11

Der schneidend kalte Nachtwind heulte durch das Tal, seufzte in den Wipfeln der Kiefern und verwandelte den Regen des Tages auf den Schultern des Berges in schlüpfriges Eis. Irgendwo im Fels des Berges lag Thorbardin.

Frauen mit Kleinkindern auf der Hüfte, Männer mit hoffnungsleeren Augen – die Flüchtlinge standen am Fuß des Berges und suchten die Hänge und Täler der Gipfel nach einem Zeichen des großen Südtors ab. Manche glaubten, es in der Nacht schimmern zu sehen. Andere wandten sich ab, weil sie zu müde waren, um länger hinaufzustarren.

Das Lachen eines Kindes erhob sich in die Nachtluft. Es war schwer, die Kinder ruhig zu halten. Das schaffte nur die Erschöpfung, und die Reise war am letzten Tag langsam vonstatten gegangen. Es war, als würden die achthundert Menschen jetzt zögern, sich den Toren der Zwergenfestung zu nähern, weil sie fürchteten, daß sie vergeblich gehofft hatten. Daß sie Verminaards Minen und den Schrecken der Sklaverei entkommen waren, nur um jetzt von Thorbardin weggeschickt zu werden, dem einzigen Ort, wo sie Zuflucht finden konnten.

Im Tal gingen die Feuer an, schwache Lichter, wie kleine, zögerliche Sterne. Der Rauch des Holzes und der Dampf der Kochtöpfe trieben durch die Luft und sammelten sich wie eine graue Dunstglocke über dem Fluß.

Es würde eine Nacht des Wartens und des Betens sein. Es würde keine Nacht zum Schlafen sein, denn die Flüchtlinge hatten ihre Abgesandten, Tanis, den Halb-Elf, und Goldmond, die Frau aus den Ebenen, nach Thorbardin geschickt, um ihre Bitte dem Rat der Lehnsherren vorzulegen.


Es gab vieles, was Hornfell an seinem Volk liebte. Er bewunderte ihre Handwerkskunst, erfreute sich an ihrer tief verankerten Treue gegenüber Familie und Clan, und er schätzte ihren Mut als Kämpfer. Er hatte eine hohe Meinung von ihrer starrköpfigen Sturheit und ihrem nüchternen Verstand. Er liebte ihre Unabhängigkeit.

Es war diese Unabhängigkeit, die es nicht als Beleidigung, sondern als eine Art Tribut erscheinen ließ, daß der grauhaarige Daewarkrieger, ein Mitglied der Wachgarde auf den Befestigungsanlagen von Südtor, sich nur kurz umdrehte, um den beiden Lehnsherren im rosa Licht der Morgendämmerung kurz zuzunicken, und dann wieder Wache stand.

Sie hatten keine Ehrfurcht vor denen, die über ihnen standen, dachte Hornfell. Sie vertrauen ihren Lehnsherren, weil wir verwandt sind. Niemand verbeugt sich oder kniet vor seiner Familie.

Er schaute seinen Begleiter an, dessen Augen länger an den Wachen hingen als die Hornfells. Um diese Zeit stellten Gneiss’ Daewars die Wachmannschaft, und Hornfell kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, daß er von seinen Kriegern wünschte, daß sie ihre Wache mit tadelloser militärischer Präzision durchführten. Wenn Thorbardin in den Krieg eintreten mußte, würden die Daewars die Speerspitze der Zwergenarmee bilden. Gneiss war maßlos stolz auf seine Kämpfer.

Hornfell lauschte dem Klirren von Rüstungen und Waffen, dem Schlurfen der Stiefel auf dem Stein, den barschen Befehlen des Hauptmanns der Wache. Dann sah er wieder Gneiss an, der sich inzwischen an die brusthohe Mauer über dem weit unten liegenden Tal lehnte.

