Meine Rückkehr in die Welt der Lebenden feierte ich, indem ich einem der mächtigsten Tempel der Stadt meine Reverenz erwies: dem Stammhaus der Bank Hispano Colonial in der Calle Fontanella. Beim Anblick der hunderttausend Francs gerieten der Direktor, die Rechnungsprüfer und ganze Heerscharen von Kassierern und Buchhaltern in Ekstase und hoben mich geradewegs auf den Altar für jene Kunden, die beinahe wie Heilige verehrt wurden. Nachdem die Bankangelegenheiten geregelt waren, beschloss ich, mich mit einem weiteren apokalyptischen Reiter anzulegen, und ging zu einem Zeitungskiosk auf der Plaza Urquinaona. Ich schlug Die Stimme der Industrie in der Mitte auf und suchte die Vermischten Meldungen, für die seinerzeit ich verantwortlich gewesen war. Immer noch war in den Schlagzeilen Don Basilios kundige Hand erkennbar, und ich fand fast sämtliche Namenskürzel der Redaktion wieder, als wäre kaum Zeit vergangen. Die sechs Jahre Diktatur von General Primo de Rivera hatten der Stadt eine giftige, trübe Ruhe gebracht, die dem Ressort für Verbrechen und Gräuel gar nicht gut bekam. Es fanden sich kaum noch Geschichten von Bomben oder Schießereien in der Presse. Barcelona, die schreckliche »Feuerrose«, glich immer mehr einem Dampfkochtopf. Eben wollte ich die Zeitung zusammenfalten und das Wechselgeld entgegennehmen, als ich die Meldung erblickte. Es war nur eine Kurznachricht von insgesamt vier in einer Spalte auf der letzten Seite der Vermischten Meldungen.
Mitternächtlicher Brand im Raval
mit einem Toten und zwei Schwerverletzten
Von Joan Marc Huguet, Barcelona
Kurz nach Mitternacht ereignete sich am Freitag ein Großbrand im Haus Nr. 6 an der Plaza dels Ángels, Sitz des Verlages Barrido und Escobillas, bei dem der Geschäftsführer der Firma, Sr. D. José Barrido, ums Leben kam. Schwere Verletzungen erlitten sein Teilhaber, Sr. D. José Luis Lopez Escobillas, sowie der Arbeiter Sr. Ramón Guzmán, der von den Flammen erfasst wurde, als er den beiden Firmenchefs zu Hilfe eilen wollte. Die Feuerwehr hält es für möglich, dass der Brand durch eine Chemikalie verursacht wurde, die bei der Renovierung der Büros verwendet worden war. Derzeit werden jedoch auch andere Ursachen nicht ausgeschlossen, da Augenzeugen berichten, sie hätten kurz vor Ausbruch des Brandes einen Mann aus den Geschäftsräumen kommen sehen. Die Opfer wurden ins Hospital gebracht, wo eines bereits tot eintraf, während bei den beiden anderen nur geringe Überlebenschancen bestehen.
Ich eilte hin, so schnell mich meine Füße trugen. Der Brandgeruch war bis zu den Ramblas wahrzunehmen. Auf dem Platz vor dem Gebäude hatte sich eine Schar von Anwohnern und Neugierigen versammelt. Weiße Rauchfäden stiegen von einem Schutthaufen vor dem Eingang auf. Ich erkannte mehrere Verlagsangestellte, die das wenige, das übrig war, aus den Trümmern zu retten versuchten. Auf der Straße stapelten sich Kisten mit angesengten Büchern und von den Flammen Versehrte Möbel. Die Fassade war rußgeschwärzt, die Fenster waren von der Hitze des Feuers geborsten. Ich durchbrach den Kreis der Gaffer und ging ins Haus. Ein beißender Geruch setzte sich mir im Hals fest. Einige Verlagsangestellte, die sich mit der Bergung ihrer Habseligkeiten abrackerten, erkannten mich und grüßten mich niedergeschlagen.
»Señor Martín… Was ein Unglück«, murmelten sie.
Ich ging quer durch den ehemaligen Empfangsraum zu Barridos Büro. Die Teppiche waren den Flammen zum Opfer gefallen und die Möbel bis auf glühende Skelette verbrannt. In einer Ecke war die Wandtäfelung heruntergefallen und ließ einen Lichtstrahl vom Hinterhof hinein. Asche hing in der Luft. Wie durch ein Wunder hatte ein Stuhl den Brand überlebt. Mitten im Raum saß darauf die Giftige und weinte. Ich kniete mich vor sie hin. Sie erkannte mich und lächelte durch die Tränen hindurch.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich.
Sie nickte.
»Er hat mich heimgeschickt, weißt du. Er sagte, es sei schon spät und ich solle schlafen gehen, weil heute ein langer Tag würde. Wir haben die Buchhaltung für den ganzen Monat abgeschlossen… Wenn ich auch nur eine Minute länger geblieben wäre…«
»Was genau ist denn geschehen, Herminia?«
»Wir hatten bis spät gearbeitet. Es war schon fast Mitternacht, als Señor Barrido sagte, ich solle nach Hause gehen. Die Verleger haben auf einen Herrn gewartet, der sie besuchen wollte…«
»Um Mitternacht? Was für ein Herr?«
»Ein Ausländer, glaube ich. Es hatte was mit einer Offerte zu tun, was weiß ich. Ich wäre gern geblieben, aber es war schon sehr spät, und Señor Barrido sagte…«
»Herminia, dieser Herr — erinnerst du dich an seinen Namen?«
Die Giftige sah mich befremdet an.
»Alles, woran ich mich erinnere, habe ich schon dem Inspektor gesagt, der heute früh gekommen ist. Er hat sich auch nach dir erkundigt.«
»Ein Inspektor? Nach mir?«
»Sie reden mit allen.«
»Ja, natürlich.«
Die Giftige starrte mich misstrauisch an, als versuchte sie meine Gedanken zu lesen.
»Es ist nicht sicher, ob er überleben wird«, flüsterte sie. Sie meinte Escobillas. »Alles ist zerstört, die Archive, die Verträge — alles. Mit dem Verlag ist es aus.«
»Das tut mir leid, Herminia.«
Ein verschlagenes Lächeln trat auf ihre Lippen.
»Es tut dir leid? Aber hattest du nicht genau das gewollt?«
»Wie kannst du so was denken?«
Sie schaute mich argwöhnisch an.
»Jetzt bist du frei.«
Ich wollte ihr die Hand auf den Arm legen, aber Herminia stand auf und wich einen Schritt zurück, als machte ihr meine Gegenwart Angst.
»Herminia…«
»Geh«, sagte sie.
Ich ließ sie in den rauchenden Trümmern zurück. Als ich wieder auf die Straße hinaustrat, stieß ich auf eine Gruppe kleiner Jungen, die in den Schutthaufen herumstocherten. Einer hatte ein Buch aus der Asche ausgegraben und musterte es neugierig und verächtlich zugleich. Der Deckel war von den Flammen versengt, und die Seiten waren an den Rändern geschwärzt, aber sonst war es noch intakt. An der Rückenprägung erkannte ich, dass es sich um einen Band aus der Reihe Die Stadt der Verdammten handelte.
»Señor Martín?«
Ich wandte mich um und sah mich drei Männern in schäbigen Anzügen gegenüber, kaum die richtige Kleidung bei dieser feuchtklebrigen Hitze, die in der Luft flimmerte. Einer der Männer, offensichtlich der Vorgesetzte, trat einen Schritt vor und lächelte mich an wie ein routinierter Verkäufer. Die beiden anderen, deren Konstitution und Temperament einer hydraulischen Presse ähnelte, starrten mich mit unverhüllter Feindseligkeit an.
»Señor Martín, ich bin Inspektor Víctor Grandes, und das sind meine Kollegen, die Beamten Marcos und Castelo vom Ermittlungs- und Observationsdienst. Ob Sie wohl freundlicherweise einige Minuten für uns hätten?«
»Aber selbstverständlich.«
Der Name Víctor Grandes war mir noch aus meiner Zeit bei den Vermischten Meldungen bekannt. Vidal hatte ihm die eine oder andere Kolumne gewidmet, und ich erinnerte mich besonders an eine, wo er ihn als den kommenden Mann des Polizeidienstes bezeichnet hatte, als einen, an dem man nicht vorbeikäme und der für den Anspruch einer neuen Generation von Elitebeamten stehe, besser ausgebildet als ihre Vorgänger, unbestechlich und stahlhart. So hatte Vidal es formuliert. Vermutlich war Inspektor Grandes seither in der Polizeidirektion unaufhaltsam aufgestiegen, und seine Anwesenheit an diesem Ort bezeugte, dass man den Brand bei Barrido und Escobillas ernst nahm.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, gehen wir in ein Café, wo wir uns ungestört unterhalten können«, sagte Grandes, ohne dass sich sein professionelles Lächeln auch nur ein wenig verlor.
»Wie Sie wünschen.«
Grandes führte mich zu einem kleinen Lokal in der Calle Doctor Dou, Ecke Pintor Fortuny. Marcos und Castelo gingen hinter uns, um mich im Auge zu behalten. Grandes bot mir eine Zigarette an, die ich ablehnte, und steckte die Schachtel wieder ein. Er tat den Mund nicht auf, bis wir in dem Lokal angekommen waren, wo ich zu einem Tisch im Hintergrund eskortiert wurde und die drei sich um mich herum setzten. Hätte man mich in ein dunkles, modriges Verlies geführt, die Atmosphäre wäre mir freundlicher vorgekommen.
»Señor Martín, ich glaube, Sie haben bereits Kenntnis erhalten von dem, was heute Nacht geschehen ist.«
»Ich weiß nur das, was in der Zeitung zu lesen war. Und was mir die Giftige erzählt hat.«
»Die Giftige?«
»Entschuldigung. Señorita Herminia Duaso, Mitarbeiterin der Geschäftsleitung.«
Marcos und Castelo wechselten einen vielsagenden Blick. Grandes lächelte.
»Interessanter Spitzname. Sagen Sie, Señor Martín, wo waren Sie gestern Abend?«
Heilige Einfalt — die Frage überrumpelte mich.
»Das ist eine Routinefrage«, erklärte Grandes. »Wir versuchen bei allen Personen, die in den letzten Tagen mit den Opfern Kontakt gehabt haben könnten, festzustellen, wo sie waren.«
»Ich war bei einem Freund.«
Sowie ich den Mund auftat, bereute ich meine Wortwahl. Grandes bemerkte es.
»Einem Freund?«
»Es ist eigentlich weniger ein Freund als jemand, der mit meiner Arbeit zu tun hat. Ein Verleger. Gestern Abend war ich mit ihm zu einem Gespräch verabredet.«
»Können Sie uns sagen, bis wann Sie mit dieser Person zusammen waren?«
»Bis spät am Abend. Tatsächlich habe ich dann sogar die Nacht bei ihm verbracht.«
»Ich verstehe. Und die Person, von der Sie sagen, sie hätte mit Ihrer Arbeit zu tun — wie heißt sie?«
»Corelli. Andreas Corelli. Ein französischer Verleger.«
Grandes notierte sich den Namen in einem kleinen Heft.
»Der Name klingt eher italienisch«, bemerkte er.
»Ich weiß gar nicht genau, welcher Nationalität er ist.«
»Verstehe. Und dieser Señor Corelli, welcher Nationalität er auch sein mag, könnte bestätigen, dass er sich gestern Abend mit Ihnen getroffen hat?«
Ich zuckte die Schultern.
»Vermutlich schon.«
»Vermutlich?«
»Ganz sicher sogar. Warum sollte er es nicht tun?«
»Ich weiß es nicht, Señor Martín. Gibt es irgendeinen Grund, warum er es Ihrer Meinung nach nicht tun sollte?«
»Nein.«
»Dann wäre das Thema also erledigt.«
Marcos und Castelo schauten mich an, als hätten sie nichts als Lügen von mir gehört.
»Könnten Sie mir zum Schluss noch schildern, worum es in diesem Gespräch ging, das Sie gestern Abend mit diesem Verleger unbestimmter Nationalität führten?«
»Señor Corelli hatte mich zu sich bestellt, um mir ein Angebot zu unterbreiten.«
»Ein Angebot welcher Natur?«
»Beruflicher Natur.«
»Aha. Ein Buch zu schreiben vielleicht?«
»Genau.«
»Sagen Sie, ist es üblich, dass man nach einer geschäftlichen Besprechung beim, nun, beim Vertragspartner zuhause übernachtet?«
»Nein.«
»Aber Sie sagen mir, Sie hätten die Nacht bei diesem Verleger zuhause verbracht.«
»Ich bin dortgeblieben, weil ich mich nicht wohlfühlte und mir den Heimweg nicht zutraute.«
»Ist Ihnen vielleicht das Essen schlecht bekommen?«
»Ich hatte in letzter Zeit gesundheitliche Probleme.«
Grandes setzte eine bestürzte Miene auf und nickte.
»Schwindelanfälle, Kopfschmerzen«, ergänzte ich.
»Aber ich gehe recht in der Annahme, dass Sie sich mittlerweile besser fühlen?«
»Ja. Viel besser.«
»Freut mich. Jedenfalls sehen Sie beneidenswert aus. Ist es nicht so?«
Castelo und Marcus nickten bedächtig.
»Man könnte fast meinen, Ihnen sei ein großer Stein vom Herzen gefallen«, bemerkte der Inspektor.
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Ich meine die Schwindelanfälle und Beschwerden.«
Es war zum Verzweifeln, wie sehr Grandes bei dieser Farce das Tempo vorgab.
»Entschuldigen Sie meine Ignoranz hinsichtlich der Details Ihrer beruflichen Tätigkeit, Señor Martín, aber ist es nicht so, dass Sie mit den beiden Verlegern einen Vertrag unterschrieben hatten, der erst in sechs Jahren ausläuft?«
»In fünf.«
»Und hat Sie dieser Vertrag nicht sozusagen exklusiv an den Verlag von Barrido und Escobillas gebunden?«
»So lauteten die Bestimmungen.«
»Warum sollten Sie dann mit einem Konkurrenten ein Angebot besprechen, wenn Ihnen Ihr Vertrag verbietet, es anzunehmen?«
»Es war nur ein Gespräch. Nichts weiter.«
»Das aber in einen Abend bei diesem Herrn zuhause gemündet ist.«
»Mein Vertrag verbietet mir nicht, mit Drittpersonen zu sprechen. Oder die Nacht außer Haus zu verbringen. Es steht mir frei, zu übernachten, wo ich will, und zu sprechen, mit wem ich will und worüber ich will.«
»Natürlich. Ich wollte auch nichts anderes andeuten, aber danke, dass Sie diesen Punkt geklärt haben.«
»Kann ich sonst noch etwas klären?«
»Nur eine Kleinigkeit. Sollte der Verlag nach dem Tod von Señor Barrido und, falls er sich nicht erholt — aber da sei Gott vor —, dem von Señor Escobillas aufgelöst werden, so würde dasselbe auch mit Ihrem Vertrag passieren. Oder täusche ich mich?«
»Ich bin nicht sicher. Ich weiß nicht genau, nach welchem Modell der Verlag gegründet wurde.«
»Aber wahrscheinlich wäre es so?«
»Möglicherweise. Das müssten Sie den Anwalt der Verleger fragen.«
»Das habe ich bereits getan. Und er hat mir bestätigt, dass es so wäre — sollte eintreten, was wir uns alle nicht wünschen, und Señor Escobillas das Zeitliche segnen.«
»Dann haben Sie ja Ihre Antwort.«
»Und Sie die volle Freiheit, das Angebot von Señor…«
»Corelli.«
»… von Señor Corelli anzunehmen. Sagen Sie, haben Sie es schon angenommen?«
»Darf ich fragen, was das mit der Brandursache zu tun hat?«, gab ich zurück.
»Nichts. Reine Neugier.«
»Ist das alles?«, fragte ich.
Grandes schaute seine Kollegen an und dann mich.
»Für meine Person ja.«
Ich wollte aufstehen. Die drei Ermittler blieben auf ihren Stühlen kleben.
»Señor Martín, eh ich’s vergesse«, sagte Grandes. »Können Sie bestätigen, dass die Herren Barrido und Escobillas Sie vor einer Woche in Ihrer Wohnung in der Calle Flassaders Nr. 30 in Gesellschaft des vorhin erwähnten Anwalts aufgesucht haben?«
»Ja, das taten sie.«
»War das ein freundschaftlicher oder gar ein Höflichkeitsbesuch?«
»Die Verleger sind gekommen, um ihrem Wunsch Ausdruck zu verleihen, ich möge meine Arbeit an einer Reihe wieder aufnehmen, die ich hatte liegen lassen, um mich einige Monate einem anderen Projekt zu widmen.«
»Würden Sie das Gespräch als herzlich und entspannt bezeichnen?«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand einen ungebührlichen Ton angeschlagen hätte.«
»Und wissen Sie noch, dass Sie ihnen geantwortet haben, und ich zitiere wörtlich, ›in einer Woche sind Sie tot‹? Natürlich ohne einen ungebührlichen Ton anzuschlagen.«
Ich seufzte.
»Ja«, gab ich zu.
»Was meinten Sie damit?«
»Ich war verärgert und sagte das Erstbeste, was mir durch den Kopf schoss, Inspektor. Das heißt nicht, dass ich es ernst meinte. Manchmal sagt man Dinge, die man nicht meint.«
»Danke für Ihre Aufrichtigkeit, Señor Martín. Sie waren uns eine große Hilfe. Guten Tag.«
Als ich ging, spürte ich ihre Blicke wie Dolche im Rücken und war mir sicher, dass ich, hätte ich auf jede Frage des Inspektors gelogen, mich nicht schuldiger hätte fühlen können.
Der üble Nachgeschmack meiner Begegnung mit Víctor Grandes und seinen beiden Basilisken überdauerte kaum hundert Meter des Spaziergangs, den ich danach bei Sonnenschein in einem nicht wiederzuerkennenden Körper unternahm: voller Kraft, ohne Schmerzen und Schwindelgefühle, ohne Ohrensausen und mörderische Stiche im Schädel, ohne Müdigkeit und kalte Schweißausbrüche. Ohne die geringste Erinnerung an die Gewissheit meines baldigen Todes, die mich vor kaum vierundzwanzig Stunden noch zu ersticken gedroht hatte. Irgendetwas sagte mir, dass mich die Tragödie der vergangenen Nacht, Barridos Tod und Escobillas’ so gut wie sicheres Ableben, mit Gram und Kummer hätte erfüllen müssen, aber mein Gewissen und ich waren außerstande, etwas anderes als angenehme Gleichgültigkeit zu empfinden. An diesem Julivormittag waren mir die Ramblas ein Fest und ich selbst der Fürst.
Der Spaziergang führte mich zur Calle Santa Ana, wo ich Señor Sempere einen Überraschungsbesuch abstatten wollte. Als ich den Laden betrat, stimmte der Buchhändler hinter dem Ladentisch Konten ab, während sein Sohn auf einer Leiter die Regale neu ordnete. Bei meinem Anblick lächelte Sempere senior herzlich, und mir wurde klar, dass er mich im ersten Augenblick nicht erkannt hatte. Eine Sekunde später verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht, und er kam offenen Mundes um den Tisch herum auf mich zu, um mich zu umarmen.
»Martín? Sind Sie es? Heilige Muttergottes — Sie sind ja nicht wiederzuerkennen! Ich habe mir schon große Sorgen gemacht. Wir haben mehrmals bei Ihnen vorbeigeschaut, aber Sie haben nie aufgemacht. Dann habe ich in Krankenhäusern und auf Polizeirevieren nachgefragt.«
Sein Sohn starrte mich von der Leiter herunter ungläubig an. Es kam mir in den Sinn, dass sie mich eine gute Woche zuvor in einem Zustand gesehen hatten, mit dem ich gut ins Leichenschauhaus des fünften Bezirks gepasst hätte.
»Tut mir leid, dass ich Ihnen Sorgen gemacht habe. Ich war aus beruflichen Gründen ein paar Tage weg.«
»Aber — Sie haben auf mich gehört und sind zum Arzt gegangen, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Es war eine Lappalie. Wie das mit dem Blutdruck so ist. Ich habe einige Tage ein Tonikum genommen, und danach war ich wie neugeboren.«
»Da müssen Sie mir aber den Namen dieses Tonikums nennen, darin will ich baden… Wie schön, Sie so zu sehen, und was für eine Erleichterung!«
Die Euphorie verflog rasch, als die Nachricht des Tages aus ihm hervorbrach.
»Haben Sie das mit Barrido und Escobillas gehört?«, fragte der Buchhändler.
»Ich komme eben von dort. Nicht zu fassen.«
»Wer hätte das gedacht. Die waren mir ja nicht gerade sympathisch, aber dann gleich so was… Sagen Sie, in rechtlicher Hinsicht, wie ist das nun für Sie? Entschuldigen Sie, dass ich so unverblümt frage.«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich glaube, die beiden Teilhaber hatten die Trägerschaft der Gesellschaft inne. Vermutlich gibt es irgendwelche Erben, aber möglicherweise löst sich die Gesellschaft als solche auf, wenn beide sterben sollten. Und damit auch meine Vertragsbindung. Das nehme ich jedenfalls an.«
»Das heißt, wenn Escobillas, Gott möge mir verzeihen, ebenfalls abkratzt, sind Sie ein freier Mann.«
Ich bejahte.
»Das ist ja vielleicht ein Dilemma…«, murmelte Sempere.
»Es kommt, wie es kommen muss.«
Er nickte, aber ich merkte, dass ihn bei alledem etwas beunruhigte und er das Thema wechseln wollte.
»Na ja. Jedenfalls kommen Sie wie gerufen — ich wollte Sie nämlich um einen Gefallen bitten.«
»Stets zu Diensten.«
»Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass es Ihnen nicht passen wird.«
»Wenn es mir passen würde, wäre es kein Gefallen, sondern ein Vergnügen. Und wenn es ein Gefallen für Sie ist, wird es auch ein Vergnügen sein.«
»Es geht nicht direkt um mich. Ich erzähle es Ihnen, und dann entscheiden Sie. Ohne jede Verpflichtung, einverstanden?«
Sempere stützte sich auf den Ladentisch und setzte seine Erzählermiene auf, die so viele Kindheitserinnerungen in mir wieder aufleben ließ.
»Es geht um ein junges Mädchen, Isabella. Sie dürfte etwa siebzehn sein. Sehr aufgeweckt. Sie kommt dauernd vorbei, und ich leihe ihr Bücher aus. Sie sagt, sie wolle Schriftstellerin werden.«
»Kommt mir bekannt vor«, sagte ich.
»Jedenfalls hat sie mir vor einer Woche eine ihrer Erzählungen gegeben, nichts Umfangreiches, zwanzig oder dreißig Seiten, und mich um meine Meinung gebeten.«
»Und?«
Sempere senkte die Stimme, als sei die Angelegenheit so vertraulich wie ein Ermittlungsgeheimnis.
»Meisterlich. Besser als neunundneunzig Prozent von allem, was in den letzten zwanzig Jahren veröffentlicht wurde.«
»Ich hoffe, Sie zählen mich zum verbleibenden Prozent, sonst betrachte ich meine Eitelkeit als mit Füßen getreten und hinterhältig gemeuchelt.«
»Darauf wollte ich hinaus. Isabella betet Sie an.«
»Betet mich an? Mich?«
»Ja, als wären Sie die schwarze Madonna von Montserrat und das Jesuskind in einem. Sie hat Die Stadt der Verdammten zehnmal von Anfang bis Ende gelesen, und nachdem ich ihr Die Schritte des Himmels gegeben hatte, sagte sie, wenn sie ein solches Buch zustande brächte, könnte sie dem Tod beruhigt entgegensehen.«
»Das klingt nach einer Falle.«
»Ich wusste ja, dass Sie sich mir entwinden würden.«
»Ich entwinde mich nicht. Sie haben mir noch nicht gesagt, worin der Gefallen besteht.«
»Das können Sie sich doch vorstellen.«
Ich seufzte. Sempere schnalzte mit der Zunge.
»Ich habe Ihnen ja gesagt, es werde Ihnen nicht passen.«
»Dann bitten Sie mich um etwas anderes.«
»Sie sollen nur mit ihr sprechen. Sie ermutigen, ihr Ratschläge geben… Sie anhören, etwas von ihr lesen und sie einweisen. Das wird Ihnen doch nicht so schwerfallen. Das Mädchen ist blitzgescheit. Sie wird Ihnen außerordentlich gefallen, Sie werden Freunde werden. Und sie kann als Ihre Assistentin arbeiten.«
»Ich brauche keine Assistentin. Und schon gar keine, die ich nicht kenne.«
»Dummes Zeug. Und überhaupt — Sie kennen sie bereits. Das sagt sie wenigstens. Sie sagt, sie kenne Sie seit Jahren, aber Sie würden sich sicherlich nicht an sie erinnern. Anscheinend sind ihre Einfaltspinsel von Eltern überzeugt, dass ihre literarischen Ambitionen sie entweder in die Hölle bringen oder als alte Jungfer enden lassen, und wollen sie deshalb ins Kloster stecken oder mit irgendeinem Schwachsinnigen vermählen, damit er ihr acht Kinder macht und sie dann auf ewig unter Pfannen und Töpfen begräbt. Wenn Sie sie nicht retten, grenzt das an Mord.«
»Dramatisieren Sie die Sache nicht, Señor Sempere.«
»Schauen Sie, ich würde Sie nicht darum bitten — ich weiß ja, dass Selbstlosigkeit zu Ihnen etwa so passt wie Sardanas tanzen, aber immer wenn ich sie hereinkommen und mich mit diesen Äuglein anschauen sehe, die ihr vor Intelligenz und Unternehmungslust fast aus dem Kopf purzeln, und dann an die Zukunft denke, die sie erwartet, zerreißt es mir das Herz. Was ich ihr beibringen kann, habe ich ihr bereits beigebracht. Das Mädel lernt rasch, Martín. Wenn sie mich an etwas erinnert, dann an Sie als jungen Burschen.«
Ich seufzte abermals.
»Isabella und wie noch?«
»Gispert. Isabella Gispert.«
»Kenne ich nicht. Diesen Namen habe ich im Leben nicht gehört. Man hat Ihnen einen Bären aufgebunden.«
Der Buchhändler schüttelte den Kopf.
»Isabella wusste, dass Sie genau das sagen würden.«
»Talentiert und Hellseherin. Und was hat sie sonst noch gesagt?«
»Dass Sie vermutlich ein sehr viel besserer Schriftsteller als Mensch seien.«
»Ein richtiges Schätzchen, diese Isabella.«
»Kann ich ihr sagen, sie dürfe Sie aufsuchen? Ohne jede Verpflichtung?«
Ich gab mich geschlagen und willigte ein. Sempere lächelte triumphierend und wollte den Pakt mit einer Umarmung besiegeln, aber ich ergriff die Flucht, ehe der alte Buchhändler mir das Gefühl geben konnte, ich sei ein guter Mensch.
»Sie werden es nicht bereuen, Martín«, hörte ich ihn sagen, als ich schon zur Tür hinausging.
Als ich vor meinem Haus eintraf, saß Inspektor Víctor Grandes auf der Stufe zum Eingang und paffte seelenruhig eine Zigarette. Bei meinem Anblick lächelte er sein charmantes Lächeln, als wäre er ein alter Freund, der mir überraschend einen Besuch abstattete. Ich setzte mich neben ihn, und er hielt mir das offene Zigarettenetui hin. Gitanes, stellte ich fest. Ich nahm eine. »Und Hansel und Gretel?«
»Marcus und Castelo hatten keine Zeit. Wir haben einen anonymen Wink bekommen, und sie haben sich einen alten Bekannten aus dem Pueblo Nuevo geschnappt, dessen Gedächtnis wahrscheinlich ein wenig aufgefrischt werden muss.«
»Armer Teufel.«
»Wenn ich ihnen gesagt hätte, dass ich Sie aufsuche, wären sie sicher mitgekommen. Sie waren ihnen außerordentlich sympathisch.«
»Ja, Liebe auf den ersten Blick, ich hab es schon bemerkt. Was kann ich für Sie tun, Inspektor? Darf ich Sie oben zu einem Kaffee einladen?«
»Ich würde es nicht wagen, in Ihre Privatsphäre einzudringen, Señor Martín. Ich wollte Ihnen die Nachricht einfach persönlich überbringen, bevor Sie auf anderem Weg davon erfahren.«
»Welche Nachricht?«
»Escobillas ist heute am frühen Nachmittag im Hospital gestorben.«
»Mein Gott. Das wusste ich nicht.«
Grandes zuckte die Schultern und rauchte schweigend weiter. Dann sagte er:
»Es war ja abzusehen. Da kann man nichts machen.«
»Haben Sie etwas über die Brandursache ermitteln können?«, fragte ich.
Er schaute mich lange an und nickte dann.
»Alles scheint darauf hinzudeuten, dass jemand Señor Barrido mit Benzin übergossen und dann angezündet hat. Die Flammen haben sich ausgebreitet, als er in Panik aus seinem Büro zu entkommen versuchte. Sein Partner und der Angestellte, die ihm zu Hilfe eilten, sind dabei ebenfalls von den Flammen erfasst worden.«
Ich biss mir auf die Lippen. Grandes lächelte beruhigend.
»Der Anwalt der Verleger hat mir heute Nachmittag gesagt, aufgrund der in Ihrem Vertrag mit den beiden festgehaltenen persönlichen Bindung zu ihnen gelte dieser beim Ableben der Verleger als aufgelöst, aber die Erben behalten die Rechte an den bereits publizierten Werken. Vermutlich wird er Ihnen das in einem Brief mitteilen, aber ich dachte, Sie möchten es vielleicht schon vorher wissen, falls Sie bezüglich des Angebots des von Ihnen erwähnten Verlegers eine Entscheidung zu treffen haben.«
»Danke.«
»Nicht der Rede wert.«
Grandes hatte seine Zigarette aufgeraucht und warf die Kippe auf den Boden. Er lächelte freundlich und stand auf. Dann klopfte er mir auf die Schulter und trollte sich in Richtung Calle Princesa.
»Inspektor?«, rief ich ihm nach.
Grandes blieb stehen und wandte sich um.
»Sie werden doch nicht etwa denken…«
Er schenkte mir ein mattes Lächeln.
»Passen Sie auf sich auf, Martín.«
Ich ging früh schlafen und schreckte in dem Glauben auf, es sei schon Morgen, um dann festzustellen, dass es erst kurz nach Mitternacht war.
Im Traum hatte ich Barrido und Escobillas gesehen, wie sie in ihrem Büro gefangen waren. Die Flammen züngelten an ihren Kleidern empor, bis jeder Zentimeter des Körpers von ihnen erfasst war. Unter den Kleidern schälte sich ihre Haut in Fetzen ab, und die panikerfüllten Augen brachen im Feuer. Ihre Körper wurden von Schreckens- und Todeskrämpfen geschüttelt, bis sie auf die Trümmer sanken, während sich das Fleisch wie geschmolzenes Wachs von den Knochen löste und zu meinen Füßen eine dampfende Pfütze bildete, in der ich mein eigenes Grinsen gespiegelt sah, als ich das Streichholz in meinen Fingern auspustete.
Ich stand auf, um mir ein Glas Wasser zu holen, und in dem Glauben, den Fängen meines Traums entkommen zu sein, ging ich ins Arbeitszimmer hinauf und holte aus der Schreibtischschublade das Buch, das ich aus dem Friedhof der Vergessenen Bücher gerettet hatte. Ich knipste die Leselampe an und bog sie so, dass das Licht auf die Seiten fiel. Ich schlug das Buch auf und begann zu lesen.
Lux Aeterna
D.M.
Auf den ersten Blick bestand das Opus aus einer scheinbar zusammenhanglosen Sammlung von Texten und Gebeten. Es war ein Originalmanuskript, eine Handvoll Seiten in Maschinenschrift, die schmucklos in Leder gebunden waren. Nach einer Weile der Lektüre konnte ich in der Abfolge von Begebenheiten, Gesängen und Reflektionen, aus denen der Text bestand, eine gewisse Methode entdecken. Die Sprache hatte ihren eigenen Rhythmus, und was anfänglich jeder Form und jeden Stils zu entbehren schien, entpuppte sich nach und nach als hypnotischer Gesang, dessen Sog den Leser immer stärker erfasste, um ihn schließlich in einen Zustand zwischen Benommenheit und Selbstvergessenheit versinken zu lassen. Ähnlich ging es mir mit dem Inhalt, dessen zentrale Achse erst im ersten Teil deutlich wurde — oder im ersten Gesang, denn das Werk schien nach der Art alter Dichtungen in Gesänge aufgeteilt, in denen man mit Zeit und Raum nach freiem Ermessen verfuhr. Da wurde mir klar, dass dieses Lux Aeterna, in Ermangelung eines anderen Begriffs, eine Art Totenbuch war.
Nach den ersten dreißig oder vierzig Seiten voller Ausschmückungen und Rätsel geriet man in ein präzises, ausgefallenes, zunehmend beunruhigendes Wechselspiel von Gebeten und Fürbitten, in dem der Tod, in Zeilen unbekannten Versmaßes einmal als weißer Engel mit Reptilienaugen dargestellt und ein andermal als lichtvolles Kind, als einzige, allgegenwärtige Gottheit definiert wurde, die sich in der Natur, im Verlangen und in der Zerbrechlichkeit des Daseins manifestiere.
Wer immer dieser geheimnisvolle D. M. sein mochte, in seinen Versen zeigte sich der Tod als gefräßige, ewige Kraft. Eine raffinierte Mischung von Anleihen aus verschiedenen Paradies- und Höllenvorstellungen schillerte hier auf einer einzigen Ebene. Laut D. M. gab es nur einen Anfang und ein Ende, nur einen Schöpfer und Zerstörer, der sich unter verschiedenen Namen offenbarte, um die Menschen zu verwirren und ihre Schwächen zu prüfen, einen einzigen Gott, dessen wahres Wesen zwei Seiten hatte, eine sanft-barmherzige und eine grausam-dämonische.
So weit konnte ich folgen, doch nach diesen Anfängen schien der Autor vom Kurs seiner Erzählung abgekommen zu sein, sodass es kaum noch möglich war, die Bezüge und Bilder zu enträtseln, die den Text wie düstere Visionen erfüllten. Unwetter, bei denen es Blut und Feuer regnete. Heerscharen uniformierter Leichen, die durch endlose Ebenen zogen und dabei alles Leben vernichteten. Infanten, mit Fahnenfetzen vor Festungstoren erhängt. Schwarze Meere, in denen Tausende gequälter Seelen bis in alle Ewigkeit in giftigem Eiswasser dahintrieben. Aschewolken und Ozeane aus Knochen und verfaultem Fleisch, durchzogen von Insekten und Schlangen. Diese infernalischen, ekelerregenden Bilder setzten sich bis zum Überdruss fort.
Je weiter ich mit der Lektüre kam, desto mehr hatte ich das Gefühl, die Landkarte eines kranken, zerrütteten Geistes zu durchwandern. Mit jeder Zeile hatte der Autor, ohne es zu wissen, sein Abgleiten in den Wahn dokumentiert. Das letzte Drittel des Buches schließlich schien vom Willen zur Umkehr zu zeugen, ein verzweifelter Ruf des Verfassers aus der Zelle seiner Unvernunft, um dem dunklen Labyrinth zu entrinnen, das sich in seinem Geist aufgetan hatte. Der Text erstarb mitten in einem flehenden Satz, ohne jegliche Erklärung.
An diesem Punkt fielen mir fast die Augen zu. Durchs Fenster drang ein leichter Meereswind herein, der den Nebel von den Dächern wischte. Ich wollte das Buch eben zuklappen, als ich merkte, dass im Filter meines Verstandes etwas hängen geblieben war, etwas, was mit der Schreibmaschinenschrift dieser Seiten zu tun hatte. Ich blätterte zum Anfang zurück und begann den Text durchzugehen. In der fünften Zeile fand ich es zum ersten Mal. Von da an tauchte dasselbe Merkmal alle paar Zeilen auf: Einer der Buchstaben, das große S, war immer leicht nach rechts geneigt. Ich zog ein weißes Blatt aus der Schublade und spannte es in die Underwood auf dem Schreibtisch ein. Aufs Geratewohl schrieb ich einen Satz.
Sanft klingen die Glocken von
Santa María del Mar.
Ich zog das Blatt heraus und betrachtete es unter der Lampe.
Sanft… von Santa María
Ich stöhnte auf. Lux Aeterna war auf ebendieser Schreibmaschine geschrieben worden und vermutlich auch an ebendiesem Schreibtisch.
Am nächsten Morgen ging ich zum Frühstück in ein Café gegenüber von Santa María del Mar. Im Born-Viertel wimmelte es von Karren und Leuten auf dem Weg zum Markt und von Klein- und Großhändlern, die ihre Läden öffneten. Ich setzte mich an einen Tisch im Freien und bestellte einen Milchkaffee. Auf dem Nebentisch lag ein verwaistes Exemplar der Vanguardia, das ich adoptierte. Während ich Schlagzeilen und Kurztexte überflog, bemerkte ich, dass jemand die Treppe zur Kathedrale hinaufstieg und sich auf die oberste Stufe setzte, um mich verstohlen zu beobachten. Das junge Mädchen mochte sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein und gab vor, sich in einem Heft Notizen zu machen, während sie mir heimliche Blicke zuwarf. Ich genoss in Ruhe meinen Kaffee. Nach einer Weile winkte ich den Kellner herbei.
»Sehen Sie die Señorita, die dort vor der Kirchentür sitzt? Sagen Sie ihr, sie soll bestellen, worauf sie Lust hat, sie ist eingeladen.«
Der Kellner nickte und ging hin. Als sie ihn auf sich zukommen sah, vergrub sie sich mit einem Ausdruck höchster Konzentration, der mir ein Lächeln entlockte, in ihr Heft. Der Kellner blieb vor ihr stehen und räusperte sich. Sie hob den Blick und schaute ihn an. Er erläuterte ihr seinen Auftrag und deutete dann auf mich. Sie warf mir einen beunruhigten Blick zu. Ich winkte grüßend. Ihre Wangen erglühten. Sie stand auf und näherte sich mit kurzen Schritten und gesenktem Blick meinem Tisch.
»Isabella?«, fragte ich.
Sie schaute auf und seufzte, verärgert über sich selbst.
»Woher wissen Sie das?«
»Hellseherische Kräfte.«
Sie reichte mir die Hand, die ich ohne großen Enthusiasmus drückte.
»Darf ich mich setzen?«, fragte sie.
Sie nahm Platz, ohne eine Antwort abzuwarten. In der folgenden halben Minute änderte sie ein halbes Dutzend Mal die Stellung, um dann wieder zur ersten zurückzukehren. Ich schaute ihr ruhig und mit kalkuliertem Desinteresse zu.
»Sie erinnern sich nicht an mich, nicht wahr, Señor Martín?«
»Sollte ich das?«
»Ich habe Ihnen jahrelang den Korb mit Ihrer Wochenbestellung von Can Gispert hinaufgebracht.«
Das Bild des Mädchens, das mir so lange die Lebensmittel geliefert hatte, erschien vor meinem geistigen Auge und verschmolz mit dem erwachseneren, etwas kantigeren Gesicht dieser zur Frau gewordenen Isabella mit den weichen Formen und dem schneidenden Blick.
»Das Mädchen mit dem Trinkgeld«, sagte ich, obwohl sie nicht mehr viel von einem Mädchen hatte.
Sie nickte.
»Ich habe mich immer gefragt, was du wohl mit all den Münzen angefangen hast.«
»Bücher bei Sempere und Söhne gekauft.«
»Hätte ich das gewusst…«
»Wenn ich Sie störe, gehe ich.«
»Du störst mich nicht. Möchtest du was trinken?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Señor Sempere sagt, du hättest Talent.«
Isabella zuckte die Achseln und lächelte mich skeptisch an.
»Im Allgemeinen zweifelt man umso mehr an seinem Talent, je mehr man davon hat«, sagte ich. »Und umgekehrt.«
»Dann muss ich ein wahres Wunderkind sein.«
»Nicht nur du. Sag, was kann ich für dich tun?«
Sie atmete tief ein.
»Señor Sempere hat gesagt, vielleicht könnten Sie etwas von meinen Sachen lesen und mir Ihre Einschätzung und ein paar Ratschläge geben.«
Ich schaute ihr einige Sekunden wortlos in die Augen. Sie hielt meinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ist das alles?«
»Nein.«
»Hab ich’s mir doch gedacht. Was folgt in Kapitel zwei?«
Isabella zögerte nur einen kurzen Augenblick.
»Wenn Ihnen gefällt, was Sie lesen, und Sie glauben, ich habe Talent, möchte ich Sie darum bitten, mir zu erlauben, Ihre Assistentin zu sein.«
»Was veranlasst dich zur Annahme, dass ich eine Assistentin brauche?«
»Ich kann Ihre Papiere ordnen, sie abtippen, Irrtümer und Fehler korrigieren…«
»Irrtümer und Fehler?«
»Ich wollte damit nicht sagen, dass Sie Fehler machen…«
»Was wolltest du denn dann sagen?«
»Nichts. Aber vier Augen sehen immer mehr als zwei. Und zudem kann ich die Korrespondenz übernehmen, Besorgungen machen, Ihnen bei der Recherche behilflich sein. Und ich kann kochen und…«
»Bittest du mich nun um eine Stelle als Assistentin oder als Köchin?«
»Ich bitte Sie um eine Chance.«
Sie senkte den Blick. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Dieses merkwürdige Geschöpf war mir ganz gegen meinen Willen sympathisch.
»Wir werden Folgendes tun. Du bringst mir die besten zwanzig Seiten, die du geschrieben hast, die, von denen du glaubst, sie zeigen am ehesten, was du kannst. Bring mir keine einzige mehr, ich habe nicht vor, sie zu lesen. Ich werde sie mir in aller Ruhe ansehen, und dann unterhalten wir uns.«
Ihr Gesicht leuchtete auf, und für einen Moment verschwand der Schleier von Härte und Anspannung, der über ihren Zügen lag.
»Es wird Ihnen nicht leidtun«, sagte sie.
Sie stand auf und schaute mich nervös an.
»Ist es recht, wenn ich Ihnen die Seiten nach Hause bringe?«
»Steck sie in den Briefkasten. War das alles?«
Sie nickte mehrmals und zog sich mit kurzen, hektischen Schrittchen zurück. Als sie sich eben umdrehen und davonlaufen wollte, rief ich ihr nach.
»Isabella?«
Sie schaute mich hellwach an, im Blick eine gewisse Besorgnis.
»Warum gerade ich?«, fragte ich. »Und sag nicht, weil ich dein Lieblingsautor bin und all diese Schmeicheleien, mit denen du mich laut Sempere einseifen sollst wenn du das tust, wird das unser erstes und letztes Gespräch gewesen sein.«
Sie zögerte einen Moment. Dann sah sie mir direkt in die Augen und antwortete schonungslos:
»Weil Sie der einzige Schriftsteller sind, den ich kenne.«
Sie lächelte bang und ging mit ihrem Heft, ihrem unsicheren Schritt und ihrer Aufrichtigkeit davon. Ich schaute ihr nach, wie sie in die Calle Mirallers einbog und hinter der Kathedrale verschwand.
