Ein Schriftsteller vergisst nie, wann er zum ersten Mal für eine Geschichte ein paar Münzen oder Lob empfangen hat. Er vergisst nie, wann er zum ersten Mal das süße Gift der Eitelkeit im Blut gespürt und geglaubt hat, wenn er nur seine Talentlosigkeit vor den anderen geheim halten könne, werde ihm der Traum von der Literatur ein Dach über dem Kopf, eine warme Mahlzeit am Ende des Tages und schließlich das Heißersehnte verschaffen: seinen Namen auf ein paar kläglichen Blättern gedruckt zu sehen, die ihn mit Gewissheit überleben werden. Ein Schriftsteller ist dazu verdammt, immer wieder an diesen Moment zu denken, denn wenn es so weit ist, ist er bereits verloren, und seine Seele kennt ihren Preis.
Ich sollte das zum ersten Mal an einem weit zurückliegenden Dezembertag des Jahres 1917 erleben. Ich war siebzehn und arbeitete bei der Stimme der Industrie, einer heruntergewirtschafteten Zeitung, die in einer Art Höhle vor sich hinsiechte; das Gebäude hatte einst eine Schwefelsäurefabrik beherbergt, und seine Mauern schwitzten noch immer den beißenden Dunst aus, der Möbel, Kleider, Seelen und sogar die Schuhsohlen zerfraß. Der Sitz der Zeitung erhob sich hinter einem Wald aus Engeln und Kruzifixen des Friedhofs von Pueblo Nuevo, und aus der Ferne verschmolz der Schattenriss des Hauses mit der Silhouette der Gräberwelt vor einem Horizont aus Hunderten von Schloten und Fabriken, welche eine dauernde Dämmerung aus Scharlach und Schwarz über Barcelona legten.
An dem Abend, da mein Leben eine neue Richtung einschlagen sollte, beliebte mich der stellvertretende Chefredakteur, Don Basilio Moragas, kurz vor Schluss in das düstere Kabäuschen zuhinterst in der Redaktion zu zitieren, das ihm zugleich als Büro wie Raucherzimmer diente. Don Basilio war ein wild aussehender Mann mit buschigem Schnauzbart, der von Zimperlichkeiten nicht viel hielt und die Theorie vertrat, verschwenderisch gebrauchte Adjektive und Adverbien seien etwas für Perverse und Leute mit Vitaminmangel. Wenn er einen Redakteur mit einem Hang zu blumiger Prosa ertappte, verdonnerte er ihn drei Wochen lang zum Verfassen von Todesanzeigen. Hatte der Betroffene nach dieser Reinigung einen Rückfall, so versetzte ihn Don Basilio lebenslänglich zur Handarbeitsseite. Wir hatten alle Angst vor ihm, und das wusste er nur zu gut.
»Sie haben mich kommen lassen, Don Basilio?«, fragte ich schüchtern.
Der stellvertretende Chefredakteur warf einen raschen Blick auf mich. Ich trat in das Büro, das den Geruch nach Schweiß und Tabak ausdünstete — in dieser Reihenfolge. Don Basilio ignorierte meine Anwesenheit und redigierte mit dem Rotstift einen der Artikel weiter, die auf seinem Schreibtisch lagen. Zwei Minuten lang korrigierte, ja amputierte er den Text und schimpfte dabei leise vor sich hin, als wäre ich überhaupt nicht vorhanden. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und als ich einen Stuhl an der Wand entdeckte, machte ich Anstalten, mich zu setzen.
»Wer hat Ihnen gesagt, Sie sollen sich setzen?«, murmelte Don Basilio, ohne vom Text aufzuschauen.
Ich richtete mich eilends wieder auf und hielt den Atem an. Der stellvertretende Chefredakteur stieß einen Seufzer aus, ließ den Rotstift auf den Tisch fallen und lehnte sich in seinem Sessel zurück, um mich wie ein nutzloses Stück Gerümpel zu betrachten.
»Man hat mir gesagt, Sie schreiben, Martín.«
Ich schluckte, und als ich den Mund auftat, kam ein lächerlich dünnes Stimmchen heraus.
»Ein wenig, also, ich weiß nicht, ich meine, nun ja, ich schreibe…«
»Ich hoffe, das machen Sie besser, als Sie sprechen. Und was schreiben Sie denn, wenn man fragen darf?«
»Detektivgeschichten. Das heißt…«
»Ich verstehe schon.«
Den Blick, den mir Don Basilio schenkte, werde ich nie vergessen. Hätte ich gesagt, ich fertige aus frischem Mist Krippenfigürchen, so hätte ihn das dreimal mehr begeistert. Er seufzte abermals und zuckte die Achseln.
»Vidal sagt, Sie seien gar nicht so schlecht. Sie seien sogar ausgezeichnet. Allerdings — bei der Konkurrenz in diesen Hallen braucht man auch nicht weit zu laufen. Aber wenn Vidal meint…«
Pedro Vidal war die Edelfeder der Stimme der Industrie. Er verfasste jede Woche für die Vermischten Meldungen eine Kolumne, den einzigen lesenswerten Text in der ganzen Zeitung, und war Autor von einem Dutzend Kriminalromanen, die es zu einer bescheidenen Popularität gebracht hatten und von Gangstern des Raval handelten, welche gelegentlich das Schlafzimmer von Damen der oberen Zehntausend teilten. In seinen untadeligen Seidenanzügen und glänzenden italienischen Mokassins glich Vidal vom Äußeren und von den Gesten her einem Filmbeau. Das blonde Haar war stets peinlich genau gekämmt, der Schnurrbart wie mit dem Lineal gezogen, und er hatte das unbefangene, großzügige Lächeln von jemandem, der sich in der Welt wie in seiner Haut vollkommen wohlfühlt. Er entstammte einer Dynastie von Männern, die in Südamerika mit dem Zuckergeschäft ein Vermögen und nach ihrer Rückkehr bei der äußerst lukrativen Elektrifizierung der Stadt ihren Schnitt gemacht hatten. Sein Vater, Patriarch des Clans, war Mehrheitsaktionär der Zeitung, und Don Pedro nutzte die Redaktion als Spielwiese gegen die Langeweile, da er es an keinem einzigen Tag in seinem Leben nötig gehabt hatte zu arbeiten. Es spielte keine große Rolle, dass die Zeitung so viel Geld verlor wie die neuen Autos Öl, von dem allmählich die Straßen Barcelonas schillerten. Die Vidal-Dynastie sammelte nach der Fülle von Adelstiteln nun Banken und im Ensanche Grundstücke von der Größe kleiner Fürstentümer.
Pedro Vidal war der Erste gewesen, dem ich die Skizzen gezeigt hatte, die ich schrieb, als ich, fast noch ein Kind, in der Redaktion Kaffee und Zigaretten verteilte. Immer hatte er Zeit für mich, um mein Geschreibsel zu lesen und mir gute Ratschläge zu geben. Nach und nach wurde ich sein Assistent und durfte seine Texte auf der Maschine abtippen. Auch war er es, der mir sagte, wenn ich für mein Schicksal im russischen Roulette der Literatur setzen wolle, sei er bereit, mich zu unterstützen und bei den ersten Schritten an der Hand zu nehmen. Im Vertrauen auf sein Wort überließ ich mich jetzt den Klauen Don Basilios, des Redaktionszerberus.
»Vidal ist ein sentimentaler Mensch, der noch an diese zutiefst antispanischen Legenden wie die von der Leistungsgesellschaft glaubt, oder dass man dem eine Chance geben soll, der es verdient, und nicht dem Protegé vom Dienst. Betucht, wie er ist, kann er es sich leisten, als Lyriker durch die Welt zu wandeln. Hätte ich auch nur ein Hundertstel seiner Peseten, ich schriebe längst Sonette, und die Vögelchen würden mir aus der Hand fressen, so verzaubert wären sie von meiner Güte und meinem Charme.«
»Señor Vidal ist ein großer Mann«, protestierte ich.
»Mehr als das. Er ist ein Heiliger, weil er mir trotz Ihres Hungerleidergesichts seit Wochen in den Ohren liegt, wie talentiert und fleißig der Redaktionsbenjamin sei. Er weiß, dass ich im Grunde ein weichherziger Mensch bin, und zudem hat er mir ein Kistchen Havannazigarren versprochen, wenn ich Ihnen diese Chance gebe. Und wenn Vidal das sagt, dann ist das für mich, als käme Moses mit den ganzen in Stein gehauenen offenbarten Wahrheiten auf dem Rücken den Berg runter. Also, kurzum, da Weihnachten ist und damit Ihr Freund endlich Ruhe gibt, biete ich Ihnen an, wie ein Held zu debütieren: gegen Gott und die Welt.«
»Allerherzlichsten Dank, Don Basilio. Ich versichere Ihnen, es wird Ihnen nicht leidtun, dass Sie…«
»Nicht so hastig, Bürschchen. Was halten Sie denn so von verschwenderisch und wahllos gebrauchten Adjektiven und Adverbien?«
»Eine Schande, die unter Strafe gestellt werden sollte«, antwortete ich mit der Überzeugung eines militanten Konvertiten.
Don Basilio nickte.
»Sie sind auf dem rechten Weg, Martín. Sie haben klare Prioritäten. In diesem Metier überlebt nur, wer Prioritäten hat und nicht Prinzipien. Wir machen Folgendes. Setzen Sie sich und spitzen Sie die Ohren, ich werde es Ihnen nicht zweimal sagen.«
Sein Plan war folgender. Aus Gründen, über die sich Don Basilio nicht weiter auslassen mochte, war der Artikel für die letzte Seite der Sonntagsausgabe, traditionellerweise ein literarischer Text oder ein Reisebericht, in letzter Minute ausgeblieben. Vorgesehen gewesen war eine Erzählung patriotischen Zuschnitts voll glühender Schwärmereien über die Heldentaten der Almogavaren. Diese im Dienst der katalanisch-aragonesischen Krone stehenden Soldaten hatten gleichsam im Vorbeigehen das Christentum gerettet und alles, was ehrbar war unter dem Himmel, vom Heiligen Land bis zum Llobregat-Delta. Leider war der Text nicht rechtzeitig eingetroffen, oder aber Don Basilio hatte, wie ich vermutete, nicht die geringste Lust, ihn abzudrucken. Damit war sechs Stunden vor Redaktionsschluss kein anderer Ersatz in Sicht als ein ganzseitiges Inserat für Fischbeinkorsetts, die eine traumhafte Taille und ungestraften Cannellonigenuss verhießen. In diesem Dilemma hatte die Redaktionsleitung beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu packen und die zögerlichen literarischen Talente des Hauses in die Pflicht zu nehmen, um das Loch zu stopfen und unser treues Familienpublikum mit einem vierspaltigen Opus von humanistischer Tendenz zu ergötzen. Die Liste bewährter Talente, auf die man zurückgreifen konnte, bestand aus zehn Namen, von denen natürlich keiner der meine war.
»Mein lieber Martín, die Umstände haben sich verschworen, und keiner der Paladine unserer Belegschaft ist persönlich anwesend oder in angemessener Zeit aufzufinden. Angesichts der drohenden Katastrophe habe ich beschlossen, Sie für befähigt genug zu halten.«
»Sie können auf mich zählen.«
»Ich zähle auf fünf Blatt in doppeltem Zeilenabstand vor Ablauf von sechs Stunden, Don Edgar Allan Poe. Und bringen Sie mir eine Geschichte, keine Abhandlung. Wenn ich Predigten will, gehe ich zur Christmette. Bringen Sie mir eine Geschichte, die ich nicht schon gelesen habe, und wenn ich sie schon gelesen habe, bringen Sie sie mir so gut geschrieben und erzählt, dass ich es gar nicht erst merke.«
Ich wollte flugs entschwinden, da stand Don Basilio auf, ging um den Schreibtisch herum und legte mir eine Pranke vom Ausmaß und Gewicht eines Ambosses auf die Schulter. Erst jetzt, von nahem, sah ich, dass seine Augen lächelten.
»Wenn die Geschichte anständig ist, werde ich Ihnen zehn Peseten zahlen. Und wenn sie mehr als anständig ist und unseren Lesern zusagt, werde ich weitere davon abdrucken.«
»Sonst noch irgendeine Anweisung, Don Basilio?«, fragte ich.
»Ja — enttäuschen Sie mich nicht.«
Die folgenden sechs Stunden verbrachte ich wie in Trance. Ich richtete mich in der Mitte der Redaktion an dem Tisch ein, der Vidal an den Tagen vorbehalten war, da es ihm beliebte, hier die Zeit totzuschlagen. Der große Raum war menschenleer und in die Düsternis des Rauchs von zehntausend Zigaretten getaucht. Ich schloss einen Moment die Augen und beschwor ein Bild herauf, eine schwarze Wolkendecke, deren Regen sich auf die Stadt ergoss, einen Mann mit Blut an den Händen und einem Geheimnis im Blick, der sich durch die Schatten tastete. Ich wusste nicht, wer er war, noch wovor er floh, aber in den nächsten sechs Stunden sollte er mein treuster Freund werden. Ich spannte ein Blatt in die Walze und presste ohne Pause alles, was ich zu bieten hatte, hervor. Ich rang mit jedem Wort, jedem Satz, jeder Wendung, jedem Buchstaben und jedem Bild, als wären sie die letzten meines Lebens. Ich schrieb und schrieb Zeile für Zeile um, als ob meine Existenz davon abhinge, und dann schrieb ich alles abermals um. Meine einzige Gesellschaft waren das unablässige, sich in den Schatten des Raumes verlierende Tastengeklapper und die große Wanduhr, die die bis zum Morgengrauen verbleibenden Minuten aufzehrte.
Kurz vor sechs Uhr riss ich das letzte Blatt aus der Maschine und seufzte erschöpft in dem Gefühl, mein Hirn sei ein Wespennest. Ich hörte die langsamen, schweren Schritte Don Basilios näher kommen, der aus einem seiner kontrollierten Nickerchen erwacht war. Ich gab ihm die Seiten, hielt aber seinem Blick nicht stand. Er setzte sich an den Nebentisch und knipste die Lampe an. Seine Augen glitten auf der ersten Seite hin und her, ohne eine Regung erkennen zu lassen. Dann deponierte er die Zigarette für einen Augenblick auf der Tischkante, sah mich an und las laut die erste Zeile: »Die Nacht bricht über die Stadt herein, und in den Straßen liegt Pulvergeruch wie der Hauch eines Fluches.«
Don Basilio warf mir einen schiefen Blick zu, und ich verschanzte mich hinter einem Lächeln, das all meine Zähne entblößte. Wortlos stand er auf und zog mit meiner Geschichte von dannen. Ich sah ihn auf sein Büro zugehen und hinter sich die Tür schließen. Wie versteinert blieb ich stehen und wusste nicht, ob ich davonlaufen oder auf das Todesurteil warten sollte. Zehn Minuten später, die mir wie zehn Jahre erschienen, ging die Tür des stellvertretenden Chefredakteurs wieder auf, und seine Donnerstimme schallte durch die Redaktion: »Martín. Kommen Sie bitte.«
Ich schleppte mich so langsam, wie es nur ging, vorwärts und schrumpfte mit jedem Schritt um mehrere Zentimeter, bis mir nichts anderes mehr übrigblieb, als den Kopf in sein Büro zu stecken und aufzuschauen. Don Basilio, den schrecklichen Rotstift in der Hand, musterte mich kühl. Ich wollte schlucken, aber mein Mund war wie ausgedorrt. Don Basilio ergriff die Blätter und gab sie mir zurück. Ich nahm sie entgegen und wandte mich so schnell wie möglich mit dem Gedanken zur Tür, in der Lobby des Hotels Colón werde ein weiterer Schuhputzer allemal sein Auskommen finden.
»Bringen Sie das in die Setzerei runter, und dann soll man es prägen«, sagte die Stimme hinter mir.
In der Annahme, brutal zum Narren gehalten zu werden, drehte ich mich um. Don Basilio zog seine Schreibtischschublade auf, zählte zehn Peseten ab und legte sie auf den Tisch.
»Das ist für Sie. Ich empfehle Ihnen, sich damit ein neues Anzüglein machen zu lassen — seit vier Jahren sehe ich Sie in derselben Kluft, und sie ist Ihnen immer noch sechs Nummern zu groß. Wenn Sie mögen, gehen Sie zu Señor Pantaleoni in dessen Schneiderei in der Calle Escudellers und sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt. Er wird Sie gut behandeln.«
»Vielen Dank, Don Basilio. Das werde ich tun.«
»Und schreiben Sie mir eine weitere solche Erzählung. Diesmal gebe ich Ihnen eine Woche. Aber schlafen Sie mir nicht ein. Und bitte mit weniger Toten — der Leser von heute will einen verzuckerten Schluss, bei dem die Größe des menschlichen Geistes den Sieg davonträgt, und all diesen Zinnober.«
»Ja, Don Basilio.«
Der stellvertretende Chefredakteur nickte und gab mir die Hand.
»Gute Arbeit, Martín. Am Montag will ich Sie an Juncedas ehemaligem Tisch sehen, das ist jetzt Ihrer. Sie kommen in die Vermischten Meldungen.«
»Ich werde Sie nicht enttäuschen, Don Basilio.«
»Nein, enttäuschen werden Sie mich nicht. Sie werden mich im Regen stehen lassen, früher oder später. Und Sie werden gut daran tun — Sie sind kein Journalist und werden es nie sein. Aber Sie sind auch noch kein Kriminalautor, obwohl Sie es meinen. Bleiben Sie eine Zeitlang hier, und wir werden Ihnen zwei, drei Dinge beibringen, die man immer brauchen kann.«
Einen kurzen Augenblick verlor ich die Selbstbeherrschung, und es befiel mich ein so enormes Gefühl der Dankbarkeit, dass ich diesen Koloss am liebsten umarmt hätte. Don Basilio, die wilde Maske wieder zurechtgerückt, heftete einen scharfen Blick auf mich und deutete zur Tür.
»Keine Sentimentalitäten bitte. Machen Sie zu, wenn Sie hinausgehen. Von außen. Und fröhliche Weihnachten.«
»Fröhliche Weihnachten.«
Als ich am nächsten Montag in die Redaktion kam, um mich zum ersten Mal an meinen eigenen Schreibtisch zu setzen, fand ich einen braunen Umschlag mit einer Schleife vor und darauf meinen Namen in der Schrift, die ich von jahrelangem Abtippen her kannte. Ich riss ihn auf. Darin steckte die letzte Seite der Sonntagsausgabe, auf der meine Geschichte eingerahmt und mit folgender Notiz versehen war:
»Das ist erst der Anfang. In zehn Jahren werde ich der Lehrling und du der Meister sein. Dein Freund und Kollege Pedro Vidal.«
Mein literarisches Debüt bestand die Feuertaufe, und Don Basilio hielt Wort und gab mir die Chance, zwei weitere Erzählungen ähnlicher Art zu publizieren. Bald beschloss die Chefredaktion, meinem strahlenden Talent allwöchentlich Raum zur Entfaltung zu geben, vorausgesetzt, ich käme weiterhin pünktlich und zum selben Entgelt meinen Redaktionsverpflichtungen nach. Berauscht von Eitelkeit und Erschöpfung, verbrachte ich den Tag mit dem Umschreiben von Texten meiner Kollegen und dem hastigen Abfassen zahlloser Schreckensmeldungen, um danach die Nacht für mich zu haben. Mutterseelenallein im Redaktionssaal verfasste ich eine operettenhafte Abenteuerserie, die mir schon lange im Kopf herumging und die eine schamlose Kreuzung zwischen Dumas, Sue, Feval und Stoker darstellte: Die Geheimnisse von Barcelona lautete ihr Titel. Ich schlief täglich etwa drei Stunden und sah aus, als hätte ich das in einem Sarg getan. Diesen Hunger, der nichts mit dem Magen zu tun hat, sondern einen von innen her auffrisst, hatte Vidal nie gekannt, und er fand, ich verbrenne mir das Hirn und würde, wenn ich so weitermache, noch vor meinem zwanzigsten Geburtstag meine eigene Beerdigung feiern. Don Basilio, den mein Fleiß nicht störte, hatte andere Vorbehalte. Er druckte jedes Kapitel nur zähneknirschend ab, ärgerlich über das, wie er fand, Übermaß an krankhafter Phantasie und die unglückselige Vernachlässigung meines Talents zugunsten von Themen und Inhalten zweifelhaften Geschmacks.
Bald gebaren Die Geheimnisse von Barcelona einen kleinen Star des Fortsetzungsromans, eine Heldin, die ich mir ausgemalt hatte, wie man sich eine Femme fatale nur mit siebzehn Jahren ausmalen kann. Chloé Permanyer war die dunkle Fürstin der Vampire. Ihre Intelligenz war enorm und nur ihre Hinterlist größer, sie trug stets die revolutionärsten und teuersten Dessous und fungierte als Geliebte und linke Hand des geheimnisvollen Baltasar Morel. Dieser Morel war der Kopf der Unterwelt und wohnte in einer unterirdischen, von Automaten und makabren Reliquien bevölkerten Villa, deren geheimer Zugang sich in den Tunnels unter den Katakomben des Barrio Gótico befand. Chloés Lieblingsmethode, ihren Opfern den Garaus zu machen, bestand darin, sie durch einen hypnotischen Schleiertanz zu bezirzen und dann mit einem vergifteten Lippenstift zu küssen, der, während sie ihren Opfern in die Augen schaute, sämtliche Muskeln ihres Körpers lahmte und sie dann lautlos ersticken ließ — sie selbst schluckte vorher ein in Dom Perignon Grand Cru aufgelöstes Gegengift. Chloé und Baltasar hatten ihren eigenen Ehrenkodex: Sie liquidierten nur Abschaum und befreiten die Welt von Mördern, Geschmeiß, Frömmlern, Fanatikern, dogmatischen Philistern und Kretins aller Art, die diese Welt im Namen von Fahnen, Göttern, Sprachen, Rassen oder anderen Idiotien, mit denen sie ihre Habgier und Schäbigkeit bemäntelten, für alle anderen zu einem Unort machten. Für mich waren die beiden wie alle echten Helden Antihelden. Don Basilio, dessen literarischer Geschmack im Goldenen Zeitalter der spanischen Dichtung steckengeblieben war, hielt das Ganze für einen Riesenunsinn, aber da die Geschichten gut aufgenommen wurden und er eine widerwillige Zuneigung für mich empfand, tolerierte er meine Extravaganzen als jugendlichen Überschwang.
»Ihr Handwerk ist feiner ausgebildet als Ihr Geschmack, Martín. Die Krankheit, unter der Sie leiden, hat einen Namen, und der lautet Grand-Guignol, was für das Drama dasselbe ist wie Syphilis für die Geschlechtsteile. Sie zu bekommen mag ja lustvoll sein, aber von da an geht es nur noch bergab. Sie sollten die Klassiker lesen — oder wenigstens Don Benito Perez Galdós, um Ihre literarischen Ambitionen zu schärfen.«
»Aber den Lesern gefallen die Erzählungen«, argumentierte ich.
»Das ist nicht Ihr Verdienst. Es ist das Verdienst der Konkurrenz, deren Texte so schlecht und pedantisch sind, dass schon ein Absatz von ihnen genügt, um einen Esel in einen scheintoten Zustand zu überführen. Würden Sie doch verdammt noch mal den Zustand der Reife erreichen und endlich vom Baum der verbotenen Frucht fallen!«
Ich nickte, scheinbar zerknirscht, aber insgeheim hätschelte ich dieses sündige Wort, Grand-Guignol, und sagte mir, jede Sache, wie unbedeutend sie auch sein mochte, brauche zur Verteidigung ihrer Ehre einen Vorkämpfer.
Schon wollte ich mich für den glücklichsten aller Sterblichen halten, als ich entdeckte, wie sehr es einigen Zeitungskollegen zu schaffen machte, dass der Benjamin und das offizielle Redaktionsmaskottchen seine ersten Schritte in der Welt der Belletristik getan hatte, wo doch ihr eigenes literarisches Streben seit Jahren im Elend eines grauen Limbus daniederlag. Dass die Leser diese bescheidenen Erzählungen verschlangen und mehr schätzten als alle anderen in den letzten zwanzig Jahren erschienenen Zeitungstexte, machte alles nur noch schlimmer. In wenigen Wochen sah ich, wie die, die ich kurz zuvor noch als meine Familie betrachtet hatte, in verletztem Stolz zu feindseligen Richtern wurden, welche mir den Gruß und jedes Wort versagten und entrüstet ihr verschmähtes Talent hinter meinem Rücken an spöttischen und verächtlichen Ausdrücken wetzten. Mein unfassliches Glück wurde mit Pedro Vidals Protektion, der Ignoranz und Dummheit unserer Abonnenten und unter Zuhilfenahme des weitverbreiteten, stets willkommenen nationalen Irrglaubens erklärt, Erfolg im Beruf sei der unwiderlegbare Beweis für Unfähigkeit und mangelnde Verdienste.
In Anbetracht dieser ebenso unerwarteten wie unheilvollen Wendung versuchte mich Vidal aufzumuntern, aber ich ahnte langsam, dass meine Tage in der Redaktion gezählt waren.
»Neid ist die Religion der Mittelmäßigen. Er stärkt sie, entspricht der sie zernagenden Unruhe, verdirbt letzten Endes ihre Seele und gestattet ihnen, die eigene Niedertracht und Gier zu rechtfertigen, bis sie glauben, diese seien Tugenden und die Himmelspforten stünden nur Unglücksraben wie ihnen offen, die durchs Leben ziehen, ohne eine weitere Spur zu hinterlassen als ihre hinterhältigen Bemühungen, all jene zu verachten, auszuschließen oder sogar, wenn möglich, zu vernichten, die durch ihre schiere Existenz ihre seelische und geistige Armut sowie ihre Unentschlossenheit bloßlegen. Selig der, den die Idioten anbellen, denn seine Seele wird ihnen nie gehören.«
»Amen«, pflichtete Don Basilio bei. »Wären Sie nicht reich geboren, hätten Sie Geistlicher werden müssen. Oder Revolutionär. Bei solchen Predigten sinkt selbst ein Bischof reumütig in die Knie.«
»Ja, ja, Sie haben gut lachen«, protestierte ich. »Aber der, den sie nicht riechen können, bin ich.«
Zu der ganzen Palette von Feindschaft und Eifersucht, die mir meine Bemühungen eintrugen, kam noch die triste Wirklichkeit, dass mein Gehalt, obwohl ich mir etwas darauf einbildete, ein Volksschriftsteller zu sein, nur eben ausreichte, um über die Runden zu kommen, mehr Bücher zu kaufen, als ich Zeit zum Lesen hatte, und in einer Pension eine elende Kammer zu mieten. Die Herberge war in einem Seitengässchen der Calle Princesa versteckt und wurde von einer frommen Galicierin geleitet, die auf den Namen Doña Carmen hörte. Doña Carmen forderte Diskretion und wechselte die Laken einmal monatlich, weshalb es für die Bewohner ratsam war, nicht den Versuchungen der Masturbation zu erliegen oder sich in schmutzigen Kleidern ins Bett zu legen. Die Zimmer auf die Anwesenheit weiblicher Personen zu kontrollieren erübrigte sich — selbst unter Todesdrohungen hätte sich keine Frau in Barcelona herabgelassen, dieses Loch zu betreten. Dort lernte ich, dass man im Leben, angefangen bei den Gerüchen, fast alles vergisst und dass, wenn ich in dieser Welt einen Wunsch hatte, es der war, nicht an einem solchen Ort sterben zu müssen. In besonders niedergeschlagenen Momenten, wie sie bei mir die Regel waren, sagte ich mir, außer einer Tuberkulose könne mich nur eines hier wegbringen: die Literatur — und wenn jemand daran zweifle, könne er sich meinetwegen mit einem Bimsstein wo kratzen, mir sei das egal.
Sonntags zur Gottesdienstzeit, wenn Doña Carmen zu ihrem wöchentlichen Rendezvous mit dem Allerhöchsten aufgebrochen war, nutzten die Gäste die Gunst der Stunde und versammelten sich im Zimmer unseres Veteranen, eines armen Schluckers namens Heliodoro, der als junger Mensch gern Matador geworden wäre, es aber nicht weiter als bis zum Stierkampfberichterstatter und Pissoirverantwortlichen auf der Sonnenseite der Plaza Monumental gebracht hatte.
»Die Kunst des Stierkampfes ist tot«, verkündete er immer. »Jetzt ist alles bloß noch das Geschäft von habgierigen Viehhändlern und seelenlosen Toreros. Das Publikum kann nicht unterscheiden zwischen dem Stierkampf für die dumpfen Massen und einer kunstvollen Muleta-Arbeit, die nur noch Sachverständige zu schätzen wissen.«
»Ach, hätte man Sie doch als Matador zugelassen, Don Heliodoro, es wäre alles ganz anders gekommen.«
»In diesem Land haben ja nur Nieten Erfolg.«
»Wem sagen Sie das.«
Auf Don Heliodoros wöchentlichen Sermon folgten die Lustbarkeiten. Am winzigen Fenster des Zimmers aufgereiht wie Schlackwürste, konnten die Insassen das Röcheln einer Bewohnerin des Nachbarhauses namens Marujita verfolgen, die wegen ihrer Scharfzüngigkeit und ihrer üppigen Paprikagestalt den Spitznamen Pfefferschote trug. Sie verdiente ihr Brot mit dem Scheuern einfacher Lokale, aber die Sonn- und Feiertage schenkte sie ihrem Freund, einem Priesterseminaristen, der mit dem Zug inkognito aus Manresa angefahren kam und sich hingebungsvoll dem Studium der Sünde widmete. Als sich meine Wohngenossen eben am Fenster zusammengepfercht hatten, um einen flüchtigen Blick auf Marujitas titanische Hinterbacken zu erhäschen, die sie bei jedem Stoß wie einen Kuchenteig an die Scheibe ihres Kellerfensters klatschen ließ, klingelte es an der Pensionstür. Da sonst niemand öffnen gehen und seinen Aussichtsplatz gefährden mochte, trennte ich mich von der Gruppe und ging zur Tür. Als ich aufmachte, sah ich mich einem ungewohnten und in diesem erbärmlichen Rahmen unwahrscheinlichen Anblick gegenüber. Don Pedro Vidal, wie er leibte, lebte und italienisch gekleidet zu sein liebte, stand lächelnd auf dem Treppenabsatz.
»Es werde Licht«, sagte er und trat ein, ohne meine Einladung abzuwarten.
Er blieb stehen, um sich den Raum anzusehen, der in diesem Loch als Speisesaal und Marktplatz diente, und seufzte angewidert.
»Vielleicht gehen wir besser in mein Zimmer«, schlug ich vor.
Auf dem Weg dorthin gellten die Jubelschreie und Hochrufe meiner Zimmernachbarn zu Ehren von Marujita und ihrer Sexualakrobatik durch die Wände.
»Welch heiterer Ort«, bemerkte Vidal.
»Darf ich Sie in die Präsidentensuite bitten, Don Pedro?«
Wir traten ein, und ich schloss die Tür. Nachdem er mein Zimmer mit einem summarischen Blick bedacht hatte, setzte er sich auf den einzigen vorhandenen Stuhl und sah mich verdrießlich an. Ich konnte mir unschwer vorstellen, welchen Eindruck meine bescheidene Klause in ihm hervorgerufen hatte.
»Wie finden Sie es?«
»Ganz reizend. Ich möchte ebenfalls gleich herziehen.«
Pedro Vidal lebte in der Villa Helius, einem monumentalen Jugendstilkasten mit drei Stockwerken und Turm, der sich an der Kreuzung von Calle Abadesa Olzet und Calle Panamá an die ansteigenden Hügelflanken von Pedralbes schmiegte. Das Haus war ihm vor zehn Jahren von seinem Vater geschenkt worden, in der Hoffnung, sein Sohn würde ein braver Bürger werden und eine Familie gründen, was Vidal schon seit Jahren hinauszögerte. Das Leben hatte ihn mit vielen Talenten gesegnet, darunter dem, seinen Vater mit jeder Geste und jedem Schritt zu enttäuschen und zu verletzen. Den Sohn mit unerwünschten Elementen wie mir sympathisieren zu sehen machte alles noch schlimmer. Ich erinnere mich, wie ich einmal, als ich meinem Mentor einige Unterlagen von der Zeitung nach Hause brachte, in einem der Salons der Villa Helius auf den Patriarchen des Vidal-Clans stieß. Als er mich erblickte, hieß er mich ein Glas Selters und ein sauberes Tuch holen, um ihm einen Fleck vom Revers zu reiben.
»Ich glaube, Sie irren sich, Señor. Ich bin kein Dienstbote.«
Ich erhielt ein Lächeln, das alles auf der Welt an seinen Platz rückte, ohne dass Worte nötig gewesen wären.
»Der sich irrt, bist du, mein Junge. Du bist ein Dienstbote, ob du es weißt oder nicht. Wie heißt du?«
»David Martín, Señor.«
Der Patriarch kostete meinen Namen aus.
»Befolge meinen Rat, David Martín. Verlass dieses Haus und geh dahin zurück, wo du hingehörst. So ersparst du dir und mir viele Probleme.«
Ich gestand es Don Pedro nie, aber ich lief auf der Stelle in die Küche, holte Selters und Lappen und reinigte eine Viertelstunde lang das Jackett des bedeutenden Mannes. Der Schatten des Clans war lang, und wie sehr Don Pedro auch den charmanten Bohemien spielte, sein ganzes Leben war eine Verlängerung der Familienbande. Die Villa Helius lag passenderweise fünf Minuten vom großen väterlichen Anwesen entfernt, das den oberen Abschnitt der Avenida Pearson beherrschte, ein kathedralengleicher Wirrwarr aus Balustraden, Freitreppen und Mansarden, der aus der Ferne auf ganz Barcelona hinabschaute wie ein Kind auf seine verstreuten Spielsachen. Jeden Tag wurden zwei Dienstboten und eine Köchin aus dem großen Hause, wie der väterliche Sitz in der Entourage der Vidals genannt wurde, zur Villa Helius abgesandt, um zu putzen, zu wienern und zu kochen und das Heim meines begüterten Freundes in eine Stätte der Behaglichkeit und des bequemen Vergessens aller lästigen Alltagsangelegenheiten zu verwandeln. Don Pedro Vidal bewegte sich in einem funkelnagelneuen, vom Familienfahrer Manuel Sagnier gelenkten Hispano-Suiza durch die Stadt und war vermutlich in seinem ganzen Leben noch nie in eine Straßenbahn gestiegen. Als Spross aus gutem Hause entging ihm der düsterharsche Charme der billigen Absteigen im damaligen Barcelona.
»Tun Sie sich keinen Zwang an, Don Pedro.«
»Das ist ja ein Kerker«, rief er schließlich. »Ich weiß nicht, wie du hier leben kannst.«
»Von meinem Gehalt mit Ach und Krach.«
»Wenn es nötig ist, zahle ich so viel drauf, dass du an einem Ort leben kannst, wo es nicht nach Schwefel und Pisse stinkt.«
»Das kommt gar nicht infrage.«
Vidal seufzte.
»Er ging an seinem Stolz zugrunde und ist elendiglich erstickt. Da hast du sie — deine unentgeltliche Grabinschrift.«
Einige Augenblicke spazierte Vidal wortlos durch den Raum, inspizierte meinen winzigen Schrank, schaute mit angewidertem Gesicht aus dem Fenster, betastete den grünlichen Anstrich der Wände und tippte mit dem Zeigefinger an die nackte Glühbirne an der Decke, wie um sich zu vergewissern, dass alles Schund war.
»Was führt Sie her, Don Pedro? Zu viel frische Luft in Pedralbes?«
»Ich komme nicht von zuhause. Ich komme von der Zeitung.«
»Na?«
»Ich war neugierig darauf zu sehen, wo du wohnst, und zudem bringe ich dir etwas mit.«
Er zog ein helles Pergamentkuvert aus der Jacketttasche und reichte es mir.
»Der ist heute in die Redaktion gekommen, zu deinen Händen.«
Ich ergriff den Umschlag und prüfte ihn. Er war mit einem Lacksiegel verschlossen, auf dem man eine geflügelte Figur erkennen konnte. Ein Engel. Sonst trug er nur meinen in erlesener scharlachroter Handschrift hingemalten Namen.
»Von wem ist er?«, fragte ich neugierig.
Vidal zuckte die Schultern.
»Von irgendeinem Bewunderer. Oder einer Bewundererin. Ich weiß es nicht. Mach ihn auf.«
Behutsam öffnete ich ihn und zog ein zusammengefaltetes Blatt heraus, auf dem in derselben Schrift Folgendes zu lesen war:
Lieber Freund,
ich erlaube mir, Ihnen zu schreiben, um Ihnen meine Bewunderung zu übermitteln und Sie zum Erfolg zu beglückwünschen, den Sie mit Die Geheimnisse von Barcelona auf den Seiten der Stimme der Industrie in diesen Wochen erzielt haben. Als Leser und Liebhaber guter Literatur entdecke ich mit großem Vergnügen eine neue Stimme voller Talent, Jugend und Verheißung. Erlauben Sie mir also, Sie zum Zeichen meiner Dankbarkeit für die angenehmen Stunden, die mir die Lektüre Ihrer Erzählungen beschert hat, heute Abend um zwölf Uhr in ›Die Träumerei‹ im Raval zu einer kleinen Überraschung einzuladen, die Ihnen hoffentlich zusagt. Man wird Sie erwarten.
Vidal, der über meine Schulter hinweg mitgelesen hatte, zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Interessant«, murmelte er.
»In welcher Beziehung interessant?«, fragte ich. »Was für eine Art Lokal ist ›Die Träumerei‹?«
Vidal nahm eine Zigarette aus seinem Platinetui.
»Doña Carmen gestattet das Rauchen in der Pension nicht«, sagte ich.
»Warum nicht? Verdirbt der Rauch den Kloakenduft?«
Er steckte sich die Zigarette an und genoss sie doppelt, wie man alles Verbotene genießt.
»Hast du einmal eine Frau erkannt, David?«
»Erkannt? Aber sicher. Eine Menge.«
»Ich meine im biblischen Sinne.«
»In der Messe?«
»Nein, im Bett.«
»Aha.«
»Und?«
Tatsächlich hatte ich für einen Mann wie Vidal nicht viel Beeindruckendes zu erzählen. Meine Jugendabenteuer und Liebeleien hatten sich bis dahin durch ihren Anstand und einen bemerkenswerten Mangel an Originalität ausgezeichnet. Mein kurzer Katalog an Schäkereien und in Hauseingängen und dunklen Kinosälen geraubten Küssen konnte keineswegs darauf hoffen, der Aufmerksamkeit dieses Meisters in den Künsten und Kenntnissen von Barcelonas Boudoirs wert zu sein.
»Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«
Vidal setzte eine Oberlehrermiene auf und hob zu einem seiner Vorträge an.
»In meiner Jugendzeit war es zumindest bei jungen Herren aus besserem Haus wie mir üblich, sich durch eine Frau vom Fach in dieses Gebiet einweihen zu lassen. Als ich in deinem Alter war, brachte mich mein Vater, der Stammgast der besten Etablissements der Stadt war und noch immer ist, an einen Ort namens ›Die Träumerei‹, wenige Meter von dem makabren Palast entfernt, den unser lieber Graf Güell von Gaudí unbedingt nahe den Ramblas gebaut haben wollte. Sag nicht, du hast noch nie von ihm gehört.«
»Vom Grafen oder vom Bordell?«
»Sehr witzig. ›Die Träumerei‹ war ein elegantes Etablissement für eine erlesene Kundschaft mit Geschmack. Eigentlich dachte ich, es sei schon seit Jahren geschlossen, aber offenbar ist das nicht der Fall. Im Gegensatz zur schönen Literatur sind einige Branchen dauernd im Aufwind.«
»Verstehe. Ist das eine Idee von Ihnen? Eine Art Scherz?«
Vidal schüttelte den Kopf.
»Dann also von einem der Redaktionsidioten?«
»Ich höre eine gewisse Feindseligkeit aus deinen Worten heraus, aber ich habe meine Zweifel, ob sich jemand, der als einfacher Soldat im edlen Pressewesen tätig ist, die Honorare eines Lokals wie ›Die Träumerei‹ leisten kann, wenn es denn das ist, das ich in Erinnerung habe.«
»Ist ja auch egal, ich habe nicht vor hinzugehen«, schnaubte ich.
Vidal hob die Brauen.