Kalter Wind pfiff über die Wälle. Er kam aus den Bergen, die sich stolz in den Himmel erhoben, und roch nach reifüberzogenen Kiefernwäldern und überfrierenden Seen. Das eisige Versprechen des Winters. Über dreihundert Meter unter ihnen lag ein breiter Hang mit Bergwiesen. Die Wiese, die jetzt das Rostbraun der Herbstgräser zeigte und von der aufgehenden Sonne vergoldet wurde, befand sich auf einem der fruchtbarsten Böden des Kharolisgebirges. Dieses Tal hatte seit Generationen brachgelegen. Die Städte in Thorbardin lebten von dem, was die Ackerhöhlen tief im Berg erzeugten.

»Sieh doch, Gneiss«, sagte Hornfell und fuhr die Grenzen des Tals mit einer Handbewegung nach. »Achthundert könnten dieses Tal bewirtschaften und würden uns dabei nicht im Weg sein.«

Gneiss schnaubte. »Fängst du schon wieder damit an?«

»Ich habe nie aufgehört, mein Freund. Wir können die Sache nicht länger aufschieben. Du hast mir selbst mitgeteilt, daß die Flüchtlinge von den Grenzstreifen angehalten wurden. Was glaubst du, wie lange die Grenzer achthundert hungrige, verängstigte Menschen zurückhalten können? Sie erwarten friedlich die Entscheidung des Rates. Sie werden nicht lange warten.«

»Aha, Erpressung, nicht wahr?« Gneiss drehte sich von der Mauer weg. Seine Fäuste waren geballt, die Augen blitzten vor plötzlicher Wut. »Laß sie rein oder stell dich ihnen auf dem Schlachtfeld?« Er zeigte mit dem Daumen ins Tal. »Die Wiese da wird bald verschneit sein, und der Schnee wird rot sein von Menschenblut, Hornfell. Der Rat läßt sich nicht zwingen.«

Hornfell wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. »Du hast dich also in dieser Sache entschieden? Du denkst wie Realgar und Ranze?«

»Ich denke, was ich will«, knurrte Gneiss. Der Wind zerrte an seinem von Silberfäden durchzogenen, braunen Bart. Immer noch mit dem Rücken zur Mauer, zum Tal und zu der Vorstellung, daß Menschen so nah bei Thorbardin leben könnten, sah er zu, wie seine Männer ihre Wachrunde drehten. Seine verschlossene Miene gab Hornfell keinen Hinweis auf die Gedanken, die dem Daewar zufolge nicht Realgars, sondern seine eigenen waren.

»Sag mir, was du denkst, Gneiss. Ich habe zu lange herumgeraten, und keine meiner Vermutungen scheint zuzutreffen.«

Gneiss’ Augen hingen weiterhin an seinen Wachen, als er den Kopf schüttelte. »Ich denke, daß meine Krieger in einem Land weit entfernt von den Bergen unserer Geburt sterben werden. Ich denke, daß sie in einem Krieg sterben werden, der sie nichts angeht.«

Das alte Argument! Hornfell war es seit Monaten leid und wußte keine bessere Antwort darauf als die, die er bereits in zahllosen Ratssitzungen gegeben hatte. Dennoch sprach er erst, als er seine Ungeduld bezähmt hatte.

»Jetzt ist es unsere Angelegenheit. Gneiss, es stehen achthundert Flüchtlinge genau vor unserer Tür. Eben hast du vorgeschlagen, diese Wiesen mit ihrem Blut zu tränken. Das sind nicht unsere Feinde. Unser Feind ist Verminaard, der die Elfen aus Qualinesti vertrieben hat und auf den Mauern von Pax Tarkas herumspaziert. Verminaard hat diese Leute versklavt. Er würde uns gern dasselbe antun. – Wenn er das Kharolisgebirge beherrscht, Gneiss, dann beherrscht er den gesamten Norden und Osten des Kontinents. Wenn du daran zweifelst, daß er als nächstes Thorbardin will, dann bist du nicht der Stratege, für den ich dich immer gehalten habe.«

Es war ein Zeichen seines Respekts vor Hornfell, daß Gneiss die geballten Fäuste an der Seite hielt. »Deine Worte sind hart, Hornfell«, sagte er kalt.