Als ich eine knappe Stunde später nach Hause zurückkam, saß sie vor der Tür und erwartete mich mit ihrer mutmaßlichen Erzählung auf dem Schoß. Bei meinem Anblick stand sie auf und rang sich ein Lächeln ab.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst die Seiten in den Briefkasten stecken«, sagte ich.
Isabella nickte und zuckte die Achseln.
»Als Zeichen meiner Dankbarkeit habe ich Ihnen aus dem Laden meiner Eltern ein wenig Kaffee mitgebracht. Kolumbianischen, der ist wunderbar. Er ging nicht durch den Schlitz, und so habe ich gedacht, ich warte besser auf Sie.«
Dieser Vorwand konnte nur einer künftigen Romanautorin in den Sinn kommen. Mit einem Seufzer öffnete ich die Tür.
»Rein mit dir.«
Ich stieg die Treppe hinauf, und Isabella folgte mir mit ein paar Stufen Abstand wie ein Schoßhündchen.
»Frühstücken Sie immer so lange? Das geht mich natürlich nichts an, aber ich habe hier fast eine Dreiviertelstunde gewartet und mir schon Sorgen gemacht, ich dachte, hoffentlich ist ihm nichts im Hals stecken geblieben, da lerne ich endlich einen Schriftsteller aus Fleisch und Blut kennen, und bei meinem sprichwörtlichen Glück wäre es durchaus normal, dass er hingeht und eine Olive in den falschen Hals kriegt, und das wäre dann das Ende meiner literarischen Karriere«, sprudelte sie hervor.
Ich blieb mitten auf der Treppe stehen und schaute sie mit dem feindseligsten Ausdruck an, den ich zustande brachte.
»Isabella, damit es zwischen uns funktioniert, werden wir einige Regeln aufstellen müssen. Die erste ist, dass ich die Fragen stelle und du dich auf die Antworten beschränkst. Wenn es von meiner Seite her keine Fragen gibt, sind deinerseits weder Antworten noch Stegreifreden angezeigt. Die zweite Regel lautet: Ich nehme mir zum Frühstücken oder Vespern oder Tagträumen so viel Zeit, wie es mir passt, und darüber wird nicht diskutiert.«
»Ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich verstehe ja, dass in Ruhe zu verdauen der Inspiration förderlich ist.«
»Die drittel Regel: Vor dem Mittag lasse ich dir keinen Sarkasmus durch. Verstanden?«
»Ja, Señor Martín.«
»Die vierte ist, dass du mich nicht Señor Martín nennen sollst, nicht einmal am Tag meiner Beerdigung. Dir komme ich vielleicht wie ein Fossil vor, aber mir gefällt die Vorstellung, noch jung zu sein. Und ich bin es auch, Punktum!«
»Wie soll ich Sie denn nennen?«
»Bei meinem Vornamen: David.«
Sie nickte. Ich öffnete die Wohnungstür und bedeutete ihr einzutreten. Sie zögerte einen Moment und schlüpfte dann hinein.
»Ich glaube, für Ihr Alter sehen Sie noch ziemlich jung aus, David.«
Verblüfft schaute ich sie an.
»Was glaubst du denn, wie alt ich bin?«
Isabella sah mich von oben bis unten an.
»So um die dreißig? Was man Ihnen aber nicht ansieht.«
»Bitte halt den Mund und mach eine Kanne von dem Gebräu, das du mitgebracht hast.«
»Wo ist die Küche?«
»Such sie.«
Gemeinsam tranken wir in der Veranda den köstlichen kolumbianischen Kaffee. Isabella hielt ihre große Tasse in beiden Händen und betrachtete mich argwöhnisch, während ich ihre zwanzig Seiten las. Jedes Mal, wenn ich ein Blatt beiseite legte und aufschaute, traf ich auf ihren erwartungsvollen Blick.
»Wenn du mich weiterhin wie eine Schleiereule anstarrst, werde ich nie damit fertig.«
»Was soll ich denn sonst tun?«
»Wolltest du nicht meine Assistentin sein? Dann assistiere. Such zum Beispiel etwas, was geordnet werden muss, und ordne es.«
Isabella schaute sich um.
»Hier ist nichts geordnet.«
»Dann pack die Gelegenheit beim Schopf.«
Sie nickte und machte sich mit militärischer Entschlossenheit auf, des in meiner Behausung allenthalben herrschenden Chaos Herr zu werden. Ich hörte ihre Schritte sich im Korridor entfernen und fuhr mit der Lektüre fort. Ihre Erzählung wies kaum eine Handlung auf. Sie schilderte mit großer Sensibilität und wohlgesetzten Worten die Gefühle und Sehnsüchte eines jungen Mädchens, das in ein kaltes Dachzimmer des Ribera-Viertels verbannt war, von wo aus sie dem Treiben in den engen, düsteren Gassen zusah. Die Bilder und die traurige Musik ihrer Prosa verrieten eine an Verzweiflung grenzende Einsamkeit. Das junge Mädchen der Erzählung war in ihrer eigenen Welt gefangen und trat manchmal vor einen Spiegel, wo sie sich mit einer Scherbe in Arme und Schenkel schnitt: Davon blieben Narben zurück wie die, die man unter Isabellas Ärmeln erraten konnte. Kurz vor Ende der Lektüre sah ich, wie sie mich von der Verandatür aus anschaute.
»Was ist?«
»Entschuldigen Sie die Störung, aber was ist in dem Zimmer am Ende des Flurs?«
»Nichts.«
»Riecht seltsam.«
»Die Feuchtigkeit.«
»Wenn Sie wollen, kann ich dort sauber machen und…«
»Nein. Dieses Zimmer wird nicht benutzt. Und zudem bist du nicht mein Dienstmädchen und hast keine Veranlassung, irgendwo sauber zu machen.«
»Ich will bloß helfen.«
»Hilf mir, indem du mir noch eine Tasse Kaffee bringst.«
»Warum? Macht Sie die Erzählung müde?«
»Wie spät ist es, Isabella?«
»Es muss etwa zehn Uhr sein.«
»Und das heißt?«
»… kein Sarkasmus bis zum Mittag«, antwortete sie.
Ich lächelte triumphierend und hielt ihr die leere Tasse hin.
Als sie mit dem dampfenden Kaffee aus der Küche zurückkam, hatte ich die letzte Seite gelesen. Isabella setzte sich mir gegenüber. Ich lächelte ihr zu und schlürfte in aller Ruhe den wunderbaren Kaffee. Das junge Mädchen rang die Hände, presste die Lippen zusammen und warf verstohlene Blicke auf ihre Erzählung, deren Seiten jetzt umgedreht auf dem Tisch lagen. Zwei Minuten hielt sie es aus, ohne den Mund aufzutun.
»Und?«, fragte sie schließlich.
»Vorzüglich.«
Ihr Gesicht begann zu leuchten.
»Meine Erzählung?«
»Der Kaffee.«
Verletzt schaute sie mich an und stand auf, um ihre Seiten zu holen.
»Lass sie liegen«, befahl ich.
»Wozu? Es ist doch klar, dass sie Ihnen nicht gefallen hat und dass Sie denken, ich sei eine arme Idiotin.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Gar nichts haben Sie gesagt, das ist schlimmer.«
»Isabella, wenn du wirklich schreiben willst oder wenigstens so schreiben willst, dass andere dich lesen, dann wirst du dich daran gewöhnen müssen, dass man dich mitunter nicht zur Kenntnis nimmt, dass man dich beschimpft, dich verachtet und dass man dir in den meisten Fällen mit Gleichgültigkeit begegnet. Das ist einer der Vorteile dieses Berufs.«
Sie senkte den Blick und atmete tief durch.
»Ich weiß nicht, ob ich Talent habe. Ich weiß nur, dass ich gern schreibe. Oder besser gesagt, dass ich schreiben muss.«
»Schwindlerin.«
Sie sah mich hart an.
»Also gut. Ich habe Talent. Und es interessiert mich einen feuchten Dreck, ob Sie glauben, ich habe keins.«
Ich lächelte.
»Das gefällt mir schon besser. Ich bin vollkommen einverstanden.«
Verwirrt schaute sie mich an.
»Damit, dass ich Talent habe, oder damit, dass Sie glauben, ich habe keins?«
»Was meinst denn du?«
»Dann glauben Sie, dass ich begabt bin?«
»Ich glaube, du hast Talent und Lust, etwas damit anzufangen. Mehr, als du denkst, und weniger, als du erwartest. Aber es gibt viele Leute mit Talent und Lust, und viele von ihnen bringen es nie zu etwas. Das ist erst der Ausgangspunkt, um im Leben etwas zu erreichen. Das Talent ist wie die Kraft eines Athleten. Man kann mit mehr oder weniger Fähigkeiten geboren werden, aber niemand wird nur aus dem Grund Athlet, weil er von Natur aus groß oder stark oder schnell ist. Was den Athleten — oder den Künstler — ausmacht, das ist die Arbeit, das Handwerk, die Technik. Die Intelligenz, die einem in die Wiege gelegt wird, ist bloß die Munition. Um damit etwas anfangen zu können, muss man seinen Geist zu einer Präzisionswaffe machen.«
»Warum dieser kriegerische Vergleich?«
»Jedes Kunstwerk ist aggressiv, Isabella. Und jedes Künstlerleben ist ein kleiner oder großer Krieg, angefangen bei einem selbst und den eigenen Beschränkungen. Um zu erreichen, was man sich vorgenommen hat, braucht man vor allem Ehrgeiz, dann Talent, Wissen und schließlich eine Chance.«
Sie wog meine Worte ab.
»Haben Sie diesen Vortrag schon öfter gehalten, oder ist er Ihnen eben eingefallen?«
»Der Vortrag ist nicht von mir. Es hat ihn mir jemand ›gehalten‹, wie du sagst, dem ich dieselben Fragen gestellt habe wie du mir. Das ist viele Jahre her, aber es vergeht kein Tag, an dem ich nicht erfahre, wie recht er damit hatte.«
»Dann darf ich also Ihre Assistentin werden?«
»Ich werde darüber nachdenken.«
Isabella nickte zufrieden. Sie hatte sich an eine Ecke des Tisches gesetzt, auf der Cristinas Fotoalbum lag. Sie schlug es von hinten auf und besah sich ein Porträt der frischgebackenen Señora Vidal, das zwei oder drei Jahre zuvor vor der Villa Helius aufgenommen worden war. Ich musste schlucken. Isabella klappte das Album wieder zu und ließ den Blick durch die Veranda und dann erneut zu mir gleiten. Ich beobachtete sie ungeduldig. Sie lächelte erschrocken, als hätte ich sie beim Herumschnüffeln ertappt.
»Sie haben eine sehr hübsche Freundin«, sagte sie.
Der Blick, den ich ihr zuwarf, fegte ihr das Lächeln vom Gesicht.
»Das ist nicht meine Freundin.«
»Oh.«
Langes Schweigen.
»Vermutlich heißt die fünfte Regel, ich soll meine Nase nicht in Dinge stecken, die mich nichts angehen, was?«
Ich gab keine Antwort. Isabella nickte für sich selbst und stand auf.
»Dann lasse ich Sie jetzt besser in Frieden und störe nicht weiter für heute. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich morgen wieder, und wir fangen an.«
Sie nahm die Seiten ihrer Erzählung und lächelte mir schüchtern zu. Ich antwortete mit einem Nicken.
Isabella zog sich diskret zurück und verschwand im Flur. Ich hörte ihre Schritte leiser werden und dann die Tür ins Schloss fallen. Als sie weg war, nahm ich zum ersten Mal die Stille wahr, die dieses Haus verhexte.
Vielleicht war es das Übermaß an Koffein in meinen Adern oder auch nur mein Gewissen, das langsam zurückkehrte wie das Licht nach einem Stromausfall — jedenfalls verbrachte ich den Rest des Vormittags damit, einem alles andere als tröstlichen Gedanken nachzuhängen. Dass der Brand, dem Barrido und Escobillas zum Opfer gefallen waren, das Angebot Corellis, von dem ich nichts mehr gehört hatte — was mich stutzig machte —, und das seltsame Manuskript vom Friedhof der Vergessenen Bücher, das vermutlich in diesen vier Wänden verfasst worden war, in keinem Zusammenhang zueinander stehen sollten, war schwer vorstellbar.
Es erschien mir wenig ratsam, ohne vorherige Einladung erneut die Villa von Andreas Corelli aufzusuchen, um ihn über den zeitlichen Zusammenfall des Brandes mit unserem Gespräch zu befragen. Mein Instinkt sagte mir, dass der Verleger selbst verfügen würde, wann er mich Wiedersehen wollte, und was diese unvermeidliche Begegnung betraf, verspürte ich nicht die geringste Eile. Die Ermittlungen rund um das Feuer lagen bereits in der Hand von Inspektor Víctor Grandes und seinen beiden Bullenbeißern Marcos und Castelo, zu deren Lieblingen ich mich zählen durfte. Je größeren Abstand ich hielt, desto besser. So blieb mir nur noch, das Buch und seine Beziehung zum Haus mit dem Turm zu untersuchen. Nachdem ich mir jahrelang eingeredet hatte, es sei kein Zufall, dass ich hier wohnte, bekam diese Vorstellung nun eine ganz andere Bedeutung.
Ich begann an dem Ort, an den ich die meisten der von den ehemaligen Bewohnern zurückgelassenen Gegenstände und Habseligkeiten verbannt hatte. Den Schlüssel zum hintersten Zimmer holte ich aus der Küchenschublade, wo er Jahre gelegen hatte. Seit die Elektriker die Kabel verlegt hatten, hatte ich den Raum nicht mehr betreten. Als ich den Schlüssel ins Schloss steckte, spürte ich einen kalten Luftzug an meinen Fingern und stellte fest, dass Isabella recht gehabt hatte — aus diesem Zimmer drang ein seltsamer Geruch nach verwelkten Blumen und umgegrabener Erde.
Ich öffnete die Tür und riss die Hand vors Gesicht. Der Gestank war gewaltig. Ich tastete an der Wand nach dem Schalter, aber die nackte Glühbirne an der Decke ging nicht an. In dem vom Korridor einfallenden Licht konnte man die Konturen des Stapels von Kisten, Büchern und Koffern sehen, die ich vor Jahren hier untergebracht hatte. Ich betrachtete all das mit Abscheu. Die hintere Wand war vollkommen mit einem großen Eichenschrank verstellt. Ich kniete mich vor eine Schachtel mit alten Fotos, Brillen, Uhren und anderen persönlichen Gegenständen und begann darin zu kramen, ohne genau zu wissen, was ich suchte. Nach einer Weile gab ich das Unterfangen mit einem Seufzer wieder auf. Wenn ich etwas herauszufinden hoffte, musste ich planmäßig vorgehen. Ich war drauf und dran, das Zimmer wieder zu verlassen, als ich hörte, wie sich hinter mir ganz langsam eine Schranktür öffnete. Ein feuchtkalter Luftzug strich mir um den Nacken. Langsam drehte ich mich um. Eine der Türen stand halb auf, sodass man im Innern die alten Kleider und Anzüge an ihren Bügeln hängen sah, zerfressen von der Zeit und sich wiegend wie Algen im Wasser. Der kalte Luftzug und der Gestank kamen von dort. Ich trat näher und öffnete die Türen weit, um die an den Bügeln hängenden Kleider zu teilen. Das Holz der Rückwand war morsch und teilweise gesplittert. Dahinter konnte man eine Gipswand erkennen, in der sich ein etwa zwei Zentimeter breites Loch aufgetan hatte. Ich beugte mich vor, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite befand, aber die Dunkelheit war fast vollkommen. Das schwache Licht aus dem Korridor sickerte durch das Loch und warf einen dunstigen Lichtstreifen auf die andere Seite. Es war nicht viel mehr zu erahnen als abgestandene Luft. Ich näherte mich mit einem Auge dem Loch, um hindurchzuspähen, aber genau in diesem Augenblick krabbelte eine schwarze Spinne heraus. Ich wich jäh zurück, und die Spinne sauste das Schrankinnere hinauf und verschwand im Schatten. Ich machte die Schranktüren zu, verließ das Zimmer und schloss ab. Den Schlüssel legte ich in die oberste Schublade der Kommode im Korridor. Der bisher in diesem Raum gefangene Gestank hatte sich wie Gift bis hierhin ausgebreitet. Ich verfluchte die Stunde, in der es mir in den Sinn gekommen war, diese Tür zu öffnen, und verließ das Haus in der Hoffnung, die im Herzen dieser Wohnung pochende Dunkelheit zu vergessen, und sei es nur für einige Stunden.
Schlechte Ideen kommen selten allein. Zur Feier der Entdeckung dieser verborgenen Dunkelkammer ging ich zu Sempere und Söhne, um den Buchhändler zum Mittagessen in die Maison Dorée einzuladen. Er las gerade in einer kostbaren Ausgabe von Potockis Handschrift von Saragossa und mochte von meinem Vorschlag nichts hören.
»Wenn ich Snobs und sonstige Trottel sehen will, die sich aufspielen und gegenseitig beglückwünschen, brauche ich dafür nicht zu bezahlen, Martín.«
»Seien Sie kein Spielverderber — ich lade Sie ja ein.«
Er lehnte ab. Sein Sohn, der das Gespräch auf der Schwelle zum Hinterzimmer verfolgt hatte, schaute mich zweifelnd an.
»Und wenn ich Ihren Sohn einlade, was dann? Verbieten Sie es mir?«
»Sie müssen selbst wissen, wofür Sie Zeit und Geld verschwenden. Ich bleibe hier und lese, das Leben ist kurz.«
Sempere junior war ein Musterbeispiel an Schüchternheit und Verschwiegenheit. Obwohl wir uns von Kindesbeinen an kannten, konnte ich mich nicht entsinnen, mit ihm mehr als drei, vier Unterhaltungen geführt zu haben, die länger als fünf Minuten gedauert hätten. Ich kannte an ihm weder Laster noch Sünden. Dagegen wusste ich aus verlässlicher Quelle, dass er bei den Mädchen des Viertels als der offizielle Frauenschwarm und gute Partie galt. Mehr als eine kam unter irgendeinem Vorwand zur Buchhandlung und blieb seufzend vor dem Schaufenster stehen, doch Semperes Sohn, wenn er es denn überhaupt bemerkte, unternahm nie einen Schritt, um diese Wechsel auf Ergebenheit und schmachtende Lippen einzulösen. Jeder andere hätte mit einem Zehntel dieses Kapitals eine glänzende Karriere als Windhund gemacht. Jeder außer Sempere junior, bei dem man manchmal nicht wusste, ob man ihn seligsprechen sollte.
»Wenn das so weitergeht, bekommt er noch einen Heiligenschein«, lamentierte Sempere bisweilen.
»Haben Sie schon mal versucht, ihm ein wenig Paprika in die Suppe zu geben, um an den Schlüsselstellen die Bewässerung zu stimulieren?«, fragte ich.
»Lachen Sie nur, Sie Halunke, ich bin bald siebzig und habe noch immer keinen gottverdammten Enkel.«
Wir wurden von dem Oberkellner empfangen, den ich von meinem letzten Besuch her noch in Erinnerung hatte, allerdings ohne serviles Lächeln oder Willkommensgeste. Als ich ihm sagte, ich hätte nicht reserviert, nickte er verächtlich und schnippte mit den Fingern einen Hilfskellner herbei, der uns formlos an den schlechtesten Tisch des Saals führte, neben der Küchentür in einem dunklen, lauten Winkel. In den folgenden fünfundzwanzig Minuten bequemte sich niemand an unseren Tisch, nicht einmal, um uns die Karte oder ein Glas Wasser zu bringen. Das Personal ging türenschlagend vorbei, ohne uns und unsere Winke auch nur im Geringsten zur Kenntnis zu nehmen.
»Meinen Sie nicht, wir sollten wieder gehen?«, fragte Sempere junior schließlich. »Ich komme gut mit einem belegten Brötchen aus, egal, wo…«
Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sie hereinkamen. In Begleitung des Oberkellners und zweier Kellner, die sich in Beglückwünschungen ergingen, steuerten Vidal und seine Gattin ihren Tisch an. Sie nahmen Platz, und zwei Minuten später setzte die Prozession der Gäste ein, die einer nach dem anderen an Vidals Tisch traten, um ihm zu gratulieren. Er empfing sie mit gottgleicher Gnade und entließ sie kurz darauf wieder. Der junge Sempere, der die Situation erfasst hatte, beobachtete mich.
»Martín, fühlen Sie sich gut? Warum gehen wir nicht?«
Ich nickte langsam. Wir standen auf und gingen in größtmöglicher Entfernung von Vidals Tisch an der Wand entlang dem Ausgang zu. Der Oberkellner würdigte uns keines Blickes, und kurz vor dem Ausgang sah ich im Spiegel über dem Türrahmen, wie Vidal sich zu Cristina hinüberbeugte und sie auf die Lippen küsste. Auf der Straße sah mich Sempere gequält an.
»Tut mir leid, Martín.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Es war eine schlechte Wahl, das ist alles. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bitte zu Ihrem Vater…«
»… kein Wort davon«, versicherte er.
»Danke.«
»Keine Ursache. Wie wäre es, wenn ich Sie an einen etwas volkstümlicheren Ort einlade? In der Calle del Carmen gibt es einen ganz außergewöhnlichen Mittagstisch.«
Mir war der Appetit vergangen, aber ich stimmte gern zu.
»Gehen wir.«
Das Lokal befand sich in der Nähe der Bibliothek und servierte günstige Hausmannskost für die Leute aus dem Viertel. Ich rührte das Essen kaum an, obwohl es unendlich viel besser duftete als alles, was ich in der Maison Dorée je erschnuppert hatte. Als der Nachtisch kam, hatte ich ganz allein bereits anderthalb Flaschen Roten geleert und verspürte einen ordentlichen Rausch.
»Sempere, sagen Sie mir eines. Was haben Sie eigentlich dagegen, frisches Blut in ihre Sippe zu bringen? Oder wie sonst erklärt es sich, dass ein junger, gesunder, vom Allmächtigen mit Ihrem Aussehen gesegneter Bürger noch nicht das saftigste Wild seines Reviers erlegt hat?«
Der Buchhändlersohn lachte.
»Was bringt Sie auf den Gedanken, ich hätte es nicht getan?«
Ich führte meinen Zeigefinger an die Nase und zwinkerte ihm zu. Er nickte.
»Auf die Gefahr hin, dass Sie mich für scheinheilig halten — ich mag die Vorstellung, dass ich warte.«
»Worauf? Darauf, dass Sie die Maschinerie nicht mehr in Gang kriegen?«
»Sie reden wie mein Vater.«
»Weise Männer sind sich immer einig.«
»Ich denke, es gibt noch was anderes, oder?«, fragte er.
»Etwas anderes?«
Er nickte.
»Was weiß ich«, sagte ich.
»Ich glaube, Sie wissen es durchaus.«
»Tja, so ist es wohl.«
Ich wollte mir nachschenken, aber Sempere hielt mich zurück.
»Vorsicht«, murmelte er.
»Sehen Sie, wie scheinheilig Sie sind?«
»Jeder ist, wie er ist.«
»Dem kann abgeholfen werden. Was halten Sie davon, wenn wir beide jetzt auf Brautschau gehen?«
Er sah mich mitleidig an.
»Martín, ich glaube, Sie gehen jetzt besser nach Hause und ruhen sich aus. Morgen ist ein neuer Tag.«
»Sie werden Ihrem Vater doch nicht sagen, dass ich mir einen Affen angetrunken habe, nicht wahr?«
Auf dem Heimweg machte ich in nicht weniger als sieben Kneipen halt, um von ihren Hochprozentigen zu kosten, bis man mich jeweils unter irgendeinem Vorwand auf die Straße setzte und ich nach hundert Metern einen neuen Hafen anlief. Ich war nie ein ausdauernder Trinker gewesen, und so war ich am Abend schließlich sternhagelvoll und wusste nicht einmal mehr, wo ich wohnte. Ich erinnere mich, dass mich zwei Kellner des Gasthauses Ambos Mundos auf der Plaza Real je an einem Arm auf eine Bank vor dem Brunnen schleppten, wo ich in einen tiefen, dunklen Schlaf fiel.
Ich träumte, ich ginge zu Don Pedros Beerdigung. Ein blutiger Himmel überzog das Labyrinth von Kreuzen und Engeln rund um das große Mausoleum der Vidals auf dem Montjuïc-Friedhof. Eine schwarz verschleierte Trauerschar säumte das dunkle Marmorrund, das die Säulen vor dem Mausoleum bildeten. Jeder der Anwesenden trug eine hohe weiße Altarkerze. Im Licht von hundert Flammen wurde der Umriss eines großen, schmerzvoll blickenden Marmorengels auf einem Sockel sichtbar, zu dessen Füßen sich das offene Grab meines Mentors mit einem gläsernen Sarg befand. Vidals Leiche, ganz in Weiß, ruhte mit offenen Augen unter dem Glas. Schwarze Tränen rannen ihm über die Wangen. Die Gestalt der Witwe, Cristina, löste sich aus dem Gefolge und fiel tränenüberströmt vor dem Sarg auf die Knie. Der Reihe nach zogen die Trauernden am Verstorbenen vorbei und legten schwarze Rosen auf den Glassarg, bis er so weit bedeckt war, dass man nur noch das Antlitz sah. Zwei gesichtslose Totengräber senkten den Sarg ins Grab, dessen Grund von einer dicken, dunklen Flüssigkeit überschwemmt war. Der Sarg schwamm auf einem Teppich von Blut, das langsam durch die Ritzen der gläsernen Verschlüsse drang. Nach und nach füllte er sich, und das Blut bedeckte Vidals Leichnam. Bevor sein Gesicht ganz verschwand, bewegte mein Mentor die Augen und schaute mich an. Ein Schwarm schwarzer Vögel flog auf, und ich lief davon und verirrte mich auf den Wegen der unendlichen Totenstadt. Nur durch ein fernes Weinen fand ich wieder zum Ausgang und konnte den Klagen und Bitten der dunklen Schattengestalten entkommen, die sich mir in den Weg stellten und mich anflehten, sie mitzunehmen, um sie aus ihrer ewigen Finsternis zu erretten.
Zwei Polizisten weckten mich mit leichten Knüppelschlägen aufs Bein. Es war schon dunkel geworden, und ich brauchte einige Sekunden, um zu erkennen, ob es sich um reguläre Ordnungskräfte oder um Abgesandte der Parzen mit Sonderauftrag handelte.
»Los, der Herr, ab nach Hause den Rausch ausschlafen, verstanden?«
»Zu Befehl, mein Oberst.«
»Los, los, oder ich werfe Sie in die Arrestzelle, das dürfte weniger lustig sein.«
Er musste es nicht zweimal sagen. Ich stand auf, so gut es ging, und machte mich auf den Heimweg in der Hoffnung, dort anzukommen, bevor mich meine Schritte abermals in eine elende Spelunke führten. Der Weg, für den ich normalerweise zehn oder fünfzehn Minuten gebraucht hätte, kostete mich jetzt das Dreifache an Zeit. Schließlich gelangte ich dank einer glücklichen Drehung in letzter Sekunde vor meine Haustür, wo ich, als wäre ich verflucht, erneut auf Isabella traf, die diesmal im Treppenhaus saß und mich erwartete.
»Sie sind ja betrunken«, sagte sie.
»Das muss ich wohl sein, denn mitten im Delirium tremens war mir, als sähe ich dich um Mitternacht vor meiner Wohnungstür schlafen.«
»Ich konnte sonst nirgends hin. Ich habe mich mit meinem Vater gestritten, und er hat mich rausgeschmissen.«
Ich schloss die Augen und seufzte. Mein von Schnaps und Verbitterung stumpfes Hirn war außerstande, all die Verwünschungen zu formulieren, die mir auf der Zunge lagen.
»Hier kannst du nicht bleiben, Isabella.«
»Bitte, nur für diese eine Nacht. Morgen suche ich mir eine Pension. Ich flehe Sie an, Señor Martín.«
»Schau mich nicht an wie ein Opferlamm«, sagte ich drohend.
»Außerdem ist es Ihre Schuld, wenn ich auf der Straße stehe«, fügte sie hinzu.
»Meine Schuld. Wunderbar. Ob du Talent zum Schreiben hast, weiß ich nicht, aber fieberhafte Phantasie hast du mehr als genug. Darf ich fragen, aus welchem unglücklichen Grund es meine Schuld sein soll, dass dich dein Herr Vater rausgeworfen hat?«
»Wenn Sie betrunken sind, reden Sie seltsam.«
»Ich bin nicht betrunken. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie betrunken. Beantworte meine Frage.«
»Ich sagte meinem Vater, Sie hätten mich als Assistentin eingestellt und fürderhin würde ich mich der Literatur widmen und könne nicht mehr im Laden arbeiten.«
»Was?«
»Können wir hineingehen? Mir ist kalt, und mein Hintern fühlt sich mittlerweile an wie Stein.«
Mein Kopf drehte sich, und Übelkeit erfasste mich. Ich schaute in den durch das Oberlicht eindringenden schwachen Schein hinauf.
»Ist das die Strafe, die mir der Himmel schickt, damit ich Reue empfinde für mein ausschweifendes Leben?«
Neugierig folgte Isabella meinem Blick.
»Mit wem sprechen Sie?«
»Mit niemandem, ich monologisiere. Ein Vorrecht des Betrunkenen. Aber morgen früh werde ich in einen Dialog mit deinem Vater treten, um dieser unsinnigen Geschichte ein Ende zu setzen.«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Er hat geschworen, Sie umzubringen, wenn er Sie sieht. Er hat unter dem Ladentisch eine doppelläufige Flinte versteckt. So ist er. Einmal hat er damit einen Esel erschossen. Es war im Sommer, in der Nähe von Argentona…«
»Halt den Schnabel. Kein Wort mehr. Ruhe.«
Isabella nickte und schaute mich erwartungsvoll an. Ich nahm die Suche nach dem Schlüssel wieder auf. Das war nicht der Moment, mich mit den Schwindeleien dieses geschwätzigen Backfischs auseinanderzusetzen. Was ich brauchte, war, aufs Bett zu fallen und das Bewusstsein zu verlieren, vorzugsweise in dieser Reihenfolge. Zwei Minuten lang suchte ich ohne greifbares Ergebnis. Schließlich sprang mir Isabella wortlos bei und nestelte den Schlüssel aus der Jacketttasche, wo meine Hand hundertmal gesucht hatte. Sie hielt ihn mir unter die Nase, und ich nickte geschlagen.
Isabella öffnete die Wohnungstür und zog mich hoch. Wie einen Invaliden führte sie mich ins Schlafzimmer und half mir, mich aufs Bett zu legen. Sie legte mir ein Kissen unter den Kopf und befreite mich von meinen Schuhen. Verwirrt schaute ich sie an.
»Keine Angst, die Hose werde ich Ihnen nicht ausziehen.«
Sie öffnete die Kragenknöpfe, setzte sich neben mich und sah mich an. Ihr Lächeln war erfüllt von einer Melancholie, für die sie viel zu jung war.
»Ich habe Sie noch nie so traurig gesehen, Señor Martín. Es ist wegen dieser Frau, nicht wahr? Der von der Fotografie.«
Sie ergriff meine Hand und streichelte sie beruhigend.
»Alles geht vorüber, glauben Sie mir. Alles geht vorüber.«
Gegen meinen Willen traten mir Tränen in die Augen, und ich wandte den Kopf ab, damit sie mein Gesicht nicht sah. Isabella löschte das Licht auf dem Nachttisch und blieb neben mir im Halbdunkel sitzen, hörte diesem jämmerlichen Betrunkenen beim Weinen zu; und ohne mich auszufragen oder zu verurteilen, schenkte sie mir ihre Gesellschaft und Güte, bis ich einschlief.
Ich wurde von einem quälenden Kater, der einem Schraubstock um die Schläfen glich, und dem Duft des kolumbianischen Kaffees geweckt. Isabella hatte ein Tischchen mit einer Kanne und einem Teller mit Brot, Käse, Schinken und einem Apfel ans Bett gerückt. Beim Anblick der Speisen wurde mir übel, aber ich langte nach dem frischen Kaffee. Isabella, die mich von der Schwelle aus betrachtet hatte, ohne dass ich es bemerkte, kam mir zuvor und schenkte mir, ein einziges Lächeln, eine Tasse ein.
»Trinken Sie ihn so, sehr stark, er wirkt Wunder.«
Ich nahm die Tasse und trank.
»Wie spät ist es?«
»Ein Uhr mittags.«
Ein leises Schnauben entfuhr mir.
»Wie lange bist du schon wach?«
»Etwa sieben Stunden.«
»Und hast was getan?«
»Sauber gemacht und Ordnung geschaffen, aber hier gibt es Arbeit für Monate.«
Ich nahm einen weiteren großen Schluck.
»Danke«, murmelte ich. »Für den Kaffee. Und fürs Ordnungschaffen und Saubermachen, aber du bist dazu nicht verpflichtet.«
»Ich mache es nicht für Sie, falls das Ihre Sorge ist. Ich mache es für mich. Wenn ich hier wohnen soll, ist mir die Vorstellung lieber, nicht kleben zu bleiben, falls ich mich zufällig irgendwo abstütze.«
»Hier wohnen? Ich dachte, wir hätten gesagt…«
Als ich die Stimme erhob, durchschnitt mir ein schmerzhafter Stich das Wort und den Gedanken.
»Pssst«, flüsterte Isabella.
Ich nickte und gab mich fürs Erste geschlagen. Jetzt konnte und mochte ich nicht mit Isabella streiten. Später, wenn der Kater den Rückzug anträte, wäre immer noch Zeit, sie zu ihrer Familie zurückzubringen. Ich trank die Tasse aus und stand langsam auf. Fünf bis sechs Schmerzensstiche bohrten sich in meinen Kopf. Ein Stöhnen entfuhr mir. Isabella stützte mich am Arm.
»Ich bin kein Invalide. Ich weiß mir schon zu helfen.«
Vorsichtig ließ sie mich los. Ich tat ein paar Schritte auf den Korridor zu. Sie folgte mir dichtauf, als fürchtete sie, ich würde jeden Augenblick zusammenbrechen. Vor dem Bad blieb ich stehen.
»Darf ich allein pinkeln?«
»Zielen Sie genau«, murmelte sie. »Ich stelle Ihnen das Frühstück in die Veranda.«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Sie müssen etwas essen.«
»Bist du mein Lehrmädchen oder meine Mutter?«
»Ich meine es nur gut mit Ihnen.«
Ich suchte hinter der geschlossenen Badezimmertür Zuflucht. Meine Augen brauchten zwei Sekunden, um sich auf das einzustellen, was sie sahen. Das Bad war nicht wiederzuerkennen. Sauber und glänzend. Alles an seinem Ort. Ein neues Stück Seife auf dem Waschbecken. Saubere Handtücher, die ich nicht einmal in meinem Besitz gewusst hatte. Der Geruch nach Lauge.
»Heilige Muttergottes«, murmelte ich.
Ich hielt den Kopf unter den Hahn und ließ das kalte Wasser zwei Minuten lang laufen. Dann trat ich wieder in den Flur hinaus und schlenderte zur Veranda. War das Bad schon nicht wiederzuerkennen, so war die Veranda von einer anderen Welt. Isabella hatte die Fensterscheiben geputzt und den Fußboden gescheuert sowie die Sessel und anderen Möbel zurechtgerückt. Reines, klares Licht fiel durch die Scheiben, und der muffige Geruch war verflogen. Mein Frühstück erwartete mich auf dem Tisch gegenüber dem Sofa, den Isabella mit einer sauberen Decke versehen hatte. Die von Büchern überquellenden Regale schienen neu sortiert, und das Glas der Vitrinen war auf einmal wieder durchsichtig. Isabella hatte mir eine zweite Tasse Kaffee eingeschenkt.
»Ich weiß, was du da im Schilde führst, und es wird nicht funktionieren«, sagte ich.
»Eine Tasse Kaffee einschenken?«
Sie hatte die in Stapeln auf Tischen und in Ecken verteilten Bücher geordnet. Sie hatte die seit über einem Jahrzehnt überquellenden Zeitungsständer geleert. In nur sieben Stunden hatte sie mit ihrem Eifer und ihrer bloßen Anwesenheit Jahre der Düsterkeit und Finsternis weggefegt, und noch immer fand sie Zeit und Lust zu lächeln.
»Vorher hat es mir besser gefallen«, sagte ich.
»Sicher. Ihnen und den hunderttausend Kakerlaken, die Sie in Untermiete hatten und die ich mit frischer Luft und Ammoniak davongejagt habe.«
»Das also ist dieser grässliche Gestank?«
»Der grässliche Gestank ist der Geruch von Sauberkeit«, protestierte sie. »Sie könnten auch ein wenig dankbar sein.«
»Bin ich auch.«
»Merkt man aber nicht. Morgen geh ich ins Arbeitszimmer hinauf und…«
»Untersteh dich!«
Sie zuckte die Achseln, aber ihr Blick behielt seine Entschlossenheit, und ich wusste, dass vierundzwanzig Stunden später das Arbeitszimmer im Turm für immer verändert sein würde.
»Übrigens habe ich heute Morgen einen Briefumschlag im Vorraum gefunden. Jemand muss ihn gestern Abend unter der Tür durchgeschoben haben.«
Ich schaute sie über die Tasse hinweg an.
»Die Eingangstür unten ist abgeschlossen«, sagte ich.
»Das dachte ich auch. Es kam mir auch sehr merkwürdig vor, und obwohl Ihr Name drauf steht…«
»… hast du ihn geöffnet.«
»Ich fürchte, ja. Es ist ganz ohne Absicht geschehen.«
»Isabella, die Post anderer Leute zu öffnen ist ziemlich ungezogen. An manchen Orten steht darauf sogar Gefängnis.«
»Das sage ich meiner Mutter auch immer, die es nicht lassen kann, meine Briefe zu öffnen. Und sie ist immer noch auf freiem Fuß.«
»Wo ist der Brief?«
Sie zog einen Umschlag aus der Schürzentasche und reichte ihn mir mit einem ausweichenden Blick. Er war aus dickem, porösem, elfenbeinfarbenem Papier mit gezackten Rändern, und es zierten ihn das rote — erbrochene — Lacksiegel des Engels und mein Name in karmesinroter, parfümierter Tinte. Ich öffnete ihn und zog ein zusammengefaltetes Blatt heraus.
Verehrter David,
ich hoffe, Sie sind wohlauf und haben die vereinbarte Summe problemlos auf ein Konto einzahlen können. Was halten Sie davon, wenn wir uns heute Abend bei mir treffen, um mit der Erörterung der Einzelheiten unseres Projekts zu beginnen? Gegen zehn Uhr wird ein leichtes Abendessen aufgetragen. Ich erwarte Sie.
Ich faltete das Blatt zusammen und steckte es wieder in den Umschlag. Isabella betrachtete mich neugierig.
»Gute Nachrichten?«
»Nichts, was dich etwas anginge.«
»Wer ist dieser Señor Corelli? Er hat eine schöne Schrift, nicht so wie Sie.«
Ich schaute sie streng an.
»Wenn ich Ihre Assistentin sein soll, muss ich doch wissen, mit wem Sie Umgang pflegen. Falls ich jemanden vor die Tür setzen soll.«
Ich schnaubte.
»Er ist Verleger.«
»Er muss gut sein, schauen Sie nur, was für Briefpapier und Umschläge er verwendet. Was für ein Buch schreiben Sie denn für ihn?«
»Nichts, was dich etwas anginge.«
»Wie soll ich Ihnen helfen, wenn Sie mir nicht sagen wollen, woran Sie arbeiten? Nein, besser, Sie antworten nicht. Ich schweige ja.«
Zehn gesegnete Sekunden lang schwieg sie. Dann fragte sie:
»Wie ist dieser Señor Corelli?«
Ich schaute sie kühl an.
»Eigen.«
»Gleich und Gleich… Ich sag ja nichts.«
Als ich dieses junge Mädchen mit dem edelmütigen Herzen so anschaute, fühlte ich mich, sofern das überhaupt möglich war, noch elender. Mir wurde klar, dass ich sie wegschicken musste, je eher, desto besser für uns beide.
»Warum schauen Sie mich so an?«
»Heute Abend werde ich ausgehen, Isabella.«
»Soll ich Ihnen etwas zu essen vorbereiten? Werden Sie sehr spät zurückkommen?«
»Ich werde auswärts essen und weiß nicht, wann ich zurückkomme, aber wann es auch sein mag, ich will, dass du gegangen bist, wenn ich komme. Ich will, dass du deine Siebensachen mitnimmst und gehst. Wohin, ist mir egal. Hier ist kein Platz für dich. Verstanden?«
Sie wurde bleich, und ihre Augen flossen über. Sie biss sich auf die Lippen und lächelte mir mit Tränen auf den Wangen zu.
»Ich bin überflüssig. Ich verstehe.«
»Und mach nicht weiter sauber.«
Ich stand auf, ließ sie in der Veranda stehen und verkroch mich im Arbeitszimmer im Turm. Ich öffnete die Fenster. Von unten drang Isabellas Weinen herauf. Ich betrachtete die in der Mittagssonne daliegende Stadt und schaute dann zum anderen Ende hinauf, wo ich beinahe die glänzenden Ziegel auf der Villa Helius zu sehen glaubte und mir Cristina, Señora Vidal, vorstellte, wie sie oben von den Turmfenstern zum Ribera-Viertel herabschaute. Etwas Dunkles, Trübes legte sich mir aufs Herz. Ich vergaß Isabellas Tränen und sehnte nur noch die Begegnung mit Corelli herbei, um mit ihm über das verdammte Buch zu sprechen.
Ich blieb im Arbeitszimmer im Turm, bis sich die Dämmerung über der Stadt ausbreitete wie Blut im Wasser. Es war heiß, heißer als den ganzen Sommer über, und die Dächer des Viertels flirrten im Dunst. Ich ging in die Wohnung hinunter und zog mich um. Alles war still, die Jalousien in der Veranda waren halb heruntergelassen und die Scheiben in ein bernsteinfarbenes Licht getaucht, das bis in den Korridor hinein schien.
»Isabella?«, rief ich.
Ich erhielt keine Antwort. Ich schaute in die Veranda und sah, dass sie gegangen war. Davor hatte sie es sich nicht nehmen lassen, Ignatius B. Samsons gesammelte Werke, die in einer jetzt makellos glänzenden Vitrine jahrelang verstaubt und vergessen waren, zu ordnen und zu reinigen. Eines der Bücher hatte sie, in der Mitte aufgeschlagen, auf ein Stehpult gelegt. Ich las aufs Geratewohl eine Zeile und hatte das Gefühl, in eine Zeit zurückzureisen, in der alles ebenso einfach wie unvermeidlich schien.
»›Ein Gedicht wird mit Tränen geschrieben, ein Roman mit Blut und die Geschichte mit Lappalien‹, sagte der Kardinal, während er die Messerschneide im Licht des Kandelabers mit Gift bestrich.«
Die bemühte Naivität dieser Zeilen entlockte mir ein Lächeln und weckte erneut einen Verdacht, der mich nie ganz verlassen hatte: Vielleicht wäre es für alle, vor allem für mich selbst, besser gewesen, wenn Ignatius B. Samson nie aus dem Leben geschieden wäre und David Martín seinen Platz überlassen hätte.