»Sag jetzt nicht, du seist kein so gottloser Mensch wie ich und wollest reinen Herzens und Unterhöschens ins Hochzeitsbett steigen, eine lautere Seele, deren höchster Wunsch es ist, auf jenen magischen Augenblick zu warten, da dich die echte Liebe die Ekstase von Körper und Seele in vom Heiligen Geist gesegnetem Unisono entdecken und so die Welt mit Kinderchen bevölkern lässt. Kinderchen, die deinen Namen tragen und die Augen ihrer Mutter haben, dieses heiligen Ausbundes an Tugend und Züchtigkeit, an deren Hand du unter dem wohlwollenden Blick des Jesuskindes in den Himmel eintreten wirst.«
»Das wollte ich damit nicht sagen.«
»Da bin ich aber froh, denn es ist möglich — und ich betone: möglich —, dass dieser Augenblick nie kommt, dass du dich nicht verliebst, dass du dich niemandem fürs ganze Leben hingeben willst oder kannst und dass du eines Tages wie ich mit fünfundvierzig merkst, dass du nicht mehr jung bist und es für dich keinen Chor von Cupidos mit Lyren und keinen Teppich aus weißen Rosen vor dem Altar mehr geben wird und dass die einzige Rache, die dir noch bleibt, darin besteht, dem Leben die Wollust des straffen, glühenden Fleisches zu entreißen, eine Lust, die schneller verfliegt als die guten Vorsätze und in dieser schweinischen Welt, in der von der Schönheit bis zur Erinnerung alles verfault, als Einziges dem Himmel nahekommt.«
Zum Zeichen schweigenden Beifalls ließ ich eine feierliche Pause folgen. Vidal war ein begeisterter Opernfreund und hatte sich mit der Zeit Tempi und Deklamation der großen Arien anverwandelt. In der Familienloge des Liceo ließ er kein Stelldichein mit Puccini aus. Abgesehen von den Unglücklichen, die sich im Olymp zusammendrängten, war er einer der wenigen, welche sich dort überhaupt die Musik anhörten, die er so sehr liebte und die seine Abhandlungen über Gott und die Welt hervorsprudeln ließ, mit denen er meine Ohren manchmal, wie an diesem Tag, beschenkte.
»Und?«, fragte er herausfordernd.
»Dieser letzte Teil kommt mir bekannt vor.«
Ich hatte ihn ertappt. Er nickte seufzend.
»Er ist aus Mord im Club Liceo«, gab er zu. »Die Schlussszene, wo Miranda LaFleur auf den ruchlosen Marquis feuert, der ihr das Herz gebrochen hat, weil er sie während einer leidenschaftlichen Nacht in der Hochzeitssuite des Hotels Colón in den Armen der Zarenspionin Swetlana Iwanowa verraten hat.«
»Dacht ich’s mir doch. Sie hätten nicht besser wählen können. Das ist Ihr Glanzstück, Don Pedro.«
Vidal lächelte mir für das Lob zu und schien abzuwägen, ob er sich noch eine Zigarette anzünden sollte.
»Was nicht heißt, dass in alledem nicht ein Körnchen Wahrheit steckt«, schloss er.
Er setzte sich aufs Fensterbrett, nachdem er ein Taschentuch hingelegt hatte, um seine hochelegante Hose nicht zu beschmutzen. Ich sah den unten an der Ecke zur Calle Princesa geparkten Hispano-Suiza. Der Fahrer, Manuel Sagnier, brachte mit einem Lappen die Verchromungen auf Hochglanz, als handle es sich um eine Skulptur von Rodin. Manuel hatte mich immer an meinen Vater erinnert, zwei Männer derselben Generation, die zu viele Tage im Unglück verbracht hatten und denen die Erinnerung ins Gesicht geschrieben stand. Von einigen Angestellten der Villa Helius hatte ich gehört, dass Manuel Sagnier lange im Gefängnis gesessen und nach seiner Entlassung über Jahre hinweg gedarbt hatte, da ihm keine andere Arbeit angeboten wurde als die eines Stauers, der auf den Molen Säcke und Kisten löschte, eine Tätigkeit, für die er nicht mehr das Alter und die Gesundheit hatte. Der Legende nach hatte Manuel Vidal einmal unter Einsatz des eigenen Lebens davor bewahrt, unter den Rädern einer Straßenbahn zu Tode zu kommen. Als er von Manuels verzweifelter Lage erfuhr, bot ihm Pedro Vidal aus Dankbarkeit an, mit Frau und Tochter in die kleine Wohnung über den Garagen der Villa Helius zu ziehen. Er versicherte ihm, die kleine Cristina würde von denselben Lehrern instruiert werden, die täglich ins väterliche Haus in der Avenida Pearson kamen, um den Kindern der Vidal-Dynastie Unterricht zu erteilen, und seine Frau könnte ihren Beruf als Schneiderin im Dienst der Familie ausüben. Er trage sich mit dem Gedanken, eines der ersten Automobile zu kaufen, die in Barcelona in den Handel kämen, und wenn Manuel sich in der Kunst des Autofahrens ausbilden und Karren und Kremser Vergangenheit sein lassen wolle, werde er ihn als Fahrer beschäftigen — damals ließen die jungen Herren die Finger von Verbrennungsmotoren und Maschinen mit Gasaustritt. Natürlich nahm Manuel an. Seit er aus seinem Elend errettet worden war, so lautete die offizielle Version, waren er und seine Familie Vidal, dem ewigen Paladin der Enterbten, blind ergeben. Ich wusste nicht, ob ich diese Geschichte tatsächlich glauben oder sie den unzähligen Legenden um den von Vidal kultivierten Charakter des gütigen Aristokraten zurechnen sollte — fehlte nur noch, dass er, in einen leuchtenden Nimbus gehüllt, einem verwaisten Hirtenmädchen erschien.
»Du machst wieder dieses Halunkengesicht, wie immer, wenn du boshaften Gedanken nachhängst«, sagte Vidal. »Was heckst du aus?«
»Nichts. Ich dachte nur, wie gütig Sie doch sind, Don Pedro.«
»In deinem Alter und deiner Lage öffnet Zynismus keine Türen.«
»Das erklärt alles.«
»Komm schon, grüß den guten Manuel, der sich immer nach dir erkundigt.«
Ich lehnte mich aus dem Fenster, und als mich der Fahrer erblickte, der mich stets wie einen feinen jungen Herrn und nicht als den Tölpel behandelte, den ich in Wirklichkeit darstellte, winkte er mir aus der Ferne zu. Ich grüßte zurück. Auf dem Beifahrersitz saß seine Tochter Cristina, ein junges blasshäutiges Mädchen mit schmalen, wie gemalten Lippen, das zwei Jahre älter war als ich und mir den Atem nahm, seit ich sie zum ersten Mal bei einer Einladung in die Villa Helius gesehen hatte.
»Starr sie nicht so an, sonst zerbrichst du sie noch«, murmelte Vidal hinter mir.
Ich wandte mich um und sah, dass er seine Machiavelli-Miene aufgesetzt hatte, die eigens für Dinge des Herzens und anderer edler Weichteile reserviert war.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Welch große Wahrheit«, antwortete Vidal. »Nun, was gedenkst du hinsichtlich des heutigen Abends zu tun?«
Ich las das Billett noch einmal durch und zögerte.
»Gehen Sie in diese Art Lokale, Don Pedro?«
»Seit ich fünfzehn wurde, habe ich für keine Frau mehr bezahlt, und eigentlich bezahlte damals ja mein Vater«, antwortete er ohne jede Prahlerei. »Aber einem geschenkten Gaul…«
»Ich weiß nicht, Don Pedro…«
»Natürlich weißt du es.«
Auf dem Weg zur Tür klopfte er mir leicht auf die Schulter.
»Es bleiben dir sieben Stunden bis Mitternacht. Ich sage das nur, falls du noch ein Nickerchen machen und Kräfte sammeln willst.«
Ich schaute aus dem Fenster und sah ihn zum Auto gehen. Manuel hielt ihm die Tür auf, und Vidal ließ sich träge auf den Rücksitz fallen. Ich hörte den Motor des Hispano-Suiza seine Kolben- und Ventilsinfonie entfalten. In diesem Augenblick schaute die Tochter des Fahrers, Cristina, zu meinem Fenster herauf. Ich lächelte ihr zu, merkte aber, dass sie sich nicht mehr an mich erinnerte. Gleich sah sie wieder weg, und Vidals Karosse fuhr ihn zurück in seine Welt.
In jenen Tagen bildete die Calle Nou de la Rambla im finsteren Raval-Viertel einen Korridor aus Straßenlaternen und Leuchtreklamen. Nachtklubs, Ballsäle und zwielichtige Lokale drängten sich auf beiden Seiten zwischen Geschäften, die sich auf Gummiwaren, Spülungen und auf die Behandlung von Geschlechtskrankheiten spezialisiert hatten und bis zum Morgengrauen geöffnet waren. Von jungen Gecken bis zu den Matrosen der im Hafen ankernden Schiffe mischten sich hier Menschen jeglichen Schlages mit exzentrischen Gestalten, die nur in Erwartung der Dunkelheit lebten. Beiderseits der Straße öffneten sich enge, dunstverhangene Gässchen, deren Bordelle zunehmend an Eleganz verloren.
›Die Träumerei‹ belegte die obere Etage eines Hauses, in dessen Erdgeschoss ein Varieté weithin sichtbar den Auftritt einer Tänzerin verhieß, deren knappe transparente Toga kein Geheimnis aus ihren Reizen machte, während die gespaltene Zunge der schwarzen Schlange auf ihren Armen sie auf die Lippen zu küssen schien. Eva Montenegro und der Todestango, verkündete das Plakat in großen Lettern. Die Königin der Nacht in sechs exklusiven Abendvorstellungen — keine Verlängerung. Unter Mitwirkung von Mesmero, dem Star der Gedankenleser, der Ihre intimsten Geheimnisse enthüllen wird.
Hinter einer schmalen Tür neben dem Lokaleingang führte eine lange Treppe zwischen rotgestrichenen Wänden hinauf. Ich gelangte vor eine große gearbeitete Eichentür mit Schnitzereien und einer Bronzenymphe als Klopfer, deren Scham von einem bescheidenen Kleeblatt verdeckt wurde. Ich ließ die Nymphe zweimal gegen die Tür fallen und vermied, während des Wartens in den großen Rauchglasspiegel zu sehen, der einen guten Teil der Wand einnahm. Ich war drauf und dran, wieder Reißaus zu nehmen, als die Tür aufging und eine Frau mittleren Alters mit im Nacken geknotetem schneeweißem Haar mir fröhlich zulächelte.
»Sie sind bestimmt Señor David Martín.«
In meinem ganzen Leben hatte mich noch niemand Señor genannt, und die Förmlichkeit überraschte mich.
»Das bin ich.«
»Wenn Sie so freundlich sein wollen, näher zu treten und mich zu begleiten.«
Ich folgte ihr durch einen kurzen Flur, der in einen großen, im Zwielicht liegenden kreisrunden Salon mit rotsamten ausgeschlagenen Wänden mündete. Die Decke war eine Kuppel aus buntem Glas, von der ein gläserner Leuchter hing. Darunter stand ein Mahagonitisch mit einem riesigen Grammophon, aus dem eine Opernarie rieselte.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, mein Herr?«
»Wenn Sie ein Glas Wasser hätten, wäre ich Ihnen dankbar.«
Die weißhaarige Dame lächelte und sagte liebenswürdig und entspannt: »Vielleicht möchten der Herr lieber ein Glas Champagner oder einen Likör? Oder möglicherweise einen trockenen Sherry?«
Mein Gaumen hatte bisher nur die Subtilitäten verschiedener Leitungswassergattungen erkundet, sodass ich die Schultern zuckte.
»Bitte wählen doch Sie.«
Die Dame lächelte unerschütterlich, nickte und deutete auf einen der Luxussessel, die wie Tupfer über den Raum verteilt waren.
»Wenn der Herr bitte Platz nehmen möchte, Chloé wird sogleich kommen.«
Ich hätte mich fast verschluckt.
»Chloé?«
Sie bemerkte meine Bestürzung nicht und verschwand durch eine Tür, die sich hinter einem schwarzen Perlenvorhang andeutete. Ich war mit meiner Nervosität und meinen unaussprechlichen Sehnsüchten allein und ging im Salon auf und ab, um des Zitterns Herr zu werden, das sich meiner zunehmend bemächtigte. Abgesehen von der leisen Musik und dem Pochen meiner Schläfen war es hier still wie im Grab. Von dem Salon gingen, jeder von einem blauen Vorhang gesäumt, sechs Korridore aus und führten je zu einer geschlossenen weißen Flügeltür. Ich ließ mich in einen der Sessel fallen, die wie geschaffen schienen, die Hinterteile von Prinzregenten und zu Staatsstreichen neigenden Generalissimi zu wiegen. Kurz darauf kam die weißhaarige Dame mit einem Glas Champagner auf silbernem Tablett zurück. Ich nahm es entgegen und sah sie durch dieselbe Tür wieder entschwinden. Ich leerte das Glas in einem Zug und lockerte den Hemdkragen. Allmählich kam mir erneut der Verdacht, all das sei nichts weiter als ein von Vidal ausgeheckter Scherz. In diesem Augenblick sah ich eine Gestalt aus einem der Korridore auf mich zukommen. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen und war es auch. Sie ging mit gesenktem Kopf, sodass mir ihre Augen verborgen blieben. Ich stand auf.
Das Mädchen machte einen höflichen Knicks und bedeutete mir, ihr zu folgen. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie eine künstliche Hand hatte wie eine Schaufensterpuppe. Sie führte mich ans Ende des Korridors, öffnete mit einem Schlüssel, den sie um den Hals hängen hatte, die Tür und ließ mich hinein. Das Zimmer war nur schwach erleuchtet. Ich tat ein paar Schritte, um etwas zu erkennen. Da fiel die Tür hinter mir zu, und als ich mich umwandte, war das Mädchen verschwunden. Ich hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte — ich war eingesperrt. Fast eine Minute blieb ich reglos stehen. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an das Halbdunkel, und die Umrisse um mich herum nahmen Gestalt an. Die Wände des Zimmers waren vom Boden bis zur Decke mit schwarzem Tuch bespannt. Auf der einen Seite erahnte ich eine Reihe seltsamer Artefakte, wie ich sie noch nie gesehen hatte, und ich wusste nicht, ob ich sie unheilvoll oder verführerisch finden sollte. Über dem Kopfende eines großen runden Bettes hing eine Art riesiges Spinnennetz mit zwei Kerzenhaltern, in denen schwarze Altarkerzen flackerten und den Wachsgeruch von Kapellen und Totenwachen verströmten. An der einen Seite des Bettes befand sich ein Gitter mit Schlangenmuster. Ein Schauer überlief mich. Alles war genauso wie in dem Schlafzimmer, das ich in den Geheimnissen von Barcelona für die Abenteuer meiner unbeschreiblichen Vampirin Chloé entworfen hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Schon wollte ich die Tür aufbrechen, als ich bemerkte, dass ich nicht allein war. Ich erstarrte. Hinter dem Gitterwerk zeichnete sich eine Gestalt ab. Zwei glänzende Augen musterten mich, und ich sah weiße, zarte Finger mit schwarz lackierten Nägeln durch das Gitter greifen. Ich schluckte.
»Chloé«, flüsterte ich.
Sie war es. Meine Chloé. Die opernhafte, unübertreffliche Femme fatale meiner Erzählungen, dieses Wesen aus Fleisch und Dessous. Ihre Haut war blasser, als ich sie mir je vorgestellt hatte, und das schwarz glänzende Haar war rechtwinklig zu einem Rahmen um ihr Gesicht geschnitten. Ihre Lippen waren wie mit frischem Blut geschminkt, und um die grünen Augen spielten schwarze Schatten. Sie bewegte sich so geschmeidig, als ob dieser in ein schuppig schillerndes Korsett gegossene Körper aus Wasser bestünde und die Schwerkraft narren könnte. Ihren schmalen, endlosen Hals umgab ein scharlachrotes Band mit einem umgekehrten Kruzifix. Ich beobachtete sie, wie sie langsam näher kam, unfähig zu atmen, die Augen auf die unglaublich geformten, dolchspitzen, die Knöchel mit Seidenbändern umschlingenden Schuhe geheftet. Die Schenkel umkleideten Seidenstrümpfe, die wahrscheinlich meinen Jahresverdienst verschlungen hätten. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie etwas so Schönes gesehen — und nichts, was mir solche Angst einflößte.
Ich ließ mich von diesem Wesen zum Bett führen, wo ich ihm buchstäblich unterlag. Das Kerzenlicht umschmeichelte die Umrisse ihres Körpers. Mein Gesicht und meine Lippen verharrten auf der Höhe ihres nackten Bauches, und ohne recht zu wissen, was ich tat, küsste ich sie unterhalb des Nabels und rieb meine Wange zärtlich an ihrer Haut. Ich vergaß, wer und wo ich war. Sie kniete sich vor mich hin und ergriff meine rechte Hand. Schmachtend nahm sie wie eine Katze einen nach dem anderen meine Finger zwischen die Zähne; dann schaute sie mich unverwandt an und begann mich zu entkleiden. Als ich ihr dabei behilflich sein wollte, lächelte sie und schob meine Hände weg. »Pssst.«
Als sie fertig war, beugte sie sich zu mir und fuhr mit der Zunge über meine Lippen.
»Jetzt du. Zieh mich aus. Langsam. Ganz langsam.«
Da wurde mir klar, dass ich meine kränkliche, jämmerliche Kindheit einzig überstanden hatte, um diese Sekunden zu erleben. Langsam zog ich sie aus, entblätterte sie, bis sie nur noch das Samtband um den Hals und die schwarzen Strümpfe am Leib trug — allein von der Erinnerung an Letztere könnte ein Unglücklicher wie ich wohl hundert Jahre sein Leben fristen.
»Streichle mich«, raunte sie mir zu. »Spiel mit mir.«
Ich liebkoste und küsste jeden Zentimeter ihrer Haut, als wollte ich ihn mir für den Rest meines Lebens einprägen. Chloé hatte keine Eile und antwortete auf die Berührung meiner Hände und Lippen mit sanftem Stöhnen, das mich leitete. Dann bedeutete sie mir, mich aufs Bett zu legen, und bedeckte meinen Körper mit ihrem, bis mir sämtliche Poren glühten. Ich legte meine Hände auf ihren Rücken und wanderte die herrliche Linie ihrer Wirbelsäule entlang. Ihr undurchdringlicher Blick betrachtete mich wenige Zentimeter über meinem Gesicht. Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen.
»Ich heiße…«
»Pssst.«
Bevor ich zu einer weiteren Albernheit ansetzen konnte, presste Chloé ihre Lippen auf die meinen und entzog mich für eine Stunde der Welt. Sie musste meine Unbeholfenheit bemerken, ließ es mich aber nicht spüren, nahm jede meiner Bewegungen vorweg und führte meine Hände ohne Eile und Scham über ihren Körper. In ihren Augen war kein Zeichen von Überdruss oder Unaufmerksamkeit zu entdecken. Sie gestattete mir alles und ließ mich sie mit unendlicher Geduld und einer Zärtlichkeit genießen, die mich vergessen machte, wie ich hierhergeraten war. In dieser kurzen Stunde lernte ich jede Linie ihres Körpers auswendig, so wie andere Gebete oder Verwünschungen. Später, als mir kaum noch Atem blieb, ließ mich Chloé den Kopf auf ihre Brust legen und kraulte lange schweigend in meinen Haaren, bis ich in ihren Armen einschlief, die Hand zwischen ihren Schenkeln.
Als ich aufwachte, lag das Zimmer im Halbdunkel, und Chloé war verschwunden, ihre Haut nicht mehr in meinen Händen. Dafür fand ich eine Visitenkarte aus dem gleichen hellen Pergament wie das Kuvert mit der Einladung. Unter dem Emblem des Engels war aufgedruckt:
ANDREAS Corelli
Éditeur
Éditions de la Lumière
69, Boulevard Saint-Germain
Paris
Auf der Rückseite stand handschriftlich:
Lieber David, das Leben besteht aus großen Erwartungen. Sobald Sie bereit sind, die Ihren Wirklichkeit werden zu lassen, setzen Sie sich mit mir in Verbindung. Ich werde Sie erwarten. Ihr Freund und Leser
Ich sammelte meine Kleider auf und zog mich an. Die Zimmertür war nicht mehr abgeschlossen. Ich ging durch den Korridor in den Salon, wo das Grammophon verstummt war. Von dem Mädchen und der weißhaarigen Frau war nichts mehr zu sehen. Die Stille war vollkommen. Je näher ich dem Ausgang kam, desto mehr hatte ich den Eindruck, die Lichter hinter mir zerflossen in nichts und die Korridore und Räume würden immer dunkler. Ich trat auf den Treppenabsatz hinaus und stieg die Stufen hinunter zurück in die Welt, leer und lustlos. Auf der Straße wandte ich mich Richtung Ramblas, das lärmige Treiben der Nachtlokale hinter mir lassend. Ein leichter, warmer Nebel kam vom Hafen her, und das Funkeln der großen Fenster des Hotels Oriente färbte ihn zu einem schmutzigstaubigen Gelb, in dem sich die Passanten wie Dunstfetzen auflösten. Ich marschierte los, die Erinnerung an Chloés Parfüm verblasste langsam, und ich fragte mich, ob die Lippen Cristina Sagniers, der Tochter von Vidals Fahrer, wohl ähnlich schmeckten.
Man weiß nicht, was Durst ist, bis man zum ersten Mal trinkt. Drei Tage nach meinem Besuch in der Träumerei machte mir die Erinnerung an Chloés Haut das Denken unmöglich. Ohne jemandem ein Sterbenswörtchen zu sagen — schon gar nicht Vidal —, kratzte ich meine geringen Ersparnisse zusammen, um noch am selben Abend wieder hinzugehen, in der Hoffnung, mir damit wenigstens einen Augenblick in ihren Armen erkaufen zu können. Mitternacht war vorüber, als ich die zur ›Träumerei‹ hinaufführenden Stufen erreichte. Im Treppenhaus brannte kein Licht, und ich stieg langsam hinauf, fort von dem Lärm der Nachtklubs, Kneipen, Varietes und anderen dubiosen Lokale, mit denen die Jahre des Ersten Weltkrieges die Calle Nou de la Rambla gespickt hatten. In dem durch den Hauseingang einfallenden Licht zeichneten sich die Stufen ab. Auf dem Treppenabsatz tastete ich nach der Nymphe. Meine Finger streiften das schwere Stück Metall, und als ich es anhob, gab die Tür einige Zentimeter nach — sie war offen. Langsam drückte ich sie auf. Vollkommene Stille strich mir übers Gesicht. Vor mir tat sich bläuliches Halbdunkel auf. Verwirrt ging ich einige Schritte weiter. Ein Abglänz des Straßenlichts flackerte im Raum und ermöglichte flüchtige Blicke auf die nackten Wände und das gesprungene Parkett. Ich gelangte in den Salon, der in meiner Erinnerung mit Samt und üppigen Möbeln ausgestattet gewesen war. Er war leer. Die Staubschicht auf dem Boden glänzte im Aufblitzen der Leuchtreklamen draußen wie Sand, meine Schritte zeichneten sich hinter mir ab. Keine Spur von einem Grammophon, Sesseln oder Bildern. Die Decke war rissig, und geschwärzte Holzbalken sahen hervor. Von den Wänden hing der Anstrich in Fetzen wie Schlangenhaut. Ich wandte mich zum Korridor, der zu Chloés Zimmer führte, und gelangte durch den dunklen Tunnel vor die jetzt nicht mehr weiße Flügeltür. Statt einer Klinke gab es nur ein Loch im Holz, als wäre sie gewaltsam herausgerissen worden. Ich öffnete die Tür und trat ein.
Chloés Schlafzimmer war eine schwarze Zelle. Die Wände waren verkohlt und der größte Teil der Decke eingestürzt. Ich konnte die über den Himmel ziehenden schwarzen Wolken und den Mond sehen, der einen silbernen Schimmer auf das Metallskelett des Bettes warf. In diesem Moment hörte ich hinter mir den Boden knarren und schoss herum — ich war nicht allein. Eine dunkle männliche Silhouette zeichnete sich scharf vor dem Eingang zum Korridor ab. Das Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber ich war gewiss, dass ich beobachtet wurde. Einige Sekunden blieb ich reglos wie eine Spinne stehen, bis ich endlich reagieren und ein paar Schritte auf die Silhouette zugehen konnte. Sogleich zog sie sich ins Dunkel zurück, und als ich in den Salon gelangte, war niemand mehr da. Der Schein einer Leuchtreklame auf der anderen Straßenseite erhellte für eine Sekunde den Salon, sodass ich einen kleinen Schutthaufen an der Wand erkennen konnte. Als ich näher trat und mich vor den vom Feuer zurückgelassenen Resten niederkniete, sah ich etwas herausragen. Finger. Ich wischte die Asche um sie herum weg, und die Umrisse einer Hand kamen zum Vorschein. Als ich sie herauszog, sah ich, dass sie am Gelenk abgeschnitten war. Ich erkannte sie mühelos, obwohl diese kleine Mädchenhand nicht aus Holz war, wie ich sie in Erinnerung hatte, sondern aus Porzellan. Ich ließ sie in den Schutt zurückfallen und ging.
Ich fragte mich, ob der Unbekannte nur ein Hirngespinst gewesen war, denn im Staub waren keine Spuren zu sehen. Ich ging auf die Straße zurück und erforschte vom Bürgersteig vor dem Haus aus verwirrt die Fenster im ersten Stock. Die Menschen gingen lachend an mir vorbei und nahmen keine Notiz von mir. Ich versuchte die Silhouette des Unbekannten unter ihnen auszumachen. Ich wusste, dass er da war, vielleicht nur wenige Meter entfernt, und dass er mich beobachtete. Nach einer Weile überquerte ich die Straße und trat in ein enges, überfülltes Café. Ich konnte mich zur Theke durcharbeiten und dem Kellner ein Zeichen geben.
»Was soll’s sein?«
Mein Mund war ausgetrocknet und rau wie Sand.
»Ein Bier.«
Während er es zapfte, beugte ich mich vor.
»Sagen Sie, wissen Sie, ob das Lokal gegenüber, ›Die Träumerei‹, geschlossen hat?«
Der Kellner stellte das Glas auf die Theke und schaute mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost.
»Es hat vor fünfzehn Jahren geschlossen«, sagte er.
»Sind Sie sicher?«
»Aber natürlich. Nach dem Brand haben sie nicht wieder aufgemacht. Wünschen Sie sonst noch was?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Vier Centimos.«
Ich bezahlte die Zeche und ging, ohne das Glas angerührt zu haben.
Am nächsten Tag ging ich früh in die Redaktion und stieg direkt in den Keller zu den Archiven hinab. Den Angaben von Matfas, dem Leiter der Dokumentation, und des Kellners folgend, begann ich die Titelseiten der Stimme der Industrie von vor fünfzehn Jahren durchzugehen. Nach vierzig Minuten hatte ich die Geschichte gefunden, eine kleine Notiz. Der Brand hatte sich am frühen Morgen des Fronleichnamstages 1903 ereignet. Sechs Personen waren den Flammen zum Opfer gefallen: ein Kunde, vier Frauen der Belegschaft und ein kleines Mädchen, das ebenfalls dort gearbeitet hatte. Polizei und Feuerwehr hatten als Ursache der Tragödie eine schadhafte Petroleumlampe angegeben, doch der Gemeindevorstand einer nahen Pfarrei führte göttliche Vergeltung und das Eingreifen des Heiligen Geistes als entscheidende Faktoren ins Feld.
Wieder in der Pension, legte ich mich in meinem Zimmer aufs Bett und versuchte einzuschlafen, jedoch vergeblich. Ich zog die Karte des fremden Wohltäters, die ich nach dem Erwachen auf Chloés Bett in meinen Händen gefunden hatte, aus der Tasche und las im Halbdunkel noch einmal die handschriftlichen Worte auf der Rückseite. Große Erwartungen.
In meiner Welt wurden Erwartungen, ob groß oder klein, nur selten erfüllt. Noch wenige Monate zuvor hatte meine einzige Sehnsucht beim Schlafengehen darin bestanden, eines Tages den nötigen Mut aufzubringen, Cristina, die Tochter des Fahrers meines Mentors, anzusprechen, und dass die Stunden bis zum Morgengrauen rasch verfliegen möchten, damit ich wieder in die Redaktion gehen konnte. Jetzt begann ich auch diesen Zufluchtsort zu verlieren. Vielleicht könnte ich, wenn ich bei einem meiner Artikel grandios scheiterte, die Zuneigung meiner Kollegen zurückgewinnen, sagte ich mir. Vielleicht würden mir, wenn ich etwas Mittelmäßiges, Abwegiges schriebe, bei dem kein Leser über den ersten Absatz hinauskam, meine Jugendsünden verziehen. Vielleicht war das kein zu hoher Preis dafür, sich wieder zuhause zu fühlen. Vielleicht.
In die Redaktion der Stimme der Industrie war ich viele Jahre zuvor an der Hand meines Vaters gekommen, eines gepeinigten, glücklosen Mannes, der sich nach der Rückkehr aus dem Krieg um die Philippinen in einer Stadt wiederfand, in der ihn niemand mehr kennen wollte, mit einer Frau, die ihn bereits vergessen hatte und ihn zwei Jahre später ganz verließ. Ihre Hinterlassenschaft bestand aus einem gebrochenen Herzen und einem Sohn, den er nie gewollt hatte und mit dem er nichts anzufangen wusste. Mein Vater, der mit knapper Not seinen Namen lesen und schreiben konnte, hatte weder Beruf noch Geld. Das Einzige, was er im Krieg gelernt hatte, war, andere Männer zu töten, ehe sie ihn töteten, immer im Namen einer ebenso eitlen wie großartigen Sache, die sich als desto fadenscheiniger und niederträchtiger erwies, je näher man dem Gefecht rückte. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg suchte mein Vater, der um zwanzig Jahre gealtert zu sein schien, eine Anstellung in den vielen Betrieben des Pueblo Nuevo und des Sant-Martí-Viertels. Er behielt keine Stelle länger als einige Tage, und dann sah ich ihn mit grollverzerrter Miene nach Hause kommen. Mangels Alternativen übernahm er nach einiger Zeit den Posten des Nachtwächters in der Stimme der Industrie. Das Gehalt war zwar bescheiden, aber die Monate vergingen, und zum ersten Mal nach seiner Rückkehr schien er in keine Scherereien zu geraten. Der Friede war von kurzer Dauer. Einige seiner ehemaligen Waffenkameraden waren an Körper und Seele versehrt wie lebendige Leichname zurückgekommen, nur um festzustellen, dass ihnen die, die sie im Namen Gottes und des Vaterlandes in den Tod geschickt hatten, jetzt ins Gesicht spuckten. Sie verwickelten ihn schon bald in zwielichtige Geschäfte, die für ihn eine Nummer zu groß waren und die er nie ganz durchschaute.
Oft verschwand er für zwei Tage, und wenn er zurückkam, rochen seine Hände und Kleider nach Schießpulver, und Geld beulte seine Taschen. Dann flüchtete er sich in sein Zimmer, wo er sich das wenige oder viele spritzte, das er hatte beschaffen können. Er dachte, ich merke nichts, und anfänglich schloss er nicht einmal die Tür; doch eines Tages ertappte er mich dabei, wie ich ihn ausspionierte, und verpasste mir eine Ohrfeige, die mir die Lippen spaltete. Dann umarmte er mich, bis ihm die Kraft schwand und er auf dem Boden lag, die Nadel noch in der Haut. Ich zog sie heraus und deckte ihn zu. Nach diesem Zwischenfall begann er sich einzuschließen.
Wir wohnten in einer kleinen Mansarde über der Baustelle des neuen Konzertsaals, des Palau de la Música de l’Orfeó Catalá. Es war eine kalte, enge Bleibe, in der Wind und Feuchtigkeit sich über die Mauern zu mokieren schienen. Ich setzte mich immer auf den winzigen Balkon und ließ die Beine baumeln, um die Vorbeigehenden zu beobachten und dieses Riff aus unmöglichen Skulpturen und Säulen zu bestaunen, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite heranwuchs und fast mit Fingern zu greifen nahe schien und dann so weit entfernt war wie der Mond. Ich war ein schwaches, kränkliches Kind, anfällig für Fieber und Infektionen, die mich an den Rand des Grabes brachten, es sich aber im letzten Moment immer anders überlegten und wieder abzogen, um sich eine gewichtigere Beute zu suchen. Wenn ich krank wurde, verlor der Vater schnell die Geduld und überließ mich nach der zweiten schlaflosen Nacht der Obhut einer Nachbarin, um für zwei Tage zu verschwinden. Mit der Zeit hatte ich den Verdacht, er hoffe mich nach seiner Rückkehr tot vorzufinden und so die Last dieses Kindes mit der zarten Gesundheit los zu sein, das zu nichts zu gebrauchen war.
Mehr als einmal verspürte ich den Wunsch, es möge so kommen, aber immer war ich bei seiner Rückkehr noch am Leben, ja munter und ein wenig größer. Zwar schämte sich Mutter Natur nicht, mich mit der ganzen Reichhaltigkeit ihres Keim- und Plagenkatalogs zu erfreuen, aber nie fand sie einen Weg, das Gesetz der Schwerkraft endgültig auf mich anzuwenden. Entgegen jeder Vorhersage überlebte ich die Gratwanderung, die die Kindheit vor der Entdeckung des Penizillins war. Damals hauste der Tod noch nicht in der Anonymität; man konnte überall sehen und riechen, wie er die Seelen mitriss, die noch gar keine Gelegenheit zum Sündigen bekommen hatten.
Schon früh waren Papier und Druckerschwärze meine einzigen Freunde. In der Schule hatte ich viel eher lesen und schreiben gelernt als die anderen Kinder des Viertels. Wo meine Kameraden auf den Seiten bloß aufgedruckte Farbe sahen, entdeckte ich Licht, Straßen und Menschen. Die Wörter und das Mysterium ihres verborgenen Wissens faszinierten mich und waren wie ein Schlüssel, der mir eine unendliche Welt aufschloss und mich vor diesem Haus, vor diesen Straßen und an den trüben Tagen behütete, da sogar ich ahnte, dass mich mehr Unglück als Glück erwartete. Mein Vater wollte keine Bücher im Haus sehen. Abgesehen von den Buchstaben, die er nicht enträtseln konnte, steckte noch etwas in ihnen, das ihn beleidigte. Er sagte, sobald ich zehn wäre, würde er mir eine Arbeit suchen, ich solle mir besser gleich alle Flausen aus dem Kopf schlagen, sonst würde ich als Hungerleider enden. Ich versteckte die Bücher unter meiner Matratze und wartete, bis er aus dem Haus gegangen oder eingeschlafen war, um zu lesen. Einmal ertappte er mich bei nächtlicher Lektüre und geriet in Rage. Er riss mir das Buch aus den Händen und warf es aus dem Fenster.
»Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wie du mit dem Lesen von solchem Mist Strom vergeudest, kannst du was erleben.«
Mein Vater war kein Geizkragen, und trotz unserer Nöte rückte er, wann immer er konnte, einige Münzen heraus, damit ich mir wie alle anderen Kinder des Viertels Schleckereien kaufen konnte. Er war überzeugt, dass ich das Geld in Süßholz, Sonnenblumenkerne oder Bonbons steckte, aber ich verwahrte es in einer Kaffeedose unter dem Bett, und wenn ich vier, fünf Münzen beisammen hatte, kaufte ich mir eiligst und ohne sein Wissen ein Buch.
Der liebste Ort in der ganzen Stadt war mir Sempere und Söhne in der Calle Santa Ana. Diese Buchhandlung mit dem Geruch nach altem Papier und Staub war mein Heiligtum und mein Zufluchtsort. Der Buchhändler überließ mir einen Stuhl in der Ecke, wo ich nach Lust und Laune jedes Buch meiner Wahl lesen konnte. Und fast nie wollte er für eines, das er mir in die Hand drückte, etwas haben, aber wenn er nicht aufpasste, legte ich ihm die zusammengekratzten Münzen auf den Ladentisch, bevor ich ging. Es war nur Kleingeld, und hätte ich mir mit diesem elenden Sümmchen ein Buch kaufen wollen, hätte ich mir sicher nur eines aus Zigarettenpapierblättchen leisten können. Wenn es dann Zeit wurde, musste ich Füße und Seele zum Aufbrechen zwingen — wäre es nach mir gegangen, ich wäre für immer dort geblieben.
Einmal machte mir Sempere zu Weihnachten das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Es war ein alter, aufs gründlichste gelesener und gelebter Band.
»Große Erwartungen, von Charles Dickens«, las ich auf dem Deckel.
Ich wusste, dass Sempere einige Schriftsteller kannte, die in seinem Laden verkehrten, und da er dieses Buch so liebevoll in die Hand nahm, dachte ich, dieser Herr Charles sei vielleicht einer von ihnen.
»Ein Freund von Ihnen?«
»Ein uralter. Und von heute an auch einer von dir.«
An diesem Abend nahm ich meinen neuen Freund, unter den Kleidern vor dem Vater verborgen, mit nach Hause. Es war ein regnerischer Winter mit bleiernen Tagen, in dem ich Große Erwartungen neunmal hintereinander las, teils weil ich nichts anderes zu lesen hatte, teils weil ich dachte, ein besseres Buch könne es gar nicht geben. Und mit der Zeit glaubte ich, dieser Herr Dickens habe es nur für mich geschrieben. Bald war ich der festen Überzeugung, im Leben nichts anderes zu wollen, als zu erlernen, was Herr Dickens tat.
Eines frühen Morgens schreckte ich aus dem Schlaf auf, als mich der Vater rüttelte, der vorzeitig von der Arbeit nach Hause gekommen war. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Atem stank nach Schnaps. Ich starrte ihn entsetzt an, und er tastete nach der nackten Glühbirne an ihrem Kabel.
»Sie ist warm.«
Er bohrte seinen Blick in meine Augen und schmetterte die Birne wütend an die Wand. Sie zerschellte in tausend Splitter, die mir ins Gesicht regneten, aber ich wagte sie nicht wegzuwischen.
»Wo ist es?«, fragte er kalt.
Zitternd schüttelte ich den Kopf.
»Wo ist das Scheißbuch?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. Im Dämmerlicht sah ich den Schlag nicht kommen. Vor meinen Augen wurde es schwarz, und ich spürte, wie ich aus dem Bett fiel mit Blut im Mund und einem heftigen Schmerz, der wie Feuer brannte. Als ich den Kopf zur Seite drehte, entdeckte ich auf dem Boden etwas, das aussah wie die abgebrochenen Stücke von zwei Zähnen. Die Hand des Vaters packte mich am Hals und zog mich hoch.
»Wo ist es?«
»Vater, bitte…«
Mit aller Kraft warf er mich mit dem Gesicht gegen die Wand. Beim Aufprall verlor ich das Gleichgewicht und fiel in mich zusammen wie ein Sack Knochen. Ich schleppte mich in eine Ecke und blieb zusammengekauert liegen, während ich sah, wie der Vater meine paar Kleidungsstücke aus dem Schrank riss und auf den Boden warf. Ergebnislos wühlte er in Schubladen und Koffern, bis er sich erschöpft von neuem auf mich stürzte. Ich schloss die Augen und krümmte mich gegen die Wand, um einen weiteren Schlag zu empfangen, der jedoch nicht kam. Als ich die Augen öffnete, sah ich den Vater auf der Bettkante sitzen und weinen, halb erstickt vor Scham. Er bemerkte meinen Blick und rannte die Treppe hinunter. Ich hörte, wie sich in der Morgenstille das Echo seiner Schritte entfernte, und erst als ich ihn weit weg wusste, schleppte ich mich zum Bett und holte das Buch aus seinem Versteck unter der Matratze hervor. Dann zog ich mich an und trat mit dem Buch auf die Straße hinaus.
Dichter Dunst hing in der Calle Santa Ana, als ich vor der Tür der Buchhandlung anlangte. Im selben Haus wohnten im ersten Stock der Buchhändler und sein Sohn. Sechs Uhr früh war zwar nicht die Zeit, um bei jemandem zu klingeln, aber in diesem Augenblick hatte ich nur den Gedanken, das Buch zu retten, und die Gewissheit, dass der Vater, wenn er es bei seiner Rückkehr zuhause vorfände, es mit seiner ganzen Wut in Fetzen reißen würde. Ich klingelte und wartete. Nach zwei, drei weiteren Malen hörte ich die Balkontür aufgehen und sah den alten Sempere in Morgenmantel und Pantoffeln heraustreten und verdutzt herunterblicken. Eine halbe Minute später öffnete er mir. Als er mein Gesicht erblickte, verschwand jeder Anflug von Zorn. Er kniete sich vor mir nieder und nahm mich bei den Armen.
»Heiliger Gott. Geht’s dir gut? Wer hat dir das angetan?«
»Niemand. Ich bin hingefallen.«
Ich reichte ihm das Buch.