»Ja, sie sind hart. Aber es sind harte Zeiten, Gneiss. Wenn wir nicht bald unsere Wahl treffen, wird Verminaard für uns entscheiden. Ich glaube kaum, daß wir mit seiner Entscheidung besser leben könnten.«

Gneiss lächelte bitter. »Galgenhumor steht dir nicht.«

»Und ein Galgen würde dir nicht stehen.«

Der Daewar sah ihn scharf an. »Hängen ist der Tod des Verräters.«

»Glaubst du, Realgar würde dich für etwas anderes halten, wenn er Thorbardin regiert?«

»Realgar? Verminaards Lakai? Das ist eine schwere Anklage.«

Hornfell zuckte mit den Schultern. »Nur ein Verdacht, mein Freund.«

Gneiss schaute sich um – zu den Bergen und Wiesen, zum fernen Horizont, als ob er plötzlich etwas verstanden hätte, das er schon früher hätte begreifen müssen. Als er Hornfell wieder ansah, lag in seinen Augen sowohl Ärger als auch Bewunderung.

»Es gibt ein Königsschwert.«

Hornfell nickte. »Ja, das gibt es.«

»Was soll das heißen? Du kannst nicht einfach eins machen lassen, Hornfell! Du – bei Reorx! –, du kannst nicht einfach zu deinem Schmied gehen und eins bei ihm bestellen!«

Hornfell lächelte trocken. »Das weiß ich. Isarn wollte nur sein Meisterstück schmieden. Aber Reorx’ Hand hat in jener Nacht den Stahl berührt, und er hat ein Königsschwert gefertigt. Du hast die Gerüchte gehört – ganz bestimmt. Es wurde gestohlen, Gneiss.«

»Aber warum –?«

»Ich weiß, wo es ist. Realgar aber auch.« Hornfell erzählte ihm kurz die Geschichte vom Diebstahl und vom Wiederauftauchen des Schwerts. »Realgar begehrt Sturmklinge genauso sehr wie ich. Reorx bewahre uns, ich hoffe, er ist nicht näher dran als ich. Ob Verminaards Lakai oder nicht, Realgar ist gefährlich.«

Gneiss’ Hand griff an den Dolch in seinem Gürtel. »Man wird ihn aufhalten.«

»Nein. Nur wenn du eine Revolution auslösen willst.«

Gneiss verstand Hornfells Warnung sofort. Der Rat der Lehnsherren war über die Themen Krieg und Flüchtlinge schlimm zerstritten. Zeitweise schienen beide dasselbe zu wollen. Die Gefühle, besonders der Zorn, wogten hoch. Wenn Realgar jetzt starb, ob im gerechten Kampf oder durch Mord, würde sein Volk sich zum Krieg erheben. Dann wäre es egal, wer das Königsschwert besaß. Das Feuer in seinem stählernen Herzen wäre nichts weiter als das Symbol einer blutigen Revolution. Die Hallen von Thorbardin würden von den Schreien von Zwergen, die von Zwergen getötet wurden, widerhallen. Das war seit den Zwergentorkriegen vor dreihundert Jahren nicht mehr vorgekommen.

»Heute abend trinke ich auf seine Gesundheit«, knurrte Gneiss, »und bete, daß er noch vor dem Morgen im Schlaf stirbt.«

Hornfell lachte. »Gneiss, der Vorsichtige!« Er wurde wieder ernst. »Es wird Zeit, die Vorsicht aufzugeben. Ob Verminaard oder Realgar, wir brauchen sie als Verbündete.«

»Menschen? Sie werden nicht alle so sein wie dein übermütiger Zauberer Jordy.«

»Keiner ist wie Pfeifer. Der ist gewitzt und treu ergeben. Ich bin überrascht, daß deine tiefblickenden Augen das nicht erkennen. Es wäre auch egal, wenn die Flüchtlinge alle nur so klug wären wie Gossenzwerge. Wir brauchen jetzt Verbündete.«