Es wurde bereits dunkel, als ich aus dem Haus ging. Wärme und Feuchtigkeit hatten zahllose Nachbarn mit Stühlen auf die Straße hinausgetrieben, um in den Genuss einer Brise zu kommen, die nicht aufkommen wollte. Ich wich den Grüppchen vor den Hauseingängen und an den Ecken aus und wandte mich zum Francia-Bahnhof, wo immer zwei, drei Taxis auf Kundschaft warteten. Ich stieg ins erste der Reihe. Wir brauchten etwa zwanzig Minuten für den Weg quer durch die Stadt und hinauf auf den Hügel mit dem geisterhaften Wald des Architekten Gaudí. Die Lichter von Corellis Haus waren schon von weitem zu sehen.
»Ich wusste nicht, dass hier jemand wohnt«, bemerkte der Fahrer.
Sowie ich ihm die Fahrt bezahlt und ein Trinkgeld ausgehändigt hatte, suchte er in aller Eile das Weite. Ich blieb einige Augenblicke stehen, um die seltsame Stille dieses Ortes zu genießen. Kaum ein Blatt bewegte sich im Wald. In alle Richtungen dehnte sich der Sternenhimmel mit einigen hingepinselten Wolken aus. Ich konnte meinen eigenen Atem, das leichte Rascheln meiner Kleider beim Gehen, meine sich der Tür nähernden Schritte hören. Ich zog an der Klingel und wartete.
Wenig später wurde geöffnet. Ein Mann mit schlaffem Blick und schlaffen Schultern nickte angesichts meines Erscheinens und bat mich herein. Seine Gewandung wies ihn als eine Art Butler oder Diener aus. Er gab keinen Laut von sich. Ich folgte ihm durch den von Porträts gesäumten Korridor, an dessen Ende er mir den Vortritt in den großen Salon ließ, von dem aus man auf die ganze Stadt hinuntersah. Mit einer leichten Verneigung ließ er mich allein und zog sich ebenso langsam zurück, wie er mich begleitet hatte. Ich trat an die hohen Fenster und spähte, auf Corelli wartend, zwischen den Gardinen hindurch. Nach zwei Minuten bemerkte ich, dass mich aus einer Ecke des Salons eine Gestalt beobachtete. Der Mann saß vollkommen reglos in einem Sessel am Rand des Lichtscheins einer Öllampe, sodass nur die Beine und die auf den Armlehnen ruhenden Hände beleuchtet waren. Ich erkannte ihn an seinen glänzenden Augen, die nie blinzelten, und am Widerschein des Öllichts auf der Engelsbrosche, die stets an seinem Revers steckte. Sowie ich ihn ins Auge fasste, stand er auf und kam mit raschen, allzu raschen Schritten auf mich zu. Das wölfische Lächeln auf seinen Lippen ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
»Guten Abend, Martín.«
Ich nickte und versuchte zurückzulächeln.
»Ich habe Sie schon wieder erschreckt«, sagte er. »Das tut mir leid. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, oder wollen wir ohne große Vorreden zum Essen schreiten?«
»Ehrlich gesagt, ich habe gar keinen Hunger.«
»Zweifellos die Hitze. Lassen Sie uns doch in den Garten gehen und uns dort unterhalten.«
Der schweigsame Butler erschien, um die Türen zum Garten zu öffnen, wo ein von Kerzen auf Porzellantellern gesäumter Weg zu einem weißen Metalltisch mit zwei Stühlen führte. Die Kerzen brannten mit aufrechten Flammen und ohne jedes Flackern. Der Mond tauchte alles in ein schwaches, bläuliches Licht. Ich setzte mich, und Corelli tat ein Gleiches, während uns der Butler aus einem Krug zwei Gläser von etwas einschenkte, was wie Wein oder irgendein Likör aussah ich hatte nicht vor, davon zu kosten. Im Licht des Dreiviertelmondes erschien Corelli jünger, seine Gesichtszüge schärfer. Er schaute mich mit an Gier grenzender Intensität an.
»Irgendetwas beunruhigt Sie, Martín.«
»Vermutlich haben Sie von dem Brand gehört.«
»Ein bedauerliches Ende und dennoch von poetischer Gerechtigkeit.«
»Sie finden es gerecht, dass zwei Menschen auf diese Art umkommen?«
»Fänden Sie eine weniger brutale Art akzeptabler? Gerechtigkeit ist eine gekünstelte Sichtweise, kein universeller Wert. Ich mag keine Bestürzung vortäuschen, die ich nicht empfinde, und Sie vermutlich ebenso wenig, sosehr Sie es auch versuchen. Aber wenn es Ihnen lieber ist, können wir ruhig eine Schweigeminute einlegen.«
»Das wird nicht nötig sein.«
»Natürlich nicht. Das ist nur nötig, wenn man nichts von Wert zu sagen hat. Im Schweigen erscheinen selbst Narren als Weise. Beunruhigt Sie sonst noch irgendetwas, Martín?«
»Die Polizei scheint anzunehmen, dass ich etwas mit dem Vorfall zu tun habe. Sie haben sich nach Ihnen erkundigt.«
Corelli nickte unbesorgt.
»Die Polizei muss ihre Arbeit tun und wir die unsere. Wollen wir es dabei bewenden lassen?«
Ich nickte langsam. Corelli lächelte.
»Vor einer Weile, als ich auf Sie wartete, ist mir klar geworden, dass zwischen Ihnen und mir noch eine kleine Unterhaltung aussteht, reine Formsache. Je eher wir das hinter uns bringen, desto schneller kommen wir zur Sache. Zuallererst möchte ich Sie fragen, was für Sie Glaube bedeutet.«
Ich zögerte einige Augenblicke.
»Ich bin nie ein frommer Mensch gewesen. Ich zweifle eher, als dass ich glaube oder nicht glaube. Mein Glaube ist der Zweifel.«
»Sehr klug und sehr bürgerlich. Aber indem man Bälle ins Aus befördert, gewinnt man kein Spiel. Warum, würden Sie sagen, tauchen in der Geschichte immer wieder Glaubenslehren auf, um dann wieder zu verschwinden?«
»Ich weiß es nicht. Vermutlich aus gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen Gründen. Sie sprechen mit einem, der als Zehnjähriger von der Schule abgegangen ist. Geschichte ist nicht meine Stärke.«
»Die Geschichte ist die Müllhalde der Biologie, Martín.«
»Offenbar habe ich geschwänzt, als wir das gelernt haben.«
»Das lernt man nicht im Klassenzimmer, Martín. Das lehren uns die Vernunft und die Beobachtung der Wirklichkeit. Es ist die Lektion, die niemand lernen will, die wir also am genauesten analysieren müssen, um gute Arbeit zu leisten. Jede Gelegenheit zu einem Geschäft entspringt der Unfähigkeit der anderen, ein einfaches, unvermeidliches Problem zu lösen.«
»Sprechen wir nun von Religion oder von Wirtschaft?«
»Die Wahl der Nomenklatur überlasse ich Ihnen.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, deuten Sie an, der Glaube, also der Akt, an Mythen oder Ideologien oder Legenden von übernatürlichen Dingen zu glauben, sei eine Folge der Biologie.«
»Nicht mehr und nicht weniger.«
»Eine etwas zynische Sicht für einen Herausgeber von religiösen Texten«, bemerkte ich.
»Eine professionelle, leidenschaftslose Sicht«, präzisierte Corelli. »Der Mensch glaubt, wie er atmet — um zu überleben.«
»Ist das Ihre Theorie?«
»Das ist keine Theorie, das ist Statistik.«
»Ich denke, mindestens drei Viertel der Welt wären mit dieser Behauptung nicht einverstanden.«
»Natürlich. Wären sie einverstanden, so wären sie keine potenziellen Gläubigen. Man kann niemanden von etwas wirklich überzeugen, was er nicht aus biologischem Zwang zu glauben genötigt ist.«
»Sie wollen also sagen, es liegt in unserer Natur, als Betrogene zu leben?«
»Es liegt in unserer Natur zu überleben. Der Glaube ist eine instinktive Antwort auf Aspekte des Daseins, die wir nicht anders erklären können, sei es das moralische Vakuum, das wir im Universum wahrnehmen, die Gewissheit des Todes, das Rätsel vom Ursprung der Dinge oder der Sinn des Lebens — oder sein Fehlen. Das sind ganz einfache, elementare Fragen, aber unsere eigenen Beschränkungen hindern uns daran, darauf eine klare Antwort zu geben, und daher legen wir uns zur Abwehr eine emotionale Antwort zurecht. Das ist schlichte, reine Biologie.«
»Dann wäre also jeder Glaube, jedes Ideal nichts weiter als eine Fiktion.«
»Das gilt notgedrungen für jede Interpretation oder Beobachtung der Wirklichkeit. In diesem Fall besteht das Problem darin, dass der Mensch ein in einem amoralischen Universum ausgesetztes moralisches Tier ist, verdammt zu einem endlichen Leben ohne weitere Bedeutung als die, den natürlichen Kreislauf der Spezies aufrechtzuerhalten. Es ist unmöglich, für längere Zeit in der Realität zu überleben, wenigstens für einen Menschen. Wir verbringen das Leben zum großen Teil träumend, vor allem, wenn wir wach sind. Wie gesagt, schlichte Biologie.«
Ich seufzte.
»Und ich soll also eine Fabel erfinden, die die Leichtgläubigen in die Knie zwingt und davon überzeugt, dass sie das Licht gesehen haben, dass es etwas gibt, woran man glauben, wofür man leben und sterben und sogar töten kann.«
»Ganz genau. Sie sollen aber nichts erfinden, was nicht in der einen oder anderen Form schon erfunden wäre. Ich bitte Sie einfach, mir dabei behilflich zu sein, dem Durstigen zu trinken zu geben.«
»Ein löbliches und frommes Vorhaben«, sagte ich ironisch.
»Nein, eine rein kommerzielle Offerte. Die Natur ist ein großer freier Markt. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage ist eine molekulare Tatsache.«
»Vielleicht sollten Sie sich für diese Arbeit einen Intellektuellen suchen. Was die molekularen und merkantilen Tatsachen angeht, kann ich Ihnen versichern, dass die meisten in ihrem ganzen Leben noch nie hunderttausend Francs beisammen gesehen haben, und ich gehe jede Wette ein, dass sie bereit wären, für einen Bruchteil dieser Summe ihre Seele zu verkaufen — oder zu erfinden.«
Der metallische Glanz in seinen Augen ließ mich vermuten, Corelli würde mir eine weitere seiner bissigen Kurzpredigten halten. Ich vergegenwärtigte mir den Stand meines Kontos bei der Bank Hispano Colonial und dachte, hunderttausend Francs seien wohl eine Messe oder eine Sammlung von Moralpredigten wert.
»Ein Intellektueller ist in der Regel jemand, der sich gerade nicht durch seinen Intellekt auszeichnet«, sagte Corelli. »Er bezeichnet sich selbst als solchen, um das naturgegebene Defizit seiner Fähigkeiten zu kompensieren, das er irgendwie erahnt. Es ist die alte Geschichte: Sage mir, für wen du dich hältst, und ich sage dir, was dir fehlt. Der Inkompetente tritt immer als Fachmann auf, der Grausame als Barmherziger, der Sünder als Frömmler, der Wucherer als Wohltäter, der Schäbige als Patriot, der Arrogante als Demütiger, der Plebejer als edler Herr und der Einfaltspinsel als Intellektueller. Und noch einmal: Die Geschöpfe der Natur haben nichts gemein mit den von den Dichtern besungenen Sylphen, sondern ähneln einer grausamen, gefräßigen Mutter, die sich von ihren eigenen Kindern ernährt, welche sie gebiert und gebiert, um am Leben zu bleiben.«
Corelli und seine Poetik von der grausamen Biologie begannen mir Übelkeit zu verursachen. Die Heftigkeit und Wut seiner Worte berührte mich unangenehm, und ich fragte mich, ob es irgendetwas auf der Welt gab, was ihm nicht widerlich und verachtenswert war, mich eingeschlossen.
»Sie sollten am Palmsonntag in Schulen und Gemeinden inspirierende Kurzvorträge halten. Sie würden rauschenden Beifall ernten«, schlug ich vor.
Corelli lachte kalt.
»Schweifen Sie nicht ab. Was ich suche, ist das Gegenteil eines Intellektuellen, nämlich jemand Intelligentes. Ich habe ihn bereits gefunden.«
»Sie schmeicheln mir.«
»Noch besser — ich bezahle Sie. Und zwar sehr gut, das ist die einzige echte Schmeichelei in dieser käuflichen Welt. Nehmen Sie niemals eine Auszeichnung an, die nicht auf der Rückseite eines Schecks gedruckt ist. Sie kommt nur dem zustatten, der sie verleiht. Und da ich Sie bezahle, erwarte ich, dass Sie mir zuhören und meine Anweisungen befolgen. Sie können mir glauben, ich habe nicht das geringste Interesse daran, Ihre Zeit zu vergeuden. Solange Sie bei mir in Lohn und Brot stehen, ist Ihre Zeit auch meine Zeit.«
Sein Ton war freundlich, aber der stählerne Glanz in seinen Augen ließ keinen Zweifel aufkommen.
»Sie brauchen mich nicht alle fünf Minuten daran zu erinnern.«
»Entschuldigen Sie meinen Nachdruck, lieber Martín. Wenn ich Sie mit all diesen weitschweifigen Reden schwindlig mache, dann, um sie so schnell wie möglich hinter uns zu bringen. Was ich von Ihnen will, ist die Form, nicht der Inhalt. Der Inhalt ist immer derselbe und in der Welt, seit es den Menschen gibt. Er ist seinem Herzen eingeprägt wie eine Seriennummer. Was ich von Ihnen will, ist, dass Sie eine intelligente, verführerische Art finden, die Fragen zu beantworten, die uns allen unter den Nägeln brennen, und dass sie es von Ihrer eigenen Interpretation der menschlichen Seele aus tun und Ihre Kunst und Ihr Handwerk in die Tat umsetzen. Ich will, dass Sie mir eine Erzählung bringen, die die Seele erweckt.«
»Nicht mehr…«
»… und nicht weniger.«
»Sie sprechen davon, Gefühle und Emotionen zu manipulieren. Wäre es nicht leichter, die Leute mit einer rationalen, einfachen und klaren Darlegung zu überzeugen?«
»Nein. Man kann unmöglich mit jemandem in einen rationalen Dialog über Glaubensinhalte und Ideen treten, die er nicht über den Verstand erworben hat. Ganz egal, ob wir von Gott, der Rasse oder seinem Nationalstolz sprechen. Daher brauche ich etwas Wirkungsvolleres als eine schlichte rhetorische Darlegung. Ich brauche die Kraft der Kunst, der Inszenierung. Bei einem Lied ist es der Text, den wir zu verstehen meinen, aber was uns daran glauben lässt oder nicht, ist die Musik.«
Ich versuchte, dieses Kauderwelsch aufzunehmen, ohne dass es mir im Hals steckenblieb.
»Seien Sie unbesorgt, für heute ist Schluss mit den Abhandlungen«, sagte Corelli. »Und jetzt zum Praktischen: Wir beide treffen uns ungefähr alle zwei Wochen. Sie werden mich über Ihre Fortschritte informieren und mir das Geleistete zeigen. Wenn ich Änderungswünsche oder Bemerkungen habe, werde ich es Sie wissen lassen. Das Ganze wird zwölf Monate dauern — falls Sie für die Fertigstellung so lange brauchen. Nach Ablauf dieser Frist werden Sie mir die ganze Arbeit sowie sämtliche Notizen dazu aushändigen, wie es dem alleinigen Inhaber und Garanten der Rechte zusteht, also mir. Ihr Name wird nirgends erscheinen, und Sie verpflichten sich, seine Nennung nach der Abgabe nicht einzufordern sowie mit niemandem, sei es privat oder öffentlich, über die geleistete Arbeit oder die Bestimmungen dieses Abkommens zu reden. Dafür erhalten Sie den bereits geleisteten Vorschuss von hunderttausend Francs und nach Abschluss der Arbeit zu meiner Zufriedenheit eine zusätzliche Vergütung von fünfzigtausend Francs.«
Ich musste schlucken. Man ist sich der Habgier im eigenen Herzen nicht wirklich bewusst, bis man in der Tasche die Silbermünzen klingeln hört.
»Wünschen Sie nicht einen ordnungsgemäß ausgefertigten schriftlichen Vertrag?«
»Das hier ist ein Abkommen unter Gentlemen. Zwischen Ihnen und mir. Und es ist schon besiegelt worden. Ein Gentlemen’s Agreement kann man nicht brechen, weil es den bräche, der es unterschrieben hat«, sagte Corelli in einem Ton, der mich annehmen ließ, ich hätte besser ein Papier unterschrieben, und sei es mit Blut. »Noch irgendeine Frage?«
»Ja. Warum?«
»Ich verstehe Sie nicht, Martín.«
»Wozu wollen Sie dieses Material oder wie Sie es nennen? Was haben Sie damit vor?«
»Gewissensprobleme, Martín — immer noch?«
»Vielleicht halten Sie mich für einen Menschen ohne Grundsätze, aber wenn ich an etwas teilhaben soll, wie Sie es mir vorschlagen, will ich wissen, welchem Zweck es dient. Ich glaube, ich habe ein Recht darauf.«
Corelli lächelte und legte seine Hand auf meine. Bei der Berührung seiner eisigen, marmorglatten Haut erschauerte ich.
»Weil Sie leben wollen.«
»Das klingt irgendwie bedrohlich.«
»Es ist nur eine einfache, freundliche Erinnerung an das, was Sie längst wissen: Sie werden mir helfen, weil Sie leben wollen und weil Sie weder der Preis noch die Folgen interessieren. Weil Sie vor nicht allzu langer Zeit an der Schwelle des Todes gestanden haben, und jetzt haben Sie eine Ewigkeit vor sich und die Chance auf ein Leben. Sie werden mir helfen, weil Sie ein Mensch sind. Und weil Sie, obwohl Sie es nicht wahrhaben wollen, glauben.«
Ich entzog ihm meine Hand, und er stand auf und ging zum Ende des Gartens.
»Seien Sie unbesorgt, Martín. Alles wird gutgehen. Sie können mir vertrauen«, sagte er in sanftem, einlullendem Ton, fast wie ein Vater.
»Kann ich jetzt gehen?«
»Aber selbstverständlich. Ich will Sie nicht länger als nötig aufhalten. Ich habe unser Gespräch sehr genossen. Jetzt entlasse ich Sie — auf dass Sie sich alles durch den Kopf gehen lassen, worüber wir gesprochen haben. Sie werden sehen, wenn die Verdauungsstörung vorbei ist, werden die wahren Antworten zu Ihnen kommen. Es gibt nichts auf unserem Lebensweg, was wir nicht schon wüssten, lange bevor wir ihn beschreiten. Man lernt nichts Wichtiges im Leben, man erinnert sich bloß.«
Er gab dem schweigsamen Butler, der am Rande des Gartens wartete, ein Zeichen.
»Ein Auto wird Sie nach Hause bringen. Wir sehen uns in zwei Wochen.«
»Hier?«
»Das weiß Gott allein.«
Er leckte sich die Lippen, als erscheine ihm das als köstlicher Witz.
Der Butler trat zu uns und bedeutete mir, ihm zu folgen. Corelli nickte und nahm wieder Platz, den Blick über der fernen Stadt verloren.
Der Wagen wartete vor der Villa. Es war nicht irgendein Automobil, es war ein Sammlerstück, das mich an eine verzauberte Karosse denken ließ, eine Kathedrale auf Rädern mit technisch vollkommenen Verchromungen und Kurven und einem silbernen Engel als Galionsfigur auf der Motorhaube. Kurzum, ein Rolls-Royce. Der Butler öffnete die Tür und verabschiedete mich mit einer Verneigung. Das Innere erinnerte eher an ein Hotelzimmer als an ein Motorfahrzeug. Sowie ich mich im Sitz zurückgelehnt hatte, startete der Wagen und fuhr den Hügel hinunter.
»Kennen Sie die Adresse?«, fragte ich.
Der Fahrer, eine dunkle Gestalt auf der anderen Seite einer Glasscheibe, nickte. In der betäubenden Stille dieser Metallkutsche, die kaum den Boden zu berühren schien, fuhren wir quer durch Barcelona. Durch die Fenster sah ich Straßen und Häuser wie Felswände unter Wasser vorübergleiten. Es war bereits nach Mitternacht, als der schwarze Wagen in die Calle Comercio einbog und dann auf dem Paseo del Born an der Einmündung der Calle Flassaders stehen blieb, die zu eng für ihn war. Der Fahrer stieg aus und öffnete mit einer Verneigung die Tür. Ich stieg aus, er schloss die Tür und stieg wortlos wieder ein. Ich sah die dunkle Silhouette davonrollen und in einem Schattenschleier zerfließen. Ich fragte mich, was ich da getan hatte, obwohl ich die Antwort gar nicht wissen wollte. Mit dem Gefühl, die ganze Welt sei ein Gefängnis ohne Entrinnen, ging ich nach Hause.
In der Wohnung stieg ich direkt ins Arbeitszimmer hinauf, wo ich nach allen Seiten hin die Fenster öffnete, um die schwülheiße Brise hereinzulassen. Auf einigen Dächern des Viertels konnte man Gestalten auf Matratzen und Laken sehen, die der erstickenden Hitze zu entkommen und Schlaf zu finden suchten. In der Ferne erhoben sich rauchend wie Scheiterhaufen die drei Schlote des Paralelo und breiteten eine Decke aus weißer Asche über Barcelona aus, wie Staub aus Glas; aus der Nähe erinnerte mich die Statue der Merce, die von der Kirchenkuppel aufflog, an den Engel des Rolls-Royce und den an Corellis Revers. Ich spürte, dass die Stadt nach vielen Monaten des Schweigens wieder mit mir sprach und mir ihre Geheimnisse erzählte.
Da sah ich in dem elenden engen Tunnel zwischen alten Häusern der Calle de las Moscas, der Fliegenstraße, auf einer Eingangsstufe zusammengekauert Isabella sitzen. Ich fragte mich, wie viel Zeit sie da schon verbracht haben mochte, und fand, das sei mir egal. Eben wollte ich das Fenster schließen und mich an den Schreibtisch zurückziehen, als ich sah, dass sie nicht mehr allein war. Vom Straßenende her näherten sich ihr langsam zwei Gestalten, vielleicht allzu langsam. Mit einem Seufzer wünschte ich, sie möchten an ihr vorbeigehen, ohne sie zu beachten. Aber das taten sie nicht. Einer von ihnen postierte sich auf der anderen Seite und blockierte so den Ausgang der Gasse. Der andere kniete sich vor das junge Mädchen und streckte den Arm nach ihr aus. Sie bewegte sich. Einen Augenblick später schlossen sich die beiden Gestalten um Isabella zusammen, und ich hörte sie aufschreien.
Ich brauchte etwa eine Minute. Als ich unten eintraf, hielt einer der beiden Männer Isabella an den Armen fest, der andere hatte ihren Rock hochgestülpt. Ein Ausdruck der Panik verzerrte ihr Gesicht. Der Mann, der sich zwischen ihren Schenkeln grinsend einen Weg suchte, hielt ihr ein Messer an den Hals, das drei blutige Linien gezogen hatte. Ich sah mich um. Zwei Kisten Schutt und ein Stapel Pflastersteine und Baumaterialien waren an einer Hauswand aufgetürmt. Ich packte etwas, was sich als massive Eisenstange von einem halben Meter Länge entpuppte. Als Erster erblickte mich der mit dem Messer. Die Stange schwingend, tat ich einen Schritt auf ihn zu. Sein Blick sprang von der Stange zu meinen Augen, und das Grinsen gefror ihm auf den Lippen. Der andere drehte sich um und sah mich mit erhobener Stange auf sich zukommen. Ein Zeichen mit dem Kopf genügte, damit er Isabella losließ und sich eilig hinter seinem Kumpan verschanzte.
»Los, hauen wir ab«, zischte er.
Der andere reagierte nicht. Er starrte mich mit feurigen Augen und dem Messer in der Hand an.
»Was hast du hier verloren, du Hundesohn?«
Ich nahm Isabella am Arm und half ihr auf, ohne den anderen aus den Augen zu lassen. Ich suchte die Schlüssel in meiner Tasche und gab sie ihr.
»Geh nach Hause«, sagte ich. »Tu, was ich dir sage.«
Sie zögerte einen Augenblick, aber dann hörte ich ihre Schritte sich in Richtung Calle Flassaders entfernen. Der Typ mit dem Messer sah sie davonlaufen und grinste wütend.
»Du Schweinehund, dich werde ich aufschlitzen.«
Ich bezweifelte nicht, dass er imstande und willens war, seine Drohung wahr zu machen, aber etwas in seinem Blick ließ mich annehmen, dass er alles andere als ein Dummkopf war und es nur deshalb noch nicht getan hatte, weil er sich fragte, wie schwer wohl die Metallstange war, und vor allem, ob ich Kraft, Mut und Zeit hätte, ihm damit den Schädel zu spalten, bevor er seine Klinge in mich rammen konnte.
»Versuch’s doch«, forderte ich ihn auf.
Mehrere Sekunden lang hielt er meinem Blick stand, dann lachte er. Erleichtert seufzte sein Begleiter auf. Der Typ klappte das Messer zusammen und spuckte mir vor die Füße. Dann drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit, aus der er gekommen war, und sein Kollege trottete wie ein treuer Hund hinter ihm her.
Ich fand Isabella zusammengekauert auf der Treppe im Haus mit dem Turm. Sie zitterte und hielt die Schlüssel mit beiden Händen fest. Als sie mich hereinkommen sah, schoss sie hoch.
»Soll ich einen Arzt holen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Bist du sicher?«
»Sie hatten es noch nicht geschafft, mir etwas anzutun«, murmelte sie und schluckte ihre Tränen hinunter.
»So hat es aber nicht ausgesehen.«
»Sie haben mir nichts getan, einverstanden?«
»Einverstanden.«
Ich wollte sie am Arm nehmen, als wir die Treppe hinaufstiegen, doch sie entzog sich der Berührung.
In der Wohnung begleitete ich sie zum Badezimmer und machte Licht.
»Hast du frische Wäsche mit?«
Sie deutete auf ihre Tasche und nickte.
»Los, wasch dich, während ich etwas zu essen mache.«
»Wie können Sie jetzt Hunger haben?«
»Habe ich nun mal.«
Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Ich eigentlich auch…«
»Dann verlieren wir kein Wort mehr darüber«, sagte ich.
Ich schloss die Badezimmertür und wartete, bis ich den Hahn hörte, ging in die Küche und setzte Wasser auf. Es war noch etwas Reis da, Speck und Gemüse, das Isabella am Vortag mitgebracht hatte, und aus alledem improvisierte ich ein Resteessen. In den nahezu dreißig Minuten, die ich wartete, bis Isabella aus dem Bad kam, trank ich eine halbe Flasche Wein. Durch die Wand hörte ich sie wütend weinen. Als sie mit geröteten Augen in der Küchentür erschien, sah sie mehr nach kleinem Mädchen aus denn je.
»Ich weiß nicht, ob ich noch Hunger habe«, murmelte sie.
»Setz dich und iss.«
Wir setzten uns an den kleinen Tisch mitten in der Küche. Leicht misstrauisch musterte Isabella ihren Teller mit Reis und mehreren Zutaten, den ich vor sie hingestellt hatte.
»Iss«, befahl ich.
Sie nahm probeweise einen Löffel und führte ihn zum Mund.
»Schmeckt gut«, sagte sie.
Ich schenkte ihr ein halbes Glas Wein ein und füllte es mit Wasser auf.
»Mein Vater lässt mich keinen Wein trinken.«
»Ich bin nicht dein Vater.«
Wir aßen schweigend und sahen uns ab und zu an. Isabella putzte ihren Teller leer und verschlang auch das Stück Brot, das ich ihr abgeschnitten hatte. Sie lächelte schüchtern und merkte nicht, dass der Schrecken sie noch gar nicht richtig gepackt hatte. Dann begleitete ich sie zur Tür ihres Zimmers und knipste das Licht an.
»Versuch ein wenig zu schlafen«, sagte ich. »Wenn du etwas brauchst, klopfst du an die Wand. Ich bin im Nebenzimmer.«
Sie nickte.
»Ich habe Sie schon neulich nachts schnarchen hören.«
»Ich schnarche nicht.«
»Dann waren es wohl die Leitungen. Oder irgendein Nachbar, der einen Bären hat.«
»Noch ein Wort und du fliegst raus.«
Sie lächelte und nickte.
»Danke«, flüsterte sie. »Schließen Sie die Tür nicht ganz, bitte. Lassen Sie sie angelehnt.«
»Gute Nacht«. Ich machte das Licht aus und ließ sie im Halbdunkel allein.
Später, während ich mich in meinem Zimmer auszog, sah ich im Spiegel, dass ich eine dunkle Spur auf der Wange hatte, wie eine schwarze Träne. Ich wischte sie mit den Fingern weg — es war eingetrocknetes Blut. Erst da merkte ich, wie erschöpft ich war und wie sehr mein ganzer Körper schmerzte.
Noch bevor Isabella am nächsten Morgen erwachte, ging ich zum Kolonialwarenladen ihrer Eltern in der Calle Mirallers. Es wurde gerade erst hell, und der Metall-Rollladen war halb hochgezogen. Ich schlüpfte hinein und sah mich zwei jungen Burschen gegenüber, die Teedosen und andere Waren auf den Ladentisch stapelten.
»Es ist geschlossen«, sagte der eine. »Sieht aber nicht so aus. Bitte holen Sie den Inhaber.«
Während des Wartens studierte ich das Schlaraffenland der undankbaren Erbin Isabella, die in ihrer unendlichen Unschuld den Verlockungen des Kommerzes abgeschworen hatte, um sich dem Elend der Literatur zu opfern. Der Laden war ein mit Wunderdingen aus allen Ecken der Welt bestückter kleiner Basar. Marmeladen, Süßigkeiten und Tees, Kaffees, Spezereien und Konserven, Obst und luftgetrocknetes Fleisch, Schokoladen und geräucherte Wurstwaren. Ein Schlemmerparadies für gutgepolsterte Taschen. Binnen kurzem erschien in blauem Kittel Don Odón, Vater des bewussten Geschöpfs und Ladeninhaber mit Marschallsschnauzer und einer bestürzten Miene, die aussah, als wäre er einem Infarkt erschreckend nah. Ich beschloss, die Artigkeiten wegzulassen.
»Ihre Tochter sagt mir, Sie besäßen eine doppelläufige Flinte, mit der Sie mich umzubringen geschworen hätten«, sagte ich und breitete die Arme aus. »Da bin ich.«
»Wer sind Sie, Sie unverschämter Kerl?«
»Ich bin der unverschämte Kerl, der ein junges Mädchen hat aufnehmen müssen, weil ihr Hosenscheißer von Vater nicht in der Lage ist, sie in Schach zu halten.«
Der Zorn glitt aus seinem Gesicht, und er setzte ein verzagtes Lächeln auf.
»Señor Martín? Ich habe Sie nicht erkannt… Wie geht’s der Kleinen?«
»Die Kleine befindet sich gesund und munter bei mir und schnarcht wie ein Hirtenhund, aber mit unbefleckter Ehre und Tugend.«
Erleichtert bekreuzigte sich der Händler zweimal hintereinander.
»Vergelt’s Gott.«
»Ich wünsche Ihnen, dass Sie das erleben, aber in der Zwischenzeit tun Sie mir bitte den Gefallen, sie im Laufe des heutigen Tages unbedingt bei mir abzuholen, oder ich polier Ihnen die Visage, mit oder ohne Flinte.«
»Flinte?«, flüsterte der Händler verwirrt.
Seine kleingewachsene Frau bespitzelte uns mit nervösem Blick durch den Vorhang, der das Hinterzimmer abtrennte. Irgendetwas sagte mir, dass es nicht zu einer Schießerei käme. Don Odón schien schnaufend in sich zusammenzusacken.
»Wie gern würde ich das tun, Señor Martín. Aber die Kleine will ja nicht hier sein«, sagte er betrübt.
Als deutlich wurde, dass er nicht der Grobian war, als den Isabella ihn mir dargestellt hatte, tat es mir leid, ihn so angefahren zu haben.
»Haben Sie sie denn nicht rausgeworfen?«
Beleidigt riss Don Odón die Augen sperrangelweit auf. Seine Frau trat herzu und nahm seine Hand.
»Wir hatten Streit«, sagte er. »Es sind Worte gefallen, die nicht hätten fallen dürfen, von beiden Seiten. Die Kleine hat aber auch einen Dickschädel, gegen den nicht anzukommen ist… Sie hat gedroht, dass sie wegläuft und wir sie nie wieder zu Gesicht kriegen. Ihrer lieben Mutter ist fast das Herz stehengeblieben. Ich bin laut geworden und habe gesagt, ich werde sie ins Kloster stecken.«
»Dieses Argument verfehlt bei einem jungen Mädchen von siebzehn Jahren seine Wirkung nie«, bemerkte ich.
»Das war das Erste, was mir eingefallen ist… Wie sollte ich sie auch in ein Kloster stecken?«
»Soweit ich sehen konnte, nur mithilfe eines ganzen Regiments Zivilgardisten.«
»Ich weiß ja nicht, was sie Ihnen erzählt hat, Señor Martín, aber glauben Sie ihr nicht. Wir sind zwar keine Feingeister, aber auch keine Ungeheuer. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie ich sie behandeln soll. Ich bin nicht der Mann, der den Gürtel auszieht und sagt, wer nicht hören will, muss fühlen. Und meine Frau Gemahlin da getraut sich nicht mal, die Katze anzuschreien. Ich weiß wirklich nicht, wo die Kleine diesen Charakter herhat. Das kommt sicher vom vielen Lesen. Dabei haben uns die Nonnen gewarnt. Mein seliger Vater hat es schon gesagt: An dem Tag, an dem man die Frauen lesen und schreiben lernen lässt, wird man die Welt nicht mehr regieren können.«
»Ein großer Denker, Ihr Herr Vater, aber das löst weder Ihr Problem noch meines.«
»Was können wir denn tun? Isabella will nicht bei uns bleiben, Señor Martín. Sie sagt, wir sind einfältig, wir verstehen sie nicht, wir wollen sie in diesem Laden begraben… Dabei möchte ich nichts lieber als sie verstehen. Ich arbeite in diesem Laden, seit ich sieben bin, von morgens bis abends, und das Einzige, was ich verstehe, ist, dass es auf der Welt übel zugeht und dass sie kein Pardon kennt mit einem jungen Mädchen, das in den Wolken schwebt«, erklärte er, an ein Fass gelehnt. »Meine größte Angst ist, dass sie uns, wenn ich sie zur Rückkehr zwinge, wirklich wegläuft, und dann fällt sie in die Hände von irgendeinem… Ich mag gar nicht dran denken.«
»So ist es«, fügte seine Frau mit leicht italienischem Akzent hinzu. »Glauben Sie mir, die Kleine hat uns das Herz gebrochen, aber es ist nicht das erste Mal, dass sie verschwindet. Sie ist wie meine Mutter, und die war eine echte Neapolitanerin…«
»Auwei, die mamma«, sagte Don Odón.
»Als sie sagte, sie werde sich für einige Tage bei Ihnen einquartieren und Ihnen bei der Arbeit helfen, waren wir sehr beruhigt«, fuhr Isabellas Mutter fort. »Wir wissen, dass Sie ein guter Mensch sind, und im Grunde ist die Kleine ja gleich nebenan, zwei Straßen weiter. Wir wissen, dass Sie sie dazu bringen werden zurückzukommen.«
Ich fragte mich, was ihnen Isabella über mich erzählt haben mochte, dass sie glaubten, meine Wenigkeit wandle auf Wasser.
»Gestern Abend erst sind einen Steinwurf von hier zwei Tagelöhner auf dem Heimweg zusammengeschlagen worden. Was soll man da sagen. Offenbar sind sie mit einer Eisenstange wie Hunde vertrimmt worden, und beim einen weiß man nicht, ob er überhaupt überlebt — der andere soll für den Rest des Lebens ein Krüppel bleiben«, sagte die Mutter. »In was für einer Welt leben wir eigentlich?«
Don Odón schaute mich bestürzt an.
»Wenn ich sie hole, wird sie wieder ausreißen. Und dann weiß ich nicht, ob sie noch mal jemanden wie Sie findet. Wir wissen schon, dass sich ein junges Mädchen nicht bei einem alleinstehenden Herrn einquartieren sollte, aber bei Ihnen wissen wir wenigstens, dass Sie ehrenwert sind und sich um sie kümmern werden.«
Der Krämer schien gleich in Tränen auszubrechen. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte die Flinte geholt. Es konnte immer noch irgendein neapolitanischer Vetter bei mir aufkreuzen, um mit dem Stutzen die Ehre der Kleinen zu verteidigen. Porca miseria.
»Habe ich Ihr Wort, dass Sie auf sie achtgeben werden, bis sie Vernunft annimmt und zurückkommt?«
Ich schnaubte.
»Sie haben mein Wort.«
Bis an den Hals mit Leckerbissen und Köstlichkeiten beladen, die mir Don Odón und Gattin aufgedrängt hatten, ging ich wieder nach Hause. Die Ladeninhaber hatten mir für Isabellas Unterhalt Geld geben wollen, was ich ablehnte. Mein Plan bestand darin, sie in weniger als einer Woche zum Schlafen wieder nach Hause zu schicken, auch wenn ich dazu die Vorstellung aufrechterhalten musste, tagsüber sei sie meine Assistentin. Es würde mir dadurch kein Zacken aus der Krone fallen.
Als ich nach Hause kam, saß sie am Küchentisch. Sie hatte alle Teller vom Vorabend gespült, Kaffee gemacht und sich angezogen und gekämmt wie eine Bilderbuchheilige. Isabella, die ja nicht auf den Kopf gefallen war, wusste ganz genau, woher ich kam, rüstete sich mit ihrem besten Hundeblick und lächelte mich unterwürfig an. Ich stellte die Tüten mit Don Odóns Delikatessen auf den Spülstein und sah sie an.
»Mein Vater hat nicht mit der Flinte auf Sie geschossen?«
»Die Munition ist ihm ausgegangen, und so hat er mit diesen Marmeladegläsern und Käsestücken nach mir geworfen.«
Sie presste die Lippen zusammen und machte ein entsprechendes Gesicht.
»Also kommt der Name Isabella von der Großmutter?«
»Die mamma«, bestätigte sie. »In ihrem Viertel hieß sie la Vesuvia.«
»Das glaube ich gern.«
»Ich gleiche ihr, scheint’s, ein wenig. Was den Dickkopf angeht.«
»Deine Eltern sind gute Leute, Isabella. Sie verstehen dich nicht weniger als du sie.«
Sie sagte nichts, sondern schenkte mir eine Tasse Kaffee ein und wartete auf das Urteil. Ich hatte zwei Möglichkeiten: Sie vor die Tür zu setzen und das Krämerehepaar tot umfallen zu lassen oder in den sauren Apfel zu beißen und mich zwei, drei Tage in Geduld zu üben. Wahrscheinlich würden achtundvierzig Stunden meiner zynischsten, schneidendsten Art genügen, um die eiserne Entschlossenheit des jungen Mädchens ins Wanken zu bringen und zu erreichen, dass sie zurück an den Rockzipfel ihrer Mutter floh und sie auf Knien um Verzeihung sowie Kost und Logis bat.
»Für den Moment kannst du hierbleiben…«
»Danke!«
»Nicht so voreilig. Du kannst bleiben unter der Bedingung, dass du erstens jeden Tag in den Laden gehst, um deinen Eltern guten Tag zu sagen und sie wissen zu lassen, dass es dir gutgeht, und zweitens, dass du mir gehorchst und die Hausregeln befolgst.«
Das klang zwar patriarchalisch, aber auch viel zu zaghaft. Ich wahrte meinen mürrischen Ausdruck und beschloss, den Ton etwas anzuziehen.
»Welches sind denn die Hausregeln?«
»Grundsätzlich das, was mir gerade in den Sinn kommt.«
»Scheint mir gerecht.«
»Also abgemacht.«
Sie ging um den Tisch herum und umarmte mich dankbar. Ich spürte die Wärme und die festen Formen ihres jungen Mädchenkörpers an meinem. Sanft schob ich sie mindestens einen Meter von mir weg.
»Die erste Regel lautet, dass das hier nicht Betty und ihre Schwestern ist und dass wir uns hier weder umarmen noch bei erstbester Gelegenheit in Tränen ausbrechen.«
»Wie Sie wollen.«
»Das wird das Motto sein, auf das wir unser Zusammenleben gründen: Wie ich will.«
Isabella lachte und huschte in den Flur hinaus.
»Wo gehst du hin?«
»Ins Arbeitszimmer, um sauber zu machen und aufzuräumen. Es soll doch wohl nicht so bleiben, wie es ist, oder?«
Ich brauchte unbedingt einen Ort, wo ich nachdenken konnte und vom häuslichen Eifer und der Putzwut meiner neuen Assistentin verschont blieb. Ich fand ihn unter den Spitzbögen in der großen Halle der Bibliothek, die im ehemaligen mittelalterlichen Hospiz in der Calle del Carmen untergebracht war. Den Rest des Tages verbrachte ich inmitten von Büchern, die nach päpstlicher Gruft rochen, und las in Mythologien und Religionsgeschichten, bis meine Augen auf den Tisch zu purzeln drohten. Nach stundenlanger ununterbrochener Lektüre überschlug ich, dass ich kaum ein Millionstel dessen angekratzt hatte, was unter den Bögen dieses Bücherheiligtums zu finden war, ganz zu schweigen von dem, was über das Thema insgesamt geschrieben worden war. Ich beschloss, am nächsten Tag wiederzukehren, ebenso am übernächsten und so mindestens eine ganze Woche, um den Dampfkessel meines Denkens mit Abertausenden Seiten über Götter, Wunder und Prophezeiungen, Heilige und Erscheinungen, Offenbarungen und Mysterien anzuheizen. Alles, nur nicht an Cristina und Don Pedro und ihr Eheleben denken.
Da ich nun eine emsige Assistentin hatte, wies ich sie an, sich Kopien von den Katechismen und Schulbüchern zu verschaffen, die in der Stadt für den Religionsunterricht verwendet wurden, und mir von jedem einzelnen ein Resümee zu schreiben. Sie stellte die Anordnung zwar nicht infrage, runzelte aber die Stirn, als sie sie empfing.
»Ich will haargenau wissen, wie den Kindern der ganze Klimbim beigebracht wird, von der Arche Noah bis zum Wunder mit den Broten und den Fischen«, erklärte ich.
