stasj lachte: »Das wissen sie auch so. Aber es gibt immer Grenzen, hinter denen Widerstand dumm und unnötig wird. Sieh lieber nach, wie es Tikkirej geht. Sein Atemrhythmus hat sich verändert.«

»Ich schlafe nicht«, sagte ich und setzte mich im Bett auf.

Es war doch eine Gefängniszelle. Sehr sauber, akkurat, fast gemütlich. Aber eine Zelle. Mit drei Doppelstockbetten, einem am Fußboden angeschraubten Tisch und einer Toilette in der Ecke hinter einer niedrigen Abtrennung.

Und hier fanden sich alle wieder: Stasj, immer noch mit einem gewaltigen Bauch, aber Gesicht und Hände waren seine eigenen; Lion, der auf dem Bett neben ihm saß; Alex — er lag oben und schien zu schlafen, und außerdem Natascha und… der alte Semetzki! Sie unterhielten sich leise über persönliche Dinge, Natascha nickte mir lediglich zu und wandte sich ab, um ihre verweinten Augen zu verbergen. Der alte Semetzki lächelte ermutigend. Der Invalide hatte keinen Rollstuhl, seine Beine waren in eine dünne rote Decke mit einer Inventarnummer auf einem weißen Pad gewickelt.

»Wie geht es dir, Tikkirej?«, erkundigte sich Stasj.

»Gut.« Ich wedelte mit den Armen. Der Körper bewegte sich normal, als ob ich niemals ein unbeweglicher Holzklotz gewesen wäre. »Habe ich lange geschlafen?«

»Ungefähr zwei Stunden. Es scheint ganz so, als ob du eine gehörige Portion von den Paralysatoren abbekommen hättest.«

»Ja.« Ich schaute Stasj in die Augen. »Ich habe versucht, Ada Schnee zu töten.«

»Wer ist Ada Schnee?«

War ihm dieser Name vielleicht wirklich unbekannt?

»Die Matrize«, antwortete ich kurz.

Stasj reagierte sofort. »Die Matrize von Inna Snow?«

»Ja. Stasj, hast du gewusst, dass Frau Präsidentin Snow nur eine der Klone ist?«

»Wir gingen davon aus«, sagte Stasj und nickte. Ich wandte meinen Blick nicht von ihm, und er fuhr unwillig fort: »Ja, ich wusste es, ich wusste es. Einer der von uns gefangenen Klone war nur fünf Jahre jünger als Inna Snow. Es ist kaum möglich, dass sich ein fünfjähriges Mädchen selbst klonen kann.«

»Ada Schnee ist die Matrize von Inna Snow«, erklärte ich. »Sie hat zweitausend Klone. Sie regieren gemeinsam. Viele teilen ein gemeinsames Bewusstsein, aber einige haben es abgelehnt.«

Stasj nickte. Ich berichtete ihm nichts Neues.

»Stasj, wusstest du, dass ich auch ein Klon bin?«, fragte ich ohne Umschweife.

Lion entgleiste das Gesicht. Natascha schrie erstaunt auf und drängte sich an den Urgroßvater. Alex wälzte sich herum, beugte sich vom oberen Bett herab und schaute mich aufmerksam an, dann lachte er auf und legte sich wieder hin. Sein ganzes Gesicht war zerschrammt und voller blauer Flecken, als ob er geschlagen wurde, aber nicht vor kurzem, sondern schon vor ein paar Tagen. Einem Mädchen ähnelte der junge Phag mittlerweile kein bisschen mehr.

»Ich wusste es«, antwortete Stasj.

»Von Anfang an?«, wollte ich wissen. Wenn er »Ja« sagte, dann wäre das die letzte Frage, die ich ihm je gestellt hätte.

»Nein. Ich habe es erst auf dem Avalon erfahren. Und auch das nicht sofort… Ich wurde selbst gründlich wegen eines möglichen Seitenwechsels überprüft.« Er schwieg, dann meinte er: »Jetzt ist auch klar, warum wir alle zusammengesteckt wurden. Inna Snow lechzt nach der Fortsetzung der Show… Frag, Tikkirej. Ich werde auf alle deine Fragen antworten.«

»Ehrlich antworten?«, hakte ich nach.

»Ja. Wenn ich keine ehrliche Antwort geben kann, werde ich schweigen.«

»Wie ist es dazu gekommen, dass ich nach Neu-Kuweit kam und dich getroffen habe? War es die Einmischung der Phagen oder des Geheimdienstes des Inej?«

»Soweit ich weiß, war es Zufall«, antwortete Stasj bestimmt. »Ein Zufall, wie er bei jeder komplizierten Unternehmung passieren kann. Wir befragten die Mannschaft der Kljasma, ich flog auf deinen Planeten und überprüfte die Umstände… des Todes deiner Eltern. Es war Zufall, Tikkirej. Inna Snow wusste nichts von deiner Existenz. Es war nicht möglich, das Schicksal aller Klone zu verfolgen. Du kamst völlig zufällig auf Neu-Kuweit. Deine Eltern haben sich wirklich für dich aufgeopfert. Die Mannschaft der Kljasma hatte wirklich Mitleid mit dir und erlaubte dir deshalb, von Bord zu gehen. Dubistnichtdurchdiestandardmäßige Einwanderungskontrolle bei Verlassen des Raumschiffes gegangen, die Agenten des Inej haben zu spät von dir erfahren.«

»Wenn ich also das Raumschiff wie üblich verlassen hätte…«

»Hätte dich sofort der Resident des Inej aufgespürt und mit allen Ehren an einen sicheren Ort gebracht. Ich denke, dass du dich nicht auf die Übernahme eines fremden Bewusstseins eingelassen hättest. Aber man hätte dich überredet, auf der Seite des Inej zu stehen! Bestimmt!«

»Das ist nicht wahr!«, rief Natascha erbost aus. Aber ich wusste, dass Stasj Recht hatte. Als ob ich, gerade dem Raumschiff entflohen, fröhlich, naiv und lebensfroh wie ein Welpe, auf Hilfe von irgendeiner Seite verzichtet hätte! Als ob ich mich nicht über Tausende »Brüder« und »Schwestern« gefreut hätte!

Vielleicht wäre ich sogar mit dem fremden Bewusstsein einverstanden gewesen.

»Warum haben uns die Phagen nach Neu-Kuweit geschickt?«, fragte ich.

»Um die Reaktion der Gegenspionage des Inej zu beobachten. Und die Matrize zu finden.«

»Und du hast mir nichts gesagt…«, flüsterte ich.

Stasj rieb sich die Stirn. Zerstreut schaute er nach oben — vielleicht suchte er die Überwachungsapparaturen an der Decke, vielleicht die passenden Worte.

»Ich weiß nicht, ob du mich verstehen wirst, Tikkirej.«

»Versuch es!«, erwiderte ich. »Ich bin sehr verständnisvoll.«

»Weißt du Tikkirej, es gibt verschiedene Arten der Zuneigung. Ein Vater schickt seinen Sohn in den Krieg und wünscht ihm Sieg und Ehre. Ein anderer nimmt ihn am Schlafittchen, versteckt ihn im Untergrund und ist bereit, in den Tod zu gehen, um seinen Sohn vor dem kleinsten Übel zu bewahren. Es steht mir nicht an, zu urteilen, wer von den beiden Recht hat. Und du bist mir kein Sohn. Und für den Krieg bist du noch zu jung. Aus alldem folgt, dass ich dich einfach benutzt habe. Hintergangen. Aber dem ist nicht so. Ich konnte nicht gegen dein Schicksal handeln.«

»Welches Schicksal?«, fragte ich fordernd.

»Wenn ich das wüsste! Aber eines ist es gewiss nicht — auf dem Avalon in die Schule gehen und Schneeballschlachten machen. Indem du nach Neu-Kuweit gegangen bist, konntest du in einem großen Krieg helfen. Tausende, Millionen von Leben retten. Und das hast du gemacht.«

»Gemacht? Wie?« Ich lachte auf. »Ich konnte nicht einmal die Matrize töten, obwohl ich mit aller Kraft auf sie geschossen habe! Ich habe nichts erreicht. Ich kann gar nichts anderes, außer auf dem Avalon zur Schule zu gehen und mit Schneebällen zu schmeißen! Du hast doch Alex, ihr hättet ihn maskieren können, damit er aussieht wie ich, und ihn herschicken können! Es ist das Schicksal eines Phagen, gegen Schurken zu kämpfen! Warum mischt ihr euch dann in mein Leben ein?«

Ich verstummte, weil ich mir in diesem Augenblick die Antwort vorstellte:

»Also hätte man dich auf Neu-Kuweit zurücklassen sollen?«

Aber das sprach Stasj nicht aus.