»Ich bin gekommen, um es Ihnen zurückzugeben — ich will nicht, dass ihm etwas zustößt…«
Sempere schaute mich wortlos an. Dann nahm er mich auf den Arm und trug mich in die Wohnung hinauf. Sein Sohn, ein Junge von zwölf Jahren, der so schüchtern war, dass ich mich nicht erinnern konnte, je seine Stimme vernommen zu haben, war aufgewacht und wartete oben auf dem Treppenabsatz. Beim Anblick des Blutes in meinem Gesicht schaute er erschrocken seinen Vater an.
»Hol den Doktor Campos.«
Der Junge nickte und lief zum Telefon. Als ich ihn sprechen hörte, wusste ich endlich, dass er nicht stumm war. Die beiden trugen mich zu einem Sessel im Esszimmer und reinigten meine Wunden vom Blut, während sie auf den Arzt warteten.
»Du willst mir also nicht sagen, wer dir das angetan hat?«
Ich presste die Lippen zusammen. Sempere wusste nicht, wo ich wohnte, und ich mochte ihm keinen Hinweis liefern.
»War es dein Vater?«
Ich schaute weg.
»Nein. Ich bin hingefallen.«
Doktor Campos, der vier oder fünf Häuser entfernt wohnte, kam nach fünf Minuten. Er untersuchte mich von Kopf bis Fuß, betastete die blauen Flecken und behandelte die Schnitte so behutsam, wie er konnte. Seine Augen glühten vor Empörung, aber er sagte nichts.
»Gebrochen ist nichts, er hat aber einige Prellungen, die ein paar Tage anhalten werden und schmerzhaft sind. Diese beiden Zähne wird man ziehen müssen. Sie sind verloren, und es könnte eine Infektion geben.«
Nachdem der Arzt gegangen war, brachte mir Sempere ein Glas lauwarme Milch mit Kakao und schaute mir beim Trinken zu.
»Und all das, um die Großen Erwartungen zu retten?«
Ich zuckte die Achseln. Vater und Sohn lächelten sich verschwörerisch zu.
»Das nächste Mal, wenn du ein Buch retten willst, wirklich retten willst, sollst du nicht mehr dein Leben aufs Spiel setzen. Du sagst es mir, und ich werde dich an einen geheimen Ort bringen, wo die Bücher niemals sterben und niemand sie zerstören kann.«
Neugierig schaute ich die beiden an.
»Was ist das denn für ein Ort?«
Sempere zwinkerte mir zu mit diesem geheimnisvollen Lächeln, das sie aus einem Fortsetzungsroman von Alexandre Dumas zu haben schienen und das offenbar ein Markenzeichen der Familie war.
»Alles zu seiner Zeit, mein Freund. Alles zu seiner Zeit.«
Von Gewissensbissen zernagt, heftete der Vater die ganze folgende Woche über die Augen auf den Boden. Er kaufte eine neue Glühbirne und sagte sogar, wenn ich sie anknipsen wolle, dann nur zu, allerdings nicht lange, der Strom sei sehr teuer. Ich spielte lieber nicht mit dem Feuer. Am Samstag wollte mir der Vater ein Buch kaufen und ging in eine Buchhandlung in der Calle de la Palla gegenüber der alten römischen Mauer, die erste und letzte Buchhandlung, die er je betrat. Aber da er die Titel auf den Hunderten Buchrücken nicht lesen konnte, verließ er den Laden unverrichteter Dinge. Danach gab er mir Geld, mehr als üblich, und sagte, ich könne mir kaufen, worauf ich Lust hätte. Das schien mir der geeignete Moment, ein Thema zur Sprache zu bringen, das mir seit langem auf der Zunge brannte.
»Doña Mariana, die Lehrerin, hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, ob Sie wohl irgendwann einmal vorbeikommen könnten, um mit ihr wegen der Schule zu sprechen«, sagte ich wie nebenher.
»Um worüber zu sprechen? Hast du was ausgefressen?«
»Nein, Vater. Doña Mariana wollte sich mit Ihnen über meine künftige Ausbildung unterhalten. Sie sagt, ich sei begabt, und sie glaubt, sie könnte mir zu einem Stipendium verhelfen, um ins Piaristenkolleg einzutreten…«
»Was bildet sich diese Frau eigentlich ein, dir einen solchen Floh ins Ohr zu setzen und dich in eine Reiche-Leute-Schule schicken zu wollen? Weißt du überhaupt, was das für ein Pack ist? Weißt du, wie die dich anglotzen und behandeln, wenn rauskommt, wo du herbist?«
Ich senkte die Augen.
»Doña Mariana möchte nur helfen, Vater. Nichts weiter. Werden Sie nicht böse. Ich sage ihr einfach, es geht nicht, und Schluss.«
Der Vater schaute mich zornig an, beherrschte sich aber und atmete mehrere Male mit geschlossenen Augen durch, bevor er etwas sagte.
»Wir werden schon über die Runden kommen, verstehst du? Du und ich. Ohne die Almosen von all diesen Mistkerlen. Und zwar mit hoch erhobenem Kopf.«
»Ja, Vater.«
Er legte mir eine Hand auf die Schulter und schaute mich an, als wäre er für einen kurzen Augenblick, der nie wiederkommen sollte, stolz auf mich, obwohl wir so verschieden waren, obwohl ich Bücher mochte, die er nicht lesen konnte, ja obwohl die Mutter uns verlassen und entzweit hatte. In diesem Moment hielt ich den Vater für den gütigsten Menschen der Welt und dachte, alle würden das merken, wenn ihm das Leben nur einmal gute Karten zuspielte.
»Alles Schlechte, was man im Leben tut, schlägt auf einen zurück, David. Und ich habe viel Schlechtes getan, sehr viel. Aber ich habe dafür gebüßt. Und unser Blatt wird sich wenden. Du wirst schon sehen. Du wirst schon sehen…«
Obwohl Doña Mariana, die mit allen Wassern gewaschen war, sich in etwa vorstellen konnte, woher der Wind wehte, ließ sie nicht locker, doch ich erwähnte das Thema der Ausbildung gegenüber dem Vater nicht mehr. Als ihr klar wurde, dass nichts zu machen war, sagte sie, sie werde mir von nun an täglich nach dem Unterricht eine weitere Stunde geben, nur mir allein, um mir etwas über Bücher, Geschichte und all die Dinge zu erzählen, die den Vater in Angst und Schrecken versetzten.
»Das wird unser Geheimnis sein.«
Mittlerweile hatte ich begriffen, dass sich der Vater schämte, weil ihn die Leute für einen Ignoranten hielten, Überbleibsel eines Krieges, der wie fast alle Kriege im Namen Gottes und des Vaterlandes ausgefochten worden war, um Menschen, die schon vorher mächtig gewesen waren, noch mächtiger zu machen. In dieser Zeit fing ich an, den Vater manchmal zu seiner Nachtschicht zu begleiten. In der Calle Trafalgar nahmen wir eine Straßenbahn, die uns vor den Friedhofstoren absetzte. Ich blieb in seinem Pförtnerhäuschen, las alte Zeitungen und versuchte mich ab und zu mit ihm zu unterhalten eine schwierige Aufgabe. Der Vater sprach kaum noch, weder über den Kolonialkrieg noch über die Frau, die ihn verlassen hatte. Einmal fragte ich ihn, warum die Mutter nicht mehr bei uns sei. Ich argwöhnte, es sei meinetwegen, weil ich etwas Unrechtes getan hätte, und sei es nur, auf die Welt gekommen zu sein.
»Deine Mutter hatte mich schon verlassen, bevor ich an die Front geschickt wurde. Ich war der Blödmann, weil ich es nicht merkte, bis ich zurückkam. So ist das Leben, David. Über kurz oder lang lassen uns alle und alles im Stich.»
»Ich werde Sie nie im Stich lassen, Vater.«
Ich hatte den Eindruck, er breche gleich in Tränen aus, und umarmte ihn, um sein Gesicht nicht sehen zu müssen.
Ohne Vorankündigung ging er am nächsten Tag mit mir zur Stoffhandlung El Indio in der Calle del Carmen. Wir traten zwar nicht ein, aber durch die großen Fenster des Vorraums hindurch deutete er auf eine junge, heitere Frau, die den Kunden Tücher und Stoffe vorlegte.
»Das ist deine Mutter«, sagte er. »Nächstens komm ich mal vorbei und bring sie um.«
»So was dürfen Sie nicht sagen, Vater.«
Er sah mich mit geröteten Augen an, und da wurde mir klar, dass er sie immer noch liebte und dass ich ihr deswegen nie vergeben würde. Ich erinnere mich, wie wir sie damals unbemerkt im Verborgenen beobachteten, und dass ich sie nur aufgrund des Fotos erkannte, das der Vater zuhause in einer Schublade aufbewahrte, neben seiner Ordonnanzpistole, die er jeden Abend, wenn er mich schlafend glaubte, herausnahm und betrachtete, als gäbe sie auf alles eine Antwort — oder beinahe auf alles.
Noch jahrelang kehrte ich zum Eingang dieses Warenhauses zurück, um sie auszuspionieren. Nie brachte ich den Mut auf, hineinzugehen oder sie anzusprechen, wenn sie herauskam und ich sie die Ramblas hinunter davongehen sah, zu einer Familie, so malte ich mir aus, die sie glücklich machte, und einem Sohn, der ihrer Zuneigung und der Berührung ihrer Haut würdiger war als ich. Der Vater erfuhr nie, dass ich bisweilen verschwand, um sie zu beobachten, oder ihr an manchen Tagen dichtauf folgte, immer kurz davor, ihre Hand zu ergreifen und mit ihr zu gehen, und dann doch im letzten Moment die Flucht ergriff. In meiner Welt existierten die großen Erwartungen nur zwischen Buchdeckeln.
Das vom Vater so ersehnte Glück kam nie. Die einzige nette Geste, die das Leben für ihn übrig hatte, war, ihn nicht allzu lange hinzuhalten. Als wir eines Abends zum Nachtdienst bei der Zeitung eintrafen, traten drei Pistolenschützen aus dem Schatten und durchsiebten ihn vor meinen Augen mit Schüssen. Ich erinnere mich noch an den Schwefelgeruch und den schimmernden Rauch, der von den schmauchenden Löchern in seinem Mantel aufstieg. Als ihn einer der Schützen mit einem Kopfschuss vollends töten wollte, warf ich mich auf den Vater, und ein dritter fiel dem Schützen in den Arm. Unsere Blicke trafen sich kurz, während er einen Moment zu überlegen schien, auch mich zu liquidieren. Doch dann rannten sie davon und verschwanden in den engen Gassen zwischen den Fabriken von Pueblo Nuevo.
An jenem Abend ließen die Mörder den Vater in meinen Armen verbluten, und ich blieb allein auf der Welt zurück. Fast zwei Wochen lang verkroch ich mich in der Setzerei der Zeitung zwischen den Linotype-Maschinen, die mir wie eiserne Riesenspinnen vorkamen, und versuchte, das Pfeifen zum Verstummen zu bringen, das mir bei Einbruch der Nacht die Trommelfelle durchbohrte und mich um den Verstand brachte. Als man mich fand, waren meine Hände und Kleider noch von eingetrocknetem Blut verschmiert. Zuerst wusste niemand, wer ich war, da ich eine Woche lang nicht sprach, und als ich es schließlich tat, schrie ich das Wort Vater hinaus, bis mir die Stimme versagte. Als ich nach meiner Mutter gefragt wurde, sagte ich, sie sei gestorben, ich hätte niemanden mehr auf der Welt. Meine Geschichte kam Pedro Vidal zu Ohren, dem Star der Zeitung und Busenfreund des Herausgebers, welcher auf sein Ersuchen hin anordnete, mich als Botenjungen zu beschäftigen und mich bis auf weiteres in der bescheidenen Pförtnerklause im Keller unterzubringen.
In diesen Jahren waren in Barcelonas Straßen Gewalt und Blutvergießen an der Tagesordnung. Es war die Zeit der Pamphlete und Bomben, welche in den Gassen des Raval zuckende, rauchende Körperteile zurückließen, die Zeit der schwarz gewandeten Banden, die die Nacht mit Metzeleien zubrachten, die Zeit der Prozessionen und Paraden von Heiligen und Generalen, die nach Tod und Betrug rochen, der aufwieglerischen Reden, in denen alle logen und alle recht hatten. Die Wut und der Hass, die Jahre später die einen und die anderen dazu brachten, sich im Namen großspuriger Losungen und bunter Fetzen umzubringen, begannen sich bereits in der vergifteten Luft abzuzeichnen. Die ewige Dunstglocke der Fabriken hing schwer über der Stadt und hüllte die Straßenbahnen und Fuhrwerke auf den gepflasterten Alleen ein. Die Nacht gehörte dem Gaslicht und den vom Mündungsfeuer und blauen Pulverdampf durchbrochenen Schatten der Gassen. In diesen Jahren wuchs man rasch heran, und wenn die Kindheit von ihnen abfiel, hatten manche Jungen und Mädchen bereits den Blick von Alten.
Da ich außer diesem finsteren Barcelona keine weitere Familie mehr besaß, wurde mir jetzt die Zeitung zur Zuflucht und Welt, bis ich mit meinem Gehalt das Zimmer in Doña Carmens Pension mieten konnte. Ich wohnte dort erst eine Woche, als die Hauswirtin zu mir kam und mir mitteilte, vor der Tür frage ein Herr nach mir. Auf dem Treppenabsatz stand ein grau gekleideter Mann mit grauem Blick, der mich mit grauer Stimme fragte, ob ich David Martín sei, mir ein in Packpapier geschlagenes Paket überreichte und die Stufen hinunter verschwand und schließlich noch mit seiner grauen Abwesenheit meine elende Umgebung verpestete. Ich ging mit dem Paket ins Zimmer zurück und schloss hinter mir die Tür. Niemand außer zwei, drei Leuten bei der Zeitung wusste, dass ich hier wohnte. Neugierig riss ich die Verpackung auf — ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie ein Paket bekommen. Zum Vorschein kam ein altes Holzkästchen, das mir vertraut vorkam. Ich legte es auf die Pritsche und öffnete es. Es enthielt Vaters alte Pistole, die Waffe, die er von der Armee bekommen hatte und mit der er von den Philippinen zurückgekehrt war, um auf einen frühen, elendiglichen Tod hinzuarbeiten. Neben der Waffe lag ein Schächtelchen Kugeln. Ich nahm die Pistole heraus und wog sie in der Hand. Sie roch nach Pulver und Öl. Ich fragte mich, wie viele Menschen der Vater mit dieser Waffe wohl getötet hatte, ehe er mit ihr seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen gedachte und bis ihm andere zuvorkamen. Ich legte sie zurück und klappte das Kästchen zu. In einem ersten Impuls wollte ich es zum Abfall geben, aber dann wurde mir bewusst, dass mir vom Vater nichts blieb als diese Pistole. Einer der üblichen Wucherer hatte nach Vaters Tod das wenige, das wir in jener alten Wohnung gegenüber dem Palau de la Müsica besessen hatten, konfisziert, um Vaters Schulden zu begleichen, und jetzt vermutlich beschlossen, mich bei meinem Eintritt ins Erwachsenenalter mit diesem makabren Andenken willkommen zu heißen. Ich versteckte das Kästchen auf dem Schrank zuhinterst an der Wand, wo sich der Staub ansammelte und Doña Carmen selbst auf Stelzen nicht hingelangte, und rührte es jahrelang nicht mehr an.
Noch am selben Abend ging ich zu Sempere und Söhne, und da ich mir jetzt als Mann von Welt und nicht ohne Mittel vorkam, verkündete ich dem Buchhändler meine Absicht, dieses alte Exemplar von Große Erwartungen zu erwerben, das ich ihm vor Jahren hatte zurückgeben müssen.
»Sie können dafür verlangen, was Sie wollen«, sagte ich. »Nennen Sie den Preis für sämtliche Bücher, die ich Ihnen in den letzten zehn Jahren nicht bezahlt habe.«
Noch heute sehe ich Semperes trauriges Lächeln, als er mir die Hand auf die Schulter legte.
»Ich habe es heute Morgen verkauft«, sagte er niedergeschlagen.
Dreihundertfünfundsechzig Tage, nachdem ich meine erste Erzählung für Die Stimme der Industrie verfasst hatte, kam ich wie üblich in die Redaktion. Sie war mehr oder weniger verwaist. Nur eine Handvoll Redakteure war da, die vor Monaten noch liebevolle Spitznamen und unterstützende Worte für mich gefunden hatten, jetzt aber meinen Gruß nicht zur Kenntnis nahmen, sondern ein raunendes Grüppchen bildeten. Innerhalb einer Minute hatten sie ihre Mäntel zusammengerafft und verschwanden, als befürchteten sie eine Ansteckung. Ich blieb allein in diesem unauslotbaren Raum zurück und versank im Anblick Dutzender leerer Tische. Langsame, schwere Schritte hinter mir kündigten Don Basilio an.
»Guten Abend, Don Basilio. Was ist denn heute hier los, dass alle gegangen sind?«
Er schaute mich traurig an und setzte sich an den Nebentisch.
»Die ganze Redaktion ist zu einem Weihnachtsessen gegangen. Im Restaurant Set Portes«, sagte er leise. »Vermutlich hat man Ihnen nichts gesagt.«
Ich schützte mit einem Lächeln Gleichgültigkeit vor und schüttelte den Kopf.
»Und Sie, gehen Sie nicht hin?«
Er verneinte.
»Mir ist die Lust vergangen.«
Wir schauten uns schweigend an.
»Und wenn ich Sie einlade?«, bot ich an. »Wohin Sie wollen. Ins Can Solè, wenn es Ihnen recht ist. Nur Sie und ich, um den Erfolg der Geheimnisse von Barcelona zu feiern.«
Don Basilio nickte bedächtig und lächelte.
»Martín«, sagte er schließlich. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll.«
»Was sagen?«
Er räusperte sich.
»Ich darf keine weiteren Folgen der Geheimnisse von Barcelona mehr bringen.«
Verständnislos schaute ich ihn an. Er wich meinem Blick aus.
»Soll ich was anderes schreiben? Etwas mehr in der Art von Galdós?«
»Martín, Sie wissen doch, wie die Leute sind. Es hat Beschwerden gegeben. Ich habe versucht, das Ganze zu stoppen, aber der Chef ist ein schwacher Mensch und mag keine unnötigen Konflikte.«
»Ich verstehe Sie nicht, Don Basilio.«
»Martín, man hat mich gebeten, es Ihnen zu sagen.«
Endlich schaute er mir in die Augen und zuckte die Schultern.
»Ich bin entlassen«, murmelte ich.
Er nickte.
Ich spürte, wie mir gegen meinen Willen Tränen in die Augen traten.
»Jetzt kommt es Ihnen vor wie das Ende der Welt, aber glauben Sie mir, im Grunde ist das das Beste, was Ihnen passieren kann. Dies ist kein Ort für Sie.«
»Und was wäre ein Ort für mich?«
»Tut mir leid, Martín. Glauben Sie mir, es tut mir leid.«
Er stand auf und legte mir liebevoll die Hand auf die Schulter.
»Fröhliche Weihnachten, Martín.«
Noch am selben Abend räumte ich meinen Schreibtisch und verließ für immer diesen Ort, der mir eine Heimat gewesen war, um in die einsamen, dunklen Straßen der Stadt einzutauchen. Auf dem Weg zur Pension ging ich beim Set Portes unter den Arkaden der Casa Xifre vorbei. Vor dem Restaurant blieb ich stehen und sah drinnen meine Kollegen lachen und anstoßen. Ich hoffte, meine Abwesenheit würde sie glücklich machen oder sie wenigstens vergessen lassen, dass sie es nicht waren und nie sein würden.
Den Rest der Woche ließ ich mich willenlos treiben. Jeden Tag suchte ich in der Bibliothek des Athenäums Zuflucht und glaubte, bei meiner Rückkehr in die Pension würde ich eine Mitteilung des Chefredakteurs vorfinden mit der Bitte, wieder in die Redaktion einzutreten. In einem der Lesesäle zog ich die Karte hervor, die ich nach dem Erwachen in der ›Träumerei‹ in den Händen gehalten hatte, und begann diesem anonymen Wohltäter, Andreas Corelli, einen Brief zu schreiben, den ich am Ende immer wieder zerriss und tags darauf von neuem begann. Am siebten Tag, des Selbstmitleids überdrüssig, beschloss ich, mich auf die unvermeidliche Wallfahrt zu meinem Schöpfer zu machen.
In der Calle Pelayo bestieg ich die Bahn nach Sarrià. Damals verkehrte sie noch oberirdisch, und ich setzte mich vorn in den Wagen, um die Stadt und die Straßen zu betrachten, die umso breiter und herrschaftlicher wurden, je weiter wir uns vom Zentrum entfernten. An der Haltestelle Sarrià stieg ich aus und nahm eine Straßenbahn, die mich zum Kloster Pedralbes brachte. Es war ein für die Jahreszeit ungewöhnlich warmer Tag, und die Brise trug den Duft der die Hügelflanken sprenkelnden Pinien und Ginsterbüsche mit sich. Ich peilte die Avenida Pearson an, an der mehr und mehr gebaut wurde, und erblickte bald die unverwechselbaren Umrisse der Villa Helius. Als ich hinanstieg, sah ich Vidal in Hemdsärmeln im Fenster seines Turms sitzen und eine Zigarette schmauchen. Musik hing in der Luft, und ich erinnerte mich, dass er einer der wenigen Privilegierten war, die einen Rundfunkempfänger besaßen. Wie schön das Leben von dort oben anzusehen sein musste und wie klein ich selbst wohl erschien.
Ich winkte ihm zu, und er grüßte zurück. Als ich bei der Villa ankam, traf ich den Fahrer, Manuel, der eben mit einigen Lappen und einem Eimer dampfenden Wassers zu den Garagen unterwegs war.
»Was für eine Freude, Sie hier zu sehen, David«, sagte er. »Wie geht es Ihnen? Immer noch so erfolgreich?«
»Man tut, was man kann«, antwortete ich.
»Seien Sie nicht so bescheiden, sogar meine Tochter liest die Abenteuer, die Sie in der Zeitung drucken lassen.«
Ich schluckte, überrascht, dass die Tochter des Fahrers nicht nur wusste, dass es mich gab, sondern sogar einige meiner albernen Geschichten gelesen hatte.
»Cristina?«
»Eine andere habe ich nicht«, antwortete Don Manuel. »Der Herr ist oben in seinem Arbeitszimmer, wenn Sie hinaufgehen möchten.«
Ich nickte dankend und flüchtete mich ins Haus, wo ich zum Turm im dritten Stock hinaufstieg, der sich inmitten des gebogenen, bunten Ziegeldachs erhob. Dort saß Vidal in seinem Arbeitszimmer, von wo aus man in der Ferne die Stadt und das Meer sah. Er stellte das Radio ab, ein Gerät von der Größe eines kleinen Meteoriten, das er Monate zuvor gekauft hatte, als die ersten Sendungen von Radio Barcelona aus den Studios unter der Kuppel des Hotels Colón angekündigt wurden.
»Das hat mich vierhundert Peseten gekostet, und jetzt gibt es nur Plattitüden von sich.«
Wir setzten uns einander gegenüber. Alle Fenster waren zur Brise hin geöffnet, die mir, dem Bewohner der düsteren Altstadt, nach einer anderen Welt roch. Die Stille war köstlich, wie ein Wunder. Man konnte die Insekten im Garten sirren und die Blätter an den Bäumen im Wind rascheln hören.
»Fast wie im Hochsommer«, tastete ich mich vor.
»Lenk jetzt nicht ab. Man hat mir gesagt, was geschehen ist«, sagte Vidal.
Ich zuckte die Achseln und warf einen Blick auf seinen Schreibtisch. Ich wusste genau, dass er seit Monaten, wenn nicht seit Jahren etwas zu schreiben versuchte, was er einen »ernsten«
Roman nannte, weit entfernt von den einfach gestrickten Geschichten seiner Kriminalromane, um seinen Namen in die altehrwürdigsten Bibliotheken einzuschreiben. Es lagen nicht viele Blätter da.
»Wie geht’s dem Meisterwerk?«
Vidal warf die Zigarettenkippe aus dem Fenster und schaute in die Ferne.
»Ich habe nichts mehr zu sagen, David.«
»Unsinn.«
»Alles im Leben ist Unsinn. Es ist nur eine Frage der Perspektive.«
»Das sollten Sie in Ihrem Buch schreiben. Der Nihilist auf dem Hügel. Garantiert ein Erfolg.«
»Wer bald einen Erfolg braucht, das bist du — wenn ich mich nicht täusche, sind deine Mittel so ziemlich am Ende.«
»Ich kann immer noch eine milde Gabe von Ihnen annehmen. Für alles gibt es ein erstes Mal.«
»Jetzt kommt es dir vor wie das Ende der Welt, aber…«
»… bald werde ich merken, dass es das Beste ist, was mir passieren konnte. Sagen Sie nicht, Don Basilio schreibt jetzt Ihre Reden.«
Vidal lachte.
»Was hast du vor?«, fragte er.
»Sie brauchen nicht vielleicht einen Sekretär?«
»Ich habe bereits die beste Sekretärin, die man haben kann. Sie ist intelligenter als ich, unendlich viel fleißiger, und wenn sie lächelt, habe ich sogar das Gefühl, diese schweinische Welt habe so etwas wie eine Zukunft.«
»Und wer ist dieses Wunderkind?«
»Manuels Tochter.«
»Cristina.«
»Endlich höre ich dich einmal ihren Namen aussprechen.«
»Sie haben sich eine schlechte Woche ausgesucht, um sich über mich lustig zu machen, Don Pedro.«
»Schau mich nicht mit diesem Opferlammgesicht an. Glaubst du wirklich, Pedro Vidal würde tatenlos zusehen, wie dich diese geizigen und neidischen Durchschnittsmenschen vor die Tür setzen?«
»Ein Wort von Ihnen zum Chef hätte bestimmt alles geändert.«
»Ich weiß. Aus diesem Grund war ich es, der vorgeschlagen hat, dich zu entlassen.«
Ich fühlte mich, als hätte ich eine Ohrfeige bekommen.
»Vielen Dank.«
»Ich habe ihm gesagt, er soll dich entlassen, weil ich etwas viel Besseres für dich habe.«
»Betteln?«
»Kleingläubiger Mensch. Erst gestern habe ich mit zwei Partnern über dich gesprochen, die gerade einen neuen Verlag gegründet haben und frisches Blut zum Ausquetschen und Ausbeuten suchen.«
»Klingt wundervoll.«
»Sie kennen natürlich Die Geheimnisse von Barcelona und sind bereit, dir ein Angebot zu unterbreiten, das aus dir einen gestandenen Mann macht.«
»Meinen Sie das ernst?«
»Natürlich meine ich es ernst. Du sollst für sie einen Fortsetzungsroman in dem barocksten, blutrünstigsten und berauschendsten Stil des Grand-Guignol schreiben, der Die Geheimnisse von Barcelona für immer verstummen lässt. Ich glaube, das ist die Chance, auf die du gewartet hast. Ich habe ihnen gesagt, du würdest sie aufsuchen und könntest mit der Arbeit sogleich anfangen.«
Ich seufzte tief. Vidal zwinkerte mir zu und umarmte mich.
So kam es, dass ich wenige Monate nach meinem zwanzigsten Geburtstag das Angebot bekam und annahm, unter dem Pseudonym Ignatius B. Samson Groschenromane zu verfassen. Laut Vertrag musste ich monatlich zweihundert Schreibmaschinenseiten abliefern. Sie sollten von Intrigen, Morden in der Hautevolee, Gräueltaten in der Unterwelt und verbotenen Liebschaften zwischen grausamen Gutsbesitzern mit kräftigem Kinn und zarten Damen mit unaussprechlichen Sehnsüchten strotzen, verworrene Familiensagas aller Art behandeln und sich vor einem Hintergrund abspielen, der schmutziger und trüber war als das Wasser im Hafen. Die Reihe, die ich Die Stadt der Verdammten zu taufen beschloss, würde monatlich in einem kartonierten Band mit bunt illustrierter Titelseite erscheinen. Dafür würde ich mehr Geld bekommen, als ich nach meiner Vorstellung für etwas verdienen konnte, was mir zu Selbstachtung verhalf und keiner weiteren Zensur unterworfen war als dem Interesse der Leser, die ich für mich gewinnen könnte. Die Vertragsbestimmungen verpflichteten mich, aus der Anonymität eines kauzigen Pseudonyms heraus zu schreiben, aber das fand ich in diesem Moment einen geringen Preis dafür, dass ich mein Brot mit meinem Traumberuf verdienen konnte. Ich würde das eitle Glück opfern müssen, meinen Namen auf meinem Werk gedruckt zu sehen, nicht aber mich selbst und das, was ich war.
Meine Verleger waren zwei pittoreske Bürger mit Namen Barrido und Escobillas. Barrido, klein, rundlich und mit aufgesetztem ölig-sibyllinischem Dauerlächeln, war das Hirn des ganzen Unternehmens. Er kam aus der Wurstindustrie, und obwohl er in seinem ganzen Leben nicht mehr als drei Bücher gelesen hatte, darunter den Katechismus und das Telefonbuch, fälschte er die Geschäftsbücher seiner Geldgeber mit einer Kühnheit und einem dichterischen Gehabe, das ihm die Autoren nur zu gern nachgemacht hätten, die vom Haus, genau wie Vidal vorhergesagt hatte, betrogen, ausgebeutet und schließlich auf die Straße gesetzt wurden, sobald ihr Stern zu sinken begann, was früher oder später immer der Fall war.
Escobillas spielte eine komplementäre Rolle. Großgewachsen, hager und von leicht bedrohlichem Aussehen, war er im Bestattungswesen ausgebildet worden, und durch den betäubenden Duft des Kölnischwassers, mit dem er seine Weichteile tränkte, schien immer ein vager Formalingeruch durchzudringen, der einem die Haare zu Berge stehen ließ. Seine Aufgabe war im Wesentlichen die des finsteren Aufpassers, der mit der Peitsche in der Hand die schmutzige Arbeit erledigte, für die Barrido mit seiner heitereren, nicht so athletischen Veranlagung weniger befähigt war. Die Menagè-á-trois wurde vervollständigt durch Herminia, ihre Direktionssekretärin, die ihnen wie ein treuer Hund überallhin folgte und von allen nur die Giftige genannt wurde, da ihr, obwohl sie wie eine tote Mücke aussah, so wenig zu trauen war wie einer paarungswütigen Klapperschlange.
Abgesehen von Höflichkeitsbesuchen versuchte ich die drei so wenig wie möglich zu sehen. Wir pflegten eine streng kaufmännische Beziehung, und keine der Parteien verspürte den dringenden Wunsch, das festgesetzte Protokoll zu verändern. Ich hatte mir vorgenommen, die Chance zu nutzen und hart zu arbeiten, um Vidal — und mir selbst — zu beweisen, dass ich seine Hilfe und sein Vertrauen verdiente. Sobald ich das erste Geld in der Hand hatte, beschloss ich, Doña Carmens Pension zu verlassen und nach komfortableren Umgebungen Ausschau zu halten. Schon seit langem hatte ich ein Auge auf einen wuchtig wirkenden Kasten, Nummer 30 in der Calle Flassaders, geworfen, einen Steinwurf vom Paseo del Born entfernt, an dem ich auf dem Weg zur Zeitung jahrelang täglich vorbeigekommen war. Das Haus, aus dessen mit Reliefs und Wasserspeiern geschmückter Fassade ein Turm wuchs, war seit Jahren verschlossen, die Tür strotzte vor Ketten und rostzerfressenen Vorhängeschlössern. Trotz seiner Größe und gruftartigen Anmutung, oder vielleicht gerade deswegen, weckte die Vorstellung, darin zu wohnen, in mir eine ähnliche Wollust wie verbotene Gedanken. Unter anderen Umständen hätte ich mich damit abgefunden, dass eine solche Behausung mein mageres Budget bei weitem überschritt, aber die langen Jahre der Verlassen- und Vergessenheit, zu denen sie verdammt schien, nährten in mir die Hoffnung, ihre Eigentümer würden mein Angebot, da niemand sonst Anspruch darauf erhob, annehmen.
Meine Umfrage im Viertel ergab, dass das Haus seit Jahren leer stand und sich in der Hand eines Immobilienverwalters namens Vicenç Clavè mit Büros in der Calle Comercio gegenüber dem Markt befand. Clavè war ein Kavalier alter Schule, der sich im Stil der Bürgermeisterstatuen und Vaterlandshelden, die man vor dem Ciudadela-Park traf, kleidete und sich, eh man sich’s versah, in eine hochtrabende Rhetorik stürzte, die weder Gott noch die Welt verschonte.
»So, so, Schriftsteller sind Sie. Tja, ich könnte Ihnen viele Geschichten erzählen, die Stoff für interessante Bücher abgäben.«
»Das bezweifle ich nicht. Warum beginnen Sie nicht mit dem Haus Nummer 30 in der Calle Flassaders?«
Claves Gesicht wurde zur griechischen Maske.
»Das Haus mit dem Turm?«
»Genau.«
»Glauben Sie mir, junger Mann, kommen Sie mir nicht auf die Idee, dort zu wohnen.«
»Warum denn nicht?«
Clavè senkte die Stimme, als befürchtete er, die Wände hätten Ohren, und murmelte in düsterem Ton: »Dieses Haus bringt Unglück. Ich habe es mir angesehen, als wir es mit dem Notar versiegelten, und ich kann Ihnen versichern, dagegen ist der alte Teil des Montjuïc-Friedhofs geradezu heiter. Seitdem steht es leer. Das Haus ist voll schlechter Erinnerungen. Niemand will es haben.«
»Seine Erinnerungen können nicht schlechter sein als meine, und sicher werden sie den Preis drücken, der dafür verlangt wird.«
»Manches hat einen Preis, der nicht mit Geld zu bezahlen ist.«
»Kann ich es besichtigen?«
Ich besuchte das Haus mit dem Turm zum ersten Mal an einem Märzvormittag in Gesellschaft des Verwalters, seines Sekretärs und eines Buchhalters der Bank, die das Eigentumsrecht innehatte. Anscheinend hatte es um die Liegenschaft jahrelang verwickelte, schmutzige Rechtsstreitigkeiten gegeben, bis sie schließlich an das Kreditunternehmen zurückfiel, das für ihren letzten Eigentümer die Bürgschaft übernommen hatte. Wenn Clavè die Wahrheit sagte, hatte das Haus mindestens zwanzig Jahre lang niemand mehr betreten.
Als ich Jahre später den Bericht einiger britischer Forscher las, die in der Dunkelheit eines tausendjährigen ägyptischen Grabes in ein Labyrinth von Verwünschungen eingedrungen waren, sollte ich mich an den ersten Besuch im Haus mit dem Turm in der Calle Flassaders erinnern. Der Sekretär war mit einer Öllampe ausgerüstet — im Haus waren nie elektrische Leitungen gelegt worden. Der Buchhalter hatte einen Satz von fünfzehn Schlüsseln bei sich, um die Ketten von den unzähligen Vorhängeschlössern zu befreien. Als er die Haustür öffnete, strömte uns ein feuchtfauliger Grabesgeruch entgegen. Der Buchhalter bekam einen Hustenanfall, und der Verwalter, der mit skeptischem, kritischem Gesicht gekommen war, hielt sich ein Taschentuch vor den Mund.
»Sie zuerst«, lud er mich ein.
Die Eingangshalle war eine Art Innenhof nach Art der alten Paläste in diesem Viertel, mit großen Steinplatten und einer breiten, zum Haupteingang hinaufführenden Steintreppe. In der Höhe blinzelte ein vollständig von Tauben- und Möwenkot verkrustetes gläsernes Oberlicht.
»Jedenfalls gibt es hier keine Ratten«, verkündete ich beim Betreten des Hauses.
»Da muss jemand einen guten Geschmack und gesunden Menschenverstand gehabt haben«, sagte der Verwalter hinter mir.
Wir stiegen die Treppe hinauf bis zum Absatz vor der Wohnung im ersten Stock, wo der Buchhalter zehn Minuten benötigte, um den passenden Schlüssel zu finden. Der Mechanismus gab mit einem Ächzen nach, das nicht unbedingt wie ein Willkommensgruß klang. Die Tür ging auf und gab die Sicht auf einen endlosen Korridor voller Spinnweben frei, die im Dunkeln zitterten.
»Heilige Muttergottes«, murmelte der Verwalter.
Niemand wagte den ersten Schritt, sodass ich auch diesmal die Expedition anführen musste. Der Sekretär hielt die Lampe in die Höhe und betrachtete alles mit gequälter Miene.
Verwalter und Buchhalter schauten sich geheimnisvoll an. Als er sah, dass ich sie beobachtete, lächelte der Mann von der Bank sanft.
»Ein bisschen Staubwischen und ein paar Reparaturen, und Sie haben einen Palast«, sagte er.
»Blaubarts Palast«, ergänzte der Verwalter.
»Sehen wir es doch positiv«, wiegelte der Buchhalter ab. »Das Haus ist seit einiger Zeit unbewohnt, und so was hat immer einige Schäden zur Folge.«
Ich achtete kaum auf sie. Ich hatte so oft von diesem Haus geträumt, wenn ich daran vorbeigegangen war, dass ich seine Gruftatmosphäre kaum wahrnahm. Durch den Hauptkorridor weiter gehend, erforschte ich die Zimmer und Kammern mit ihren alten Möbeln, auf denen eine dicke Staubschicht lag. Auf dem fadenscheinigen Tuch eines Tisches standen Tafelgeschirr und ein Tablett mit versteinerten Früchten und Blumen. Gläser und Besteck erweckten den Eindruck, die Hausbewohner wären mitten im Abendessen aufgebrochen.
Die Schränke waren vollgestopft mit abgetragener Wäsche, verschossenen Kleidungsstücken und Schuhen. Es gab schubladenweise Fotografien, Augengläser, Federn und Uhren. Von den Kommoden her betrachteten uns staubverhüllte Bilder. Die Betten waren ordentlich gemacht und lagen unter einem weißen, im Dämmerlicht glänzenden Schleier. Auf einem Mahagonitisch ruhte ein riesiges Grammophon. Die Nadel war auf der Schallplatte bis zur Mitte geglitten. Ich blies den Staub weg, um das Etikett zu lesen: das Lacrimosa von Mozart.
»Ein Sinfonieorchester im Haus«, sagte der Buchhalter. »Herz, was begehrst du mehr? Sie werden hier wie ein Pascha leben.«
Der Verwalter warf ihm einen mordlustigen Blick zu und schüttelte den Kopf. Wir untersuchten die ganze Wohnung bis zur nach hinten hinausgehenden Veranda, wo auf einem Tisch ein Kaffeeservice stand und in einem Sessel ein aufgeschlagenes Buch darauf wartete, umgeblättert zu werden.
»Sieht aus, als wären sie urplötzlich auf und davon, ohne noch etwas mitnehmen zu können«, sagte ich.
Der Buchhalter räusperte sich.
»Möchte der Herr vielleicht das Arbeitszimmer sehen?«
Das Arbeitszimmer befand sich in einem spitzen Turm, einer eigentümlichen Konstruktion, deren Kern eine vom Hauptkorridor ausgehende Wendeltreppe war und auf deren Wänden die Spuren so vieler Generationen zu lesen waren wie in der Erinnerung der Stadt festgeschrieben. Er thronte wie ein Aussichtsturm über den Dächern des Ribera-Viertels und mündete in eine kleine Laterne aus Buntmetall und glas, die von einer Wetterfahne in Gestalt eines Drachens gekrönt war.
Über die Treppe gelangten wir zum Wohnzimmer, wo der Buchhalter die großen Fenster aufriss, um Luft und Licht hereinzulassen. Es war ein rechteckiger Raum mit hoher Decke und dunklem Holzboden. Von den vier Fenstern aus sah man auf die Kathedrale Santa María del Mar im Süden, den großen Born-Markt im Norden, den alten Francia-Bahnhof im Osten und im Westen auf das unendliche Gewirr von Straßen und Alleen, die sich zum Tibidabo-Hügel hin drängten.
»Na, was sagen Sie? Ein Wunder«, rief der Mann von der Bank begeistert.
Der Verwalter sah sich zurückhaltend und verdrießlich um. Sein Sekretär hielt die Lampe immer noch hoch, obwohl sie gar nicht mehr nötig war. Ich trat an eines der Fenster und schaute verzaubert zum Himmel hinauf.