»Warum denn das?«
»Weil ich so bin und weil ich ein breites Spektrum an Interessen habe.«
»Recherchieren Sie für eine Neufassung von Mein Jesulein fein?«
»Nein. Ich plane eine Romanversion der Abenteuer von Catalina de Erauso. Und du tust ganz einfach, was ich dir sage, und zwar ohne Widerspruch, sonst spedier ich dich in den Laden deiner Eltern zurück, wo du nach Lust und Laune Quittengelee verkaufen kannst.«
»Sie sind ein Despot.«
»Schön, dass wir uns allmählich kennenlernen.«
»Hat es etwas mit dem Buch zu tun, das Sie für diesen Verleger schreiben werden, Corelli?«
»Könnte sein.«
»Mein kleiner Finger sagt mir, dass die Verkaufschancen dieses Buches gleich null sind.«
»Was verstehst denn du davon?«
»Mehr, als Sie denken. Und Sie brauchen sich gar nicht so zu haben — ich versuche Ihnen nur zu helfen. Oder haben Sie etwa beschlossen, das professionelle Schreiben sein zu lassen und nur noch bei Kaffee und Kuchen zu dilettieren?«
»Im Moment habe ich alle Hände voll zu tun, das Kindermädchen zu spielen.«
»Die Diskussion, wer hier wessen Kindermädchen ist, sollten wir besser nicht eröffnen — da gewinne ich um Längen.«
»Und welches Thema sagt Eurer Exzellenz denn zu?«
»Wohlfeile Kunst versus Blödsinn mit Moral.«
»Liebe Isabella, meine kleine Vesuvin: Was wohlfeile Kunst angeht, und jede Kunst, die diesen Namen verdient, ist über kurz oder lang verkäuflich, so liegt die Dummheit fast immer im Auge des Betrachters.«
»Heißen Sie mich einen Dummkopf?«
»Ich heiße dich schweigen. Tu, was ich dir sage, und Punktum. Kein Mucks mehr.«
Ich deutete auf die Tür, und Isabella verdrehte die Augen und ging leise schimpfend durch den Korridor davon.
Während sie Schulen und Buchhandlungen nach Unterrichtsbüchern und Katechismen durchforstete, um Kurzfassungen zu erstellen, suchte ich weiterhin die Bibliothek in der Calle del Carmen auf, um meine theologische Bildung zu vertiefen, ein Unterfangen, das ich mit exzessivem Kaffeegenuss und Stoizismus betrieb. Die ersten sieben Tage dieses seltsamen Wirkens zeitigten nichts als Zweifel. Eine der wenigen Gewissheiten, die ich erlangte, war, dass die meisten Autoren, die sich berufen gefühlt hatten, über Gott und die Welt und das Heilige zu schreiben, höchst bewanderte, fromme Gelehrte gewesen sein dürften, als Schriftsteller aber nicht das Geringste taugten. Der duldsame Leser, der durch ihre Seiten zu schlingern gezwungen war, musste sich bei jedem Absatz gewaltig anstrengen, um vor Langeweile nicht in Tiefschlaf zu fallen.
Nachdem ich Tausende einschlägige Seiten überlebt hatte, gewann ich immer mehr den Eindruck, dass all die seit Erfindung des Buchdrucks überlieferten Glaubenslehren einander außerordentlich ähnlich waren. Ich schrieb diesen ersten Eindruck meiner Unwissenheit oder unzureichender Recherche zu, aber es kam mir vor, als hätte ich wieder und wieder die eine Geschichte Dutzender Detektivromane gelesen, in denen zwar der jeweilige Mörder ein anderer, die Handlungsmechanik aber grundsätzlich immer dieselbe war. Mythen und Legenden, ob sie nun von Gottheiten oder der Entstehung und Geschichte von Völkern und Geschlechtern handelten, erschienen mir zunehmend wie Puzzles, die das gleiche Gesamtbild ergaben, deren Teile aber unterschiedlich angeordnet wurden.
Nach zwei Tagen hatte ich mich bereits mit Eulalia, der Chefbibliothekarin, angefreundet, die mir aus den Papierfluten ihrer Zuständigkeit Texte und Bände herausfischte und manchmal zu mir in einen versteckten Winkel kam, um sich nach meinen weiteren Bedürfnissen zu erkundigen. Sie war etwa in meinem Alter und hatte Witz im Übermaß, der sich gewöhnlich in spitzen Sticheleien ausdrückte.
»Sie lesen ja tonnenweise Heiligengeschichten, mein Herr. Haben Sie vor, an der Schwelle zum besten Mannesalter noch Messdiener zu werden?«
»Es handelt sich um reine Recherche.«
»Das sagen sie alle.«
Die Scherze und der Esprit der Bibliothekarin waren ein unbezahlbarer Balsam, der mich die knochentrockenen Texte überleben ließ und mir erlaubte, meine Recherchewallfahrt fortzusetzen. Wenn Eulalia ein wenig Muße hatte, kam sie zu mir und half mir, den ganzen Wirrwarr irgendwie zu ordnen. Auf diesen Seiten voller Verrat und Bekehrung wimmelte es von Vätern und Söhnen, reinen und heiligen Müttern, Prophezeiungen und Propheten, die der Himmel oder die Herrlichkeit geschickt hatte, von Säuglingen, die das Universum erlösen würden, von unheilvollen und abstoßenden Wesen in Tiergestalt, von ätherischen Geschöpfen, die gemäß bestimmter Rassemerkmale gestaltet waren und das Gute vertraten, und von Helden, welche sich schrecklichen Schicksalsprüfungen zu unterziehen hatten. Immer schimmerte die Vorstellung durch, das irdische Dasein sei eine Art Durchgangsstation, deshalb solle man sich in sein Schicksal fügen und die Regeln der Gemeinschaft befolgen, denn als Belohnung warte das Paradies, und dort war alles, was man im leiblichen Leben entbehrt hatte, im Überfluss vorhanden.
Am Donnerstagmittag trat Eulalia während einer ihrer Pausen an meinen Tisch und fragte, ob ich eigentlich nur Messbücher lese oder ab und zu auch etwas esse. Ich lud sie ein, in der vor kurzem in der Nähe eröffneten Casa Leopoldo mit mir zu speisen. Während wir einen köstlichen geschmorten Ochsenschwanz genossen, erzählte sie mir, sie arbeite seit zwei Jahren auf ihrem Posten und weitere zwei an einem Roman, der nicht vorangehen wolle und dessen Hauptschauplatz die Bibliothek in der Calle del Carmen sei, wo sich eine Reihe mysteriöser Verbrechen ereigneten.
»Ich möchte etwas Ähnliches schreiben wie vor Jahren Ignatius B. Samson in seinen Romanen«, erklärte sie. »Sagt Ihnen das was?«
»Vage.«
Eulalia fand einfach nicht den richtigen Einstieg für ihren Roman, und ich riet ihr, dem Ganzen einen leicht unheimlichen Ton zu verleihen und ihre Geschichte rund um ein geheimes Buch aufzubauen, das von einem gequälten Geist heimgesucht wurde, mit einer Nebenhandlung übernatürlichen Anstrichs.
»Das würde jedenfalls Ignatius B. Samson an ihrer Stelle tun«, sagte ich.
»Und was tun Sie, dass Sie so viel über Engel und Teufel lesen? Sagen Sie nicht, Sie seien ein ehemaliger Priesterseminarist, den die Reue plagt.«
»Ich versuche, die Gemeinsamkeiten in den Ursprüngen verschiedener Religionen und Mythen zu erkennen«, erklärte ich.
»Und was haben Sie bisher gelernt?«
»Fast nichts. Aber ich will Sie nicht mit dem Miserere langweilen.«
»Sie langweilen mich nicht. Erzählen Sie.«
»Nun, am interessantesten schien mir bisher, dass die meisten dieser Glaubenslehren ihren Anfang mit einem Geschehnis oder einer Person von einer gewissen historischen Wahrscheinlichkeit nehmen. Sie entwickeln sich dann schnell zu einer gesellschaftlichen Bewegung, die von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten der Gruppe, die sie annimmt, abhängt und von ihnen geformt wird. Sind Sie noch wach?«
Eulalia nickte.
»Die Mythologie, die sich ausgehend von diesen Doktrinen entwickelt, von ihrer Liturgie bis zu ihren Regeln und Tabus, geht zu einem guten Teil auf die sich herausbildende Bürokratie zurück und nicht auf das vermeintlich übernatürliche Geschehnis, das an ihrem Anfang gestanden haben soll. Die meisten einfachen, erbaulichen Anekdoten, eine Mischung aus gesundem Menschenverstand und Folklore, und die gesamte kriegerische Aufladung, die sie erfahren können, verdanken sich, sofern sie sich nicht selbst widerlegen, der nachträglichen Interpretation dieser Anfänge durch ihre Verwalter. Der Aspekt der Verwaltung und Rangordnung scheint in der Entwicklung von Mythologien eine entscheidende Rolle zu spielen. Im Prinzip wird die Wahrheit allen Menschen offenbart, aber schnell treten Individuen auf den Plan, die sich die Befugnis und die Pflicht anmaßen, diese Wahrheit im Namen des Gemeinwohls zu bewahren, auszulegen und gegebenenfalls zu verändern. Zu diesem Behuf begründen sie eine mächtige, bisweilen diktatorische Organisation. Dieses Phänomen, das, wie uns die Biologie lehrt, typisch ist für jedes im Gruppenverband lebende Tier, macht die Lehre bald zu einem Werkzeug der Kontrolle und des politischen Kampfes. Teilungen, Kriege, Spaltungen sind die Folge. Über kurz oder lang wird das Wort Fleisch, und das Fleisch blutet.«
Ich hatte den Eindruck, schon ganz wie Corelli zu klingen, und seufzte. Eulalia lächelte schwach und schaute mich etwas reserviert an.
»Und das suchen Sie? Blut?«
»Der Nächste im Blut, der Erste am Gut.«
»Da wäre ich nicht so sicher.«
»Ich ahne, dass Sie eine Nonnenschule besucht haben.«
»Die schwarzen Damen. Acht Jahre.«
»Stimmt es, wie man munkelt, dass die Absolventinnen von Nonnenschulen die dunkelsten, unaussprechlichsten Wünsche haben?«
»Ich wette, Sie würden sie liebend gern entdecken.«
»Sie können alle Jetons auf Ja setzen.«
»Was haben Sie in Ihrer Theologie-Schnellbleiche für erregbare Geister sonst noch gelernt?«
»Nicht viel. Meine ersten Erkenntnisse waren ärgerlich: Banalität und Inkonsequenz. All das schien mir schon mehr oder weniger offenkundig, bevor ich mir Enzyklopädien und Traktate über die Kitzligkeit der Engel zu Gemüte geführt habe — vielleicht weil ich nichts verstehen kann, was über meine Vorurteile hinausgeht, oder weil es gar nicht mehr zu verstehen gibt und des Pudels Kern nur im Glauben oder Nichtglauben liegt, ohne dass man über das Warum nachgrübeln muss. Wie finden Sie meine Rhetorik? Beeindruckt sie Sie immer noch?«
»Ich kriege Gänsehaut. Schade, dass ich Sie nicht schon in meiner Zeit als Schülerin mit dunklen Wünschen kennengelernt habe.«
»Sie sind grausam, Eulalia.«
Sie lachte herzlich und schaute mir lange in die Augen.
»Sagen Sie, Ignatius B., wer hat Ihnen so brutal das Herz gebrochen?«
»Ich sehe, Sie können mehr lesen als nur Bücher.«
Wir blieben noch einige Minuten am Tisch sitzen und schauten den Kellnern bei ihrem Hin und Her im Speisesaal der Casa Leopoldo zu.
»Wissen Sie, was das Beste ist an den gebrochenen Herzen?«, fragte die Bibliothekarin.
Ich schüttelte den Kopf.
»Dass sie nur ein einziges Mal wirklich brechen können. Alles andere sind bloß noch Kratzer.«
»Nehmen Sie das in Ihr Buch auf.«
Ich deutete auf ihren Verlobungsring. »Ich weiß ja nicht, wer dieser Dummkopf ist, aber hoffentlich weiß er, dass er der glücklichste Mann auf Erden ist.«
Eulalia lächelte ein wenig traurig und nickte. Wir gingen in die Bibliothek und dort jeder an seinen Platz zurück, sie an ihren Schreibtisch, ich in meinen Winkel. Am nächsten Tag befand ich, keine einzige Zeile über Offenbarungen und ewige Wahrheiten mehr lesen zu können und zu wollen. Auf dem Weg zur Bibliothek kaufte ich Eulalia an einem Stand auf den Ramblas eine weiße Rose und legte sie ihr zum Abschied auf den leeren Schreibtisch. Ich traf sie in einem der Korridore beim Büchereinordnen.
»So bald verlassen Sie mich wieder?«, fragte sie, als sie mich erblickte. »Wer macht mir nun Komplimente?«
»Wer nicht?«
Sie begleitete mich zum Ausgang und gab mir oben an der Treppe, die zum Innenhof des ehemaligen Hospizes hinunterführte, die Hand. Ich ging die Treppe hinunter. In der Mitte blieb ich stehen und drehte mich um. Sie stand noch dort und schaute mir nach.
»Viel Glück, Ignatius B. Hoffentlich finden Sie, was Sie suchen.«
Beim Abendessen mit Isabella am Verandatisch bemerkte ich, dass sie mich verstohlen anschaute.
»Schmeckt Ihnen die Suppe nicht? Sie rühren Sie ja gar nicht an…«
Ich sah auf den vollen, erkaltenden Teller hinab, nahm einen Löffel und tat so, als kostete ich die erlesenste Delikatesse.
»Sehr gut.«
»Sie haben auch noch kein Wort gesprochen, seit Sie aus der Bibliothek zurück sind«, fügte sie hinzu.
»Sonst noch eine Beschwerde?«
Verdrießlich schaute sie weg. Ich löffelte die kalte Suppe ohne Appetit und nur, um mich nicht unterhalten zu müssen.
»Warum sind Sie denn so traurig? Ist es wegen dieser Frau?«
Ich legte den Löffel ab, ohne eine Antwort zu geben, und rührte dann damit in der halb aufgegessenen Suppe. Isabellas Blick ruhte auf mir.
»Sie heißt Cristina«, sagte ich. »Und ich bin nicht traurig. Ich bin froh für sie, weil sie meinen besten Freund geheiratet hat und sehr glücklich sein wird.«
»Und ich bin die Königin von Saba.«
»Vorwitzig, das bist du.«
»So gefallen Sie mir schon besser, wenn Sie ein Ekel sind und die Wahrheit sagen.«
»Mal sehen, ob dir auch das gefällt: Hau ab in dein Zimmer und lass mich verdammt noch mal endlich in Ruhe.«
Sie versuchte zu lächeln, doch als ich die Hand nach ihr ausstreckte, hatten sich ihre Augen schon mit Tränen gefüllt. Sie flüchtete mit unseren beiden Tellern in die Küche. Ich hörte, wie sie das Geschirr in den Spülstein fallen ließ und Sekunden später ihre Tür zuschlug. Ich seufzte und genoss das Glas Wein, das noch vor mir stand, ein edler Tropfen aus dem Laden von Isabellas Eltern. Nach einer Weile klopfte ich leise bei ihr an. Sie antwortete nicht, aber ich hörte sie schluchzen. Als ich versuchte, die Tür zu öffnen, merkte ich, dass sie abgeschlossen hatte.
Ich ging ins Arbeitszimmer hinauf, das nach Isabellas Prozedur den Duft frischer Blumen verströmte und aussah wie die Kajüte eines Luxusdampfers. Wieder hatte sie sämtliche Bücher geordnet, Staub gewischt und alles auf Hochglanz gebracht, sodass der Raum nicht wiederzuerkennen war. Die alte Underwood glich einer Skulptur, und die Buchstaben auf den Tasten waren wieder zu lesen. Ein Stapel säuberlich geordnete Blätter ruhte auf dem Schreibtisch mit den Resümees mehrerer Schultexte und Katechismen nebst der Tageskorrespondenz. Auf einer Untertasse lagen zwei herrlich duftende Zigarren. Macanudos, eine der karibischen Wonnen, die ein Vertreter der Tabakgesellschaft Isabellas Vater heimlich zusteckte. Ich zündete mir eine an. In ihrem lauwarmen Rauch mischten sich sämtliche Düfte und Gifte, die sich ein Mann nur wünschen konnte, um in Frieden zu sterben. Ich setzte mich an den Schreibtisch und überflog die Post des Tages. Ich ignorierte alles außer einem Brief aus cremefarbenem Pergament in der Schönschrift, die ich überall sofort erkannt hätte. Mein neuer Verleger und Mäzen Andreas Corelli bestellte mich am Sonntag gegen Abend auf den Turm der neuen Seilbahn, die den Barceloneser Hafen überquerte.
Der San-Sebastián-Turm ragte rund achtzig Meter in die Höhe, ein Gewirr von Kabeln und Stahl, das einen vom bloßen Hinsehen schon schwindeln machte. Die Seilbahn war im selben Jahr anlässlich der Weltausstellung eröffnet worden, die in der Stadt alles auf den Kopf gestellt und aus ihr eine Stadt der Wunder gemacht hatte. Das Seil führte sie quer übers Hafenbecken zu einem großen, dem Eiffelturm nacheifernden Aussichtsturm auf halbem Weg, von dem aus die Kabinen über die zweite Teilstrecke zum Montjuïc-Hügel schwebten, wo das Herzstück der Ausstellung angesiedelt war. Das Wunder der Technik verhieß Ausblicke auf die Stadt, wie sie bisher nur Zeppelinen, Vögeln mit einer gewissen Flügelweite und Hagelkörnern vergönnt gewesen waren. Meiner Ansicht nach waren der Mensch und die Möwe nicht dafür geschaffen, denselben Luftraum zu teilen, und sowie ich den Fuß in den Turmaufzug setzte, schrumpfte mir der Magen zur Murmel. Die Auffahrt erschien mir endlos und das Gerüttel dieser Blechkapsel wie eine Übung in Sachen Übelkeit.
Oben sah ich Corelli durch eines der auf das Hafenbecken und die ganze Stadt hinausgehenden Fenster schauen, in die Aquarelle von Segeln und Masten vertieft. Er trug einen weißen Seidenanzug und ließ zwischen den Fingern ein Stück Zucker hin- und herwandern, um es dann mit der Gier eines Wolfes zu verschlingen. Ich räusperte mich, worauf sich der Patron umdrehte und zufrieden lächelte.
»Eine wundervolle Aussicht, finden Sie nicht?«, fragte er.
Ich nickte und war vermutlich bleich wie ein Stück Pergament.
»Macht die Höhe Eindruck auf Sie?«
»Ich bin ein Geschöpf des Bodens«, antwortete ich in gebührendem Abstand von den Fenstern.
»Ich habe mir erlaubt, Hin- und Rückfahrkarten zu kaufen«, informierte er mich.
»Sehr aufmerksam.«
Ich folgte ihm zu dem Zugangssteg, von dem aus die Kabinen in großer Höhe über eine mir unglaublich lang erscheinende Strecke schaukelten.
»Wie haben Sie die Woche verbracht, Martín?«
»Mit Lesen.«
Er schaute mich kurz an.
»Ihrem gelangweilten Ausdruck entnehme ich, dass es nicht Alexandre Dumas war.«
»Eher eine Auswahl staubtrockener Akademiker und ihrer Zementprosa.«
»Ah, Intellektuelle. Und Sie wollten, dass ich einen einstelle! Warum wohl drücken die Leute, je weniger sie zu sagen haben, dieses wenige auf eine umso pompösere und pedantischere Art aus?«, fragte Corelli. »Um die Welt hinters Licht zu führen oder sich selbst?«
»Möglicherweise beides.«
Er händigte mir die Fahrkarten aus und ließ mich vorgehen. Nachdem ich sie dem Schaffner gegeben hatte, stieg ich ohne Begeisterung ein und hielt mich in der Mitte, so weit von den Fenstern entfernt wie möglich. Corelli strahlte wie ein begeistertes Kind.
»Vielleicht besteht Ihr Problem zum Teil darin, dass Sie die Kommentatoren und nicht die Kommentierten gelesen haben. Ein verbreiteter, aber fataler Fehler, wenn man etwas Nützliches lernen will«, sagte er.
Die Kabinentüren schlossen sich, und mit einem heftigen Ruck schwangen wir frei. Ich klammerte mich an eine Metallstange und atmete tief.
»Ich ahne, dass Gelehrte und Theoretiker nicht die Heiligen sind, denen Ihre Hingabe gilt«, sagte ich.
»Meine Hingabe gilt überhaupt keinem Heiligen, lieber Martín, und am wenigsten denen, die sich selbst oder einander heiligsprechen. Die Theorie ist die Praxis der geistig Armen. Meine Empfehlung lautet, dass Sie die Enzyklopädisten und ihre Abhandlungen vergessen und zu den Quellen vorstoßen. Sagen Sie, haben Sie die Bibel gelesen?«
Ich zögerte einen Augenblick. Die Kabine schwebte ins Leere hinaus. Ich schaute auf den Fußboden.
»Hier und da einzelne Abschnitte vermutlich«, murmelte ich.
»Vermutlich. Wie fast alle. Ein schwerer Fehler. Jedermann müsste die Bibel lesen. Und wieder lesen. Ob gläubig oder nicht, spielt keine Rolle. Ich lese sie mindestens einmal im Jahr. Sie ist mein Lieblingsbuch.«
»Und sind Sie ein Gläubiger oder ein Skeptiker?«
»Ich bin ein Profi. Und Sie auch. Was wir glauben oder nicht, ist irrelevant für das Gelingen unserer Arbeit. Glauben oder nicht glauben ist eine kleinmütige Frage. Man weiß, oder man weiß nicht, Punktum.«
»Dann muss ich gestehen, dass ich nichts weiß.«
»Folgen Sie diesem Weg, und Sie werden in die Fußstapfen des großen Philosophen treten. Und dazwischen lesen Sie die Bibel von vorn bis hinten. Sie ist eine der größten je erzählten Geschichten. Machen Sie nicht den Fehler, das Wort Gottes mit der Messbuchindustrie zu verwechseln, die davon lebt.«
Je länger ich in Gesellschaft des Verlegers war, desto weniger meinte ich ihn zu verstehen.
»Ich glaube, ich habe den Faden verloren. Wir sprechen von Legenden und Fabeln, und jetzt sagen Sie mir, ich soll an die Bibel glauben, als wäre sie das Wort Gottes?«
Ein Schatten der Ungeduld und Gereiztheit legte sich auf seinen Blick.
»Ich spreche im übertragenen Sinn. Gott ist kein Schwätzer. Das Wort ist Menschenwährung.«
Dann lächelte er mir zu, wie man einem Kind, das die elementarsten Dinge nicht versteht, zulächelt, um es nicht ohrfeigen zu müssen. Als ich ihn so anschaute, wurde mir bewusst, dass ich nicht erkennen konnte, wann er es ernst meinte und wann ironisch — so wenig, wie ich den Zweck dieses ausgefallenen Unterfangens erraten konnte, für das er mir das Gehalt eines regierenden Monarchen zahlte. Inzwischen schaukelte die Kabine im Wind wie ein Apfel an einem sturmgeschüttelten Baum. Noch nie hatte ich so sehr an Isaac Newton gedacht.
»Sie sind ein Waschlappen, Martín. Diese Anlage ist absolut sicher.«
»Das glaube ich dann, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen habe.«
Wir näherten uns der Mittelstation der Strecke, dem San-Jaime-Turm, der sich auf einem Pier in der Nähe des großen Zollpalastes erhob.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, hier auszusteigen?«, fragte ich.
Mit einem Schulterzucken stimmte Corelli widerwillig zu. Ich atmete erst wieder ruhig, als der Turmaufzug unten ankam. Auf dem Pier fanden wir eine Bank mit Blick auf den Hafen und den Montjuïc und sahen in der Höhe die Seilbahn schweben — ich erleichtert, Corelli wehmütig.
»Erzählen Sie mir von Ihren ersten Eindrücken und auf welche Gedanken Sie diese Tage des Studiums und der intensiven Lektüre gebracht haben.«
Resümierend erzählte ich ihm, was ich glaubte, gelernt — oder verlernt — zu haben. Er hörte aufmerksam zu, nickte und gestikulierte dabei. Am Ende meines sachkundigen Berichts über Mythen und Glaubenslehren der Menschen war Corelli voll des Lobs.
»Ich glaube, Sie haben das alles ausgezeichnet zusammengefasst. Zwar haben Sie nicht die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen gefunden, aber Sie haben begriffen, dass das Einzige, was an diesem ganzen Heuhaufen interessieren kann, eine verdammte Stecknadel ist und alles andere nur Eselsfutter. Und wenn wir schon bei Grautieren sind: Interessieren Sie sich für Fabeln?«
»Als Kind wollte ich zwei Monate lang Äsop sein.«
»Wir alle geben im Laufe des Lebens große Erwartungen auf.«
»Was wollten Sie als Kind sein, Señor Corelli?«
»Gott.«
Sein Schakalslächeln löschte meines aus.
»Martín, die Fabeln sind möglicherweise eines der interessantesten literarischen Verfahren, die je erfunden wurden. Wissen Sie, was sie uns lehren?«
»Moralische Lektionen?«
»Nein. Sie lehren uns, dass die Menschen Ideen und Vorstellungen durch Erzählungen, durch Geschichten verstehen lernen und aufnehmen, nicht durch Schulmeisterlektionen und theoretische Abhandlungen. Das lehrt uns auch jeder der großen Glaubenstexte. Sie erzählen alle von Personen, die sich dem Leben stellen und Hindernisse überwinden müssen, Figuren, die eine Reise unternehmen und durch Abenteuer und Offenbarungen innerlich reifen. Alle heiligen Bücher sind große Geschichten, die die grundlegenden Fragen der menschlichen Natur berühren und sie in einen moralischen Kontext und einen Rahmen bestimmter metaphysischer Glaubenssätze stellen. Ich wollte, dass Sie zuerst eine elende Woche mit dem Lesen von Abhandlungen, Reden, Meinungen und Kommentaren verbringen, um dann selbst zu merken, dass es von ihnen nichts zu lernen gibt, weil sie tatsächlich zumeist nichts anderes sind als in der Regel der fehlgeschlagene Ausdruck guten oder schlechten Willens, und dass Sie dann selbst etwas zu lernen versuchen. Schluss mit dem Dozieren ex cathedra. Von heute an sollen Sie die Märchen der Brüder Grimm, die Tragödien des Aischylos, das Ramayana oder die keltischen Legenden lesen. Ganz nach Belieben. Sie sollen ihren Gehalt herausdestillieren und analysieren, wie diese Texte funktionieren und warum sie unsere Gefühle ansprechen. Sie sollen die Grammatik, nicht die Moral lernen. Und in zwei, drei Wochen sollen Sie mir bereits etwas Eigenes bringen, den Anfang einer Geschichte. Sie sollen mich glauben machen.«
»Ich dachte, wir seien Profis und dürften nicht die Sünde begehen, an etwas zu glauben.«
Corelli lächelte mit entblößten Zähnen.
»Man kann nur einen Sünder bekehren, nie einen Heiligen.«
Die Tage vergingen mit Lektüre und Geplänkel. Da ich es seit Jahren gewohnt war, allein und in der methodischen, stark unterschätzten Anarchie des wahren Junggesellen zu leben, untergrub die dauernde Anwesenheit einer Frau, auch wenn sie nur ein flatterhafter, ungezogener Backfisch war, meinen Alltag auf subtile, aber systematische Art. Ich glaubte an das geordnete Chaos, Isabella nicht; ich glaubte, die Dinge fänden im Durcheinander einer Wohnung ihren Platz von selbst, Isabella nicht; ich glaubte an Einsamkeit und Stille, Isabella nicht.
In nur zwei Tagen musste ich feststellen, dass ich in meiner eigenen Wohnung nichts mehr wiederfand. Wenn ich einen Brieföffner oder ein Glas oder ein Paar Schuhe suchte, musste ich Isabella fragen, wo sie in einem Moment der Eingebung diese Dinge versteckt hatte.
»Ich verstecke nichts. Ich stelle die Dinge an ihren Ort, das ist was anderes.«
Kein Tag verging, an dem ich sie nicht ein halbes Dutzend Mal am liebsten erdrosselt hätte. Wenn ich mich in den Frieden und die Stille des Arbeitszimmers zurückzog, um nachzudenken, erschien nach wenigen Minuten Isabella mit einer Tasse Tee oder mit Gebäck. Danach begann sie im Raum herumzugehen, schaute aus dem Fenster, räumte den Schreibtisch auf und fragte schließlich, was ich denn da oben treibe, so still und geheimnisvoll. Ich entdeckte, dass siebzehnjährige Mädchen ein so mächtiges Sprechvermögen haben, dass ihr Hirn sie alle zwanzig Sekunden davon Gebrauch machen lässt. Am dritten Tag beschloss ich, ihr einen Freund zu suchen, tunlichst einen tauben.
»Isabella, wie ist es möglich, dass ein so gut aussehendes junges Mädchen wie du keine Freier hat?«
»Wer sagt denn, ich hätte keine?«
»Gibt es keinen Jungen, der dir gefällt?«
»Die Jungen in meinem Alter sind langweilig. Sie haben nichts zu sagen, und die Hälfte sind absolute Hohlköpfe.«
Ich wollte sagen, dass sich das mit dem Alter nicht bessert, aber dann fand ich, ich müsse ihr die Illusionen lassen.
»In welchem Alter magst du sie denn?«
»Alter. So wie Sie.«
»Du findest mich älter?«
»Na ja, ein junger Spund sind Sie ja nicht mehr unbedingt.«
Ich nahm das als Hänselei statt als Kränkung und beschloss, mich mit ein wenig Sarkasmus freizustrampeln.
»Die gute Nachricht ist, dass junge Mädchen ältere Männer, und die schlechte, dass ältere Männer, vor allem die Sabbergreise, junge Mädchen mögen.«
»Ist mir bekannt. Ich bin ja nicht blöd.«
Sie schaute mich an, als heckte sie etwas aus, und lächelte maliziös. Jetzt kommt’s, dachte ich.
»Mögen Sie auch junge Mädchen?«
Ich hatte die Antwort auf den Lippen, noch ehe sie die Frage formulierte, und sagte in gelassenem Geographielehrerton:
»Ich mochte sie, als ich in deinem Alter war. Grundsätzlich mag ich junge Mädchen in meinem Alter.«
»In Ihrem Alter sind es keine jungen Mädchen mehr, sondern Fräuleins oder, wenn Sie mich fragen, Frauen.«
»Ende der Debatte. Hast du unten nichts zu tun?«
»Nein.«
»Dann setz dich hin und schreibe. Du bist nicht hier, um Teller zu spülen und mir meine Sachen zu verstecken. Ich hab dich hier aufgenommen, weil du sagtest, du willst schreiben lernen, und weil ich der einzige Idiot bin, der dir dabei helfen kann.«
»Sie brauchen nicht gleich böse zu werden. Mir fehlt die Inspiration.«
»Die Inspiration kommt, wenn man sich hinter den Schreibtisch klemmt, den Hintern auf den Stuhl klebt und zu schwitzen beginnt. Such dir ein Thema und press dein Hirn aus, bis es dir wehtut. Das nennt man Inspiration.«
»Das Thema habe ich bereits.«
»Halleluja.«
»Ich werde über Sie schreiben.«
Es folgte eine lange Stille mit hin und her fliegenden Blicken wie bei zwei Gegnern, die sich übers Spielbrett hinweg mustern.
»Warum?«
»Weil ich Sie interessant finde. Und seltsam.«
»Und älter.«
»Und empfindlich. Fast wie ein Junge meines Alters.«
Ganz gegen meinen Willen gewöhnte ich mich allmählich an Isabellas Gesellschaft, an ihre ätzenden Bemerkungen und das Licht, das sie in diese Wohnung gebracht hatte. Wenn das so weiterging, würden sich meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten und wir uns am Ende noch anfreunden.
»Und Sie, haben Sie schon ein Thema, bei all diesen Schmökern, die Sie da konsultieren?«
Ich dachte, je weniger ich ihr von meinem Auftrag erzähle, desto besser.
»Ich stecke noch in der Recherchephase.«
»Recherche? Und wie funktioniert das?«
»Indem man Tausende Seiten liest, um das Nötige zu lernen und zum Wesentlichen eines Themas vorzudringen, zu seiner emotionalen Wahrheit, und nachher verlernt man alles wieder, um bei null anzufangen.«
Isabella seufzte.
»Was ist emotionale Wahrheit?«
»Die Ehrlichkeit in der Dichtung.«
»Dann muss man also ehrlich und ein guter Mensch sein, um zu dichten?«
»Nein. Man muss sein Handwerk beherrschen. Die emotionale Wahrheit ist keine moralische Eigenschaft, sie ist eine Technik.«
»Sie reden wie ein Wissenschaftler«, protestierte sie.
»Literatur, wenigstens die gute, ist eine Wissenschaft, die das Blut der Kunst in sich trägt. Wie die Architektur oder die Musik.«
»Ich dachte, sie sprieße einfach so aus dem Künstler hervor.«
»Das Einzige, was einfach so aus ihm hervorsprießt, sind die Haare und die Warzen.«
Isabella erwog diese Worte ohne große Überzeugung.
»Das sagen Sie alles nur, um mich zu entmutigen und damit ich nach Hause gehe.«
»Das wäre zu schön, um wahr zu sein.«
»Sie sind der schlechteste Lehrer der Welt.«
»Der Schüler macht den Lehrer, nicht umgekehrt.«
»Mit Ihnen kann man nicht diskutieren, Sie kennen sämtliche Schliche der Rhetorik. Das ist ungerecht.«
»Nichts ist gerecht. Das Höchste, was man anstreben kann, ist, dass es logisch ist. Die Gerechtigkeit ist eine seltene Krankheit in einer ansonsten kerngesunden Welt.«
»Amen. Ist es das, was passiert, wenn man älter wird? Dass man aufhört, an irgendetwas zu glauben, so wie Sie?«
»Nein. Auch wenn sie älter werden, glauben die meisten Menschen immer noch an Albernheiten, im Allgemeinen an immer größere. Ich schwimme gegen den Strom, weil ich den Leuten gern auf den Geist gehe.«
»Beschwören Sie es nicht. Wenn ich älter bin, werde ich noch immer an irgendetwas glauben.«
»Viel Glück.«
»Und zudem glaube ich an Sie.«
Sie wich meinem Blick nicht aus.
»Weil du mich nicht kennst.«
»Das glauben Sie. Sie sind nicht so geheimnisvoll, wie Sie meinen.«
»Ich will gar nicht geheimnisvoll sein.«
»Das war nur eine nette Umschreibung für unsympathisch. Auch ich kenne die eine oder andere rhetorische List.«
»Das ist keine Rhetorik. Das ist Ironie. Und das ist nicht dasselbe.«
»Müssen Sie eigentlich immer das letzte Wort haben?«
»Wenn man es mir so einfach macht, schon.«
»Und dieser Mann, der Patron…«
»Corelli?«
»Corelli. Macht er es Ihnen leicht?«
»Nein. Corelli kennt noch mehr rhetorische Tricks als ich.«
»Dacht ich’s mir doch. Trauen Sie ihm?«
»Warum fragst du das?«
»Ich weiß nicht. Trauen Sie ihm?«
»Warum sollte ich ihm nicht trauen?«
Sie zuckte die Achseln.
»Womit hat er Sie konkret beauftragt? Wollen Sie es mir nicht sagen?«
»Ich habe es dir doch schon gesagt. Ich soll ein Buch schreiben für seinen Verlag.«
»Einen Roman?«
»Nicht direkt. Eher eine Fabel. Eine Legende.«
»Ein Kinderbuch?«
»In etwa.«
»Und werden Sie es tun?«
»Er zahlt sehr gut.«
Isabella zog die Brauen zusammen.
»Darum schreiben Sie? Weil Sie gut bezahlt werden?«
»Manchmal.«
»Und diesmal?«
»Diesmal werde ich dieses Buch schreiben, weil ich es tun muss.«
»Stehen Sie in seiner Schuld?«
»Vermutlich könnte man das so sagen.«
Sie dachte nach. Ich hatte den Eindruck, sie wollte eine Bemerkung machen, doch sie verkniff sie sich und biss sich auf die Lippen. Dafür schenkte sie mir ein unschuldiges Lächeln und einen ihrer Engelsblicke, mit denen sie im Handumdrehen das Thema wechseln konnte.
»Ich möchte auch fürs Schreiben bezahlt werden.«
»Das möchte jeder, der schreibt, aber das heißt nicht, dass irgendjemand es tut.«
»Und wie erreicht man es?«
»Indem man zunächst einmal in die Veranda runtergeht, ein Blatt Papier nimmt…«
»… die Ellbogen aufstemmt und das Hirn auspresst, bis es schmerzt. Ich weiß.«
Unschlüssig schaute sie mir in die Augen. Ich hatte sie bereits seit anderthalb Wochen bei mir und noch keine Anstalten gemacht, sie nach Hause zurückzuschicken. Vermutlich fragte sie sich, wann ich es tun würde oder warum ich es noch nicht getan hatte. Ich fragte es mich ebenfalls und fand keine Antwort darauf.
»Ich bin gern Ihre Assistentin, obwohl Sie sind, wie Sie sind«, sagte sie schließlich.
Sie schaute mich an, als hinge ihr Leben von einem freundlichen Wort ab. Ich erlag der Versuchung. Gute Worte sind eitle Gefälligkeiten, die keinerlei Opfer erfordern und auf mehr Dankbarkeit stoßen als echte Liebenswürdigkeit.
»Auch ich freue mich, dass du meine Assistentin bist, Isabella, obwohl ich bin, wie ich bin. Und noch mehr wird es mich freuen, wenn du nicht mehr meine Assistentin zu sein brauchst, weil du von mir nichts mehr zu lernen hast.«
»Glauben Sie, ich habe Talent?«
»Ganz ohne Zweifel. In zehn Jahren wirst du die Lehrerin sein und ich der Lehrling.«
In der Wiederholung kamen mir diese Worte wie ein Verrat vor.
»Schwindler«, sagte sie und küsste mich weich auf die Wange, um dann die Treppe hinunterzusausen.
Am Nachmittag ließ ich Isabella vor den leeren Seiten auf dem Schreibtisch zurück, den wir für sie in die Veranda gestellt hatten, und ging zu Don Gustavo Barcelós Buchhandlung in der Calle Fernando, um mir eine gute, lesbare Bibel zu kaufen. Alle Ausgaben des Alten und Neuen Testaments, die ich zuhause hatte, bestanden aus halb durchsichtigem Dünndruckpapier mit mikroskopischer Schrift, sodass ihre Lektüre weniger Inbrunst und göttliche Inspiration als Migräne hervorrief. Barceló, neben vielem anderen ein beharrlicher Sammler von heiligen Schriften und apokryphen christlichen Texten, hatte im hinteren Teil der Buchhandlung einen abgetrennten Raum mit einer famosen Auswahl an Evangelien, Legenden von Seliggesprochenen und Heiligen sowie frommen Texten aller Art.
Als mich einer der Angestellten eintreten sah, benachrichtigte er flugs den Chef in seinem Büro. Euphorisch kam mich Barceló begrüßen.
»Das ist aber eine schöne Überraschung! Sempere hat mir schon gesagt, dass Sie auferstanden sind, aber das ist wirklich unglaublich. Neben Ihnen sieht Valentino aus, als käme er frisch von der Feldarbeit. Wo haben Sie denn gesteckt, Sie Schlingel?«
»Da und dort«, sagte ich.
»Überall außer bei Vidals Hochzeitsschmaus. Man hat Sie vermisst, mein Lieber.«
»Das wage ich zu bezweifeln.«
Der Buchhändler nickte zum Zeichen, dass er meinen Wunsch, nicht weiter auf das Thema einzugehen, verstanden hatte.
»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
»Auch zwei. Und eine Bibel. Eine handliche, wenn möglich.«
»Das dürfte kein Problem sein. Dalmau?«
Ein Angestellter eilte herbei. »Dalmau, der liebe Martín benötigt eine Bibelausgabe nicht dekorativer, sondern lesbarer Natur. Ich denke an Torres Amat, 1825. Was meinen Sie?«
Eine der Besonderheiten von Barcelós Buchhandlung war, dass hier von den Büchern wie von edlen Weinen gesprochen wurde — samt Bouquet, Aroma, Konsistenz und Jahrgang.
»Vortreffliche Wahl, Señor Barceló, obwohl ich eher zur aktualisierten, durchgesehenen Ausgabe neige.«
»1860?«
»1893.«
»Natürlich. Stattgegeben. Packen Sie sie dem lieben Martín ein, geht auf Kosten des Hauses.«
»Kommt überhaupt nicht infrage«, warf ich ein.
»An dem Tag, da ich von einem Ungläubigen wie Ihnen für das Wort Gottes etwas kassiere, soll mich ein Blitz niederschmettern, und zwar mit vollem Recht.«
Dalmau ging meine Bibel holen, und ich folgte Barceló in sein Büro, wo er uns beiden eine Tasse Tee einschenkte und mir aus seinem Humidor eine Zigarre und zum Anzünden eine Kerze anbot.
»Macanudo?«
»Ich sehe, Sie sind dabei, ihren Gaumen zu bilden. Ein Mann muss Laster haben, und zwar möglichst solche mit Niveau, sonst kann er im Alter von nichts erlöst werden. Ich werde Ihnen Gesellschaft leisten, zum Henker.«
Eine köstliche Qualmwolke hüllte uns ein.
»Vor ein paar Monaten war ich in Paris und hatte die Gelegenheit, einige Nachforschungen anzustellen zu dem Thema, das Sie vor längerer Zeit Sempere gegenüber erwähnt haben«, erklärte Barceló.
»Die Éditions de la Lumière.«
»Genau. Ich hätte gern etwas tiefer geschürft, aber leider sieht es so aus, als hätte seit der Schließung des Verlages niemand die Rechte übernommen, und so war es schwierig für mich, etwas Brauchbares zusammenzukratzen.«
»Sie sagen, er wurde geschlossen? Wann denn?«
»1914, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht.«
»Das muss ein Irrtum sein.«
»Nicht, wenn wir von den Éditions de la Lumière auf dem Boulevard Saint-Germain sprechen.«
»Genau die.«
»Schauen Sie, ich habe mir alles genau aufgeschrieben, um nichts zu vergessen, wenn wir uns sähen.«
Er kramte in seiner Schreibtischschublade und zog ein kleines Notizheft heraus. »Da hab ich’s: ›Éditions de la Lumière, Verlag für religiöse Texte mit Büros in Rom, Paris, London und Berlin. Gründer und Herausgeber: Andreas Corelli. Eröffnung des ersten Büros in Paris: 1881.‹«
»Unmöglich«, murmelte ich.
Barceló zuckte die Achseln.