Alex, der sich immer noch im Bett herumwälzte, mischte sich ein. »Du mühst dich umsonst, Stasj. Er wird nichts verstehen! Außerdem hat er Recht: Er sollte in die Schule gehen, Fußball spielen und im Fluss baden.«

»Und warum habt ihr Lion hierhergeschickt?«, fuhr ich, angeregt von der unerwarteten Unterstützung, fort. »Warum habt ihr ihn betrogen?«

»Ich hab es selbst gewollt«, sagte Lion unerwartet. »Ich wollte zu meinen Eltern. Auch wenn sie hirnamputiert sind, sie sind meine Eltern.«

»Natascha?« Ich schaute sie an. »Sag, hab ich Recht?«

Sie zuckte mit den Schultern.

An ihrer Stelle fing der alte Semetzki an zu reden: »Tikkirej, ein Rennpferd spannt man nicht vor den Pflug. Nimm einmal an, du wärst jetzt auf dem Avalon. Wir anderen alle wären hier. Und du auf dem Avalon. Du hast Schule. Danach gehst du nach Hause, isst etwas und siehst fern. Würde dir das gefallen?«

»Das ist doch egal! Ich bin hier!«

»Stell es dir trotzdem vor!«, wiederholte Semetzki hartnäckig, »Das ist eine Art Spiel. Wenn dir irgendetwas nicht gefällt, stell dir vor, wie es anders sein könnte.«

»Das ist nicht fair.«

»Warum nicht fair? Nein, sag mir, möchtest du auf dem Avalon sein?«

»Ja!«, erwiderte ich boshaft.

Überraschend mischte sich Stasj ein: »Frag die Matrize. Sie schicken dich zum Avalon zurück.« Ich konnte darüber nur lachen. Aber Stasj fuhr hartnäckig fort: »Du hast keine Ahnung, welche Gefühle die Klone füreinander empfinden. Besonders die Matrize zu ihren Klonen. Du kannst auf die Matrize schießen, das mindert ihre Sympathie zu dir nicht. Du bist für sie nur ein verirrtes, betrogenes Kind. Sie löschen in deinem Gedächtnis alles, was du von dem weißt, was auf Neu- Kuweit passiert ist, und schicken dich zum Avalon. Glaub mir! Du musst sie lediglich darum bitten.«

»Das ist kein Ausweg!«, rief ich. »Und du weißt selbst, dass ich das nicht will! Das wäre fast wie Selbstmord, das Gedächtnis zu löschen!«

»Dann bitte darum, dass sie dich hier in Ruhe lassen, auf einem Planeten des Inej«, schlug Stasj vor. »Du wirst in die Schule gehen, Fußball spielen und angeln. Worin besteht da der Unterschied für dich?«

Ich glaubte bei mir, dass Stasj wahrscheinlich Recht hatte. Ich erinnerte mich lebhaft daran, welche Sorge in der Stimme von Ada Schnee mitgeklungen hatte: »Ihr haftet für ihn mit eurem Kopf!«

»Worin besteht der Unterschied? Und wenn der Krieg ausbricht? Was wird dann?«

»Es wird keinen Krieg geben«, meinte Stasj müde. »Das Imperium hat Verhandlungen mit Inej begonnen. Der Status quo wird vereinbart: die Existenz von zwei menschlichen Zivilisationen in der Galaxis. Sollen sie sich ruhig ihrer Herrschaft freuen. Sollen sie die Gesellschaft aufbauen, die ihnen gefällt. Die Zeit wird zeigen, wer Recht hat.«

»Schnee wird sich niemals darauf einlassen! Sie fordert alles und das sofort!«

»Alles, aber nicht sofort. Ihnen ist klar, dass sie gegenwärtig nicht im Vorteil sind. Inej kann das Imperium zerstören, aber nicht besiegen. Snow und alle anderen Klone brauchen keine in Asche gelegten Planeten. Der Imperator braucht sie auch nicht. Es wird einen schalen Frieden geben.«

Er verstummte. Ich sah Lion an, Semetzki und Natascha. Sie schienen nicht erstaunt. Sie wussten das bereits.

Und sie glaubten Stasj.

»Ich möchte nicht auf Neu-Kuweit leben«, flüsterte ich. »Ich möchte kein Klon von Schnee sein. Ich bin Tikkirej. Tikkirej vom Planeten Karijer! Ich gehöre mir selbst!«

Niemand sagte ein Wort.

»Du hast mich doch dazu gemacht«, wandte ich mich an Stasj. »Du hast mir doch beigebracht, dass man selbst seinen Weg wählen muss, dass es schlecht ist, Menschen zu zwingen, dass Versklavung schlimmer ist als der Tod, dass man Freunde nicht verrät, dass der Mensch immer eine Wahlmöglichkeit haben muss. Wie soll ich jetzt leben? Ich werde es nicht können. Es wird mir nicht gelingen!«

Ich schaute zu Lion — und der senkte die Augen. Welche Wahl blieb ihm denn, er hatte doch hier seine hirnamputierte Familie… Obwohl, wieso glaubte ich, dass man ihm überhaupt eine Wahl ließ?

»Dann ist es schon besser, dass mein Gedächtnis gelöscht wird und ich auf den Avalon zurückkehre«, meinte ich. »Dann vergesse ich wenigstens, dass ich der Klon eines Diktators bin. Und dass du mich verraten hast, werde ich auch vergessen. Und du, wenn du auf den Avalon zurückkommst, sprich mich ja nicht darauf an.«

»Tikkirej, ich habe dich nicht verraten«, antwortete Stasj ruhig. »Und auf den Avalon werde ich nicht zurückkommen. Man wird mich hinrichten. Und Juri Michailowitsch ebenfalls. Was Alex, Lion und Natascha betrifft, bin ich mir nicht sicher, aber nach den Gesetzen des Inej werden auch Minderjährige wegen Staatsverbrechen verurteilt. Nur du hast eine Chance, dich zu retten.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Versuche, zu verstehen, dass das unabwendbar ist«, fuhr Stasj fort. »Ich bin ein Terrorist. Ich stehe nicht einmal im offiziellen Dienst des Imperators, ich falle nicht unter das Gesetz über Kriegsgefangene. Und Semetzki auch nicht. Vom Standpunkt des Gesetzes — eines beliebigen Gesetzes — sind wir nichts weiter als eine Bande von Verbrechern, schuldig an Morden,Anschlägen,demVersucheiner Raumschiffentführung, Dokumentenfälschung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und was sonst nicht alles. Nach den Regeln des Kriegsrechts steht uns nicht einmal ein Verfahren zu.«

»Ich hoffe, dass sie die Mädchen in Ruhe lassen«, murmelte Semetzki.

»Juri Michailowitsch, wie sind Sie hierhergekommen?«, erkundigte ich mich. »Wo sind Ihre ›Schrecklichen‹?«

»Wir wurden gestern Nacht im Schlaf überfallen. Das ganze Lager wurde mit Paralysatoren abgedeckt. Opfer gab es nicht.« Semetzki lächelte traurig. »Ich hoffe, dass es keine gab. Und vor drei Stunden, kurz bevor du hierhergebracht wurdest, überstellte man mich in diese Zelle.«

»Wir standen seit langem unter Beobachtung«, sagte Lion. »Bestimmt, seit wir im Motel aufgetaucht sind.«

»Dieses Mädchen von der Rezeption ist auch ein Klon«, ergänzte ich. »Aber es sieht ganz so aus, als hätte sie ihr eigenes Bewusstsein behalten…«

»Sie ist nicht nur ein Klon. Sie ist der Klon eines Klons«, warf Stasj ein. »Ich weiß nicht, was für eine psychische Abweichung das ist, aber die Kopien der Schnee gefallen sich darin, sich auf diese Art und Weise zu vermehren.«

Lion bekam vor Staunen runde Augen.

»So besiedeln sie ja alle Planeten! Verdrängen die normalen Menschen!«

»Das glaube ich nicht.« Stasj schüttelte den Kopf. »Die Machtstrukturen werden von ihnen ausgefüllt, das ist schon möglich. Aber Sanitärtechniker und Arbeiter verdrängen… warum? Wer will schon Hausmeister sein?«

Er lächelte und machte überhaupt einen ruhigen Eindruck, dass alle seine Andeutungen über die Hinrichtung und die Gesetze der Kriegsgerichtsbarkeit ein Scherz zu sein schienen. Eine Sekunde lang glaubte ich, dass mich Stasj nur erschreckte, mich zwang, ihn zu bemitleiden.

Dann jedoch erinnerte ich mich an meine Eltern. Wie fröhlich und zu Scherzen aufgelegt sie an ihrem letzten Abend waren.

»Sie streben nach Macht und nichts als Macht«, fuhr Stasj fort. »Alle Klone von Eduard Garlitzki, die Männer wie die Frauen. Macht ist die stärkste Droge.«

»Du hast mich schon wieder belogen«, rief ich. »Du wusstest sogar von Garlitzki! Du hast mich belogen, Stasj!«

Und ohne richtig zu verstehen, was ich da tat, stand ich auf, ging zu Stasj… und umarmte ihn.

»Warum umarmst du mich dann, Tikkirej?«, fragte er zärtlich.

