22

Lavim trat gegen einen kleinen Stein und sah zu, wie er den Hügel hinunterkullerte. Er hatte gehört – er wußte nicht, ob von Pfeifer oder von jemand anderem –, daß diese ganze Wüste, diese ganze endlose, trockene, staubige, leere, schattenlose und stumpfsinnige Gegend, die sie die Bluthügel nannten, einst eine Grassteppe gewesen war. Du hast ›langweilig‹ vergessen.

»Was?«

Du hast vergessen zu erwähnen, daß die Hügel langweilig sind.

Lavim seufzte. »Ich dachte, das müßte ich nicht. Spricht doch irgendwie für sich selbst, oder?«

Pfeifer lächelte.

Lavim stampfte mit dem Fuß auf und sah zu, wie der Staub vom Wind davongetragen wurde. Er fand es bemerkenswert, daß er wußte, wann Pfeifer lächelte.

Er wühlte in seiner Tasche und zog eine sorgfältig gefaltete Karte aus brüchigem Pergament hervor. »Ich hatte mal eine Kartenrolle für so was, aber ich weiß auch nicht, was damit passiert ist. Es ist noch gar nicht so lange her, vielleicht einen Monat, bevor ich nach Langenberg kam. Jetzt ist sie weg. Es scheinen viele Dinge zu verschwinden, wenn ich irgendwo auftauche und wieder weggehe.«

Er ging in die Hocke, legte die Karte auf den Boden und glättete sorgfältig die Falten. »Schau dir den Ort hier an, Pfeifer. Sogar auf der Karte ist er häßlich.« Er zeigte es dem Geist auf der Karte.

Pfeifer sagte nichts, sondern ließ ihn fortfahren.

»Guck! Hier hinten im Osten ist Qualinesti.« Lavim schaute blinzelnd zum Himmel hoch. »Irgendwie komisch, nicht wahr, daß ich da fast die ganze Zeit nach Gespenstern gesucht habe und erst eins fand, nachdem ich da weg war. Jedenfalls, das ist er, der Elfenwald, richtig grün und schön. Hier ist der Fluß, den wir überquert haben, die blaue, schnörkelige Linie.« Er schniefte verächtlich. »Und hier wird die Karte häßlich und das Land noch häßlicher. Nur kleine Hügel, sagt die Karte. Hah! Das hier sind keine Hügel, das sind kleine Berge.«

Nein, es sind Hügel.

»Du hast gut reden, du mußt ja nicht hier herumlaufen.« Lavim faltete seine Karte zusammen und steckte sie wieder in die Tasche. »Wir könnten viel einfacher nach Thorbardin gelangen, wenn wir quer durch die Ebene von Dergod gehen würden – oder Ebene der Toten, wie die Zwerge sie nennen. Warum heißen sie so, Pfeifer?«

Weil dort in den Zwergentorkriegen Tausende von Hügelzwergen und Bergzwergen ums Leben kamen.

Lavim stand auf und streckte sich. Der Wind kam jetzt schneidend kalt von Osten und trieb den Waldbrand vor sich her. Obwohl am Himmel kein Rauch von dem Guyll Fyr zu sehen war, sogen die Luftströmungen den Qualm durch den Kanal des Sumpfgebiets. Er konnte ihn immer noch riechen.

Ohne weitere Worte trabte er nach Süden, kletterte auf den höchsten Hügel, der zu finden war, und ließ sich wieder auf den Fersen nieder.

Das Feuer war meilenweit weg und wirkte von seinem Hügel aus wie eine dicke, rote Schlange, die sich auf die Berge im Osten zuschob. Der Rauch hing als dicke, schwarze Masse über den Sümpfen. Wenn Lavim sich sehr anstrengte, die Augen zupreßte und die Schultern zusammenschob, konnte er das Brüllen des Feuers wie fernen Donner hören.

Pfeifer, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, meldete sich so plötzlich zu Wort, daß Lavim hochschreckte. Warum redest du

nicht mit Tyorl?

