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In alter Zeit, in den Jahren vor der Umwälzung, war es eine von vielen Zwergenstädten gewesen. Jetzt war Thorbardin, das letzte der einst bedeutenden Zwergenreiche, jedoch einzigartig auf Krynn. Die Stadt war im Inneren des Berges erbaut, in einer Höhle, die sich von Nord nach Süd über zweiundzwanzig Meilen erstreckte, von Ost nach West über vierzehn. Thorbardin war dabei nicht nur eine große Stadt, sondern auch eine praktisch uneinnehmbare Festung. Südtor mit seinen Befestigungsanlagen und mehreren dahinterliegenden Verteidigungsanlagen bewehrte die Stadt an der einen Seite. Die Ruinen von Nordtor, die während der Umwälzung zerstört worden waren und jetzt nur noch aus einem schmalen, anderthalb Meter breiten Sims neben einem dreihundert Meter tiefen Abgrund bestanden, sicherte den Weg nach Thorbardin von der Ebene der Toten her.

Die Bergzwerge lebten schon jahrhundertelang inmitten ihrer Schmieden und Tavernen, Tempel, Geschäfte und Häuser, und sogar Parks und Gärten fanden sich. Was sie zum Leben brauchten, stammte von den Ackerhöhlen tief unter der Stadt, denn die Felder vor Südtor hatten sie vor langer Zeit – nach den Zwergentorkriegen – aufgegeben. Das Licht stammte aus Kristallschächten, die tief in die Höhlen und Decken der Höhle getrieben waren. Sie lenkten Tageslicht in die Stadt und auf die Felder.

Obwohl Thorbardin insgesamt als Stadt bezeichnet wurde, bestand es strenggenommen aus sechs kleineren Städten, und jede hatte seinen eigenen Lehnsherrn und sein eigenes Volk. Bis auf eine grenzten alle an die Ufer des von Zwergen geschaffenen Urkansees.

Die sechste und schönste Stadt war der Lebensbaum der Hylaren. Wie ein Stalaktit ragte er mit achtundzwanzig Ebenen direkt aus dem See. In dieser Stadt in der Mitte, die nur mit dem Boot zu erreichen war, wurden die Regierungsgeschäfte geführt. Hier tagte der Rat der Lehnsherren unter der vorläufigen Führung von Hornfell. Das war die einzige Regierung, die Thorbardin seit dreihundert Jahren besaß.

Politik und Handel zwischen den sechs Zwergenreichen wurden hier erstritten und entschieden und manchmal mit dem ganzen Nachdruck eines streitbaren, unabhängigen Volkes durchgefochten. Die Zwerge wachten argwöhnisch über ihre Rechte und ihre Freiheiten und ließen nicht zu, das ihnen diese beschnitten wurden. Thorbardin war die angestammte Heimat der Bergzwerge.

Alles andere, sogar ihr eigenes Land außerhalb des Berges, war Außenwelt.

Unter der großen Stadt Thorbardin gab es Orte, wohin nur die Derro-Zauberer der Theiwaren gingen. Das waren die Tiefen Höhlen, und sie lagen noch weit unter den Kerkern und den Ackerhöhlen, unter der geräumigen, schalenförmigen Höhle, die diese Stadt im Herzen des Berges wiegte.

An diesen Orten wurde Magie gewirkt, und diese Magie war immer schwarz.

Tief in den geheimnisvollen Reichen der Theiwaren lag die Kammer des Schwarzen Mondes. Fackellicht besprenkelte wie durchsichtiges Blut die Wände der hohen Höhle und verlor sich auf dem Weg zur Decke. Auf den ersten Blick erschien der Ort wie eine völlig natürliche und unberührte Höhle, doch in Wahrheit war die Kammer das Ergebnis jahrelanger, kunstvoller Arbeit.

An den Wänden hingen vergoldete Metallschalen, die fest geflochtenen Körben ähnelten. Diese Schalen paßten genau in die Steinnischen, die aus dem lebenden Fels der Wände gehauen waren. Die Wände selbst waren glatt, der Stein so poliert, daß die natürlichen Farben seiner Maserung in ihrer ganzen Vielfalt zur Geltung kamen.

Der Boden wirkte auf den ersten Blick wie rauher Fels. Bei näherer Betrachtung erwies er sich als so glatt wie poliertes Holz. Eine dicke Glasschicht überzog die Konturen des Steins. Man hatte es wie flüssiges Feuer ausgegossen und durch magische Künste gelenkt, damit es nicht in die Vertiefungen des natürlichen Felsens sank, sondern einen Fingerbreit über dem höchsten Punkt des Bodens einen klaren Bodenbelag bildete.

Obwohl der Glasboden schon seit vier Jahrhunderten begangen wurde, gab es keine Stellen, an denen er beschädigt war. Es hieß, das Glas würde nie zerkratzen, nicht einmal unter dem härtesten Diamanten.