Zu meinen Füßen erstreckte sich ganz Barcelona, und ich stellte mir vor, wenn ich diese meine neuen Fenster öffnete, würden mir die Straßen in der Abenddämmerung Geschichten und Geheimnisse ins Ohr raunen, damit ich sie auf Papier bannte und allen erzählte, die sie hören wollten. Vidal hatte in den elegantesten Gefilden von Pedralbes inmitten von Hügeln, Bäumen und Wolken seinen herrschaftlichen Elfenbeinturm. Ich würde einen unheimlichen Festungsturm haben, der sich über die ältesten Straßen der Stadt erhob und von dem Pesthauch und der Finsternis eines Gräberfeldes umgeben war, das Dichter wie Mörder die »Feuerrose« genannt hatten.
Was am Schluss den Ausschlag gab, war der Schreibtisch in der Mitte des Arbeitszimmers. Darauf stand wie eine große Metall- und Lichtskulptur eine Underwood-Schreibmaschine, für die allein ich schon die Miete bezahlt hätte. Ich setzte mich in den majestätischen Sessel vor dem Tisch und strich lächelnd über die Tasten.
»Ich nehme es.«
Der Buchhalter seufzte erleichtert, der Verwalter verdrehte die Augen und bekreuzigte sich. Noch am selben Nachmittag unterschrieb ich einen Mietvertrag für zehn Jahre. Während die Arbeiter der Elektrizitätsgesellschaft überall Stromleitungen verlegten, begann ich mithilfe eines Trupps aus drei Dienern, die mir Vidal ungefragt geschickt hatte, die Wohnung zu putzen, aufzuräumen und herzurichten. Bald stellte ich fest, dass der Modus Operandi der Elektriker darin bestand, aufs Geratewohl Löcher zu bohren und dann zu fragen. Drei Tage nach ihrem Eintreffen brannte in der Wohnung noch keine einzige Glühbirne, aber dafür sah sie aus, als wäre sie von Gips und Mineralien fressendem Gewürm befallen.
»Gibt es keine andere Art, das zu lösen?«, fragte ich den Bataillonschef, der alles mit dem Hammer regelte.
Otilio, wie diese Naturbegabung hieß, zeigte mir Pläne des Hauses, die mir der Verwalter zusammen mit den Schlüsseln ausgehändigt hatte, und argumentierte, schuld sei das Haus, es sei schlecht gebaut.
»Schauen Sie da«, sagte er. »Wenn was verpfuscht ist, dann ist es eben verpfuscht. Gleich hier. Hier steht, Sie hätten eine Zisterne auf der Dachterrasse. Nee. Die haben Sie im Hinterhof.«
»Na und? Für die Zisterne sind nicht Sie zuständig, Otilio. Konzentrieren Sie sich auf das Elektrische. Strom. Keine Hähne und Rohrleitungen. Strom. Ich brauche Licht.«
»Das hängt eben alles zusammen. Was sagen Sie zur Veranda?«
»Sie hat keinen Strom.«
»Laut den Plänen sollte das eine tragende Wand sein. Aber der Kollege Remigio da hat sie nur leicht getätschelt, und die halbe Mauer ist zusammengekracht. Und von den Zimmern ganz zu schweigen. Laut dem Plan da hat das Zimmer am Ende des Gangs fast vierzig Quadratmeter. Nicht im Traum. Wenn es auf zwanzig kommt, können wir von Glück sagen. Da gibt es eine Wand, wo es gar keine geben dürfte. Und von den Abflüssen, na ja, da fangen wir besser gar nicht erst an. Kein einziger ist da, wo er angeblich sein soll.«
»Sind Sie sicher, dass Sie die Pläne richtig interpretieren?«
»Na hören Sie mal, ich bin vom Fach. Glauben Sie mir, dieses Haus ist eine harte Nuss. Da hat Hinz und Kunz dran rumgefummelt.«
»Tja, Sie werden mit den Dingen zurechtkommen müssen, wie sie sind. Wirken Sie ein Wunder oder was auch immer, aber am Freitag will ich die Wände vergipst und gestrichen und Strom haben.«
»Machen Sie keinen Druck, das ist Präzisionsarbeit. Da muss man strategisch vorgehen.«
»Und was haben Sie vor?«
»Zunächst mal frühstücken gehen.«
»Aber Sie sind doch erst vor einer halben Stunde gekommen.«
»Señor Martín, mit dieser Einstellung kommen wir nicht weiter.«
Das Trauerspiel von Bauarbeiten und Pfuschereien dauerte eine Woche länger als vorgesehen, aber selbst mit Otilio und seinen Wunderknaben, die an Unorten Löcher bohrten und zweieinhalbstündige Frühstückspausen einlegten, hätte ich vor lauter Vorfreude, endlich in diesem Traumhaus zu wohnen, notfalls Jahre bei Kerzen- und Öllicht verbracht. Zu meinem Glück war das Ribera-Viertel nicht nur ein geistiges Reservoir, sondern verfügte auch über Handwerker aller Art. Einen Katzensprung von meinem neuen Domizil entfernt fand ich einen, der mir neue Schlösser installierte, die nicht aussahen wie von der Bastille abgeschraubt, sowie Wandleuchten und Armaturen. Die Vorstellung, Telefon zu haben, überzeugte mich nicht, und nach dem, was ich aus Vidals Rundfunkempfänger gehört hatte, zählte ich nicht zum anvisierten Publikum der von der Presse so apostrophierten »Wellenübertragungsmaschinen«. Ich beschloss, mich mit Büchern und Stille zu umgeben. Aus der Pension nahm ich nichts weiter mit als etwas frische Wäsche und das Kästchen mit der Pistole meines Vaters, das einzige Andenken an ihn. Meine restlichen Kleider und persönlichen Gebrauchsgegenstände verteilte ich an die anderen Pensionsgäste. Hätte ich auch Haut und Erinnerung zurücklassen können, ich hätte es getan.
An dem Tag, als der erste Band der Stadt der Verdammten erschien, verbrachte ich meine erste Nacht in dem elektrifizierten Haus mit Turm. Der Roman war eine frei erfundene, verwickelte Geschichte rund um den
›Träumerei‹-Brand von 1903 und ein geisterhaftes Geschöpf, das seither durch die Straßen des Raval spukte. Noch bevor die Druckerschwärze der Erstausgabe trocken war, begann ich schon die Arbeit am zweiten Roman der Reihe. Nach meinen Berechnungen musste Ignatius B. Samson bei monatlich dreißig Tagen ununterbrochener Arbeit im Durchschnitt täglich 6,66 taugliche Manuskriptseiten produzieren, um den Vertrag zu erfüllen, was ein Wahnsinn war, aber den Vorteil hatte, dass mir nicht viel Freizeit blieb, um mir dessen bewusst zu sein.
Ich merkte kaum, dass ich, während die Tage dahingingen, allmählich mehr Kaffee und Zigaretten konsumierte als Sauerstoff. Je mehr ich mein Hirn vergiftete, desto mehr hatte ich den Eindruck, es werde zu einer Dampfmaschine, die gar nicht mehr abkühlte. Ignatius B. Samson war jung und zäh. Ich arbeitete die ganze Nacht und sank in der Morgendämmerung wie gerädert in seltsame Träume, in denen sich die Buchstaben auf dem Blatt in der Schreibmaschine vom Papier lösten und wie Spinnen über meine Hände und mein Gesicht liefen, durch die Haut drangen und sich in meinen Adern einnisteten, bis mein Herz schwarz überzogen war und mein Blick mit dunklen Tintenpfützen umwölkt. Wochenlang verließ ich das alte Haus kaum und vergaß, welcher Tag und welcher Monat es war. Ich schenkte den Kopfschmerzen keine Beachtung, die mich immer wieder schlagartig befielen, als bohrte sich mir ein Metallstichel in den Schädel, und mir mit einem weißen Blitz die Sicht versengten. Ich hatte mich daran gewöhnt, mit einem dauernden Pfeifen in den Ohren zu leben, das nur das Raunen des Windes oder der Regen übertönen konnte. Wenn kalter Schweiß mein Gesicht bedeckte und meine Hände auf der Tastatur der Underwood zitterten, nahm ich mir manchmal vor, am nächsten Tag den Arzt aufzusuchen. Doch dann galt es, an diesem Tag wieder eine weitere Szene und eine weitere Geschichte zu erzählen.
Als Ignatius B. Samson ein Jahr alt wurde, beschloss ich, mir zu seinem Geburtstag einen freien Tag zu schenken und mich wieder mit der Sonne, dem Wind und den Straßen der Stadt auszusöhnen, die ich nicht mehr betreten hatte, um sie mir nur noch in der Phantasie vorzustellen. Ich rasierte mich, machte mich zurecht und schlüpfte in meinen besten Anzug. Ich öffnete die Fenster des Arbeitszimmers und der Veranda, um die Wohnung durchzulüften und den dichten Dunst, der zu ihrem ureigenen Geruch geworden war, in alle Winde zu zerstreuen. Als ich auf die Straße hinunterging, steckte in der Spalte unter dem Briefkasten ein großer Umschlag. Darin fand ich ein Blatt Pergament mit dem Engelssiegel und folgenden Worten in der bekannten erlesenen Handschrift:
Lieber David,
ich wollte der Erste sein, der Sie in diesem neuen Abschnitt Ihrer Karriere beglückwünscht. Ich habe die Lektüre der ersten Folgen von Die Stadt der Verdammten außerordentlich genossen. Ich baue darauf, dass Ihnen dieses kleine Geschenk zusagt.
Noch einmal drücke ich Ihnen hiermit meine Bewunderung aus und den Wunsch, dass sich eines Tages unsere Wege kreuzen. In der Gewissheit, dass dem so sein wird, grüßt Sie herzlich Ihr Freund und Leser
Das Geschenk bestand in dem Exemplar der Großen Erwartungen, das mir Señor Sempere in meiner Kindheit erst geschenkt und das ich ihm dann zurückgegeben hatte, bevor mein Vater es finden konnte, demselben, das an dem Tag, da ich es nach Jahren zu jedem Preis zurückkaufen wollte, in den Händen eines Fremden verschwunden war. Ich betrachtete den Block Papier, der für mich vor nicht allzu langer Zeit die ganze Magie und alles Licht der Welt enthalten hatte. Auf dem Deckel waren noch die Flecken von meinem Blut zu sehen. »Danke«, murmelte ich.
Señor Sempere setzte seine Präzisionsbrille auf, um das Buch zu untersuchen. Auf seinem Schreibtisch im Hinterzimmer bettete er es auf ein Tuch und richtete das Licht der Bogenlampe darauf. Seine fachkundige Analyse dauerte mehrere Minuten. Andächtig schweigend, schaute ich zu, wie er die Seiten wendete und beschnupperte, mit den Fingern über das Papier und den Rücken strich, das Buch in der einen und dann in der anderen Hand abwog, schließlich den Deckel zuklappte und mit einer Lupe die Blutflecken untersuchte, die meine Finger zwölf oder dreizehn Jahre zuvor hinterlassen hatten.
»Unglaublich«, flüsterte er und nahm die Brille ab. »Es ist dasselbe Buch. Was haben Sie gesagt, wie Sie es zurückbekommen haben?«
»Ich weiß es selber nicht. Señor Sempere, was wissen Sie von einem französischen Verleger namens Andreas Corelli?«
»Zunächst einmal klingt das eher italienisch als französisch, Andreas freilich scheint griechisch zu sein…«
»Der Verlag sitzt in Paris. Éditions de la Lumière.«
Sempere dachte einige Augenblicke nach und zögerte.
»Ich fürchte, das sagt mir nichts. Ich werde Barceló fragen, der weiß alles. Vielleicht kann er weiterhelfen.«
Gustavo Barceló war einer der Doyens der Barceloneser Antiquarenzunft, und sein enzyklopädisches Wissen war ebenso legendär wie sein etwas grantiger, pedantischer Charakter. Unter Fachleuten konsultierte man im Zweifelsfall Barceló. In diesem Augenblick steckte Semperes Sohn, der zwar zwei oder drei Jahre älter war als ich, aber nach wie vor so schüchtern, dass er sich manchmal regelrecht unsichtbar machte, den Kopf herein und gab seinem Vater ein Zeichen.
»Vater, da holt jemand eine Bestellung ab, die, glaube ich, Sie aufgenommen haben.«
Der Buchhändler nickte und reichte mir einen dicken, rundum abgegriffenen Band.
»Das ist das jüngste Gesamtverzeichnis der europäischen Verleger. Schauen Sie doch inzwischen schon mal, ob Sie was finden.«
Ich blieb im Hinterzimmer allein und suchte vergeblich die Éditions de la Lumière, während Sempere vorn bediente. Beim Durchblättern des Kataloges hörte ich eine Frauenstimme mit ihm sprechen, die mir vertraut vorkam. Als der Name Pedro Vidal fiel, schaute ich neugierig hinüber.
Cristina Sagnier, Tochter des Fahrers und Sekretärin meines Mentors, ging einen Stapel Bücher durch, die Sempere ins Verkaufsregister eintrug. Als sie mich erblickte, lächelte sie höflich, aber ganz offensichtlich erkannte sie mich auch diesmal nicht. Sempere schaute auf, und als er meinen dümmlichen Blick auffing, erstellte er rasch ein Röntgenbild der Situation.
»Sie kennen sich schon, nicht wahr?«, fragte er.
Cristina zog überrascht die Brauen hoch und schaute mich erneut an, konnte mich aber nicht einordnen.
»David Martín. Ein Freund von Don Pedro«, sagte ich.
»Ach ja, natürlich. Guten Tag.«
»Wie geht es Ihrem Vater?«, fragte ich.
»Gut, gut. Er wartet an der Ecke im Wagen auf mich.«
Sempere, der jede Gelegenheit beim Schopf packte, mischte sich ein.
»Señorita Sagnier ist hier, um einige Bücher abzuholen, die Vidal bestellt hat. Sie sind ziemlich schwer, vielleicht könnten Sie so freundlich sein und sie ihr zum Auto tragen.«
»Bemühen Sie sich nicht…«, protestierte Cristina.
»Aber selbstverständlich«, platzte ich heraus und wollte den Stapel hochheben, der etwa so viel wog wie die Luxusausgabe der Encyclopædia Britannica mitsamt Ergänzungsbänden.
Ich spürte, wie in meinem Rücken etwas knackte, und Cristina schaute mich erschrocken an.
»Geht es Ihnen gut?«
»Haben Sie keine Angst, Señorita. Der liebe Martín ist bärenstark, obwohl er ein Literat ist«, sagte Sempere. »Stimmt doch, oder, Martín?«
Cristina schaute mich wenig überzeugt an. Ich setzte das Lächeln des unbesiegbaren Machos auf.
»Nichts als Muskeln. So etwas mach ich zum Aufwärmen.«
Sempere junior erbot sich, die Hälfte der Bücher zu tragen, aber in einer diplomatischen Anwandlung fasste ihn sein Vater am Arm. Cristina hielt mir die Tür auf, und ich nahm die fünfzehn oder zwanzig Meter zu dem an der Ecke des Portal del Ángel geparkten Hispano-Suiza in Angriff. Mit größter Mühe schaffte ich die Strecke, kurz bevor meine Arme in Flammen aufgingen. Manuel, der Fahrer, half mir beim Einladen und grüßte mich herzlich.
»Was für ein Zufall, Sie hier zu sehen, Señor Martín.«
»Die Welt ist klein.«
Cristina schenkte mir ein leichtes Lächeln als Dankeschön und stieg ein.
»Tut mir leid, das mit den Büchern.«
»Nicht der Rede wert. Ein wenig Training hebt die Moral.«
Ich nahm die Verspannungen und Verknotungen, die sich in meinem Rücken gebildet hatten, nicht zur Kenntnis. »Grüßen Sie mir Don Pedro.«
Ich schaute zu, wie sie in Richtung Plaza Catalunya davonfuhren, und als ich mich umwandte, erblickte ich Sempere in der Tür der Buchhandlung. Er sah mit katzenhaftem Grinsen zu mir her und bedeutete mir, den Speichel abzuwischen. Ich ging zu ihm und musste selbst über mich lachen.
»Jetzt kenne ich Ihr Geheimnis, Martín. Ich hätte Sie in solchen Gefechten für beherrschter gehalten.«
»Ich bin etwas aus der Übung.«
»Wem erzählen Sie das. Kann ich das Buch ein paar Tage behalten?«
Ich nickte.
»Passen Sie gut darauf auf.«
Monate später sah ich sie in Gesellschaft von Pedro Vidal an dem Tisch wieder, der in der Maison Dorée immer für ihn reserviert war. Er lud mich ein, mich dazuzusetzen, aber ich brauchte nur einen Blick mit ihr zu wechseln, um zu wissen, dass ich das Angebot ausschlagen musste.
»Was macht der Roman, Don Pedro?«
»Große Fortschritte.«
»Freut mich. Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.«
Unsere Begegnungen waren zufällig. Manchmal traf ich sie in der Buchhandlung Sempere und Söhne, wo sie oft für Don Pedro Bücher abholte. Wenn es sich ergab, ließ mich Sempere mit ihr allein, aber bald roch Cristina den Braten und schickte einen der Diener aus der Villa Helius, um die Bestellungen abzuholen.
»Ich weiß, es geht mich nichts an«, sagte Sempere, »aber vielleicht sollten Sie sie sich aus dem Kopf schlagen.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Señor Sempere.«
»Martín, wir kennen uns schon ziemlich lange…«
Die Monate vergingen wie im Nebel, ohne dass ich es richtig merkte. Ich lebte des Nachts, schrieb von der Abend- bis zur Morgendämmerung und schlief tagsüber. Barrido und Escobillas konnten sich gar nicht genug zum Erfolg der Stadt der Verdammten beglückwünschen, und wenn sie mich am Rand des Zusammenbruchs sahen, versicherten sie, nach den nächsten beiden Romanen würden sie mir ein Sabbatjahr gewähren, damit ich ausruhen oder einen eigenen Roman schreiben könnte, für den sie gewaltig die Werbetrommel rühren würden, und zwar mit meinem richtigen Namen in Großbuchstaben auf dem Umschlag. Immer nach den nächsten beiden Romanen. Die Stiche, Kopfschmerzen und Schwindelanfälle wurden häufiger und intensiver, aber ich schrieb sie der Müdigkeit zu und erstickte sie mit noch mehr Koffein-, Zigaretten- und Kodeininjektionen und was mir ein Apotheker in der Calle Argenteria sonst noch unterm Ladentisch zusteckte und was in meinen Adern explodierte. Don Basilio, mit dem ich jeden zweiten Donnerstag auf einer Restaurantterrasse in der Barceloneta zu Mittag aß, drängte mich zu einem Arztbesuch. Ich sagte ihm jedes Mal, ich hätte noch in dieser Woche einen Termin.
Abgesehen von meinem ehemaligen Chef und den Semperes traf ich mich aus Zeitgründen höchstens noch mit Vidal, und wenn das geschah, dann eher weil er mich aufsuchte als aus eigenem Antrieb. Er mochte das Haus mit dem Turm nicht und wollte immer hinaus und einen Spaziergang machen, bis wir gewöhnlich im Almirall in der Calle Joaquin Costa landeten, wo er ein Konto hatte und freitagabends einen literarischen Stammtisch pflegte. Zu dem lud er mich allerdings nicht ein, denn die Teilnehmer, allesamt frustrierte Dichterlinge und Arschkriecher, die in Erwartung eines Almosens, einer Empfehlung an einen Verleger oder eines lobenden Wortes zur Übertünchung verletzter Eitelkeiten alle seine Einfälle beklatschten, hassten mich bekanntermaßen mit einer Energie und Ausdauer, die ihren künstlerischen Unterfangen fehlte, welche ein ignorantes, hinterhältiges Publikum einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Dort erzählte er mir im Absinth- und Havannadunst von seinem Roman, der nie fertig wurde, von seinen Plänen, sich vom Nichtstun pensionieren zu lassen, und seinen Liebschaften und Eroberungen, die desto jünger und heiratsfähiger waren, je älter er wurde.
»Du fragst mich gar nicht nach Cristina«, sagte er manchmal boshaft.
»Was soll ich denn fragen?«
»Ob sie mich nach dir fragt.«
»Fragt sie Sie denn nach mir, Don Pedro?«
»Nein.«
»Eben.«
»Tatsächlich hat sie dich neulich erwähnt.«
Ich schaute ihn an, um zu sehen, ob er mich auf den Arm nahm.
»Und was hat sie gesagt?«
»Das wirst du nicht gern hören.«
»Schießen Sie schon los.«
»Sie hat es nicht mit diesem Wort gesagt, aber ich glaubte zu verstehen, dass sie nicht begreift, warum du dich mit Schundromanen für diese zwei Gauner prostituierst und dein Talent und deine Jugend zum Fenster hinauswirfst.«
Es fühlte sich an, als hätte Vidal mir einen Dolch aus Eis in den Magen gestoßen.
»Das denkt sie also?«
Er zuckte die Schultern.
»Von mir aus kann sie sich zum Teufel scheren.«
Ich arbeitete jeden Tag außer sonntags. Da schlenderte ich dann durch die Straßen und endete fast immer in einem Weinkeller in der Avenida del Paralelo, wo man leicht in den Armen einer anderen einsamen, erwartungsvollen Seele flüchtige Gesellschaft und Zuneigung fand. Bis zum Morgen danach, wenn ich neben einer von ihnen erwachte und in ihr eine Fremde entdeckte, wollte ich nie wahrhaben, dass sie sich alle glichen, in der Hautfarbe, dem Gang, einer Geste oder einem Blick. Um das schneidende Schweigen des Abschieds zu ersticken, fragten mich diese Damen für eine Nacht über kurz oder lang immer, womit ich mein Brot verdiene, und wenn mich die Eitelkeit trieb und ich mich als Schriftsteller zu erkennen gab, nannten sie mich einen Lügner — niemand hatte je von einem David Martín gehört, wohingegen einige wussten, wer Ignatius B. Samson war, und Die Stadt der Verdammten vom Hörensagen kannten. Mit der Zeit gab ich vor, im Hafenzollhaus der Atarazanas oder als Gehilfe in der Anwaltskanzlei Sayrach, Muntaner y Cruells zu arbeiten.
Ich erinnere mich an einen Abend im Café de la Ópera in Gesellschaft einer Musiklehrerin namens Alicia, welcher ich vermutlich dabei half, jemanden zu vergessen, der sich nicht vergessen ließ. Ich wollte sie gerade küssen, als ich durch die Fensterscheibe Cristinas Gesicht erblickte. Bis ich auf der Straße war, hatte sie sich schon im Gedränge der Ramblas verloren. Zwei Wochen danach wollte mich Vidal unbedingt zur Premiere von Madame Butterfly ins Liceo einladen. Die Familie Vidal besaß eine Loge im ersten Rang, und Vidal ging die ganze Spielzeit über einmal pro Woche hin. Als ich mich im Foyer mit ihm traf, sah ich, dass er Cristina mitgenommen hatte. Sie grüßte mich mit einem eiskalten Lächeln und würdigte mich keines Wortes und keines Blicks mehr, bis Vidal mitten im zweiten Akt zum Club Liceo hinunterging, um einen Vetter zu begrüßen, und uns in der Loge allein ließ, nur wir zwei ohne ein weiteres Schutzschild als Puccini und die Hunderte ins Halbdunkel des Theaters getauchten Gesichter. Zehn Minuten hielt ich es aus, ehe ich mich ihr zuwandte und ihr in die Augen schaute.
»Habe ich etwas getan, was Sie gekränkt hat?«
»Nein.«
»Können wir also versuchen, so zu tun, als ob wir Freunde wären, wenigstens bei einer solchen Gelegenheit?«
»Ich will nicht Ihre Freundin sein, David.«
»Warum nicht?«
»Weil auch Sie nicht mein Freund sein wollen.«
Sie hatte recht, ihr Freund wollte ich nicht sein.
»Stimmt es, dass Sie denken, ich verkaufe mich selbst?«
»Was ich denke, tut nichts zur Sache. Was zählt, ist, was Sie denken.«
Ich blieb noch fünf Minuten sitzen, dann stand ich auf und ging ohne ein weiteres Wort. Als ich bei den breiten Stufen zum Foyer angelangte, hatte ich mir bereits vorgenommen, ihr nie wieder einen Gedanken, einen Blick oder ein freundliches Wort zu widmen.
Am nächsten Tag traf ich sie vor der Kathedrale, und als ich ihr ausweichen wollte, winkte sie mir lächelnd zu. Ich blieb wie angewurzelt stehen und sah sie auf mich zukommen.
»Wollen Sie mich nicht zu einem Nachmittagsimbiss einladen?«
»Ich muss anschaffen und habe erst in zwei Stunden Feierabend.«
»Dann gestatten Sie, dass ich Sie einlade. Welches ist Ihr Tarif, um einer Dame eine Stunde Gesellschaft zu leisten?«
Murrend folgte ich ihr in ein Café in der Calle Petritxol. Wir bestellten zwei Tassen heißen Kakao, setzten uns einander gegenüber und warteten ab, wer zuerst schwach werden und den Mund öffnen würde. Ausnahmsweise gewann ich.
»Ich wollte Sie gestern nicht beleidigen, David. Ich weiß nicht, was Ihnen Don Pedro erzählt haben mag, aber das habe ich nie gesagt.«
»Vielleicht denken Sie es bloß — deshalb hat es mir Don Pedro wohl gesagt.«
»Sie haben keine Ahnung, was ich denke«, antwortete sie hart. »Und Don Pedro auch nicht.«
Ich zuckte die Achseln.
»Schon gut.«
»Was ich gesagt habe, war etwas ganz anderes. Ich sagte, Sie würden nicht das tun, was Sie empfinden.«
Ich nickte lächelnd. Das Einzige, was ich in diesem Moment empfand, war das Verlangen, sie zu küssen. Herausfordernd hielt Cristina meinem Blick stand. Sie drehte das Gesicht auch nicht weg, als ich die Hand ausstreckte, ihr die Lippen streichelte und über Kinn und Hals fuhr.
»So nicht«, sagte sie schließlich.
Als der Kellner unsere dampfenden Tassen brachte, war sie bereits weg. Es vergingen Monate, ohne dass ich auch nur ihren Namen hörte.
Eines Tages Ende September, ich hatte eben eine neue Folge der Stadt der Verdammten zu Ende geschrieben, beschloss ich, mir die Nacht freizugeben. Ich spürte, wie einer jener Stürme heraufzog, in denen mich Übelkeit befiel und feurige Dolchstöße mir das Hirn durchbohrten. Ich schluckte eine Handvoll Kodeinpillen und legte mich im Dunkeln aufs Bett, um den kalten Schweiß und das Zittern der Hände versiegen zu lassen. Als ich gerade in den Schlaf sank, hörte ich es an der Tür klingeln. Ich schleppte mich in den Vorraum und öffnete. Vidal, in einem seiner tadellosen italienischen Seidenanzüge, zündete sich eine Zigarette an — in einem Lichtkegel, den Vermeer persönlich für ihn gemalt zu haben schien.
»Lebst du, oder spreche ich mit einem Gespenst?«, fragte er.
»Sagen Sie nicht, Sie seien den ganzen Weg von der Villa Helius heruntergekommen, um mir eine Standpauke zu halten.«
»Nein. Ich bin gekommen, weil ich seit Monaten nichts von dir höre und mir Sorgen mache. Warum lässt du dir nicht eine Telefonleitung in dieses Mausoleum legen, so wie andere Menschen auch?«
»Ich mag kein Telefon. Ich schaue den Leuten gern ins Gesicht, wenn sie mit mir reden, und ich mag es, wenn auch sie mich ansehen.«
»Ich weiß nicht, ob das in deinem Fall eine gute Idee ist. Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut?«
»Das ist Ihre Spezialität, Don Pedro.«
»In der Leichenhalle des Klinikums gibt es Leute mit einer gesünderen Hautfarbe als du. Los, zieh dich an.«
»Warum?«
»Weil ich es sage. Wir fahren spazieren.«
Vidal ließ keinen Protest gelten. Er zog mich zum Auto mit, das auf dem Paseo del Born wartete, und hieß Manuel losfahren.
»Wohin geht’s denn?«
»Überraschung.«
Wir durchquerten Barcelona bis zur Avenida Pedralbes und begannen den Hügel hinaufzufahren. Ein paar Minuten später erschien die Villa Helius, deren sämtliche Fenster hell erleuchtet waren und das Haus in der Dämmerung in glühendes Gold hüllten. In der Villa führte er mich zum großen Salon. Dort wartete eine Schar von Leuten, die bei meinem Anblick in Applaus ausbrachen. Ich erkannte Don Basilio, Cristina, Sempere und Sohn, meine ehemalige Lehrerin Doña Mariana, einige Autoren, die mit mir bei Barrido und Escobillas publizierten und mit denen ich Freundschaft geschlossen hatte, Manuel, der sich zu der Gruppe gesellt hatte, sowie einige von Vidals Eroberungen. Lächelnd reichte mir Don Pedro ein Glas Champagner.
»Alles Gute zum achtundzwanzigsten Geburtstag, David.«
Ich hatte ihn völlig vergessen.
Nach dem Abendessen entschuldigte ich mich einen Augenblick und ging in den Garten hinaus, um frische Luft zu schnappen. Der Sternenhimmel spannte einen silbernen Schleier über die Bäume. Es war kaum eine Minute verstrichen, da hörte ich Schritte näher kommen. Als ich mich umwandte, sah ich mich Cristina Sagnier gegenüber, dem letzten Menschen, den ich in diesein Moment erwartete. Sie lächelte mir zu, beinahe als wollte sie sich für die Störung entschuldigen.
»Pedro weiß nicht, dass ich herausgekommen bin, um mit Ihnen zu sprechen«, sagte sie.
Es entging mir nicht, das sie ihn nicht mehr »Don«
Pedro nannte, aber ich gab vor, es nicht zu merken.
»Ich möchte mit Ihnen sprechen, David. Aber nicht hier und nicht jetzt.«
Ich war verwirrt.
»Können wir uns morgen irgendwo treffen?«, fragte sie. »Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen nicht viel Zeit stehlen werde.«
»Unter einer Bedingung«, antwortete ich, »dass Sie mich nicht mehr siezen. Die Geburtstage machen einen schon alt genug.«
Sie lächelte.
»Einverstanden. Ich duze Sie, wenn auch Sie mich duzen.«
»Duzen ist eine meiner Spezialitäten. Wo sollen wir uns treffen?«
»Könnte es bei dir sein? Ich möchte nicht, dass uns jemand sieht oder dass Pedro weiß, dass ich mit dir gesprochen habe.«
»Wie du willst…«
Cristina lächelte erleichtert.
»Danke. Morgen also? Am Nachmittag?«
»Wann du willst. Weißt du, wo ich wohne?«
»Mein Vater weiß es.«
Sie beugte sich ein wenig vor und küsste mich auf die Wange.
»Alles Gute zum Geburtstag, David.«
Bevor ich etwas sagen konnte, war sie im Garten verschwunden. Als ich ins Haus zurückkam, war sie schon fort. Vidal betrachtete mich vom anderen Ende des Salons mit einem frostigen Blick, der erst zu einem Lächeln wurde, als ihm aufging, dass ich seine Person bemerkt hatte.
Eine Stunde später bestand Manuel mit Vidals Einwilligung darauf, mich im Hispano-Suiza nach Hause zu bringen. Ich setzte mich neben ihn, wie ich es immer tat, wenn ich allein mit ihm fuhr, was er jeweils nutzte, um mir seine Fahrkünste zu erläutern und mich sogar eine Weile ans Steuer zu lassen, was Vidal natürlich nicht wusste. An diesem Abend war er aber schweigsamer als sonst und gab bis zum Stadtzentrum keinen Ton von sich. Er war dünner als bei unserer letzten Begegnung, und ich hatte den Eindruck, das Alter beginne ihm die Rechnung zu präsentieren.
»Ist etwas, Manuel?«, fragte ich.
Er zuckte die Schultern.
»Nichts Besonderes, Señor Martín.«
»Wenn Sie etwas bedrückt…«
»Lappalien, die Gesundheit. In meinem Alter hat man viele kleine Sorgen, Sie wissen ja. Aber ich bin nicht mehr wichtig. Wichtig ist meine Tochter.«
Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte, und nickte bloß.
»Ich weiß genau, dass Sie sie liebhaben, Señor Martín. Meine Cristina. Ein Vater kann so was sehen.«
Stumm nickte ich wieder. Wir wechselten kein weiteres Wort mehr, bis Manuel an der Einmündung zur Calle Flassaders anhielt, mir die Hand gab und mir noch einmal zum Geburtstag gratulierte.
»Sollte mir etwas zustoßen«, sagte er dann, »Sie würden ihr doch helfen, nicht wahr, Señor Martín? Würden Sie das für mich tun?«
»Selbstverständlich, Manuel. Aber was sollte Ihnen denn zustoßen?«
Er lächelte und winkte mir zum Abschied zu. Ich sah ihn einsteigen und langsam davonfahren. Ich war mir nicht ganz sicher, doch ich hätte schwören können, dass er nach der weitgehend wortlosen Fahrt nun ein Selbstgespräch führte.
Den ganzen Vormittag drehte ich meine Runden in der Wohnung, stellte hier etwas an seinen Platz, rückte dort etwas zurecht, lüftete und putzte Dinge und Winkel, von denen ich kaum mehr gewusst hatte, dass ich sie besaß. Ich lief zu einem Blumenstand auf dem Markt, und als ich mit Sträußen beladen zurückkam, konnte ich mich nicht erinnern, wo ich die Vasen versteckt hatte. Ich kleidete mich, als ginge ich auf Stellensuche. Ich studierte Worte und Begrüßungsformeln ein, die mir lächerlich erschienen. Ich betrachtete mich im Spiegel und stellte fest, dass Vidal recht hatte — ich glich einem Vampir. Schließlich setzte ich mich in der Veranda in einen Sessel und wartete mit einem Buch in den Händen. In zwei Stunden gelangte ich nicht über die erste Seite hinaus. Endlich, Punkt vier Uhr, hörte ich Cristinas Schritte im Treppenhaus und sprang auf. Als sie an der Tür klingelte, stand ich bereits für eine Ewigkeit dort.
»Hallo, David. Ist es gerade ungünstig?«
»Nein, nein. Im Gegenteil. Komm bitte herein.«
Cristina lächelte höflich und trat in den Korridor. Ich führte sie in die Veranda und bat sie, Platz zu nehmen. Ihr Blick prüfte alles aufmerksam.
»Ein sehr spezieller Ort«, sagte sie. »Pedro hatte mir schon gesagt, du hättest eine herrschaftliche Wohnung.«
»Er nennt sie eher trübselig, aber vermutlich ist das nur eine Frage des Blickwinkels.«
»Darf ich dich fragen, warum du gerade hierher gezogen bist? Die Wohnung ist ziemlich groß für jemanden, der allein lebt.«
Jemand, der allein lebt, dachte ich. Man wird immer zu dem, was man in den Augen derer zu sein scheint, die man begehrt.
»Wirklich? Im Grunde bin ich hierher gezogen, weil ich dieses Haus jahrelang fast täglich gesehen habe, wenn ich zur Zeitung ging oder von dort zurückkam. Es war immer verschlossen, und schließlich dachte ich, es warte auf mich. Am Ende habe ich buchstäblich davon geträumt, eines Tages darin zu wohnen. Und so ist es denn auch gekommen.«
»Werden alle deine Träume Wirklichkeit, David?«
Dieser ironische Ton erinnerte mich allzu sehr an Vidal.
»Nein. Das ist der einzige. Aber du wolltest mit mir über irgendetwas sprechen, und ich halte dich mit Geschichten auf, die dich gewiss nicht interessieren.«
Es klang ausweichender, als ich wollte. Mit dem Verlangen erging es mir gerade so wie mit den Blumen — sowie ich es in den Händen hielt, wusste ich nicht, wohin damit.
»Ich wollte mich mit dir über Pedro unterhalten«, begann sie.
»Aha.«
»Du bist sein bester Freund. Du kennst ihn. Er spricht von dir wie von einem Sohn. Er liebt dich wie niemanden sonst. Das weißt du ja.«
»Don Pedro hat mich behandelt wie einen Sohn«, sagte ich. »Ohne ihn und ohne Señor Sempere weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre.«
»Der Grund, warum ich mit dir reden wollte, ist, dass ich mir große Sorgen um ihn mache.«
»Große Sorgen um ihn?«
»Du weißt ja, dass ich vor Jahren angefangen habe, als Sekretärin für ihn zu arbeiten. Tatsächlich ist es so, dass Pedro ein großzügiger Mensch ist und wir mit der Zeit gute Freunde geworden sind. Er hat sich meinem Vater und mir gegenüber sehr anständig benommen. Darum tut es mir leid, ihn so zu sehen.«
»Wie denn?«
»Es ist dieses verdammte Buch, der Roman, den er schreiben will.«
»Er treibt ihn schon seit Jahren um.«
»Seit Jahren macht er ihn zunichte. Ich korrigiere all diese Seiten und tippe sie ab. In den Jahren, da ich seine Sekretärin bin, hat er nicht weniger als zweitausend Seiten vernichtet. Er sagt, er habe kein Talent. Er sei ein Schwindler. Er trinkt ununterbrochen. Manchmal finde ich ihn oben in seinem Arbeitszimmer, betrunken, heulend wie ein Kind…«
Ich schluckte.
»… er sagt, er beneide dich, er möchte sein wie du, die Leute lögen und lobten ihn nur, weil sie etwas von ihm wollten, Geld, Unterstützung, aber er wisse, dass seine Arbeit nicht den geringsten Wert habe. Den anderen gegenüber wahrt er das Gesicht, die Anzüge und all das, ich aber sehe jeden Tag, wie er langsam erlischt. Manchmal habe ich Angst, dass er eine Dummheit macht. Schon lange. Ich habe nichts gesagt, weil ich nicht wusste, mit wem ich sprechen konnte. Ich weiß, wenn er erfahren sollte, dass ich dich aufgesucht habe, bekäme er einen Wutanfall. Er sagt immer: Belästige David nicht mit meinen Angelegenheiten. Er hat sein Leben noch vor sich, und ich bin bereits ein Nichts. Immer sagt er solches Zeug. Entschuldige, dass ich dir das alles erzähle, aber ich wusste nicht, zu wem ich gehen sollte…«
Wir verfielen in ein langes Schweigen. Ich spürte, wie mich mit Eiseskälte die Gewissheit durchdrang, dass der Mensch, dem ich mein Leben verdankte, in Verzweiflung gestürzt war und ich nicht das Geringste davon gemerkt hatte. So sehr war ich in meine eigene Welt eingeschlossen gewesen.
»Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen.«
»Doch«, sagte ich. »Du hast gut daran getan.«
Cristina sah mich mit einem matten Lächeln an, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, ich sei kein Fremder für sie.
»Was sollen wir tun?«, fragte sie.
»Wir werden ihm helfen.«
»Und wenn er nicht will?«
»Dann machen wir es eben so, dass er es nicht merkt.«
Nie werde ich herausfinden, ob ich es, wie ich mir einredete, tat, um Vidal zu helfen, oder einfach nur, um unter diesem Vorwand mit Cristina zusammen sein zu können. Wir trafen uns fast jeden Nachmittag im Haus mit dem Turm. Cristina brachte die von Vidal tags zuvor von Hand geschriebenen Seiten mit, die immer von Korrekturen strotzten: Es gab ganze durchgestrichene Absätze, zu allen möglichen und unmöglichen Stellen Anmerkungen und tausendundeinen Versuch, das Unrettbare zu retten. Wir gingen ins Arbeitszimmer hinauf und setzten uns dort auf den Boden. Cristina las die Seiten ein erstes Mal vor, und dann diskutierten wir ausgiebig darüber. Mein Mentor versuchte, so etwas wie eine epische Saga zu schreiben, die sich über drei Generationen einer sich von den Vidals nicht allzu sehr unterscheidenden Barceloneser Dynastie erstreckte. Die Handlung setzte einige Jahre vor der industriellen Revolution mit der Ankunft zweier verwaister Brüder in der Stadt ein und entwickelte sich zu einer Art biblischer Parabel á la Kain und Abel. Mit der Zeit wurde einer der Brüder zum reichsten und mächtigsten Magnaten seiner Zeit, während sich der andere der Kirche und der Fürsorge hingab, um seine Tage mit einer tragischen Episode zu beschließen, die an das Unglück des Priesterdichters Jacint Verdaguer erinnerte. Im Laufe ihres Lebens gerieten die beiden Brüder immer wieder aneinander, und eine endlose Galerie von Personen defilierte durch hitzige Melodramen, Skandale, Morde, verbotene Liebschaften, Tragödien und weitere Requisiten des Genres, und das alles vor dem Hintergrund der aufsteigenden modernen Metropole und der Industrie- und Finanzwelt. Die Geschichte wurde von einem Enkel eines der beiden Brüder erzählt, der das Geschehen rekonstruierte, während er 1909 in der »Blutigen Woche« des Separatistenaufstandes von einem Palast in Pedralbes aus die Stadt in Flammen aufgehen sah.