»Ach, nein, das mag ich nicht.« Lavim sah über die Schulter. »Er regt sich immer noch furchtbar auf, daß Kelida und Stanach von dem Drachen geschnappt wurden. Ich versteh’ das ja. Ich – ich denke selbst nicht so gern darüber nach.«

Das habe ich gemerkt. Vielleicht sollte Tyorl darüber reden.

Lavim schüttelte düster den Kopf. »Nicht mit mir, nein, nein. Guck ihn dir doch an.«

Tyorl hockte da und betrachtete den Himmel. Seit der Drache Kelida geschnappt und sie und Stanach in die Dämmerung verschleppt hatte, klebten seine Augen an diesem unbarmherzigen Blau. Lavim seufzte. Er hatte fast alles von dem aufregenden Ereignis verpaßt und war erst zu den anderen gestoßen, als der Drache wie eine spitze, schwarze Träne am Himmel ostwärts nach Thorbardin davonflog – mit Kelida und Stanach und ohne seinen Reiter.

Sie hatten den einäugigen Zwerg in einer Rinne zwischen zwei Mooren gefunden. Trotz gebrochener Knochen und Blutungen war er nicht tot gewesen. Lavim nahm an, daß Finn ihm aus Rache für Lehrs schrecklichen Tod die Kehle durchgeschnitten hatte. Pfeifer hatte gesagt, ein solcher Tod sei keine Strafe.

Jetzt blickte Lavim zu Finn. Der Anführer der Waldläufer hatte die Stirn auf die angezogenen Knie gelegt und saß regungslos im Windschatten des Hügels, anscheinend ohne auf Kerns rastloses Auf- und Abschreiten zu achten. Der schweigsame Kernbal hatte kein Wort gesagt, seit sein Bruder von dem Drachen getötet worden war. Mit aufrechtem Kopf lief er startbereit am Fuß des Hügels hin und her wie ein Jäger, der die Spur des Wildes wieder aufnehmen will. Er schärfte seine Pfeile am Stein der Rache, hatte Pfeifer gesagt.

Mit dem Umschlagen des Windes kurz nach Tagesanbruch hatte sich das Feuer rasch in den Hügeln ausgebreitet, war im Nu nach Süden, Norden und Osten vorgestoßen und hatte eine Flammenwand hinter ihnen aufgebaut. Auf Finns Anraten hin hielten sie auf die Wüstenhügel zu. Hier gab es nicht viel Brennbares, und der Anführer der Waldläufer hielt den Ort für sicher. Es war ein Gewaltmarsch gewesen, und jetzt, als die Schatten kurz vor Sonnenuntergang länger und dunkler wurden, hatten die vier Rast gemacht, bevor sie weiter nach Osten hasten würden.

Los, Lavim. Rede mit Tyorl.

»Und?«

Und was?

»Und gib ihm die Flöte, nicht wahr? Das ist es doch, wovon du immer wieder anfängst. Gib ihm die Flöte, gib ihm die Flöte.«

Ich wäre glücklicher, wenn du das tätest.

»Aber er kann sie nicht benutzen, ich schon!«

Pfeifer seufzte. So lange ich dir sage, was du zu tun hast, ja.

»Warum also sollte ich sie ihm geben?«

Lavim! Geh schon!

Lavim kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Während er wünschte, daß Pfeifer nie diese gemeine Angewohnheit entwickelt hätte, mitten in seinem Kopf zu schimpfen, ging er zu Tyorl.

Der Elf sah sich nicht einmal um, als Lavims kleiner Schatten über ihn fiel. Lavim räusperte sich geräuschvoll.

Tyorl stand auf und suchte den Osten des Himmels ab. »Es wird erst in einer Stunde dunkel, Lavim. Wir wollen sie nicht mit Reden verschwenden.« Er nickte Finn zu, welcher aufstand und Kern zuwinkte, daß sie weiter wollten.

Kern lief wie gewohnt an der Nordseite voraus. Mit langen Schritten kam er voran. Finn trabte südöstlich voraus und gab das Tempo an. Bald schwebte die Rauchwolke von der Ebene der Toten hoch über ihren Köpfen. Lavim trottete neben Tyorl her. Er mußte sich anstrengen, um Schritt zu halten. »Äh, Tyorl, ich will dir was sagen.«

Tyorl antwortete nicht.