In der Mitte des Bodens stand ein einfaches, rundes Podest aus massivem, schwarzem Marmor, das durch dieselbe Zauberkunst geschaffen worden war.

Hier las Realgar, Lehnsherr der Theiwaren, die alten Zauberbücher, sprach seine Zaubersprüche und schmiedete Mordpläne.

Doch in dieser Nacht, als Stanach und sein Meister das glutrote Herz in einem Schwert für Hornfell pochen sahen, plante Realgar keinen Mord.

Heute nacht plante er einen Diebstahl. Der Mord, dachte er lächelnd, konnte später kommen, wenn die Geschichte Hornfells Tod als Tod eines Verräters bewerten würde.

Den Hylaren war ein Königsschwert geschmiedet worden.

Sein Informant hatte das Wort ›Königsschwert‹ nicht benutzt. Er schien nicht zu ahnen, was die merkwürdig gezeichnete Klinge wirklich darstellte. Er hatte einfach Wirtshausgerede wiederholt, das der Schmiedejunge verbreitet hatte, der für Isarn arbeitete.

»Dem Jungen zufolge war an dem Schwert etwas komisch«, erzählte der Informant. »Rotvernarbter Stahl. Nicht das perfekte Silberblau, das normalerweise aus der Schmiede des Meisters kommt.«

Nein, dachte Realgar jetzt. Nicht das perfekte Silberblau, sondern eine Stahlklinge mit einem Herz aus Feuer, wie es der alte Dunkan gehabt haben sollte.

Aber war es ein Königsschwert, das einen Hochkönig auf den Thron bringen und nach seinem Tod mit ihm beigesetzt werden würde? Kein Zwergenschmied hatte ein Königsschwert geschmiedet, seit das von Dunkan vor dreihundert Jahren mit ihm begraben worden war – seit Kharas, Dunkans Vertrauter, seinen von Gott geschmiedeten Streithammer versteckt und die Zwerge ihres Königs beraubt hatte, bis er wiedergefunden werden würde.

Doch jetzt wanderten die Götter selbst auf der Welt und würden ihrem Willen Form verleihen. Gut kämpfte gegen Böse in dem Krieg, der manchen Leuten zufolge bald auf Krynn ausbrechen würde. Auf dem Berg und am Nachthimmel waren Drachen, die dunklen Geschöpfe von Takhisis, gesichtet worden. Realgar verzog seinen Mund zu einem Grinsen. Heute nacht konnte durchaus ein Gott Thorbardin besucht haben.

Hatte Reorx Isarns Schmiedefeuer berührt? Hatte er einfachen Stahl in ein Königsschwert verwandelt?

Isarn mußte das geglaubt haben. Der Meister hatte die Schmiede zwar erschöpft verlassen, doch er hatte seinen Lehrling dagelassen, um der Klinge einen Griff zu geben, und hatte, dem Schmiedejungen nach, dem Lehrling aufgetragen, die ganze Nacht bei dem Schwert zu bleiben.

Wenn es ein Königsschwert war, würde Isarn Hammerfels es nicht unbeaufsichtigt liegen lassen, sondern eine Wache aufstellen. Realgars Hand ballte sich zur Faust. Genau, es die Nacht über gut bewachen, um es am Morgen frisch geschmiedet und gefaßt dem Lehnsherrn zu überreichen. Ein Zeichen der Gunst Gottes.

Ein Königsschwert allein würde Hornfell noch nicht zum Hochkönig machen. Das konnte nur der Streithammer von Kharas, und nicht einmal Hornfell konnte daran glauben, daß der Streithammer jetzt gefunden werden würde. Er war zu lange verloren, zu gut versteckt gewesen. Der Streithammer würde nie wieder einen Zwerg zum Hochkönig machen.

Aber ein Königsschwert, das vom Licht der Esse glänzte, konnte einen Prinzregenten auf den Thron bringen, und das würde der Lehnsherr Hornfell sein.

Die Mehrheit im Rat der Lehnsherren würde Hornfells Krönung gutheißen. Wenn jemand den zerstrittenen Rat einigen konnte, dann war es der Hylar. Gut, selbst er würde sie nicht immer schlichten können. Aber schon jetzt, wo er nur ein Erbrecht auf den Vorsitz im Rat hatte und nicht höher stand als die anderen fünf Lehnsherren, gelang ihm dies häufiger als anderen. Viel zu oft bewegte sich der Rat der Lehnsherren in die Richtung, die Hornfell wünschte. Als Prinzregent würde Hornfell über den Rat herrschen. Auch wenn ihn niemand Hochkönig nennen würde, würde er Thorbardin regieren.

Realgar zischte einen Fluch. Die Gier nach Macht hatte immer in ihm gerauscht wie das Strömen des Blutes in seinen Adern. Nicht aufgrund seiner Herkunft war er zum Lehnsherrn der Theiwaren aufgestiegen, sondern am Ende eines langen Weges, der von Mord, Verrat und schwarzer Magie gekennzeichnet war. Er haßte den Hylaren, den Erben der alten Hochkönige, aus tiefstem Herzen, ebenso wie das Sonnenlicht.