»Na gut, ich kann mich geirrt haben, aber…«
»Konnten Sie die Geschäftsräume besuchen?«
»Ich habe es versucht — mein Hotel befand sich gegenüber dem Pantheón, ganz in der Nähe, und die ehemaligen Verlagsräume lagen auf der Südseite des Boulevards, zwischen der Rue Saint-Jacques und dem Boulevard Saint-Michel.«
»Und?«
»Das Haus stand leer und war zugemauert, und es sah aus, als hätte es einen Brand gegeben oder so. Das einzige noch Intakte war der Türklopfer, ein erlesenes Stück in Form eines Engels. Bronze, würde ich sagen. Ich hätte es mitgenommen, hätte mich nicht ein Gendarm argwöhnisch beobachtet, und ich hatte nicht den Mut, einen diplomatischen Zwischenfall auszulösen — nicht, dass Frankreich noch einmal einzufallen beschließt.«
»Wenn man sich so umsieht, würde es uns damit vielleicht sogar einen Dienst erweisen.«
»Jetzt, wo Sie es sagen… Aber um auf das Thema zurückzukommen — nachdem ich mir das alles angesehen hatte, ging ich in ein benachbartes Café, um nachzufragen, und man sagte mir, das Haus befinde sich seit über zwanzig Jahren in diesem Zustand.«
»Haben Sie etwas über den Verleger herausfinden können?«
»Corelli? Soweit ich verstanden habe, hat er den Verlag geschlossen, als er sich zur Ruhe setzte, obwohl er offenbar noch nicht einmal fünfzig war. Ich glaube, er zog in eine Villa im Süden Frankreichs, im Luberon, und starb kurze Zeit später. Ein Schlangenbiss, hieß es. Eine Viper. Und dafür zieht man sich in die Provence zurück.«
»Sind Sie sicher, dass er gestorben ist?«
»Père Coligny, ein ehemaliger Konkurrent, hat mir seine Todesanzeige gezeigt, die er wie eine Trophäe eingerahmt hatte. Er sagte, er schaue sie jeden Tag an, um sich daran zu erinnern, dass dieser verdammte Bastard tot und verscharrt sei. Wörtlich — obwohl es auf Französisch sehr viel schöner und melodischer klang.«
»Hat Coligny erwähnt, ob der Verleger Kinder hatte?«
»Ich hatte den Eindruck, dieser Corelli war nicht sein Lieblingsthema, und sobald er konnte, hat er sich mir entwunden. Anscheinend gab es einen Skandal, weil Corelli ihm einen seiner Autoren weggeschnappt hatte, einen gewissen Lambert.«
»Wie war das genau?«
»Das Amüsanteste an der ganzen Geschichte ist, dass Coligny Corelli gar nie zu Gesicht bekommen hat. Sie haben nur korrespondiert. Der springende Punkt war wohl der, dass Monsieur Lambert anscheinend einen Vertrag unterschrieben hatte, um für die Éditions de la Lumière hinter Colignys Rücken ein Buch zu verfassen, obwohl er mit Letzterem einen Exklusivvertrag hatte. Lambert war ein Opiumsüchtiger im Endstadium und hatte genug Schulden auf dem Buckel, um damit die Rue de Rivoli zu pflastern. Coligny argwöhnte, dass Corelli Lambert eine astronomische Summe angeboten und der arme, dem Tod nahe Mann angenommen hatte, damit seine Kinder ein Auskommen hätten.«
»Was für eine Art Buch?«
»Etwas mit religiösem Inhalt. Coligny hat den Titel erwähnt, irgendein gängiger lateinischer Ausdruck, der mir jetzt gerade nicht einfällt. Sie wissen ja, sämtliche Messbücher sind mehr oder weniger ähnlich. Pax Gloria Mundi oder etwas in der Art.«
»Und was ist mit Lamberts Buch geschehen?«
»Da wird das Ganze kompliziert. Offenbar wollte der arme Lambert das Manuskript in einem Wahnsinnsanfall verbrennen und hat sich im Verlag damit gleich selbst in Brand gesteckt. Viele nahmen an, das Opium habe ihm das Hirn versengt, aber Coligny hat den Verdacht, Corelli habe ihn in den Selbstmord getrieben.«
»Warum sollte er das?«
»Wer weiß? Vielleicht wollte er die versprochene Summe nicht zahlen. Vielleicht waren das alles auch nur Hirngespinste von Coligny, der, würde ich sagen, rund um die Uhr dem Beaujolais zuspricht. Zum Beispiel sagte er mir, Corelli habe versucht ihn umzubringen, um Lambert aus seinem Vertrag zu befreien, und ihn erst in Ruhe gelassen, nachdem er, Coligny, beschlossen habe, den Schriftsteller aus seinem Vertrag zu entlassen.«
»Haben Sie nicht eben gesagt, er habe ihn nie gesehen?«
»Spricht noch mehr für das, was ich sage. Ich glaube, Coligny delirierte. Als ich ihn in seiner Wohnung aufsuchte, habe ich mehr Kruzifixe, Müttergottes und Heiligenbilder gesehen als in einem Devotionalienladen. Ich hatte den Eindruck, er war nicht ganz richtig im Kopf. Beim Abschied sagte er, ich solle mich von Corelli fernhalten.«
»Aber haben Sie nicht gesagt, er sei gestorben?«
»Ecco qui.«
Ich schwieg. Barceló schaute mich neugierig an.
»Ich habe den Eindruck, meine Ermittlungen haben Sie nicht besonders überrascht.«
Ich spielte das Ganze mit einem sorglosen Lächeln herunter.
»Im Gegenteil. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich Zeit für diese Nachforschungen genommen haben.«
»Nicht der Rede wert. In Paris auf Klatschtour zu gehen ist für mich ein Heidenvergnügen, Sie kennen mich ja.«
Er riss die Seite mit den Angaben aus seinem Notizheft und gab sie mir.
»Vielleicht können Sie das brauchen. Da steht alles, was ich herausfinden konnte.«
Ich stand auf und gab ihm die Hand. Er begleitete mich zum Ausgang, wo mir Dalmau das eingeschlagene Buch der Bücher überreichte.
»Wenn Sie irgendein Jesusbildchen möchten, wo er die Augen auf- und zuklappt, je nachdem, wie man ihn anschaut, dann habe ich auch das. Oder eines von der Muttergottes, umgeben von Lämmchen, die zu pausbäckigen Cherubim werden, wenn man es dreht. Ein Wunder der Stereoskopie.«
»Für den Augenblick reicht mir das offenbarte Wort.«
»So sei es.«
Ich dankte ihm für seine Unterstützung, aber je weiter ich mich von der Buchhandlung entfernte, desto mehr befiel mich eine kalte Unruhe, und ich hatte den Eindruck, die Straßen und mein Schicksal seien auf Treibsand gebaut.
Auf dem Heimweg blieb ich vor dem Schaufenster eines Schreibwarengeschäfts in der Calle Argenteria stehen. Auf einem drapierten Tuch glänzte ein Etui mit einigen Federn und einem Elfenbeinhalter samt dem dazu passenden weißen Tintenfass, auf dem Musen oder Elfen eingraviert waren. Die Garnitur wirkte etwas melodramatisch und sah aus wie vom Schreibtisch eines jener russischen Romanciers entwendet, die ihr Herz auf Tausenden von Seiten ausbluten. Isabella hatte eine Schrift, um die ich sie beneidete, eine Ballettschrift, rein wie ihr Gewissen, und ich hatte das Gefühl, diese Schreibgarnitur trage ihren Namen. Ich ging hinein und bat den Inhaber, sie mir zu zeigen. Die Federn waren vergoldet, und der Spaß kostete ein kleines Vermögen, aber ich fand es angebracht, die Liebenswürdigkeit und Geduld, die meine junge Assistentin mir gegenüber aufbrachte, mit einer großzügigen Geste zu erwidern. Ich ließ sie mir in purpurn glänzendes Papier mit riesengroßer Schleife einpacken.
Zuhause wollte ich die egoistische Genugtuung genießen, die man empfindet, wenn man mit einem Geschenk in der Hand erscheint. Ich schickte mich an, Isabella wie ein treues Maskottchen zu rufen, das nichts anderes zu tun hat, als ergeben auf seinen Herrn zu warten, doch der Anblick, der sich mir bot, als ich die Tür öffnete, ließ mich verstummen. Der Korridor war dunkel wie ein Tunnel. Die Tür zum hintersten Zimmer stand offen, und daraus fiel gelblich flackerndes Licht auf den Boden.
»Isabella?«, rief ich mit trockenem Mund.
»Hier bin ich.«
Die Stimme kam aus dem Inneren. Ich deponierte das Paket auf dem Dielentisch und ging weiter. Auf der Schwelle blieb ich stehen und schaute hinein. Isabella saß mitten im Raum auf dem Boden und gab sich, eine Kerze in einem hohen Glas neben sich, eifrig ihrer nach dem Schreiben zweitwichtigsten Berufung hin: in fremden Behausungen für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen.
»Wie bist du hier reingekommen?«
Sie lächelte mich an.
»Ich war in der Veranda und habe ein Geräusch gehört. Ich dachte, das wären Sie, Sie wären zurück, und als ich auf den Flur hinausging, habe ich gesehen, dass die Zimmertür offen stand. Ich dachte, Sie hätten gesagt, sie sei abgeschlossen.«
»Komm da raus. Ich mag es nicht, wenn du in dieses Zimmer gehst. Es ist feucht.«
»Was für ein Unsinn. Wo es hier doch so viel zu tun gibt. Schauen Sie. Schauen Sie, was ich gefunden habe.«
Ich zögerte.
»Na los, kommen Sie schon rein.«
Ich ging hinein und kniete mich neben sie. Sie hatte die Dinge und Schachteln nach Kategorien geordnet: Bücher, Spielsachen, Fotografien, Kleider, Schuhe, Brillen. Misstrauisch musterte ich das alles. Isabella schien begeistert, als wäre sie auf die Minen König Salomos gestoßen.
»Gehört das alles Ihnen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Es gehört dem ehemaligen Besitzer.«
»Haben Sie ihn gekannt?«
»Nein. Das hatte bei meinem Einzug alles schon jahrelang hier gelegen.«
Isabella hielt mir einen Stapel Briefe unter die Nase, als wären es Beweisstücke vor Gericht.
»Ich glaube, ich habe herausgefunden, wie er hieß.«
»Was du nicht sagst.«
Sie lächelte, offensichtlich entzückt von ihrem detektivischen Eifer.
»Marlasca. Er hieß Diego Marlasca. Finden Sie das nicht komisch?«
»Was?«
»Dass die Initialen dieselben sind wie Ihre: D. M.«
»Reiner Zufall. In dieser Stadt haben Zehntausende diese Initialen.«
Sie blinzelte mir zu und amüsierte sich prächtig.
»Schauen Sie, was ich noch gefunden habe.«
Sie zeigte mir eine Blechdose mit alten Fotografien. Es waren Bilder aus einer anderen Zeit, alte Postkarten eines vergangenen Barcelona, von den niedergerissenen Palästen im Ciudadela-Park nach der 1888er-Weltausstellung, von alten zerfallenen Häusern und Alleen mit nach der damaligen steifen Art gekleideten Menschen, von Fuhrwerken und Erinnerungen, die die Farbe meiner Kindheit hatten. Mit verlorenem Blick schauten mich Gesichter aus dreißig Jahren Abstand an. Auf mehreren Aufnahmen glaubte ich die Züge einer Schauspielerin zu erkennen, die in meiner Jugend populär gewesen und dann in Vergessenheit geraten war. Isabella schaute mich an.
»Erkennen Sie sie?«, fragte sie.
»Ich glaube, sie hieß Irene Sabino. Eine Schauspielerin mit einem gewissen Ruf in den Theatern auf dem Paralelo. Das ist lange her. Da warst du noch nicht geboren.«
»Sehen Sie sich das an.«
Sie zeigte mir ein Bild, auf dem Irene Sabino sich an ein Fenster lehnte, das ich mühelos als eines in meinem Arbeitszimmer im Turm identifizierte.
»Interessant, nicht wahr?«, sagte Isabella. »Glauben Sie, sie hat hier gewohnt?«
Ich zuckte die Schultern.
»Vielleicht war sie die Geliebte dieses Diego Marlasca…«
»Jedenfalls glaube ich nicht, dass uns das etwas angeht.«
»Wie langweilig Sie manchmal sind.«
Sie legte die Bilder in die Dose zurück, wobei ihr eines entglitt. Ich hob es auf und studierte es. Darauf posierte Irene Sabino in einem schimmernden schwarzen Kleid mit einer Gruppe festlich gewandeter Leute in einem Raum, in dem ich den großen Saal des Reitklubs zu erkennen glaubte. Es war eine ganz gewöhnliche Aufnahme von einem Fest, die mir nicht weiter aufgefallen wäre, hätte man nicht im Hintergrund oben auf der Treppe verschwommen einen weißhaarigen Herrn ausmachen können. Andreas Corelli.
»Sie sind ganz blass geworden«, sagte Isabella.
Sie nahm mir das Bild aus den Händen und schaute es wortlos an. Ich stand auf und winkte sie aus dem Zimmer.
»Ich will nicht, dass du hier noch mal reingehst«, sagte ich matt.
»Warum nicht?«
Ich wartete, bis sie draußen war, und schloss ab. Sie schaute mich an, als wäre ich nicht ganz richtig bei Verstand.
»Morgen lässt du die Barmherzigen Schwestern kommen, damit sie den ganzen Kram abholen. Sie sollen alles mitnehmen und wegschmeißen, was sie nicht brauchen können.«
»Aber…«
»Keine Widerrede.«
Ich mochte ihrem Blick nicht begegnen und wandte mich zur Wendeltreppe. Isabella sah mir vom Korridor aus nach.
»Wer ist dieser Mann, Señor Martín?«
»Niemand«, murmelte ich. »Niemand.«
Ich ging ins Arbeitszimmer hinauf. Es war finstere Nacht, der Himmel ohne Mond und Sterne. Ich öffnete die Fenster weit, um die im Dunkeln liegende Stadt zu betrachten. Es ging kaum ein Luftzug, und der Schweiß brannte auf der Haut. Ich setzte mich aufs Fensterbrett, steckte mir die zweite von Isabellas Zigarren an und wartete auf einen frischen Windhauch und einen etwas originelleren Einfall als meine Sammlung von Gemeinplätzen, um den Auftrag des Patrons in Angriff zu nehmen. Da hörte ich, wie sich im unteren Stock die Fensterläden von Isabellas Zimmer öffneten. In den Innenhof fiel ein Rechteck aus Licht, in dem sich ihre Silhouette abzeichnete. Ohne meine Anwesenheit zu bemerken, trat sie ans Fenster und schien hinauszuschauen. Ich sah, wie sie sich langsam auszog, konnte erahnen, wie sie vor den Schrankspiegel trat und ihren Körper betrachtete, wie sie sich mit den Fingerspitzen über den Bauch und die Schnitte auf der Innenseite von Armen und Beinen strich. Sie schien sich lange zu betrachten und löschte dann das Licht.
Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch vor den Stapel Notizen und Anmerkungen, die ich für das Buch des Patrons zusammengetragen hatte und die ich jetzt noch einmal durchging. Entwürfe für Geschichten über mystische Offenbarungen und Propheten, die nach schrecklichen Prüfungen mit einer ihnen offenbarten Wahrheit zurückkehrten, über messianische Thronfolger, die man vor den Türen demütiger, reinherziger Familien ausgesetzt hatte, welche von unheilvollen Imperien verfolgt wurden, Geschichten über Paradiese in anderen Dimensionen, die denen verheißen waren, welche ihr Los und die Gesetze unverzagt hinnahmen, und über müßiggängerische Gottheiten in Menschengestalt, die nichts anderes taten, als das Gewissen von Millionen zarter Primaten telepathisch zu überwinden, Primaten, welche gerade rechtzeitig denken gelernt hatten, um zu entdecken, dass sie in einem verlorenen Winkel des Universums ihrem Schicksal überlassen waren, und deren Eitelkeit — oder Verzweiflung — sie glauben ließ, dass Himmel und Hölle sich tatsächlich um ihre schäbigen kleinen Sünden scherten.
Ich fragte mich, ob es das war, was der Patron in mir gesehen hatte, eine Söldnerseele, die bedenkenlos ein betäubendes Märchen ausheckte, das Kinder zum Einschlafen brachte oder einen verzweifelten armen Teufel dazu verleitete, seinen Nachbarn zu meucheln, und das einzig für die ewige Dankbarkeit von Gottheiten, die sich dem Gesetz des Tötens verschrieben hatten.
Einige Tage zuvor hatte mich der Patron mit einem Schreiben zu einem weiteren Rendezvous bestellt, um den Fortgang meiner Arbeit zu besprechen. Der eigenen Skrupel müde, sagte ich mir, dass bis zu dem Treffen nur noch vierundzwanzig Stunden blieben und ich bei meinem Tempo Gefahr lief, mit leeren Händen und dem Kopf voller Zweifel und Misstrauen zu erscheinen. So tat ich, was ich jahrelang in ähnlichen Lagen getan hatte — ich spannte ein Blatt in die Underwood ein, und mit den Händen auf den Tasten wie ein Pianist in Erwartung des Einsatzes begann ich mein Hirn auszupressen, um zu sehen, was dabei herauskäme.
»Interessant«, sagte der Patron nach der zehnten und letzten Seite. »Sonderbar, aber interessant.«
Wir saßen auf einer Bank im goldenen Halbdunkel des Umbráculo-Pavillons im Ciudadela-Park. Die Lamellen filterten die Sonnenstrahlen zu Goldstaub, die Pflanzen modellierten das Hell und Dunkel des seltsamen Dämmerns um uns herum. Ich zündete mir eine Zigarette an und schaute dem in Spiralen aufsteigenden Rauch nach.
»In Ihrem Mund ist ›sonderbar‹ ein beunruhigendes Adjektiv«, bemerkte ich.
»Ich meinte ›sonderbar‹ im Gegensatz zu ›platt‹«, präzisierte Corelli.
»Aber?«
»Kein Aber, lieber Martín. Ich glaube, Sie haben einen interessanten Weg voller Möglichkeiten gefunden.«
Wenn man einem Romanschriftsteller sagt, einige Seiten seien interessant geraten und steckten voller Möglichkeiten, ist das für ihn der Hinweis, dass es gar nicht gut läuft. Corelli schien meine Besorgnis zu erahnen.
»Sie haben das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt. Anstatt bei den mythologischen Bezügen zu beginnen, haben Sie bei den prosaischsten Quellen angefangen. Darf ich fragen, woher Sie die Idee eines kriegerischen statt eines friedfertigen Messias haben?«
»Die Biologie haben Sie ins Spiel gebracht.«
»Alles, was wir wissen müssen, steht im großen Buch der Natur. Es braucht nichts anderes als Mut, einen lauteren Geist und eine reine Seele, um darin zu lesen«, sagte Corelli.
»In einem der Bücher, die ich konsultiert habe, steht, der Mann erreiche den Zenit seiner Fruchtbarkeit im Alter von siebzehn Jahren, die Frau dagegen erst später. Sie erhält sich ihre Fruchtbarkeit länger und beurteilt und wählt auf mysteriöse Weise das Erbgut, das sie für die Reproduktion zulässt oder zurückweist. Der Mann dagegen bietet einfach an und zehrt sich sehr viel schneller auf. Sein höchstes Fortpflanzungsvermögen fällt mit dem Höhepunkt seines Kampfgeistes zusammen — ein junger Bursche ist der perfekte Soldat. Er hat ein großes Aggressionspotenzial und kaum oder kein kritisches Vermögen, um es zu hinterfragen und zu kanalisieren. Im Lauf der Geschichte haben sich zahlreiche Gesellschaften dieses Aggressionskapital auf verschiedene Art zunutze und aus ihren Halbwüchsigen Soldaten gemacht, Kanonenfutter, um ihre Nachbarn zu unterwerfen oder sich ihrer Angriffe zu erwehren. Irgendetwas hat mir gesagt, unser Protagonist sei ein Gesandter des Himmels, aber ein Gesandter, der in seiner Jugend zu den Waffen gegriffen und die Wahrheit mit Gewalt befreit hat.«
»Haben Sie beschlossen, die Geschichte mit der Biologie zu verquicken, Martín?«
»Ihren Worten glaubte ich zu entnehmen, dass das ein und dasselbe ist.«
Corelli lächelte. Ich weiß nicht, ob er sich dessen bewusst war, aber das ließ ihn immer wie einen hungrigen Wolf aussehen. Ich ignorierte diese Miene, bei der ich Gänsehaut bekam.
»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die meisten großen Religionen sich immer dann herausgebildet beziehungsweise ihren Zenit erreicht haben, wenn die Bevölkerung der Gesellschaften, die sie sich zu eigen machten, zu einem Großteil jung und verarmt war. In diesen Gesellschaften waren fast drei Viertel der Menschen jünger als achtzehn Jahre, die Hälfte davon Männer mit ungezähmtem Willen und blutigem Eifer. Solche Gesellschaften sind gepflügte Äcker für den Samen und die Blüte des Glaubens.«
»Das ist eine Vereinfachung, aber ich sehe, worauf Sie hinauswollen, Martín.«
»Ich weiß, es ist verkürzt. Aber in Anbetracht dieser Grundzüge habe ich mich gefragt, warum nicht aufs Ganze gehen und eine Mythologie auf diesen kriegerischen Messias aus Blut und Zorn gründen, der sein Volk, sein Erbgut, seine Frauen und seine Vorfahren, die ihm diesen Auftrag gaben, von der politischen und rassischen Doktrin seiner Feinde befreit, die seine neue Lehre nicht akzeptieren oder sich ihr nicht unterwerfen wollen.«
»Und was ist mit den Erwachsenen?«
»Die Erwachsenen erreichen wir, indem wir an ihre Enttäuschung appellieren. Mit dem Alterwerden und der zunehmenden Desillusionierung der Träume und Wünsche der Jugend fühlt man sich immer mehr als Opfer der Welt und seiner Mitmenschen. Wir finden immer jemanden, der an unserem Unglück oder Scheitern schuld ist, oder jemanden, den wir aussondern wollen. Sich einer Lehre anzuschließen, die diesen Groll und dieses Selbstmitleid ins Positive wendet, gibt neuen Mut und Kraft. So fühlt sich der Erwachsene als Teil der Gruppe und überwindet seine verlorenen Wünsche und Sehnsüchte durch die Gemeinschaft.«
»Mag sein«, räumte Corelli ein. »Und diese ganze Heraldik des Todes mit Fahnen und Wappen? Halten Sie das nicht für kontraproduktiv?«
»Nein, das finde ich wesentlich. Die Kutte macht zwar keinen Mönch, wohl aber den Gläubigen.«
»Und die Frauen? Tut mir leid, aber ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein größerer Teil der Frauen in einer Gesellschaft an Fähnchen und Wimpel glaubt. Pfadfinderpsychologie ist etwas für Kinder.«
»Grundpfeiler jeder organisierten Religion ist mit wenigen Ausnahmen die Unterwerfung, Unterdrückung und Entwertung der Frau innerhalb der Gruppe. Die Frau hat ihre Rolle als passives, mütterliches ätherisches Wesen zu akzeptieren, und sollte sie einmal nach Autorität oder Unabhängigkeit streben, wird sie für die Folgen büßen müssen. Sie kann unter den Symbolen einen Ehrenplatz einnehmen, nicht jedoch in der Hierarchie. Religion und Krieg sind Männersache. Und manchmal ist die Frau am Ende die Komplizin und Vollstreckerin ihrer eigenen Unterwerfung.«
»Und die Alten?«
»Das Alter ist das Schmieröl der Leichtgläubigkeit. Wenn der Tod anklopft, springt die Skepsis zum Fenster hinaus. Ein kleiner Herzanfall, und man glaubt sogar an Rotkäppchen.«
Corelli lachte.
»Vorsicht, Martín, ich habe den Eindruck, Sie übertreffen mich bald an Zynismus.«
Ich schaute ihn an wie ein folgsamer Schüler, der nach dem Beifall eines anspruchsvollen Lehrers giert. Er tätschelte mein Knie und nickte befriedigt.
»Das gefällt mir. Mir gefällt das Aroma von alledem. Sie sollten weiter darüber nachdenken und eine Form dafür finden. Ich werde Ihnen mehr Zeit geben. Und wir treffen uns in zwei, drei Wochen wieder — ich benachrichtige Sie dann einige Tage vorher.«
»Müssen Sie die Stadt verlassen?«
»Verlagsgeschäfte erfordern meine Anwesenheit, und ich fürchte, es stehen mir einige Reisetage bevor. Aber ich fahre zufrieden ab. Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich wusste ja, dass ich meinen idealen Kandidaten gefunden habe.«
Er stand auf und reichte mir die Hand. Ich trocknete meine verschwitzten Handflächen am Hosenbein ab und schlug ein.
»Man wird Sie vermissen«, improvisierte ich.
»Übertreiben Sie nicht, Martín, bis jetzt haben Sie ihre Sache gut gemacht.«
Ich sah ihn im Schatten des Umbráculo-Pavillons davongehen, während seine Schritte verklangen. Ich blieb noch eine gute Weile sitzen und fragte mich, ob der Patron wohl angebissen und all die Lügen geschluckt hatte, die ich ihm aufgetischt hatte. Jedenfalls war ich sieher, ihm genau das erzählt zu haben, was er hören wollte. Ich hoffte, dass er sich für den Moment mit diesen Ungeheuerlichkeiten zufrieden gab und überzeugt war, seinen Untergebenen, den glücklosen Schriftsteller, zu sich bekehrt zu haben. Alles, womit ich mir etwas Zeit erkaufen konnte, um herauszufinden, auf was ich mich da eingelassen hatte, schien mir die Mühe wert. Als ich aufstand und den Pavillon verließ, zitterten meine Hände noch immer.
Wenn man jahrelang Kriminalgeschichten verfasst hat, kennt man einige Grundregeln dafür, wie eine Ermittlung anzugehen ist. Eine von ihnen lautet, dass jede halbwegs solide Handlung, auch die einer Liebesgeschichte, mit dem Geruch nach Geld und Immobilienurkunden beginnt und endet. Vom Ciudadela-Park aus ging ich zum Grundbuchamt in der Calle Consejo de Ciento, um die Akten einzusehen, die mit dem Kauf, Verkauf und der Eigentümerschaft meines Hauses zu tun hatten. In diesen Grundbüchern finden sich fast ebenso viele Wahrheiten über die Realien des Lebens wie in den gesammelten Werken der vortrefflichsten Philosophen, wenn nicht sogar mehr.
Ich begann mit dem Eintrag, der die Vermietung des Hauses Nr. 30 in der Calle Flassaders an mich verzeichnete. Dort fanden sich die nötigen Hinweise, um der Geschichte des Hauses nachzuspüren. Die Bank Hispano Colonial hatte es 1911 im Zuge des Pfändungsprozesses gegen die Familie Marlasca übernommen. Besagte Familie hatte das Haus anscheinend nach dem Tode seines ehemaligen Eigentümers geerbt. In diesem Zusammenhang wurde auch ein Anwalt namens S. Valera erwähnt, der in der Streitsache als Vertreter der Familie fungiert hatte. Ein Stück weiter in der Vergangenheit zurück fand ich den Eintrag über den Erwerb der Liegenschaft durch Don Diego Marlasca Pongiluppi von einem gewissen Bernabe Massot y Caballé im Jahre 1902. Auf einem Zettel notierte ich mir sämtliche Angaben, vom Namen des Anwalts und der Beteiligten an den Transaktionen bis zu den dazugehörigen Daten. Einer der Angestellten wies lautstark darauf hin, dass das Amt in einer Viertelstunde geschlossen werde, und ich schickte mich an zu gehen, suchte vorher aber noch in aller Eile nach den Eigentumsverhältnissen von Andreas Corellis Villa am Park Güell. Nach fünfzehn Minuten erfolglosen Nachschlagens schaute ich vom Buch auf und sah in die aschfahlen Augen des Angestellten. Es war ein abgehärmter Mann mit von Pomade glänzendem Schnurrbart und Haar, der die giftige Trägheit derer offenbarte, die ihre Anstellung als Tribüne sehen, um den anderen das Leben schwerzumachen.
»Entschuldigen Sie. Ich finde einen Eigentumseintrag nicht«, sagte ich.
»Wahrscheinlich weil es ihn nicht gibt oder Sie sich nicht auskennen. Für heute ist geschlossen.«
Ich erwiderte diese überbordende Liebenswürdigkeit und Effizienz mit einem strahlenden Lächeln.
»Vielleicht finde ich ihn mit Ihrer erfahrenen Hilfe.«
Er sah mich angewidert an und riss mir das Buch aus den Händen.
»Kommen Sie morgen wieder.«
Von da aus führten mich meine Schritte zu dem erhabenen Gebäude der Anwaltskammer in der Calle Mallorca, nur drei Querstraßen weiter oben. Über die breite Treppe, die ich unter Kristalllüstern hinanstieg, wachte eine Art Justitia-Statue, deren Büste und Aussehen einer der Heroinen vom Paralelo ähnelte. Im Sekretariat empfing mich ein mausartiges Männchen mit freundlichem Lächeln und fragte mich nach meinem Begehr.
»Ich suche einen Anwalt.«
»Da sind Sie genau am richtigen Ort. Hier wissen wir schon nicht mehr, wie wir sie loswerden sollen. Jeden Tag werden es mehr. Sie vermehren sich wie Kaninchen.«
»Das ist die moderne Welt. Meiner heißt — oder hieß —Valera, S. Valera.«
Mit leisem Gemurmel verlor sich das Männchen in einem Labyrinth von Aktenschränken. Auf den Empfangstisch gestützt, musterte ich während des Wartens die Einrichtung, die von dem erdrückenden Gewicht des Gesetzes zu künden schien. Fünf Minuten später kam das Männchen mit einem Aktendeckel zurück.
»Ich finde zehn Valeras. Zwei mit S, Sebastian und Soponcio.«
»Soponcio?«
Soponcio bedeutete so viel wie Ohnmachtsanfall.
»Sie sind noch sehr jung, aber vor Jahren war das ein klangvoller Name, sehr geeignet für die Ausübung des Justizberufs. Dann ist der Charleston gekommen und hat alles ruiniert.«
»Lebt Don Soponcio noch?«
»Laut Archiv und seiner Abmeldung von der Mitgliederliste der Kammer ist Soponcio Valera y Menacho im Jahre 1919 in das Reich Unseres Herrn eingegangen. Memento mori. Sebastian ist der Sohn.«
»Ausübend?«
»Stetig und vollamtlich. Ich ahne, dass Sie seine Adresse möchten.«
»Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht.«
Das Männchen schrieb sie mir auf ein Zettelchen.
»Diagonal 442. Das ist ein Katzensprung von hier, aber es ist bereits zwei, und um diese Zeit führen Anwälte von Rang reiche Witwen oder Textil- und Sprengstofffabrikanten zum Essen aus. Ich würde bis um vier warten.«
Ich steckte die Adresse in die Jacketttasche.
»Das werde ich. Herzlichen Dank für Ihre Hilfe.«
»Dazu sind wir da. Gott behüte Sie.«
Um die zwei Stunden bis zum Besuch bei Valera totzuschlagen, fuhr ich mit der Straßenbahn zur Vía Layetana hinunter und stieg auf der Höhe der Calle Condal aus. Die Buchhandlung Sempere und Söhne war nur ein paar Schritte von hier entfernt, und ich wusste aus Erfahrung, dass der alte Buchhändler sein Geschäft entgegen der üblichen Praxis seines Gewerbes über Mittag geöffnet hielt. Ich fand ihn wie immer am Ladentisch, wo er Bücher ordnete und zwischendurch zahlreiche Kunden bediente, die zwischen Tischen und Regalen Jagd auf irgendeinen Schatz machten. Als er mich sah, kam er mit einem Lächeln auf mich zu. Er war hagerer und blasser als das letzte Mal. Offenbar erkannte er die Besorgnis in meinem Blick: Er zuckte die Achseln und spielte das Ganze mit einer Handbewegung herunter.
»Lieber reich und gesund als arm und krank. Sie sind ein gestandenes Mannsbild, und ich bin fix und fertig, wie Sie sehen«, sagte er.
»Sind Sie wohlauf?«
»Frisch wie eine Rose. Die verdammte Angina Pectoris. Nichts Ernsthaftes. Was führt Sie her, mein lieber Martín?«
»Ich wollte Sie zum Essen einladen.«
»Vielen Dank, aber ich kann das Ruder nicht verlassen. Mein Sohn ist nach Sarrià gefahren, um eine Sammlung zu schätzen, und es steht nicht so, dass wir schließen können, wenn die Kundschaft unterwegs ist.«
»Sagen Sie nicht, Sie haben Geldprobleme.«
»Das ist eine Buchhandlung, Martín, keine Rechtskanzlei. Hier wirft das Wort gerade das Nötigste ab, und manchmal nicht einmal das.«
»Wenn Sie Hilfe brauchen…«
Sempere stoppte mich mit erhobener Hand.
»Wenn Sie mir helfen wollen, dann kaufen Sie mir ein Buch ab.«
»Wie Sie wissen, ist die Schuld, in der ich bei Ihnen stehe, nicht mit Geld zu bezahlen.«
»Ein Grund mehr, nicht einmal daran zu denken. Machen Sie sich keine Sorgen um uns, Martín, hier trägt man mich höchstens in einem Pinienholzsarg raus. Aber wenn Sie wollen, dürfen Sie mit mir ein schmackhaftes Mahl aus Brot mit Rosinen und Frischkäse aus Burgos teilen. Damit und mit dem Grafen von Monte Cristo kann man hundert Jahre überleben.«
Sempere rührte kaum einen Bissen an. Er lächelte müde und tat so, als interessierte ihn, was ich sagte, aber ich sah, dass ihm zeitweise sogar das Atmen schwerfiel.
»Erzählen Sie, Martín, woran arbeiten Sie gerade?«
»Schwer zu erklären. Es ist ein Auftrag.«
»Ein Roman?«
»Nicht direkt. Ich weiß auch nicht, wie ich es nennen soll.«
»Wichtig ist, dass Sie arbeiten. Ich habe immer gesagt, Müßiggang weicht den Geist auf. Man muss den Kopf beschäftigt halten. Und wenn man kein Hirn hat, dann wenigstens die Hände.«
»Aber manchmal arbeitet man auch zu viel, Señor Sempere. Sollten Sie sich nicht eine Atempause gönnen? Wie viele Jahre sind Sie hier schon auf Posten?«
Sempere schaute um sich.
»Dieser Ort ist mein Leben, Martín. Was soll ich tun? Mich auf eine Parkbank in die Sonne setzen, Tauben füttern und übers Rheuma jammern? Ich wäre in zehn Minuten tot. Mein Platz ist hier. Und mein Sohn ist noch nicht so weit, um das Heft in die Hand zu nehmen, auch wenn er es meint.«
»Aber er arbeitet hart. Und er ist ein guter Mensch.«
»Ein zu guter Mensch, unter uns gesagt. Manchmal schaue ich ihn an und frage mich, was wohl aus ihm wird, wenn ich eines Tages nicht mehr bin. Wie er zurechtkommt…«
»Das tun alle Väter, Señor Sempere.«
»Auch der Ihre? Oh, entschuldigen Sie, ich wollte nicht…«
»Macht nichts. Mein Vater hatte schon genug mit sich zu tun, als dass er sich noch mit meinen Problemen hätte herumschlagen können. Ihr Sohn hat bestimmt mehr Erfahrung, als Sie glauben.«
Er schaute mich zweifelnd an.
»Wissen Sie, was ich glaube, was ihm fehlt?«
»Gerissenheit?«
»Eine Frau.«
»Es wird ihm ja nicht an Freundinnen mangeln bei all den Täubchen, die sich vorm Schaufenster drängeln, um ihn zu bestaunen.«
»Ich meine eine wirkliche Frau, eine, die einen dazu bringt, das zu sein, was man sein muss.«
»Er ist doch noch jung. Lassen Sie ihn sich noch ein paar Jahre amüsieren.«
»Das wäre ja wunderbar — wenn er sich wenigstens amüsieren würde. Hätte ich in seinem Alter einen solchen Ansturm junger Mädchen erlebt, ich hätte gesündigt wie ein Kardinal.«
»Gott gibt dem Brot, der keine Zähne hat.«
»Genau das fehlt ihm: Zähne. Und die Lust zuzubeißen.«
Ich hatte den Eindruck, etwas gehe ihm durch den Kopf. Er schaute mich an und lächelte.
»Vielleicht können ja Sie ihm helfen…«
»Ich?«
»Sie sind ein Mann von Welt, Martín. Und machen Sie nicht so ein Gesicht. Wenn Sie sich bemühen, finden Sie sicherlich ein nettes Mädchen für meinen Sohn. Ein hübsches Gesicht hat er ja. Den Rest bringen Sie ihm bei.«
Mir fehlten die Worte.
»Wollten Sie mir nicht helfen?«, fragte der Buchhändler. »Jetzt haben Sie die Möglichkeit dazu.«
»Ich habe von Geld gesprochen.«
»Und ich spreche von meinem Sohn, von der Zukunft dieses Hauses. Von meinem ganzen Leben.«
Ich seufzte. Sempere nahm meine Hand und drückte sie mit dem bisschen Kraft, das er noch hatte.
»Versprechen Sie mir, dass Sie mich nicht von dieser Welt gehen lassen, ohne dass ich meinen Sohn mit einer Frau verheiratet sehe, für die es sich zu sterben lohnt. Und dass er mir einen Enkel schenkt.«
»Hätte ich das geahnt, wäre ich nicht gekommen.«
Sempere lächelte.
»Manchmal denke ich, Sie hätten auch mein Sohn sein können, Martín.«
Ich schaute den Buchhändler an, der zerbrechlicher und älter war denn je, nur noch ein Schatten des kräftigen, imposanten Mannes, der mir seit meiner Kindheit in Erinnerung war, und es kam mir vor, als bräche für mich eine Welt zusammen. Ich trat zu ihm, und ehe ich mich’s versah, tat ich, was ich in all den Jahren, die ich ihn kannte, noch nie getan hatte: Ich küsste ihn auf die fleckenübersäte Stirn mit dem spärlichen grauen Haar.
»Versprechen Sie es mir?«
»Ich verspreche es Ihnen«, sagte ich auf dem Weg zum Ausgang.
Valeras Kanzlei nahm das Dachgeschoss eines ausgefallenen modernistischen Hauses in der Avenida Diagonal 442 ein, nur wenige Schritte vom Paseo de Gracia entfernt. Das Gebäude sah aus wie eine Kreuzung zwischen einer gigantischen Standuhr und einem Piratenschiff und hatte hohe Fenster und ein Dach mit grünen Mansarden. Überall sonst auf der Welt wäre dieser barockbyzantinische Bau zum Weltwunder oder zum teuflischen Machwerk eines verrückten, von jenseitigen Geistern besessenen Künstlers erklärt worden. In Barcelona jedoch, wo an jeder Ecke des Ensanche-Viertels derartige Gebäude wie Pilze aus dem Boden schossen, war es kaum ein Wimpernzucken wert.
Im Hausflur fand ich einen Aufzug, der aussah, als hätte ihn eine große Spinne hinterlassen, die Kathedralen statt Netze webte. Der Pförtner öffnete die Tür und sperrte mich in die seltsame Kapsel, die in der Mitte des Treppenhauses aufzusteigen begann. Eine finster dreinblickende Sekretärin öffnete mir die verzierte Eichentür und bat mich herein. Ich nannte ihr meinen Namen und sagte, ich hätte keinen Termin, mein Besuch habe mit dem Kauf einer Liegenschaft im Ribera-Viertel zu tun. In ihrem unerschütterlichen Blick veränderte sich etwas.
»Das Haus mit dem Turm?«, fragte sie.
Ich nickte. Sie führte mich in ein leeres Büro. Ich ahnte, dass das nicht das offizielle Wartezimmer war.
»Bitte warten Sie einen Moment, Señor Martín. Ich sage dem Herrn Anwalt, dass Sie hier sind.«
Ich verbrachte fünfundvierzig Minuten in diesem Büro, umgeben von Regalen mit grabsteingroßen Büchern, auf deren Rücken Titel standen wie »1888–1889, B.C.A. Erste Abteilung. Titel zwei«, die einen zur Lektüre regelrecht verführten. Das Büro hatte ein großes Fenster über der Diagonal, von dem aus man die ganze Stadt betrachten konnte. Die Möbel rochen nach antiken, in Geld eingelegten Edelhölzern. Die Teppiche und schweren Ledersessel erinnerten an die Atmosphäre eines britischen Clubs. Ich versuchte, eine der Lampen auf dem Schreibtisch anzuheben, und schätzte sie auf mindestens dreißig Kilo. Ein großes Ölgemälde über einem noch jungfräulichen Kamin zeigte unzweifelhaft die überheblich-ausladende Gestalt des unaussprechlichen Don Soponcio Valera y Menacho. Der Backen- und Schnauzbart des kolossalischen Rechtsanwalts glich der Mähne eines alten Löwen, und mit Augen aus Feuer und Stahl beherrschte er noch aus dem Jenseits jeden Winkel des Raums, einen Ernst ausstrahlend wie anlässlich eines Todesurteils.
»Er spricht zwar nicht, aber wenn man das Bild eine Weile anschaut, hat man das Gefühl, er fange jeden Augenblick an«, sagte eine Stimme in meinem Rücken.
Ich hatte ihn nicht eintreten hören. Sebastian Valera war ein Mann mit diskretem Gang, der aussah, als habe er den größten Teil seines Lebens versucht, aus dem Schatten seines Vaters hervorzukriechen, und es jetzt mit seinen etwas über fünfzig Jahren endgültig aufgegeben. Er hatte einen intelligenten, durchdringenden Blick und die vortreffliche Haltung, die nur echten Prinzessinnen und wirklich teuren Anwälten eignet. Er gab mir die Hand.
»Es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen, aber ich hatte nicht mit Ihrem Besuch gerechnet.«
Er lud mich ein, Platz zu nehmen.
»Im Gegenteil. Ich danke Ihnen für die Freundlichkeit, mich zu empfangen.«
Valera lächelte, wie es nur jemand kann, der den Preis jeder Minute kennt und festsetzt.
»Meine Sekretärin sagt mir, Ihr Name sei David Martín. David Martín, der Schriftsteller?«
Anscheinend verriet mich mein überraschtes Gesicht.
»Ich stamme aus einer Familie von Leseratten«, erklärte er. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Ich hätte von Ihnen gern eine Auskunft bezüglich des Verkaufs eines Hauses in —«
»Des Hauses mit dem Turm?«, unterbrach er mich höflich.
»Ja.«
»Kennen Sie es denn?«
»Ich wohne darin.«
Valera schaute mich lange mit erstarrtem Lächeln an. Dann richtete er sich in seinem Sessel auf und nahm eine angespannte und abwehrende Haltung ein.
»Sind Sie der gegenwärtige Besitzer?«
»Eigentlich wohne ich dort zur Miete.«
»Und was möchten Sie wissen, Señor Martín?«
»Wenn es möglich ist, würde ich gern Genaueres darüber erfahren, wie die Bank Hispano Colonial die Liegenschaft erworben hat, und einige Informationen über den ehemaligen Besitzer einholen.«
»Don Diego Marlasca«, murmelte der Anwalt. »Darf ich nach der Art Ihres Interesses fragen?«
»Reine Neugier. Neulich habe ich während eines Umbaus eine Reihe von Dingen gefunden, von denen ich annehme, dass sie ihm gehörten.«
Er runzelte die Stirn.
»Dinge?«
»Ein Buch. Genauer gesagt, ein Manuskript.«
»Señor Marlasca war ein großer Büchernarr. Tatsächlich war er Autor zahlreicher juristischer und historischer Werke und hat auch über andere Themen publiziert. Ein großer Gelehrter. Und auch ein großer Mann, aber am Ende seines Lebens haben gewisse Leute versucht, seinen Ruf zu besudeln.«
Der Anwalt sah mir mein Befremden an.
»Ich nehme an, Sie sind mit den Umständen von Señor Marlascas Tod nicht vertraut.«
»Ich fürchte, nein.«
Valera seufzte, als ränge er mit sich, ob er weitersprechen solle oder nicht.