Als Erstes überraschte mich, dass ich dieselbe Geschichte Vidal zwei Jahre zuvor selbst skizziert hatte, um ihm eine Anregung für seinen angeblich geplanten schwergewichtigen Roman zu geben. Die zweite Überraschung war, dass er mir nie etwas von seinem Entschluss gesagt hatte, diesen Stoff zu benutzen, und doch bereits Jahre darauf verwendet hatte, obwohl es an Gelegenheiten zu einer Mitteilung nicht gemangelt hätte. Zum Dritten überraschte mich schließlich, dass der Roman in seiner jetzigen Form ein monumentales Fiasko darstellte: Nichts daran funktionierte, angefangen bei Personal und Aufbau über Atmosphäre und szenische Ausgestaltung bis hin zu seiner Sprache und dem Stil, die an die Bemühungen eines Dilettanten mit einem Übermaß an Muße und einem überspannten Ehrgeiz erinnerten.
»Was meinst du?«, fragte Cristina. »Glaubst du, das ist zu retten?«
Ich mochte ihr nicht sagen, dass Vidal die Grundidee von mir ausgeborgt hatte, und um sie nicht noch besorgter zu machen, nickte ich zuversichtlich.
»Es erfordert ein wenig Arbeit. Das ist alles.«
Als es dunkel wurde, setzte sich Cristina an die Maschine, und gemeinsam schrieben wir Vidals Roman Buchstabe für Buchstabe, Zeile für Zeile, Szene für Szene um.
Die von Vidal konstruierte Handlung war so unklar und geistlos, dass ich mich dafür entschied, meine eigene, seinerzeit skizzierte Fabel zu benutzen. Ganz allmählich brachten wir die Personen wieder auf die Beine, indem wir sie von innen her aufplatzen ließen und von Kopf bis Fuß neu erschufen. Keine einzige Szene, kein Augenblick, keine Zeile und kein Wort überstand diesen Prozess, und doch hatte ich mit fortschreitender Arbeit den Eindruck, wir ließen dem Roman, den Vidal im Herzen trug, Gerechtigkeit widerfahren.
Wie mir Cristina erzählte, las Vidal manchmal Wochen nach dem vermeintlichen Verfassen einer Szene diese in der Reinschrift noch einmal durch und war überrascht über die handwerkliche Raffinesse und die Kraft seines Talents, an das er nicht mehr geglaubt hatte. Sie befürchtete, er könnte uns auf die Schliche kommen, und fand, wir müssten uns stärker an das Original halten.
»Du darfst die Eitelkeit eines Schriftstellers nie unterschätzen, vor allem eines mittelmäßigen«, antwortete ich.
»Ich höre dich nicht gern so über Pedro reden.«
»Tut mir leid. Ich auch nicht.«
»Vielleicht solltest du eine etwas gemächlichere Gangart einschlagen. Du siehst nicht gut aus. Um Pedro mache ich mir keine Sorgen mehr — aber um dich, jetzt bist du dran.«
»Etwas Gutes musste das alles ja mit sich bringen.«
Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, dass ich nur lebte, um unsere gemeinsamen Stunden zu genießen. Es dauerte nicht lange, bis meine eigene Arbeit darunter zu leiden begann. Ich stahl mir die Zeit für Die Stadt der Verdammten dort, wo es sie nicht gab, schlief kaum noch drei Stunden täglich und schrieb unter Hochdruck, um meine Fristen einzuhalten. Barrido und Escobillas lasen grundsätzlich keine Bücher, weder die von ihnen veröffentlichten noch die der Konkurrenz, hingegen las sie die Giftige, die bald argwöhnte, dass mit mir etwas nicht stimmte.
»Das bist doch nicht du«, sagte sie manchmal.
»Natürlich bin das nicht ich, meine liebe Herminia. Das ist Ignatius B. Samson.«
Ich war mir der Gefahr bewusst, der ich mich ausgesetzt hatte, aber es war mir egal. Es war mir gleichgültig, täglich schweißüberströmt und mit rasendem Herzen zu erwachen, das mir den Brustkorb zu sprengen drohte. Ich hätte einen noch viel höheren Preis bezahlt, um nicht auf die langwierige, heimliche Überarbeitung mit Cristina verzichten zu müssen, die uns zu Verbündeten machte. Ich wusste ganz genau, dass sie es jeden Tag, wenn sie zu mir kam, in meinen Augen las, und ich wusste ganz genau, dass sie nie auf meine Zeichen eingehen würde. In diesem Wettlauf nach nirgendwo gab es weder Zukunft noch große Erwartungen, da gaben wir uns keinen Illusionen hin.
Manchmal, müde von den Versuchen, ein Schiff wieder flottzumachen, das überall leckte, ließen wir Vidals Manuskript liegen und sprachen über etwas anderes, fern von dieser Nähe, die uns allmählich das Bewusstsein zu versengen drohte, weil sie derart unter Verschluss gehalten werden musste. Ab und zu nahm ich allen Mut zusammen und ergriff ihre Hand. Sie ließ mich gewähren, aber ich wusste, dass es ihr unangenehm war, dass sie unser Tun nicht für richtig hielt, dass uns die Dankbarkeit, die wir Vidal schuldig waren, gleichzeitig einte und trennte. Eines Abends, kurz bevor sie nach Hause ging, nahm ich ihr Gesicht in die Hände und versuchte sie zu küssen. Sie reagierte nicht, und als ich mich im Spiegel ihres Blicks sah, wagte ich nicht, noch irgendetwas zu sagen. Sie stand auf und ging ohne ein Wort. Zwei Wochen lang sah ich sie nicht mehr, und als sie wiederkam, nahm sie mir das Versprechen ab, dass so etwas nie wieder vorkäme.
»David, du musst begreifen, dass wir uns so wie jetzt nicht mehr weiter sehen werden, wenn die Arbeit an Pedros Buch beendet ist.«
»Warum nicht?«
»Das weißt du ganz genau.«
Meine Avancen waren nicht das Einzige, was Cristina ungern sah. Nach und nach wurde mir zur Gewissheit, dass Vidal recht gehabt hatte, als er gesagt hatte, Cristina missfielen die Bücher, die ich für Barrido und Escobillas schrieb, auch wenn sie es für sich behielt. Ich konnte mir unschwer vorstellen, dass sie mein Tun für seelenloses Söldnertum hielt und fand, ich verkaufte mein Selbst für ein Almosen, um diese beiden Kanalratten reich zu machen, weil ich selbst nicht den Mut aufbrachte, mit dem Herzen, unter meinem eigenen Namen und mit meinen eigenen Gefühlen zu schreiben. Am meisten schmerzte mich, dass sie im Grunde recht hatte. Ich spielte mit der Idee, von meinem Vertrag zurückzutreten, ein Buch ausschließlich für sie zu schreiben, um ihren Respekt zu verdienen. Wenn das Einzige, was ich beherrschte, nicht gut genug für sie war, dann kehrte ich vielleicht besser zu den grauen, elenden Tagen in der Zeitung zurück. Ich würde immer noch von Vidals Nächstenliebe und Gefälligkeiten leben können.
Nach einer langen Arbeitsnacht ging ich spazieren, da ich nicht einschlafen konnte. Meine Schritte führten mich hinauf zur Baustelle der Sagrada-Familia-Kathedrale. Als ich noch klein war, war mein Vater manchmal mit mir hierhergekommen, um dieses Babel aus Skulpturen und Säulen zu bestaunen, dass sich nie wirklich erheben wollte, als wäre es verdammt. Es war faszinierend, immer wieder herzukommen und festzustellen, dass es sich nicht verändert hatte, dass die Stadt ringsherum unaufhörlich weiterwuchs, die Sagrada Familia jedoch eine Ruine blieb.
Als ich dort eintraf, brach eine blaue, von roten Lichtern durchschnittene Dämmerung an, in der sich die Türme der Weihnachtsfassade in ihren Umrissen abzeichneten. Ein Ostwind trug den Staub der ungepflasterten Straßen und den Säuregeruch der Fabriken heran, welche die Grenze zum Sant-Martí-Viertel markierten. Ich überquerte eben die Calle Mallorca, als ich im Frühdunst die Lichter einer Straßenbahn näher kommen sah. Ich hörte das Rattern der Metallräder auf den Schienen und das Gebimmel, mit dem der Straßenbahner auf seine Schattenfahrt aufmerksam machte. Ich wollte loslaufen, konnte aber nicht. Wie angewurzelt blieb ich stehen, bewegungslos zwischen den Schienen, und sah zu, wie die Lichter der Bahn auf mich zustürzten. Ich hörte die Rufe des Fahrers und sah die blockierten Bremsen eine Funkenspur aus den Rädern schlagen. Und obwohl der Tod nur wenige Meter entfernt war, konnte ich keinen Muskel rühren. Ich nahm den Geruch nach Elektrizität wahr und das weiße, in meinen Augen brennende Licht, bis es verschwamm. Ich sackte wie eine Puppe zusammen und blieb noch einige Sekunden bei Sinnen, gerade lange genug, um zu sehen, wie das rauchende Rad der Straßenbahn etwa zwanzig Zentimeter von meinem Gesicht entfernt zum Stillstand kam. Dann war alles Dunkelheit.
Ich öffnete die Augen. Steinsäulen dick wie Bäume strebten im Halbdunkel einem nackten Gewölbe entgegen. Nadeln staubigen Lichts fielen schräg herab und ließen nicht enden wollende Reihen von Pritschen erkennen. Von der hohen Decke lösten sich kleine Wassertropfen wie schwarze Tränen, die mit einem Widerhall auf dem Boden zerplatzten. Es roch nach Moder und Feuchtigkeit.
»Willkommen im Fegefeuer.«
Ich richtete mich auf und erblickte einen Mann in Lumpen, der mit einem Grinsen, dem die Hälfte der Zähne fehlte, im Licht einer Laterne die Zeitung las. Die Titelseite verkündete, General Primo de Rivera übernehme sämtliche Staatsgewalten und führe eine gewaltlose Diktatur ein, um das Land vor der drohenden Katastrophe zu retten. Die Zeitung war mindestens sechs Jahre alt.
»Wo bin ich?«
Neugierig schaute mich der Mann über die Zeitung hinweg an.
»Im Hotel Ritz. Riechen Sie das nicht?«
»Wie bin ich hierhergekommen?«
»Halb tot. Man hat Sie heute Morgen auf der Trage hergebracht, und seither schlafen Sie Ihren Rausch aus.«
Ich betastete mein Jackett und stellte fest, dass alles Geld, das ich bei mir gehabt hatte, verschwunden war.
»Was für eine Welt«, rief der Mann angesichts der Meldungen in seiner Zeitung. »Es zeigt sich, dass in den fortgeschrittensten Phasen der Idiotie der Ideenmangel mit Ideologieüberschuss kompensiert wird.«
»Wie komme ich hier raus?«
»Wenn Sie es so eilig haben… Es gibt zwei Möglichkeiten, eine endgültige und eine vorübergehende. Die endgültige führt übers Dach: Ein kräftiger Sprung, und Sie sind diesen ganzen Mist für immer los. Der vorübergehende Weg befindet sich dort hinten, wo dieser Trottel mit der erhobenen Faust steht, dem die Hosen schlottern und der jedem, der vorbeigeht, den Revolutionsgruß vormacht. Aber wenn Sie dort hinausgehen, landen Sie über kurz oder lang wieder hier.«
Mit der Klarheit, die bei Verrückten dann und wann aufblitzt, betrachtete er mich amüsiert.
»Haben Sie mich bestohlen?«
»Schon der Zweifel ist eine Beleidigung. Als man Sie hergebracht hat, waren Sie bereits blitzblank, und ich akzeptiere nur börsennotierte Wertpapiere.«
Ich ließ den Spinner mit der alten Zeitung und den fortschrittlichen Reden auf seiner Pritsche zurück. Der Kopf drehte sich mir noch immer, und nur mit großer Mühe konnte ich ein paar Schritte geradeaus tun, aber auf der einen Seite des hohen Gewölbes schaffte ich es bis zu einer Tür, die zu einem Treppenhaus führte. Oben an der Treppe sickerte ein wenig Licht herein. Ich stieg vier, fünf Stockwerke hinauf, bis ich einen Mundvoll frische Luft erhaschte, die durch ein großes Tor am Ende der Treppe eindrang. Ich trat ins Freie hinaus und begriff endlich, wo ich gelandet war.
Hoch über der Hauptallee des Ciudadela-Parks erstreckte sich vor mir ein künstlicher See. Über der Stadt ging langsam die Sonne unter, und das algenbedeckte Wasser kräuselte sich im Wind. Der Wasserspeicher glich einer wuchtigen Burg oder einem Gefängnis. Er war für die Weltausstellung von 1888 gebaut worden, aber inzwischen diente sein Bauch, der wie eine weltliche Kathedrale wirkte, Todgeweihten und Bettlern bei Nacht oder Kälte als Unterschlupf. Jetzt war das große Becken auf dem Dach ein morastiger See, der langsam durch die Ritzen des Gebäudes versickerte.
Mit einem Mal bemerkte ich eine an einem Ende des Dachs stehende Gestalt. Als hätte sie allein die Berührung meines Blicks aufgeschreckt, wandte sie sich brüsk zu mir um und schaute mich an. Ich fühlte mich immer noch leicht benommen und sah alles umwölkt, aber ich glaubte, dass sie näher kam. Sie tat es allzu schnell, als ob ihre Füße beim Gehen den Boden nicht berührten und sie sich schubweise fortbewegte, zu flink, als dass man es hätte wahrnehmen können. Im Gegenlicht konnte ich kaum ihr Gesicht erkennen, aber immerhin sah ich, dass es sich um einen Herrn mit schwarz glänzenden, für sein Antlitz eigentlich zu großen Augen handelte. Je näher er mir kam, desto länger und größer wirkte seine Silhouette. Ich verspürte einen Schauder und wich einige Schritte zurück, ohne zu bemerken, dass ich damit schon an den Rand des Beckens gelangte. Ich spürte, wie ich schwankte, und wäre rücklings ins dunkle Wasser gefallen, hätte mich der Fremde nicht am Arm gepackt. Sanft zog er mich auf sicheren Boden zurück. Ich setzte mich auf eine der Bänke, die den Teich umstanden, und atmete tief. Als ich aufschaute, sah ich ihn zum ersten Mal in aller Deutlichkeit. Seine Augen waren von normaler Größe, die Statur wie die meine, seine Schritte und Bewegungen die eines ganz normalen Herrn. Sein Gesicht wirkte liebenswürdig.
»Danke«, sagte ich.
»Fühlen Sie sich gut?«
»Ja. Mir ist nur ein wenig schwindlig.«
Der Fremde setzte sich neben mich. Er war in einen dunklen, erlesen geschnittenen Dreiteiler gekleidet, mit einer kleinen Silberbrosche am Revers, einem Engel mit ausgebreiteten Flügeln, der mir seltsam vertraut vorkam. Als könnte er meine Gedanken lesen, lächelte mir der Fremde zu.
»Ich hoffe, ich habe Ihnen keine Angst gemacht«, sagte er. »Vermutlich haben Sie nicht erwartet, hier oben jemanden anzutreffen.«
Bestürzt schaute ich ihn an. Ich sah mein Gesicht in seinen schwarzen Pupillen, die sich weiteten, wie sich ein Tintenfleck auf dem Papier ausbreitet.
»Darf ich fragen, was Sie hierherführt?«
»Dasselbe wie Sie — große Erwartungen.«
»Andreas Corelli«, murmelte ich.
Sein Gesicht leuchtete auf.
»Welch ein Vergnügen, Sie endlich persönlich begrüßen zu können, mein Freund.«
Er sprach mit einem leichten Akzent, den ich nicht einordnen konnte. Mein Instinkt befahl mir, aufzustehen und so schnell wie möglich zu verschwinden, bevor dieser Fremde noch ein Wort sagte, aber etwas in seiner Stimme, in seinem Blick wirkte beruhigend und weckte Vertrauen. Ich mochte nicht fragen, wie er mich hier hatte ausfindig machen können, wenn nicht einmal ich selbst wusste, wie ich hierhergelangt war. Der Klang seiner Worte und das Licht in seinen Augen gaben mir neuen Mut. Er streckte mir die Hand entgegen, und ich ergriff sie. Sein Lächeln verhieß ein verlorenes Paradies.
»Ich denke, ich sollte Ihnen für all Ihre Liebenswürdigkeiten im Lauf der Jahre danken, Señor Corelli. Ich fürchte, ich stehe in Ihrer Schuld.«
»Keineswegs. Ich bin es, der in Ihrer Schuld steht und sich entschuldigen muss, dass ich Sie auf so unangebrachte Weise angesprochen habe, gerade hier und jetzt, aber ich gestehe, dass ich schon seit langem mit Ihnen sprechen wollte, jedoch keine Gelegenheit dazu fand.«
»Was kann ich also für Sie tun?«, fragte ich.
»Ich möchte, dass Sie für mich arbeiten.«
»Bitte?«
»Ich möchte, dass Sie für mich schreiben.«
»Natürlich. Ich habe vergessen, dass Sie Verleger sind.«
Er lachte. Er hatte ein sanftes Lachen wie ein Kind, das noch nie einen Teller zerschlagen hat.
»Der beste von allen. Der Verleger, auf den Sie das ganze Leben gewartet haben. Der Verleger, der Sie unsterblich machen wird.«
Er reichte mir eine Visitenkarte, die identisch war mit der, die ich beim Erwachen aus meinem Chloé-Traum in den Händen gehalten hatte und noch immer aufbewahrte.
ANDREAS Corelli
Éditeur
Éditions de la Lumière
69, Boulevard Saint-Germain
Paris
»Ich fühle mich geschmeichelt, Señor Corelli, aber ich fürchte, ich kann Ihre Einladung nicht annehmen. Ich habe einen Vertrag unterschrieben mit…«
»Barrido und Escobillas, ich weiß. Ein Gesindel, mit dem Sie — ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen — keinerlei Beziehung unterhalten sollten.«
»Es gibt Leute, die diese Ansicht teilen.«
»Señorita Sagnier vielleicht?«
»Kennen Sie sie?«
»Vom Hörensagen. Sie scheint zu den Frauen zu gehören, deren Respekt und Bewunderung einem jedes Opfer wert wären, nicht wahr? Ermuntert sie Sie nicht, diese beiden Parasiten zu verlassen und sich selbst treu zu sein?«
»So einfach ist das nicht. Ich habe einen Exklusivvertrag, der mich sechs weitere Jahre an sie bindet.«
»Ich weiß, aber das sollte Sie nicht bekümmern. Meine Anwälte studieren derzeit das Thema, und ich kann Ihnen versichern, dass es mehrere Formeln gibt, jede vertragliche Bindung endgültig aufzulösen, sollten Sie sich bereit erklären, meinen Vorschlag zu akzeptieren.«
»Und Ihr Vorschlag wäre…?«
Corelli lächelte verspielt und maliziös wie ein Schüler, der auskostet, im nächsten Moment ein Geheimnis zu enthüllen.
»Dass Sie ein Jahr ausschließlich mir widmen, um an einem Auftragswerk zu arbeiten, an einem Buch, dessen Thema wir bei der Unterzeichnung des Vertrags gemeinsam besprechen würden und für das ich Ihnen im Voraus die Summe von hunderttausend Francs bezahlen würde.«
Verblüfft schaute ich ihn an.
»Wenn Ihnen diese Summe zu niedrig erscheint, bin ich bereit zu prüfen, was Sie für angemessen halten. Ich will ehrlich sein mit Ihnen, Señor Martín, ich mag nicht mit Ihnen über Geld streiten. Und im Vertrauen, ich glaube, auch Sie werden das nicht wollen — ich weiß, wenn ich Ihnen erläutere, welche Art Buch Sie für mich schreiben sollen, wird der Preis nebensächlich sein.«
Ich seufzte und lächelte in mich hinein.
»Ich sehe, Sie glauben mir nicht.«
»Señor Corelli, ich bin Autor von Abenteuerromanen, die nicht einmal meinen Namen tragen. Meine Verleger, die Sie anscheinend schon kennen, sind zwei jämmerliche Betrüger, die ihr Gewicht in Mist nicht wert sind, und meine Leser wissen nicht einmal, dass es mich gibt. Seit Jahren verdiene ich meinen Unterhalt mit dieser Arbeit, und ich habe noch keine einzige Seite geschrieben, mit der ich zufrieden wäre. Die Frau, die ich liebe, findet, ich vertue mein Leben, und sie hat recht damit. Sie findet auch, ich habe nicht das Recht, sie zu begehren — wir seien zwei unbedeutende Seelen, deren einzige Daseinsberechtigung die Dankbarkeit sei, die wir einem Mann schuldeten, der uns beide aus dem Elend geholt habe, und vielleicht hat sie auch damit recht. Es dauert nicht mehr lange, und ich werde dreißig, und dann wird mir aufgehen, dass ich mit jedem Tag weniger dem Menschen gleiche, der ich mit fünfzehn Jahren hätte werden wollen. Falls ich diesen Geburtstag überhaupt erlebe — meine Gesundheit ist in letzter Zeit so wenig verlässlich wie meine Arbeit. Gegenwärtig muss ich zufrieden sein, wenn ich einen oder zwei lesbare Sätze pro Stunde zustande bringe. Ein solcher Autor und Mensch bin ich. Nicht einer, den Verleger aus Paris mit Blankoschecks besuchen, damit er das Buch schreibt, das sein Leben verändert und all seine Erwartungen Wirklichkeit werden lässt.«
Meine Worte abwägend, schaute mich Corelli mit ernster Miene an.
»Ich glaube, Sie sind sich selbst ein zu gestrenger Richter, eine Eigenschaft, die wertvolle Menschen auszeichnet. Glauben Sie mir, ich hatte es im Lauf meiner Karriere mit unendlich vielen Leuten zu tun, auf die Sie nicht einmal gespuckt hätten, die aber eine unglaublich hohe Meinung von sich selbst hatten. Doch es sollte ihnen klar sein, dass ich, auch wenn Sie es nicht glauben, genau weiß, was für ein Autor und Mensch Sie sind. Seit Jahren verfolge ich Ihre Schritte, das wissen Sie ja. Ich habe alles von Ihnen gelesen, von der ersten Erzählung, die Sie für Die Stimme der Industrie geschrieben haben, bis zu den Geheimnissen von Barcelona und jetzt jede einzelne Fortsetzung Ihres Ignatius B. Samson. Ich würde zu behaupten wagen, dass ich Sie besser kenne als Sie sich selbst. Darum weiß ich, dass Sie am Ende mein Angebot annehmen werden.«
»Was wissen Sie denn sonst noch?«
»Ich weiß, dass wir etwas — oder vieles — gemeinsam haben. Ich weiß, dass Sie Ihren Vater verloren haben, und ich ebenfalls. Ich weiß, was es heißt, den Vater zu verlieren, wenn man ihn noch braucht. Den Ihren hat man Ihnen unter tragischen Umständen entrissen. Meiner hat mich aus Gründen, die nichts zur Sache tun, abgelehnt und von zuhause verstoßen. Ich möchte fast sagen, dass das noch schmerzlicher sein kann. Ich weiß, dass Sie sich allein fühlen, und glauben Sie mir, auch dieses Gefühl kenne ich zutiefst. Ich weiß, dass Sie im Innersten große Erwartungen hegen, dass sich aber noch keine erfüllt haben, und ich weiß, dass Sie das, ohne dass Sie sich dessen bewusst sind, jeden Tag dem Tod ein bisschen näher bringt.«
Seine Worte lösten eine lange Stille aus.
»Sie wissen vieles, Señor Corelli.«
»Genug, um zu denken, dass ich Sie gern näher kennenlernen und Ihr Freund sein würde. Und ich glaube, Sie haben nicht viele Freunde. Ich auch nicht. Ich traue den Leuten nicht, die viele Freunde zu haben glauben. Das ist ein Zeichen, dass sie die anderen nicht kennen.«
»Aber Sie suchen keinen Freund, Sie suchen einen Angestellten.«
»Ich suche einen zeitweiligen Partner. Ich suche Sie.«
»Sie sind sich Ihrer sehr sicher.«
»Das ist ein Geburtsfehler.«
Corelli stand auf. »Ein anderer ist der Weitblick. Darum verstehe ich, dass es für Sie vielleicht noch zu früh ist und es Ihnen nicht genügt, die Wahrheit aus meinem Mund zu hören. Sie müssen sie mit eigenen Augen sehen können. Sie auf der Haut spüren. Und glauben Sie mir, Sie werden sie spüren.«
Er streckte mir die Hand entgegen, bis ich sie schließlich ergriff.
»Darf ich wenigstens beruhigt sein, dass Sie über meine Worte nachdenken und wir erneut miteinander sprechen werden?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Señor Corelli.«
»Sagen Sie jetzt gar nichts. Ich verspreche Ihnen, wenn wir uns nächstes Mal treffen, werden Sie alles sehr viel klarer sehen.«
Bei diesen Worten lächelte er mir herzlich zu und entfernte sich in Richtung Treppe.
»Wird es ein nächstes Mal geben?«, fragte ich.
Er blieb stehen und drehte sich um.
»Es gibt immer ein nächstes Mal.«
»Wo?«
Das letzte Licht des Tages fiel auf die Stadt, und seine Augen leuchteten wie zwei glühende Kohlen.
Er verschwand durch die Tür nach unten. Erst da wurde mir bewusst, dass ich ihn während der ganzen Unterhaltung kein einziges Mal hatte blinzeln sehen.
Die Arztpraxis befand sich in einem Obergeschoss, von dem aus man in der Ferne das Meer glänzen und die Straßenbahnen in der Calle Muntaner zwischen großen Mietshäusern und Villen zum Ensanche-Viertel hinuntergleiten sah. Die Praxis roch nach Sauberkeit. Ihre Räume waren geschmackvoll eingerichtet, die beruhigenden Bilder zeigten hoffnungsvolle, friedliche Landschaften, die Bücherregale waren gefüllt mit imponierenden, Autorität ausstrahlenden Bänden. Die Schwestern schwebten mit einem Lächeln wie Tänzerinnen vorüber. Es war ein Fegefeuer für Menschen mit dickem Portemonnaie.
»Der Doktor wird Sie gleich empfangen, Señor Martín.«
Dr. Trías war ein aristokratisch aussehender Mann von tadelloser Erscheinung, der mit jeder Gebärde Gelassenheit und Zuversicht einflößte. Graue, durchdringende Augen hinter rahmenlosen Brillengläsern. Herzliches, nie leichtfertiges Lachen. Dr. Trías war es gewohnt, sich mit dem Tod herumzuschlagen, und je mehr er lächelte, desto mehr machte er einem Angst. Obwohl er mir einige Tage zuvor, als ich mich den Tests zu unterziehen begann, von Fortschritten in der Medizin erzählt hatte, die es erlaubten, im Kampf gegen die von mir beschriebenen Symptome Hoffnung zu hegen, hatte ich, als er mich hereinbat und mir einen Stuhl anbot, den Eindruck, von seiner Seite her gebe es keine Zweifel.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er und schaute unschlüssig zwischen mir und dem Dossier auf seinem Tisch hin und her.
»Sagen Sie es mir.«
Er deutete ein Lächeln an, wie ein guter Spieler.
»Die Schwester sagt mir, sie seien Schriftsteller, obwohl ich hier sehe, dass Sie beim Ausfüllen des Fragebogens Söldner angegeben haben.«
»In meinem Fall gibt es da keinen Unterschied.«
»Ich glaube, einer meiner Patienten ist einer ihrer Leser.«
»Hoffentlich ist der dadurch entstandene Nervenschaden kein bleibender.«
Der Arzt lächelte, als amüsierte ihn meine Bemerkung, und setzte dann eine ernstere Miene auf, um mir zu verstehen zu geben, die freundlich dahinplätschernden Vorreden seien zu Ende.
»Señor Martín, ich sehe, dass Sie allein gekommen sind. Haben Sie keine direkten Angehörigen? Frau? Geschwister? Eltern, die noch leben?«
»Das klingt ziemlich düster.«
»Ich will Sie nicht belügen, Señor Martín. Die ersten Testergebnisse sind nicht ganz so vielversprechend, wie wir erwartet haben.«
Ich schaute ihn schweigend an. Ich empfand weder Angst noch Sorge. Ich empfand gar nichts.
»Alles weist darauf hin, dass Sie in der linken Hirnhälfte eine Wucherung haben. Die Ergebnisse bestätigen, was die von Ihnen beschriebenen Symptome haben befürchten lassen, und alles scheint darauf hinzudeuten, dass es sich um ein Geschwür handeln könnte.«
Einige Augenblicke lang war ich zu keiner Äußerung imstande. Ich konnte nicht einmal Überraschung heucheln.
»Wie lange habe ich das schon?«
»Das lässt sich nicht genau sagen, aber ich würde die Vermutung wagen, dass der Tumor schon recht lange wächst, was auch die genannten Symptome und die Probleme erklären würde, die Sie in letzter Zeit bei der Arbeit gehabt haben.«
Ich nickte und atmete tief. Der Arzt schaute mich geduldig und wohlwollend an und ließ mir Zeit. Ich hob zu mehreren Sätzen an, die mir jedoch nicht über die Lippen wollten. Schließlich trafen sich unsere Blicke.
»Ich nehme an, ich bin in Ihrer Hand, Doktor. Sie werden mir sagen, welcher Behandlung ich mich zu unterziehen habe.«
Nun, da er bemerkte, dass ich ihn offenbar nicht hatte verstehen wollen, sah ich, dass sich seine Augen mit Verzweiflung füllten. Ich nickte abermals und kämpfte gegen die im Hals aufsteigende Übelkeit an. Er schenkte mir aus einem Krug ein Glas Wasser ein, das ich in einem Zug leerte.
»Es gibt keine Behandlung«, sagte ich.
»Doch. Wir können vieles tun, um die Schmerzen zu lindern und Ihnen größtmögliches Wohlbefinden und Ruhe zu garantieren…«
»Aber ich werde sterben.«
»Ja.«
»Bald.«
»Möglicherweise.«
Ich musste lächeln. Selbst die schlechtesten Nachrichten haben etwas Erleichterndes, wenn sie nichts weiter bestätigen als das, was man uneingestanden bereits ahnte.
»Ich bin achtundzwanzig«, sagte ich, ohne recht zu wissen, warum.
»Es tut mir leid, Señor Martín. Ich würde Ihnen gern einen besseren Bescheid geben.«
Ich fühlte mich, als hätte ich endlich eine Lüge oder eine lässliche Sünde gestanden und als wäre die steinerne Last der Gewissensbisse mit einem Federstrich weggewischt.
»Wie viel Zeit habe ich noch?«
»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht ein Jahr, höchstens anderthalb.«
Sein Ton gab deutlich zu verstehen, dass das eine mehr als optimistische Prognose war.
»Und von diesem Jahr oder was es auch sein mag, wie lange, glauben Sie, werde ich noch arbeiten können und allein zurechtkommen?«
»Sie sind Schriftsteller und arbeiten mit dem Kopf. Leider ist das Problem genau da angesiedelt, und darum ist mit Einschränkungen zu rechnen.«
»Einschränkungen ist kein medizinischer Begriff, Doktor.«
»Normalerweise zeigen sich die Symptome, unter denen Sie leiden, desto intensiver und häufiger, je weiter die Krankheit fortschreitet, und irgendwann werden Sie sich zur Pflege in ein Krankenhaus begeben müssen, damit wir uns um Sie kümmern können.«
»Ich werde nicht mehr schreiben können.«
»Sie werden nicht einmal ans Schreiben denken können.«
»Wie lange noch?«
»Ich weiß es nicht. Neun oder zehn Monate. Vielleicht mehr, vielleicht weniger. Es tut mir sehr leid, Señor Martín.«
Ich nickte und stand auf. Meine Hände zitterten, und ich bekam keine Luft.
»Señor Martín, ich verstehe, dass Sie Zeit brauchen, um das alles zu verarbeiten, aber es ist wichtig, dass wir so rasch wie möglich Maßnahmen ergreifen…«
»Ich darf noch nicht sterben, Doktor. Noch nicht. Ich habe noch etwas zu erledigen. Danach werde ich das ganze Leben zum Sterben haben.«
Am selben Abend ging ich im Turm ins Arbeitszimmer hinauf und setzte mich an die Schreibmaschine, obwohl ich mich völlig hohl fühlte. Die Fenster standen weit offen, aber Barcelona wollte mir nichts mehr erzählen, und ich war unfähig, eine einzige Seite zu füllen. Alles, was ich heraufbeschwören konnte, erschien mir banal und leer. Ich brauchte meine Worte nur nochmals zu lesen, um zu sehen, dass sie kaum das Farbband wert waren. Ich hörte die Musik nicht mehr, die ein passables Stück Prosa aussendet. Nach und nach tröpfelten Andreas Corellis Worte wie ein langsames, wohltuendes Gift in mein Denken.
Es fehlten mir noch mindestens hundert Seiten, um diese x-te Folge der verschrobenen Abenteuer abzuschließen, mit denen sich Barrido und Escobillas eine goldene Nase verdient hatten, aber in diesem Moment wurde mir klar, dass ich sie nicht beenden würde. Ignatius B. Samson war erschöpft auf den Gleisen vor der Straßenbahn liegen geblieben, er hatte sich auf allzu vielen Seiten ausgeblutet, die nie das Licht der Welt hätten erblicken dürfen. Aber bevor er abgetreten war, hatte er mir noch seinen Letzten Willen diktiert: Ich sollte ihn ohne Förmlichkeiten bestatten und ein einziges Mal im Leben zu meiner eigenen Stimme stehen. Er vermachte mir sein beträchtliches Arsenal an Rauch und Spiegeln. Und bat mich, ihn zu entlassen, er sei dazu geboren, in Vergessenheit zu geraten.
Ich raffte die bereits geschriebenen Seiten seines letzten Romans zusammen und steckte sie in Brand. Dabei spürte ich, wie mir mit jeder Seite, die ich den Flammen übergab, ein Stein vom Herzen fiel. An diesem Abend wehte eine feuchtwarme Brise über die Dächer, kam durch mein Fenster herein und trug Ignatius B. Samsons Asche mit sich hinaus, um sie in den Gassen der Altstadt zu verstreuen, damit Ignatius B. Samson dort immer wohne, obwohl seine Worte für immer verstummten und sein Name dem Gedächtnis selbst seiner treusten Leser entfiel.
Am nächsten Tag wurde ich bei Barrido und Escobillas vorstellig. Die Empfangsdame war neu, irgend so ein Fräulein, das mich nicht erkannte.
»Ihr Name?«
»Hugo, Víctor.«
Sie lächelte und stöpselte an der Telefonzentrale, um Herminia zu benachrichtigen.
»Doña Herminia, Don Víctor Hugo ist da und möchte Señor Barrido sprechen.«
Sie nickte und beendete die Verbindung.
»Sie sagt, sie kommt sofort.«
»Arbeitest du schon lange hier?«, fragte ich.
»Eine Woche«, antwortete sie beflissen.
Wenn meine Berechnungen stimmten, war das die achte Empfangsdame, die Barrido und Escobillas in jenem Jahr beschäftigten. Die Angestellten, die direkt der verschlagenen Herminia unterstellt waren, konnten sich immer nur kurze Zeit halten, denn wenn die Giftige entdeckte, dass sie im Gegensatz zu ihr bis vier zählen konnten, befürchtete sie, von ihnen in den Schatten gestellt zu werden, was in neun von zehn Fällen auch geschah, und beschuldigte sie des Diebstahls, der Unterschlagung oder sonst einer unsinnigen Verfehlung. Sie setzte Himmel und Hölle in Bewegung, bis Escobillas ihnen den Laufpass gab und drohte, ihnen einen Meuchelmörder auf den Hals zu hetzen, sollten sie ihre Zunge nicht im Zaum halten.
»Wie schön, dich zu sehen, David«, sagte die Giftige. »Du siehst besser aus, sehr gesund.«
»Es hat mich halt eine Straßenbahn überfahren. Ist Barrido da?«
»Was du immer für Ideen hast. Für dich ist er jederzeit da. Er wird sehr glücklich sein, wenn ich ihm sage, dass du uns besuchen kommst.«
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich.«
Sie führte mich in Barridos Büro, das aussah wie die Kulisse einer Schmierenkomödie, vollgepfropft mit Teppichen, Kaiserbüsten, Stillleben und ledergebundenen Bänden, die er en gros erworben hatte, wahrscheinlich waren es reine Attrappen. Barrido schenkte mir sein öligstes Lächeln und gab mir die Hand.
»Wir können es alle gar nicht erwarten, die neue Folge zu bekommen. Sie sollen wissen, dass wir die beiden letzten neu aufgelegt haben und dass man sie uns aus den Händen reißt. Fünftausend weitere Exemplare. Wie finden Sie das?«
Ich fand, es müssten mindestens fünfzigtausend sein, beschränkte mich aber auf ein unbeeindrucktes Nicken. Barrido und Escobillas hatten das, was in der Barceloneser Verlegerzunft doppelte Auflage genannt wurde, wie ein welkendes kostbares Blumenbouquet immer weiter mit frischen Blüten gestreckt. Von jedem Titel gab es eine offizielle Auflage von einigen tausend Exemplaren, wofür dem Autor eine lächerliche Beteiligung bezahlt wurde. Wenn das Buch danach gut lief, gab es in Wahrheit eine oder viele geheime Auflagen mit Zehntausenden von Exemplaren, für die der Autor keine Pesete sah. Diese konnte man von der ersten Auflage gut unterscheiden, denn Barrido ließ sie in einer alten Wurstfabrik in Santa Perpetua de Mogoda drucken, und beim Durchblättern schlug einem unverkennbar der Geruch nach geräucherter Paprikawurst entgegen.
»Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie.«
Barrido und die Giftige wechselten einen Blick, ohne die Grimasse zu lockern. In diesem Augenblick materialisierte sich Escobillas in der Tür und schaute mich mit nüchternverdrießlicher Miene an, als nähme er mit bloßem Auge Maß für einen Sarg.
»Sieh nur, wer uns besuchen gekommen ist. Was für eine angenehme Überraschung, nicht wahr?«, fragte Barrido seinen Teilhaber, der bloß nickte und dann fragte:
»Was sind das für schlechte Nachrichten?«
»Sind Sie ein wenig im Rückstand, lieber Martín?«, fügte Barrido freundschaftlich hinzu. »Wir können uns sicher anpassen…«
»Nein. Es gibt keinen Rückstand. Es wird einfach kein Buch geben.«
Escobillas trat einen Schritt vor und zog die Brauen hoch. Barrido kicherte vor sich hin.
»Was heißt das, es wird kein Buch geben?«, fragte Escobillas.
»Das heißt, dass ich es gestern verbrannt habe und dass keine einzige Manuskriptseite mehr da ist.«
Ein unheilschwangeres Schweigen breitete sich aus. Barrido machte eine versöhnliche Handbewegung und deutete auf den sogenannten Besuchersessel, ein schwärzliches, eingefallenes Monstrum, in das man Autoren und Lieferanten quetschte, damit sie auf Barridos Augenhöhe zu sitzen kamen.
»Setzen Sie sich, Martín, und erzählen Sie. Etwas macht Ihnen Sorgen, ich sehe es. Sie können sich bei uns aussprechen, Sie gehören ja zur Familie.«
Die Giftige und Escobillas nickten voller Überzeugung und dokumentierten das Ausmaß ihrer Hochschätzung mit einem Blick berückter Ergebenheit. Ich blieb lieber stehen. Alle taten es mir gleich und schauten mich an wie eine Salzsäule, die jeden Moment zu sprechen beginnt. Barrido schien vor lauter Lächeln schon das Gesicht zu schmerzen.
»Na?«
»Ignatius B. Samson hat sich umgebracht. Er hat eine Erzählung von zwanzig Seiten hinterlassen, in der er in enger Umarmung mit Chloé Permanyer stirbt, nachdem beide Gift geschluckt haben.«
»Der Autor stirbt in einem seiner eigenen Romane?«, fragte Herminia verwirrt.
»Das ist sein avantgardistischer Abschied vom Fortsetzungsroman. Ein Detail, bei dem ich mir sicher war, dass es Ihnen sehr gefallen würde.«
»Und könnte es nicht ein Gegengift geben oder…?«, fragte die Giftige.
»Martín, ich brauche Ihnen wohl nicht in Erinnerung zu rufen, dass Sie es sind und nicht der angeblich verstorbene Ignatius, der einen Vertrag unterschrieben hat«, sagte Escobillas.
Mit einer Handbewegung brachte Barrido seinen Kolle gen zum Schweigen.