Langsam öffnete Realgar seine Faust. Er bewegte seine Hand in einer geschmeidigen, magischen Geste und flüsterte die Worte einer Herbeirufung. Vor dem Glaspodest bildete sich ein Nest voller Schatten, wurde dichter und nahm eine neblige Gestalt an.

»Ja, Lehnsherr«, flüsterte die Stimme, einen Augenblick bevor die Schatten ihre endgültige Form erreicht hatten.

Realgar sprach erst, als der Dieb vor ihm kniete. Dann faßte er sich kurz. Er erteilte dem Dieb seinen Auftrag und schickte ihn los. Als er wieder allein war, begann er, Hornfells Tod zu planen.

Mochte Isarn es ruhig für ein Zeichen der Gnade seines Gottes halten, daß ein Königsschwert in seiner Schmiede entstanden war. Realgar, der eine dunkle, böse Göttin verehrte, spürte, wie Takhisis’ Hand in dieser Nacht am Werk war. Am Morgen würde er das Königsschwert besitzen und die sechs Zwergenreiche regieren.


Skarn war Realgars Dieb, aber nicht Realgars Getreuer. Er wischte sich das Blut von den Händen und überlegte, ob er den Lehrling töten sollte, der bewußtlos auf dem Steinboden der Schmiede lag. Dann sah er das Schwert. Stanach war vergessen.

Die lange, schlanke Klinge hatte ein nagelneues Heft. Und ihre Farbe war die von Solinari. Im Herzen des Stahls verlief ein Streifen roten Sonnenlichts. Die Klinge lag auf dem Amboß, wo sich Stanach gerade über sie gebeugt hatte, um eine letzte Unebenheit zu glätten. Dort hatte Skarn ihn durch einen Schlag mit dem Dolchgriff betäubt.

Skarns Plan nahm seine endgültige Form an. Realgar hatte noch eine Blutschuld bei ihm. ›Meister‹, nannte er den Lehnsherrn, doch das war er nie für ihn gewesen. Für Skarn war er immer derjenige gewesen, der den Tod seines Sohnes zu verantworten hatte.

Ein kleiner Fehler beim Zaubern, hatte Realgar gesagt. Das war keine Entschuldigung, sondern höchstens eine Erklärung, warum Torm gestorben war.

Obwohl die Derros einer Rasse angehörten, die für die schwarzen Künste begabt war, duldete Realgar keinen Zauberer über sich. Zu eifersüchtig war er auf den Erhalt seiner eigenen Macht bedacht. Von Zeit zu Zeit nahm er einen Lehrling an, dessen Talent für einfache Sprüche ausreichte. Zauberlinge nannte er sie und sprach das Wort immer mit stolzem Naserümpfen aus.

Torm war einer von ihnen gewesen. Er hätte mehr sein können. Bei richtigem Unterricht hätte er in die Außenwelt und zum Turm der Erzmagier gehen können, wo er bei den Meistern der Schwarzen Roben die Zaubererprüfung abgelegt hätte. Er hätte die Prüfung bestanden. Das Feuer der Magie hatte in seiner Seele gebrannt, der Wunsch, in seinen Flammen zu tanzen, hatte sein Leben bestimmt.

Und Realgar hatte das gewußt. Er mußte Torms Machtpotential gespürt haben. Als er es bemerkte, erkannte er die Bedrohung. Er hatte Torm gebeten – nein, ihm befohlen –, einen Zauber zu sprechen, den sein Lehrling noch nicht beherrschen konnte. Realgar hatte zugesehen, wie er schreiend gestorben war, wie formlose, dunkle Schattenwesen aus dem Abgrund ihm das Fleisch von den Knochen nagten und seine Seele aus dem Körper rissen. Torm hatte den Zauber gesprochen, das stimmte, doch er hatte es auf Realgars Befehl hin getan.

Skarn hatte viele Jahre darauf gewartet, Torms Tod zu rächen. Jetzt hatte er einen Weg für seine Rache gefunden.

Kaltlächelnd hob Skarn das Schwert vom Amboß. Realgar wollte dieses Schwert. Der Dieb wußte nicht, weshalb, und das kümmerte ihn auch nicht. Er wußte nur, daß das Verlangen nach der Klinge offen in den Augen seines Lehnsherrn gestanden hatte, als dieser ihm den Auftrag erteilt hatte. Mehr als Verlangen, dachte Skarn jetzt. Realgar brauchte dieses Schwert.

Es gab geheime Pfade aus Thorbardin heraus, dunkle Wege durch die Außenwelt, die nicht einmal die Grenzer kannten. Skarn kannte sie. Er ließ Stanach liegen, wo er hingefallen war. Wenn Realgar erführe, daß Skarn ihm das Königsschwert nicht brachte, würde er schon aus Thorbardin verschwunden sein.

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