Epilog 1945

Fünfzehn lange Jahre sind seit dem Abend vergangen, da ich für immer aus der Stadt der Verdammten floh. Lange Zeit führte ich ein Leben der Unsichtbarkeit und Abwesenheit im Namen eines ewig Fremden. Ich habe hundert Namen und ebenso viele Beschäftigungen angenommen, keiner und keine wirklich mein.

Ich bin in grenzenlosen Städten und winzigen Dörfern untergetaucht, wo niemand mehr eine Vergangenheit oder Zukunft besaß. Nirgends blieb ich länger als unbedingt nötig. Eher früh als spät floh ich wieder, ohne Ankündigung, und ließ nur zwei, drei alte Bücher und abgetragene Kleider in düsteren Zimmern zurück, wo die Zeit kein Erbarmen kannte und die Erinnerung brannte. Mein Gedächtnis kannte nur die Ungewissheit. Die Jahre haben mich gelehrt, im Körper eines Fremden zu hausen, der nicht wusste, ob er diese Verbrechen begangen hatte, die noch an seinen Händen zu riechen waren, ob er den Verstand verloren hatte und dazu verdammt war, durch die in Flammen stehende Welt zu irren, die er sich für einige Münzen und das Versprechen ersonnen hatte, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, der ihm jetzt als die süßeste aller Belohnungen erschien.

Oft habe ich mich gefragt, ob die von Inspektor Grandes auf mein Herz abgefeuerte Kugel die Seiten jenes Buches durchbohrt hatte und ob ich es war, der in jener am Himmel schwebenden Gondel gestorben war.

In meinen Pilgerjahren habe ich gesehen, wie die Hölle, die auf den Seiten im Auftrag des Patrons verheißen wird, auf meinen Wegen an Leben gewann. Tausendmal bin ich vor meinem eigenen Schatten geflohen, immer zurückblickend, immer in der Hoffnung, ihn wiederzufinden, wenn ich um eine Ecke bog, auf der anderen Straßenseite oder an meinem Bett in den endlosen Stunden vor dem Morgengrauen. Nie habe ich es so weit kommen lassen, dass mich jemand gut genug kennengelernt hat, um mich zu fragen, warum ich nie älter würde, warum keine Falten in mein Gesicht träten, warum mein Spiegelbild dasselbe sei wie an jenem Abend, da ich Isabella an der Mole in Barcelona zurückließ — um keine Minute gealtert.

Es gab eine Zeit, da ich glaubte, sämtliche Schlupfwinkel der Welt aufgebraucht zu haben. Die Angst, das Leben und das Sterben von Erinnerungen hatten mich so müde gemacht, dass ich dort stehen blieb, wo die Erde aufhörte und ein Meer seinen Anfang nahm, das wie ich jeden Tag genauso wie am vorigen erwacht; ich ließ mich fallen.

Heute ist es ein Jahr her, dass ich an diesen Ort gekommen bin und zu meinem Namen und Beruf zurückgefunden habe. Ich habe diese alte Hütte am Strand gekauft, nur eben ein Schuppen, den ich mit den Büchern des ehemaligen Besitzers und einer Schreibmaschine teile, die ich mir gern als dieselbe vorstelle wie die, auf der ich Hunderte Seiten schrieb, von denen ich nie wissen werde, ob sich jemand an sie erinnert. Von meinem Fenster aus sehe ich einen kleinen, aufs Meer hinausführenden Holzsteg und an seinem Ende ein kleines Boot, das zum Haus gehört und mit dem ich manchmal bis zum Riff hinausrudere, wo man die Küste fast aus den Augen verliert.

Ich hatte nicht wieder geschrieben, bis ich hierherkam. Als ich zum ersten Mal ein Blatt in die Maschine spannte und die Hände auf die Tasten setzte, befürchtete ich, keine einzige Zeile zustande zu bringen. Die ersten Seiten dieser Geschichte schrieb ich in meiner ersten Nacht in der Hütte am Strand. Ich schrieb bis zum Morgengrauen, wie ich es viele Jahre zuvor getan hatte, ohne zunächst zu wissen, für wen. Tagsüber spazierte ich den Strand entlang oder setzte mich auf den Steg vor der Hütte — ein paar Planken zwischen Himmel und Erde —, um die Berge alter Zeitungen zu lesen, die ich in einem der Schränke gefunden hatte. Auf ihren Seiten standen Kriegsgeschichten, Geschichten über eine Welt in Flammen, wie ich sie für den Patron erträumt hatte.