»Ich glaube, ich weiß, was mit Ihnen los ist, Martín. Sie sind erschöpft. Seit Jahren zermartern Sie sich unermüdlich das Hirn, was dieses Haus zu schätzen weiß und wofür wir Ihnen dankbar sind. Sie brauchen eine Atempause. Ich verstehe das. Wir alle verstehen das, nicht wahr?«
Barrido schaute Escobillas und die Giftige an, die ein entsprechendes Gesicht aufsetzten und nickten.
»Sie sind ein Künstler und wollen Kunst machen, hohe Literatur, etwas, was Ihrem Herzen entströmt und Ihren Namen den Stufen der Weltgeschichte in goldenen Lettern einprägt.«
»So, wie Sie es erklären, klingt es lächerlich«, sagte ich.
»Weil es lächerlich ist«, führte Escobillas an.
»Nein, ist es nicht«, unterbrach ihn Barrido. »Es ist menschlich. Und wir sind menschlich. Ich, mein Teilhaber und Herminia, die als zartfühlende Frau und sensibles Wesen die Menschlichste von uns allen ist — ist es nicht so, Herminia?«
»Ja, mehr als menschlich«, stimmte die Giftige zu.
»Und da wir menschlich sind, verstehen wir Sie und wollen Ihnen helfen. Weil wir stolz auf Sie sind und überzeugt, dass Ihre Erfolge auch unsere Erfolge sein werden, und weil in diesem Haus letztlich die Menschen und nicht die Zahlen zählen.«
Nach seiner Ansprache legte Barrido eine Kunstpause ein. Vielleicht erwartete er Beifall von meiner Seite, aber als er sah, dass ich stumm blieb, fuhr er ohne weitere Verzögerung fort.
»Aus diesem Grund schlage ich Ihnen Folgendes vor: Nehmen Sie sich sechs Monate Zeit, wenn nötig neun, eine Geburt ist immerhin eine Geburt, und ziehen Sie sich in Ihr Arbeitszimmer zurück, um den großen Roman Ihres Lebens zu verfassen. Wenn Sie ihn haben, bringen Sie ihn uns, und wir werden ihn unter Ihrem Namen veröffentlichen und dabei sämtliche Trümpfe ausspielen und alles auf eine Karte setzen. Weil wir auf Ihrer Seite sind.«
Ich schaute Barrido und dann Escobillas an. Die Giftige war drauf und dran, vor Ergriffenheit in Tränen auszubrechen.
»Natürlich ohne Vorschuss«, präzisierte Escobillas.
Euphorisch schlug sich Barrido die Faust in die Hand.
»Was sagen Sie nun?«
Noch am selben Tag nahm ich die Arbeit auf. Mein Plan war ebenso einfach wie wahnwitzig. Tagsüber würde ich Vidals Buch neu schreiben und nachts an meinem arbeiten. Ich würde sämtliche Schliche und Kniffe, die mir Ignatius B. Samson beigebracht hatte, zum Leuchten bringen und sie auf den Rest an Würde und Ehrbarkeit anwenden, der in meinem Herzen, wenn überhaupt, noch verblieben war. Ich würde aus Dankbarkeit, Verzweiflung und Eitelkeit schreiben. Ich würde vor allem für Cristina schreiben, um ihr zu beweisen, dass auch ich in der Lage war, meine Schuld bei Vidal zu begleichen, und dass David Martín, auch wenn er kurz davor war, tot umzufallen, das Recht hatte, ihr in die Augen zu schauen, ohne sich seiner lächerlichen Erwartungen schämen zu müssen.
Zu Dr. Trías ging ich nicht mehr. Ich sah keine Notwendigkeit darin. Wenn ich kein Wort mehr würde schreiben, ja denken können, würde ich es als Erster merken.
Ohne Fragen zu stellen, gab mir mein zuverlässiger, wenig skrupulöser Apotheker so viele Kodeinpralinen, wie ich verlangte, und ab und zu auch eine andere Köstlichkeit, die Feuer an die Adern legte und vom Schmerz bis zum Bewusstsein alles in die Luft sprengte. Über meinen Arztbesuch und die Testergebnisse sprach ich mit niemandem.
Meine Grundbedürfnisse deckte ich mit der wöchentlichen Bestellung bei Can Gispert, einem wundervollen Lebensmittelgeschäft in der Calle Mirallers hinter der Kathedrale Santa María del Mar. Die Bestellung war immer die gleiche und wurde mir von der Tochter des Inhabers ins Haus geliefert, einem jungen Mädchen, das mich anstarrte wie ein erschrockenes Reh, wenn ich sie im Vorraum zu warten bat, bis ich das Geld geholt hätte.
»Das ist für deinen Vater, und das ist für dich.«
Ich gab ihr immer zehn Centimos Trinkgeld, die sie wortlos entgegennahm. Jede Woche klingelte sie mit der Bestellung an meiner Tür, und jede Woche gab ich ihr zehn Centimos Trinkgeld. Neun Monate und einen Tag, so lange, wie ich brauchte, um das einzige Buch zu schreiben, das meinen Namen trug, sah ich keinen Menschen öfter als dieses junge Mädchen, dessen Namen ich nicht kannte und dessen Gesicht ich jede Woche wieder vergaß, bis sie erneut vor meiner Schwelle stand.
Ohne Vorankündigung blieb Cristina unseren allnachmittäglichen Treffen fern. Ich fürchtete bereits, Vidal hätte unsere Kriegslist durchschaut, als ich eines Nachmittags, da ich sie nach fast einer Woche Abwesenheit immer noch erwartete, im Glauben, sie sei es, die Tür öffnete und Pep davor stehen sah, einen der Diener aus der Villa Helius. Er brachte mir ein sorgsam versiegeltes Paket von Cristina, das Vidals vollständiges Manuskript enthielt. Pep erklärte mir, Cristinas Vater habe ein Aneurysma, das ihn praktisch zum Invaliden gemacht habe, und sie habe ihn in ein Sanatorium in den Pyrenäen gebracht, nach Puigcerdà, wo es anscheinend einen jungen Spezialisten für solche Krankheiten gab.
»Señor Vidal hat sich um alles gekümmert«, sagte Pep, »ohne auf die Kosten zu achten.«
Vidal vergaß seine Diener nie, dachte ich nicht ohne einige Bitterkeit.
»Sie hat mich gebeten, Ihnen das persönlich zu übergeben. Und ich soll niemand etwas davon sagen.«
Der Bursche überreichte mir das Paket, erleichtert, das mysteriöse Ding loszuwerden.
»Hat sie dir irgendeinen Hinweis gegeben, wo ich sie notfalls finden kann?«
»Nein, Señor Martín. Ich weiß nur, dass Señorita Cristinas Vater in einem Sanatorium namens Villa San Antonio eingewiesen worden ist.«
Einige Tage später stattete mir Vidal einen seiner Impromptu-Besuche ab und blieb den ganzen Nachmittag über bei mir, trank meinen Anis, rauchte meine Zigaretten und sprach über das Unglück, das seinem Fahrer zugestoßen war.
»Unglaublich. Ein baumstarker Mann, und fällt mit einem Windhauch bewusstlos um und weiß nicht einmal mehr, wer er ist.«
»Wie geht es Cristina?«
»Das kannst du dir ja vorstellen. Ihre Mutter ist schon vor Jahren gestorben, und Manuel ist ihr einziger Angehöriger. Sie hat das Familienalbum mitgenommen und zeigt es dem Armen jeden Tag in der Hoffnung, er erinnere sich an etwas.«
Während Vidal sprach, lag der Stapel seines Romans — oder müsste ich sagen, meines Romans? — umgedreht auf dem Verandatisch, einen halben Meter von seinen Händen entfernt. Er erzählte, da Manuel derzeit nicht da sei, habe er Pep — anscheinend ein guter Reiter — gedrängt, sich in die Kunst des Autofahrens zu vertiefen, doch im Moment sei sein Fahrstil noch unmöglich.
»Geben Sie ihm Zeit. Ein Auto ist kein Pferd. Das ganze Geheimnis besteht in der Übung.«
»Jetzt, da du es sagst — Manuel hat dir Fahrstunden gegeben, nicht wahr?«
»Ein paar«, gestand ich. »Und es ist nicht so leicht, wie es aussieht.«
»Wenn sich dieser Roman, über dem du sitzt, nicht verkauft, kannst du immer noch mein Fahrer werden.«
»Wir wollen doch den armen Manuel nicht vorzeitig beerdigen, Don Pedro.«
»Eine geschmacklose Bemerkung«, gab er zu. »Tut mir leid.«
»Und Ihr eigener Roman, Don Pedro?«
»Ist auf gutem Weg. Cristina hat das fertige Manuskript nach Puigcerdà mitgenommen, um es ins Reine zu tippen.«
»Ich freue mich, Sie so zufrieden zu sehen.«
Vidal lächelte siegesgewiss.
»Ich glaube, es wird etwas Großes werden. Nach so vielen schon verloren geglaubten Monaten habe ich die ersten fünfzig Seiten wieder gelesen, die Cristina abgetippt hat, und über mich selbst gestaunt. Ich glaube, auch du wirst staunen. Du wirst sehen, dass ich dir noch einiges beibringen kann.«
»Daran habe ich nie gezweifelt, Don Pedro.«
An jenem Nachmittag trank Vidal mehr als sonst. Mit den Jahren hatte ich gelernt, die ganze Bandbreite seiner Besorgnisse und Bedenken zu erkennen, und ich nahm an, dies war nicht einfach ein Höflichkeitsbesuch. Nachdem er meinen gesamten Anisvorrat liquidiert hatte, schenkte ich ihm ein großzügiges Glas Brandy ein und wartete.
»David, es gibt Dinge, über die wir beide noch nie gesprochen haben…«
»Über Fußball zum Beispiel.«
»Ich meine es ernst.«
»Ich höre, Don Pedro.«
Er schaute mich lange an und zögerte.
»Ich habe immer versucht, dir ein guter Freund zu sein, David. Das weißt du doch, nicht wahr?«
»Sie sind sehr viel mehr gewesen als das, Don Pedro. Ich weiß es, und Sie wissen es auch.«
»Manchmal frage ich mich, ob ich mit dir nicht hätte ehrlicher sein müssen.«
»In welcher Beziehung?«
Vidal tauchte den Blick in sein Brandyglas.
»Es gibt Dinge, die ich dir nie erzählt habe, David. Dinge, über die ich mit dir vielleicht schon vor Jahren hätte sprechen müssen…«
Ich ließ einen Augenblick verstreichen, der zu einer Ewigkeit wurde. Was immer Vidal mir auch erzählen wollte — es war klar, dass aller Brandy der Welt es nicht aus ihm herausbrächte.
»Machen Sie sich keine Gedanken, Don Pedro. Wenn Sie Jahre damit gewartet haben, kann es auch noch bis morgen warten.«
»Morgen habe ich möglicherweise nicht mehr den Mut, es dir zu erzählen.«
Mir wurde bewusst, dass ich ihn noch nie so angsterfüllt erlebt hatte. Etwas war ihm im Herzen stecken geblieben, und allmählich berührte es mich unangenehm, ihn in diesem Zustand zu sehen.
»Lassen Sie uns Folgendes machen, Don Pedro. Wenn Ihr Buch und mein Buch veröffentlicht werden, treffen wir uns, um darauf anzustoßen, und Sie erzählen mir, was Sie mir zu erzählen haben. Sie laden mich in eines der piekfeinen Restaurants ein, wo man mich nur mit Ihnen hereinlässt, und berichten mir alles, was Sie auf dem Herzen haben. In Ordnung?«
Als es dunkel wurde, begleitete ich ihn zum Paseo del Born, wo neben dem Hispano-Suiza Pep in Manuels Uniform wartete, die ihm fünf Nummern zu groß war, genau wie das Auto. Die Karosserie war mit frischen Kratzern und Beulen verziert, die einem in der Seele wehtaten.
»In gemächlichem Trab, ja, Pep?«, riet ich ihm. »Kein Galopp. Langsam, aber sicher, als wär’s eine Schindmähre.«
»Ja, Señor Martín. Langsam, aber sicher.«
Beim Abschied umarmte mich Vidal kräftig, und als er einstieg, hatte ich das Gefühl, das Gewicht der ganzen Welt laste auf seinen Schultern.
Wenige Tage nachdem ich unter den Roman von Vidal und meinen eigenen den Schlusspunkt gesetzt hatte, schneite Pep bei mir herein. Er trug die Uniform, die ihm das Aussehen eines als Feldmarschall verkleideten kleinen Jungen gab. Zuerst vermutete ich, er bringe eine Nachricht von Vidal oder vielleicht von Cristina, aber sein trübseliges Gesicht verriet eine Unruhe, die mich beides verwerfen ließ.
»Schlechte Nachrichten, Señor Martín.«
»Was ist passiert?«
»Señor Manuel.«
Bei der Schilderung dessen, was geschehen war, versagte ihm die Stimme, und als ich ihm ein Glas Wasser anbot, brach er beinahe in Tränen aus. Manuel Sagnier war drei Tage zuvor im Sanatorium von Puigcerdà nach langer Agonie gestorben. Auf Anordnung seiner Tochter hin war er am Vortag auf einem kleinen Friedhof am Fuß der Pyrenäen bestattet worden.
»Mein Gott«, murmelte ich.
Statt Wasser gab ich Pep ein randvolles Glas Brandy und schob ihn in einen Verandasessel. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, erklärte er, Vidal habe ihn geschickt, Cristina abzuholen, die an diesem Nachmittag mit dem Fünf-Uhr-Zug zurückkehren wollte.
»Stellen Sie sich vor, wie es Señorita Cristina gehen muss…«, flüsterte er. Es bekümmerte ihn, dass gerade er sie empfangen und auf der Fahrt zurück in die kleine Wohnung über den Garagen der Villa Helius, wo sie seit ihrer Kindheit mit dem Vater gelebt hatte, trösten sollte.
»Pep, ich glaube, es ist keine gute Idee, dass du Señorita Sagnier abholst.«
»Anweisung von Don Pedro…«
»Sag ihm, ich übernehme die Verantwortung.«
Mit reichlich Schnaps und Rhetorik konnte ich ihn überreden, die Sache in meine Hände zu geben. Ich selbst würde Cristina abholen und in einem Taxi zur Villa Helius bringen.
»Ich danke Ihnen, Señor Martín. Sie als Schriftsteller wissen bestimmt besser, was Sie der Armen sagen müssen.«
Um Viertel vor fünf machte ich mich auf den Weg zum neuen, vor kurzem eingeweihten Francia-Bahnhof. Die Weltausstellung hatte in diesem Jahr die ganze Stadt mit Wunderwerken übersät, aber dieses kathedralenartige Gewölbe aus Stahl und Glas war mir von allen das liebste, und sei es nur, weil es, zum Greifen nah, von meinem Arbeitszimmer im Turm aus zu sehen war. An diesem Nachmittag überzogen schwarze Wolken vom Meer her den Himmel und verknäulten sich über der Stadt. Der Widerschein der Blitze am Horizont und ein warmer, nach Staub und Elektrizität riechender Wind verhießen ein heftiges Sommergewitter. Als ich am Bahnhof eintraf, fielen bereits die ersten Tropfen, schillernd und schwer aus dem Himmel stürzende Münzen. Und auf dem Bahnsteig, wo ich die Ankunft des Zuges abwarten wollte, prasselte der Regen schon kräftig aufs Dach, und es wurde schlagartig Nacht. Nur ab und zu erhellten über der Stadt explodierende Blitze die Dunkelheit, gefolgt von Donner und Raserei.
Der Zug, eine unter dem Gewitter herankriechende Dampfschlange, kam mit fast einer Stunde Verspätung an. Ich wartete neben der Lokomotive, um Cristina unter den aussteigenden Passagieren zu erspähen. Nach zehn Minuten waren alle Reisenden ausgestiegen, und von ihr war noch immer keine Spur zu sehen. In der Annahme, sie hätte doch nicht diesen Zug genommen, wollte ich schon nach Hause gehen, als ich beschloss, noch durch sämtliche Abteilfenster zu sehen. Im vorletzten Wagen fand ich sie, mit verlorenem Blick dasitzend und den Kopf an die Scheibe gelehnt. Ich stieg ein und blieb auf der Schwelle zum Abteil stehen. Als sie meine Schritte vernahm, wandte sie sich um und schaute mich ohne Überraschung und mit einem schwachen Lächeln an. Dann stand sie auf und umarmte mich schweigend.
»Willkommen«, sagte ich.
Sie hatte kein weiteres Gepäck bei sich als einen kleinen Koffer. Ich gab ihr die Hand, und wir traten auf den jetzt menschenleeren Bahnsteig hinaus. Bis wir zum Ausgang kamen, sprachen wir kein Wort. Dort sahen wir, dass es wie aus Eimern goss und die Reihe Taxis, die bei meinem Eintreffen noch da gestanden hatte, sich verflüchtigt hatte.
»Ich will heute Nacht nicht in die Villa Helius zurück, David. Noch nicht.«
»Du kannst bei mir bleiben, wenn du willst, oder wir können dir ein Hotelzimmer suchen.«
»Ich will nicht allein sein.«
»Gehen wir zu mir. Wenn ich von etwas mehr als genug habe, sind es Zimmer.«
Ich erblickte einen Gepäckträger, der vor der Tür stand und sich unter einem riesigen Schirm das Gewitterspektakel ansah. Ich bot ihm für den Schirm das Fünffache des Kaufpreises. Er überreichte ihn mir mit entwaffnendem Lächeln.
Unter dem Schirm wagten wir uns in die Sintflut hinaus in Richtung Haus mit dem Turm, wo wir zehn Minuten später dank der Windstöße und Pfützen klatschnass eintrafen. Durch das Gewitter war die Straßenbeleuchtung ausgefallen, und die Gassen waren in ein nasses Dunkel getaucht, in dem hier und da in Balkontüren und in Eingängen Öllampen oder Kerzen aufschienen. Ich bezweifelte nicht einen Augenblick, dass die prachtvolle Installation in meiner Wohnung als eine der ersten versagt hatte. Wir mussten die Treppe im Dunkeln hinaufsteigen, und als ich die Wohnungstür aufschloss, erschien das Innere im Widerschein der Blitze so düster und ungastlich wie nie.
»Wenn du es dir anders überlegt hast und wir lieber ein Hotel suchen sollen…«
»Nein, ist schon gut. Sei unbesorgt.«
Ich ließ Cristinas Koffer im Vorraum stehen und holte aus der Küche eine Schachtel mit Kerzen aller Art. Eine um die andere zündete ich sie an und klebte sie auf Teller und in Gläser. Cristina schaute mir von der Tür aus zu.
»Nur eine Minute«, sagte ich. »Ich habe mittlerweile Übung darin.«
Ich verteilte die Kerzen in den Zimmern, im Korridor und in allen Ecken, bis die ganze Wohnung in schwachgoldenen Schatten lag.
»Wie in einer Kathedrale«, sagte Cristina.
Ich führte sie zu einem der Schlafzimmer, das ich nie benutzte, aber sauber und bezugsbereit hielt, seit Vidal einmal, zu betrunken für die Rückkehr in seinen Palast, die Nacht hier verbracht hatte.
»Ich bringe dir gleich frische Handtücher. Wenn du nichts zum Umziehen hast, steht dir der ganze unheimliche Belle-Èpoque-Fundus zur Verfügung, den die ehemaligen Eigentümer in den Schränken zurückgelassen haben.«
Meine plumpen Anflüge von Humor entlockten ihr kaum ein Lächeln, sie nickte nur. Ich ließ sie auf der Bettkante sitzen, während ich eilends Handtücher holte. Als ich zurückkam, saß sie noch genauso da, reglos. Ich legte die Tücher neben sie aufs Bett und stellte ihr ein paar Kerzen in die Nähe, damit sie wenigstens ein bisschen Licht hatte.
»Danke«, murmelte sie.
»Während du dich umziehst, mache ich eine heiße Brühe.«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Sie wird dir aber guttun. Wenn du irgendwas brauchst, lass es mich wissen.«
Ich ließ sie allein und ging in mein Zimmer, um aus meinen durchnässten Schuhen zu schlüpfen. Dann setzte ich Wasser auf und wartete in der Veranda, bis es kochte. Der Regen trommelte immer noch wütend an die großen Scheiben und rauschte durch die Abflüsse von Turm und Dach, dass es klang, als laufe dort jemand herum. Draußen lag das Ribera-Viertel in fast vollkommener Dunkelheit.
Nach einer Weile hörte ich die Tür von Cristinas Zimmer aufgehen und ihre Schritte näher kommen. Sie war in einen weißen Morgenmantel geschlüpft und hatte sich ein wollenes Schultertuch übergeworfen, das nicht recht zu ihr passte.
»Ich habe es mir aus einem deiner Schränke ausgeliehen«, sagte sie. »Hoffentlich stört es dich nicht.«
»Du kannst es behalten, wenn du willst.«
Sie setzte sich in einen Sessel und ließ den Blick durch den Raum schweifen, bis er am Stapel auf dem Tisch hängen blieb. Sie sah mich fragend an, und ich nickte.
»Ich habe ihn vor ein paar Tagen zu Ende gebracht.«
»Und dein eigener?«
Zwar empfand ich beide Manuskripte als meine eigenen, aber ich nickte einfach.
»Darf ich?«
Sie nahm eine Seite und hielt sie ins Licht.
»Natürlich.«
Sie las schweigend, ein mattes Lächeln auf den Lippen.
»Pedro wird niemals glauben, dass er das geschrieben hat«, sagte sie.
»Vertrau mir.«
Cristina legte die Seite auf den Stapel zurück und schaute mich lange an.
»Ich habe dich vermisst«, sagte sie. »Ich wollte es nicht, aber es war so.«
»Ich dich auch.«
»Es gab Tage, an denen ich vor dem Besuch im Sanatorium zum Bahnhof gegangen bin und auf dem Bahnsteig auf den Zug aus Barcelona gewartet habe, weil ich dachte, du würdest vielleicht kommen.«
Ich hatte einen Kloß im Hals.
»Ich dachte, du willst mich nicht sehen«, sagte ich.
»Das dachte ich auch. Mein Vater hat oft nach dir gefragt, weißt du. Er hat mich gebeten, mich um dich zu kümmern.«
»Dein Vater war ein guter Mensch. Ein guter Freund.«
Sie nickte lächelnd, aber ich sah, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten.
»Am Ende hat er sich an nichts mehr erinnern können. An manchen Tagen hat er mich mit meiner Mutter verwechselt und mich um Verzeihung gebeten für seine Jahre im Gefängnis. Dann vergingen ganze Wochen, in denen er kaum merkte, dass ich da war. Mit der Zeit dringt die Einsamkeit in einen ein und verlässt einen nicht mehr.«
»Es tut mir leid, Cristina.«
»In den letzten Tagen dachte ich, es gehe ihm besser. Er konnte sich wieder an gewisse Dinge erinnern. Ich hatte von zuhause ein Fotoalbum mitgenommen und zeigte ihm noch einmal, wer wer war. Es gab auch ein altes Foto vor der Villa Helius, auf dem ihr beide im Auto sitzt. Du am Steuer, und mein Vater zeigt dir, wie man fährt. Ihr lacht beide. Willst du es sehen?«
Ich zögerte, traute mich aber nicht, diesen Augenblick zunichte zu machen.
»Natürlich…«
Cristina ging zu ihrem Koffer und kam mit einem kleinen ledergebundenen Buch zurück. Sie setzte sich neben mich und begann die Seiten mit alten Porträts, Zeitungsausschnitten und Postkarten durchzublättern. Wie mein Vater hatte auch Manuel kaum lesen und schreiben gelernt, und seine Erinnerungen bestanden aus Bildern.
»Schau, da seid ihr.«
Ich betrachtete das Foto aufmerksam und erinnerte mich genau an den Tag, da mich Manuel in Vidals erstes Auto einsteigen ließ und mir die Anfangsgründe der Fahrkunst beibrachte. Dann waren wir bis zur Calle Panamá und danach, mit fünf Stundenkilometern, was mir schwindelerregend schnell vorkam, zur Avenida Pearson gefahren, und auf dem Rückweg durfte ich mich ans Lenkrad setzen.
»Sie sind ein richtiges Ass am Steuer«, hatte Manuel gesagt. »Wenn Ihre Erzählungen einmal nicht mehr laufen, sollten Sie eine Zukunft als Rennfahrer in Betracht ziehen.«
Ich lächelte, als ich mich an diesen vergessen geglaubten Moment erinnerte. Cristina übergab mir das Album.
»Behalt es. Mein Vater hätte es gern bei dir gewusst.«
»Es gehört dir, Cristina. Ich kann es nicht annehmen.«
»Auch mir wäre es lieber, wenn es bei dir ist.«
»Es ist also hier hinterlegt, bis du es wieder holen willst.«
Ich begann es durchzublättern und betrachtete Gesichter, an die ich mich erinnerte, und andere, die ich noch nie gesehen hatte. Da gab es ein Hochzeitsfoto von Manuel Sagnier und seiner Frau Marta, der Cristina so sehr glich, Studioaufnahmen von ihren Onkeln, Tanten und Großeltern, von einem Umzug durch eine Straße des Raval und von der Badeanstalt San Sebastian am Strand der Barceloneta. Manuel hatte alte Postkarten von Barcelona und Zeitungsausschnitte mit Bildern eines blutjungen Vidal gesammelt, der im Eingang des Hotels Florida ganz oben auf dem Tibidabo posierte, und ein anderes, auf dem man ihn in den Räumen des Kasinos von Rabasada am Arm einer atemberaubenden Schönheit sah.
»Dein Vater hat Don Pedro verehrt.«
»Er hat immer gesagt, ihm hätten wir alles zu verdanken«, antwortete Cristina.
Ich reiste weiter durch die Erinnerungen des armen Manuel, bis ich auf ein Foto stieß, das nicht zu den anderen passen wollte. Darauf war ein Mädchen von acht oder neun Jahren zu sehen, das einen in die silbern leuchtende Meeresfläche hinausführenden Holzsteg entlangspazierte. Sie ging an der Hand eines Mannes in weißem Anzug, der nicht mehr ganz auf dem Bild war.
Am Ende des Stegs konnte man ein kleines Segelboot und einen unendlichen Horizont erkennen, an dem die Sonne unterging. Das Mädchen, von hinten aufgenommen, war Cristina.
»Das ist mein Lieblingsfoto«, flüsterte sie.
»Wo ist es aufgenommen?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht an diesen Ort erinnern, auch nicht an den Tag. Auch bin ich nicht sicher, ob dieser Mann mein Vater ist. Es ist, als hätte es diesen Augenblick gar nicht gegeben. Ich habe es vor Jahren im Album meines Vaters gefunden und nie verstanden, was es damit auf sich hat. Aber es ist, als wollte es mir etwas mitteilen.«
Ich blätterte weiter. Cristina erläuterte mir, wer auf den Bildern zu sehen war.
»Schau, das bin ich mit vierzehn Jahren.«
»Das weiß ich schon.«
Sie sah mich traurig an.
»Ich habe nichts gemerkt, nicht wahr?«, fragte sie.
Ich zuckte die Schultern.
»Du wirst mir sicher nie verzeihen.«
Ich blätterte lieber weiter, als ihr in die Augen zu schauen.
»Ich habe nichts zu verzeihen.«
»Schau mich an, David.«
Ich klappte das Album zu und tat wie geheißen.
»Das war gelogen«, sagte sie. »Natürlich habe ich es gemerkt. Ich habe es jeden Tag gemerkt, aber ich dachte, ich hätte kein Recht dazu.«
»Warum denn?«
»Weil unser Leben nicht uns gehört. Weder meines noch das meines Vaters, noch das deine…«
»Alles gehört Vidal«, sagte ich bitter.
Langsam nahm sie meine Hand und führte sie an ihre Lippen.
»Heute nicht«, flüsterte sie.
Ich wusste, dass ich sie verlieren würde, kaum wäre diese Nacht vorbei und der Schmerz und die Einsamkeit, die sie zernagten, allmählich zum Verstummen gebracht. Ich wusste, dass sie recht hatte, nicht weil es stimmte, was sie gesagt hatte, sondern weil wir es im Grunde beide glaubten und weil es immer so sein würde. Wie zwei Einbrecher versteckten wir uns in einem der Zimmer und wagten keine Kerze anzuzünden, ja nicht einmal zu sprechen. Langsam zog ich sie aus, wanderte mit den Lippen über ihre Haut im Bewusstsein, dass ich das nie wieder tun würde. Cristinas Hingabe war heftig und absolut, und als uns die Müdigkeit übermannte, schlief sie in meinen Armen ein, ohne dass Worte nötig waren. Ich hielt der Müdigkeit stand, genoss die Wärme ihres Körpers und dachte, falls mich am nächsten Tag der Tod holen käme, würde ich ihn in Frieden empfangen. Ich streichelte Cristina im Halbdunkeln, während sich hinter den Mauern das Gewitter verzog, und ich wusste, dass sie mir entgleiten würde, dass wir aber für einige Minuten nur einander und sonst niemandem gehört hatten.
Als der erste Morgenhauch über die Fenster strich, öffnete ich die Augen und sah, dass das Bett neben mir leer war. Ich trat auf den Korridor hinaus und ging in die Veranda. Cristina hatte das Album liegen lassen und dafür Vidals Roman mitgenommen. Ich löschte in der ganzen, bereits nach ihrer Abwesenheit riechenden Wohnung eine nach der anderen die Kerzen, die ich am Abend zuvor angezündet hatte.
Neun Wochen später stand ich vor der zwei Jahre zuvor eröffneten Buchhandlung Catalonia an der Plaza de Catalunya Nr. 17 und starrte verblüfft in ein riesiges Schaufenster voller Bücher mit dem Titel Das Aschenhaus von Pedro Vidal. Ich musste schmunzeln. Mein Mentor hatte sogar den Titel gewählt, den ich ihm vor langer Zeit zusammen mit dem Abriss der Handlung vorgeschlagen hatte. Ich ging hinein und verlangte ein Exemplar. An einer zufällig aufgeschlagenen Stelle begann ich einige Passagen zu lesen, die ich auswendig wusste, da ich vor wenigen Monaten noch daran gefeilt hatte. Im ganzen Buch fand ich kein einziges Wort, das nicht von mir stammte, mit Ausnahme der Widmung: »Für Cristina Sagnier, ohne deren Hilfe…«
Als ich dem Geschäftsführer das Buch zurückgab, sagte er, ich solle es mir nicht zweimal überlegen.
»Wir haben es vorgestern bekommen, und ich habe es bereits gelesen. Ein großer Roman. Hören Sie auf meine Empfehlung. Ich weiß, dass es in allen Zeitungen über den grünen Klee gelobt wird, was fast immer ein schlechtes Zeichen ist, aber in diesem Fall bestätigt die Ausnahme die Regel. Wenn es Ihnen nicht gefällt, bringen Sie es wieder, und ich erstatte Ihnen das Geld zurück.«
»Danke«, antwortete ich, für die Empfehlung und vor allem für alles Weitere. »Aber ich habe es ebenfalls gelesen.«
»Kann ich Ihnen denn etwas anderes empfehlen?«
»Haben Sie nicht einen Roman mit dem Titel Die Schritte des Himmels?«
Der Buchhändler dachte einen Augenblick nach.
»Das ist der von David Martín, nicht wahr, dem von Die Stadt…?«
Ich nickte.
»Ich hatte ihn bestellt, aber der Verlag hat mir keine Exemplare geliefert. Warten Sie, ich erkundige mich noch einmal.«
Ich folgte ihm zu einem Auslagentisch, wo er mit einem seiner Kollegen sprach, der den Kopf schüttelte.
»Er hätte gestern kommen sollen, aber der Verlag sagt, er habe keine Exemplare mehr. Tut mir leid. Wenn Sie wollen, reserviere ich Ihnen eines, wenn er doch noch eintrifft.«
»Bemühen Sie sich nicht. Ich werde wieder vorbeischauen. Und vielen Dank.«
»Tut mir leid, mein Herr. Ich weiß auch nicht, was da geschehen ist — ich sagte ja, eigentlich müsste ich das Buch hierhaben…«
Anschließend ging ich zu einem Zeitungskiosk oben an den Ramblas und kaufte von der Vanguardia bis zur Stimme der Industrie fast alle Tageszeitungen. Ich setzte mich ins Café Canaletas, um mich in sie zu vertiefen. Vidals Roman wurde überall in ganzseitiger Aufmachung besprochen, mit großer Schlagzeile und einem Bild von Don Pedro, auf dem er nachdenklich und geheimnisvoll aussah, einen neuen Anzug trug und mit einstudierter Geringschätzung an einer Pfeife sog. Ich überflog jeweils die Titel und dann den ersten und letzten Absatz der Kritik.
Die erste begann so: »Das Aschenhaus ist ein reifes, wunderbares, hocherhabenes Werk, das zum Besten zählt, was die Gegenwartsliteratur zu bieten hat.«
Eine andere Zeitung teilte ihren Lesern mit, in Spanien schreibe »niemand besser als Pedro Vidal, unser beliebtester und angesehenster Romancier«, und eine dritte fand, das Buch sei »ein kapitaler Roman, meisterlich geschrieben und von höchster Qualität«. Eine vierte Zeitung kommentierte den großen internationalen Erfolg von Vidal und seinem Roman: »Europa wirft sich dem Meister zu Füßen« (obwohl das Buch in Spanien erst zwei Tage zuvor erschienen war und, sollte es übersetzt werden, in keinem anderen Land vor Ablauf eines Jahres zu finden sein würde). Weitschweifig ließ sich der Artikel über die große Anerkennung und den enormen Respekt aus, auf die Vidals Name bei den »renommiertesten internationalen Kritikern« gestoßen sei, obwohl meines Wissens keines seiner Bücher jemals in eine andere Sprache übertragen worden war, außer einem Roman, dessen Übersetzung ins Französische Don Pedro selbst finanziert hatte und von dem 126 Stück verkauft worden waren. Aber Wunder hin oder her — die Presse war übereinstimmend der Ansicht, es sei »ein Klassiker geboren« worden und der Roman stehe für »die Rückkehr eines der Großen, der besten Feder unserer Zeit: Vidal, der unbestrittene Meister«.
Auf der gegenüberliegenden Seite fand ich in einigen Zeitungen auch eine ein- oder zweispaltige Besprechung des Romans von David Martín. Die gnädigste begann so: »Die Schritte des Himmels, ein Erstlingswerk von David Martín in plattem Stil, offenbaren von der ersten Seite an, dass es dem Autor an Mitteln und Talent fehlt«. Eine zweite war der Meinung, »der Anfänger Martín« versuche, »den Meister Pedro Vidal zu imitieren, was ihm aber nicht gelingt«. Die letzte, die ich zu lesen vermochte, war die der Stimme der Industrie, und sie begann mit einem knappen Resümee in Fettdruck: »David Martín, ein gänzlich unbekannter Redakteur von Kleinanzeigen, überrascht uns mit etwas, was vielleicht das schlechteste literarische Debüt dieses Jahres ist.«
Ich ließ die Zeitungen auf dem Tisch liegen und den Kaffee unberührt stehen und ging die Ramblas hinunter zu den Büros von Barrido und Escobillas. Unterwegs kam ich an vier oder fünf Buchhandlungen vorbei, alle mit zahllosen Exemplaren von Vidals Roman im Schaufenster. In keinem fand ich auch nur ein einziges Exemplar des meinen. Und in allen wiederholte sich die Szene aus der Catalonia.
»Wissen Sie, ich kann auch nicht sagen, was da los ist, er hätte vorgestern eintreffen sollen, aber der Verleger sagt, die Auflage sei vergriffen und er wisse nicht, wann er nachdrucken werde. Wenn Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen wollen, kann ich Sie benachrichtigen, sobald er kommt… Haben Sie schon in der Catalonia gefragt? Wenn die ihn nicht haben…«
Die beiden Teilhaber empfingen mich mit düsterem, unfreundlichem Blick. Barrido hinter seinem Schreibtisch mit einem Füllfederhalter spielend und Escobillas hinter ihm stehend und mich mit dem Blick durchbohrend. Die Giftige saß in einem Stuhl neben mir und genoss die Aussicht auf das Kommende in vollen Zügen.
»Sie wissen nicht, wie leid mir das tut, mein lieber Martín«, erklärte Barrido. »Das Problem ist folgendes: Die Bestellungen der Buchhändler richten sich nach den Zeitungskritiken, fragen Sie mich nicht, warum. Wenn Sie ins Lager nebenan gehen, werden Sie sehen, dass da dreitausend Exemplare Ihres Romans liegen, die schon Staub ansetzen.«
»Mit den entsprechenden Kosten und Verlusten«, ergänzte Escobillas in deutlich feindseligem Ton.
»Ich war im Lager, bevor ich hergekommen bin, und habe festgestellt, dass da dreihundert Exemplare liegen. Der Chef hat mir gesagt, dass nicht mehr gedruckt wurden.«
»Das ist eine Lüge«, rief Escobillas.
Barrido unterbrach ihn versöhnlich.
»Entschuldigen Sie meinen Partner, Martín. Sie müssen verstehen, wir sind ebenso empört wie Sie, wenn nicht noch empörter, dass die lokale Presse ein Buch so schändlich misshandelt hat, an dem wir alle in diesem Haus größten Gefallen gefunden haben, aber bitte be greifen Sie, dass uns in diesem Fall trotz unseres begeisterten Glaubens an Ihr Talent Hände und Füße gebunden sind durch die Verwirrung, welche diese hinterhältigen Pressenotizen ausgelöst haben. Aber lassen Sie sich nicht entmutigen — Rom wurde auch nicht an zwei Tagen erbaut. Wir bemühen uns nach Kräften, Ihrem Werk die Tragweite zu verleihen, die sein hohes literarisches Niveau verdient…«
»Mit einer Auflage von dreihundert Exemplaren.«
Barrido seufzte, beleidigt durch mein mangelndes Vertrauen.
»Die Auflage beträgt fünfhundert«, präzisierte Escobillas. »Die anderen zweihundert haben Barceló und Sempere gestern persönlich abgeholt. Der Rest wird mit der nächsten Lieferung hinausgehen — mit dieser war es nicht möglich, weil die Häufung von Novitäten zu Schwierigkeiten führte. Wenn Sie sich einmal unsere Probleme vor Augen führen würden und nicht so egoistisch wären, würden Sie das verstehen.«
Ungläubig schaute ich die drei an.
»Sagen Sie nicht, dass Sie nichts weiter unternehmen werden.«
Barrido wirkte untröstlich.
»Was sollen wir denn tun, mein Freund? Wir setzen bereits alles für Sie aufs Spiel. Helfen Sie uns auch ein bisschen.«
»Wenn Sie wenigstens ein Buch geschrieben hätten wie das Ihres Freundes Vidal«, sagte Escobillas.
»Ja, das freilich ist eine Schwarte«, bekräftigte Barrido. »Das findet selbst Die Stimme der Industrie.«
»Ich habe ja gewusst, dass es so kommen würde«, fuhr Escobillas fort. »Sie sind ein undankbarer Mensch.«
Die Giftige neben mir schaute mich zerknirscht an. Ich hatte das Gefühl, sie ergreife gleich meine Hand, um mich zu trösten, und ich rückte rasch von ihr ab. Barrido lächelte ölig.
»Vielleicht ist es gut so, Martín. Vielleicht ist das ein Zeichen unseres Herrn, der Ihnen in seiner unendlichen Weisheit den Weg zurück zu der Arbeit weisen will, die die Leser der Stadt der Verdammten so glücklich gemacht hat.«
Ich lachte schallend. Barrido fiel ein, und auf sein Zeichen hin taten es ihm Escobillas und die Giftige nach. Ich besah mir diesen Hyänenchor und dachte, unter anderen Umständen hätte ich das als einen Moment auserlesener Ironie empfunden.
»So ist es recht, Sie sollen es positiv nehmen«, rief Barrido. »Was meinen Sie? Wann werden wir den nächsten Roman von Ignatius B. Samson bekommen?«
Die drei schauten mich zuvorkommend und erwartungsvoll an. Ich räusperte mich, um möglichst deutlich sprechen zu können, und schenkte ihnen ein Lächeln.
»Sie können mich mal.«
Nach dem Besuch bei den Verlegern streifte ich stundenlang ziellos durch die Straßen von Barcelona. Das Atmen fiel mir schwer, und ich spürte einen Druck auf der Brust. Kalter Schweiß bedeckte mir Stirn und Hände. Bei Einbruch der Dunkelheit machte ich mich auf den Heimweg, da ich nicht mehr wusste, wo ich mich verstecken sollte. Als ich bei Sempere und Söhne vorbeikam, sah ich, dass der Buchhändler das Schaufenster mit meinem Roman gefüllt hatte. Es war schon spät und der Laden geschlossen, aber im Inneren brannte noch Licht, und obwohl ich rasch weitergehen wollte, bemerkte mich Sempere und lächelte mir so traurig zu, wie ich ihn in all den Jahren unserer Bekanntschaft noch nie gesehen hatte. Er kam zur Tür und öffnete sie.