»Ich will dir etwas über Pfeifer sagen.«

»Der ist tot«, blaffte Tyorl. »Was muß ich noch über Pfeifer wissen?«

Lavim seufzte geduldig. »Ich weiß, daß er tot ist. Aber ich glaube, du glaubst, wenn du die Flöte gehabt hättest, als der Drache Stanach und Kelida erwischte, dann hättest du etwas dagegen tun können.«

Tyorl sagte kein Wort.

»Das hättest du nicht. Du hättest es nicht gekonnt.«

»So? Und warum nicht?«

»Weil die Flöte nur bei mir funktioniert, Tyorl. Pfeifer sagt, daß sie nicht – «

»Pfeifer sagt?«

Lavim nickte. »Weißt du, Tyorl, er ist ein Geist. Er redet in meinem Kopf zu mir und erzählt mir Sachen – «

»Lavim – «

»Bitte, Tyorl, laß mich ausreden. Er ist wirklich ein Geist. Er hat es mir gesagt, als der rote Drache über den Wald flog und die Bäume ansteckte. Na ja, nicht daß er – der Drache, meine ich – das machen wollte, aber daß er flog. Und – und er hat mir auch von dem schwarzen Drachen erzählt.« Der Kender seufzte und lief schneller. »Aber – aber ich war zu weit weg, um irgend etwas zu machen. Ich habe es versucht! Wirklich, aber Pfeifer sagt, daß Sprüche begrenzte Reichweite haben und – es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Ich wünschte, ich wäre näher dran gewesen. Ich wünschte, ich wäre nicht draußen in den Hügeln gewesen. Aber da war ich. Und – und ich weiß, daß du denkst, du hättest Lehr und Kelida und Stanach helfen können, als der Drache kam, wenn du nur die Flöte gehabt hättest, aber das hättest du nicht. Du hast keinen Pfeifer im Kopf.«

»Und du auch nicht. Kenderchen, manchmal glaube ich, du bist halb verrückt und – «

Sag ihm, du bist nicht halb senil.

Pikiert fauchte Lavim: »Ich bin nicht halb senil! Nicht im mindesten!«

Tyorl blieb stehen. Das war der Satz, den er hatte sagen wollen. »Was?«

»Ich – Pfeifer hat gesagt – ich meine, ich habe gesagt – ich bin nicht halb senil.« Lavim atmete tief durch und hielt an. Mit gesenktem Kopf und den Händen auf den Knien stand er keuchend da. Er schloß die Augen, japste nach Luft und redete weiter: »Und Pfeifer sagt auch, daß du gerade jetzt denkst, daß du besser einen Weg finden solltest, mich ruhig zu halten, bevor Finn etwas mitkriegt.«

Tyorl zwinkerte. »So? Sagt er das?«

»Ja, und er sagt, daß du jetzt denkst, daß das letzte, was du brauchst, ein verrückter Kender ist. Ich bin nicht verrückt, Tyorl! Verstehst du? Ich denk’ mir das nicht aus. Es ist wahr. Hier.« Er suchte in seinen Taschen und zog die Flöte heraus. Bevor er es sich anders überlegen konnte, drückte er sie Tyorl in die Hand. »Versuch es. Spiel etwas.«

»Was soll das beweisen? Ich kann das Instrument spielen, aber ich weiß keine Noten für Zaubersprüche.«

Lavim pfiff die schnellen, lebhaften Töne, die er für seinen Stinkezauber gespielt hatte. »Probier das mal.« Er pfiff die Melodie noch einmal. »Hast du’s?«

Tyorl hielt die Flöte mit spitzen Fingern fest. »Lavim.«

»Versuch es! Los. Pfeifer sagt, es macht nichts.«

Tyorl betrachtete die Flöte, warf einen scharfen Blick auf Lavim und holte tief Luft.

»Los.«

Tyorl probierte die Melodie und machte sich auf das Schlimmste gefaßt, bestenfalls noch auf den unbeschreiblich ekligen Gestank, der ihn in der Höhle am Fluß umgehauen hatte.