So kam es, dass ich, als ich diese Berichte über den Krieg in Spanien und danach in Europa und der Welt las, dachte, ich hätte nichts mehr zu verlieren, und mir nur wünschte, zu erfahren, ob es Isabella gut ging und sie sich noch an mich erinnerte. Oder vielleicht wollte ich auch nur wissen, ob sie noch lebte. Ich schrieb einen Brief an die alte Buchhandlung Sempere und Söhne in der Calle Santa Ana in Barcelona, der erst nach Wochen oder Monaten an seinem Bestimmungsort ankam. Als Absender gab ich Mr Rochester an, in dem Glauben, dass Isabella, wenn der Brief in ihre Hände gelänge, schon wüsste, um wen es sich handelte, und ihn, falls sie es wollte, ungeöffnet lassen und mich für immer vergessen könnte.

Monatelang schrieb ich an dieser Geschichte. Ich sah das Gesicht meines Vaters wieder und bewegte mich wieder in der Redaktion der Stimme der Industrie, wo ich davon träumte, eines Tages dem großen Pedro Vidal nachzueifern. Wieder sah ich Cristina Sagnier zum ersten Mal und betrat das Haus mit dem Turm, um in den Wahnsinn einzutauchen, der Diego Marlasca aufgezehrt hatte. Ich schrieb pausenlos von Mitternacht bis zum Morgenrot und fühlte mich zum ersten Mal seit meiner Flucht aus der Stadt wieder lebendig.

Irgendwann im Juni traf der Brief ein. Der Postbote hatte ihn unter meiner Tür durchgeschoben, als ich noch schlief. Er war an Mr Rochester adressiert und nannte als Absender schlicht die »Buchhandlung Sempere und Söhne, Barcelona«. Mehrere Minuten lief ich in der Hütte umher und traute mich nicht, ihn zu öffnen. Schließlich ging ich hinaus und setzte mich ans Meer, um ihn zu lesen. Der Umschlag enthielt ein Blatt und ein zweites, kleineres Kuvert. Dieses zweite, schon etwas angejahrt, trug nur meinen richtigen Namen, David, in einer Schrift, die ich trotz all der Jahre, die ich sie aus den Augen verloren hatte, sofort erkannt hatte.

In dem Brief erzählte mir Sempere junior, Isabella und er hätten nach mehreren Jahren stürmischer, bisweilen unterbrochener Verlobungszeit am 18. Januar 1935 in der Kirche Santa Ana geheiratet. Entgegen jeder Erwartung sei die Zeremonie von dem neunzigjährigen Priester zelebriert worden, der Señor Sempere zur Ruhe gebettet habe und sich allen Bemühungen des Bistums zum Trotz zu sterben weigere und die Dinge weiterhin auf seine Weise erledige. Ein Jahr später, wenige Tage vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs, habe Isabella einen Sohn geboren, dem sie den Namen Daniel gaben. Die schrecklichen Kriegsjahre hätten mannigfaltige Not gebracht, und kurz nach Kriegsende, in dem schwarzen, verfluchten Frieden, der Himmel und Erde auf immer vergiften sollte, habe Isabella die Cholera bekommen und sei in der Wohnung über der Buchhandlung in den Armen ihres Mannes gestorben. Sie sei an Daniels viertem Geburtstag im Regen auf dem Montjuïc beigesetzt worden. Zwei Tage und zwei Nächte habe der Regen angehalten, und als der Kleine seinen Vater gefragt habe, ob der Himmel weine, habe die Stimme des Vaters versagt.

Den an David adressierten Brief hatte Isabella in den letzten Tagen ihres Lebens geschrieben. Ihr Mann hatte ihr schwören müssen, ihn mir zukommen zu lassen, sobald er etwas über meinen Aufenthaltsort erführe.


Lieber David,

manchmal scheint mir, ich hätte schon vor Jahren begonnen, Ihnen diesen Brief zu schreiben, und sei noch immer nicht imstande, ihn zu beenden. Seit ich Sie zum letzten Mal gesehen habe, ist vieles geschehen, viel Schreckliches und Elendes, und doch gibt es keinen Tag, an dem ich nicht an Sie denke und mich frage, wo Sie wohl sind, ob Sie Frieden gefunden haben, ob Sie schreiben, ob Sie ein alter Brummbär geworden sind, ob Sie verliebt sind oder ob Sie sich an uns erinnern, an die kleine Buchhandlung Sempere und Söhne und an die schlechteste Assistentin, die Sie je hatten.