»Sie werden doch nicht darüber schreiben, nicht wahr? Und auch nicht über Irene Sabino?«
»Nein.«
»Habe ich Ihr Wort?«
Ich nickte.
Valera zuckte die Achseln.
»Ich könnte Ihnen auch nicht mehr sagen als das, was seinerzeit schon erzählt worden ist«, sagte er mehr zu sich selbst.
Er warf einen kurzen Blick auf das Porträt seines Vaters und schaute dann mich an.
»Diego Marlasca war der Partner und beste Freund meines Vaters. Sie haben zusammen diese Kanzlei gegründet. Señor Marlasca war ein überaus brillanter Mann. Leider war er auch ein komplizierter Mensch, der immer wieder in lange Phasen der Melancholie verfiel. Es kam ein Punkt, an dem mein Vater und Señor Marlasca beschlossen, ihre Verbindung aufzulösen. Señor Marlasca hängte den Anwaltsberuf an den Nagel, um sich seiner ersten Berufung zu widmen, dem Schreiben. Insgeheim sollen ja fast alle Anwälte den Wunsch verspüren, ihre Tätigkeit aufzugeben und Schriftsteller zu werden…«
»… bis sie das Einkommen vergleichen.«
»Jedenfalls hat Don Diego mit einer damals ziemlich populären Schauspielerin eine freundschaftliche Beziehung geknüpft, Irene Sabino, für die er eine Komödie schreiben wollte. Mehr war da nicht. Señor Marlasca war ein Kavalier und seiner Gattin niemals untreu, aber Sie wissen ja, wie die Leute sind. Geschwätz, Gerüchte und Eifersüchteleien. Man munkelte — was nicht stimmte —, Don Diego habe eine heimliche Romanze mit Irene Sabino unterhalten. Seine Frau verzieh ihm das nie, und die Ehe wurde geschieden. Señor Marlasca, am Boden zerstört, erwarb das Haus mit dem Turm und zog dort ein. Leider lebte er kaum ein Jahr darin, bis er bei einem Unfall ums Leben kam.«
»Bei was für einem Unfall?«
»Er ertrank. Eine Tragödie.«
Er hatte die Augen gesenkt und atmete schwer.
»Und der Skandal?«
»Sagen wir, es gab Lästerzungen, die verbreiteten, Señor Marlasca habe nach einer amourösen Enttäuschung mit Irene Sabino Hand an sich gelegt.«
»Und war dem so?«
Valera nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.
»Wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll, ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Man soll die Vergangenheit ruhen lassen.«
»Und was ist aus Irene Sabino geworden?«
Er setzte die Brille wieder auf.
»Ich dachte, Ihr Interesse beschränke sich auf Señor Marlasca und die Aspekte des Kaufes.«
»Ja, aber unter Señor Marlascas persönlichen Dingen fand ich auch zahlreiche Aufnahmen von Irene Sabino sowie Briefe, die sie an ihn geschrieben hatte…«
»Worauf wollen Sie mit alledem hinaus?«, stieß Valera hervor. »Wollen Sie etwa Geld?«
»Nein.«
»Das freut mich, niemand wird Ihnen nämlich welches geben. Niemand interessiert sich mehr für diese Geschichte. Verstehen Sie mich?«
»Vollkommen, Señor Valera. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten oder unangebrachte Andeutungen machen. Es tut mir leid, wenn ich Sie mit meinen Fragen verletzt habe.«
Er lächelte und ließ einen artigen Seufzer hören, als wäre das Gespräch für ihn beendet.
»Nein, es ist schon gut. Ich bitte Sie meinerseits um Entschuldigung.«
Die versöhnliche Stimmung des Anwalts nutzend, setzte ich meine sanfteste Miene auf.
»Vielleicht könnte Doña Alicia Marlasca, seine Witwe…«
Valera schrumpfte in seinem Sessel zusammen, er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.
»Señor Martín, Sie dürfen mich nicht missverstehen, aber es gehört zu meiner Pflicht als Anwalt der Familie, deren Privatsphäre zu wahren. Aus naheliegenden Gründen. Es ist viel Zeit vergangen, und ich möchte nicht, dass alte Wunden jetzt wieder aufreißen, das würde nirgends hinführen.«
»Ich verstehe.«
Er schaute mich angespannt an.
»Und Sie sagen, Sie haben ein Buch gefunden?«, fragte er.
»Ja — ein Manuskript. Wahrscheinlich hat es keine Bedeutung.«
»Wahrscheinlich nicht. Wovon handelt es denn?«
»Theologie, würde ich sagen.«
Valera nickte.
»Überrascht Sie das?«, fragte ich.
»Nein, im Gegenteil. Don Diego war eine Autorität auf dem Gebiet der Religionsgeschichte. Ein weiser Mann. In diesem Haus wird seiner immer noch mit großer Zuneigung gedacht. Sagen Sie, zu welchen konkreten Aspekten des Kaufs wollten Sie denn etwas erfahren?«
»Ich glaube, Sie haben mir schon sehr geholfen, Señor Valera. Ich möchte Ihnen nicht noch mehr Zeit stehlen.«
Er nickte erleichtert.
»Sie interessiert das Haus, nicht wahr?«, fragte er.
»Ja, ein merkwürdiger Ort«, pflichtete ich ihm bei.
»Ich kann mich erinnern, als junger Mann einmal dort gewesen zu sein, kurz nachdem Don Diego es gekauft hatte.«
»Wissen Sie, warum er es gekauft hat?«
»Er sagte, er sei seit seiner Jugend fasziniert davon gewesen und habe immer gedacht, er würde gern dort wohnen. Das war ganz Don Diego. Manchmal war er wie ein kleiner Junge, der für eine schlichte Illusion alles hergeben konnte.«
Ich sagte nichts.
»Geht es Ihnen gut?«
»Ausgezeichnet. Wissen Sie etwas über den Besitzer, dem Señor Marlasca es abgekauft hat? Einen gewissen Bernabe Massot?«
»Einer von denen, die in Südamerika reich geworden und dann wieder heimgekehrt sind. Er war nie länger als eine Stunde im Haus. Er hatte es nach seiner Rückkehr aus Kuba gekauft und ließ es dann jahrelang leerstehen. Warum, hat er nie gesagt. Er lebte in einem großen Haus, das er sich in Arenys de Mar hatte bauen lassen. Dann verkaufte er das Haus mit dem Turm für einen Pappenstiel — er wollte nichts mehr davon wissen.«
»Und vor ihm?«
»Ich glaube, da wohnte ein Geistlicher darin. Ein Jesuit. Ich bin nicht sicher. Mein Vater hat Don Diegos Geschäfte geführt und bei dessen Tod sämtliche Archive vernichtet.«
»Warum hat er das wohl getan?«
»Aus den genannten Gründen. Um Gerüchten vorzubeugen und das Andenken seines Freundes zu wahren, vermute ich. Aber gesagt hat er es mir nie. Mein Vater war kein Mann, der seine Schritte erklärt hätte. Er wird seine Gründe gehabt haben. Zweifellos gute Gründe. Don Diego war sein bester Freund, nicht nur sein Teilhaber, und all das war sehr schmerzhaft für ihn.«
»Was wurde aus dem Jesuiten?«
»Ich glaube, er bekam disziplinarische Probleme mit dem Orden. Er war ein Freund von Mosén Cinto Verdaguer, und ich glaube, er war in einige seiner Probleme mit verwickelt.«
»Exorzismus?«
»Geschwätz.«
»Wie kann sich ein aus dem Orden verstoßener Jesuit ein solches Haus leisten?«
Valera zuckte wieder die Schultern, und ich vermutete, am Boden des Fasses angelangt zu sein.
»Ich würde Ihnen gern noch weiter helfen, Señor Martín, aber ich weiß nicht, wie. Glauben Sie mir.«
»Danke für Ihre Zeit, Señor Valera.«
Der Anwalt nickte und drückte auf einen Knopf auf dem Schreibtisch. Die Sekretärin erschien in der Tür. Valera reichte mir die Hand.
»Señor Martín möchte gehen. Begleiten Sie ihn, Margarita.«
Sie nickte und führte mich hinaus. Bevor ich das Büro verließ, wandte ich mich noch einmal um und sah, dass der Anwalt niedergeschlagen unter dem Bild seines Vaters zusammengesunken war. Ich folgte Margarita zur Tür, und gerade als sie sie hinter mir schließen wollte, drehte ich mich um und fragte mit meinem unschuldigsten Lächeln: »Verzeihen Sie, Anwalt Valera hat mir vorhin Señora Marlascas Adresse genannt, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich die Hausnummer richtig in Erinnerung habe…«
Margarita seufzte, begierig, mich loszuwerden.
»13. Carretera de Vallvidrera 13.«
»Ach ja, natürlich.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Margarita.
Bevor ich ihren Abschiedsgruß erwidern konnte, schloss sich die Tür so würdevoll und unwiderruflich wie ein heiliges Grab.
Als ich zum Haus mit dem Turm zurückkam, erblickte ich plötzlich das, was mir für schon so lange Zeit Zuhause und Gefängnis war, mit anderen Augen. Schon im Eingang hatte ich das Gefühl, den Schlund eines steinernen Schattenwesens zu durchschreiten. Wie durch dessen Eingeweide stieg ich die Treppe hinauf. Als ich im ersten Stock die Wohnungstür öffnete und in den langen, düsteren Korridor trat, der sich im Halbdunkel verlor, fühlte ich mich erstmals wie im Vorzimmer eines argwöhnischen, vergifteten Geistes. Am anderen Ende zeichnete sich im scharlachroten, von der Veranda her einfallenden Licht der Abenddämmerung Isabella ab, die mir entgegenkam. Ich schloss die Tür und knipste die Lampe an.
Isabella hatte sich wie eine feine junge Dame gekleidet, das Haar hochgesteckt und mit dem Kajalstift einige geschickte Linien gezogen, sodass sie zehn Jahre älter wirkte.
»Du siehst sehr hübsch und elegant aus«, sagte ich frostig.
»Fast wie eine junge Frau Ihres Alters, nicht? Gefällt Ihnen das Kleid?«
»Woher hast du das?«
»Aus einem der Koffer im Zimmer am Ende des Flurs. Ich glaube, es gehörte Irene Sabino. Wie finden Sie es? Passt es mir nicht wie angegossen?«
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst das alles abholen lassen.«
»Das habe ich auch versucht. Heute Morgen bin ich zur Kirchgemeinde gegangen, und die haben mir gesagt, sie holen nichts ab, aber wir können es selber hinbringen, wenn wir wollen.«
Ich schaute sie an und sagte nichts.
»Das stimmt wirklich.«
»Zieh das aus und bring es dahin zurück, wo du es gefunden hast. Und wasch dir das Gesicht. Du siehst ja aus wie…«
»Wie eine Nutte?«
Seufzend schüttelte ich den Kopf.
»Nein. Du könntest nie wie eine Nutte aussehen, Isabella.«
»Natürlich. Darum gefalle ich Ihnen auch so wenig«, murmelte sie, machte kehrt und ging auf ihr Zimmer zu.
»Isabella«, rief ich.
Sie überhörte es und ging hinein.
»Isabella!«, wiederholte ich lauter.
Sie warf mir einen feindseligen Blick zu und schmetterte die Tür ins Schloss. Ich hörte sie im Zimmer herumkramen, trat vor die Tür und klopfte an. Keine Antwort. Ich klopfte erneut. Nichts. Als ich die Tür öffnete, sah ich, dass sie dabei war, ihre wenigen Habseligkeiten in eine Tasche zu packen.
»Was machst du da?«
»Ich gehe. Jawohl, ich gehe und lasse Sie in Frieden. Oder im Krieg — bei Ihnen weiß man ja nie.«
»Darf ich fragen, wohin du gehst?«
»Was spielt das schon für eine Rolle? Ist das eine rhetorische oder eine ironische Frage? Natürlich, für Sie ist das gehupft wie gesprungen, aber ich Dummkopf kann das nicht unterscheiden.«
»Isabella, warte mal und —«
»Sorgen Sie sich nicht um das Kleid, ich zieh es gleich aus. Und die Schreibfedern können Sie zurückbringen, ich habe sie nicht benutzt, und gefallen tun sie mir auch nicht. Kitsch für kleine Mädchen im Vorschulalter.«
Ich trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckte zurück, als hätte eine Schlange sie berührt.
»Rühren Sie mich nicht an.«
Schweigend zog ich mich zur Schwelle zurück. Isabellas Hände und Lippen zitterten.
»Verzeih mir, Isabella. Bitte. Ich wollte dich nicht kränken.«
Sie sah mich mit nassen Augen und einem bitteren Lächeln an.
»Sie haben noch nie etwas anderes getan. Seit ich hier bin. Sie haben nichts anderes getan als mich beschimpft und wie eine dumme Kuh behandelt, die keine Ahnung hat.«
»Verzeih mir. Lass das. Geh nicht.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich dich darum bitte.«
»Wenn ich Mitleid und Erbarmen will, finde ich sie auch anderswo.«
»Das ist weder Mitleid noch Erbarmen, es sei denn, du empfindest es für mich. Ich bitte dich zu bleiben der Dummkopf bin ich, und ich will nicht allein sein. Ich kann nicht allein sein.«
»Wie schön. So viel Nächstenliebe. Kaufen Sie sich doch einen Hund.«
Sie ließ die Tasche aufs Bett fallen und trat herausfordernd vor mich hin. Nachdem sie ihre Tränen getrocknet hatte, ließ sie der angestauten Wut freien Lauf.
»Wenn wir schon ›Die Stunde der Wahrheit‹ spielen, dann lassen Sie mich Ihnen sagen, dass Sie immer allein bleiben werden. Sie werden allein bleiben, weil Sie weder lieben noch teilen können. Sie sind genau wie diese Wohnung, die mir die Haare zu Berge stehen lässt. Es wundert mich nicht, dass Ihnen Ihre junge Dame in Weiß einen Korb gegeben hat und alle Sie verlassen. Sie lieben nicht, und Sie lassen sich nicht lieben.«
Unglücklich schaute ich sie an. Ich fühlte mich, als hätte ich aus heiterem Himmel eine Tracht Prügel bekommen. Stammelnd suchte ich nach Worten.
»Gefällt dir die Garnitur wirklich nicht?«, brachte ich schließlich heraus.
Erschöpft verdrehte sie die Augen.
»Machen Sie nicht so ein Gesicht wie ein geprügelter Hund — ich mag ja ein Dummkopf sein, aber so blöd bin ich auch wieder nicht.«
Ich schwieg, an den Türrahmen gelehnt. Isabella beobachtete mich mit einer Mischung aus Argwohn und Mitleid.
»Das habe ich nicht so gemeint mit Ihrer Freundin, der von den Fotos. Entschuldigen Sie«, sagte sie leise.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es stimmt.«
Mit gesenktem Blick ging ich hinaus und flüchtete mich in mein Arbeitszimmer, um die dunkle, im Dunst liegende Stadt zu betrachten. Nach einer Weile hörte ich ihre zögernden Schritte auf der Treppe.
»Sind Sie da oben?«, rief sie.
Ich bejahte.
Sie kam herein. Sie hatte sich umgezogen und die Tränen abgewaschen. Sie lächelte mich an, und ich lächelte zurück.
»Warum sind Sie so?«, fragte sie.
Ich zuckte die Schultern. Sie setzte sich neben mich aufs Fensterbrett, wo wir die Stille und die Schatten über den Dächern der Altstadt genossen, ohne etwas sagen zu müssen. Nach einer Weile schaute sie mich an.
»Und wenn wir uns eine dieser Zigarren anzünden, die Ihnen mein Vater schenkt, und sie gemeinsam rauchen?«
»Kommt nicht infrage.«
Sie verstummte wieder. Manchmal streifte sie mich mit einem lächelnden Blick. Ich beobachtete sie aus dem Augenwinkel und merkte, dass es mir schon bei ihrem Anblick leichter fiel zu denken, es könnte auf dieser schlechten Welt und, mit ein wenig Glück, auch in mir selbst doch noch etwas Gutes und Anständiges geben.
»Bleibst du?«, fragte ich.
»Nennen Sie mir einen guten Grund. Einen ehrlichen, in Ihrem Fall also einen egoistischen Grund. Und ich rate Ihnen, mir keine Lüge aufzutischen, sonst geh ich auf der Stelle.«
Sie verschanzte sich hinter einem abwehrenden Blick in Erwartung einer meiner Schmeicheleien, und einen Augenblick lang erschien sie mir als der einzige Mensch auf der Welt, den ich weder belügen konnte noch wollte. Ich schaute zu Boden und sagte ausnahmsweise die Wahrheit, und sei es nur, damit ich sie selbst einmal laut hörte.
»Weil du die einzige Freundin bist, die ich noch habe.«
Ihr harter Ausdruck verflog, und bevor ich Mitleid in ihren Augen lesen konnte, schaute ich weg.
»Und was ist mit Señor Sempere und dem anderen, diesem Oberpedanten Barceló?«
»Du bist die Einzige, die mir noch die Wahrheit zu sagen wagt.«
»Und Ihr Freund, der Patron, sagt er Ihnen nicht die Wahrheit?«
»Das kannst du nicht miteinander vergleichen. Ein Patron ist kein Freund. Und ich glaube, der hat in seinem Leben noch nie die Wahrheit gesagt.«
Isabella schaute mich lange an.
»Sehen Sie? Ich wusste ja, dass Sie ihm nicht trauen. Ich habe es Ihnen vom ersten Tag an angesehen.«
Ich versuchte, etwas Würde zurückzugewinnen, fand aber nur Sarkasmus.
»Hast du das Gesichterlesen in die Liste deiner Talente aufgenommen?«
»Um in Ihrem zu lesen, braucht man kein Talent«, schlug sie zurück. »Es ist wie im Märchen vom Däumling.«
»Und was liest du noch in meinem Gesicht, werte Hellseherin?«
»Dass Sie Angst haben.«
Ich versuchte zu lachen, aber es gelang mir nicht.
»Sie brauchen sich Ihrer Angst nicht zu schämen. Angst zu haben ist ein Zeichen von gesundem Menschenverstand. Die Einzigen, die keine Angst haben, sind die hoffnungslos Dummen. Das habe ich in einem Buch gelesen.«
»Im Handbuch für Feiglinge?«
»Sie brauchen es ja nicht zuzugeben, wenn Sie dadurch Ihre Männlichkeitsgefühle gefährdet sehen. Ich weiß, dass Männer glauben, das Maß ihrer Verbohrtheit entspreche der Größe Ihrer Geschlechtsteile.«
»Hast du auch das in diesem Buch gelesen?«
»Nein, das ist auf meinem Mist gewachsen.«
Ich konnte mich nicht mehr verstecken und ließ die Hände sinken.
»Na gut. Ja, ich gebe zu, dass ich eine vage Unruhe verspüre.«
»Vage sind nur Sie — Sie vergehen fast vor Angst. Geben Sie es doch zu.«
»Lassen wir die Kirche im Dorf. Sagen wir, ich habe gewisse Zweifel hinsichtlich der Beziehung zu meinem Verleger, was nach all meinen Erfahrungen ja auch verständlich ist. Soweit ich weiß, ist Corelli ein vollkommener Gentleman, und unsere berufliche Beziehung wird für beide Seiten ertragreich und positiv sein.«
»Darum rumort es jedes Mal in Ihrem Bauch, wenn sein Name fällt.«
Mir ging in dieser Debatte langsam die Luft aus.
»Was willst du denn hören, Isabella?«
»Dass Sie aufhören, für ihn zu arbeiten.«
»Das kann ich nicht.«
»Und warum nicht? Können Sie ihm nicht sein Geld zurückgeben und ihn zum Teufel schicken?«
»So einfach ist das nicht.«
»Warum nicht? Stecken Sie in Schwierigkeiten?«
»Ich glaube, ja.«
»In was für welchen?«
»Das versuche ich ja herauszufinden. Jedenfalls bin allein ich dafür verantwortlich und muss da auch wieder allein herauskommen. Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen.«
Isabella schaute mich an; für den Augenblick schluckte sie es, überzeugt war sie aber nicht.
»Sie sind ein völlig unmöglicher Mensch, wissen Sie das?«
»Ich gewöhne mich langsam an den Gedanken.«
»Wenn ich bleiben soll, dann müssen sich die Regeln hier ändern.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Schluss mit dem aufgeklärten Absolutismus. Von heute an herrscht in dieser Wohnung Demokratie.«
»Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.«
»Vorsicht mit der Brüderlichkeit. Aber nichts mehr mit ›Ich befehle und ordne an‹, keine Auftritte mehr als Mister Rochester.«
»Ganz wie Sie meinen, Miss Eyre.«
»Und machen Sie sich keine Illusionen — ich werde Sie nicht heiraten, selbst wenn Sie erblinden.«
Ich reichte ihr die Hand, um unseren Pakt zu besiegeln. Sie ergriff sie zögernd, dann umarmte sie mich. Ich ließ mich von ihren Armen einhüllen und vergrub das Gesicht in ihren Haaren. In der Berührung mit ihr lag Friede und glückliche Ankunft, das Licht des Lebens eines siebzehnjährigen Mädchens, und es fühlte sich an wie die Umarmung, für die meine Mutter nie Gelegenheit gefunden hatte.
»Freunde?«, murmelte ich.
»Bis dass der Tod uns scheidet.«
Die neuen Regeln der isabellinischen Herrschaft traten am folgenden Tag um neun Uhr früh in Kraft, als meine Assistentin in der Küche erschien und mich ohne weitere Umschweife davon unterrichtete, wie die Dinge von nun an laufen würden.
»Ich habe gedacht, Sie brauchen feste Regeln in Ihrem Leben. Sonst verzetteln Sie sich und werden liederlich.«
»Wo hast du denn dieses Wort her?«
»Aus einem Ihrer Bücher. Liederlich. Klingt wie ein Lied.«
»Und reimt sich vortrefflich.«
»Schweifen Sie nicht ab.«
Tagsüber würden wir beide an unseren jeweiligen Manuskripten arbeiten. Dann würden wir gemeinsam zu Abend essen, und anschließend würde sie mir die am Tag verfassten Seiten vorlegen, damit wir sie besprechen könnten. Ich schwor, aufrichtig zu sein und die angemessenen Kommentare abzugeben und nicht einfach irgendetwas zu sagen, um sie zufriedenzustellen. Die Sonntage wären arbeitsfrei, und ich würde sie ausführen, ins Kino, ins Theater oder zu einem Spaziergang. Sie würde mir in Bibliotheken und Archiven bei der Recherche helfen und mit ihren familiären Verbindungen dafür sorgen, dass die Vorratskammer schön gefüllt wäre. Ich würde das Frühstück und sie das Abendessen machen. Fürs Mittagessen wäre der zuständig, der gerade Zeit hätte. Die Putzarbeiten würden wir aufteilen, und ich verpflichtete mich, die unbestreitbare Tatsache zu akzeptieren, dass die Wohnung regelmäßig sauber gemacht werden musste. Unter keinen Umständen würde ich versuchen, einen Freund für sie aufzutreiben, während sie meine Gründe, für den Patron zu arbeiten, nicht infrage stellen und dazu auch keine Meinung äußern würde, es sei denn, ich bäte sie darum. Bei allem anderen würden wir so verfahren, wie es sich gerade ergäbe.
Ich hob meine Kaffeetasse, und wir stießen auf meine bedingungslose Kapitulation an.
Nach ein paar Tagen hatte ich mich dem Frieden und der Gelassenheit des Vasallen vollständig ergeben. Isabella wurde nur sehr schwer und langsam wach, und wenn sie mit halbgeschlossenen Augen in meinen ihr viel zu großen Pantoffeln dahergeschlurft kam, hatte ich schon das Frühstück gemacht, zu dem nicht nur der Kaffee, sondern auch eine täglich wechselnde Morgenzeitung gehörte.
Die Routine ist die Haushälterin der Inspiration. Kaum achtundvierzig Stunden waren seit der Begründung des neuen Regimes vergangen, als ich entdeckte, dass ich nach und nach die Disziplin meiner fruchtbarsten Jahre wiedererlangte. Die Stunden der Zurückgezogenheit im Arbeitszimmer schlugen sich schnell in zahlreichen Seiten nieder. Nicht ohne eine gewisse Beunruhigung erkannte ich allmählich, dass die Arbeit diese besondere Dichte erreicht hatte, wo sie nicht mehr nur eine Idee ist, sondern Wirklichkeit wird.
Der Text war brillant und entwickelte einen elektrisierenden Sog. Er las sich wie eine Legende, eine mythische Saga voller Wunder und Entbehrungen. Das Bindeglied der Figuren und Schauplätze bildete eine Prophezeiung, die für das Volk, von dem erzählt wurde, voller Hoffnung war. Die Erzählung bereitete das Kommen eines kriegerischen Erlösers vor, der die Nation von allem Schmerz und aller Schande befreien sollte und sie wieder zu altem Ruhm und Stolz führen würde, nachdem verschlagene Feinde, die ewigen Feinde aller Völker, der Nation diese Herrlichkeit entrissen hatten. Der Handlungsmechanismus war tadellos und funktionierte immer, egal auf welches Credo, welches Geschlecht oder welchen Stamm er angewandt wurde. Fahnen, Götter und Verkündigungen waren Joker in einem Spiel, in dem immer dieselben Karten ausgegeben wurden. Angesichts der Natur dieser Unternehmung hatte ich beschlossen, einen der komplexesten und am schwierigsten durchzuführenden Kunstgriffe anzuwenden: das scheinbare Fehlen jeglichen Kunstgriffs. Die Sprache klang einfach und schlicht, die Stimme zeugte von Ehrlichkeit und einem Geist, der nicht erzählt, sondern bloß offenbart. Manchmal hielt ich inne, um das bisher Geschriebene durchzulesen, und dann schlug mich blinde Eitelkeit in ihren Bann, wenn ich spürte, wie perfekt die Maschinerie funktionierte, die ich da aufbaute. Mir wurde bewusst, dass ich erstmals seit Monaten über Stunden nicht an Cristina oder Pedro Vidal dachte. Es geht wieder bergauf, sagte ich mir. Vielleicht aus diesem Grund, weil ich das Gefühl hatte, wieder Licht zu sehen, tat ich, was ich immer getan habe, wenn mein Leben auf einem guten Weg war: Ich verpfuschte alles.
Eines Morgens kleidete ich mich nach dem Frühstück als achtbarer Bürger. Als ich in die Veranda ging, um mich von Isabella zu verabschieden, war sie über ihren Schreibtisch gebeugt und las die Seiten des Vortages.
»Schreiben Sie heute nicht?«, fragte sie, ohne aufzuschauen.
»Ich brauch einen Tag zum Nachdenken.«
Ich bemerkte, dass sie die Schreibgarnitur mit dem Musentintenfass neben ihrem Heft stehen hatte.
»Ich dachte, du findest das kitschig«, sagte ich.
»Finde ich auch, aber ich bin ein junges Mädchen von siebzehn Jahren und habe alles Recht der Welt, Kitsch schön zu finden. Das ist wie bei Ihnen mit den Havannas.«
Sie schnappte den Duft von Kölnischwasser auf und blickte mich neugierig an. Als sie Anzug und Krawatte bemerkte, runzelte sie die Stirn.
»Gehen Sie wieder Detektiv spielen?«
»Ein wenig.«
»Brauchen Sie keine Leibwächterin? Eine Frau Dr. Watson? Jemand mit gesundem Menschenverstand?«
»Lerne erst zu schreiben, bevor du Vorwände suchst, es nicht zu tun. Das ist ein Privileg der Profis, das man sich erarbeiten muss.«
»Ich glaube, wenn ich Ihre Assistentin bin, dann für alle Bereiche.«
Ich lächelte sanft.
»Jetzt, da du es sagst — ja, da ist tatsächlich etwas, worum ich dich bitten wollte. Nein, keine Angst. Es geht um Sempere. Ich habe gehört, dass er Geldprobleme hat und die Buchhandlung in Gefahr ist.«
»Das kann nicht sein.«
»Leider ist es aber so, aber es macht nichts — wir werden verhüten, dass es noch schlimmer wird.«
»Aber Señor Sempere ist sehr stolz und wird nicht zulassen, dass… Sie haben es doch schon versucht, oder?«
Ich nickte.
»Darum müssen wir cleverer sein und zu unorthodoxen Methoden, also zu List und Tücke, greifen.«
»Ihre Spezialität.«
Ich überhörte den missbilligenden Ton und setzte meine Darlegung fort.
»Ich habe mir Folgendes überlegt: Du gehst wie zufällig in die Buchhandlung und sagst Sempere, ich sei ein Ungeheuer und würde dir auf den Geist gehen…«
»Bis dahin hundertprozentig glaubhaft.«
»Unterbrich mich nicht. Du sagst ihm all das und auch, dass ich dir nur einen schäbigen Assistentinnenlohn zahle.«
»Aber Sie zahlen mir ja keinen Centimo…«
Ich übte mich in Geduld.
»Wenn er dir sagt, das tue ihm aber leid, und das wird er tun, dann setzt du ein Gesicht auf wie eine verfolgte Unschuld und gestehst ihm, möglichst mit einem verdrückten Tränchen, dein Vater habe dich enterbt und wolle dich ins Kloster stecken. Und daher hättest du gedacht, dass du vielleicht einige Stunden bei ihm arbeiten könntest, für drei Prozent Kommission von dem, was du verkaufst, um dir fern vom Kloster eine Zukunft als Anarchistin aufzubauen und dich der Verbreitung der Literatur zu widmen.«
Isabella verdrehte die Augen.
»Drei Prozent? Wollen Sie Sempere nun helfen oder ihn schröpfen?«
»Zieh ein Kleid an wie neulich abends, putz dich wieder so schön heraus und geh in die Buchhandlung, wenn sein Sohn auch da ist, normalerweise nachmittags.«
»Sprechen wir von dem hübschen Jüngling?«
»Wie viele Söhne hat Señor Sempere?«
In Isabellas Kopf arbeitete es, und als sie verstand, wie der Hase lief, warf sie mir einen giftigen Blick zu.
»Wenn mein Vater wüsste, was für einen verdorbenen Geist Sie haben, würde er tatsächlich eine Flinte kaufen.«
»Ich will ja nur, dass der Sohn dich sieht. Und der Vater soll sehen, wie der Sohn dich sieht.«
»Sie sind ja noch schlimmer, als ich dachte. Jetzt betreiben Sie auch noch Mädchenhandel.«
»Das ist nichts weiter als christliche Nächstenliebe. Außerdem hast du als Erste zugegeben, dass Semperes Sohn hübsch aussieht.«
»Hübsch und etwas dämlich.«
»Wir wollen doch nicht übertreiben. Sempere junior ist bloß in Gegenwart des weiblichen Geschlechts ein wenig schüchtern, was ihm zur Ehre gereicht. Er ist ein vorbildlicher Bürger, der sich, obwohl er um die überzeugende Wirkung seines gefälligen Aussehens und seiner Männlichkeit weiß, in Selbstbeherrschung und Askese übt, aus Achtung und Respekt vor der makellosen Reinheit der barcelonesischen Frau. Du willst mir doch nicht sagen, dass ihm das nicht eine Aura von Redlichkeit und Anmut verleiht, die an deine Instinkte appelliert, sowohl den mütterlichen wie auch die anderen.«
»Manchmal denke ich, ich hasse Sie, Señor Martín.«
»Klammere dich ruhig an dieses Gefühl, aber hänge nicht dem armen Sempere junior meine Fehler als menschliches Wesen an, denn er ist ganz eindeutig eine Seele von Mensch.«
»Wir haben doch ausgemacht, dass Sie keinen Freund für mich suchen.«
»Niemand hat von einem Freund gesprochen. Wenn du mich ausreden lässt, erläutere ich dir den Rest.«
»Fahren Sie fort, Rasputin.«
»Wenn Sempere senior einwilligt, und er wird einwilligen, dann sollst du täglich zwei, drei Stunden hinter dem Ladentisch der Buchhandlung stehen.«
»Und wie gekleidet? Als Mata Hari?«
»So schicklich und geschmackvoll wie stets. Anmutig, anregend, aber ohne Aufsehen zu erregen. Wenn nötig, nimmst du eines von Irene Sabinos Kleidern, aber ein hübsch züchtiges.«
»Es gibt zwei oder drei, die mir wie angegossen sitzen.«
Isabella leckte sich die Lippen.
»Dann ziehst du das an, das dich am meisten verhüllt.«
»Sie sind ein Reaktionär. Und was wird aus meiner literarischen Bildung?«
»Gibt es ein besseres Klassenzimmer als die Buchhandlung Sempere und Söhne? Da stehen Meisterwerke in Hülle und Fülle, von denen du lernen kannst.«
»Und was soll ich tun? Tief einatmen, damit etwas hängen bleibt?«
»Es sind ja nur ein paar Stunden täglich. Dann kannst du hier mit deiner Arbeit fortfahren wie bisher und meine unbezahlbaren Ratschläge entgegennehmen, die aus dir eine neue Jane Austen machen werden.«
»Und wo ist die List?«
»Die List ist, dass ich dir jeden Tag ein paar Peseten gebe, und immer wenn ein Kunde bezahlt und du die Registrierkasse öffnest, legst du sie ganz diskret hinein.«
»Das also ist der Plan…«
»Das ist der Plan, und er hat nichts Verdorbenes, wie du siehst.«
Sie blickte finster drein.
»Das wird nicht funktionieren. Er wird merken, dass etwas nicht stimmt. Señor Sempere ist ein schlauer Fuchs.«
»Es wird funktionieren. Und wenn Sempere sich wundert, sagst du, wenn die Kunden hinter dem Ladentisch ein hübsches, sympathisches Mädchen sähen, säße das Geld locker und sie zeigten sich spendabler.«
»Das mag in den Spelunken so sein, in denen Sie verkehren, aber nicht in einer Buchhandlung.«
»Da bin ich anderer Meinung. Wenn ich eine Buchhandlung betrete und mich einer so entzückenden Verkäuferin wie dir gegenübersehe, kaufe ich ihr sogar den letzten nationalen Literaturpreisträger ab.«
»Ja, weil Sie eine schmutzige Phantasie haben.«
»Ich habe auch — oder vielleicht sollte ich sagen: wir haben auch eine Dankesschuld gegenüber Sempere.«
»Das geht unter die Gürtellinie.«
»Dann lass mich nicht noch tiefer zielen.«
Jedes Überzeugungsmanöver, das etwas taugt, appelliert zuerst an die Neugier, dann an die Eitelkeit und zuletzt an die Güte oder das schlechte Gewissen. Isabella senkte den Blick und nickte langsam.
»Und wann wollten Sie Ihren Plan mit der barmherzigen Nymphe in die Tat umsetzen?«
»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.«
»Heute?«
»Heute Nachmittag.«
»Sagen Sie die Wahrheit: Ist das eine Kriegslist, um das Geld in Umlauf zu bringen, das Ihnen der Patron zahlt, und um Ihr Gewissen zu reinigen — oder was auch immer Sie an seiner Stelle haben?«
»Du weißt ja, dass meine Gründe immer egoistisch sind.«
»Und was ist, wenn Señor Sempere nicht mitspielt?«
»Du musst nur sichergehen, dass der Sohn da ist und dass du hübsch sonntäglich gekleidet bist, aber nicht wie für die Messe.«
»Das ist ein beleidigender Plan, entwürdigend.«
»Und er entzückt dich.«
Endlich lächelte sie wie eine Katze.
»Und wenn dem Sohn plötzlich der Kamm schwillt und er zu weit gehen will?«
»Ich garantiere dir, dass der Erbe es nicht wagen wird, dich auch nur mit einer Fingerspitze anzurühren, außer in Gegenwart eines Geistlichen und mit einer Urkunde der Diözese in der Hand.«
»Besser ein Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach.«
»Wirst du es tun?«
»Für Sie?«
»Für die Literatur.«
Als ich aus dem Haus trat, überraschte mich eine kalte, schneidende Brise, die ungeduldig durch die Straßen fegte, und mir wurde klar, dass in Barcelona allmählich der Herbst Einzug hielt. Auf der Plaza Palacio bestieg ich eine leere Straßenbahn, die wie eine große, eiserne Mausefalle dort wartete. Ich setzte mich ans Fenster und löste beim Schaffner eine Fahrkarte.
»Fahren Sie bis Sarrià?«, fragte ich.
»Bis zur Plaza.«
Ich lehnte den Kopf an die Scheibe, bis die Bahn wenig später mit einem Ruck losfuhr. Ich schloss die Augen und sank in eines dieser Nickerchen, die man nur an Bord solch einer mechanischen Missgeburt genießen kann, und mich umfing der Traum des modernen Menschen. Ich durchquerte in einem Zug aus schwarzen Knochen und sargförmigen Wagen ein menschenleeres Barcelona, in dem überall leere Kleider lagen, als hätten sich alle Körper verflüchtigt. Eine Steppe aus Hüten und Kleidern, Anzügen und Schuhen bedeckte die zu Stille verdammten Straßen. Die Lokomotive puffte eine scharlachrote Rauchfahne aus, die sich wie vergossene Farbe über den Himmel ausbreitete. Neben mir saß lächelnd der Patron, ganz in Weiß und mit Handschuhen. Von seinen Fingerspitzen troff etwas Dunkles, Gallertartiges.
»Was ist mit den Leuten geschehen?«
»Haben Sie Vertrauen, Martín. Haben Sie Vertrauen.«
Als ich erwachte, glitt die Straßenbahn soeben langsam auf die Plaza de Sarrià. Noch bevor sie ganz zum Stillstand gekommen war, sprang ich ab und begann die Calle Mayor de Sarrià hinaufzusteigen. Eine Viertelstunde später gelangte ich an mein Ziel.
Die Carretera de Vallvidrera entsprang einem schattigen Waldstück hinter dem schlossartigen roten Backsteinbau des Colegio San Ignacio. Die bergan steigende, laubbedeckte Straße war von einsamen alten Häusern gesäumt. Niedrige Wolken zogen die Bergflanke entlang und lösten sich in Nebelfetzen auf. Ich wählte die Seite mit den ungeraden Hausnummern und versuchte beim Gehen an Mauern und Gittertoren die Ziffern zu lesen. Auf der anderen Seite sah man Fassaden aus verrußtem Stein und trocken gefallene Brunnen zwischen unkrautüberwucherten Pfaden. Ein Stück des Gehsteigs war von einer langen Reihe Zypressen überschattet, und ich sah, dass die Nummerierung von elf zu fünfzehn sprang. Verwirrt ging ich zurück und suchte die Dreizehn. Schon argwöhnte ich, Anwalt Valeras Sekretärin sei doch gerissener, als ich gedacht hatte, und habe mir eine falsche Adresse angegeben, als ich eine Passage gewahrte, die vom Bürgersteig aus über fast fünfzig Meter zu einem dunklen Gitterzaun mit einem Lanzenkamm führte.
Durch dieses schmale Gässchen ging ich auf den Zaun zu. Ein verwilderter Garten hatte ihn überwuchert, und zwischen den Lanzen des Zauns ragten die Zweige eines Eukalyptus hervor wie flehende Arme zwischen den Stäben einer Gefängniszelle. Ich schob die Blätter beiseite, die einen der gemauerten Pfeiler verdeckten, und stieß auf die in den Stein gehauenen Buchstaben und Zahlen.
Haus Marlasca 13
Während ich dem Garten entlang den Zaun abschritt, versuchte ich hineinzuspähen. Nach etwa zwanzig Metern kam ich zu einer zwischen zwei Pfeilern eingelassenen Metalltür. Auf der verrosteten Eisenplatte ruhte ein Klopfer. Die Tür war nur angelehnt. Ich stieß sie mit der Schulter so weit auf, dass ich hindurchkam, ohne dass mir die aus dem Mauersockel ragenden Steinkanten die Kleider zerrissen. Ein unangenehmer Geruch nach nasser Erde lag in der Luft.
Zwischen den Bäumen tat sich ein Pfad aus Marmorplatten auf und führte zu einem mit weißen Steinen gepflasterten Platz. Auf der einen Seite sah man eine Garage mit offener Tür und den Überresten eines Mercedes-Benz, der jetzt an einen seinem Schicksal überlassenen Leichenwagen erinnerte. Das Haus war ein Jugendstilbau, der sich in gebogenen Linien zu drei Stockwerken erhob und gekrönt war von einer Reihe in Türmen und Bögen zusammengedrängter Mansarden. Schmale Fenster, spitz wie Dolche, waren in die von Reliefs und Wasserspeiern übersäte Fassade eingelassen. In den Scheiben spiegelten sich die langsam vorüberziehenden Wolken. Hinter einem der Fenster im ersten Stock glaubte ich undeutlich ein Gesicht zu sehen.
Ich hob die Hand zu einem angedeuteten Gruß — ich mochte nicht für einen Einbrecher gehalten werden. Die Gestalt beobachtete mich weiterhin, reglos wie eine Spinne. Für einen Augenblick senkte ich den Blick, und als ich wieder hinaufschaute, war sie verschwunden.
»Guten Tag!«, rief ich.
Ich wartete ein paar Sekunden, und da die Antwort ausblieb, näherte ich mich langsam dem Haus. Ein ovales Schwimmbecken zog sich vor einer verglasten Veranda die Ostfassade entlang. Zerfranste Segeltuchstühle umstanden das Becken. Ein efeuüberwachsenes Sprungbrett ragte über den dunklen Wasserspiegel. Ich trat an den Rand und stellte fest, dass das Becken voll mit Laub und Algen war, die sich an der Oberfläche kräuselten. Als ich ins Wasser starrte, spürte ich, dass sich mir von hinten etwas Dunkles näherte.
Ich wandte mich jäh um und sah mich einem schmalen, finsteren Gesicht gegenüber, das mich unruhig und argwöhnisch musterte.
»Wer sind Sie, und was tun Sie hier?«
»Mein Name ist David Martín — ich komme von Anwalt Valera«, erfand ich.
Die Frau presste die Lippen zusammen.
»Sind Sie Señora Marlasca? Doña Alicia?«
»Was ist mit dem, der sonst immer gekommen ist?«, fragte sie.
Offensichtlich hielt sie mich für einen der Referendare des Büros Valera und dachte, ich brächte Papiere zur Unterschrift oder sonst eine Mitteilung der Anwälte. Einen Augenblick erwog ich die Möglichkeit, diese Identität anzunehmen, aber irgendetwas im Gesicht der Frau sagte mir, dass sie in ihrem Leben genug Lügen aufgetischt bekommen hatte und keine weitere mehr akzeptieren würde.
»Ich arbeite nicht für das Büro, Señora Marlasca. Der Grund meines Besuches ist privater Natur. Ich dachte, vielleicht hätten Sie ein paar Minuten Zeit, um mit mir über eines der ehemaligen Besitztümer ihres verstorbenen Gatten, Don Diego, zu sprechen.«
Die Witwe wurde blass und wandte den Blick ab. Sie stützte sich auf einen Stock, und ich sah an der Schwelle der Veranda einen Rollstuhl stehen, in dem sie vermutlich mehr Zeit verbrachte, als sie zugeben mochte.
»Es gibt keinen einzigen Besitz meines Mannes mehr, Señor…«
»Martín.«
»Die Banken haben alles genommen, Señor Martín. Alles außer diesem Haus, das er dank des Ratschlags von Señor Valera, dem Vater, auf meinen Namen eingetragen hat. Alles andere haben sich diese Aasfresser geschnappt…«
»Ich meinte das Haus mit dem Turm, in der Calle Flassaders.«
Sie seufzte. Ich schätzte sie auf sechzig oder fünfundsechzig. Ihr war noch ein Abglanz ihrer einstigen blendenden Schönheit geblieben.