Gneiss schwieg eine Weile. Als er schließlich sprach, wußte Hornfell, daß der Daewar seiner Entscheidung sehr nahe gekommen war, wenn er sie nicht schon getroffen hatte. »Ruf heute abend den Rat zusammen, Hornfell. Dann teile ich dir mit, zu welchem Ergebnis ich gekommen bin.«

Er ging zurück zum Wachhaus, schüttelte jedoch den Kopf, als Hornfell sich ihm anschließen wollte. »Nein, bleib noch. Dir gefällt die Luft hier draußen. Bleib da und sieh auf deine Wiesen hinunter und versuch dir vorzustellen, wie sie aussehen werden, wenn sie voller Menschen sind. Dann höre ihre Stimmen im Südtor, mein Freund. Sie können nicht da draußen überwintern, sie müssen im Berg untergebracht werden! Achthundert!« Gneiss schnaubte. »Als Zwerg wird man in Thorbardin keine Luft zum Atmen mehr bekommen.«

Hornfell sah dem Daewar nach und drehte sich dem Tal zu. Ein Adler segelte hoch oben über den Wiesen im Wind. Die Sonne vergoldete seinen Rücken. Er würde nicht versuchen, Gneiss zuvorzukommen. Das war unmöglich. Er dachte an seinen ›übermütigen Zauberer Jordy‹ und fragte sich, ob er, Kyan Rotaxt und Isarns Gehilfe Stanach noch lebten.

Vor vier Tagen hatte Pfeifer sich und seine beiden Gefährten nach Langenberg teleportiert. Konnte es vier Tage dauern, das Königsschwert zu finden? Doch, und auch länger, wenn der Waldläufer, der es angeblich hatte, vor ihrer Ankunft die Stadt verlassen hatte.

Sie konnten alle drei tot sein. Oder auch nicht. Sie konnten das Schwert gefunden haben. Oder auch nicht. Das einzige, was er sicher wußte, war, daß Realgar es noch nicht hatte. Das bewies allein die Tatsache, daß er, Hornfell, noch lebte.

Obwohl Hornfell Sturmklinge nie gesehen hatte, sehnte er sich nach dem Schwert, als wäre es schon vor dem Diebstahl seins gewesen, als hätte er es lange Jahre gehütet. Er wollte den Stahl berühren, wollte die Brücke zu den Herrschern fühlen, die seit Jahrhunderten tot waren. Sturmklinge war sein Erbe, ein Hylarenschwert für einen Hylarenlehnsherrn, der in Thorbardin herrschen würde wie seine Vorväter.

Der Wind aus den Bergen heulte schrill wie ein Echo von einem von Pfeifers Kriegs- und Trinkliedern. Hornfell wandte sich vom Tal ab.

»Jordy, mein Junge«, sagte er, »wenn du noch lebst, dann bete ich darum, daß du mir das Schwert bringst.«

Wenn du nicht mehr lebst, dachte er, während er das Nicken einer Wache erwiderte und das Torhaus betrat, dann sollten wir uns alle Rücken an Rücken stellen. Wenn Realgar das Königsschwert findet, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Krieg, Verrat und Tyrannei über Thorbardin hereinbrechen.


Der Zwerg Brek brachte den hohen Steinhaufen zwischen sich und das feuerrote Licht der verhaßten Sonne. Zwischen diesem riesigen, natürlichen Grabhügel und dem kleineren, von Menschenhand gemachten, lag der tiefste Schatten. Dort kommunizierte Agus, genannt der Graue Herold, mit dem Lehnsherrn. Brek schloß vor dem stärker werdenden Licht die Augen und hoffte, daß Realgar sie bald heimbeordern würde.

Er und seine Patrouille hatten fünf Sonnenaufgänge in der Außenwelt erlebt, die Tage verflucht und sich nach den dunklen Gängen unter Thorbardin gesehnt. Mika und Chert, die jetzt im Schatten schliefen, so gut es ging, hatte das bittere Sonnenlicht nicht sehr viel ausgemacht. Wulf jedoch, der als ›der Gnadenlose‹ bekannt war, war nicht mehr ganz richtig im Kopf. Brek war überrascht, daß Hornfells geliebter Zauberer trotz Wulfs Kommando überlebt hatte.