Ich fürchte, Sie sind gegangen, ohne mir das Schreiben beigebracht zu haben, und ich wieß nicht, wo ich beginnen soll, um alles in Worte zu fassen, was ich Ihnen mitteilen möchte. Sie sollen wissen, dass ich glücklich gewesen bin, dass ich dank Ihnen einen Mann gefunden habe, den ich liebe und der mich liebt, und dass wir zusammen einen Sohn bekommen haben, Daniel, dem ich immer von Ihnen erzähle und der meinem Leben einen Sinn gegeben hat, den sämtliche Bücher der Welt auch nicht ansatzweise erklären könnten.

Niemand weiß es, aber noch heute gehe ich manchmal zu dieser Mole, wo ich Sie für immer habe abfahren sehen, und setze mich eine Weile hin, allein, um zu warten, als glaubte ich daran, dass Sie zurückkommen würden. Täten Sie es, so sähen Sie, dass es trotz allem, was geschehen ist, die Buchhandlung noch gibt, dass das Grundstück des ehemaligen Hauses mit dem Turm nach wie vor brachliegt, dass alle Lügen, die über Sie im Umlauf waren, vergessen sind und dass es in diesen Straßen so viele Menschen mit blutbesudelter Seele gibt, dass sie sich nicht einmal mehr zu erinnern wagen, und wenn sie es doch tun, belügen sie sich selbst, weil sie nicht in den Spiegel schauen können. In der Buchhandlung verkaufen wir weiterhin Ihre Bücher, aber unter der Hand, denn jetzt sind sie für unmoralisch erklärt worden, und es gibt mehr Leute im Land, die Bücher vernichten und verbrennen wollen, als solche, die sie lesen möchten. Es sind schlechte Zeiten, und manchmal denke ich, es kündigen sich noch schlechtere an.

Mein Mann und die Ärzte glauben, sie können mich täuschen, aber ich weiß, dass mir nur noch wenig Zeit bleibt. Ich weiß, dass ich bald sterbe und dass ich nicht mehr da bin, wenn Sie diesen Brief bekommen. Daher wollte ich Ihnen schreiben, weil Sie wissen sollen, dass ich keine Angst habe, dass mein einziger Kummer der ist, einen guten Mann, der mir das Leben geschenkt hat, und meinen Daniel allein in einer Welt zurückzulassen, die, wie mir scheint, täglich mehr so ist, wie Sie sie beschrieben haben, als so, wie ich sie mir gewünscht hätte.

Ich wollte Ihnen schreiben, damit Sie wissen, dass ich trotz allem gelebt habe und dankbar bin für die Zeit, die ich hier verbracht habe, dankbar, Sie kennengelernt zu haben und Ihre Freundin gewesen zu sein. Ich wollte Ihnen schreiben, weil ich möchte, dass Sie sich an mich erinnern, und sollten Sie eines Tages jemanden haben wie ich meinen kleinen Daniel, müssen sie ihm von mir erzählen und mich in Ihren Worten für immer weiterleben lassen.

In Liebe

Isabella


Einige Tage nachdem ich diesen Brief bekommen hatte, wurde ich gewahr, dass ich nicht allein am Strand war.

Ich spürte seine Anwesenheit in der Morgenbrise, aber ich wollte und konnte nicht mehr fliehen. Es geschah eines Abends, als ich mich zum Schreiben ans Fenster gesetzt hatte und darauf wartete, dass die Sonne am Horizont unterging. Ich hörte die Schritte auf den Planken des Steges und sah ihn.

Der Patron, ganz in Weiß, schritt langsam über den Steg und hatte ein sieben- oder achtjähriges Mädchen an der Hand. Sogleich erkannte ich das Bild, diese alte Fotografie, die Cristina ihr ganzes Leben lang wie einen Schatz bewahrt hatte, ohne zu wissen, woher sie stammte. Der Patron ging auf das Ende des Steges zu und kniete neben dem Mädchen nieder. Beide sahen zu, wie sich die Sonne goldglühend auf das grenzenlose Meer ergoss. Ich ging aus der Hütte und betrat den Steg. Als ich an dessen Ende gelangte, wandte sich der Patron um und lächelte mir zu. In seinem Gesicht lag weder Drohung noch Groll, nur ein leichter melancholischer Schatten.

»Ich habe Sie vermisst, mein Freund«, sagte er. »Ich habe unsere Gespräche vermisst, selbst unsere kleinen Streitereien…«

»Sind Sie gekommen, um abzurechnen?«

Er lächelte und schüttelte bedächtig den Kopf.