Nichts geschah. Nur der Wind blies ein bißchen stärker.

»Pfeifer sagt, daß der Wind nichts mit der Flöte zu tun hat. Irgend etwas mit Luftströmungen über dem Feuer oder so. Siehst du? Versuch’s noch mal.«

Das tat Tyorl. Die Brise blieb genauso stark, und die Luft roch immer noch nach Waldbrand und nach sonst gar nichts. Er starrte die Flöte in seiner Hand an und sah genau einen Augenblick zu spät, wie die Hand des Kenders vorschoß und das Instrument zurückholte. Bevor Tyorl Einspruch erheben konnte, war sie in tiefen Geheimtaschen versteckt.

»Lavim! Warte! Gib – «

Doch Lavim war fort. Er lief Finn nach, nachdem er die Flöte wieder in seinen Besitz gebracht hatte.

Tyorl wollte ihm nachsetzen. Wenn Lavim auf dem Hügel gewesen wäre, als der schwarze Drache zugeschlagen hatte, hätte er vielleicht helfen können. Aber er streifte durch die Nacht und war nicht da. Ihm dafür jetzt die Schuld zu geben, war genauso sinnlos, wie sich selbst die Schuld zu geben, weil sein Pfeil danebengegangen war.

Tyorl rannte schneller. Er dachte nicht an Geister oder vertane Chancen. Ihm wurde plötzlich klar, daß die Magie der Flöte nur bei Lavim funktionierte. Die Folgen waren nicht auszudenken.


Von dem Hügel aus, wo er in den Stunden nach Mitternacht seine Wache ablief, sah Tyorl das Feuer in den Sümpfen der Ebene der Toten wüten. Der Westwind hatte sich nach Sonnenuntergang gelegt, aber das Buschfeuer brauchte keine Hilfe mehr, um rascher zu den Bergen zu laufen. Das Sumpfgras wirkte wie Lampenöl; jetzt konnte das Feuer nichts mehr aufhalten.

Tyorl fluchte verzweifelt und sah zu den Sternen hoch, die wie winzige, glitzernde Eissplitter über den schwarzen Himmel verteilt waren. Hoch oben war der helle Solinari von einem trüben, silbernen Hof umgeben. Lunitaris Licht tauchte die dunklen Hügel im Osten in Scharlachrot und ließ indigoblaue Schatten in die Ebene hinunterragen. Der Ring des roten Mondes war rosa wie abgespültes Blut. Tyorl roch Schnee in der Luft.

Wir werden es nicht vor dem Feuer bis in die Berge schaffen, dachte der Elf, und das heißt, daß wir überhaupt nicht nach Thorbardin gelangen werden.

Er fuhr mit dem Daumen über das glatte Holz seines Langbogens. Sanft wie Seide und wohlvertraut fühlte sich das Eibenholz an. Und nutzlos, nutzlos, um Kelida vor einem Drachen zu verteidigen.

Tyorl zog die Schultern hoch, weil Schmerz und Reue sein Herz erfaßten. Auch das war vertraut. Seine gut gezielten Pfeile waren vom ebenholzschwarzen Schuppenpanzer des Drachen abgeprallt wie von Stahl. Ein Schuß in das Auge des Ungeheuers hätte ihn verlangsamt, vielleicht sogar getötet, aber der Drache bewegte sich zu schnell und war längst außer Reichweite von Tyorl, als dieser endlich besser zielen konnte. Als der Drache abhob, hatte er einen Augenblick lang geglaubt, daß Stanach Kelida losgerissen hätte. Betend hatte er dem Kampf auf dem Rücken des Riesentiers zugesehen und geflucht, als das Ungeheuer sich in die Luft schwang.

Stanach, dachte der Elf bitter, Sturmklinge hat dich Vetter, Freund und Hand gekostet. Du behauptest, die Klinge wäre von Reorx gesegnet; ich sage, er hat sie verflucht. Aber du hast es versucht. Wie ein Wolf hast du dafür gekämpft.