Brek fletschte die Zähne zu einem verschlagenen Grinsen. Der Hinterhalt hatte gut geklappt. Sie hatten Pfeifer beim Untergang der Monde erwischt, als er mit einem Kaninchen in der Hand aus dem nahen Wald zurückkam. Sogar ein Magier muß sich einer gespannten Armbrust in seinem Rücken und blitzenden Schwertern vor seinen Augen ergeben.

Brek hoffte, daß Realgar den Zauberer nicht unversehrt haben wollte. Wulf hatte den Zauberer anscheinend seine Rache für die Wunde kosten lassen, die er vor vier Tagen im Kampf davongetragen hatte. Brek lauschte auf den Morgenwind, der durch die Gräser raschelte. Der Wind klang wie die flüsternde Stimme des Grauen Herolds. Brek erschauerte.

Es war nicht die Magie, die ihn erschauern ließ. Obwohl er kein Magier war, hatte Brek lange genug einem Derro-Lehnsherrn gedient, um mit magischen Vorgängen vertraut zu sein. Nein, es war der clanlose Graue Herold selbst, der ihm die Haare zu Berge stehen ließ.

Bei dem riesigen Steinhügel trennte sich Schatten von Schatten, und der Herold kam an den Rand der tröstenden Dunkelheit. Er warf die Kapuze seines dunklen Mantels zurück. Ein kaltes, unheilvolles Licht flackerte in dem schwarzen Auge des Zauberlings; Finsternis füllte die Höhle, in der sein linkes Auge gesessen hatte. Sein Gesicht, auf dem sich normalerweise seltsame, dunkle Gedanken abzeichneten, war so ruhig wie eine geschnitzte Maske. Während er den Grauen Herold beobachtete wie einen hungrigen Wolf, drückte Brek seinen Rücken fester an den Steinhaufen.

»Der Lehnsherr will dich sprechen«, flüsterte der Herold. Agus hob den Kopf. Wie der Widerschein ferner Stürme blitzte Licht hoch auf und erstarb dann in seinem Auge. Als er wieder redete, war das nicht seine eigene rauhe, mürrische Stimme. Brek hörte die deutliche, sonore Stimme des Lehnsherrn, als ob Realgar neben ihm stünde.

Ihr habt den Zauberer.

Der Zwerg befeuchtete nervös seine Lippen, holte Luft und stellte fest, daß er noch einmal Luft holen mußte, bevor er antworten konnte. Der Graue Herold – Realgars Stimme – wartete.

»Ja, Lehnsherr, er lebt noch.«

Das Schwert?

Brek schluckte trocken. »Er hatte es nicht, Lehnsherr. Wir haben ihn vor der Dämmerung erwischt. Wulf hat ihn verhört. Der Zauberer sagt nichts.« Brek sah zu dem frischen, kleinen Steinhügel. Daneben waren die Reste eines Feuers und die kleinen Knochen vergangener Mahlzeiten. »Aber er hat hier gewartet, und zwar anscheinend seit dem Kampf, in dem wir Kyan Rotaxt getötet haben.«

Der Graue Herold seufzte, als ob er etwas gehört hätte, was sein Gefährte nicht vernahm. Aber es war der viele Meilen entfernte Realgar, der sprach, und es war das Feuer seines Ärgers, das Brek jetzt aus dem einen Auge des Herolds entgegenloderte.

Der Lehrling? Der dritte?

»Keine Spur von ihm.« Brek redete jetzt schnell. »Der Zauberer hat auf jemanden gewartet. Ich glaube, auf diesen Schüler, diesen Stanach Hammerfels. Der muß das Schwert haben, Lehnsherr. Zumindest wird er etwas darüber wissen.«

So? Nun, vielleicht. Wartet auf ihn. Wenn er das Schwert hat, dann tötet ihn und nehmt es. Er ist schließlich allein.