»Weil du dich nicht aus Versehen versprechen würdest«, erwiderte ich und hielt meine Tränen zurück. »Weil… weil alle lügen…«

»Aber nur wenige bedauern ihre Lügen«, meinte Stasj leise. Sein Hand klopfte mir auf die Schulter. »Meine Offenheit hat Grenzen, Tikkirej. Ich darf dem Befehl des Rates nicht zuwiderhandeln, nicht mein gegebenes Wort brechen. Erinnerst du dich, wie der Agent des Inej, Leutnant Karl, starb?«

»Er hieß Karl?«, fragte ich. Meine Augen blieben geschlossen.

»Ja. Ich erinnere mich an die Namen aller, die ich getötet habe… Tikkirej, ich konnte dir nicht eröffnen, dass du ein Klon unseres Gegners bist. Ich hätte es nicht einmal geschafft, es auszusprechen, Tikki.«

»Und jetzt kannst du?«, erkundigte ich mich.

»Jetzt ja.«

»Hat sich etwas verändert? Hängt es mit den Waffenstillstandsverhandlungen zusammen?«

»Ja«, erwiderte Stasj.

Nun jedoch war mir klar, dass er log. Das hatte überhaupt nichts mit den Verhandlungen zu tun! Es war etwas anderes. Aber Stasj belog gar nicht mich, sondern diejenigen, die uns beobachteten, die jede Abweichung der Stimme, das Zittern eines jeden Muskels, jede aus dem Auge quellende Träne und jeden auf der Stirn erscheinenden Schweißtropfen analysierten. Er log — und wollte, dass ich es wusste. Nur ich.

Weil noch nicht alles verloren war!

Weil Stasj auch diese Gefängniszelle, meine Tränen und das unbarmherzigeStarrenderÜberwachungskameras vorhergesehen hat.

Die Phagen benutzen nie einen endgültigen und favorisierten Plan. Alle ihre Pläne ähneln einer Puppe in der Puppe, sind ineinander versteckt, nur dass man selten bis zum Letzten vordringt.

»Stasj, wenn nun das Imperium siegen würde, was würde mit den Klonen geschehen?«, wollte ich wissen.

»Mit denen, die nicht am Putsch beteiligt waren — nichts. Diejenigen, die damit einverstanden waren, das Bewusstsein der Matrize zu übernehmen, würden unter strenge Bewachung gestellt und das Recht auf Fortpflanzung verlieren.«

»Und mit solchen wie mir?«

»Nichts. Wir würden sicherlich ein Auge darauf halten. Aber ohne Beschneidung der Rechte.«

»Ich möchte gar keine Macht«, äußerte ich. »Ich möchte lediglich, dass es keinen Krieg gibt. Dass du nicht hingerichtet wirst. Dass Lion, Natascha und alle Mädchen freigelassen werden. Dass Semetzki nicht stirbt!«

Semetzki lachte leise. »Das wohl kaum… Weißt du, wie alt ich bin, mein Junge? So oder so ist es an der Zeit.«

Darüber wollte ich keinen Streit mit ihm.

»Wenn ich die Matrize fragen würde — könnte sie euch freilassen? Wenn ich einverstanden wäre, auf Neu-Kuweit zu bleiben?«

Stasj überlegte. Nein, eher nicht. Er überlegte nicht. Er spielte auf Zeit, jetzt verstand ich.

»Versuch es doch!«, riet er.

»Stasj, niemand wird uns laufen lassen!«, rief Alex aus. »Stasj, wie kannst du nur auf so etwas hoffen?«

Der junge Phag hatte nicht verstanden! Nicht einmal er spürte die Intonationen, die ich den Worten von Stasj entnahm. Vielleicht weil Stasj jetzt nur für mich sprach?

Ich richtete mich auf, nickte Lion zu — der schaute mich perplex an — und schrie in den Raum: »He, ihr! Ich möchte mit meiner Matrize sprechen! Ich möchte mit Adelaide Schnee sprechen! Hört ihr? Übermittelt ihr schleunigst, dass Tikkirej um ein Treffen bittet!«

Nichts passierte. Und niemand antwortete mir. Aber es verging nicht einmal eine Minute und die Tür der Zelle bewegte sich mit einem leisen Zischen zur Wand. Auf der Schwelle standen zwei Wärter mit Kraftfeldpanzerung. Im Korridor warteten weitere.

»Heraus! Alle!«, kommandierte einer der Wächter. Die Stimme, die durch das Kraftfeld der Panzerung drang, war hart und kalt wie bei einem Trickfilmroboter.

»Und wie befehlen Sie meine Fortbewegung?«, fragte Semetzki streitsüchtig. »Gebt den Rollstuhl zurück! Oder wollt ihr mich auf Händen tragen?«

Der Wärter neigte den Kopf, als ob er einer leisen Stimme zuhörte. Er nickte. »Den Rollstuhl bekommen Sie umgehend zurück.«

»Habt ihr alles überprüft, keine Bomben gefunden?«, erkundigte sich Semetzki giftig. »Ihr habt ihn doch nicht etwa in seine Einzelteile zerlegt?«

»Das haben wir«, bestätigte der Wärter.

»Schreibt mir eine Rechnung, ich werde euch für die Wartung dieses antiken Stückes entlohnen«, versprach Semetzki gallig.

Kapitel 6

Als wir durch die Korridore geführt wurden, war ich mir sicher, dass wir uns noch im Kosmodrom befanden. Ein Teil des Weges führte durch eine hermetisch abgeschlossene Rohrgalerie, die sich unter dem Dach der Wartehalle entlangzog. Zwanzig Meter tiefer zeigte sich das Leben voller Lärm und Menschen, vollkommen alltäglich. Passagiere mit Koffern, mit Gepäckwagen und Taschen. Aufgeregte, lautlos gähnende Kinder wirbelten umher, in den Cafés warteten die Passagiere auf ihre Flüge, vor den Check-in-Schaltern bildeten sich kurze Warteschlangen. Es gab außergewöhnlich viele Militärs, für sie war ein Teil der Halle abgesperrt. Dort verloren sie sich in einer einheitlich graugrünen, schwankenden Masse.

Worauf wartete Stasj?

Auf die Landung der Eingreiftruppe des Imperiums?

Aber das wird ein blutiges Gemetzel und keine Rettung für uns. Inej ist zum Krieg bereit. Die Männer und Frauen würden kämpfen, die Kinder kratzen und beißen, die gelähmten Alten die Soldaten mit Flüchen überhäufen. Das wäre keine Rettung für uns.

Worauf nur wartete Stasj?

Ich schaute ihn von der Seite an, selbstverständlich ohne ihm diese Frage zu stellen. Stasj war als Einziger von uns mit Handschellen gefesselt. Nicht mit modernen Magnetfesseln, sondern mit normalen metallenen mit einer Kette zwischen den Schellen. Das störte ihn übrigens überhaupt nicht. Er unterhielt sich leise mit Semetzki, der seinen Rollstuhl fuhr. Die Wächter beobachteten sie, griffen jedoch nicht in das Gespräch ein.

Nachdem wir den Wartesaal verlassen hatten, gingen wir noch eine ganze Zeit durch Korridore im Dienstbereich des Kosmodroms. Hier begegneten wir auffallend vielen Militärangehörigen. In einem Saal, an dem wir vorbeigingen, waren die Soldaten wie die Sprotten zusammengepresst. Sie saßen auf dem Boden und hielten lange Strahlenkarabiner alter Bauart in den Händen. Durch die weit geöffneten Türen schlug uns der saure Geruch von Schweiß entgegen, die Ventilation war überfordert. Als ob sie hier schon seit Tagen sitzen würden!

Und trotzdem war auf den Gesichtern der Soldaten ein ernstes, gefestigtes und erhabenes Gefühl zu sehen.

Wie können die Soldaten des Imperiums gegen Millionen von Fanatikern kämpfen?

»Tikkirej, hast du keine Angst?«, fragte mich Stasj.

Ich schüttelte den Kopf.

»Früher einmal hatte ich große Angst vor dem Tod«, sagte Stasj. »Eigentlich nicht vor dem Tod an sich… irgendwie hatte ich immer die Vorstellung eines Friedhofs im Winter: kalter Wind über eisiger Erde, die nackten Zweige der Bäume und niemand in der Nähe. Kein Mensch, kein Vogel, kein Tier. Unheimlich. Ich hatte sogar beschlossen, um meine Beerdigung auf einem warmen Planeten zu bitten… wenn etwas zum Beerdigen übrig blieb. Zum Beispiel auf Inej.«

»Ist Inej etwa ein warmer Planet?«, wollte ich wissen. Als ob das von Bedeutung wäre!