»Vergessen Sie dieses Haus. Es ist ein verfluchter Ort.«
»Das kann ich leider nicht. Ich wohne dort.«
Señora Marlasca runzelte die Stirn.
»Ich dachte, dort will niemand wohnen. Es hat viele Jahre leer gestanden.«
»Ich habe es schon vor einiger Zeit gemietet. Der Grund meines Besuches ist, dass ich im Laufe einiger Umbauarbeiten eine Reihe persönlicher Dinge gefunden habe, die vermutlich Ihrem verstorbenen Mann und Ihnen gehört haben.«
»Von mir gibt es nichts in diesem Haus. Was Sie gefunden haben mögen, muss dieser Frau gehören…«
»Irene Sabino?«
Alicia Marlasca lächelte bitter.
»Was wollen Sie wirklich wissen, Señor Martín? Sagen Sie mir die Wahrheit. Sie sind nicht hierhergekommen, um mir die Habe meines verstorbenen Mannes zurückzubringen.«
Wir schauten uns schweigend an, und ich wusste, dass ich diese Frau um keinen Preis belügen konnte.
»Ich versuche herauszufinden, was mit Ihrem Mann geschehen ist, Señora Marlasca.«
»Warum?«
»Weil ich glaube, dass dasselbe mit mir geschieht.«
Das Haus Marlasca hatte jene Atmosphäre einer Familiengruft, wie sie große, von Abwesenheit und Entbehrung gezeichnete Häuser aufwiesen. Fern waren die Tage des Reichtums und der Herrlichkeit, da ganze Heerscharen von Bediensteten es in seiner ursprünglichen Pracht erhielten; jetzt war es nur noch eine Ruine. Die Farbe an den Wänden blätterte ab, die Fliesen lösten sich, die Möbel wurden von Feuchtigkeit zerfressen, die Decken hingen durch, und die großen Teppiche waren abgetreten und ausgeblichen. Ich half der Witwe in den Rollstuhl und schob sie gemäß ihren Anweisungen in das Bibliothekszimmer, in dem es kaum noch Bücher oder Bilder gab.
»Ich musste das meiste verkaufen, um zu überleben«, erklärte sie. »Hätte ich nicht Anwalt Valera, der mir monatlich zulasten des Büros eine kleine Pension schickt, ich hätte nicht gewusst, wohin ich gehen sollte.«
»Leben Sie alleine?«
Sie nickte.
»Das ist mein Haus. Der einzige Ort, an dem ich glücklich gewesen bin, obwohl das schon viele Jahre her ist. Ich habe immer hier gelebt, und hier werde ich auch sterben. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen nichts angeboten habe. Ich bekomme schon lange keinen Besuch mehr und weiß gar nicht mehr, wie man mit Gästen umgeht. Möchten Sie Kaffee oder Tee?«
»Gar nichts, danke.«
Señora Marlasca lächelte und deutete auf meinen Sessel.
»Das war der Lieblingssessel meines Mannes. Da hat er sich immer hingesetzt, vors Feuer, und bis in die Nacht gelesen. Manchmal habe ich mich hierher gesetzt, neben ihn, und ihm zugehört. Er hat gern erzählt, damals wenigstens. Wir sind sehr glücklich gewesen in diesem Haus…«
»Was ist geschehen?«
Sie zuckte die Achseln und starrte in die Asche im Kamin.
»Sind Sie sicher, dass Sie diese Geschichte hören wollen?«
»Bitte.«
»Offen gestanden weiß ich nicht genau, wann mein Mann sie kennenlernte. Ich weiß nur noch, dass er sie irgendwann plötzlich erwähnte, zuerst ganz beiläufig, und dann fiel ihr Name bald täglich: Irene Sabino. Er sagte, sie sei ihm von einem Mann namens Damián Roures vorgestellt worden, der in einem Lokal in der Calle Elisabets spiritistische Sitzungen veranstaltete. Diego war ein versierter Kenner der verschiedensten Religionen und hatte als Beobachter an mehreren dieser Sitzungen teilgenommen. Damals war Irene Sabino eine der populärsten Schauspielerinnen am Paralelo. Sie war eine Schönheit, das will ich nicht bestreiten. Aber sie konnte, glaube ich, nicht einmal bis zehn zählen. Es hieß, sie sei zwischen den Hütten am Strand des Bogatell zur Welt gekommen, von ihrer Mutter im Somorrostro-Viertel ausgesetzt worden und unter Bettlern und zwielichtigen Gestalten aufgewachsen. Mit vierzehn begann sie in den Nachtklubs und Lokalen im Raval und am Paralelo zu tanzen. Tanzen ist ein Euphemismus — vermutlich begann sie mit der Prostitution, bevor sie lesen lernte, falls sie es überhaupt je lernte. Eine Zeitlang war sie der große Star des Varietes La Criolla, so sagte man wenigstens. Dann schaffte sie es in andere, bessere Lokale. Ich glaube, es war im Apolo, wo sie einen gewissen Juan Corbera kennenlernte, den alle Jaco nannten. Jaco war ihr Impresario und wahrscheinlich auch ihr Geliebter. Er war es, der sich den Namen Irene Sabino und die Legende ausdachte, sie sei die heimliche Tochter einer großen Pariser Vedette und eines Prinzen aus europäischem Geblüt. Wie ihr wirklicher Name lautete, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt je einen hatte. Jaco führte sie in die spiritistischen Sitzungen ein, ich glaube, auf Roures’ Empfehlung, und die beiden teilten den Gewinn aus dem Verkauf ihrer angeblichen Jungfräulichkeit an wohlhabende, gelangweilte Männer, die an diesen Farcen teilnahmen, um der Monotonie zu entfliehen. Ihre Spezialität sollen Paare gewesen sein.
Was Jaco und sein Partner Roures nicht ahnten, war, dass Irene von diesen Sitzungen besessen war und allen Ernstes glaubte, bei diesen Pantomimen könne man mit der Welt der Geister Kontakt aufnehmen. Sie war überzeugt, ihre Mutter schicke ihr Botschaften aus dem Jenseits, und selbst als sie allmählich berühmt wurde, versuchte sie dort weiterhin mit ihr in Verbindung zu treten. Dort lernte sie auch meinen Mann Diego kennen. Vermutlich steckten wir da schon mitten in einer der schwierigen Zeiten, wie sie in jeder Ehe vorkommen. Diego wollte schon lange den Anwaltsberuf aufgeben und sich nur noch dem Schreiben widmen. Ich gebe zu, dass er in mir nicht die nötige Unterstützung fand. Ich dachte, wenn er es täte, würde er sein Leben wegwerfen, obwohl ich wahrscheinlich nur befürchtete, all das hier zu verlieren, das Haus, die Diener… Und dann habe ich tatsächlich alles verloren, und ihn dazu. Was uns am Ende auseinanderbrachte, war der Verlust von Ismael. Ismael war unser Sohn. Diego war ganz verrückt nach ihm. Nie habe ich einen so hingebungsvollen Vater gesehen. Ismael war sein Leben, nicht ich. Einmal hatten wir einen Streit im Schlafzimmer im ersten Stock. Es hatte damit begonnen, dass ich ihm vorwarf, zu viel Zeit mit dem Schreiben zu verbringen, sodass ihm Valera, sein Teilhaber, der es satthatte, die Arbeit für zwei zu erledigen, ein Ultimatum stellte und daran dachte, die Kanzlei aufzulösen und sich selbständig zu machen. Diego sagte, das sei ihm egal, er sei bereit, seinen Anteil an der Kanzlei zu verkaufen und sich seiner Berufung zu widmen. An diesem Abend vermissten wir plötzlich Ismael. Er war weder in seinem Zimmer noch im Garten. Ich dachte, er sei, erschrocken über unseren Streit, womöglich aus dem Haus gelaufen. Das wäre nicht das erste Mal gewesen. Monate zuvor hatte man ihn weinend auf einer Bank auf der Plaza de Sarrià gefunden. Als es dunkel wurde, gingen wir ihn suchen. Nirgends eine Spur von ihm. Wir gingen zu Nachbarn, in Krankenhäuser… Als wir nach einer Nacht des Suchens in der Morgendämmerung zurückkehrten, fanden wir seine Leiche auf dem Grund des Schwimmbeckens. Er war am Vorabend ertrunken, und wir hatten seine Hilferufe nicht gehört, weil wir einander angeschrien hatten. Er war sieben. Diego verzieh mir das nie und sich selbst auch nicht. Bald ertrugen wir nicht einmal mehr die Anwesenheit des anderen. Immer wenn wir uns anschauten oder berührten, sahen wir die Leiche unseres Sohns in diesem verdammten Schwimmbecken. Eines schönen Tages erwachte ich und wusste, dass mich Diego verlassen hatte. Er verließ auch die Kanzlei und zog in ein altes Haus im Ribera-Viertel, das ihm seit Jahren keine Ruhe gelassen hatte. Er sagte, er schreibe, er habe einen sehr wichtigen Auftrag von einem Pariser Verleger bekommen, wegen des Geldes brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Ich wusste, dass er mit Irene zusammen war, obwohl er es nicht zugab. Er war ein gebrochener Mann und überzeugt, er habe nicht mehr lange zu leben. Er dachte, er habe sich eine Krankheit zugezogen, eine Art Parasit, der ihn innerlich aufzehre. Er sprach nur noch vom Tod und hörte auf niemanden mehr. Weder auf mich noch auf Valera… Nur auf Irene und Roures, die ihm mit Geistergeschichten den Kopf vergifteten und mit Versprechungen, ihn mit Ismael in Verbindung zu bringen, das Geld aus der Tasche zogen. Einmal ging ich zum Haus mit dem Turm und flehte ihn an, mir zu öffnen. Er ließ mich nicht herein und sagte, er sei beschäftigt, er arbeite an etwas, um Ismael zu retten. Da wurde mir klar, dass er allmählich den Verstand verlor. Er dachte, wenn er dieses verdammte Buch für den Pariser Verleger schriebe, würde unser Sohn wieder lebendig. Ich glaube, Irene, Roures und Jaco erleichterten ihn um alles Geld, das er noch hatte, das wir noch hatten… Monate später, in denen er niemanden mehr gesehen und sich an diesem schrecklichen Ort abgekapselt hatte, wurde er tot aufgefunden. Die Polizei sagte, es sei ein Unfall gewesen, aber daran habe ich nie geglaubt. Jaco war verschwunden, und von dem Geld gab es keine Spur mehr. Roures behauptete, von nichts zu wissen. Er erklärte, seit Monaten keinen Kontakt zu Diego mehr gehabt zu haben, weil der verrückt geworden sei und ihm Angst gemacht habe. Bei den spiritistischen Sitzungen habe er zuletzt mit seinen Geschichten von verdammten Seelen die Kundschaft erschreckt, sodass er ihm irgendwann verboten habe, noch einmal zu kommen. Diego habe gesagt, unter der Stadt liege ein großer See aus Blut, Ismael spreche im Traum zu ihm, er sei Gefangener eines Schattens in Schlangenhaut, der sich als ein anderer Junge ausgebe und mit ihm spiele… Niemand war überrascht, als man ihn tot fand. Irene sagte, Diego habe sich meinetwegen das Leben genommen; diese eiskalt berechnende Ehefrau, die ihren Sohn hatte sterben lassen, weil sie nicht auf ihr luxuriöses Leben verzichten wollte, habe ihn in den Tod getrieben, sie dagegen sei die Einzige, die ihn je wirklich geliebt habe, und sie habe nie einen Centimo angenommen. Und ich glaube, wenigstens darin war sie ehrlich. Ich glaube, Jaco benutzte sie, um Diego zu verführen und ihm alles wegzunehmen. Dann, in der Stunde der Wahrheit, ließ er sie sitzen und haute ab, ohne einen Centimo mit ihr zu teilen. Das sagte die Polizei, oder zumindest einige der Ermittler. Ich hatte immer den Eindruck, sie wollten nicht zu tief in dieser Geschichte herumstochern und die Selbstmordversion komme ihnen sehr gelegen. Aber ich glaube nicht, dass sich Diego umgebracht hat. Ich glaubte es weder damals, noch glaube ich es heute. Ich glaube, Irene und Jaco haben ihn umgebracht. Und nicht nur wegen des Geldes. Da gab es noch etwas. Einer der mit dem Fall betrauten Beamten, ein sehr junger Mann namens Salvador, Ricardo Salvador, glaubte das ebenfalls. Er sagte, da gebe es etwas, was sich nicht mit der offiziellen Version der Tatsachen decke, und jemand verhülle die wahre Ursache von Diegos Tod. Salvador kämpfte, um Licht in die Angelegenheit zu bringen, bis man ihm den Fall wegnahm und ihn mit der Zeit vom Dienst suspendierte. Aber danach ermittelte er noch auf eigene Faust weiter. Manchmal kam er mich besuchen. Wir wurden gute Freunde… Ich war eine alleinstehende Frau, ruiniert und verzweifelt. Valera sagte, ich solle doch wieder heiraten. Auch er gab mir die Schuld an dem, was meinem Mann widerfahren war, und ging so weit, anzudeuten, es gebe doch viele alleinstehende Krämer, denen eine aristokratisch wirkende, gutaussehende Witwe in den besten Jahren das Bett wärmen könnte. Mit der Zeit besuchte mich auch Salvador nicht mehr. Ich gebe ihm keine Schuld. Bei dem Versuch, mir zu helfen, hatte er sein eigenes Leben ruiniert. Manchmal denke ich, das ist das Einzige, was ich in meinem Leben für die anderen getan habe — ihnen ihr Leben zu zerstören… Diese Geschichte habe ich bis heute niemandem erzählt, Señor Martín. Wenn Sie einen Rat wollen, dann vergessen Sie dieses Haus, mich, meinen Mann und die ganze Geschichte. Gehen Sie weit weg. Diese Stadt ist verdammt. Verdammt.«
Ich verließ das Haus Marlasca mit zitternden Knien und irrte ziellos durch das Labyrinth einsamer Straßen in Richtung Pedralbes. Der Himmel war überzogen von einem Gespinst grauer Wolken, die kaum die Sonne durchließen. Ab und zu durchbohrten Nadeln von Licht diese tote Fläche und zogen über die Bergflanke hinweg. Ich folgte diesen hellen Streifen mit den Augen und sah, wie sie in der Ferne über das emaillierte Dach der Villa Helius strichen. Die Fenster glänzten bis zu mir hinüber. Gegen alle Vernunft machte ich mich auf den Weg dorthin. Je näher ich dem Haus kam, desto dunkler wurde der Himmel, und ein schneidender Wind wirbelte Laubspiralen auf. Als ich zur Kreuzung mit der Calle Panamá kam, blieb ich stehen. Gegenüber erhob sich die Villa Helius. Ich wagte nicht, die Straße zu überqueren und mich der Gartenmauer zu nähern. Unfähig, zu fliehen oder zur Tür zu gehen, um zu klingeln, blieb ich Gott weiß wie lange so stehen. Da sah ich sie an einem der Fenster des zweiten Stocks vorbeigehen. Eiseskälte durchfuhr mich. Als ich mich zurückziehen wollte, wandte sie sich um und blieb stehen. Sie trat an die Scheibe, und ich konnte ihre Augen auf meinen spüren. Wie zum Gruß hob sie die Hand, ohne aber die Finger zu spreizen. Ich hatte nicht den Mut, ihrem Blick standzuhalten, machte kehrt und ging die Straße hinunter. Meine Hände zitterten, und ich steckte sie in die Tasche, damit sie mich nicht in diesem Zustand sähe. Bevor ich um die Ecke bog, blickte ich noch einmal zurück und sah sie noch immer dort stehen und mir hinterherschauen. Um sie zu hassen, fehlte mir die Kraft.
Zuhause angekommen, spürte ich in meinen Knochen die Kälte oder was ich dafür hielt. Aus dem Briefkasten ragte ein Umschlag. Pergament und Siegellack. Nachrichten vom Patron. Ich öffnete den Brief, während ich mich die Treppe hinaufschleppte. Seine adrette Schrift bestellte mich für den nächsten Tag ein. Die Wohnungstür stand halb offen, und lächelnd erwartete mich Isabella.
»Ich war im Arbeitszimmer und habe Sie kommen sehen«, sagte sie.
Ich versuchte, ihr zuzulächeln, was anscheinend nicht sehr überzeugend wirkte. Sowie sie mir in die Augen blickte, wurde ihr Gesicht sorgenvoll.
»Geht es Ihnen gut?«
»Es ist nichts. Ich glaube, ich habe mich ein wenig erkältet.«
»Ich habe eine Brühe auf dem Feuer, die wird Wunder wirken. Kommen Sie herein.«
Sie hakte mich unter und führte mich in die Veranda.
»Isabella, ich bin kein Invalide.«
Sie ließ mich los und senkte den Blick.
»Entschuldigen Sie.«
Ich war nicht imstande, mich mit jemandem anzulegen, und schon gar nicht mit meiner hartnäckigen Assistentin, sodass ich mich zu einem der Sessel in der Veranda geleiten ließ, in den ich wie ein Sack Knochen fiel. Isabella setzte sich mir gegenüber und schaute mich besorgt an.
»Was ist geschehen?«
Ich lächelte beruhigend.
»Nichts. Nichts ist geschehen. Wolltest du mir nicht eine Tasse Brühe bringen?«
»Sofort.«
Sie schoss in die Küche, wo ich sie herumfuhrwerken hörte. Ich atmete tief durch und schloss die Augen, bis sich ihre Schritte wieder näherten.
Sie reichte mir eine dampfende Tasse ungewöhnlicher Größe.
»Sieht aus wie ein Nachttopf«, sagte ich.
»Trinken Sie und sparen Sie sich die Grobheiten.«
Ich schnupperte an der Brühe. Sie roch gut, aber ich mochte mich nicht allzu nachgiebig zeigen.
»Riecht seltsam«, sagte ich. »Was ist drin?«
»Sie riecht nach Hähnchen, weil Hähnchen drin ist, dazu Salz und ein Schuss Sherry. Trinken Sie.«
Ich trank einen Schluck und gab ihr die Tasse zurück. Sie schüttelte den Kopf, »Alles.«
Ich seufzte und trank noch einen Schluck. Zu meinem Leidwesen schmeckte sie gut.
»Wie war also Ihr Tag?«
»Nicht allzu schlecht. Und wie ist es dir ergangen?«
»Sie stehen vor der neuen Starverkäuferin von Sempere und Söhne.«
»Ausgezeichnet.«
»Noch vor fünf Uhr hatte ich schon zwei Exemplare von Das Bildnis des Dorian Gray und einem sehr distinguierten Herrn aus Madrid die gesammelten Werke von Pirandello verkauft, und er hat mir ein Trinkgeld gegeben. Machen Sie nicht so ein Gesicht — auch das habe ich in die Kasse getan.«
»Und Sempere junior, was hat er gesagt?«
»Gesagt hat er gar nichts. Er hat die ganze Zeit Maulaffen feilgehalten und so getan, als sähe er mich nicht, aber er hat mich keinen Moment aus den Augen gelassen. Ich kann mich schon gar nicht mehr hinsetzen, so sehr hat er mir auf den Hintern gestarrt, immer wenn ich auf die Leiter gestiegen bin, um ein Buch runterzuholen. Zufrieden?«
Ich nickte lächelnd.
»Danke, Isabella.«
Sie schaute mir fest in die Augen.
»Sagen Sie das noch einmal.«
»Danke, Isabella. Von ganzem Herzen.«
Sie errötete und schaute weg. Eine Weile blieben wir in friedlicher Stille sitzen und genossen diese Art Freundschaft, die manchmal keiner Worte bedarf. Ich trank die ganze Brühe aus, obwohl ich kaum noch etwas hinunterbrachte, und zeigte ihr die leere Tasse. Sie nickte.
»Sie haben sie besucht, nicht wahr? Diese Frau, Cristina«, sagte sie und wich meinem Blick aus.
»Isabella, die Gesichterleserin…«
»Sagen Sie die Wahrheit.«
»Ich habe sie nur von weitem gesehen.«
Sie blickte mich vorsichtig an, als kämpfte sie mit sich, ob sie mir etwas, was ihr auf der Seele lag, sagen sollte oder nicht.
»Lieben Sie sie?«, fragte sie schließlich.
Wir schauten uns schweigend an.
»Ich kann niemanden lieben, das weißt du doch. Ich bin ein Egoist. Reden wir von was anderem.«
Sie nickte, den Blick auf dem Umschlag, der aus meiner Jacketttasche herauslugte.
»Nachrichten vom Patron?«
»Die Einberufung des Monats. Seine Exzellenz Señor Andreas Corelli freut sich, mich morgen früh um sieben vor die Tore des Friedhofs von Pueblo Nuevo zu bestellen. Einen besseren Ort hätte er nicht aussuchen können.«
»Und werden Sie hingehen?«
»Was bleibt mir denn anderes übrig?«
»Sie können noch diesen Abend einen Zug nehmen und für immer verschwinden.«
»Du bist schon die Zweite, die mir das heute nahelegt. Von hier zu verschwinden.«
»Das muss ja einen Grund haben.«
»Und wer wird dann dein Lehrmeister und Mentor sein und dich durch die Fährnisse der Literatur geleiten?«
»Ich geh mit Ihnen.«
Ich lächelte und ergriff ihre Hand.
»Mit dir bis ans Ende der Welt, Isabella.«
Sie entriss mir ihre Hand und schaute mich verletzt an.
»Sie lachen mich aus.«
»Isabella, sollte es mir eines Tages einfallen, dich auszulachen, dann jage ich mir eine Kugel durch den Kopf.«
»Sagen Sie das nicht. Ich mag es nicht, wenn Sie so sprechen.«
»Entschuldige.«
Sie ging an ihren Schreibtisch zurück und verfiel in langes Schweigen. Ich sah, wie sie die Seiten des Tages überflog und mit einer meiner Schreibfedern Korrekturen anbrachte und ganze Absätze strich.
»Wenn Sie mir zuschauen, kann ich mich nicht konzentrieren.«
Ich stand auf und ging um den Schreibtisch herum.
»Dann lasse ich dich weiterarbeiten, und nach dem Abendessen zeigst du mir, was du hast.«
»Es ist noch nicht fertig. Ich muss alles korrigieren und neu schreiben und…«
»Es ist nie fertig, Isabella. Daran musst du dich langsam gewöhnen. Nach dem Essen schauen wir es uns zusammen an.«
»Morgen.«
Ich ergab mich.
»Morgen.«
Sie nickte. Ich wollte schon die Verandatür schließen, um sie mit ihren Worten allein zu lassen, als sie mich rief.
»David?«
Schweigend blieb ich im Gang stehen.
»Es stimmt nicht. Es stimmt nicht, dass Sie niemanden lieben können.«
Ich zog mich in mein Zimmer zurück und machte die Tür zu. Auf dem Bett drehte ich mich zusammengekrümmt zur Wand und schloss die Augen.
Ich verließ das Haus nach Tagesanbruch. Dunkle Wolken schleppten sich über die Dächer und nahmen den Straßen ihre Farbe. Während ich durch den Ciudadela-Park ging, sah ich die ersten Tropfen auf die Blätter der Bäume prasseln und wie kleine Geschosse auf dem Weg zerplatzen, wobei sie Staubkügelchen aufspringen ließen. Jenseits des Parks zeichnete sich gegen den Horizont ein Wald aus Fabriken und Gastürmen ab, und der im Regen aufgelöste Kohlenstaub ihrer Schlote fiel in teerigen Tropfen vom Himmel. Ich ging durch die unwirtliche Zypressenpromenade, die zum Eingang des Ostfriedhofs führte, denselben Weg, den ich so oft mit meinem Vater zurückgelegt hatte. Der Patron war schon da. Ich sah ihn von weitem, wie er unerschütterlich im Regen wartete, neben einem der großen steinernen Engel, die das Haupttor zum Friedhof bewachten. Er trug Schwarz, und das Einzige, was ihn von den Hunderten Statuen hinter den Gittern des Geländes unterschied, waren seine Augen. Er blieb völlig reglos, bis ich wenige Meter von ihm entfernt war. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, und winkte ihm zu. Es war kalt, und der Wind roch nach Kalk und Schwefel.
»Sporadische Besucher meinen naiverweise, in dieser Stadt sei es immer sonnig und heiß«, sagte der Patron. »Aber ich sage immer, über kurz oder lang wird sich Barcelonas alte, trübe, dunkle Seele am Himmel widerspiegeln.«
»Sie sollten Reiseführer herausgeben statt religiöse Texte«, empfahl ich.
»Das läuft auf dasselbe hinaus. Wie waren denn diese friedlichen, ruhigen Tage? Sind Sie mit der Arbeit vorangekommen? Haben Sie gute Nachrichten für mich?«
Ich knöpfte das Jackett auf und reichte ihm ein Bündel Seiten. Wir gingen in den Friedhof hinein, um uns irgendwo unterzustellen. Der Patron wählte ein altes Mausoleum mit einer Kuppel auf Marmorsäulen, umgeben von Engeln mit schmalen Gesichtern und zu langen Fingern. Wir setzten uns auf eine kalte Steinbank. Der Patron schenkte mir sein hündisches Lächeln und zwinkerte mir zu. Seine glänzenden gelben Pupillen schlossen sich zu einem schwarzen Punkt, in dem ich mein blasses, sichtlich unruhiges Gesicht gespiegelt sah.
»Entspannen Sie sich, Martín. Sie messen den Requisiten zu viel Bedeutung bei.«
Ruhig begann er die Seiten zu lesen, die ich ihm mitgebracht hatte.
»Ich glaube, ich mache einen Spaziergang, während Sie lesen«, sagte ich.
Corelli nickte, ohne von den Seiten aufzuschauen.
»Entwischen Sie mir nicht«, murmelte er.
Ich entfernte mich, so schnell ich konnte, ohne dass es auffiel, und verlor mich auf den Wegen und in den Winkeln der Totenstadt. Ich ging um Obelisken und Gräber herum und gelangte allmählich ins Zentrum. Der Grabstein war noch da, davor ein Gefäß mit einem Skelett vertrockneter Blumen. Vidal war für die Beerdigung aufgekommen und hatte sogar einen einigermaßen bekannten Bildhauer der Bestattungszunft mit einer Pietä beauftragt, die das Grab behütete, den Blick himmelwärts gewandt, die Hände flehentlich auf der Brust. Ich kniete mich vor den Grabstein und schabte das Moos von der eingemeißelten Inschrift.
JOSE Antonio Martín ClArÉs
1875–1908
Held des Philippinenkrieges
Sein Land und seine Freunde werden ihn nie vergessen
»Guten Tag, Vater«, sagte ich.
Ich schaute zu, wie der schwarze Regen über das Gesicht der Pietá rann und auf den Grabstein trommelte, und lächelte zum Gruß dieser Freunde, die er nie gehabt hatte, und dieses Landes, das ihn in den Tod geschickt hatte, damit sich ein paar Bonzen bereichern konnten, die nie erfuhren, dass es ihn überhaupt gab. Ich setzte mich auf den Stein und legte die Hand auf den Marmor.
»Wer hätte das gedacht, nicht wahr?«
Mein Vater, der stets am Rande des Elends gelebt hatte, ruhte auf immer in einem bürgerlichen Grab. Als Kind hatte ich nie begriffen, warum ihm die Zeitung eine Beerdigung mit einem vornehmen Geistlichen und Klageweibern, mit Blumen und einem Grab wie für einen Zuckerimporteur bezahlt hatte. Niemand hatte mir gesagt, dass Vidal es war, der den Prunk für den Mann finanziert hatte, welcher an seiner Stelle gestorben war, dabei hatte ich immer geahnt, dass er dafür aufgekommen war, und hatte die Geste der unendlichen Güte und Großzügigkeit zugeschrieben, mit der der Himmel meinen Mentor, mein Idol gesegnet hatte, den großen Pedro Vidal.
»Ich muss Sie um Verzeihung bitten, Vater. Jahrelang habe ich Sie gehasst, weil Sie mich allein hier zurückgelassen haben. Ich sagte mir, Sie hätten den Tod gefunden, den Sie immer wollten. Darum habe ich Sie nie besucht. Vergeben Sie mir.«
Mein Vater hatte Tränen nicht gemocht. Er dachte, ein Mann, der weine, vergieße seine Tränen nie um andere, sondern nur für sich selbst. Und dann sei er schwach und verdiene kein Mitleid. Ich mochte nicht um ihn weinen und ihn noch einmal verraten.
»Es wäre schön gewesen, wenn Sie meinen Namen auf einem Buch gesehen hätten, auch wenn Sie es nicht hätten lesen können. Es wäre schön gewesen, wenn Sie hier gewesen wären, bei mir, um zu sehen, dass Ihr Sohn sich durchgesetzt und einige der Dinge erreicht hat, die man Sie nie hatte tun lassen. Es wäre schön gewesen, zu wissen, wer Sie waren, Vater, und es wäre schön gewesen, wenn Sie mich gekannt hätten. Um Sie zu vergessen, habe ich Sie zu einem Fremden gemacht, und jetzt bin ich selbst der Fremde.«
Ich hatte ihn nicht kommen hören, aber als ich den Kopf hob, sah ich, dass mich der Patron aus wenigen Meter Abstand schweigend beobachtete. Ich stand auf und ging zu ihm wie ein gut dressierter Hund. Ich fragte mich, ob er wohl wusste, dass mein Vater hier beerdigt war, und ob er mich gerade aus diesem Grund hierher bestellt hatte. Anscheinend war in meinem Gesicht wie in einem offenen Buch zu lesen, denn er schüttelte den Kopf und legte mir eine Hand auf die Schulter.
»Ich habe es nicht gewusst, Martín. Es tut mir leid.«
Ich war nicht bereit, ihm die Tür zur Freundschaft zu öffnen, und wandte mich ab, um seine Geste der Zuneigung und des Mitleids abzuschütteln und mit zusammengekniffenen Augen die Tränen der Trauer zurückzuhalten. Dann machte ich mich langsam auf den Weg zum Ausgang, ohne auf ihn zu warten. Nach einigen Sekunden folgte er mir. Er ging schweigend neben mir her, bis wir zum Ausgang kamen. Dort blieb ich stehen und schaute ihn ungeduldig an.
»Und? Haben Sie irgendeine Bemerkung zu machen?«
Er überhörte meinen leicht feindseligen Ton und lächelte geduldig.
»Die Arbeit ist hervorragend.«
»Aber…«
»Wenn ich etwas anzumerken hätte, dann, dass Sie meiner Ansicht nach goldrichtig damit liegen, die ganze Geschichte aus der Perspektive eines Zeugen der Ereignisse aufzubauen, der sich als Opfer fühlt und im Namen eines Volkes spricht, das diesen kriegerischen Erlöser herbeisehnt. Machen Sie so weiter.«
»Finden Sie es nicht forciert, künstlich…?«
»Im Gegenteil. Nichts bringt uns so sehr zum Glauben wie die Angst, die Gewissheit, bedroht zu sein. Wenn wir uns als Opfer fühlen, sind alle unsere Handlungen und Glaubenslehren gerechtfertigt, so anfechtbar sie auch sein mögen. Unsere Gegner — oder auch nur unsere Nachbarn — stehen nicht mehr auf der gleichen Stufe wie wir und werden zu Feinden. Wir sind nicht mehr Angreifer, sondern werden Verteidiger. Der Neid, die Habsucht oder das Ressentiment, die uns antreiben, sind gerechtfertigt, weil wir uns sagen, dass wir ja zum Zweck der Selbstverteidigung handeln. Das Böse, die Bedrohung liegt immer beim anderen. Der erste Schritt zum leidenschaftlichen Glauben ist die Angst. Die Angst, unsere Identität, unser Leben, unseren Rang oder unseren Glauben zu verlieren. Die Angst ist das Pulver und der Hass der Docht. Letzten Endes ist das Dogma nur ein brennendes Streichholz. Hier weist Ihre Arbeit meines Erachtens noch die eine oder andere Lücke auf.«
»Erklären Sie mir eines: Geht es Ihnen um den Glauben oder um das Dogma?«
»Es darf uns nicht genügen, dass die Menschen glauben. Sie sollen glauben, was sie glauben sollen. Und sie sollen das weder infrage stellen noch auf die Stimme von irgendjemandem hören, der es infrage stellt. Das Dogma muss zur Identität selbst gehören. Wer immer es infrage stellt, ist unser Feind. Ist das Böse. Und wir haben das Recht und die Pflicht, ihm gegenüberzutreten und ihn zu zerstören. Das ist der einzige Weg zur Erlösung. Glauben, um zu überleben.«
Ich seufzte, schaute weg und nickte widerwillig.
»Ich sehe, Sie sind nicht überzeugt, Martín. Sagen Sie mir, was Sie denken. Glauben Sie, ich irre mich?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, das alles ist eine gefährliche Vereinfachung. Ihre ganze Rede scheint auf einen Mechanismus hinauszulaufen, mit dem sich Hass erzeugen und lenken lässt.«
»Das Adjektiv, das Sie gebrauchen wollten, war nicht gefährlich, sondern widerwärtig, aber ich will es überhört haben.«
»Warum sollen wir den Glauben auf einen Akt der Abwehr und des blinden Gehorsams reduzieren? Kann man nicht an Werte der Annahme, der Eintracht glauben?«
Der Patron lächelte amüsiert.
»Man kann an alles glauben, Martín, an den freien Markt oder an die Zahnfee. Man kann sogar glauben, dass wir an nichts glauben, so wie Sie, dazu muss man nur besonders leichtgläubig sein. Habe ich recht?«
»Der Kunde hat immer recht. Welches ist die Lücke, die Sie in der Geschichte sehen?«
»Ich vermisse einen Schurken. Die meisten von uns definieren sich bewusst oder unbewusst eher darüber, dass sie etwas oder jemanden ablehnen, als dass sie sich mit etwas oder jemandem identifizieren. Mit anderen Worten: Reagieren ist einfacher als agieren. Nichts belebt den Glauben, den Eifer und das Dogma so sehr wie ein guter Widersacher. Je unwahrscheinlicher, desto besser.«
»Ich hatte gedacht, das funktioniere besser auf abstrakte Weise. Der Widersacher wäre der Ungläubige, der Fremde, der außerhalb der Gemeinschaft steht.«
»Schon, aber ich möchte, dass Sie konkreter werden. Es ist schwierig, eine Idee zu hassen. Das erfordert eine gewisse intellektuelle Disziplin und einen obsessiven, krankhaften Geist, der nicht allzu oft anzutreffen ist. Es ist viel einfacher, jemanden mit einem erkennbaren Gesicht zu hassen, dem man an allem, was einem nicht passt, die Schuld in die Schuhe schieben kann. Es muss nicht unbedingt eine Person sein. Es kann auch eine Nation, eine Rasse, eine Gruppe sein, irgendetwas.«
Gegen den präzisen, gelassenen Zynismus des Patrons konnte selbst ich nichts ausrichten. Ich schnaubte niedergeschlagen.
»Spielen Sie jetzt nicht den Musterschüler, Martín. Ihnen ist es egal, und wir brauchen einen Schurken in diesem Vaudeville. Das sollten Sie besser wissen als jeder andere. Es gibt kein Drama ohne Konflikt.«
»Was für einen Schurken möchten Sie denn? Einen tyrannischen Eroberer? Einen falschen Propheten? Den schwarzen Mann?«
»Die Verkleidung überlasse ich Ihnen. Jeder der üblichen Verdächtigen ist mir recht. Unser Schurke soll es uns ermöglichen, die Opferrolle anzunehmen und unsere moralische Überlegenheit einzufordern. Wir werden all das in ihm sehen, was wir in uns selbst nicht zu erkennen vermögen und je nach unseren besonderen Interessen dämonisieren. Das ist das Einmaleins des Pharisäertums. Ich sage ja, Sie sollen die Bibel lesen. Darin finden sich alle Antworten, die Sie suchen.«
»Ich bin dabei.«
»Man braucht nur den Frömmler davon zu überzeugen, dass er frei von Sünde ist, und schon fängt er begeistert an, Steine oder Bomben zu werfen. Tatsächlich ist kein großer Aufwand erforderlich, es braucht nur etwas Ermutigung und ein Alibi, dann überzeugt er sich selbst. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
»Sie drücken sich hervorragend aus. Ihre Argumente sind so subtil wie der Hochofen in einer Eisenhütte.«
»Ich glaube, mir gefällt dieser herablassende Ton nicht ganz, Martín. Finden Sie vielleicht, das alles sei nicht ganz auf der Höhe Ihrer moralischen oder intellektuellen Reinheit?«
»Überhaupt nicht«, murmelte ich kleinlaut.
»Was liegt Ihnen denn sonst auf der Seele, mein Freund?«
»Dasselbe wie immer. Ich bin nicht sicher, ob ich der Nihilist bin, den Sie benötigen.«
»Das ist niemand. Nihilismus ist eine Pose, keine Doktrin. Halten Sie einem Nihilisten eine Kerzenflamme unter die Hoden, und Sie werden sehen, wie schnell er das Licht des Lebens sieht. Was Sie stört, ist etwas anderes.«
Ich schaute ihm direkt in die Augen und gewann meinen herausforderndsten Ton zurück.
»Vielleicht stört mich, dass ich zwar alles verstehe, was Sie sagen, dass ich es aber nicht fühle.«
»Bezahle ich Sie dafür, dass Sie fühlen?«
»Manchmal ist Fühlen und Denken dasselbe. Der Gedanke ist von Ihnen, nicht von mir.«
Der Patron lächelte in einer seiner dramatischen Pausen, wie ein Schullehrer, der den tödlichen Stoß vorbereitet, um einen ungezogenen, widerspenstigen Schüler zum Schweigen zu bringen.
»Und was fühlen Sie, Martín?«
Die Ironie und Verachtung in seiner Stimme ermutigten mich, und ich öffnete dem in seinem Schatten über Monate angehäuften Gefühl der Erniedrigung die Schleusen. Ich spürte Wut und Scham darüber, dass ich mich von seiner Gegenwart einschüchtern ließ und seine vergifteten Abhandlungen duldete. Wut und Scham darüber, dass er mir, obwohl ich glauben wollte, in mir gebe es nichts als Verzweiflung, gezeigt hatte, dass meine Seele genauso schäbig und elend war wie seine Gossenphilosophie. Wut und Scham, weil ich spürte und wusste, dass er in allem recht hatte, besonders dann, wenn es am schwersten zu akzeptieren war.
»Ich habe Sie etwas gefragt, Martín. Was fühlen Sie?«
»Ich habe das Gefühl, dass ich die Dinge am besten so belasse, wie sie sind, und Ihnen Ihr Geld zurückgebe. Ich habe das Gefühl, dass ich, was immer Sie mit diesem absurden Unterfangen erreichen wollen, lieber keinen Anteil daran haben möchte. Und vor allem habe ich das Gefühl, ich hätte Sie besser nie kennengelernt.«
Der Patron schloss die Augen und versank in ein langes Schweigen. Er wendete sich um und ging einige Schritte in Richtung Friedhofstor. Ich beobachtete seine sich vor dem Marmorgarten abzeichnende dunkle Gestalt, seinen reglosen Schatten im Regen. Ich hatte Angst, eine undeutliche Angst, die in mir wuchs und mir den kindlichen Gedanken eingab, um Verzeihung zu bitten und jede beliebige Strafe zu akzeptieren, wenn ich nur dieses Schweigen nicht mehr ertragen musste. Und ich verspürte Ekel. Vor seiner Gegenwart und vor allem vor mir selbst.
Der Patron drehte sich um und kam zurück. Wenige Zentimeter von mir blieb er stehen und beugte sein Gesicht über meines. Ich spürte seinen kalten Atem und verlor mich in seinen bodenlosen schwarzen Augen. Diesmal war der Ton seiner Stimme reines Eis, frei von der zweckmäßigen, einstudierten Menschlichkeit, mit der er seine Gespräche und Gebärden zu garnieren pflegte.
»Ich werde es Ihnen nur ein einziges Mal sagen. Sie werden Ihren Teil erfüllen und ich den meinen. Das ist das Einzige, was Sie fühlen können und sollen.«
Erst als er das Bündel Seiten aus der Tasche zog, wurde mir bewusst, dass ich wiederholt nickte. Bevor ich die Seiten ergreifen konnte, ließ er sie fallen. Der Wind wirbelte die Blätter weg, und ich sah, wie sie sich zum Friedhofstor hin zerstreuten. Ich wollte sie vor dem Regen retten, aber einige waren in Pfützen gefallen und bluteten im Wasser aus — die Worte lösten sich vom Papier wie Fasern. Ich sammelte sie alle zu einem Klumpen Makulatur ein. Als ich aufschaute und mich umblickte, war der Patron verschwunden.
Wenn ich je bei einem vertrauten Gesicht Zuflucht finden musste, dann jetzt. Ich ging zu dem alten, sich hinter den Friedhofsmauern erhebenden Gebäude der Stimme der Industrie, in der Hoffnung, meinen alten Lehrer Don Basilio dort anzutreffen. Er war einer der wenigen gegen die Dummheit der Welt gefeiten Menschen und konnte immer mit einem guten Rat aufwarten. Beim Betreten des Zeitungsgebäudes fiel mir auf, dass ich die meisten der Beschäftigten, die mir begegneten, noch kannte. Seit meinem Weggang vor Jahren schien keine Minute vergangen zu sein. Diejenigen, die mich ebenfalls wiedererkannten, streiften mich mit einem argwöhnischen Blick und schauten dann weg, um mich nicht grüßen zu müssen. Ich schlich mich durch den Redaktionsraum und ging geradewegs nach hinten zu Don Basilios Büro. Es war leer.
»Wen suchen Sie?«
Hinter mir stand Rosell, einer der Redakteure, die mir schon alt erschienen waren, als ich als junger Bursche dort gearbeitet hatte. Er hatte für die Zeitung die boshafte Kritik über Die Schritte des Himmels geschrieben, in der ich als »Verfasser von Kleinanzeigen« bezeichnet worden war.
»Señor Rosell, ich bin’s, Martín, David Martín. Erinnern Sie sich nicht mehr an mich?«
Rosell musterte mich mehrere Sekunden, als könnte er mich nur mit großer Mühe wiedererkennen, und nickte schließlich.
»Und Don Basilio?«
»Der ist vor zwei Monaten gegangen. Sie finden ihn in der Redaktion der Vanguardia. Wenn Sie ihn sehen, grüßen Sie ihn von mir.«
»Das werde ich tun.«
»Tut mir leid, das mit Ihrem Buch«, sagte er nachsichtig.
Zwischen ausweichenden Blicken, manch falschem Lächeln und galligem Gemurmel hindurch verließ ich die Redaktion. Die Zeit heilt alles, dachte ich, außer der Wahrheit.