Die Stimme des Lehnsherrn wurde verächtlich und bitter.

Das werdet ihr wohl schaffen. Wenn er es nicht hat, wird der Herold ihn zu mir bringen. Vielleicht gibt er mir bessere Antworten als dieser gottverdammte, sture Waldläufer.

»Und wenn er nichts weiß?«

Brek erschauerte wieder, denn diesmal sprach der Lehnsherr nur zu Agus, und es schien so, als spräche der Graue Herold mit sich selbst, wie es die Verrückten angeblich tun.

Ja, Herold, ja. Es wird deine Aufgabe sein, ihn zu erledigen, wie immer. Geh. Amüsier dich mit Hornfells Schoßhund. Aber so, daß er uns keine Schwierigkeiten machen kann.

Als er lachte, verdrehten sich die Hände des Grauen Herolds, als würden sie die Enden einer Garotte drehen.


Pfeifer sah Feuer hinter seinen Augen, rot und glühend, wie das Zeichen auf dem Königsschwert sein sollte, rot wie das Blut, nach dem die Axt des alten Kyan benannt war. Er sah das Licht der aufgehenden Sonne durch die Augen, die er gegen die Qual seiner gebrochenen Hände fest geschlossen hatte.

Die Theiwaren redeten in den Schatten zwischen Kyans Grab und dem Riesenhaufen Steine miteinander. Pfeifer hörte die Worte zwischen den beiden Steinhügeln herüberschallen und wußte, daß sie bald kommen würden, um ihn zu töten.

Danach sitzen sie gemütlich hier herum, dachte er, und warten auf Stanach und das Schwert. Er wird morgen hier sein, ob mit oder ohne Schwert.

Die Worte eines Heilspruchs flackerten wie unerreichbare Versprechen in seinem Geist auf. Er konnte den Zauber nicht durchführen: Wulf hatte ihm zuallererst die Hände gebrochen. Ohne den vorgeschriebenen Tanz der Hände war der Zauber nutzlos. Wulf war nicht dumm. Er hatte Pfeifer rasch die leiseste Möglichkeit genommen, sich zu verteidigen. Das einzige Magische, was ihm geblieben war, war seine alte Holzflöte, die immer noch an seinem Gürtel hing.

Sie sahen nichts Schlimmes in einer Flöte, die bekanntlich lange den Kindern Spaß gemacht hatte. Sie hatten recht und unrecht. Die Magie der Flöte war mächtig und konnte zahlreiche Zauber bewirken. Manche erforderten exaktes Spiel, manche überhaupt keins. Das waren die schwierigsten Zauber, denn sie beruhten gänzlich auf dem richtigen Rhythmus von Pfeifers Atem. Doch all das war nutzlos für einen Magier, dessen Finger ruiniert waren und der kaum Luft holen konnte.

›Hornfells Schoßhund‹, nannten ihn die Theiwaren. Das war kein Name, den Jordy abgelehnt hätte, obwohl er – wie die meisten Zwerge in Thorbardin – sich nur noch als Pfeifer ansah. Er folgte dem Lehnsherrn mit Leib und Seele, und wenn man ihn zu Hornfells Männern zählte, war das keine Schande.

In Pfeifers Lungen gurgelte Blut. Bei jedem qualvollen Atemzug, der ihm gelang, hörte er es blubbern und pfeifen. Wenn er hustete, so wie jetzt, traten kleine Tropfen des Blutes auf seine Lippen und tropften dann auf den kalten, harten Boden. Seine zerrissenen, wirren Gedanken trieben den Strom der Qual entlang. Er ertrug es nicht mehr länger, an diesen Augenblick, diesen Ort und den Schmerz zu denken, und Pfeifers Gedanken schweiften zu anderen Orten ab.