Er wendete dem grellen Schein des Guyll Fyr den Rücken zu und beobachtete, wie der Schatten des Rauchs von dem kleinen, zahmen Lagerfeuer in der Senke über den Boden da unten floß. Im Sonnenlicht waren die Felsen rot, im unheimlichen Schein der Monde glommen sie seltsam lila. Lavim war wie üblich nirgends aufzutreiben. Tyorl hatte ihn nicht mehr einholen können, bevor sie das Lager aufschlugen, und hatte ihn auch seitdem nicht mehr gesehen.

Nachtschwärmer, dachte er. Oder er redet mit seinem Zauberergeist.

Das brachte ihn auf andere Gedanken. Er war davon überzeugt, daß Lavim glaubte, der tote Pfeifer würde mit ihm reden. Tyorl wußte nicht, was er davon halten sollte. Aber schließlich hatte Lavim seine Worte tatsächlich gewußt, bevor er sie auch nur halb gedacht hatte. Als er versucht hatte, die Sache mit Finn zu besprechen, hatte sein Anführer mit den Schultern gezuckt und bissig seine Zweifel angemeldet.

Tyorl schaute wieder zum Lager. Finn lag in seinen Mantel gewickelt am Feuer und schlief. Kern, den der Elf vor einer Stunde mit der Wache abgelöst hatte, saß da und starrte in die Schatten. Tyorl fragte sich, wann er schlafen würde.

Kerns Schweigen war immer mit gutmütigem, amüsiertem Beobachten einhergegangen. Der von Natur aus ruhige Heiler hatte das Reden größtenteils seinem geschwätzigen, kleinen Bruder überlassen. Jetzt kam es einem so vor, als hätte Lehrs Tod den sanften, humorvollen Glanz aus Kerns Augen geraubt. Kern wollte Rache und Tyorl ebenfalls.

Plötzlich erstarrte der Elf. Es war das erste Mal, daß er sich eingestanden hatte, daß er Kelida für tot hielt.

Der schwarze Drache war von Osten gekommen. Aus Thorbardin. Das konnte nur bedeuten, daß die Revolution, die Stanach befürchtet hatte, erfolgreich gewesen war. Realgar regierte im Zwergenkönigreich und gebot über Drachen. Und Verminaard war sein Verbündeter.

Wieder flüsterte er einen Fluch, diesmal weil sich seine Kehle plötzlich zusammenschnürte. Letzte Nacht hatte er sich gefragt, ob er in Kelida verliebt war, eine Vorstellung, der er ausweichen wollte, obwohl er auf den weichen Klang ihrer Stimme wartete und auf die Wärme ihrer Berührung hoffte.

Heute nacht – zu spät – wußte er, daß er sie liebte. Jetzt konnte er nur noch in der Erinnerung ihrer Stimme lauschen, ihre leichte Hand auf seinem Arm fühlen oder das Glitzern der Sonne in ihrem Haar sehen. Hätte er es ihr gestanden? Doch, auf der Stelle! Und was war mit Hauk?

Der Elf lächelte bitter. Das war jetzt wohl ziemlich egal. Sie waren beide tot, und er hatte nur eine Handvoll Erinnerungen an ein Bauernmädchen, das im Wirtshaus gearbeitet hatte. Es war zu spät, sich zu fragen, was daraus hätte werden können. Es war vorbei.

Tyorl nahm seinen Wachgang wieder auf. Links von ihm war das Buschfeuer, vor und hinter ihm die Schatten. Zu spät für alles außer Rache, dachte er kaltblütig. Egal, wer Thorbardin jetzt regierte. Er würde einen Weg zu den Bergstädten finden, und er würde seine Rache für Kelida und für Hauk bekommen.

Aus einer nachtschwarzen Schlucht westlich des Lagers beobachtete Lavim, wie Tyorl auf dem Hügel auf und ab lief. So schnell, wie das nur Kinder können, hatte er sich von dem Wüstenmarsch erholt und war gleich in den Schatten der Dämmerung verschwunden und den drei Waldläufern aus dem Weg gegangen. Er wußte, daß Tyorl jetzt hinter der Flöte her sein würde. Zuerst wollte er in Ruhe mit Pfeifer reden, ohne daß Tyorl dauernd nach der Flöte fragte. Lavim brannte einiges auf der Seele, und nur Pfeifer würde die richtigen Antworten wissen.