»Kommen Sie einen Augenblick herein, Martín.«
»Ein andermal, Señor Sempere.«
»Mir zuliebe.«
Er fasste mich am Arm und zog mich hinein. Ich folgte ihm ins Hinterzimmer, wo er mir einen Stuhl anbot, zwei Gläser mit etwas füllte, was dickflüssiger aussah als Teer, und mir bedeutete, es wie er in einem Zug zu leeren.
»Ich habe in Vidals Buch geblättert«, sagte er.
»Der Erfolg der Saison«, bemerkte ich.
»Weiß er, dass Sie es geschrieben haben?«
Ich zuckte die Achseln.
»Und wenn schon?«
Sempere schaute mich mit demselben Blick an, mit dem er eines weit zurückliegenden Tages den Jungen empfangen hatte, der mit Prellungen und abgebrochenen Zähnen bei ihm geklingelt hatte.
»Geht es Ihnen gut, Martín?«
»Hervorragend.«
Sempere schüttelte schwach den Kopf und stand auf, um aus einem Regal mein Buch zu holen. Lächelnd legte er es zusammen mit einer Feder vor mich hin.
»Seien Sie so lieb und schreiben Sie mir eine Widmung hinein.«
Nachdem ich ihm den Wunsch erfüllt hatte, nahm Sempere das Buch und stellte es in die Ehrenvitrine hinter dem Ladentisch mit den unverkäuflichen Erstausgaben. Das war sein Privatheiligtum.
»Das brauchen Sie wirklich nicht zu tun, Señor Sempere«, sagte ich leise.
»Ich tue es, weil ich es will und weil es das wert ist. Dieses Buch ist ein Teil Ihres Herzens, Martín. Und was mich betrifft, auch meines Herzens. Ich stelle es zwischen Le Père Goriot und L’Èducation Sentimentale.«
»Das ist ein Sakrileg.«
»Dummes Zeug. Es ist eines der besten Bücher, die ich in den letzten zehn Jahren verkauft habe, und ich habe viele Bücher verkauft.«
Semperes freundliche Worte vermochten die eiskalte, undurchdringliche Ruhe kaum anzukratzen, die mich mehr und mehr befiel. Auf einem Umweg ging ich gemächlich zum Haus mit dem Turm. Dort schenkte ich mir ein Glas Wasser ein, und als ich es in der dunklen Küche trank, konnte ich nicht an mich halten und brach in Gelächter aus.
Am nächsten Vormittag bekam ich zweimal Besuch. Der erste Besucher war Pep, Vidals neuer Fahrer. Er brachte mir eine Einladung seines Herrn für ein Mittagessen in der Maison Dorée, zweifellos um das Erscheinen unserer Bücher zu feiern, wie er es mir vor einiger Zeit versprochen hatte. Pep wirkte verkrampft und schien so schnell wie möglich wieder wegkommen zu wollen. Die vormals so vertraute Atmosphäre zwischen uns war verflogen. Er wollte nicht eintreten, sondern im Treppenhaus warten. Den Umschlag mit Vidals Mitteilung übergab er mir, ohne mir in die Augen zu schauen, und sowie ich ihm bestätigt hatte, die Einladung anzunehmen, verschwand er grußlos.
Als zweiter Besuch, eine halbe Stunde später, standen meine beiden Verleger in Begleitung eines Gentleman von finsterer Erscheinung und stechendem Blick vor der Tür, der sich als ihr Anwalt vorstellte. Dieses treffliche Trio trug einen Ausdruck zwischen Trauer und Streitlust zur Schau, der keinen Zweifel an der Natur der Begegnung ließ. Ich bat sie in die Veranda, wo sie sich von links nach rechts in absteigender Größe aufs Sofa setzten.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten? Ein Gläschen Zyankali?«
Ich erwartete kein Lachen, und es kam auch keines. Nach einer kurzen Vorrede von Barrido bezüglich der schrecklichen Verluste, welche der Fehlschlag der Schritte des Himmels dem Verlag verursachen würde, gab mir der Anwalt in einer unmissverständlichen Zusammenfassung zu verstehen, wenn ich mich nicht in meiner Verkörperung als Ignatius B. Samson wieder an die Arbeit mache und binnen anderthalb Monaten ein Manuskript von Die Stadt der Verdammten abliefere, würden sie mich wegen Nichterfüllung meines Vertrags auf Schadensersatz verklagen — sowie in weiteren fünf oder sechs Belangen, die mir entgingen, weil ich da schon nicht mehr hinhörte. Es gab aber nicht nur schlechte Nachrichten. Trotz des durch mein Verhalten verursachten Ärgers hatten Barrido und Escobillas in ihrem Herzen eine Perle der Großzügigkeit gefunden, um die Meinungsverschiedenheiten zu beseitigen und eine neue Allianz von Freundschaft und Nutzen zu begründen.
»Wenn Sie möchten, können Sie zum Vorzugspreis von siebzig Prozent des Verkaufspreises alle Exemplare von Die Schritte des Himmels erwerben, die nicht ausgeliefert worden sind, da wir festgestellt haben, dass der Titel nicht läuft und wir sie unmöglich in die nächste Auslieferung einbeziehen können«, erklärte Escobillas.
»Warum geben Sie mir nicht die Rechte zurück? Schließlich haben Sie keinen Heller dafür gezahlt und wollen nicht einmal versuchen, ein einziges Exemplar abzusetzen.«
»Das können wir nicht, mein Freund«, führte Barrido aus. »Obwohl kein Vorschuss an Sie gezahlt wurde, war die Herausgabe für den Verlag eine höchst bedeutsame Investition, und der von Ihnen unterzeichnete Vertrag hat eine Laufzeit von zwanzig Jahren und verlängert sich automatisch zu denselben Bedingungen, falls der Verlag sein legitimes Recht ausüben will. Sie müssen verstehen, dass auch wir etwas bekommen müssen. Nicht alles kann an den Autor gehen.«
Am Ende seiner Tirade forderte ich die drei Herren auf, sich jetzt hinauszubegeben, je nach Wahl aus eigenem Antrieb oder mit einem Tritt. Bevor ich hinter ihnen die Tür zuschlug, warf mir Escobillas noch einen seiner bösen Blicke zu.
»In einer Woche erwarten wir eine Antwort, oder Sie sind geliefert«, knirschte er.
»In einer Woche sind Sie und Ihr schwachsinniger Partner tot«, erwiderte ich ganz ruhig, ohne recht zu wissen, warum ich das sagte.
Den Rest des Vormittags starrte ich an die Wand, bis mich die Glocken von Santa María daran erinnerten, dass die Stunde meiner Verabredung mit Pedro Vidal nahte.
Er erwartete mich am besten Tisch des Saales, mit einem Weißweinglas spielend und dem Pianisten lauschend, der mit Samtfingern ein Stück von Enrique Granados liebkoste. Als er mich erblickte, stand er auf und gab mir die Hand.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.
Vidal lächelte unerschütterlich und wartete, bis ich mich gesetzt hatte, ehe er wieder Platz nahm. In die Klänge der Musik gehüllt, ließen wir schweigend eine Minute verstreichen, während Menschen vornehmen Geblüts Vidal anschauten, ihm zuwinkten oder an den Tisch traten, um ihn zu seinem Erfolg zu beglückwünschen, der das Stadtgespräch war.
»David, du weißt gar nicht, wie leid mir tut, was geschehen ist«, begann er.
»Es soll Ihnen nicht leidtun, Sie sollen es genießen.«
»Glaubst du, das bedeutet mir etwas? Die Schmeicheleien von ein paar Trotteln? Ich hatte vor allem gehofft, deinen Erfolg zu erleben.«
»Ich bedaure, Sie abermals enttäuscht zu haben, Don Pedro.«
Vidal seufzte.
»Es ist nicht meine Schuld, David, dass sie auf dich losgegangen sind. Es ist deine Schuld. Du hast es herausgefordert. Du bist mittlerweile alt genug, um zu wissen, wie so etwas läuft.«
»Sagen Sie es mir.«
Er schnalzte mit der Zunge, als beleidigte ihn meine Naivität.
»Was hast du erwartet? Du bist keiner von ihnen. Du wirst es nie sein. Du hast es nicht sein wollen und glaubst, man wird dir das verzeihen. Du vergräbst dich in deinem alten Kasten und meinst, du kannst überleben, ohne dich dem Chor der Messknaben anzuschließen und die Uniform anzuziehen. Da irrst du dich, David. Du hast dich immer geirrt. Das Spiel läuft anders. Wenn du allein spielen willst, pack die Koffer und geh irgendwohin, wo du Herr deines Schicksals bist. Aber wenn du hierbleibst, schließt du dich besser einer Gemeinde an, welcher auch immer. So einfach ist das.«
»Und das tun Sie, Don Pedro? Sich der Gemeinde anschließen?«
»Ich habe das nicht nötig, David. Ich gebe ihnen zu essen. Auch das hast du nie begriffen.«
»Sie wären erstaunt, wie schnell ich dazulerne. Aber machen Sie sich keine Gedanken, diese Kritiken haben nichts zu bedeuten. So oder so wird sich morgen keiner mehr an sie erinnern, weder an meine noch an Ihre.«
»Was ist dann das Problem?«
»Schwamm drüber.«
»Sind es diese beiden Dreckskerle? Barrido und der Leichenfledderer?«
»Vergessen Sie es, Don Pedro. Wie Sie selbst sagen, es ist meine Schuld, ausschließlich meine.«
Der Oberkellner näherte sich mit fragendem Blick. Ich hatte nicht in die Karte geschaut und gedachte es auch nicht zu tun.
»Das Übliche, für beide«, sagte Don Pedro.
Der Oberkellner entfernte sich mit einer Verneigung. Vidal beobachtete mich wie ein gefährliches Tier hinter Käfigstangen.
»Cristina konnte nicht kommen«, sagte er. »Ich habe das mitgebracht, damit du ihr eine Widmung hineinschreibst.«
Er legte die in purpurfarbenes Papier mit dem Firmenzeichen von Sempere und Söhne gehüllten Schritte des Himmels auf den Tisch und schob mir das Buch zu. Ich machte keine Anstalten, es in die Hand zu nehmen. Vidal war blass geworden, sein Ton weniger heftig und weniger defensiv. Jetzt kommt der tödliche Stoß, dachte ich.
»Sagen Sie mir endlich, was Sie mir zu sagen haben, Don Pedro. Ich werde Sie nicht beißen.«
Vidal leerte sein Weinglas in einem Zug.
»Es gibt zwei Dinge, die ich dir sagen wollte. Sie werden dir nicht gefallen.«
»Langsam gewöhne ich mich dran.«
»Das eine hat mit deinem Vater zu tun.«
Ich spürte, wie mir das Lächeln auf den Lippen erstarb.
»Ich wollte es dir seit Jahren sagen, aber ich dachte, es würde dir nichts bringen. Du wirst glauben, ich hätte es dir aus Feigheit verschwiegen, aber ich schwöre dir, ich schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist, dass…«
»Was?«, unterbrach ich ihn.
Er seufzte.
»In der Nacht, als dein Vater starb…«
»… ermordet wurde«, stellte ich in eisigem Ton richtig.
»Das war ein Irrtum. Der Tod deines Vaters war ein Missverständnis.«
Verständnislos schaute ich ihn an.
»Diese Typen hatten es nicht auf ihn abgesehen. Sie irrten sich.«
Ich erinnerte mich an die Blicke der drei Angreifer im Nebel, an den Schießpulvergeruch und das Blut meines Vaters, das schwarz zwischen meinen Fingern hindurchsickerte.
»Mich wollten sie umbringen«, sagte Vidal mit hauchdünner Stimme. »Ein ehemaliger Geschäftspartner meines Vaters hatte entdeckt, dass seine Frau und ich…«
Ich schloss die Augen und hörte in mir ein düsteres Lachen aufsteigen. Mein Vater von Kugeln durchlöchert wegen einer Weibergeschichte des großen Pedro Vidal.
»Sag etwas, bitte«, flehte er.
Ich öffnete die Augen.
»Und was ist das Zweite, was Sie mir zu sagen haben?«
Die Angst hatte ihn fest im Griff. Sie stand ihm gut.
»Ich habe Cristina gebeten, mich zu heiraten.«
Langes Schweigen.
»Sie hat eingewilligt.«
Er senkte den Blick. Einer der Kellner brachte die Vorspeisen und stellte sie mit einem »Bon appetit« auf den Tisch. Vidal wagte mich nicht mehr anzusehen. Die Vorspeisen wurden kalt. Kurz darauf nahm ich Die Schritte des Himmels und ging.
Nachdem ich die Maison Dorée verlassen hatte, ertappte ich mich dabei, wie ich mit meinem Buch die Ramblas hinabging. Je näher ich der Ecke kam, wo die Calle del Carmen abzweigte, desto mehr zitterten meine Hände. Vor dem Schaufenster des Juweliers Bagues blieb ich stehen, als wollte ich die rubingespickten Goldmedaillons in Form von Feen und Blumen studieren. Die barock wuchernde Fassade des Warenhauses El Indio befand sich nur wenige Meter entfernt — es sah eher aus wie ein Basar für Wunderdinge denn wie eine Tuchhalle. Langsam ging ich darauf zu und trat in den Vorraum. Ich wusste, dass sie mich nicht erkennen konnte, dass vielleicht nicht einmal ich sie wiedererkannte, aber trotzdem blieb ich fünf Minuten dort draußen stehen, bevor ich hineinzugehen wagte. Schließlich trat ich mit klopfendem Herzen und schweißnassen Händen ein.
An den Wänden reihten sich Regale mit großen Stoffballen aneinander, und auf den Tischen zeigten die Verkäufer, mit Maßbändern und am Gürtel befestigten Spezialscheren, den von ihren Zofen und Schneiderinnen eskortierten betuchten Damen die erstklassigen Stoffe.
»Kann ich Ihnen behilflich sein, mein Herr?«, fragte ein korpulenter Mann mit Fistelstimme. Er steckte in einem Flanellanzug, der jeden Moment zu zerplatzen und den Laden mit flatternden Stofffetzen zu übersäen drohte. Er schaute mich herablassend und mit gezwungenem, feindseligem Lächeln an.
»Nein«, hauchte ich.
Da sah ich sie. Meine Mutter kam mit einer Handvoll Stoffresten in der Hand eine Treppe hinunter. Sie trug eine weiße Bluse, und ich erkannte sie auf der Stelle. Ihre Figur war ein wenig in die Breite gegangen, und in ihren jetzt weicheren Zügen lag etwas von dem Ausdruck einer durch Routine und Enttäuschung besiegten Frau. Aufgebracht redete der Verkäufer weiter auf mich ein, aber ich nahm ihn kaum noch wahr. Ich sah nur sie, wie sie näher kam und an mir vorüberging. Eine Sekunde lang schaute sie mir in die Augen, und als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, lächelte sie mir artig zu, wie man einem Kunden oder dem Chef zulächelt, dann machte sie sich wieder an die Arbeit. Meine Kehle war wie zugeschnürt, ich brachte kaum die Lippen auseinander, um den Verkäufer zum Schweigen zu bringen, und mit Tränen in den Augen stürzte ich zum Ausgang. In einem Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite setzte ich mich an einen Fenstertisch, um den Eingang des El Indio im Auge zu behalten, und wartete.
Nach fast anderthalb Stunden sah ich den Verkäufer heraustreten und das Eingangsgitter herunterlassen. Gleich darauf gingen die Lichter aus, und einige der Verkäuferinnen erschienen am Personaleingang. Ich trat auf die Straße hinaus. Im Hauseingang nebenan saß ein etwa zehnjähriger Junge und schaute mich an. Ich winkte ihn herbei und zeigte ihm eine Münze. Er lächelte so breit, dass man all seine Zahnlücken sah.
»Siehst du dieses Paket? Du sollst es einer Dame geben, die gleich da herauskommen wird. Du sagst ihr, ein Herr habe es dir für sie gegeben, aber sag nicht, dass ich es gewesen bin. Hast du begriffen?«
Er nickte. Ich gab ihm Buch und Münze.
»Und jetzt warten wir.«
Lange dauerte es nicht — nach drei Minuten sah ich sie herauskommen und auf die Ramblas zugehen.
»Diese Dame ist es. Siehst du sie?«
Vor den Strebepfeilern der Bethlehem-Kirche blieb meine Mutter einen Augenblick stehen, und ich gab dem Jungen ein Zeichen, woraufhin er zu ihr lief. Ich verfolgte die Szene aus der Entfernung und konnte nicht hören, was er sagte. Er reichte ihr das Paket, und sie schaute es befremdet an und zögerte, ob sie es nehmen sollte oder nicht. Er beharrte darauf, und schließlich nahm sie es und sah dem weglaufenden Jungen nach. Fragend und verwirrt schaute sie sich nach allen Seiten um. Sie wog das Paket ab und untersuchte das purpurne Einschlagpapier. Schließlich obsiegte die Neugier, und sie riss es auf.
Ich sah sie das Buch herausnehmen. Sie hielt es in beiden Händen, las den Titel und studierte den Umschlag. Mir stockte der Atem. Ich wollte zu ihr treten, etwas zu ihr sagen, aber ich konnte nicht. So blieb ich stehen, zehn Meter von meiner Mutter entfernt, beobachtete sie, ohne dass sie meine Anwesenheit bemerkte, bis sie mit dem Buch in der Hand Richtung Kolumbus-Denkmal weiterging. Als sie am Palacio de la Virreina vorbeikam, warf sie es in einen Papierkorb. Ich sah sie die Ramblas hinuntergehen, bis sie sich in der Menge verlor und es war, als wäre sie nie da gewesen.
Sempere senior befand sich allein in der Buchhandlung und verleimte den Rücken einer auseinanderfallenden Ausgabe von Galdós’ Fortunata und Jacinta. Als er aufschaute, erblickte er mich vor der Tür. Zwei Sekunden genügten ihm, um meinen Zustand zu erkennen. Er winkte mich herein und bot mir einen Stuhl an.
»Sie sehen schlecht aus. Sie sollten zum Doktor gehen. Wenn Ihnen die Nerven flattern, gehe ich mit. Auch mir graut vor den Ärzten, alle tragen diese weißen Kittel und fuchteln mit spitzen Gegenständen herum, aber manchmal muss man eben in den sauren Apfel beißen.«
»Es sind bloß Kopfschmerzen, Señor Sempere. Es geht gleich vorüber.«
Sempere brachte mir ein Glas Selters.
»Da. Das kuriert alles, außer der Dummheit, die ist eine wahre Pandemie.«
Widerwillig lächelte ich über seinen Scherz und trank mit einem Seufzer das Glas aus. Ich spürte Übelkeit auf den Lippen und hinter dem linken Auge einen heftig pulsierenden Druck. Einen Moment befürchtete ich, die Besinnung zu verlieren, und schloss die Augen. Ich atmete tief ein und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Des Schicksals Sinn für Humor konnte doch nicht so pervers sein, dass es mich zu Semperes Buchhandlung führte, um ihm zum Dank für alles, was er für mich getan hatte, eine Leiche zu bescheren. Ich spürte, wie mir eine Hand sanft die Stirn hielt. Sempere. Als ich die Augen öffnete, sah ich, dass mich der Buchhändler und sein Sohn, der den Kopf hereinstreckte, mit Trauermienen anschauten.
»Soll ich den Arzt rufen?«, fragte Sempere junior.
»Ich fühle mich schon besser, danke. Viel besser.«
»Bei Ihrer Art, sich besser zu fühlen, sträuben sich einem ja die Haare. Sie sind ganz grau im Gesicht.«
»Noch etwas Wasser?«
Der junge Sempere schenkte mir eilig nach.
»Entschuldigen Sie bitte dieses Schauspiel«, sagte ich. »Ich versichere Ihnen, ich habe es nicht einstudiert.«
»Reden Sie keinen Unsinn.«
»Vielleicht würde Ihnen etwas Süßes guttun. Es kann ja eine Unterzuckerung gewesen sein…«, bemerkte der Sohn.
»Geh zum Bäcker an der Ecke und bring was Süßes mit«, stimmte der Buchhändler zu.
Als wir allein waren, heftete Sempere seinen Blick auf mich.
»Ich schwöre Ihnen, dass ich zum Arzt gehe«, sagte ich.
Zwei Minuten später kam der Sohn mit einer Tüte voller Köstlichkeiten aus der Konditorei in der Nähe zurück. Er bot sie mir an, und ich wählte eine Brioche, die mir unter anderen Umständen etwa so verlockend erschienen wäre wie der Hintern einer Chorsängerin.
»Beißen Sie schon hinein«, befahl Sempere.
Gehorsam verzehrte ich die Brioche, und allmählich fühlte ich mich wirklich besser.
»Sieht aus, als kehrte er ins Leben zurück«, stellte der Sohn fest.
»Was die Milchbrötchen von der Ecke nicht alles kurieren…«
In diesem Moment läutete die Glocke an der Ladentür. Auf ein Nicken des Vaters hin ging Sempere junior nach vorn, um die Kundschaft zu bedienen. Der Buchhändler blieb bei mir und drückte mir den Zeigefinger aufs Handgelenk, um den Puls zu messen.
»Señor Sempere, erinnern Sie sich noch daran, dass Sie mir vor vielen Jahren gesagt haben, wenn ich eines Tages ein Buch in Sicherheit bringen müsse, wirklich in Sicherheit, dann solle ich zu Ihnen kommen?«
Sempere warf einen Blick auf das Buch, das ich aus dem Papierkorb gerettet hatte und noch immer in den Händen hielt.
»Geben Sie mir fünf Minuten.«
Es wurde schon dunkel, als wir im Gedränge der Menschen, die an diesem feuchtheißen Abend durch die Straßen bummelten, die Ramblas hinuntergingen. Nur ein leises Lüftchen wehte, die Balkontüren und Fenster standen weit offen, und die Leute schauten heraus, um unter dem orange leuchtenden Himmel die Silhouetten vorbeiziehen zu sehen. Sempere schlug eine flotte Gangart an und verlangsamte seine Schritte erst, als wir die schattige Mündung der Calle Arc del Teatre erblickten. Bevor wir einbogen, schaute er mich feierlich an und sagte:
»Martín, was Sie jetzt sehen werden, dürfen Sie niemandem erzählen, nicht einmal Vidal. Niemandem.«
Ich nickte, neugierig geworden durch die ernste, geheimniskrämerische Miene des Buchhändlers. Ich folgte ihm durch die enge Straße, bloß eine Scharte zwischen düsteren, baufälligen Häusern, die sich einander wie steinerne Weiden zuneigten, als wollten sie auf Dachhöhe die Öffnung zum Himmel verschließen. Wenig später gelangten wir vor ein großes Holztor, das aussah, als verschließe es eine alte, seit hundert Jahren auf dem Grund eines Stausees stehende Basilika. Sempere stieg die beiden Stufen zum Tor hinauf, ließ den Bronzeklopfer in Form eines grinsenden Teufelchens dreimal fallen und kam wieder zu mir zurück.
»Was Sie jetzt sehen werden, dürfen Sie…«
»… niemandem erzählen. Nicht einmal Vidal. Niemandem.«
Sempere nickte gravitätisch. Wir warteten zwei Minuten, bis ein Geräusch wie von hundert ineinandergreifenden Schlössern zu hören war. Mit schwerem Ächzen öffnete sich das Tor einen Spaltbreit, und es erschien das Gesicht eines Mannes mittleren Alters mit schütterem Haar und durchdringendem Blick in einem Raubvogelgesicht.
»Ich glaube, mich laust der Sempere, oder so ähnlich«, stieß er hervor. »Wen bringen Sie mir denn heute mit? Wieder eine von diesen Buchstabenleichen, die sich keine Freundin zulegen, weil sie lieber bei Muttern wohnen?«
Sempere kümmerte sich nicht um den sarkastischen Empfang.
»Martín, das ist Isaac Monfort, Wachhund des Hauses und ein unvergleichlicher Sympath. Gehorchen Sie ihm in allem aufs Wort. Isaac, das ist David Martín, ein guter Freund, Schriftsteller und Mann meines Vertrauens.«
Isaac musterte mich mit wenig Begeisterung von Kopf bis Fuß und wechselte dann einen Blick mit Sempere.
»Einem Schriftsteller kann man niemals vertrauen. Na, hat Ihnen Sempere die Regeln erläutert?«
»Nur, dass ich niemandem erzählen darf, was ich hier sehen werde.«
»Das ist das A und O. Wenn Sie sich nicht daran halten, werde ich Sie persönlich aufsuchen, um Ihnen den Hals umzudrehen. Haben Sie verstanden?«
»Vollkommen.«
»Na, dann los.«
Isaac winkte mich herein.
»Ich verabschiede mich jetzt, Martín, und lasse euch beide allein. Hier sind sie in Sicherheit.«
Ich begriff, dass Sempere die Bücher meinte, nicht mich. Er umarmte mich herzlich und verschwand dann in der Nacht. Ich trat über die Schwelle, und Isaac zog an einem Hebel innen an der Tür. Tausend mit einem Gewirr von Stangen und Rollen verbundene Mechanismen verriegelten sie. Isaac nahm eine Öllampe vom Boden und hob sie auf die Höhe meines Gesichts.
»Sie sehen schlecht aus.«
»Verdorbener Magen.«
»Wovon?«
»Vom Leben.«
»Da sind Sie nicht der Einzige.«
Wir gingen durch einen langen Flur, und im Halbdunkel konnte ich links und rechts Fresken und Marmortreppen erahnen. Nachdem wir immer tiefer in dieses palastartige Gebäude eingedrungen waren, erkannte ich auf einmal vor uns den Eingang zu einem großen Saal.
»Was bringen Sie mit?«, fragte Isaac.
»Die Schritte des Himmels. Einen Roman.«
»Was für ein kitschiger Titel. Sie werden doch nicht etwa der Autor sein?«
»Ich fürchte, doch.«
Isaac schüttelte seufzend den Kopf.
»Und was haben Sie sonst noch geschrieben?«
»Die Stadt der Verdammten, Band eins bis hundertsiebenundzwanzig, unter anderem.«
Mit einem zufriedenen Grinsen wandte er sich um.
»Ignatius B. Samson?«
»Gott hab ihn selig, stets zu Diensten.«
Nun blieb der geheimnisvolle Wächter stehen und platzierte die Lampe auf einer Art Balustrade, die vor einem riesigen Raum errichtet worden war. Ich schaute auf und war sprachlos. Regale mit Hunderttausenden Büchern, verbunden durch Brücken und Passagen, erhoben sich zu einer gigantischen Bibliothek und bildeten ein unübersehbares Labyrinth. In seinem Gewirr aus Gängen war der enorme Bau nicht zu erfassen. Er schien spiralförmig zu einer großen Glaskuppel aufzusteigen, durch welche Vorhänge aus Licht und Dunkel fielen. Ich erkannte einige vereinzelte Gestalten, die sich über Stege und Treppen bewegten oder eingehend die Regalreihen dieser Bücher- und Wortkathedrale besahen. Ich traute meinen Augen nicht und schaute Isaac Monfort verblüfft an. Er grinste wie ein alter Fuchs, der seinen Lieblingstrick genießt.
»Willkommen im Friedhof der Vergessenen Bücher, Ignatius B. Samson.«
Ich folgte dem Aufseher hinab auf den Boden der großen Halle, die das Labyrinth beherbergte. Der Belag unter unseren Füßen war ein Flickwerk aus Fliesen und groben Platten, voller Grabinschriften, Kreuze und ausgewaschener Steingesichter. Isaac blieb stehen und ließ zu meinem Ergötzen das Licht der Öllampe über einige Teile dieses makabren Puzzles gleiten.
»Reste eines alten Gräberfeldes«, erklärte er. »Aber kommen Sie mir nicht auf die Idee, hier tot umzufallen.«
Wir gingen weiter bis zu einem offenbar als Eingang dienenden Bereich. Isaac leierte die Regeln und Pflichten herunter und warf mir ab und an einen Blick zu, den ich mit mildem Nicken aufzufangen suchte.
»Artikel eins: Das erste Mal, wenn jemand herkommt, hat er das Recht, sich aus allen Büchern, die es hier gibt, nach Belieben eines auszusuchen. Artikel zwei: Wenn man ein Buch adoptiert, geht man die Verpflichtung ein, es zu beschützen und alles zu tun, damit es nie verloren geht. Ein Leben lang. Irgendwelche Unklarheiten bis dahin?«
Ich schaute in die labyrinthischen Weiten der Bibliothek hinauf.
»Wie kann man unter so vielen Büchern ein einziges aussuchen?«
»Manch einer glaubt, das Buch suche ihn aus… Das Schicksal sozusagen. Was Sie hier sehen, ist die Summe von Jahrhunderten verlorener und vergessener Bücher, Bücher, die dazu verdammt waren, für immer vernichtet und zum Schweigen gebracht zu werden, Bücher, die die Erinnerung und die Seele von Zeiten und Wundern bewahren, an die niemand mehr denkt. Keiner von uns, nicht einmal einer der Ältesten, weiß mit Bestimmtheit, wann das alles hier geschaffen wurde und von wem. Wahrscheinlich ist es so alt wie die Stadt selbst und ist mit ihr gewachsen, in ihrem Schatten. Wir wissen, dass das Gebäude auf den Überresten von Palästen, Kirchen, Gefängnissen und Krankenhäusern errichtet wurde, die einmal an diesem Ort gestanden haben mögen. Die Grundmauern des Hauptbaus stammen ursprünglich aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert. Vorher war der Friedhof der Vergessenen Bücher unter der mittelalterlichen Stadt verborgen. Es heißt, in den Zeiten der Inquisition hätten Gebildete und Freidenker verbotene Bücher in Sarkophagen versteckt und zu ihrem Schutz auf den Gottesäckern vergraben, die es überall in der Stadt gab, im Vertrauen darauf, dass kommende Generationen sie wieder ausgraben würden. Mitte des letzten Jahrhunderts fand man einen langen Tunnel, der vom Inneren des Friedhofs der Vergessenen Bücher zu den Kellergeschossen einer alten Bibliothek führt, die heute versiegelt und in den Ruinen einer ehemaligen Synagoge des Call-Viertels verborgen ist. Beim Einsturz der letzten Stadtmauern entstand ein Erdrutsch, und der Tunnel wurde von dem unterirdischen Strom überschwemmt, der seit Jahrhunderten unter den jetzigen Ramblas entlangfließt. Heute ist der Tunnel ungangbar, aber wir nehmen an, dass er lange einer der Hauptzugänge zu diesem Ort war. Der größte Teil des Baus, den Sie vor sich sehen, wurde im neunzehnten Jahrhundert errichtet. Nicht mehr als hundert Menschen in der ganzen Stadt kennen diesen Ort, und ich hoffe, Sempere hat keinen Fehler gemacht, als er Sie unter sie aufgenommen hat…«
Obwohl ich energisch den Kopf schüttelte, schaute mich Isaac skeptisch an.
»Artikel drei: Sie dürfen Ihr Buch begraben, wo Sie wollen.«
»Und wenn ich mich verirre?«
»Eine Zusatzklausel, auf meinem Mist gewachsen: Sorgen Sie dafür, dass Sie sich nicht verirren.«
»Hat sich jemals jemand verirrt?«
Isaac schnaufte.
»Als ich hier angefangen habe, vor vielen Jahren, hat man sich die Geschichte von Darío Alberti de Cymerman erzählt. Vermutlich hat Sempere Ihnen nichts davon gesagt…«
»Cymerman? Der Historiker?«
»Nein, der Robbenbändiger. Wie viele Darío Alberti de Cymermänner kennen Sie denn? Jedenfalls drang Cymerman im Winter 1889 in dieses Labyrinth ein und verschwand für eine Woche darin. Man fand ihn in einem Tunnel, halb tot vor Angst. Er hatte sich hinter mehreren Reihen heiliger Texte verschanzt, um nicht gesehen zu werden.«
»Um von wem nicht gesehen zu werden?«
Isaac schaute mich lange an.
»Vom Mann in Schwarz. Hat Ihnen Sempere wirklich nichts davon erzählt?«
»Wirklich nicht.«
Isaac senkte die Stimme und sagte in vertraulichem Ton:
»Einige der Mitglieder haben im Lauf der Jahre in den Tunnels des Labyrinths manchmal einen Mann in Schwarz gesehen. Alle beschreiben ihn anders. Manche wollen sogar mit ihm gesprochen haben. Es gab eine Zeit, da wurde gemunkelt, der Mann in Schwarz sei der Geist eines verfluchten Autors, den ein Mitglied verraten habe, indem es eines seiner Bücher mitgenommen und das Versprechen nicht gehalten habe. Das Buch ging für immer verloren, und der verstorbene Autor irrt nun auf ewig durch die Gänge und sinnt auf Rache, Sie wissen ja, wie in dieser Schauergeschichte von Henry James, die den Leuten so zusagt.«
»Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie das glauben.«
»Natürlich nicht. Ich habe eine andere Theorie. Die von Cymerman.«
»Und die wäre?«
»Dass der Mann in Schwarz der Schutzheilige dieses Orts ist, der Vater allen geheimen und verbotenen Wissens, der Erkenntnis und der Erinnerung, Lichtbringer von Erzählern und Schriftstellern seit unvordenklichen Zeiten… Er ist unser Schutzengel, der Engel der Lügen und der Nacht.«
»Sie nehmen mich auf den Arm.«
»Jedes Labyrinth hat seinen Minotaurus«, sagte der Aufseher. Er lächelte geheimnisvoll und deutete auf den Eingang. »Alles Ihrs.«
Ich wählte einen Steg, der zu einem der Eingangstore führte, und drang langsam in einen langen, in einer Kurve ansteigenden Büchergang ein. Am Ende der Kurve bildete der Tunnel ein kleines Rund, von dem vier schmale Gänge abzweigten und eine Wendeltreppe hinanstieg, um sich in der Höhe zu verlieren. Ich ging hinauf, bis ich zu einem Absatz mit drei weiteren Tunneleingängen gelangte. Ich wählte denjenigen, der mutmaßlich ins Herz des Baus führte, und wagte mich hinein. Im Vorübergehen strich ich mit den Fingern über Hunderte von Buchrücken. Ich sog den Geruch und das Licht auf, das aus den in die Holztäfelung eingelassenen Glaslaternen drang und in Spiegeln und im Halbdunkeln flackerte. Fast eine halbe Stunde ging ich ziellos weiter. Schließlich stand ich in einem abgeschlossenen kleinen Raum mit Tisch und Stuhl. Die Wände bestanden aus Büchern und schienen massiv zu sein, bis auf eine kleine Lücke, die aussah, als hätte dort jemand ein Buch entnommen. Ich erwählte sie als neue Heimat für Die Schritte des Himmels. Ein letztes Mal betrachtete ich das Titelblatt und las den ersten Abschnitt. Ich stellte mir den Augenblick vor, in dem jemand, falls es das Schicksal so wollte, viele Jahre nach meinem Tod, wenn ich längst vergessen wäre, denselben Weg beschreiten und in diesem kleinen Raum ein unbekanntes Buch entdecken würde, in das ich alles hineingegossen hatte, was ich zu bieten hatte. Ich stellte es hinein mit dem Gefühl, dort im Regal selbst zurückzubleiben. In diesem Moment spürte ich etwas in meinem Rücken, und als ich mich umwandte, sah ich den Mann in Schwarz, der mich anstarrte.
Anfänglich erkannte ich meinen eigenen Blick im Spiegel nicht, einem der vielen, die längs der Gänge des Labyrinths eine Kette schwachen Lichts bildeten. Es war mein Gesicht, das ich reflektiert sah, aber die Augen waren die eines Fremden. Trüb und dunkel und triefend vor Bosheit. Ich wandte den Blick ab und spürte, wie mich abermals Übelkeit umschlich. Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem Tisch und atmete tief. Ich vermutete, selbst Dr. Trías könnte die Vorstellung amüsieren, der Untermieter meines Hirns, das krebsartige Geschwür, wie er es zu nennen beliebte, wäre auf den Gedanken gekommen, mir an Ort und Stelle den Gnadenstoß zu versetzen und mich zum ersten Dauerbewohner des Friedhofs der Vergessenen Bücher zu machen. Bestattet in Gesellschaft seines letzten, kümmerlichen Werks, das ihn ins Grab gebracht hat. In zehn Monaten oder zehn Jahren würde mich hier drin jemand finden — oder vielleicht auch nie. Ein großes Finale, der Stadt der Verdammten würdig.
Ich glaube, was mich rettete, war mein eigenes bitteres Lachen, das mir den Kopf reinfegte und mich wieder daran erinnerte, wo ich war und was ich hier suchte. Eben wollte ich vom Stuhl aufstehen, als ich ihn erblickte. Es war ein plumper, dunkler Band ohne erkennbaren Titel auf dem Rücken. Er lag am anderen Ende des Tisches, zuoberst auf einem Stapel mit vier weiteren Büchern. Ich nahm ihn in die Hand. Der Einband fühlte sich an wie Leder oder sonst eine gegerbte, dunkel gewordene Haut. Die Schrift auf dem Deckel, vermutlich mit einer Art Brandzeichen geprägt, war ausgeblichen, aber auf der vierten Seite war der Titel deutlich zu lesen.
Lux Aeterna
D.M.
Die mit den meinen übereinstimmenden Initialen waren wohl die des Autors, aber kein weiterer Hinweis in dem Buch bestätigte diese Annahme. Ich überflog mehrere Seiten und erkannte mindestens fünf verschiedene Sprachen, die sich im Text abwechselten — Spanisch, Deutsch, Latein, Französisch und Hebräisch. Ich las aufs Geratewohl einen Abschnitt, der mich an ein Gebet denken ließ, welches ich aber aus der traditionellen Liturgie nicht in Erinnerung hatte, und fragte mich, ob es sich hier wohl um eine Art Messbuch oder Sammlung von Fürbitten handelte. Der Text war durchsetzt mit Zahlen und in Abschnitte unterteilt, deren unterstrichene Einsätze auf Episoden oder thematische Unterteilungen hinzuweisen schienen. Je genauer ich es untersuchte, desto deutlicher erinnerte es mich an die Evangelien und die Katechismen meiner Schulzeit.
Ich hätte den Raum verlassen, irgendeinen anderen von den Hunderttausenden Bänden aussuchen und weggehen können, um nie wiederzukehren. Beinahe glaubte ich auch, das zu tun, als ich auf dem Rückweg durch die Tunnel und Gänge des Labyrinths merkte, dass mir das Buch noch immer in der Hand haftete wie ein Parasit. Einen Augenblick ging mir der Gedanke durch den Kopf, dieses Buch habe noch mehr den Wunsch, hier wegzukommen, als ich selbst und lenke auf irgendeine Weise meine Schritte. Nachdem ich auf einigen Umwegen zweimal am vierten Band von Le Fanus gesammelten Werken vorbeigekommen war, gelangte ich plötzlich, ohne zu wissen, wie, zu der spiralförmig absteigenden Treppe, und von da fand ich den Weg zum Ausgang des Labyrinths. Eigentlich hatte ich Isaac an der Schwelle erwartet, aber es war keine Spur von ihm zu sehen, obwohl ich das sichere Gefühl hatte, dass mich jemand aus der Dunkelheit heraus beobachtete. Das ganze Gewölbe des Friedhofs der Vergessenen Bücher war in tiefe Stille getaucht.
»Isaac?«, rief ich.
Das Echo meiner Stimme verlor sich in den dunklen Ecken. Ich wartete vergeblich einige Sekunden und machte mich dann auf zum Ausgang. Das durch die Kuppel sickernde blaue Licht verlor sich allmählich, bis mich fast völlige Dunkelheit umgab. Nach einigen Schritten sah ich am Ende der Galerie ein Licht flackern und stellte fest, dass der Aufseher die Öllampe neben dem Tor hatte stehen lassen. Ich wandte mich ein letztes Mal um und spähte in die Finsternis der Galerie. Dann zog ich an dem Griff, der den Mechanismus von Stangen und Rollen in Gang setzte. Die Schlösser öffneten sich eines nach dem anderen, und die Tür gab einige Zentimeter nach. Ich drückte sie so weit auf, dass ich hindurchschlüpfen konnte, und trat ins Freie. Nach einigen Sekunden fiel sie mit tiefem Widerhall in die Schlösser.