Hornfells Schoßhund. Genau. Vor drei Jahren war Pfeifer ganz plötzlich wie ein nasser Hund in Thorbardin aufgetaucht. In jener Nacht hatte es gestürmt: ein wildes Sommergewitter am Himmel, überall Donner und gleißend helle Blitze. Pfeifer konnte sich kaum noch an diese Ankunft erinnern, obwohl er die Geschichte oft genug gehört hatte.

Ein Mitglied der Wachgarde von Südtor war fast über den Magier gestolpert. Triefend naß und flach atmend lag er zusammengerollt im Windschatten der brusthohen Mauer, wo gerade eben noch die Wache gestanden hatte.

»Wie Treibgut am Ufer«, hatte die Wache später gesagt, als sie mit den Kameraden im Wachhaus begeistert ihren Durst löschte. »Ich sage euch, ich dachte, der Bursche wäre tot.« Nach diesen Worten nahm er einen tiefen Schluck und sah nachdenklich aus. »Vielleicht war er das und hat sich wiederbelebt. Bei einem Magier weiß man das nie.«

Pfeifer war nicht tot gewesen, auch wenn er so nahe dran gewesen war, wie es überhaupt möglich war.

Pfeifer schluckte etwas und versuchte, den Atem völlig anzuhalten. Er fing an, seine gebrochene rechte Hand Stückchen für Stückchen zu seinem Gürtel zu schieben.

Sie hatten nicht recht gewußt, was sie in Thorbardin mit ihm machen sollten. Der Hauptmann der Wache hatte den Verdacht geäußert, daß der Zauberer ein Spion sein konnte, der Thorbardins Verteidigungsanlagen auskundschaften sollte. Durch diese Worte fand er die Lösung für das Problem des Magiers.

Es gibt tiefe, finstere Kerker in Thorbardin, und in einem davon erwachte Pfeifer in Ketten liegend und fragte sich, ob er einen Zauber so vermurkst hatte, daß er direkt im Abgrund gelandet war.

Er hatte nur nach Haven gewollt, und das war kein weiter Weg vom Wald von Wayreth. Kein langer Weg für Zauberer.

Er hatte gewußt, daß er noch auf der Ebene der Sterblichen war, als er herausfand, daß seine Kerkermeister Zwerge waren. Der Zwerg, der ihm warmes Wasser und trockenes Brot brachte, war nicht gerade gesprächig. Er antwortete auf alle Fragen nur mit einem Grunzen oder gar nicht. Obwohl er dem Zauberer einmal wärmere Decken gegen die feuchte Kälte brachte, sagte der Wärter nie ein Wort und achtete darauf, daß Pfeifers Hände immer gefesselt waren.

Immer, dachte er, während er seine Augen weiterhin vor dem Schmerz verschloß und seine Hand seltsam taub wurde, als er sie zu der Flöte schob, immer wußten sie über die Hände eines Zauberers Bescheid.

Nach zwei Tagen wurde Pfeifer vor den Rat der Lehnsherren geführt. Auch dann noch in Ketten, weil sie fürchteten, daß er sich durch Magie verteidigen würde oder den Rat durch Verzauberung von seiner Unschuld überzeugen könnte. So erzählte Pfeifer den sechs Lehnsherren in ihrer großen Ratshalle seine Geschichte von einem fehlgeschlagenen Transportzauber.

Sie stritten sich lange über diese Sache, wie sie es gewöhnlich taten. »Spion!« schrien einige. Andere zweifelten an dieser Anschuldigung, zeigten aber kein Verständnis und wollten den Magier auch nicht von dem Vergehen freisprechen, die Grenzen der Zwerge unerlaubt überschritten zu haben. Derzeit flogen Drachen offen über den Himmel von Krynn, und in der Außenwelt rüsteten sich die Armeen zum Krieg. Solange sie nicht sicher waren, daß Pfeifer kein Spion war, würde der Rat der Lehnsherren ihn gern für den Rest seines Lebens dem Kerker und den Eisenketten ausliefern und damit die Sache zu jedermanns Zufriedenheit lösen – außer zu Pfeifers.