Er setzte sich bequem zwischen den Steinen zurecht und brütete vor sich hin. Das Problem war, daß Pfeifer ihm nicht mehr geantwortet hatte, seit der Kender die Flöte herausgeholt hatte. Lavims Finger fuhren über das glatte, rote Kirschbaumholz, und er lächelte schlau. Vielleicht war Pfeifers fehlende Erwiderung auf seine letzte Frage auch eine Antwort.

»Ich glaube«, sagte er, während er mit der Flöte dahin zeigte, wo Pfeifer stehen müßte, wenn er woanders als in seinem Kopf wäre, »daß ich diese Flöte benutzen kann, wann immer ich will.«

Pfeifer schwieg.

»Ich glaube, es ist egal, ob du der Flöte sagst, welche Melodie sie spielen soll, oder nicht.« Pfeifer schwieg immer noch.

Lavim grinste. »Das ist es, was ich glaube. Weißt du, warum? Schön, ich sag’s dir: Weil dieser Stinkespruch meine eigene Idee war und die Flöte das Lied gespielt hat, das ich brauchte, und zwar als ich es brauchte. Darum willst du, daß ich Tyorl die Flöte gebe. Ich kann die Magie benutzen, und du brauchst mir nicht zu sagen, wie. Ich brauche dich nur in meinem Kopf, damit die Flöte funktioniert. Was meinst du dazu?« Ich meine, du bist ein Esel, Lavim.

Lavim ließ sich nicht beirren. »Möglich, möglich. Aber ich bin ein Esel mit einer Zauberflöte.«

Pfeifer antwortete mit kühler Stimme. Genau, und ich könnte mir nichts Dümmeres oder Gefährlicheres vorstellen.

Lavim sah, wie sich das Mondlicht in dem seidenmatten Holz spiegelte. »Du bist sauer auf mich, nicht wahr? Komisch, eigentlich müßte ich sauer auf dich sein, weil du behauptet hast, ich brauchte dich, damit du mir sagst, wie die Magie funktioniert.« Er nickte ernsthaft. »Freunde lügen einander nicht an.«

Freunde bestehlen einander auch nicht, Lavim.

Getroffen sprang der Kender auf. »Ich habe die Flöte nicht gestohlen! Du hast sie mir gegeben!«

Ich habe dich gebeten, sie Tyorl zu geben.

»Und ich habe gesagt, daß ich das mache. Und zwar sehr bald!«

Lavim, ich weiß nicht, was du planst, aber es sollte lieber nichts mit der Flöte zu tun haben. Du kannst nur ein paar Sprüche mit der Zauberkraft der Flöte bewirken, und du weißt nicht, welche.

Lavim kicherte. »Zwei davon kenne ich. Ein Stinkezauber und ein Transportzauber. Und jetzt brauche ich keinen Stinkespruch!«

Er verließ die Schlucht, krabbelte die steilen Hänge hoch und rannte zum Lager.

»Es ist ganz einfach!« krähte er. »Wir teleportieren uns einfach nach Thorbardin und retten Kelida und Stanach und vielleicht auch diesen alten Hauk!«

Nein, Lavim, nein! Für diesen Zauber brauchst du auch Worte. Du mußt sie genauso kennen wie die Noten. Wenn du den Spruch ohne die richtigen Worte versuchst, stehst du mitten im Nichts neben drei Staubhaufen, die mal deine Freunde waren!

Lavim blieb stehen und legte stirnrunzelnd den Kopf schief. Dann glättete ein Lächeln die Falten in seinem verwitterten Gesicht. Er hatte auch für dieses Problem eine Lösung. »Das macht nichts, Pfeifer. Sag sie mir einfach, wenn ich sie wissen muß.«

Pfeifer fühlte sich, als galoppierte er auf einem scheuenden Pferd einen Berg hinunter. Er wünschte sich verzweifelt einen festen Halt. Den würde er brauchen. Denn jetzt war Lavim durch nichts mehr zu bremsen.