»Sehr sogar. Dort gibt es keinen Frost. Der Planet erhielt diesen Namen wegen seines Anblicks aus dem All: Infolge der Besonderheit des Klimas sind die Wolken auf Inej lang und dünn, fedrig, als ob der gesamte Planet mit Reif bedeckt wäre. Das klingt lustig, oder?« Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Aber jetzt denke ich, dass Neu-Kuweit keinen Deut schlechter ist.«

»Stasj, warum belastest du den Jungen damit!«, fragte Semetzki vorwurfsvoll.

»Wir nehmen Abschied«, erwiderte Stasj ruhig. »Tikkirej, ich möchte, dass du verstehst, dass einem jeden das Leben mit unterschiedlichem Maß zugemessen wird. Aber die Möglichkeit, seinen Tod zu wählen, gibt das Leben einem jeden. Vielleicht ist das wichtig.«

Schweigend schritten wir weiter. Ich wollte Stasj anfassen, befürchtete jedoch, dass seine Handfläche kalt wie Eis sein würde.

Endlich betraten wir einen Saal und die Wächter blieben stehen.

Ein eigenartiger Ort. Ich hatte erwartet, dass wir in ein Krankenzimmer gebracht würden, da Ada Schnee verwundet war. Oder in ein Office.

Das hier war ein Mittelding zwischen Werkhalle und Labor. Balken und Krane unter der Decke, Metallgitterbrücken über gigantischen Kesseln und Becken. Riesige Drehbänke, zwar abgeschaltet, aber trotzdem seltsame Geräusche von sich gebend. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie bei der Arbeit dröhnten.

»Unterhaltsam«, meinte Stasj. »Das ist ein Werk zur Aufbereitung atomarer Brennstäbe. Herrgott, werden wir ein Drama aus dem Arbeitsleben zu sehen bekommen?«

Die Wächter antworteten nicht. Es schien ganz so, als wären auch sie über den Ort, an den sie uns gebracht hatten, erstaunt.

»Bringt sie her«, ertönte eine Stimme aus dem Hindergrund. Die bekannte Stimme von Oma Ada.

Unter Bewachung gingen wir zwischen den Drehbänken und Kesseln entlang. Um uns herum dröhnte, klopfte und schrillte es — die abgeschalteten Geräte führten ihr eigenes Leben weiter. Semetzkis Rollstuhl schepperte über den Gitterboden und fügte der ganzen Sinfonie eine verwegene Note hinzu.

Danach nahmen wir eine gewundene Auffahrt zu einer Metallplattform direkt unter der Decke, bei den verschlafen herumhängenden Kränen.

Ada Schnee sah unverändert aus, als ob ihr mein Treffer kaum Schaden zugefügt hätte, war nach wie vor in Jeansanzug und Schuhen mit hohen Plateausohlen gekleidet, trug aber an Stelle des Kopftuchs einen schwarzen Turban, der die grauen Haare zusammenhielt. Sie sah allerdings etwas blass aus. Und ihre linke Schulter wirkte aufgebläht, war verbunden und in ein Regenerationskorsett gesteckt, das aus ihren Sachen herausschaute.

Ada Schnee war nicht allein. Neben ihr stand Alla Neige! Jetzt war zu erkennen, wie ähnlich die beiden einander waren. Hinter dem Rücken der Frauen sah ich zwei junge Männer. Zuerst hielt ich sie für Leibwächter, aber dann…

Dann ging ein Frösteln durch mich. So also werde ich mit dreißig Jahren aussehen! Mit Blastern in der Hand standen zwei männliche Klone von Oma Ada auf der Plattform. Der eine lächelte mir zu, der andere nickte. Ich wandte die Augen ab. Es war gruselig, sie anzusehen.

»Der Phag wird gefesselt«, befahl Schnee. »Dem alten Krüppel nehmt ihr das Kabel für den Neuroshunt weg. Die Übrigen können sich frei bewegen.«

Der Befehl war schnell ausgeführt. Stasj, der sich leicht dagegen sträubte, wurde an das Metallgeländer am Rande der Plattform gefesselt, indem die Handschelle an der linken Hand gelöst und ans Geländer geschlossen wurde. Bei Semetzki wurde das Kabel aus dem Shunt gerissen, sodass er zwar im Rollstuhl saß, aber hilflos war.

»Sind Sie sicher, dass wir Sie allein lassen sollen?«, fragte einer der Leibwächter.

»Ja, Sergeant«, nickte Ada Schnee. »Wir haben die Situation unter Kontrolle.«

»Es ist nicht nötig…«, sagte Alla Neige leise.

Die Frauen wechselten Blicke. Dann befahl Ada: »Postiert euch am Rand der Plattform. Passt auf. Beobachtet den Phagenjungen und auch die anderen.«

Die Leibwächter schauten sich triumphierend an und entfernten sich. Erst danach fing Schnee wieder an zu sprechen:

»Ich begrüße Sie, meine Herrschaften, im Namen der Föderation. Frau Präsidentin Snow bat mich, ihr Bedauern zu überbringen, dass sie nicht anwesend sein kann. Sie führt wichtige Verhandlungen mit den Halflingen.«

»Das macht nichts«, antwortete Stasj. »Wir haben Verständnis dafür. Der Verkauf der Menschheit im Ganzen ist eine aufwändige Tätigkeit.«

Ada Schnee lachte heiser. »Lass deine Demagogie, Dshedai. Wir kümmern uns um die Menschheit nicht weniger als ihr…«

»Phag«, berichtigte sie Stasj. Ada Schnee kümmerte sich nicht weiter um ihn:

»Wie geht es dir, Tikkirej?«

Ich schwieg. Ich konnte ja wohl kaum »gut« sagen.

»Tikkirej?«

»Gut, und Ihnen?«

Ada und alle Klone fingen an zu lächeln.

»Gut, Kleiner«, erwiderte Schnee. »Du wolltest mich ja auch nicht wirklich töten. Die Wunde ist unangenehm, heilt aber. Sag, Tikkirej, hast du mit deinem Freund gesprochen?«

»Sie wissen doch, dass ich mit ihm gesprochen habe«, murmelte ich.

»Ja, das weiß ich. Du hast dich davon überzeugt, dass du als Lockvogel nach Neu-Kuweit geschickt wurdest. Die Phagen haben ihre Angel nach mir ausgeworfen und du warst der Köder. War es eine angenehme Rolle?«

»Ich hätte den Phagen auch freiwillig geholfen«, antwortete ich. »Sie hätten mir ruhig sagen können, worum es geht. Aber ich habe Verständnis dafür, denn das ist alles sehr geheim. Und ich hätte mich verplappern können.«

Ada Schnee hob erstaunt ihre Augenbrauen.

Stasj begann leise zu lachen.

»Tikkirej, ich kenne dich durch und durch«, äußerte Ada und lachte herzlich. »Du — bist ich. Ich war ein kleiner Junge, ich war ein kleines Mädchen. Ich war Hunderte kleiner Mädchen und Jungen. Ich erinnere mich an mich selbst in deinem Alter. Alle deine Reaktionen sind vorhersehbar. So wie sich in einem bestimmten Alter jedes Kind einem erwachsenen Menschen anschließt, ihn blind kopiert, nachahmt, vergöttert. Aber trotzdem… warum verteidigst du die Phagen dermaßen?«

»Es kann schon sein, dass auch sie lügen«, gab ich zur Antwort. »Vielleicht haben sie sich mir gegenüber nicht gut verhalten. Aber…«

»Aber…?«, fuhr Schnee interessiert fort. »Aber Stasj ist dein Freund? Geht es nur darum?«

»Nicht nur. Die Phagen lügen ebenfalls, schämen sich aber dafür. Sie jedoch nicht.«

»Das nennt sich Pharisäertum, Tikkirej Frost, Heuchelei. Schlechte Taten vollbringen und sie bereuen.«

»Und dasselbe machen und nicht bereuen, das nennt man Gemeinheit!«

»Was ist gemein an der Tatsache, dass die Malocher eine neue Ideologie an Stelle einer anderen bekamen?«

»Dass Stasj von Menschen niemals als Malochern sprach.«

Ada Schnee schaute auf Alla Neige. Als ob eine Welt für sie zusammengebrochen wäre.