Je weiter ich mich von diesem Ort entfernte, desto mehr verlor sich seine Magie, und ich spürte wieder die Übelkeit und den Schmerz. Ich fiel der Länge nach hin, zuerst auf den Ramblas und dann, als ich die Vía Layetana überqueren wollte, wo mir ein Junge aufhalf und mich davor bewahrte, vor eine Straßenbahn zu geraten. Mit Mühe und Not schaffte ich es bis zu meiner Tür. Die Wohnung war den ganzen Tag verschlossen gewesen, und diese feuchtgiftige Hitze, die die Stadt jeden Tag etwas mehr erstickte, hing als dunstiges Licht darin. Ich ging ins Arbeitszimmer im Turm und riss die Fenster weit auf. Es wehte kaum eine Brise unter dem von schwarzen, langsam über Barcelona kreisenden Wolken gequälten Himmel. Ich legte das Buch auf den Schreibtisch und dachte, ich hätte noch genügend Zeit, es ausführlich zu studieren. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht war meine Zeit schon um. Aber das spielte jetzt keine große Rolle mehr.
Inzwischen konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Ich schluckte drei oder vier Kodeinpillen auf einmal, steckte das Fläschchen in die Tasche und steuerte die Treppe an, nicht ganz sicher, ob ich das Schlafzimmer erreichen würde. Im Korridor angelangt, glaubte ich in dem hellen Spalt unter der Eingangstür einen Schatten zu sehen, als stünde jemand auf der anderen Seite. Ich tastete mich die Wände entlang zur Tür.
»Wer ist da?«, fragte ich.
Weder eine Antwort noch sonst ein Geräusch war zu hören. Ich zögerte einen Moment, dann öffnete ich und trat hinaus. Ich beugte mich vor, um die Treppe hinunterzuschauen. Die Stufen führten in einem Halbkreis abwärts und verloren sich in der Finsternis. Niemand da. Ich drehte mich wieder zur Tür um und sah, dass das kleine Licht im Treppenhaus flackerte. Drinnen schloss ich mit dem Schlüssel ab, etwas, was ich oft vergaß. Da erblickte ich einen cremefarbenen Umschlag mit gezacktem Rand. Jemand hatte ihn unter der Tür durchgeschoben. Ich bückte mich danach. Es war ein schweres, poröses Papier, versiegelt und mit meinem Namen versehen. Das Lacksiegel zeigte die Silhouette des Engels mit den ausgebreiteten Flügeln.
Ich öffnete ihn.
Sehr geehrter Señor Martín,
ich werde eine gewisse Zeit in der Stadt verbringen und würde mich sehr freuen, in den Genuss Ihrer Gesellschaft zu kommen und mit Ihnen noch einmal mein Angebot zu erörtern. Ich würde es Ihnen sehr danken, wenn Sie mir, falls Sie keine anderweitigen Verpflichtungen haben, am nächsten Freitag, dem 13. dieses Monats, abends um zehn Uhr bei einem Abendessen in der kleinen Villa Gesellschaft leisten würden, die ich für meinen Aufenthalt gemietet habe. Sie befindet sich in der Calle Olot, Ecke Calle San José de la Montaña, neben dem Eingang zum Park Güell. Ich hoffe und wünsche mir, dass es Ihnen möglich ist zu kommen.
Ich ließ das Billett zu Boden fallen und schleppte mich in die Veranda, wo ich mich im Halbdunkeln aufs Sofa legte. Noch eine Woche bis zu dem Rendezvous. Ich musste lächeln. Ich glaubte nicht, dass ich in sieben Tagen noch leben würde. Ich schloss die Augen und versuchte einzuschlafen. Das dauernde Pfeifen in meinen Ohren kam mir jetzt gellender vor denn je. Mit jedem Herzschlag flammte in meinem Kopf ein stechendes weißes Licht auf.
Sie werden nicht einmal ans Schreiben denken können.
Ich machte die Augen wieder auf und starrte in die blaue Finsternis der Veranda. Neben mir auf dem Tisch lag immer noch das alte Fotoalbum, das Cristina zurückgelassen hatte. Ich hatte nicht den Mut gefunden, es wegzuwerfen, oder auch nur, es anzurühren. Ich blätterte bis zu der gesuchten Aufnahme, die ich herausriss und aufmerksam betrachtete. Cristina, die als kleines Mädchen an der Hand eines Unbekannten auf dem Steg ins Meer hinausspaziert. Ich drückte das Bild an meine Brust und überließ mich der Müdigkeit. Langsam erlosch die Bitterkeit und Wut dieses Tages, dieser Jahre, und eine warme Dunkelheit voller erwartungsvoller Stimmen und Hände hüllte mich ein. Ich wünschte mir, mich in ihr zu verlieren, wie ich mir in meinem Leben noch nie etwas gewünscht hatte, aber etwas zog an mir, und ein Dolchstich von Licht und Schmerz riss mich aus diesem behaglichen Traum, der ohne Ende zu sein versprochen hatte.
Noch nicht, flüsterte die Stimme, noch nicht.
Dass die Tage vergingen, wusste ich, weil ich manchmal erwachte und durch die Lamellen der Fensterläden das Sonnenlicht zu sehen glaubte. Mehrmals hatte ich den Eindruck, es werde an die Tür geklopft und Stimmen riefen meinen Namen, um nach einer Weile wieder zu verstummen. Irgendwann stand ich auf, und als ich mit den Händen meinen Kopf betastete, entdeckte ich Blut auf meinen Lippen. Ich weiß nicht, ob ich wirklich auf die Straße hinausging oder es nur träumte, aber ohne zu wissen, wie ich dahin gelangt war, befand ich mich auf dem Paseo del Born, wo ich zur Kathedrale Santa María del Mar schritt. Die Straßen unter dem Quecksilbermond waren menschenleer. Ich schaute auf und glaubte den Geist eines großen schwarzen Gewitters seine Flügel über der Stadt ausbreiten zu sehen. Ein feines weißes Licht riss den Himmel entzwei, und dichte Regentropfen fielen wie Dolche aus Glas zur Erde herab. Kurz bevor der erste Tropfen den Boden berührte, stand die Zeit still, und Hunderttausende Lichttränen schwebten in der Luft. Ich wusste, dass jemand oder etwas hinter mir war, und konnte seinen Atem im Nacken fühlen, kalt und nach fauligem Fleisch und Feuer stinkend. Ich spürte, wie sich seine langen, schmalen Finger meiner Haut näherten, und in diesem Augenblick erschien in dem schwebenden Regen dieses Mädchen, das nur auf dem Porträt lebte, welches ich an die Brust gedrückt hielt. Sie nahm mich bei der Hand, zog mich mit und führte mich zum Haus mit dem Turm, fort von dieser eiskalten, mir nachkriechenden Gegenwart. Als ich wieder zu Bewusstsein kam, waren sieben Tage vergangen.
Es war Freitag, der 13. Juli.
Pedro Vidal und Cristina Sagnier heirateten an ebendiesem Nachmittag. Die Zeremonie fand um fünf Uhr in der Kapelle des Klosters Pedralbes statt, und nur ein kleiner Teil des Vidal-Clans fand sich ein — die Creme der Familie, mitsamt dem Vater des Bräutigams, glänzte durch Unheil ankündigende Abwesenheit. Hätte es böse Zungen gegeben, so hätten sie gesagt, der sonderbare Einfall des Benjamins, die Tochter des Fahrers zu ehelichen, sei für den Großteil der Dynastie eine herbe Enttäuschung gewesen. Aber es gab keine bösen Zungen. Aufgrund eines diskreten Stillhalteabkommens hatten die Klatschreporter an diesem Nachmittag anderes zu tun, und kein einziges Blatt verbreitete die Nachricht von der Hochzeit. Niemand war da, um zu berichten, dass sich vor dem Kircheneingang eine Handvoll ehemalige Geliebte von Don Pedro eingefunden hatten, die leise vor sich hin weinten wie welke Witwen, denen die letzte Hoffnung abhandengekommen war. Niemand war da, um zu berichten, dass Cristina ein Bund weißer Rosen in der Hand hielt und ein elfenbeinfarbenes Kleid trug, das mit ihrer Haut verschmolz und den Eindruck erweckte, sie trete nackt vor den Altar, ohne weiteren Schmuck als den weißen Schleier vor dem Gesicht und einen Himmel, der sich über dem Zeiger der Turmuhr zu einem bernsteinfarbenen Wolkenwirbel ballte. Niemand war da, um daran zu erinnern, wie sie aus dem Auto stieg und einen Augenblick stehen blieb, um sich auf dem Platz vor dem Kirchenportal umzuschauen, wo sie den todkranken Mann mit den zitternden Händen erblickte. Ohne dass es jemand vernahm, murmelte er Worte vor sich hin, die er mit sich ins Grab nehmen sollte.
»Seid verdammt. Seid verdammt alle beide.«
Zwei Stunden später öffnete ich im Sessel meines Arbeitszimmers das Kästchen, das mir vor Jahren in die Hände gekommen war und das Einzige enthielt, was mir von meinem Vater geblieben war. Ich zog die in ein Tuch gewickelte Pistole heraus, entriegelte die Trommel, lud sie mit sechs Kugeln und schwenkte die Trommel wieder ein. Ich setzte die Pistole auf die Schläfe, spannte sie und schloss die Augen. Im selben Augenblick peitschte ein Windstoß plötzlich den Turm und ließ die großen Fenster des Arbeitszimmers laut an die Wand schlagen. Eine eisige Brise strich mir über die Haut und trug den verlorenen Hauch großer Erwartungen herein.
Das Taxi fuhr langsam an den Rand des Gracia-Viertels hinauf, zu dem einsamen, düsteren Gelände des Park Güell. Da und dort auf dem Hügel lugten große Häuser aus besseren Zeiten aus einem Waldstück, das sich im Wind wellte wie schwarzes Wasser. Oben am Hang machte ich das große Tor zum Park aus. Drei Jahre zuvor hatten nach dem Tode Gaudís die Erben des Grafen Güell diese verlassene Villenkolonie, die nie einen weiteren Bewohner gesehen hatte als ihren Architekten, der Stadt zu einem Schleuderpreis verkauft. Vergessen und vernachlässigt, erinnerte der Park mit seinen Säulen und Türmen an ein verfluchtes Eden. Ich hieß den Fahrer vor dem Gittertor anhalten und zahlte ihm die Fahrt.
»Sind Sie sicher, dass Sie hier aussteigen möchten?«, fragte er ängstlich. »Wenn der Herr es wünschen, kann ich auch einige Minuten warten…«
»Das wird nicht nötig sein.«
Das Brummen des Taxis verlor sich hügelab, und ich blieb mit dem Rauschen des Windes in den Bäumen allein. Das dürre Laub wehte auf den Parkeingang zu und wirbelte mir um die Füße. Ich trat an das mit rostzerfressenen Ketten verschlossene Gittertor und spähte hindurch. Sanft strich das Mondlicht um den Drachen, der am Fuß der breiten Parktreppe saß. Ganz langsam glitt eine dunkle Form die Stufen herunter und beobachtete mich mit Augen, die wie Perlen im Wasser glänzten. Ein schwarzer Hund. Unten an der Treppe blieb er stehen, und erst jetzt bemerkte ich, dass er nicht allein war. Zwei weitere Hunde starrten mich lautlos an. Einer hatte sich im Schatten des Pförtnerhäuschens neben dem Eingang auf leisen Pfoten genähert. Der andere, der größte der drei, war auf die Mauer gesprungen und behielt mich aus nur zwei Meter Entfernung im Auge. Zwischen den entblößten Reißzähnen sah man den Dunst seines Atems. Ich zog mich ganz langsam zurück, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Schritt für Schritt näherte ich mich dem gegenüberliegenden Gehsteig. Ein weiterer der Hunde war auf die Mauer gesprungen und verfolgte mich mit den Augen. Ich suchte den Boden nach einem Stock oder Stein ab, um mich zu verteidigen, falls sie herunterzuspringen und über mich herzufallen beschlossen, aber außer verdorrten Blättern fand ich nichts. Ich wusste, dass mir die Tiere nachsetzen würden, sollte ich den Blick abwenden und losrennen, und dass ich keine zwanzig Meter weit käme, bevor sie sich auf mich stürzen und mich in Stücke reißen würden. Der größte trippelte auf der Mauer ein paar Meter weiter, und ich war überzeugt, dass er springen würde. Der dritte, der, den ich als ersten gesehen und der möglicherweise als Köder gedient hatte, sprang auf die Mauer, wo sie am niedrigsten war, um sich den beiden anderen zuzugesellen. Ich bin geliefert, dachte ich.
Da fiel ein Lichtschein auf die Wolfsgesichter der drei Tiere, die abrupt innehielten. Ich schaute nach links und sah in fünfzig Meter Entfernung eine kleine Erhebung. Die Lichter des Hauses darauf waren angegangen, die einzigen am ganzen Hang. Eines der Tiere gab ein dumpfes Winseln von sich und zog sich ins Parkinnere zurück. Einen Augenblick später folgten ihm die beiden anderen.
Ohne lange zu überlegen, ging ich auf das Haus zu. Genau wie von Corelli in seiner Einladung beschrieben, stand es an der Calle Olot, Ecke Calle San José de la Montaña. Es war ein schlanker, verwinkelter, turmförmiger Bau mit drei Stockwerken und von Mansarden gekrönt, der wie eine Schildwache auf die Stadt und den geisterhaften Park hinabschaute.
Das Haus stand oben am Ende einer steilen Treppe, die zum Eingang führte. Aus seinen Fenstern drang goldenes Licht. Je weiter ich die steinernen Stufen hinanstieg, desto deutlicher glaubte ich auf einer Balustrade im zweiten Stock eine Silhouette zu erkennen, unbeweglich wie eine in ihrem Netz hockende Spinne. Auf der letzten Stufe blieb ich stehen, um Atem zu schöpfen. Die Eingangstür war nur angelehnt, und ein Lichtfleck reichte bis an meine Füße. Langsam trat ich näher und blieb auf der Schwelle stehen. Ein Geruch nach verwelkten Blumen drang heraus. Ich klopfte an, und die Tür öffnete sich einige Zentimeter. Vor mir lagen ein Vorzimmer und ein langer, ins Haus hineinführender Korridor. Ich vernahm ein hartes, monotones Geräusch, als schlüge irgendwo im Haus ein Laden im Wind ans Fenster. Es klang wie ein schlagendes Herz. Ich trat einige Meter hinein und erblickte zu meiner Linken die in den Turm hinaufführende Treppe. Da glaubte ich leichte Schritte, Kinderschritte, zu hören, die in den obersten Stock hinaufeilten.
»Guten Abend«, rief ich fragend.
Bevor sich das Echo meiner Stimme im Korridor verlor, verstummte das schlagende Geräusch. Absolute Stille senkte sich um mich herab, und ein eiskalter Luftzug strich mir übers Gesicht.
»Señor Corelli? Ich bin es, Martín. David Martín…«
Da ich keine Antwort erhielt, wagte ich mich durch den Korridor tiefer ins Haus hinein. Die Wände hingen voll von gerahmten Porträtaufnahmen in verschiedenen Größen. An den Posen und Kleidern war zu erkennen, dass die meisten Bilder mindestens zwanzig Jahre alt waren. Unten am Rahmen waren auf einem Täfelchen der Name des Abgebildeten und das Entstehungsjahr der Fotografie zu lesen. Ich betrachtete aufmerksam diese Gesichter, die mich aus einer anderen Zeit heraus beobachteten. Kinder und Alte, Damen und Herren. Sie alle vereinte ein Schatten von Traurigkeit im Blick, eine lautlose Klage. Alle schauten mit einer Sehnsucht in die Kamera, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Interessieren Sie sich für Fotografie, lieber Martín?«, fragte die Stimme neben mir.
Erschrocken fuhr ich herum. An meiner Seite betrachtete Andreas Corelli die Bilder mit einem melancholischen Lächeln. Ich hatte sein Kommen nicht bemerkt, und sein Lächeln ließ mich schaudern.
»Ich dachte schon, Sie würden ausbleiben.«
»Ich auch.«
»Dann erlauben Sie mir, Sie zu einem Glas Wein einzuladen, um auf unseren Irrtum anzustoßen.«
Ich folgte ihm in einen geräumigen Salon mit großen, sich zur Stadt hin öffnenden Fenstern. Corelli bot mir einen Sessel an und schenkte dann aus einer Kristallkaraffe, die auf dem Tisch zwischen uns stand, zwei Gläser ein. Er reichte mir eins und setzte sich mir gegenüber.
Der Wein schmeckte ausgezeichnet. Ich trank ihn fast in einem Zug aus und spürte sofort, wie die den Hals hinabgleitende Wärme meine Nerven beruhigte. Corelli schnupperte an seinem Glas und schaute mich mit ruhigem, freundlichem Lächeln an.
»Sie hatten recht«, sagte ich.
»Das habe ich fast immer«, antwortete er. »Es ist eine Angewohnheit, die mir selten Befriedigung verschafft. Manchmal denke ich, nichts wäre mir angenehmer als die Gewissheit, mich geirrt zu haben.«
»Das ist leicht zu beheben. Fragen Sie mich. Ich irre mich ständig.«
»Nein, Sie irren sich nicht. Ich glaube, Sie sehen die Dinge fast genauso klar wie ich, und auch Ihnen verschafft das keine Befriedigung.«
Als ich ihm zuhörte, ging mir auf, dass mir nur eine Sache in diesem Moment Befriedigung verschaffen könnte: die ganze Welt in Brand zu stecken und mit ihr zu verbrennen. Als hätte Corelli meine Gedanken gelesen, lächelte er breit und nickte.
»Ich kann Ihnen helfen, mein Freund.«
Ich ertappte mich dabei, wie ich seinem Blick auswich und mich auf die kleine Brosche mit dem Silberengel an seinem Revers konzentrierte.
»Hübsche Brosche«, sagte ich, auf sie deutend.
»Ein Erbstück.«
Für diesen Abend hatten wir nun genügend Höflichkeiten und Banalitäten ausgetauscht.
»Señor Corelli, was tue ich hier?«
Seine Augen glänzten in derselben Farbe wie der Wein, der sich langsam in seinem Glas wiegte.
»Ganz einfach. Sie sind hier, weil Sie endlich begriffen haben, dass Sie hier am rechten Ort sind. Sie sind hier, weil ich Ihnen vor einem Jahr ein Angebot gemacht habe. Ein Angebot, das anzunehmen Sie damals noch nicht bereit waren, das Sie aber nicht vergessen haben. Und ich bin hier, weil ich nach wie vor der Überzeugung bin, dass Sie der Mann sind, den ich suche, und daher habe ich lieber zwölf Monate gewartet, als die Gelegenheit ungenutzt zu lassen.«
»Ein Angebot, das Sie nie detaillierter ausgeführt haben«, rief ich ihm in Erinnerung.
»Tatsächlich habe ich Ihnen nur Details genannt.«
»Hunderttausend Francs, um ein Jahr lang ein Buch für Sie zu schreiben.«
»Genau. Viele würden denken, das sei das Wesentliche. Aber Sie nicht.«
»Sie sagten mir, sobald ich wüsste, um welche Art Buch es sich handelt, würde ich es sogar ohne Bezahlung schreiben.«
Corelli nickte.
»Sie haben ein gutes Gedächtnis.«
»Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis, Señor Corelli, und ich kann mich nicht erinnern, jemals ein von Ihnen verlegtes Buch gesehen oder davon gelesen oder gehört zu haben.«
»Zweifeln Sie an meiner Glaubwürdigkeit?«
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, das Verlangen und die Geldgier zu verbergen, die mich innerlich zerfraßen. Je mehr Desinteresse ich zeigte, desto mehr führten mich die Verheißungen des Verlegers in Versuchung.
»Mich interessieren einfach Ihre Motive«, sagte ich.
»Das sollten sie ja auch.«
»Jedenfalls erinnere ich Sie daran, dass ich für weitere fünf Jahre einen Exklusivvertrag mit Barrido und Escobillas zu erfüllen habe. Neulich habe ich sehr aufschlussreichen Besuch bekommen — die beiden und ein Anwalt, der so aussah, als machte er nicht viel Federlesens. Aber vermutlich ist das egal, fünf Jahre sind eine lange Zeit. Wenn ich eines weiß, dann dies: Zeit ist das, von dem ich am wenigsten habe.«
»Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Anwälte. Meine machen noch viel weniger Federlesens als die dieser beiden Eiterbeulen, und sie verlieren nie einen Fall. Überlassen Sie die rechtlichen Einzelheiten und die Prozessführung ruhig mir.«
Sein Lächeln bei diesen Worten zeigte mir, dass ich besser nie eine Unterhaltung mit den Rechtsberatern der Éditions de la Lumière führen sollte.
»Ich glaube Ihnen. Kommen wir also zu der Frage, welches die anderen Details Ihres Angebotes sind, die wesentlichen.«
»Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht, also spreche ich am besten ohne Umschweife.«
»Ich bitte darum.«
Corelli beugte sich vor und schaute mir fest in die Augen.
»Martín, ich will, dass Sie für mich eine Religion begründen.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben.
»Wie meinen Sie?«
Corelli hielt meinem Blick stand, seine Augen von unendlicher Tiefe.
»Ich habe gesagt, ich will, dass Sie für mich eine Religion erschaffen.«
Lange schaute ich ihn stumm an.
»Sie machen sich lustig über mich.«
Er schüttelte den Kopf und nippte genussvoll an seinem Wein.
»Ich will, dass Sie ein Jahr lang mit Leib und Seele und Ihrem ganzen Talent an dem größten Werk arbeiten, das Sie je schaffen werden: an einer Religion.«
Ich konnte nicht umhin, laut zu lachen.
»Sie sind vollkommen verrückt. Das ist Ihr Angebot? Das ist das Buch, das ich für Sie schreiben soll?«
Corelli nickte gelassen.
»Sie haben sich im Schriftsteller geirrt. Ich habe keine Ahnung von Religion.«
»Darüber machen Sie sich mal keine Gedanken. Das übernehme ich. Ich suche keinen Theologen. Ich suche einen Erzähler. Wissen Sie, was eine Religion ist, mein lieber Martín?«
»Ich erinnere mich mit Mühe und Not ans Vaterunser.«
»Ein wunderbares, sehr kunstvolles Gebet. Aber Poesie beiseite, eine Religion ist ein Moralkodex, der sich mithilfe von Legenden, Mythen oder irgendeiner anderen literarischen Form ausdrückt. So wird ein Netz von Werten und Normen gespannt, das eine Kultur oder eine Gemeinschaft zusammenhält und leitet.«
»Amen«, erwiderte ich.
»Wie in der Literatur, überhaupt bei jeder Äußerung, ist es die Form und nicht der Inhalt, die dem Ganzen Wirksamkeit verleiht«, fuhr er fort.
»Sie wollen mir also sagen, eine Lehre sei eine Erzählung.«
»Alles ist eine Erzählung, Martín. Das, was wir glauben, was wir wissen, woran wir uns erinnern und sogar was wir träumen. Alles ist eine Erzählung, eine Geschichte, eine Folge von Ereignissen und Personen, die etwas Emotionales vermittelt. Ein Glaubensakt ist ein Akt der Annahme — wir akzeptieren eine Geschichte, die uns erzählt wird. Und wir akzeptieren nur als wahr, was erzählt werden kann. Sagen Sie nicht, Sie finden den Gedanken nicht verlockend.«
»Nein.«
»Reizt es Sie nicht, eine Geschichte zu schreiben, für die die Menschen leben und sterben würden, für die sie töten und den eigenen Tod in Kauf nehmen würden, für die sie opfern und verdammen und ihre Seele aushauchen würden? Kann es für einen Schriftsteller eine größere Herausforderung geben, als eine so gewaltige Geschichte zu erschaffen, dass sie ihr Erdichtetsein vergessen lässt und zur offenbarten Wahrheit wird?«
Wir schauten uns einige Sekunden schweigend an.
»Ich glaube, Sie kennen meine Antwort schon«, sagte ich schließlich.
Corelli lächelte.
»Ich schon. Der, der sie, glaube ich, noch nicht kennt, sind Sie.«
»Danke für Ihre Gesellschaft, Señor Corelli. Und für den Wein und den Vortrag. Sehr provokativ. Passen Sie gut auf, vor wem Sie ihn halten. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihren Mann finden und dass sein Pamphlet ein voller Erfolg wird.«
Ich stand auf, um zu gehen.
»Werden Sie irgendwo erwartet, Señor Martín?«
Ich gab keine Antwort, blieb aber stehen.
»Macht es einen nicht wütend, zu wissen, dass es so viele Dinge gibt, für die es sich zu leben lohnt, gesund und vermögend, ungebunden?«, sagte Corelli in meinem Rücken. »Macht es einen nicht wütend, wenn sie einem aus der Hand gerissen werden?«
Langsam wandte ich mich um.
»Was ist schon ein Jahr Arbeit angesichts der Möglichkeit, dass alles Wirklichkeit wird, was man sich wünscht? Was ist ein Jahr Arbeit angesichts der Aussicht auf ein langes, erfülltes Leben?«
Nichts, dachte ich gegen meinen Willen. Nichts.
»Ist es das, was Sie mir versprechen?«
»Nennen Sie Ihren Preis. Wollen Sie die Welt in Brand stecken und mitbrennen? Tun wir es gemeinsam. Sie bestimmen den Preis. Ich bin bereit, Ihnen zu geben, was Sie sich am meisten wünschen.«
»Ich weiß nicht, was ich mir am meisten wünsche.«
»Ich glaube, das wissen Sie sehr wohl.«
Der Verleger lächelte und blinzelte mir zu. Er stand auf und ging zu einer Kommode, auf der eine Lampe stand. Er zog die oberste Schublade auf, entnahm ihr einen Pergamentumschlag und streckte ihn mir hin, aber ich lehnte ab. Er legte ihn auf den Tisch zwischen uns und setzte sich wieder, wortlos. Der Umschlag war offen, und ich glaubte, darin mehrere Bündel Hundert-Francs-Scheine zu erkennen. Ein Vermögen.
»Sie verwahren so viel Geld in einer Schublade und lassen Ihre Tür offen?«, fragte ich.
»Sie können es nachzählen. Wenn es Ihnen zu wenig scheint, nennen Sie eine Zahl. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich mit Ihnen nicht über Geld streiten werde.«
Lange schaute ich dieses gewaltige Vermögen an und schüttelte schließlich den Kopf. Wenigstens hatte ich es gesehen. Es war real. Das Angebot und die Eitelkeit, die mich in diesem Moment von Elend und Verzweiflung erfasste, waren echt.
»Ich kann es nicht annehmen«, sagte ich.
»Glauben Sie, es ist befleckt?«
»Alles Geld ist befleckt. Wenn es sauber wäre, würde es niemand wollen. Aber das ist nicht das Problem.«
»Sondern?«
»Ich kann es nicht annehmen, weil ich Ihr Angebot nicht annehmen kann. Ich könnte es nicht, selbst wenn ich wollte.«
Corelli wog meine Worte ab.
»Darf ich nach dem Grund fragen?«
»Weil ich sehr bald sterben werde, Señor Corelli. Weil mir nur noch einige Wochen, vielleicht einige Tage bleiben. Weil ich nichts anzubieten habe.«
Corelli senkte den Blick und hüllte sich in ein langes Schweigen. Ich hörte den Wind an den Fenstern kratzen und über das Haus fegen.
»Sagen Sie mir nicht, Sie hätten es nicht gewusst«, fügte ich hinzu.
»Ich habe es geahnt.«
Er blieb sitzen, ohne mich anzuschauen.
»Es gibt eine Menge andere Schriftsteller, die dieses Buch für Sie schreiben können, Señor Corelli. Ich danke Ihnen für Ihr Angebot. Mehr, als Sie sich vorstellen können. Guten Abend.«
Ich tat ein paar Schritte in Richtung Haustür.
»Sagen wir, ich könnte Ihnen helfen, Ihre Krankheit zu überwinden«, sagte er.
Ich blieb mitten im Korridor stehen und wandte mich um. Corelli stand bloß zwei Handbreit von mir entfernt und schaute mir fest in die Augen. Er kam mir größer vor als zuvor, und auch seine Augen erschienen mir größer und dunkler. Ich konnte in seinen Pupillen mein Spiegelbild sehen, das immer weiter schrumpfte, je weiter jene wurden.
»Beunruhigt Sie mein Aussehen, mein lieber Martín?«
Ich schluckte.
»Ja«, gestand ich.
»Kommen Sie bitte in den Salon zurück und setzen Sie sich. Geben Sie mir die Chance, Ihnen noch mehr zu erklären. Was haben Sie schon zu verlieren?«
»Nichts, vermutlich.«
Sanft legte er mir die Hand auf den Arm. Er hatte lange, blasse Finger.
»Sie haben nichts von mir zu befürchten, Martín. Ich bin Ihr Freund.«
Seine Berührung hatte etwas Tröstliches. Ich ließ mich wieder in den Salon führen und setzte mich folgsam hin, wie ein kleiner Junge, der auf die Worte eines Erwachsenen wartet. Corelli kniete sich neben den Sessel und schaute mir in die Augen. Er ergriff meine Hand und drückte sie kräftig.
»Wollen Sie leben?«
Ich wollte antworten, fand aber keine Worte. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Bis zu diesem Augenblick war mir nicht klar gewesen, wie sehr ich weiter atmen, weiterhin jeden Morgen die Augen öffnen wollte, wie sehr es mich auf die Straße hinauszog, um übers Pflaster zu gehen und den Himmel zu sehen, und, vor allem, wie sehr ich mich weiter erinnern wollte.
Ich nickte.
»Ich werde Ihnen helfen, mein lieber Martín. Ich bitte Sie einzig, mir zu vertrauen. Nehmen Sie mein Angebot an. Lassen Sie mich Ihnen helfen. Lassen Sie mich Ihnen geben, was Sie sich am meisten wünschen. Das ist es, was ich Ihnen verspreche.«
Wieder nickte ich.
Corelli lächelte und lehnte sich vor, um mich auf die Wange zu küssen. Seine Lippen waren eiskalt.
»Sie und ich, mein Freund, wir werden zusammen Großes schaffen, Sie werden schon sehen«, flüsterte er.
Er gab mir ein Taschentuch, damit ich die Tränen trocknen konnte. Das tat ich ohne die stumme Scham, mit der man vor einem Fremden weint, was ich seit dem Tod meines Vaters nicht mehr getan hatte.
»Sie sind erschöpft, Martín. Bleiben Sie die Nacht über hier. In diesem Haus gibt es mehr als genügend Zimmer. Ich versichere Ihnen, morgen werden Sie sich besser fühlen und die Dinge klarer sehen.«
Ich zuckte die Achseln, obwohl ich ahnte, dass er recht hatte. Ich fiel fast um vor Müdigkeit und hatte nur noch den Wunsch, tief zu schlafen. Ich war nicht einmal mehr fähig, aus diesem Sessel aufzustehen, dem bequemsten, gemütlichsten Sessel der Welt.
»Wenn es Ihnen recht ist, bleibe ich am liebsten gleich hier.«
»Aber selbstverständlich. Ich werde Sie schlafen lassen. Bald werden Sie sich besser fühlen. Ich gebe Ihnen mein Wort.«
Corelli trat zu der Kommode und löschte das Gaslicht. Der Salon versank in blauem Halbdunkel. Die Lider fielen mir zu, und ein Gefühl von Trunkenheit überschwemmte mich, aber ich konnte eben noch sehen, wie Corelli durch den Salon ging und im Schatten verschwand. Ich schloss die Augen und hörte das Flüstern des Windes hinter den Scheiben.
Ich träumte, das Haus gehe langsam unter. Anfänglich quollen aus den Fugen zwischen den Fliesen, aus den Rissen in den Wänden, den Deckenreliefs, den Lampenkugeln, den Schlüssellöchern nur kleine, dunkle Wassertropfen. Diese kalte Flüssigkeit glitt schwerfällig wie träges Quecksilber dahin und bildete mit der Zeit eine Schicht, die erst den Boden und meine Füße bedeckte und dann rasch anstieg. Ich blieb im Sessel sitzen und sah zu, wie das Wasser meine Kehle und in wenigen Sekunden die Decke erreichte. Ich trieb dahin und sah blasse Lichter hinter den Fenstern flackern. Es waren menschliche Gestalten, die ebenfalls in der Wasserfinsternis schwebten. Sie wurden von der Strömung erfasst und streckten mir die Hände entgegen, doch ich konnte ihnen nicht helfen, das Wasser riss sie unaufhaltsam mit. Corellis hunderttausend Francs umschwammen mich wie Papierfische. Ich durchkreuzte den Salon und näherte mich einer geschlossenen Tür am anderen Ende. Durchs Schlüsselloch drang schwaches Licht. Ich öffnete die Tür und sah, dass dahinter eine Treppe nach unten führte. Ich ließ mich hinuntersinken.
Am Ende der Treppe tat sich ein ovaler Saal auf, in dessen Mitte eine Reihe von Gestalten im Kreis beisammenstanden. Als ich eintrat, drehten sie sich um, und ich sah, dass sie weiß gekleidet waren und Masken und Handschuhe trugen. Helle weiße Lampen beleuchteten etwas, was wie ein Operationstisch aussah. Ein Mann ohne Gesichtszüge und Augen ordnete auf einem Tablett chirurgische Instrumente. Eine der Gestalten winkte mich heran. Ich folgte der Aufforderung und spürte, wie ich an Kopf und Körper gepackt und auf den Tisch gebettet wurde. Das Licht blendete mich, aber ich konnte dennoch sehen, dass alle Gestalten identisch waren und Dr. Trías’ Gesicht besaßen. Ich lachte lautlos. Einer der Ärzte hatte eine Spritze in der Hand und setzte sie mir an den Hals. Ich spürte keinen Einstich, nur ein angenehmes, warmes Gefühl von Taubheit, das sich in meinem Körper ausbreitete. Zwei der Ärzte legten meinen Kopf in eine Halterung und passten den Kranz der Schrauben an, an deren Ende eine gepolsterte Platte befestigt war. Ich spürte, wie meine Arme und Beine mit Riemen festgeschnallt wurden, und leistete keinen Widerstand. Als mein Körper von Kopf bis Fuß fixiert war, reichte einer der Ärzte einem seiner Doppelgänger ein Skalpell, und der beugte sich über mich. Ich spürte, wie jemand meine Hand nahm und festhielt. Es war ein Kind, das mich zärtlich anschaute und aussah wie ich am Tag der Ermordung meines Vaters.
Ich sah die Schneide des Skalpells sich in der flüssigen Finsternis herabsenken und fühlte, wie das Messer in meine Stirn schnitt, ohne dass ich irgendwelchen Schmerz empfand. Ich spürte, wie etwas aus dem Schnitt floss, und eine schwarze Blutwolke breitete sich langsam im Wasser aus. Das Blut stieg wie Rauchkringel zu den Lampen empor und bildete immer neue Formen. Ich schaute den Jungen an, der mir zulächelte und kräftig die Hand drückte. Da spürte ich es. In mir bewegte sich etwas. Etwas, was noch vor einem Augenblick meinen Geist fest umklammert hatte. Ich spürte, dass sich etwas zurückzog, wie ein Stachel, der einem im Fleisch steckt und der dann mit der Pinzette herausgezogen wird. Ich wurde von Panik gepackt und wollte aufstehen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Der Junge schaute mich fest an und nickte. Ich glaubte, das Bewusstsein zu verlieren oder aber ganz zu erwachen, und da sah ich sie. Ich sah sie in den Lampen über dem Operationstisch gespiegelt. Zwei schwarze Fäden ragten aus der Wunde und bewegten sich auf meiner Haut. Eine faustgroße schwarze Spinne. Sie krabbelte mir übers Gesicht, und bevor sie vom Tisch huschen konnte, spießte einer der Chirurgen sie mit dem Skalpell auf. Er hielt sie gegen das Licht, damit ich sie sehen konnte. Sie zappelte mit den Beinen und blutete dem Licht entgegen. Auf ihrem Panzer war ein weißer Fleck, der aussah wie eine Silhouette mit ausgebreiteten Flügeln. Ein Engel. Nach einer Weile wurden ihre Beine schlaff, und ihr Körper ergab sich. Er schwebte dahin, und als ihn der Junge berühren wollte, löste er sich auf. Die Ärzte befreiten meinen Schädel aus der schraubstockähnlichen Halterung und banden mich los. Ich richtete mich mit ihrer Hilfe auf dem Tisch auf und hielt mir die Hand an die Stirn. Die Wunde begann sich bereits langsam zu schließen. Als ich mich abermals umschaute, sah ich, dass ich allein war.
Die Lampen gingen aus, und der Operationssaal lag im Halbdunkel. Ich bewegte mich zur Treppe und schwebte zum Salon hinauf. Das erste Licht des Tages sickerte durchs Wasser und erfasste tausend treibende Partikel. Ich war müde — müder, als ich in meinem Leben je gewesen war. Ich kämpfte mich zum Sessel und ließ mich hineinsinken. Mein Körper sackte langsam zusammen, und als er endlich zur Ruhe kam, sah ich an der Decke kleine Bläschen herumschwirren. Dann bildete sich dort eine kleine Luftkammer, und ich begriff, dass der Wasserspiegel abzufallen begann. Das Wasser, dicht und glänzend wie Gelatine, sprudelte durch die Fensterritzen, als wäre das Haus ein aus den Tiefen auftauchendes Unterseeboot. Ich rollte mich im Sessel zusammen und gab mich einem Gefühl von Schwerelosigkeit und Frieden hin, von dem ich mir wünschte, es möchte niemals aufhören. Ich schloss die Augen und hörte das Gurgeln des Wassers um mich herum. Als ich sie wieder öffnete, sah ich ganz langsam Tropfen wie Tränen herabfallen, die jederzeit versiegen konnten. Ich war müde, sehr müde, und sehnte mich nach tiefem Schlaf.
Ich öffnete die Augen in der grellen Helle eines warmen Mittags. Das Licht fiel durch die großen Fenster wie Staub. Als Erstes sah ich, dass die hunderttausend Francs noch immer auf der Kommode lagen. Ich stand auf, trat ans Fenster und zog die Vorhänge auf, sodass gleißendes Sonnenlicht den Salon überschwemmte. Barcelona war noch da, flirrend wie eine Fata Morgana. Da bemerkte ich, dass das Sausen in meinen Ohren, das sonst nur vom Straßenlärm übertönt wurde, vollkommen verschwunden war. Ich hörte eine dichte Stille, rein wie kristallklares Wasser, wie ich sie noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Ich hörte mich selbst lachen. Ich fasste mir an den Kopf, betastete die Haut und spürte nicht den leisesten Druck. Mein Sehvermögen war nicht im Geringsten beeinträchtigt, überhaupt hatte ich den Eindruck, meine fünf Sinne seien eben erst zum Leben erwacht. Ich konnte das alte Holz der Täfelung an Decken und Pfeilern riechen. Ich schaute mich nach einem Spiegel um, aber im ganzen Salon gab es keinen. So machte ich mich auf die Suche nach einem Bad oder einem anderen Zimmer, um mich anhand meines Ebenbildes versichern zu können, dass ich nicht im Körper eines Unbekannten erwacht war, dass die Haut, die ich spürte, dass diese Knochen mir gehörten. Sämtliche Turen waren verschlossen. Wieder im Salon, stellte ich fest, dass dort, wo ich eine Tür zum Keller geträumt hatte, bloß das Bild eines Engels hing, der mitten in einem unendlichen See auf einem Felsen hockte. Ich ging zu der in die oberen Stockwerke hinaufführenden Treppe, aber vor der ersten Stufe blieb ich stehen. Jenseits der Helle um mich herum schien eine schwere, undurchdringliche Dunkelheit zu hausen.
»Señor Corelli?«, rief ich.
Meine Stimme verlor sich ohne jeden Nachhall, als wäre sie verschluckt worden. Ich ging in den Salon zurück und sah das Geld auf dem Tisch. Hunderttausend Francs. Ich nahm den Umschlag und wog ihn in der Hand. Das Papier war samtweich. Ich steckte das Kuvert in die Tasche und ging abermals durch den Korridor in Richtung Ausgang. Noch immer sahen mich die unzähligen porträtierten Gesichter mit der Intensität eines Versprechens an. Ich mochte mich diesen Blicken nicht aussetzen und ging auf die Tür zu, aber kurz vor dem Hinausgehen bemerkte ich, dass einer der Rahmen leer war. Ich nahm einen süßen, pergamentartigen Geruch wahr und merkte, dass er von meinen Fingern kam. Es war der Geruch des Geldes. Ich öffnete die Eingangstür und trat ins Tageslicht hinaus. Schwer fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Ich wandte mich um und betrachtete das düstere, stille Haus, so fern des strahlenden Lichts dieses makellosen Tages. Die Uhr zeigte mir, dass es schon nach ein Uhr mittags war. Ich hatte über zwölf Stunden ohne Unterbrechung in einem alten Sessel geschlafen und mich in meinem ganzen Leben nie besser gefühlt.
Mit einem Lächeln auf dem Gesicht und der Gewissheit, dass mir die Welt zum ersten Mal seit langem zulächelte, vielleicht zum ersten Mal überhaupt in meinem Leben, machte ich mich hügelabwärts auf den Rückweg in die Stadt.