Als Tyorl sah, wie der Kender die Zauberflöte herauszog, wußte er, daß auch er die Geschichte mit dem Geist glaubte. Als Lavim den Elf vom Hügel herunterwinkte, keuchte er von seinem Spurt wie ein alter Blasebalg.

»Tyorl! Komm her! Ich habe alles rausgekriegt! Ich kann uns nach Thorbardin bringen, bevor du es auch nur merkst!«

Sofort hörte er in sich eine Stimme, die gedämpfte, kummervolle, flüsternde Stimme von Stanach. »Pfeifer ist in Thorbardin für seine Transportzauber bekannt.«

Pfeifer, betete Tyorl stumm. Pfeifer, laß das nicht zu!

Tyorl sprang los, stolperte über einen spitzen Stein und rutschte den größten Teil des Hangs in der Hocke hinunter. Nur die Götter wußten, was geschehen würde, wenn Lavim einen Transportzauber falsch benutzte. Worte und Gesten für einen Spruch waren genau festgelegt. Und genauso exakt mußten die Noten gespielt werden, wenn der Spruch mit einer Zauberflöte beschworen wurde! Was konnte nicht alles aus Versehen schiefgehen!

Tyorl hechtete auf Lavim zu.

Finn desgleichen.

Und Kern ebenfalls.

Der Kender ging in einem Gewirr von Armen und Beinen unter, trat und wand sich, ließ die Flöte jedoch nicht los.

»He! Wartet doch! Was wollt ihr? Laßt mich doch! Ihr versteht das nicht, ich – «

Tyorl kam unter Finns Knie hervor, ohne Lavims Knöchel loszulassen. Finn wich Kerns Ellbogen aus, wobei er den Kender weiter an der Taille festhielt. Kern versuchte, Lavim auf die Beine zu stellen. Keiner hielt seine Hände fest, und keiner dachte daran, ihm den Mund zuzuhalten.

Lavim war davon überzeugt, daß seine Kameraden irgendwie falsch verstanden hatten, was er gesagt hatte – wenn sie ihn verstanden hätten, müßten sie doch viel glücklicher aussehen. Also atmete er tief ein und hob die Flöte an die Lippen.

Er hatte irgendwie geglaubt, die Melodie für einen Transportzauber würde wenigstens ein bißchen aufregender sein als drei kleine Töne. Als er den ersten hörte, zeterte Pfeifer in seinem Kopf. Lavim fand, daß der Spruch etwas zarter klingen mußte, irgendwie sanfter als Flüche.

Er schien zu verschwimmen, sich zu strecken, und plötzlich drehte sich ihm der Magen um und verknotete sich.

Sehr seltsam, dachte er, als alles Gefühl aus ihm wich (anscheinend durch Finger und Zehenspitzen). Ich glaube, wenn ich aus diesem Zauber rauskomme, muß ich mich als erstes übergeben. Am besten landen wir außerhalb der Stadt. Es wäre doch etwas peinlich, wenn wir unser Abendessen vor einem Haufen – Und dann fühlte Lavim gar nichts mehr.


Tyorl knallte mit einem kräftigen Bums auf den Boden. Als er um Atem rang, füllten sich seine Lungen mit Rauch. Flammen leckten an seinen Fingern, und er hätte aufgeschrien, wenn er nur genug Luft bekommen hätte.

Der verdammte Kender hat uns in Brand gesteckt!

»Hoch, Tyorl! Hoch!«

Das war Finn. Aus alter Gewohnheit wollte Tyorl gehorchen. Er zog ein Knie an, rutschte aus und fiel in kaltes Wasser.

Der verdammte Kender hat uns mitten in den Ozean verfrachtet!