»Tikkirej«, begann Neige. »Du bist aufgeregt und durcheinander, aber versteh bitte…«

»Ich bin kein bisschen durcheinander«, erwiderte ich. »Im Augenblick bin ich völlig ruhig. Ich schaue Sie an und freue mich nicht, zu Ihnen zu gehören«

»Es ist unmöglich, dass du nicht auf unserer Seite stehst«, sagte einer der Männer und trat einen Schritt vor. »Tikkirej, vielleicht fällt es dir schwer, diese alten Weiber zu verstehen.« — Ada schnaubte ärgerlich — »Aber mich musst du doch verstehen. Wir sind gleich. Völlig identisch. In der Kindheit haben wir beide Milchreis gehasst und uns vor der Dunkelheit gefürchtet…«

»Ich hatte keine Angst vor der Dunkelheit«, meinte ich. »Kein bisschen. Vielleicht als ganz kleines Kind, aber dann hat mir Mama von der Sonne erzählt und dass immer irgendwo Licht ist. Ich wusste, dass Dunkelheit nicht auf ewig herrscht, sondern dass sie der Erholung dient.«

Jetzt schauten sich alle vier an. Und ich sprach, dabei völlig vergessend, dass ich eigentlich Gnade für Stasj und Semetzki erbitten wollte:

»Und überhaupt bin ich nicht so wie ihr. Ich bin für radioaktive Planeten modifiziert. Das heißt, dass ich etwas andere Gene habe. Ich hasse euch! Und ihr könnt nicht einmal verstehen, wie sehr und warum! Ihr seid eine Bande verrückter Klone, die beschlossen hat, an die Macht zu kommen. Wenn die Leute erfahren, wer ihr in Wirklichkeit seid, werden sie euch in Stücke reißen. Ihr tut mir direkt leid.«

»Das scheint eine weitere Fehlentwicklung zu sein…«, sagte Neige leise. Sehr leise, aber ich hatte es gehört. Und jubilierte! Ich hätte nie gedacht, dass man sich so über eine Drohung freuen könnte! Das bedeutete, dass sich nicht alle Klone den Verschwörern angeschlossen hatten und dass ich noch wirkliche Klonbrüder und Klonschwestern finden könnte. Normale, die nicht den Wunsch hatten, die Macht zu erobern und Kriege zu entfachen!

Ada Schnee schloss für einen Augenblick die Augen. Die Verwundung hatte sie mitgenommen. Vielleicht litt sie auch daran, dass einer der »Enkel« sich als aus der Art geschlagen erwies.

»Wir werden später darüber entscheiden«, sagte sie hart. »Jetzt befassen wir uns mit den anderen. Dshedai!«

Stasj schwieg.

»Phag!«, berichtigte sich Schnee mit einem Lächeln.

»Ich höre, Frau Schnee«, erwiderte Stasj höflich.

»Du hast deine Chancen, zu entkommen, völlig richtig eingeschätzt, Phag. Sie existieren praktisch nicht«, sagte Schnee, wobei sie das Wort »praktisch« betonte. »Aber mir scheint, dass du vieles nicht bis zum Ende dargelegt hast. Die Verhandlungen, die gegenwärtig geführt werden, sind eine Fiktion. Die Raumschiffe des Imperiums befinden sich auf den Umlaufbahnen unserer Planeten. Es ist nicht nur eine Demonstration ihrer Stärke… Ihr bereitet euch trotz allem auf einen Angriff vor?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte Stasj. »Ich stehe nicht im Dienst des Imperiums. Ich bin immer noch ein Söldner mit romantischen Idealen. Und wenn es mir bekannt wäre, wissen Sie ganz genau, dass ein Phag keinen Verrat üben kann. Ich bin blockiert, genauso wie Ihre operativen Mitarbeiter.«

»Du weißt es«, beharrte Schnee auf ihrer Meinung. »Du weißt es, wir sind davon überzeugt. Und wir helfen dir es auszusprechen, wenn du uns entgegenkommst.«

Stasj fragte interessiert: »Sie werden dabei helfen?«

»Wir gehen davon aus, dass es uns gelungen ist, ein Präparat herzustellen, das die Blockade aufhebt. Erzähle uns, was das Imperium plant, und du wirst am Leben bleiben. Sicher, auf dich wartet die Verbannung auf einen unserer Planeten. Auf einen guten, warmen Planeten.« Schnee lächelte. »Das einfache Leben eines Bauern ist nicht allzu viel für einen ehemaligen Superagenten, aber auch nicht allzu wenig, wenn man die Alternative betrachtet.«

»Welche?«

»Gemäß Urteil des Kriegsgerichts«, Schnee zeigte dabei auf ihre Klone, »seid ihr alle zum Tode verurteilt! Ich schlage vor, dass wir mit dem Mädchen anfangen. Dann die Jungs, dann der Alte. Du kommst zum Schluss.«

»Sie werden Tikkirej nicht hinrichten.«

»Vielleicht.« Schnee nickte. »Ich halte ihn trotz allem nicht für einen hoffnungslosen Fall. Aber alle anderen werden vor deinen Augen sterben.«

»Auf der anderen Seite der Waage sind Millionen Menschenleben«, meinte Stasj. »Millionen Menschenleben und Hunderte Jahre Sklaverei für die gesamte Menschheit.«

»Ich werde das nicht bestreiten«, erwiderte Schnee. »Ich gebe nur zu bedenken, dass diese Millionen irgendwo potenziell existieren. Aber deine Freunde stehen neben dir.«

»Phagen haben keine Freunde.«

»Na ja, du hast dich immer durch Freidenkerei hervorgetan… für einen Phagen. Übrigens, die Hinrichtung ist recht qualvoll. Wir müssen die Mittel nutzen, die wir zur Hand haben, wisst ihr…« Schnee ging zum Rand der Plattform und schaute nach unten. »Dort, im Kessel, befindet sich ein Lösungsmittel für die Klärung der angereicherten Brennelemente. Einen Menschen löst es in zwei, drei Minuten auf… Außerdem wird der Tod vorher durch den Schmerzschock eintreten. Willst du es dir nicht überlegen, Phag?«

Ich blickte zu Lion. Er war weiß wie Schnee. Natascha saß auf dem Schoß ihres Großvaters und hielt seine Hand.

»Ada Schnee, woher kommt diese Neigung zum Sadismus?«, erkundigte sich Stasj. »Du hast die Absicht, Kinder zu foltern?«

»Auf der anderen Seite der Waage sind Millionen Menschenleben«, antwortete Schnee erbarmungslos. »Was planen die Truppen des Imperiums?«

Stasj schwieg.

»Übrigens, wir haben noch eine ganze Partisanenbrigade zur Verfügung«, erinnerte Neige. »Phag, was wirst du machen, wenn vor deinen Augen die Kinder getötet werden?«

»Ihr alten Hexen!«, schrie Semetzki. »Verrückte Weiber! Ihr seid keine Menschen!«

»Selbstmord verüben?«, schlug Stasj vor, als Semetzki aufhörte zu wüten.

»Das glaube ich nicht. Eher wirst du versuchen, sie zu retten. Aber in der Zwischenzeit wird schon jemand gestorben sein. Wäre es nicht besser, für dich und die anderen Gnade zu erlangen? Wir sind bereit, uns mit einer Verbannung für euch alle zufrieden zu geben. Dir ist doch klar, dass Inej, von den Halflingen unterstützt, siegen wird.«

»Die Halflinge werden die Föderation des Inej nicht unterstützen.«

»Warum nicht?«, fragte Schnee scharf.

»Weil in diesem Augenblick die Hauptmutter der Zivilisation der Tzygu erklärt hat, dass sich ihre Zivilisation im Fall des Krieges zwischen der Föderation und dem Imperium an die Seite der Föderation stellt.«

Ich verstand nicht, was das für eine Bedeutung hatte. Aber Semetzki fing an zu lachen und erklärte uns:

»Halflinge und Tzygu werden niemals auf derselben Seite in den Krieg ziehen. In einem Wasserloch können nicht gleichzeitig zwei Hechte satt werden. Diese beiden Rassen zugleich als Verbündete zu haben bedeutet, überhaupt keine Hilfe zu erhalten.«

Schnee verzog ihr Gesicht: »Wie habt ihr das geschafft?«

»Warum wohl war ich vor einem Monat auf Neu-Kuweit?«, antwortete Stasj mit einer Gegenfrage.

»Die Umbettung der Asche des Feldmarschalls Charitonow in Agrabad…«, flüsterte Schnee. »Also habt ihr…«

»Wir wussten, dass Sie Geheimverhandlungen mit den Halflingen führten. Und ergriffen die notwendigen Maßnahmen. Es wird ihnen von Nutzen sein, zu erfahren, dass Überraschungen dieser oder jener Art bei Kontaktaufnahme zu einer beliebigen Rasse der Fremden zu erwarten sind.«

Es machte nicht mehr den Eindruck, dass Schnee und die Klone Stasj verhören würden. Die Situation hatte sich verändert. Sogar die Fesseln, die Stasj ans Geländer schmiedeten, erschienen zufällig und ohne jegliche Bedeutung.

»Schweig, Stasj!«, schrie ihn Alex plötzlich an. »Was enthüllst du hier alles!«

»Ruhe, Praktikant!«, stoppte ihn Stasj. »Alles hat seine Richtigkeit.«

Aber Alex trat plötzlich auf Stasj zu, holte aus und schlug ihm ins Gesicht!

Und bekam von Stasj augenblicklich so eine Ohrfeige verpasst, dass er auf den Boden schlug. Hinter mir hörte ich Lärm. Ich schaute mich um — einige Wächter zielten auf Alex, zwei liefen auf uns zu. Schnee zwang sie durch eine befehlende Geste innezuhalten.