»Wir alle machen Fehler, Martín. Ich vor allem. Ich habe Ihnen genommen, was Sie am meisten geliebt haben. Ich tat es nicht, um Sie zu verletzen. Ich tat es aus Angst. Aus Angst, sie könnte Sie mir wegnehmen, Sie und Ihre Arbeit. Es war ein Irrtum. Ich habe einige Zeit gebraucht, um es einzusehen, aber wenn ich irgendetwas habe, dann ist es Zeit.«

Ich betrachtete ihn eingehend. Wie ich war auch der Patron um keinen Tag gealtert.

»Wozu sind Sie also gekommen?«

Er zuckte die Schultern.

»Ich bin gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden.«

Sein Blick richtete sich auf das Mädchen an seiner Hand, das mich neugierig anschaute.

»Wie heißt du?«, fragte ich.

»Sie heißt Cristina«, sagte der Patron.

Sie schaute ihm in die Augen und nickte. Ich spürte, wie mir das Blut in den Adern gefror. Ihre Züge konnte ich nur erahnen, der Blick aber war unverkennbar.

»Cristina, sag meinem Freund David guten Tag. Von jetzt an wirst du bei ihm wohnen.«

Ich wechselte einen Blick mit dem Patron, sagte aber nichts. Das Mädchen gab mir die Hand, als hätte sie es tausendmal geübt, und lächelte verlegen. Ich kauerte mich zu ihr nieder und nahm die Hand.

»Hallo«, flüsterte sie.

»Sehr gut, Cristina«, lobte der Patron. »Und was noch?«

Das Mädchen nickte, als erinnerte sie sich plötzlich.

»Man hat mir gesagt, Sie seien ein Geschichtenmacher.«

»Einer der besten«, fügte der Patron hinzu.

»Werden Sie eine für mich machen?«

Ich zögerte einen Moment. Unruhig schaute die Kleine den Patron an.

»Martín?«, flüsterte dieser.

»Natürlich«, sagte ich schließlich. »Ich werde so viele Geschichten für dich machen, wie du willst.«

Sie lächelte und küsste mich auf die Wange.

»Warum gehst du nicht an den Strand und wartest dort auf mich, während ich mich von meinem Freund verabschiede, Cristina?«, fragte der Patron.

Sie nickte und ging langsam davon, sich immer wieder lächelnd umschauend. Neben mir flüsterte die Stimme des Patrons sanft ihren ewigen Fluch.

»Ich habe beschlossen, Ihnen zurückzugeben, was Sie am meisten geliebt haben und was ich Ihnen genommen habe. Ich habe beschlossen, dass Sie einmal an meine Stelle treten und fühlen, was ich fühle, dass Sie keinen Tag älter werden und Cristina heranwachsen sehen, dass Sie sich noch einmal in sie verlieben, sie an Ihrer Seite älter werden und eines Tages in Ihren Armen sterben sehen. Das ist mein Segen und meine Rache.«

Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

»Das ist unmöglich. Sie wird nie dieselbe sein.«

»Das hängt ausschließlich von Ihnen ab, Martín. Ich gebe Ihnen ein unbeschriebenes Blatt. Diese Geschichte gehört nicht mehr mir.«

Ich hörte ihn davongehen, und als ich die Augen wieder öffnete, war er nicht mehr da. Am Anfang des Steges stand Cristina und schaute mich eifrig an. Ich lächelte ihr zu, und sie kam zögernd näher.

»Wo ist der Herr?«, fragte sie.

»Er ist gegangen.«

Sie schaute sich auf dem zu beiden Seiten menschenleeren Strand um.

»Für immer?«

»Für immer.«

Sie lächelte und setzte sich neben mich.

»Ich habe geträumt, wir seien Freunde«, sagte sie.

Ich schaute sie an und nickte.

»Das sind wir auch. Wir sind immer Freunde gewesen.«

Sie lachte und ergriff meine Hand. Ich zeigte aufs Meer, in dem die Sonne versank, und Cristina sah mit Tränen in den Augen hinaus.

»Werde ich mich eines Tages erinnern?«, fragte sie.

»Eines Tages.«

Da wusste ich, dass ich jede Minute, die es für uns gäbe, darauf verwenden würde, sie glücklich zu machen, den Schmerz, den ich ihr zugefügt hatte, zu heilen und ihr zu geben, was ich ihr nie zu geben verstanden hatte. Diese Seiten werden unsere Erinnerung sein, bis sie in meinen Armen ihren letzten Atem aushaucht und ich sie ins Meer hinaus begleite, wo sich die Wellen brechen, um für immer mit ihr unterzugehen und endlich an einen Ort zu fliehen, wo uns weder Himmel noch Hölle jemals finden.

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