Nur einer der Lehnherren hatte sogar Pfeifers Freiheit in Betracht gezogen. Das war Hornfell, und er stritt wacker zugunsten des jungen Menschen, dessen entwaffnende Unschuld und Offenherzigkeit zusammen mit der Geschichte von der fehlgeschlagenen Magie ihn bewegt hatte. Hornfell bürgte persönlich für den Magier und erkaufte Pfeifer durch diesen Handel die Freiheit.

Jetzt war Pfeifers Hand völlig taub, doch er wußte, daß er die Flöte berührt hatte, als er sie gegen seine Seite fallen fühlte. Er lauschte dem Blut, das in seine Lungen strömte, und schien wieder Hornfells belustigten Seufzer zu hören.

»Normalerweise beurteile ich einen Mann auf den ersten Eindruck richtig. Aber du mußt wissen, kleiner Jordy: Du stehst jetzt für mein Wort gerade. Sieh zu, daß du mich nicht enttäuschst.«

Damals hatte Jordy geglaubt, daß er keine Mühe haben würde, für Hornfells Wort einzustehen. Instinktiv mochte er den Zwerg, und er verdankte ihm seine Freiheit. Außerdem faszinierte ihn Thorbardin, wohin bisher erst wenige Menschen gekommen waren. Jordy gab seinem Impuls nach und hatte das nie bedauert:

»Dann möchte ich Euch folgendes vorschlagen, Herr«, hatte Jordy ernst zu dem Zwerg gesagt, der ihn vor der endlosen Kälte und Dunkelheit von Thorbardins Kerkern bewahrt hatte. »Ich stehe in Eurer Schuld, und wenn Ihr wollt, in Euren Diensten.«

In diesen zwei Jahren nannten manche den jungen Mann Jordy, andere ›Hornfells Schoßhund‹. Dann begannen die Kinder in Thorbardins Straßen und Parks, ihn voller Entzücken über die Musik des blonden Riesen Pfeifer zu nennen. Der Magier hatte seinen Spitznamen bekommen, einen Lehnsherrn, dem er diente, und – obwohl er nicht danach gesucht hatte – eine Heimat.

Pfeifer schwitzte in der kalten Morgendämmerung. Er nahm alle Kraft zusammen und schob die Flöte vorsichtig mit dem Unterarm raus und von der Seite weg. Jetzt lag sie neben seiner Schulter. Indem er seine Füße gegen den harten Boden stemmte, krümmte er sich langsam voller Schmerzen und ergriff das geschwungene Mundstück des Instruments mit den Zähnen.

Einer der Theiwaren lachte, ein Geräusch wie das Heulen des Windes durch ein Hügelgrab. Pfeifer richtete sich auf. Als er das tat, drang ihm eine gebrochene Rippe immer tiefer in die Lunge. Blut tropfte dorthin, wo Luft hingehörte. Er hatte jetzt keinen Atem mehr für die komplizierten Zauber. Er hatte auch keine Zeit mehr.

Ein Spruch, dachte er, der mich schnell und sicher von hier fortbringt!

Ein Transportspruch. Nicht weit, dafür hatte er nicht die Kraft, nur einen, der ihn gut im Wald versteckte, wo sie ihn suchen mußten. Wahrscheinlich suchen sie nicht alle, dachte er, als er langsam und mühevoll seine Lungen mit Luft füllte. Aber Stanach hört sie vielleicht und ist gewarnt, lange bevor er sie sieht.

Pfeifer schloß die Augen und dachte an einen Hang tief in den Wäldern, den er kannte, nahe der Grenzen des Elfenwalds. Diese Theiwaren würden lange und weit suchen müssen, bevor sie sich so nah an das unheimliche Qualinesti wagten.

Drei Töne brauchte er, alle leise wie der Wind, wenn er über das Gras weht. Drei magische Worte. Die Worte hatte er, und den Atem bekam er.

Einen zeitlosen Moment lang spürte Pfeifer keinen Schmerz, mußte nicht atmen. Sein Bewußtsein schwand wie das Wasser bei Ebbe, als Pfeifer die Musik spielte.

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