Stasj spuckte Blut, ein Teil tropfte auf die Kette seiner Handschellen. Er murmelte: »Mein junger Helfer ist außerordentlich emotional. Achten Sie nicht darauf.«

Alex saß auf dem Boden und schluchzte.

Schnee blickte angespannt von ihm zu Stasj und zurück. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Du spielst auf Zeit, Phag!«

»Natürlich!«, stimmte ihr Stasj mit Leichtigkeit zu.

»Akim!«, befahl Schnee. »Das Mädchen! Wir haben lange genug getrödelt!«

»Es ist langsam an der Zeit, euren dämlichen Aufstand zu beenden«, meinte Stasj fröhlich.

Einer der Klone kam auf uns zu.

»Mir ist schlecht«, flüsterte Lion plötzlich. »Tikki…«

Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig um und konnte ihn auffangen.

Lion glitt langsam zu Boden, die Augen waren noch offen, starrten jedoch ausdruckslos ins Leere. Alles um uns herum veränderte sich — die Beleuchtung flackerte, die Laute der ausgeschalteten Geräte änderten sich. Ich sah, wie sich auf einmal ein Kran regte und sinnlos unter der Decke zu kreisen begann. Lion weinte leise und gepresst in seiner Ohnmacht.

»Was habt ihr mit ihm gemacht?«, schrie ich. »Ihr Unmenschen!«

Hinter meinem Rücken donnerte es. Ich hielt Lion fest (Teufel, hatte der ein Gewicht!) und sah, wie die Wächter auf den Boden stürzten. Ihre Panzerung schepperte auf das Metall, als ob ein Dutzend Kochtöpfe heruntergefallen wäre.

»Und das ist nun das Ende des Putsches«, sprach Stasj. Und mit einer anderen, ruhigen, aber ungeheuer müden Stimme, fügte er hinzu: »Danke, Tikki. Sie haben zwei Tage wegen deines Erscheinens auf dem Planeten verloren. Der Flotte ist es gelungen, Retranslatoren auf alle Planeten des Inej zu richten.«

Sowohl Schnee als auch Neige und die Klonmänner hielten jetzt eine Waffe in der Hand und die Blaster waren auf uns gerichtet. Aber Stasj schien die Waffen nicht zu bemerken. Er fuhr fort, dieses Mal an die Putschisten gewandt:

»Sie sind entschieden zu selbstherrlich, Adelaide Schnee. Ihr Programm zur Psychokodierung wurde entschlüsselt und analysiert. Mit einem von uns geschaffenen Schlüsselsignal wurde es erneut zum Laufen brachte… aber mit umgekehrten Vorzeichen. Alle eure Untertanen schlafen und träumen. Sie träumen von einer widerlichen Inna Snow, die Krieg führt gegen den guten und gerechten Imperator.«

»Das ist nicht möglich!«, schrie Schnee. »Wir haben derartige Handlungen in Betracht gezogen, die Benutzung der Radioshunts wurde verboten, ihr konntet das Signal nicht geben!«

»Es ist nicht möglich, den Radioshunt vollständig abzuschalten, Frau Schnee. Der Funkaufsatz ist ein Bestandteil des Hauptprozessors des Shunts. Nur die Antenne wird ausgeschaltet, aber wenn das Signal sehr stark ist, wird überhaupt keine Antenne benötigt. Das Schlüsselsignal wird von den Anschlüssen des Shunts empfangen. Sogar in geschlossenen Räumen, wie Sie sich soeben selbst überzeugen konnten. Das Imperium hat alte Retranslatorenraumschiffe herangezogen, die seit dem letzten Krieg konserviert waren.«

Alex, der auf dem Boden saß, fing an zu lachen. Der alte Semetzki begann zu kichern.

»Werft die Waffen weg«, sagte Stasj. »Es ist alles zu Ende. Eure operettenhaften Horrorszenarien machen niemandem mehr Angst.«

»Das werden wir ja sehen«, flüsterte Schnee. »Tikkirej, Natascha… kommt zu mir…«

Oh…

Ich war nicht in der Lage zu verstehen, was vor sich ging. Meine Beine trugen mich von selbst zu »Oma Ada«, an den Rand der Plattform, hinter der ein Kessel voller klarer, grüner Flüssigkeit zu erahnen war.

Ist das imperative Sprache?

Ich bekomme den Befehl — und springe ins Lösungsmittel?

»Tikkirej, Natascha, stehen bleiben!«, schrie Stasj.

Ich blieb stehen. Und schritt auf Befehl der Schnee sofort wieder voran. Und hielt wieder inne. Und lief wieder. Aus dem Gesicht der Schnee verschwand sämtliche Gutmütigkeit, jetzt glich sie nicht einer liebevollen Großmutter, sondern einer wütenden Megäre. Und die Direktorin Neige erinnerte an eine verrückte Feministin des dunklen Zeitalters. Natascha lief neben mir und schaute sich erschrocken um, konnte aber ebenfalls nichts machen. Nur dass sie die Lippen bewegte, als ob sie jemanden… ihren Opa? … zu Hilfe rufen wollte, aber nicht konnte.

Schnee fing an zu lachen. Letztendlich gingen wir zu ihr. Wir zappelten wie Marionetten am Faden, aber wir gingen. Jetzt war es wichtig für sie, mit mir und Stasj abzurechnen, die Macht über die Welt war ihr egal. Vielleicht hoffte sie darauf, dass Stasj Selbstmord begehen würde, wenn wir vor seinen Augen umkamen?

Vielleicht käme es auch wirklich dazu…

»Ihr hört auf niemanden außer auf mich!«, befahl Neige auf einmal. Es war, als ob einem Watte auf die Ohren gedrückt wurde. »Geht an den Rand der Plattform und springt in den Kessel!«

Sie war verrückt!

Dorthin würde ich nicht gehen!

Aber meine Beine zogen mich gehorsam nach vorn. Ich fing an zu schreien.

In diesem Augenblick zwängte sich zielgerichtet etwas Eisernes mit wild kreisenden Rädern zwischen mich und Natascha, warf uns auf den Boden und umhüllte uns mit Abgasen und Motorenlärm!

Die Hand des alten Semetzki umklammerte den Joystick an der Lehne des Rollstuhls. Es war wirklich ein sehr altes Modell, es wurde nicht ausschließlich durch den Neuroshunt, sondern auch von Hand bedient!

Es gelang mir, einen Blick auf das von Schreck verzerrte Gesicht Alla Neiges und den Feuer speienden Blaster in der Hand der Schnee zu werfen. Dann wurden sie vom Rollstuhl Semetzkis wie von einem Feuer speienden Boliden gerammt. Neige wurde in die Luft geschleudert und flog über den Rand, Schnee wurde umgefahren und mitgerissen. Nach vorn, auf den Rand der Plattform zu.

Wie in Zeitlupe kippten beide in den Abgrund und klare Tropfen spritzten durch die Luft.

Ich wandte meinen Kopf ab. Um mich herum schien alles verlangsamt und dämmrig. Auch Stasj, der mit einem energischen Ruck seine Handschellen an der Stelle zerriss, auf der sein blutiger Speichel gelandet war, wirkte bedächtig und behäbig. Mit der freien Hand schlug er sich in den aufgeblasenen Bauch, das Seidenhemd zerriss und gab das blinkende Band einer Peitsche frei, die sofort in den Ärmel kroch und das Strahlenwerfermaul aufriss. Die männlichen Klone hatten das Feuer bereits eröffnet, feurige Strahlen zogen an mir vorbei, aber aus der Peitsche entsprang eine Regenbogenwelle, welche die Schüsse der Blaster abwehrte. Alex sprang irgendwie ungeschickt, aus der Handfläche des jungen Phagen blitzte etwas auf und summte dicht an meinem Ohr vorbei. Dann knickte Alex ein und bewegte sich nicht mehr und Stasj hörte auf zu schießen.

Die Klone lagen als schwarze, verkohlte Masse da. Aus der Augenhöhle des einen ragte ein kleiner, goldener Pfeil — ich glaubte, dass er aus Alex’ Armbanduhr entstanden war, die plötzlich ihre Form verändert und sich gestreckt hatte.

Und meine Beine trugen mich zum Rand der Plattform. Der Befehl der toten Psychopatin Alla Neige wirkte noch immer! Ich schaute mich um — Stasj beugte sich über Alex, Natascha lag bewegungslos. Sie hatte Glück. Offensichtlich hatte sie vor Schreck das Bewusstsein verloren.

Ich will nicht!

Jetzt will ich auf gar keinen Fall! Es ist doch letztendlich alles gut ausgegangen!, dachte ich.

Der Putsch ist misslungen! Die Menschen werden normal! Frau Präsidentin Snow wird ergriffen und aufgehängt! Ich will nicht in das Lösungsmittel springen, ich bin lebendig, ich bin ein guter Mensch, ich möchte in die Schule gehen, Fußball spielen und Trickfilme schauen! Nein!