»Tyorl, bitte steh auf!« Das war Lavim, und obwohl es Tyorl nicht hätte schwören können, daß da Furcht aus der Stimme des Kenders sprach, zappelte und planschte er herum, bis er endlich auf die Beine kam. Mit einer Handbewegung wischte er sich zähen Matsch und schleimige Gräser aus dem Gesicht. Taumelnd drehte er sich zu dem Kender um. Er sah Lavim nur als eine kleine, unscharfe Gestalt in der raucherfüllten Nacht. »Im Namen der Götter«, fauchte er, »wo sind wir?«

»Es – es tut mir leid, Tyorl. Ich wollte nicht hier landen, wirklich nicht. Ich wollte bloß kurz vor der Stadt landen, weil mir ein bißchen, äh, flau war, und ich fand es wirklich ziemlich unhöflich, ohne Einladung mitten in einem fremden Haus aufzutauchen. Und dann habe ich irgendwie nicht gewußt, was ich machen soll, und ich konnte niemanden fragen, und der ganze Spruch hat sich irgendwie ungefähr hier…«, er kratzte sich den Kopf und sah die Flammen näher kommen, »…äh, aufgelöst. Geht es dir wieder gut?«

»Wo ist die Flöte?«

Lavim zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ich – «

»Wo ist die Flöte?«

Da holte Lavim tief Luft und lächelte verlegen. »Ich hab’ sie.«

»Gib sie her.«

»Aber, Tyorl, ich – «

»Sofort!« brüllte Tyorl.

Niedergeschlagen händigte Lavim ihm die Flöte aus. »Na gut. Aber Pfeifer sagt – «

Tyorls Stimme klang leise, gefährlich und drohend. »Was sagt Pfeifer?«

»Wirf sie nicht weg. Er sagt, wir brauchen sie vielleicht noch.«

Der Rauch wurde dichter, und als er sich umschaute, sah Tyorl, wie Finn Kern auf die Beine half. Die vier standen bis zu den Knien im Wasser und waren von hohem Schilf umgeben. Nur eine Viertelmeile entfernt standen Rohrkolben in kleinen Gruppen wie Fackeln in Flammen – und das Feuer reichte so weit nach Westen, wie Tyorl sehen konnte. Funken und glühende Grashalme wurden vom Wind durch die schwarze Luft getrieben. Er packte Lavim fest an der Schulter und riß ihn herum.

»Schau mal.«

Lavim wand sich. »Ich seh’s ja.«

»Wir sind im Sumpf, Lavim, und wir sind mitten im Feuer. Ist das vielleicht kurz vor der Stadt?«

»Nein, aber – «

Finn patschte durch den stinkenden Schlamm und das abgestandene Wasser. Er ergriff Tyorls Arm und zeigte nach Osten. »Da lang. Ich kenne mich in dieser Gegend überhaupt nicht aus, aber uns bleibt nichts anderes übrig, als in diese Richtung zu laufen.« Mit harten, blauen Augen sah er erst Lavim an und dann den Elf. »Ich finde, wir sollten die kleine Kröte umbringen und verschwinden.«

Lavim wollte sich gerade entschuldigen, doch bei diesen Worten klappte sein Mund sofort wieder zu. Er sah Finn im Rauch verschwinden und wartete, bis Kern vorbei war, bevor er zu Tyorl hochschaute. »Das hat er doch nicht ernst gemeint, oder?«

Tyorl antwortete nicht, sondern trieb Lavim vor sich her. Pfeifer, fragte Lavim stumm, hat Finn das etwa ernst gemeint?

Wenn nicht er, sagte Pfeifer, dessen Geisterstimme schwach und rauh klang, dann ich!

Aber – aber Pfeifer, dachte er, ich wollte doch nur helfen. Ich wollte doch nur – Pfeifer?

Der Magier antwortete nicht.

Ach, komm schon, Pfeifer. Wirklich, ich wollte nur helfen!

Guck dich doch um, Lavim, regte sich Pfeifer auf. Du hast nur dafür gesorgt, daß ihr alle gebraten werdet, bevor ihr auch nur in die Nähe von Thorbardin kommt.

Lavim sah sich um und stolperte, weil er gleichzeitig nach hinten schauen und nach vorne laufen wollte. Die Flammenherde hinter ihnen kamen näher, prasselten laut und warfen wilde Funkenschauer in den schwarzen Nachthimmel.

Weise beschloß Lavim zu warten, bis sie aus dem Feuer und den Sümpfen heraus waren, bevor er Tyorl und Pfeifer darauf aufmerksam machte, daß sie zwar nicht genau in Thorbardin, aber doch mehrere Tagesreisen näher dran waren.

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