Ich klammerte mich an das Geländer am Rand der Plattform. Unter mir schwammen drei graue, trübe Wolken… und ein dünner, vor meinen Augen schrumpfender und sich auflösender Rollstuhl in einem riesigen, mit klarer Flüssigkeit gefüllten Keramikkessel.

Ich will nicht!

Meine Füße schritten über den Rand und ich schloss die Augen.

Ein starker Ruck warf mich zurück auf die Plattform. Stasj beugte sich über mich, und ich las ihm entweder von den Lippen ab oder spürte ganz einfach seinen Befehl: »Nicht nach unten springen!«

Die Welt füllte sich wieder mit Stimmen. Der junge Phag Alex weinte und schluchzte leise. Stasj schrie durch die Werkhalle: »Nicht springen! Hört nicht auf diese Hexen! Nicht springen! Niemand unterwirft sich dummen Befehlen!«

»Ist das kein dummer Befehl?«, flüsterte ich.

Stasj entspannte sich und verstummte. Ich wurde kurz von ihm umarmt. Er roch nach irgendeiner Säure.

»Was hast du ausgespuckt?«, fragte ich.

»Ein Metalllösungsmittel«, erwiderte Stasj. »Unschädlich für organische Stoffe.«

Er stützte Natascha, die langsam ihr Bewusstsein wiedererlangte und sich reckte. Er zog sie vom Rand weg, legte sie neben Lion und Alex und befahl: »Nicht in den Kessel springen! Ruhig liegen!«

Schwankend ging ich auf ihn zu. Stasj kümmerte sich um Alex — im Bauch des Jungen befand sich ein schwarzes ausgebranntes Loch, sein Gesicht war mit Schweißtropfen bedeckt. Er schien Stasj nicht wahrzunehmen und murmelte: »Die Kinder zurückhalten… der Befehl wirkt… sie werden springen…«

»Ich habe sie schon zurückgehalten…«, flüsterte Stasj beruhigend. »Halt aus, Praktikant… Tikkirej! Die Wärter haben an der Hüfte rechts eine Erste-Hilfe-Tasche!«

»Sofort…« Ich eilte zu den willenlosen Körpern. Schadenfroh trat ich den am nächsten Liegenden und drehte ihn auf die Seite. Ich holte das Erste-Hilfe-Päckchen aus der Tasche und brachte es Stasj.

Stasj öffnete das Futteral und spritzte Alex nacheinander einige Ampullen. Er entnahm ein breites Metallarmband und legte es ihm um den Arm. Auf dem Armband blinkte ein rotes Alarmlämpchen.

»Halt aus«, bat Stasj. »Gib dich nicht auf.«

»Stasj…«, machte ich auf mich aufmerksam.

»Was ist?«

»Semetzki… musste er sehr leiden?«

Stasj schwieg lang. Dann sagte er: »Als er an mir vorbeiraste, konnte ich ihm in die Augen schauen. Er war bereits tot, Tikki. Er starb, als er auf volle Geschwindigkeit schaltete und sich mit seinem Rollstuhl todesmutig auf den Feind stürzte.«

»Woran ist er gestorben?«

»Am Alter. Er war doch schon uralt und im vergangenen Monat hat er ein stürmisches Leben geführt… Tikkirej! Lauf durch die Gebäude des Kosmodroms! Such ein Lazarett, und wenn du dort Ärzte findest, die nicht eingeschlafen sind, bring sie her! Mit Tragen und einer Reanimationseinheit. Kannst du dir das merken?«

»Ja!«, rief ich. Vielleicht hat mich Stasj ja doch wegen Semetzki angelogen. Aber ich wollte dem nicht auf den Grund gehen.

In diesem Augenblick öffnete Alex die Augen. Er schaute mich benebelt an und flüsterte: »Unglücksrabe…!«

»Selber einer!«, erwiderte ich fröhlich.

»Ich bin… schon fünfzehn. Stasj… bekomme ich das Testat?«

»Wenn du nicht stirbst, hast du das Testat bestanden«, bestimmte Stasj. »Klar? Anderenfalls scheidest du postum aus. Ein Toter kann nicht Phag werden!«

»Ich werde mich bemühen«, hauchte Alex und leckte sich die Lippen.

Stasj schaute mich an und verzog das Gesicht. »Du bist noch hier?«

»Stasj… und das macht nichts, dass ich der Klon eines Tyrannen bin?«

»Du wirst gleich ein wegen Befehlsverweigerung verhafteter Klon eines Tyrannen sein!« Auf einmal verstummte Stasj. Offensichtlich wurde ihm klar, wie wichtig das für mich war. »Es macht nichts, Tikki. Der Mensch — das ist nicht nur das Genom. Aber jetzt beeile dich bitte. Alex ist schwer verwundet.«

Ich lief wie der Wind. Als ich an den Wärtern vorbeikam, beugte ich mich nach unten und zog einem von ihnen einen Militärblaster aus dem Arm. Weiter lief ich mit der Waffe in der Hand durch die Korridore des Dienstbereichs.

Dort stieß ich auf einen erschrockenen uniformierten Jüngling mit einem Strahlenkarabiner. Er erblickte mich, machte große Augen und hob seine Waffe.

»Wirf dein Spielzeug weg! Sonst reiße ich dir die Hände ab!«, schrie ich.

Der junge Mann erbebte und ließ den Karabiner fallen.

»Wo ist das Lazarett? Weißt du das?«

»J-Ja…«, antwortete er stotternd.

»Führ mich hin!«

»Das ist das Imperium, ja? Werde ich erschossen?«

»Wenn du schwatzt — auf jeden Fall!«, brüllte ich ihn an. »Ins Lazarett, schnell! Du wirst mir helfen, die Tragen zu schleppen.«

»Und wer bist du?«, wollte der Soldat wissen, wobei er auf den Blaster in meiner Hand schielte.

»Ein Phag!«

Er zog den Kopf ein und trabte den Korridor entlang. Ich folgte ihm.

»Ich wurde gezwungen!«, rechtfertigte sich der junge Mann beim Laufen. »Alle sind gegangen, also auch ich. Ich war immer für den Imperator! Für Inej sind wir nur Kanonenfutter…«

Also hatte die verrückte alte Schnee Unrecht, als sie von der Bevölkerung als »Masse« und »Vieh« sprach.

Warum nur sind so viele mit Leichtigkeit damit einverstanden, zu eben dieser Masse zu werden?

»Du wurdest gezwungen — dann lass dich nicht zwingen«, erwiderte ich und bemühte mich, nicht außer Atem zu geraten. »Alle gehen — und du bleibst. Klar? Denke selbst! Handle nach deinem Gewissen! Übe keinen Verrat! Sei nicht feige! Mach dich nicht zur Masse!«

Irgendwo außerhalb des Gebäudes krachte es. Die Raumschiffe mit den Luftlandetruppen des Imperiums trafen ein. Epilog Das Licht in der Bar schien ungewöhnlich grell. Was nicht verwunderlich war, denn sie beherbergte keinen einzigen Gast, und der Barkeeper, mit einem Staubsauger bewaffnet, reinigte den Teppichboden zwischen den Tischen.

Als ich eintrat, schaltete er sofort den Staubsauger aus und zog ihn hinter den Tresen. Noch auf dem Weg hob der Barkeeper die Augenbrauen und sah genauer hin. Und als ich den Tresen erreichte, staunte er mich fröhlich an.

»Du bist doch der Junge, der sich als Modul verpflichtet hat!« Und sofort fragte er vorsichtig: »Wie geht’s?«

»Alles in Ordnung, das Gehirn trocknet nicht so schnell ein«, antwortete ich. »Milchshake bitte. Einen echten. Sie müssten doch echte Milch haben. Zwei Shakes.«

Der Barkeeper nickte achtungsvoll und holte aus dem Kühlschrank ein Fläschchen mit echter Kuhmilch. Er zeigte mir das Zertifikat auf dem Flaschenhals, öffnete den Deckel und goss die Milch in den Mixer.

»Ich bin kein Modul mehr«, sagte ich.

»Bist du ausgeschieden?«, fragte der Barkeeper verwundert und schüttelte den Mixbecher.

»Ja, so in etwa.«

»Und du hast beschlossen zurückzukehren?«

»Ich muss… verschiedene Leute besuchen…«, erwiderte ich. »Mich bedanken. Auch bei Ihnen.«

»Wofür?«, wollte der Barkeeper erstaunt wissen.

»Sie haben mir geholfen, die Stelle auf der Kljasma zu bekommen.«

»Das ist doch keinen Dank wert…«, äußerte der Barkeeper beschämt. Aber ich sah, dass er sich geschmeichelt fühlte.

Ich nahm das Glas entgegen und kostete vom Shake. Er schmeckte gut.

Aber die Milch auf Avalon hatte ein besseres Aroma, wobei selbst diese an die H-Milch auf Neu-Kuweit nicht herankam.

»Noch mehr?« Der Barkeeper griff zum Shaker.

»Nein, das ist für Sie. Ich lade Sie ein.«

Der junge Mann lächelte und wir stießen an.

»Danke«, sagte ich erneut und nahm meine leichte Tasche. »Wissen Sie, Sie haben nämlich das ganze Imperium gerettet!«

Nach diesen Worten schien er davon überzeugt zu sein, dass mein Kopf doch unter dem Onlinebetrieb gelitten hatte… Als ich zum Fluss kam, war dort noch niemand. Ich zog mich aus und sprang ins Wasser — wie kalt es war. Ich schwamm rund zehn Minuten, krabbelte dann heraus und sah mich um — nach wie vor war niemand in der Nähe.

Ich wrang die Badehose aus und zog sie wieder an, trocknete mich mit einem kleinen Wegwerfhandtuch ab und legte mich auf meine geliebte Steinplatte.

Die Sonne drang mit Müh und Not durch den Sandsturm.

Ein orangefarbener Fleck, der weder für Wärme noch Sonnenbräune sorgte. Trotzdem räkelte ich mich unter ihr und erinnerte mich daran, wie lange sie meine einzige Sonne gewesen war.

Jetzt zog sie vollständig zu, die vom Sand zerkratzte Kuppel begann, leicht im »Abendregime« zu leuchten, und ich drehte mich auf den Bauch. Solche Stürme dauern lange. Bis zum Frühling. Lediglich die riesigen Erztransporter können die Sandwände durchbrechen und den Windböen standhalten. Genauso wie die kleinen beweglichen Raumschiffe der Phagen, obwohl Alex warnte, dass er vierundzwanzig Stunden auf mich warten und dann wegfliegen würde, denn ihm sei sein Leben etwas wert, insbesondere die Drüsen der inneren und die besonders wertvollen der äußeren Sekretion. Und es wäre normalen Menschen nicht empfohlen worden, auf Karijer zu leben, das sei kein Planet, sondern eine richtige Hölle…

Als ob das jemand bestreiten würde!

Er würde natürlich nicht wegfliegen, sondern auf mich warten.

Im schlimmsten Fall würde er mich suchen und behaupten, dass mache er nur deshalb, weil es ihn langweile, allein zu fliegen, aber er würde mich suchen. Stasj wurde nämlich zum Inej entsandt, um die entflohenen Klone der Schnee einzufangen, und Alex, dem es langsam besser ging (seine Narbe war sehenswert!), bekam den Befehl, nach Avalon zurückzukehren.

»Tiki-Tiki…«

Ich drehte mich auf den Rücken und erblickte Dajka.

»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief sie.

»Doch!«, erwiderte ich. »Ich bin deine Halluzination. Die Vergegenständlichungdeinerunbewusstenpubertären Komplexe.«

»Idiot!« Dajka wurde rot. Nichtsdestotrotz legte sie ihren Pocket-PC zur Seite und piekste mich mit ihrem Finger in den Bauch.

»Ahhh, ich löse mich in Luft auf…«, meinte ich traurig. »Dajka, wie geht es dir? Bist du besser in Mathe geworden?«

Sie errötete noch tiefer. So ist das Leben — dieses Menschenkind wusste genau, dass es nicht Pilot werden konnte, lernte aber Mathematik. Mathe fiel ihr schwer, desto mehr büffelte sie.

»Es geht so… Das Alter zum Erreichen der Volljährigkeit wurde gesenkt. Auf vierzehn Jahre.«

»Also wurde die Ermäßigung für die Sozialsysteme auf vierzehn gesenkt? Das bedeutet, dass die Gruben bald überquellen werden«, folgerte ich. »Karijer stirbt aus.«

Dajka nickte. »Warum bist du zurückgekommen, Tiki- Tiki…«

»Um dich und Gleb zu holen.«

»Wohin willst du uns holen?«, fragte Dajka vorsichtig.

»Auf den Avalon. Oder auf Neu-Kuweit. Wie ihr wollt. Ich habe auf beiden Freunde. Und ich selbst habe mich noch nicht entschieden, wo ich leben werde. Besser wäre es natürlich auf dem Avalon. Obwohl es überall gute Menschen gibt. Die Menschen sind überhaupt gut, man muss sie nur daran erinnern.«

»Sag mal, hast du geerbt?« Dajka lächelte unsicher.

»Zum Teufel, so ein Erbe… nein. Aber zwei Staatsbürgerschaften kann ich schon herausschlagen. Und das Raumschiff wartet im Kosmodrom.«

Dajka schwieg.

Ich setzte mich und zog die Knie an den Bauch und sagte: »Ich verstehe dich. Du hast hier deine Eltern und ein Schwesterchen. Ich kann das alles nachvollziehen, Dajka. Aber ich konnte nur für zwei Menschen etwas erreichen. Wenn du weggehst, wird es deiner Familie leichter fallen, du kannst ihnen deinen Anteil überschreiben. Und später lässt sich vielleicht noch irgendetwas machen.«

Sie dachte nach. Dann wollte sie wissen: »Neu-Kuweit — ist das dort, wo der Putsch war?«

»Ja.«

»Und du bist irgendwie…«

»Ich erzähle es dir. Nur ein anderes Mal. Ich möchte jetzt nicht daran denken, Dajka.«

Aber Dajka beschäftigte etwas anderes. »Stimmt es, dass die Präsidentin des Inej ohne Anabiose im Zeittunnel fliegen konnte?«

Alle Achtung — so verbreiten sich Gerüchte! Schneller als das Licht.

»Ja«, antwortete ich und bat die Phagen innerlich um Verzeihung. »Sie… sie hatten ein echtes Genetikgenie. Sie haben herausgefunden, warum die Frauen den Zeitsprung nicht vertragen, und Wege gefunden, dagegen anzukämpfen. Allein das hätte ausgereicht, dass sie das gesamte Imperium auf Händen getragen hätte! Diese Schlange wäre auf einen beliebigen Posten gewählt worden, sogar auf den des Imperators! Aber sie haben sich nur damit befasst, wie man den Menschen die Köpfe verdrehen kann.«

Dajka nickte. Sie flüsterte: »Das heißt also, ich kann Pilot werden?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht. Aber deine Tochter wird es auf alle Fälle können.«

»Idiot!«, sagte Dajka wieder, aber ohne besonderen Nachdruck. »Tikkirej, du führst mich auch nicht an der Nase herum?«

»Nein.«

»Ich muss mit den Eltern sprechen. Ich gehe dann, Tiki- Tiki.«

»Vergiss deinen Pocket-PC nicht«, erinnerte ich sie streitlustig. »Am Abend komme ich vorbei… Wohnt ihr immer noch in der gleichen Wohnung?«

»Ja.«

Sie beugte sich über den PC, zögerte einen Augenblick und meinte: »Du hast dich sehr verändert, Tikki. Du bist groß geworden.«

Dann gab sie mir schnell einen Kuss auf die Wange und lief weg.

Ich lächelte dümmlich, wischte mir die Wange aber nicht ab.

Mein Vorschlag an Dajka brachte mich in ein gewisses Dilemma. Sie hatte hier Eltern und eine Schwester. Und auch Gleb hatte Eltern. Aber ich hatte nur das Recht, zwei Menschen zu helfen. Und das würden meine Freunde sein.

Es waren keine Genies nötig, die mit Gewalt die ganze Welt glücklich machen wollten. Man musste nur denen helfen, die in der Nähe waren. Dann würde es allen besser gehen.

Ada Schnee konnte bis zuletzt nicht verstehen, warum ich Stasjs Seite gewählt hatte, dabei ist es so einfach! Auch wenn Stasj ebenfalls die Interessen von Millionen Menschen und Dutzenden Planeten berücksichtigt hatte, half er denen, die in der Nähe waren und denen er helfen konnte. Schnee jedoch sprach über Millionen, meinte aber nur um sich selbst und die Geliebten — in allen Exemplaren — als männliche und als weibliche Ausgabe.

Ich wollte einmal so werden wie meine Eltern. Meine wirklichen Eltern und nicht wie das geisteskranke Genie, das sein Genom vermehrt hat!

Ich wollte so werden wie Stasj.

Ich wollte so werden wie die Kameraden auf der Kljasma.

Ich wollte der Freund von Lion und Sascha sein, mich mit Rosi und Rossi vertragen, in die Schule gehen und Fußball spielen.

Und wenn ich erwachsen wäre, würde ich Dajka heiraten… oder vielleicht doch lieber Natascha?

Vielleicht sollte ich mich für ein Leben auf Neu-Kuweit entschließen? Natascha möchte dort bleiben, wo jetzt ihrem tapferen Urgroßvater, mit stolz erhobenem Kopf auf die Feinde zustürmend, ein Denkmal gesetzt wird. Und Dajka würde ich überreden…

Aber jetzt sollte ich die Eltern besuchen. Über Natascha, Dajka und Neu-Kuweit würde ich später nachdenken.

Ich erhob mich von der Steinplatte, zog mich an, nahm den nun doch von Dajka vergessenen Pocket-PC und ging zum Haus des Abschieds.

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