Eine halbe Stunde später setzte mich ein Taxi vor dem Hauptsitz der Vanguardia in der Calle Pelayo ab. Im Gegensatz zu dem düsteren, heruntergekommenen Inventar meiner ehemaligen Zeitung strahlte hier alles Gediegenheit und Üppigkeit aus. Ich wies mich beim Pförtner aus, und ein junger Bursche, der nach Volontär aussah und mich an mich selbst in meinen jungen Jahren als Mädchen für alles erinnerte, wurde ausgesandt, Don Basilio den Besuch zu melden. Die Erscheinung meines alten Lehrers hatte im Lauf der Jahre nichts von ihrer Löwenhaftigkeit verloren. In der zu der erlesenen Umgebung passenden neuen Gewandung war Don Basilio eine so imposante Gestalt wie zu seinen besten Zeiten in der Stimme der Industrie. Bei meinem Anblick leuchteten seine Augen auf, und entgegen seinem strengen Protokoll empfing er mich mit einer Umarmung, bei der ich mühelos zwei, drei Rippen hätte einbüßen können, hätte Don Basilio vor Publikum nicht Schein und Ruf wahren müssen.
»Werden wir langsam bürgerlich, Don Basilio?«
Mein ehemaliger Chef zuckte die Schultern und spielte die Bedeutung der neuen Kulisse mit einer Handbewegung herunter.
»Lassen Sie sich nicht beeindrucken.«
»Seien Sie nicht so bescheiden, Don Basilio, da sind Sie ja in eine Schatzkammer geraten. Und machen Sie den Leuten Dampf?«
Er zog seinen unsterblichen Rotstift hervor und hielt ihn mir mit einem Augenzwinkern unter die Nase.
»Vier pro Woche.«
»Zwei weniger als in der Stimme.«
»Geben Sie mir ein wenig Zeit, da gibt’s noch so eine Eminenz, die die Flinte auf mich anlegt und meint, Cicero sei ausschließlich der Name eines römischen Konsuls.«
Dennoch fühlte sich Don Basilio offensichtlich wohl in seinem neuen Zuhause, und er sah sogar gesünder aus als früher.
»Sagen Sie nicht, Sie seien gekommen, weil Sie Arbeit suchen — ich bin imstande und gebe Ihnen welche«, drohte er.
»Ich danke Ihnen, Don Basilio, aber Sie wissen ja, dass ich den Beruf an den Nagel gehängt habe und dass Journalismus nicht meine Sache ist.«
»So sagen Sie schon, wie Ihnen dieser alte Brummbär helfen kann.«
»Ich brauche für eine Geschichte, an der ich arbeite, Informationen zu einem alten Fall — dem Tod eines renommierten Anwalts namens Marlasca, Diego Marlasca.«
»Und von welchem Jahr ist die Rede?«
»1904.«
Don Basilio stieß einen Pfiff aus.
»Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt! Seither ist viel Wasser den Ebro hinuntergeflossen.«
»Nicht genug, um die Sache reinzuwaschen.«
Don Basilio legte mir die Hand auf die Schulter und bedeutete mir, ihm in die Redaktion zu folgen.
»Keine Sorge, hier sind Sie goldrichtig. Diese guten Leute führen ein Archiv, nach dem sich der Vatikan alle zehn Finger lecken würde. Falls etwas durch die Presse ging, finden wir es. Und zudem ist der Chefarchivar ein guter Freund von mir. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich neben ihm Schneewittchen bin. Lassen Sie sich von seiner etwas widerborstigen Art nicht einschüchtern. Im Grunde, ganz tief drinnen, ist er ein gutmütiger Kerl.«
Ich folgte ihm durch die große, mit edlen Hölzern ausgekleidete Vorhalle. Auf der einen Seite tat sich ein runder Saal mit einem runden Tisch und einer Reihe Bilder auf, von denen herab uns ernst dreinblickende Aristokraten betrachteten.
»Der Raum der Hexensabbate«, erklärte Don Basilio. »Da treffen sich täglich um sieben Uhr abends die Ressortchefs und der stellvertretende Chefredakteur, also meine Wenigkeit, und der Chef, und sitzen wie die Ritter der Tafelrunde um den Heiligen Gral herum.«
»Beeindruckend.«
»Sie haben noch gar nichts gesehen. Kommen Sie, nehmen Sie alles unter die Lupe.«
Don Basilio trat unter eines der erlauchten Porträts und drückte auf die Holztäfelung. Sie gab knarrend nach und den Zugang zu einem verborgenen Korridor frei.
»Na, was sagen Sie nun, Martín? Und das ist nur einer der vielen Geheimgänge des Hauses. Nicht einmal die Borgia hatten einen Schuppen wie diesen.«
Ich folgte ihm durch den Gang zu einem großen Lesesaal. Rundherum standen verglaste Vitrinen — die Geheimbibliothek der Vanguardia. Ganz hinten im Saal erkannte man im Lichtkegel einer grünlichen Lampe einen Mann mittleren Alters, der an einem Tisch saß und mit der Lupe ein Dokument studierte. Als er uns eintreten hörte, sah er auf und schenkte uns einen Blick, der jeden Minderjährigen oder Hasenfuß versteinert hätte.
»Darf ich vorstellen — Don José María Brotons, Herr der Unterwelt und der Katakomben dieses geweihten Hauses«, verkündete Don Basilio.
Ohne die Lupe wegzulegen, schaute mich Brotons mit seinen sengenden Augen an. Ich trat zu ihm und reichte ihm die Hand.
»Das ist mein ehemaliger Zögling David Martín.«
Brummelnd drückte mir Brotons die Hand und sah zu Don Basilio auf.
»Das ist der Schriftsteller?«
»Höchstselbst.«
Brotons nickte.
»Doch, doch, der hat Mut, nach der Abreibung, die er bekommen hat, noch aus dem Haus zu gehen. Was sucht er hier?«
»Ihre Hilfe, Ihren Segen und Rat bei einer hoch wichtigen Ermittlung im Bereich der Dokumentar-Archäologie«, erklärte Don Basilio.
»Und wo bleibt das Blutopfer?«
Ich musste schlucken.
»Blutopfer?«, fragte ich.
Brotons schaute mich an wie einen Schwachsinnigen.
»Eine Ziege, ein Lämmlein, ein Kapaun, wenn Sie es genau wissen wollen…«
Ich verstand überhaupt nichts. Brotons starrte mich einen endlosen Moment lang an, ohne zu blinzeln. Dann, als mich schon der Schweiß am Rücken zu jucken begann, brachen der Archivleiter und Don Basilio in Gelächter aus. Ich ließ sie auf meine Kosten lachen, bis sie beinahe erstickten und sich die Tränen aus den Augen wischten. Es war nicht zu übersehen — in seinem neuen Kollegen hatte Don Basilio eine Zwillingsseele gefunden.
»Hier entlang, junger Mann«, sagte Brotons, während sich sein wildes Gesicht glättete. »Sehen wir doch mal, was wir finden.«
Das Archiv befand sich in einem Kellergelass des Gebäudes, einen Stock tiefer als die große Rotationsmaschine, eine postviktorianische Ausgeburt der Technik, die aussah wie die Kreuzung zwischen einer gigantischen Dampflokomotive und einem Blitzerzeugungsaggregat.
»Darf ich vorstellen — die Rotationsmaschine, bekannter unter dem Namen Leviathan. Seien Sie vorsichtig — sie soll schon mehr als einen Unvorsichtigen verschluckt haben«, sagte Don Basilio. »Wie bei Jona und dem Wal, aber in Form von Gehacktem.«
»So schlimm wird es wohl nicht sein.«
»Wir könnten ja einmal den neuen Stipendiaten reinwerfen, den, der sich als Neffen von Maciá bezeichnet und immer so schlaubergert«, schlug Brotons vor.
»Nennen Sie Tag und Stunde, und wir feiern es mit Kutteln an Tomatensoße«, stimmte Don Basilio zu.
Die beiden wieherten wie zwei Pennäler. Ein perfektes Paar, dachte ich.
Der Archivraum bestand aus zahllosen Gängen mit jeweils drei Meter hohen Regalen. Zwei blasse Wesen, die aussahen, als hätten sie seit fünfzehn Jahren kein Sonnenlicht mehr gesehen, fungierten als Brotons’ Assistenten. Als sie ihn erblickten, eilten sie wie treue Maskottchen herbei, um seine Befehle entgegenzunehmen. Brotons warf mir einen fragenden Blick zu.
»Was suchen wir?«
»1904. Tod eines Anwalts namens Diego Marlasca. Herausragendes Mitglied der Barceloneser Gesellschaft, Gründungsmitglied der Kanzlei Valera, Marlasca und Sentís.«
»Monat?«
»November.«
Auf ein Zeichen von Brotons entschwirrten die beiden Assistenten, um die Ausgaben aller Zeitungen vom November 1904 zu holen. Damals war der Tod im Alltag so gegenwärtig, dass die meisten Zeitungen ihre Titelseite mit großen Nachrufen aufmachten. Man durfte annehmen, dass eine Persönlichkeit vom Range Marlascas der städtischen Presse mehr als eine Todesanzeige wert gewesen und die Nachrufe prominent auf der ersten Seite erschienen waren. Die Assistenten kamen mit mehreren Bänden zurück und platzierten sie auf einem großen Tisch. Zu fünft teilten wir uns in die Arbeit, und bald fanden wir Don Diego Marlascas Nachruf wie vermutet auf der ersten Seite der Ausgabe vom 23. November 1904.
»Habemus corpus«, verkündete Brotons, der Entdecker.
Es gab vier Nekrologe auf Marlasca — einen von seiner Familie, einen von der Anwaltskanzlei, einen dritten von der Barceloneser Anwaltskammer und schließlich einen vom Barceloneser Athenäum, einem kulturellen Verein.
»So ist das, wenn man reich ist. Man stirbt ein halbes Dutzend Male«, bemerkte Don Basilio.
Die Nachrufe an sich waren nicht weiter von Interesse. Fürbitten für die unsterbliche Seele des Dahingegangenen, der Hinweis darauf, dass die Beisetzung im engsten Familienkreis stattfinde, prächtige Elogen auf einen großen Mitbürger und Gelehrten, ein unersetzliches Mitglied der Barceloneser Gesellschaft und so weiter.
»Was Sie interessiert, muss einen oder zwei Tage vor oder nachher erschienen sein«, sagte Brotons.
Wir begannen die Ausgaben der gesamten Woche von Marlascas Tod durchzugehen und stießen auf eine ganze Serie von Meldungen. Die erste verkündete, der distinguierte Rechtsgelehrte sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Don Basilio las die Meldung vor.
»Das hat ein Orang-Utan geschrieben«, sagte er.
»Drei redundante Absätze, die nichts aussagen, und erst am Ende wird erklärt, es habe sich um einen Unfall gehandelt, ohne dass gesagt würde, um was für einen.«
»Da haben wir was Interessanteres«, sagte Brotons.
In einem Artikel des darauffolgenden Tages stand, die Polizei untersuche die Umstände des Unfalls, um den exakten Verlauf des Geschehens zu klären. Das Interessanteste war der Hinweis, dass Marlasca dem gerichtsmedizinischen Gutachten zufolge ertrunken sei.
»Ertrunken?«, fiel ihm Don Basilio ins Wort. »Wie? Wo?«
»Das wird nicht angegeben. Wahrscheinlich musste man die Meldung stutzen für diese dringende, ausführliche Apologie der Sardana da — dreispaltig aufgemacht und unter der Überschrift ›Beim Klang der Tenora — Geist und Stimmung‹«, sagte Brotons.
»Steht dort, wer die Ermittlungen geleitet hat?«, fragte ich.
»Da wird ein gewisser Salvador erwähnt, Ricardo Salvador«, antwortete Brotons.
Wir gingen die übrigen Meldungen zu Marlascas Tod durch, aber es fand sich nichts mehr von Belang. Der Inhalt der Texte wiederholte sich wie in einer Litanei, die allzu sehr der von der Kanzlei Valera ausgegebenen Version glich.
»All das riecht auffällig nach Verschleierung«, sagte Brotons.
Ich war entmutigt. Ich hatte gehofft, etwas mehr zu finden als nur süßliche Gedenktexte und leere Meldungen, die keinerlei Licht auf das Vorgefallene warfen.
»Hatten Sie nicht eine gute Verbindung zum Polizeipräsidium?«, fragte Don Basilio. »Wie hieß der Mann noch?«
»Víctor Grandes«, sagte Brotons.
»Vielleicht kann er Sie in Kontakt bringen mit diesem Salvador.«
Ich räusperte mich, und die beiden Männer schauten mich mit gerunzelter Stirn an.
»Aus Gründen, die nichts mit der Sache zu tun haben — oder allzu viel —, möchte ich Inspektor Grandes lieber nicht in diese Geschichte hineinziehen«, sagte ich.
Brotons und Don Basilio wechselten einen Blick.
»Hm. Sonst noch ein Name, der von der Liste zu streichen ist?«
»Marcos und Castelo.«
»Ich sehe, Sie haben Ihr Talent, sich allenthalben Freunde zu schaffen, noch nicht verloren«, sagte Don Basilio.
Brotons rieb sich das Kinn.
»Kein Grund zur Beunruhigung. Ich glaube, ich werde den einen oder anderen Zugang finden, der keinen Verdacht aufkommen lässt.«
»Wenn Sie mir Salvador aufspüren, werde ich für Ihr Blutopfer schlachten, was Sie wollen, sogar ein Schwein.«
»Mit meiner Gicht habe ich notgedrungen von Speck Abstand genommen, aber zu einer guten Havanna würde ich nicht nein sagen«, meinte Brotons.
»Es dürfen auch zwei sein«, fügte Don Basilio hinzu.
Während ich zu einem Tabakladen in der Calle Tallers eilte, um die beiden edelsten und teuersten Zigarren des Sortiments zu erwerben, tätigte Brotons zwei diskrete Anrufe im Präsidium und bestätigte, dass Salvador den Dienst eher unfreiwillig verlassen und dann auf eigene Faust zu arbeiten begonnen habe, als Leibwächter für Industrielle oder als Ermittler für mehrere Anwaltskanzleien der Stadt. Als ich mit den beiden Zigarren für meine Wohltäter zurückkam, reichte mir der Archivleiter einen Zettel mit einer Adresse.
Ricardo Salvador
Calle de la Lleona 21, Dachgeschoss
»Der Herr Graf möge es Ihnen vergelten«, sagte ich. »Und Ihnen wünsche ich, dass Sie es noch erleben.«
Die Calle de la Lleona, bei den Anwohnern wegen des dort ansässigen berüchtigten Bordells besser bekannt unter dem Namen dels Tres Llits, »der drei Betten«, war ein Gässchen beinahe so düster wie sein Ruf. Es entsprang den schattigen Bögen der Plaza Real und wuchs sich ohne Sonnenlicht zu einer feuchten Spalte zwischen alten, dichtgedrängten, von einem durchgehenden Netz aufgehängter Wäsche verbundenen Häusern aus. Von den altersschwachen Fassaden blätterte der Ocker ab, und über das Pflaster aus Steinplatten war in den Gewaltjahren der anarchistischen Aufstände viel Blut geflossen. Mehr als einmal hatte ich sie in meinen Geschichten über die Stadt der Verdammten als Schauplatz benutzt, und auch jetzt, da sie verlassen und vergessen dalag, roch sie für mich noch nach Intrigen und Schießpulver. Diese triste Kulisse deutete darauf hin, dass Kommissar Salvador nicht unter sehr großzügigen Bedingungen in den Zwangsruhestand versetzt worden war.
Nummer 21 war ein bescheidenes, zwischen zwei anderen eingeklemmtes, halb verstecktes Haus. Die Tür stand offen und führte zu einem dämmrigen Schacht, in dem eine schmale, steile Stiege spiralförmig hinaufführte. Zwischen den Fugen der Bodenfliesen quoll eine dunkle, schleimige Flüssigkeit heraus. Beim Hinaufsteigen ließ ich das Geländer nicht los, obwohl ich auch ihm nicht traute. In jedem Stock gab es nur eine Wohnung, von denen, der Breite des Hauses nach zu urteilen, keine größer als vierzig Quadratmeter sein konnte. Ein kleines Oberlicht krönte das Treppenhaus und tauchte die obersten Stockwerke in mattes Licht. Die Tür zur Dachwohnung befand sich am Ende eines kurzen Gangs und stand zu meiner Überraschung offen. Ich klopfte an, erhielt aber keine Antwort. Man sah in ein kleines Wohnzimmer mit einem Sessel, einem Tisch und einem Regal mit Büchern und Blechdosen. Die angrenzende Kammer war eine Art Küche mit Waschplatz. Der einzige Segen dieses Lochs bestand darin, dass man direkt aufs flache Dach hinausgelangte. Auch diese Tür stand offen, und eine frische Brise wehte von den Altstadtdächern den Geruch nach Essen und Wäsche herein.
»Ist da jemand?«, rief ich.
Da die Antwort abermals ausblieb, ging ich zur Terrassentür und spähte aufs Dach hinaus. Der Dschungel von Giebeln, Dachterrassen, Türmen, Wassertanks, Blitzableitern und Schornsteinen wucherte nach allen Seiten. Ich hatte noch keinen Schritt hinaus getan, als ich ein kaltes Metallteil im Nacken spürte und das eiserne Klacken eines Revolverhahns hörte, der gespannt wurde. Mir fiel nichts anderes ein, als ohne mit der Wimper zu zucken die Hände zu heben.
»Mein Name ist David Martín. Man hat mir Ihre Adresse im Präsidium gegeben. Ich wollte mit Ihnen über einen Fall sprechen, den Sie geleitet haben, als Sie noch im Dienst waren.«
»Gehen Sie immer in Wohnungen anderer Leute, ohne vorher anzuklopfen, Señor Martín?«
»Die Tür war offen. Ich habe angeklopft, aber anscheinend haben Sie mich nicht gehört. Darf ich die Hände runternehmen?«
»Ich habe nicht gesagt, dass Sie sie hochnehmen sollen. Was für ein Fall?«
»Der Tod von Diego Marlasca. Ich bin der Mieter seiner letzten Wohnung. Des Hauses mit dem Turm in der Calle Flassaders.«
Er blieb stumm. Der Druck des Revolvers hielt an.
»Señor Salvador?«, fragte ich.
»Ich überlege eben, ob ich Ihnen nicht am besten gleich das Hirn wegblase.«
»Wollen Sie nicht vorher meine Geschichte hören?«
Er lockerte den Druck des Revolvers. Ich hörte, wie der Hahn entspannt wurde, und drehte mich in Zeitlupe um. Ricardo Salvador war von imponierender Gestalt und hatte graue Haare und hellblaue, durchdringende Augen. Ich schätzte ihn auf etwa fünfzig, aber selbst ein halb so alter Mann hätte schwerlich gewagt, sich ihm in den Weg zu stellen. Salvador senkte den Revolver, kehrte mir den Rücken und ging in die Wohnung zurück.
»Entschuldigen Sie diesen Empfang«, murmelte er.
Ich folgte ihm zu der winzigen Küche und blieb auf der Schwelle stehen. Er legte den Revolver auf den Spülstein und brachte mit Papier und Karton die eine Herdflamme zum Brennen. Mit einem Glas Kaffeepulver in der Hand schaute er mich fragend an.
»Nein, danke.«
»Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass es das einzig Gute ist, was ich habe«, sagte er.
»Dann leiste ich Ihnen Gesellschaft.«
Salvador gab zwei gehäufte Löffel Kaffee in die Espressomaschine, füllte sie mit Wasser aus einem Krug und setzte sie aufs Feuer.
»Wer hat Ihnen von mir erzählt?«
»Vor einigen Tagen habe ich Señora Marlasca besucht, die Witwe. Sie hat von Ihnen gesprochen und gesagt, Sie seien der Einzige, der versucht habe, die Wahrheit herauszufinden, und das habe Sie die Stelle gekostet.«
»So könnte man es wohl sagen.«
Ich bemerkte, dass die Erwähnung der Witwe seinen Blick getrübt hatte, und fragte mich, was sich in diesen unglücklichen Tagen zwischen den beiden ereignet haben mochte.
»Wie geht es ihr?«, fragte er.
»Ich glaube, sie vermisst Sie.«
Salvador nickte. Seine Wildheit war völlig verschwunden.
»Ich habe sie schon lange nicht mehr besucht.«
»Sie glaubt, Sie geben ihr die Schuld an dem, was Ihnen widerfahren ist. Ich denke, sie würde Sie gern Wiedersehen, obwohl es schon so lange her ist.«
»Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht sollte ich sie besuchen…«
»Können Sie mir erzählen, was geschehen ist?«
Sein Gesicht wurde wieder ernst, und er nickte.
»Was wollen Sie denn wissen?«
»Marlascas Witwe hat mir gesagt, Sie hätten nie an die Version geglaubt, dass ihr Mann sich das Leben genommen habe, und hätten einen Verdacht gehegt.«
»Mehr als nur einen Verdacht. Hat Ihnen jemand gesagt, wie Marlasca ums Leben gekommen ist?«
»Ich weiß nur, dass es ein Unfall gewesen sein soll.«
»Marlasca ertrank. So stand es jedenfalls im Schlussbericht der Polizei.«
»Wie ist er ertrunken?«
»Es gibt nur eine Art zu ertrinken, aber darauf komme ich später zurück. Das Merkwürdige ist, wo.«
»Im Meer?«
Salvador lächelte. Sein Lächeln war so bitter und schwarz wie der Kaffee, der in der Kanne hochstieg. Salvador schnupperte.
»Sind Sie sicher, dass Sie diese Geschichte hören wollen?«
»In meinem ganzen Leben bin ich mir einer Sache nie so sicher gewesen.«
Er gab mir eine Tasse und musterte mich von oben bis unten.
»Ich gehe davon aus, dass Sie diesen Scheißkerl von Valera schon aufgesucht haben.«
»Wenn Sie Marlascas Partner meinen, der ist tot. Gesprochen habe ich mit seinem Sohn.«
»Ebenfalls ein Scheißkerl, aber mit weniger Schneid. Ich weiß ja nicht, was er Ihnen erzählt hat, aber sicher hat er Ihnen verschwiegen, dass sie es gemeinsam bewirkt hatten, dass man mich aus dem Dienst ausschloss und zu einem Paria machte, dem keiner ein Almosen gab.«
»Ich fürchte tatsächlich, das hat er in seine Darstellung der Ereignisse nicht mit einbezogen«, gab ich zu.
»Erstaunt mich nicht.«
»Sie wollten mir sagen, wie Marlasca ertrank.«
»Genau da wird es interessant«, sagte Salvador. »Wussten Sie, dass Señor Marlasca nicht nur Anwalt, Gelehrter und Schriftsteller war, sondern als junger Mann auch zweimal die weihnächtliche Hafenüberquerung, die der Schwimmklub Barcelona organisiert, gewonnen hat?«
»Wie kann ein Schwimmchampion ertrinken?«, fragte ich.
»Es kommt eben darauf an, wo. Señor Marlascas Leiche wurde im Becken auf dem Dach des Wasserspeichers am Ciudadela-Park gefunden. Kennen Sie diesen Ort?«
Ich nickte mit einem Kloß im Hals. Der Ort, wo ich mich zum ersten Mal mit Corelli getroffen hatte.
»Wenn Sie ihn kennen, wissen Sie auch, dass das volle Becken kaum einen Meter tief, also eigentlich eine Pfütze ist. An dem Tag, an dem der Anwalt tot aufgefunden wurde, war der Teich halb leer, der Wasserspiegel erreichte kaum sechzig Zentimeter.«
»Ein Schwimmchampion ertrinkt nicht mir nichts, dir nichts in sechzig Zentimeter tiefem Wasser.«
»Das habe ich mir auch gesagt.«
»Gab es noch andere Meinungen?«
Salvador lächelte bitter.
»Zunächst ist schon fraglich, ob er überhaupt ertrunken ist. Der Gerichtsarzt, der die Autopsie der Leiche durchführte, fand ein wenig Wasser in der Lunge, aber sein Gutachten besagte, dass der Tod durch Herzstillstand eingetreten sei.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Als Marlasca ins Wasser fiel — oder als ihn jemand hineinstieß —, stand er in Flammen. Die Leiche zeigte an Oberkörper, Armen und Gesicht Verbrennungen dritten Grades. Laut Gerichtsmediziner dürfte der Körper gut eine Minute gebrannt haben, bevor er mit dem Wasser in Berührung kam. Im Gewebe von Marlascas Kleidern fanden sich Reste irgendeines Lösungsmittels. Er ist bei lebendigem Leib verbrannt worden.«
Ich brauchte eine Weile, um all das zu verdauen.
»Warum sollte jemand so was tun?«
»Eine Abrechnung? Pure Grausamkeit? Wählen Sie selber. Meiner Meinung nach wollte jemand die Identifizierung von Marlascas Leiche hinauszögern, um Zeit zu gewinnen und die Polizei in die Irre zu führen.«
»Wer denn?«
»Jaco Corbera.«
»Der Impresario von Irene Sabino.«
»Der am Tag von Marlascas Tod verschwunden ist mit der Einlage eines Privatkontos von Anwalt Marlasca bei der Bank Hispano Colonial, von dem seine Frau nichts wusste.«
»Hunderttausend französische Francs«, sagte ich.
Salvador schaute mich verdutzt an.
»Woher wissen Sie das?«
»Tut nichts zur Sache. Was hatte Marlasca auf dem Dach des Wasserspeichers verloren? Der liegt ja nicht eben am Weg.«
»Das ist ein weiterer ungeklärter Punkt. In Marlascas Arbeitszimmer haben wir ein Notizbuch gefunden, in dem er ein Treffen an diesem Ort eingetragen hatte, um fünf Uhr nachmittags. So sah es wenigstens aus — im Notizbuch waren nur eine Uhrzeit, ein Ort und eine Initiale vermerkt. Ein C. Wahrscheinlich Corbera.«
»Was ist denn Ihrer Meinung nach geschehen?«
»Ich glaube — und eigentlich ist das das Nächstliegende —, dass Jaco Irene Sabino benutzte, um Marlasca zu manipulieren. Sie wissen ja vermutlich, dass der Anwalt besessen war von diesem ganzen Aberglauben der spiritistischen Sitzungen und all dem, besonders seit dem Tod seines Sohnes. Jaco hatte einen Partner, Damián Roures, der sich in diesem Milieu bewegte. Ein Schwindler, wie er im Buche steht. Gemeinsam und mit Irene Sabinos Hilfe führten die beiden Marlasca hinters Licht und versprachen ihm, er könne mit dem Jungen in der Welt der Geister Verbindung aufnehmen. Marlasca war verzweifelt und bereit, alles zu glauben. Das Gaunertrio hatte die Sache perfekt durchgeplant, bis Jacos Geldgier mit ihm durchging. Manche sagen, die Sabino habe nicht böswillig gehandelt, sondern sei tatsächlich in Marlasca verliebt gewesen und habe an den ganzen Zauber ebenso geglaubt wie er. Mich überzeugt diese Version nicht, aber angesichts dessen, was geschah, spielt das auch keine Rolle. Jaco erfuhr von Marlascas Vermögen auf der Bank und beschloss, ihn sich vom Hals zu schaffen und mit dem Geld abzuhauen und nichts als Verwirrung zurückzulassen. Das Treffen im Notizbuch kann ebenso gut eine falsche Fährte gewesen sein, die die Sabino oder Jaco gelegt hatte. Es gibt keinen eindeutigen Hinweis darauf, dass Marlasca es selbst eingetragen hatte.«
»Und woher kamen die hunderttausend Francs, die Marlasca bei der Bank Hispano Colonial hatte?«
»Marlasca hatte sie ein Jahr zuvor in bar selbst einbezahlt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, woher er eine solche Summe hatte. Hingegen weiß ich, dass das, was davon noch vorhanden war, am Morgen von Marlascas Todestag abgehoben wurde, ebenfalls in bar. Später behaupteten die Anwälte, das Geld sei auf eine Art Sperrkonto überwiesen worden, also nicht verschwunden, Marlasca habe bloß beschlossen, seine Finanzen neu zu ordnen. Ich kann aber nur schwer glauben, dass einer am Morgen seine Finanzen neu ordnet und fast hunderttausend Francs verschiebt und am Abend lebendigen Leibes verbrannt wird. Ich glaube nicht, dass dieses Geld in irgendeinem geheimnisvollen Fonds verschwand, sondern bin überzeugt, dass es bei Jaco Corbera und Irene Sabino gelandet ist. Wenigstens zuerst — ich bezweifle, dass sie nachher auch nur einen Centimo gesehen hat. Jaco ist mit dem Geld verschwunden. Auf Nimmerwiedersehen.«
»Und was ist dann aus ihr geworden?«
»Das ist ein weiterer Punkt, der mich annehmen lässt, dass Jaco Roures und Irene Sabino betrogen hat. Kurz nach Marlascas Tod hat Roures das Geschäft mit dem Jenseits aufgegeben und einen Laden für Zauberartikel in der Calle Princesa aufgemacht, den es meines Wissens immer noch gibt. Irene Sabino hat noch zwei Jahre in Nachtklubs und immer schäbigeren Lokalen gearbeitet. Das Letzte, was ich von ihr gehört habe, ist, dass sie im Raval auf den Strich ging und im Elend lebte. Offensichtlich hat sie nicht einen einzigen Franc von diesem Geld bekommen. Und Roures auch nicht.«
»Und Jaco?«
»Höchstwahrscheinlich hat er das Land unter falschem Namen verlassen und lebt irgendwo auf der Welt komfortabel von den Zinsen.«
Statt allmählich klarer zu sehen, taten sich mir nur noch mehr Fragezeichen auf. Anscheinend interpretierte Salvador meinen bekümmerten Blick richtig, denn er schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln.
»Valera und seine Freunde im Rathaus haben erreicht, dass die gesamte Presse die Geschichte über den Unfall brachte. Außerdem hat er die ganze Angelegenheit mit einer herrschaftlichen Bestattungsfeier bereinigt. Zum einen, um die Geschäfte der Kanzlei nicht zu gefährden, die zum guten Teil ja auch die Geschäfte von Rathaus und Abgeordnetenversammlung waren, und zum anderen, um Señor Marlascas merkwürdiges Verhalten in den letzten zwölf Monaten seines Lebens vergessen zu machen. Denn er hatte sich schließlich von seiner Familie und seinem Partner getrennt, ein baufälliges Haus in einem Stadtteil erworben, in den er sein Leben lang keinen seiner gutbeschuhten Füße gesetzt hatte, um sich, laut seinem ehemaligen Partner, nur noch dem Schreiben zu widmen.«
»Hat Valera gesagt, was Marlasca schreiben wollte?«
»Einen Gedichtband oder so etwas.«
»Und Sie haben das geglaubt?«
»Ich habe bei meiner Arbeit viel Seltsames gesehen, mein Freund, aber wohlhabende Anwälte, die alles hinschmeißen, um in der Abgeschiedenheit Sonette zu dichten, gehörten bis dahin nicht zu meinem Repertoire.«
»Und dann?«
»Dann wäre es das Vernünftigste gewesen, das Ganze zu vergessen und das zu tun, was mir aufgetragen wurde.«
»Was Sie aber nicht getan haben.«
»Nein. Und nicht, weil ich ein Held oder ein Schwachkopf gewesen wäre. Ich habe so gehandelt, weil es mir jedes Mal den Magen umgedreht hat, wenn ich diese arme Frau sah, Marlascas Witwe, und weil ich nicht mehr in den Spiegel schauen konnte, wenn ich nicht tat, wofür ich meiner Meinung nach bezahlt wurde.«
Er zeigte auf die erbärmliche, kalte Wohnung um uns herum und lachte.
»Glauben Sie mir, wenn ich das hätte kommen sehen, wäre ich lieber ein Feigling gewesen und nicht aus der Reihe getanzt. Ich kann nicht behaupten, man habe mich im Präsidium nicht gewarnt. Nachdem der Anwalt beerdigt war, wäre es Zeit gewesen, das Ganze ad acta zu legen und sich ganz auf die Verfolgung hungerleidender Anarchisten und ideologisch verdächtiger Schulmeister zu konzentrieren.«
»Sie sagen beerdigt — wo ist denn Diego Marlasca eigentlich beerdigt?«
»Ich glaube, im Familiengrab auf dem Friedhof San Gervasio, nicht weit vom Haus der Witwe entfernt. Darf ich fragen, warum Sie diese Geschichte interessiert? Und sagen Sie nicht, Ihre Neugier sei nur darum erwacht, weil Sie im Haus mit dem Turm wohnen.«
»Das ist schwer zu erklären.«
»Wenn Sie einen freundschaftlichen Rat wollen, dann schauen Sie mich an und ziehen Sie eine Lehre daraus. Lassen Sie die Hände davon.«
»Das würde ich ja gern. Dummerweise glaube ich, dass die Geschichte die Hände nicht von mir lässt.«
Salvador sah mich lange an und nickte. Dann schrieb er eine Nummer auf einen Zettel.
»Das ist das Telefon der Nachbarn unten. Nette Menschen und die Einzigen im ganzen Haus, die Telefon haben. Da können Sie mich erreichen oder eine Nachricht hinterlassen. Fragen Sie nach Emilio. Wenn Sie Hilfe brauchen, zögern Sie nicht, mich anzurufen. Und seien Sie vorsichtig. Jaco ist zwar schon vor vielen Jahren von der Bildfläche verschwunden, aber es gibt immer noch Leute, die um keinen Preis wollen, dass wieder in dieser alten Geschichte rumgestochert wird. Hunderttausend Francs sind kein Pappenstiel.«
Ich steckte den Zettel mit der Nummer ein.
»Danke sehr.«
»Nichts zu danken. Na ja, was können sie mir schon anhaben?«
»Hätten Sie vielleicht ein Foto von Diego Marlasca? Ich habe im ganzen Haus kein einziges gefunden.«
»Ich weiß nicht… Eines habe ich wahrscheinlich irgendwo. Lassen Sie mich nachsehen.«
Salvador ging zu einem Schreibtisch in der Ecke des Wohnzimmers und zog eine Blechdose voller Papiere hervor.
»Ich habe immer noch Material von diesem Fall… Sie sehen, auch mit den Jahren bin ich nicht klüger geworden. Da, schauen Sie. Dieses Bild hat mir die Witwe gegeben.«
Er reichte mir eine alte Atelieraufnahme, auf der ein großgewachsener, gutaussehender Mittvierziger zu sehen war, der vor einem Samthintergrund in die Kamera lächelte. Ich verlor mich in seinem klaren Blick und fragte mich, wie sich dahinter die finstere Welt verbergen konnte, auf die ich auf den Seiten von Lux Aeterno. gestoßen war.
»Darf ich es mitnehmen?«
Salvador zögerte.
»Ich glaube schon. Aber verlieren Sie es nicht.«
»Ich verspreche, dass ich es Ihnen zurückgeben werde.«
»Versprechen Sie mir, dass Sie vorsichtig sein werden, dann bin ich etwas ruhiger. Und wenn Sie unvorsichtig sind und in Schwierigkeiten geraten, rufen Sie mich an.«
Ich gab ihm die Hand.
»Versprochen.«
Als ich Ricardo Salvador in seiner kalten Dachgeschosswohnung verließ und wieder zur Plaza Real ging, tauchte das staubige Licht der untergehenden Sonne die Passanten in rote Farbe. Entschlossen marschierte ich los, um am einzigen Ort in der ganzen Stadt Zuflucht zu suchen, an dem ich immer gut aufgenommen worden war und mich behütet gefühlt hatte. Als ich in die Calle Santa Ana kam, war bei Sempere und Söhne eben Ladenschluss. Die Dämmerung kroch über die Stadt, und am Himmel hatte sich ein blaupurpurner Spalt aufgetan. Ich stellte mich vors Schaufenster und sah den jungen Sempere einen Kunden zur Tür begleiten. Bei meinem Anblick lächelte er und grüßte mich mit seiner üblichen Schüchternheit.
»Soeben habe ich an Sie gedacht, Martín. Alles in Ordnung?«
»Bestens.«
»Man sieht es Ihnen an. Na, kommen Sie doch herein, wir machen einen Kaffee.«
In der Buchhandlung saugte ich den Geruch nach Papier und Magie ein, den in Flaschen abzufüllen unerklärlicherweise noch nie jemandem eingefallen war. Sempere junior bat mich ins Hinterzimmer, wo er sich anschickte, Kaffee zu machen.
»Und Ihr Vater? Wie geht es ihm? Neulich hat er ein wenig zerbrechlich gewirkt.«
Sempere nickte, als wäre er dankbar für die Frage. Da wurde mir klar, dass er wahrscheinlich mit niemandem sonst darüber sprechen konnte.
»Er hat bessere Zeiten gesehen, das stimmt schon. Der Arzt sagt, er soll aufpassen mit der Angina Pectoris, aber er muss ja unbedingt noch mehr arbeiten als vorher. Manchmal muss ich regelrecht böse werden mit ihm, aber offenbar glaubt er, wenn er die Buchhandlung an mich übergibt, ist es aus mit dem Geschäft. Heute Morgen habe ich ihn gebeten, im Bett zu bleiben, statt runterzukommen und den ganzen Tag zu arbeiten. Sie werden es nicht glauben, aber drei Minuten später schlüpft er im Korridor in die Schuhe.«
»Er ist ein Mann mit festen Prinzipien.«
»Stur wie ein Maulesel, das ist er. Zum Glück haben wir jetzt etwas Hilfe, sonst…«
Ich setzte meinen reichlich abgenutzten Ausdruck von Überraschung und Arglosigkeit auf.
»Das junge Mädchen«, verdeutlichte Sempere. »Isabella, Ihre Assistentin. Darum habe ich an Sie gedacht. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn sie ein paar Stunden hier verbringt. So, wie die Dinge liegen, sind wir tatsächlich sehr dankbar für die Hilfe. Aber wenn Sie etwas dagegen haben…«
Ich verkniff mir ein Lächeln, weil er die beiden »l« von Isabella so im Mund zergehen ließ.
»Nun, solange es nur vorübergehend ist… Isabella ist wirklich ein gutes Mädchen. Intelligent und fleißig«, sagte ich. »Absolut vertrauenswürdig. Wir kommen glänzend miteinander aus.«
»Sie sagt aber, Sie seien ein Despot.«
»Wirklich?«
»Sie hat sogar einen Spitznamen für Sie: Mister Hyde.«
»So ein Engel. Geben Sie nichts drauf. Sie wissen ja, wie Frauen sind.«
»Ja, ja, das weiß ich.«
Seinem Ton war zu entnehmen, dass er zwar vieles wusste, von diesem jungen Mädchen aber nicht die geringste Ahnung hatte.
»Isabella sagt das zwar von mir, aber glauben Sie nicht, dass sie mir nicht auch Dinge über Sie sagt.«
In seinem Gesicht geriet etwas in Bewegung. Ich ließ meine Worte langsam seinen Panzer durchdringen. Mit beflissenem Lächeln reichte er mir eine Tasse Kaffee, und dann nahm er das Thema mit einer Wendung wieder auf, die im schlichtesten Operettenlibretto keine Chance gehabt hätte.
»Na, was wird sie über mich schon sagen können.«
Ich ließ ihn einige Augenblicke im Ungewissen.
»Das möchten Sie gern wissen, was?«
Ich verbarg das Grinsen hinter der Tasse.
Er zuckte die Achseln.
»Sie sagt, Sie seien ein guter, großherziger Mensch, die Leute verstünden Sie nur nicht, weil Sie ein wenig schüchtern seien, und sähen in Ihnen nichts weniger als, ich zitiere wörtlich, die Figur eines Filmstars mit einer faszinierenden Persönlichkeit.«
Sempere starrte mich ungläubig an.
»Ich will Ihnen nichts vormachen, lieber Sempere. Ich freue mich nämlich, dass Sie das Thema zur Sprache gebracht haben — seit Tagen habe ich mit Ihnen darüber reden wollen und nicht gewusst, wie ich es anstellen soll.«
»Worüber reden?«
Ich schaute ihm gerade in die Augen und sagte etwas leiser: »Unter uns gesagt, Isabella will hier arbeiten, weil sie Sie bewundert und insgeheim, fürchte ich, in Sie verliebt ist.«
Sempere starrte mich an wie vom Donner gerührt.
»Aber eine lautere Liebe, ja? Vorsicht. Eine geistige Liebe. Wie eine Dickens-Heldin, um es deutlich zu machen. Nichts Oberflächliches, keine Kinderei. Isabella ist zwar noch jung, aber schon ganz Frau. Sicherlich haben Sie das auch bemerkt.«
»Jetzt, da Sie es sagen…«
»Und ich rede nicht nur, wenn Sie mir die Freimütigkeit gestatten, von dem exquisit gepolsterten Anblick, sondern auch von der inneren Güte und Schönheit, die sie in sich trägt und die nur auf den passenden Moment wartet, um hervorzukommen und irgendeinen Glückspilz zum glücklichsten Menschen der Welt zu machen.«
Sempere wusste nicht, wohin mit sich.
»Und zudem hat sie verborgene Talente. Spricht Sprachen. Spielt Klavier wie ein Engel. Hat einen Kopf für Zahlen wie weiland Isaac Newton. Und überdies kocht sie sensationell. Sie brauchen mich nur anzuschauen. Seit sie für mich arbeitet, habe ich mehrere Kilo zugenommen. Köstlichkeiten wie nicht mal im Tour d’Argent… Sie wollen mir doch nicht sagen, das hätten Sie nicht bemerkt.«
»Also von Kochen hat sie nichts gesagt.«
»Ich meine Amors Pfeil.«
»Nun, äh…«
»Wissen Sie was? Im Grunde ist das Mädchen, auch wenn sie sich als Widerspenstige gibt, die noch zu zähmen ist, geradezu krankhaft sanft und schüchtern. Schuld daran sind die Nonnen, die die jungen Mädchen in all den Handarbeitsstunden mit ihren Geschichten von der Hölle regelrecht betäuben. Es lebe die freie Schule.«
»Also ich hätte schwören können, dass sie mich mehr oder weniger für einen Dummkopf hält«, sagte Sempere.
»Da haben Sie’s. Der unumstößliche Beweis. Mein lieber Sempere, wenn eine Frau Sie wie einen Dummkopf behandelt, dann bedeutet das, dass ihre Drüsen die Produktion aufgenommen haben.«
»Sind Sie da sicher?«
»Das ist sicherer als die Bank von Spanien. Sie können mir glauben — davon versteh ich eine ganze Menge.«
»Das sagt mein Vater auch. Was soll ich also tun?«
»Nun, das kommt ganz drauf an. Gefällt sie Ihnen denn?«
»Gefallen? Ich weiß nicht. Wie kann man wissen, ob…?«
»Ganz einfach. Schielen Sie nach ihr und würden Sie am liebsten hineinbeißen?«
»Hineinbeißen?«
»In den Hintern zum Beispiel.«
»Señor Martín…«
»Seien Sie nicht so schüchtern, wir sind ja unter Kavalieren, und bekanntlich sind wir Männer das verlorene Glied zwischen dem Piraten und dem Schwein. Gefällt sie Ihnen, ja oder nein?«
»Nun ja, Isabella ist ein hübsches Mädchen.«
»Was noch?«
»Intelligent. Sympathisch. Fleißig.«
»Weiter.«
»Und eine gute Christin, glaube ich. Ich bin zwar nicht gerade praktizierender Katholik, aber…«
»Kein weiteres Wort. Isabella ist von der Messe weniger wegzudenken als der Opferstock. Die Nonnen, ich sag es ja.«
»Aber in sie reinzubeißen, das ist mir wirklich nicht in den Sinn gekommen.«
»Bis jetzt.«
»Ich muss sagen, dass ich es für respektlos halte, so von ihr zu sprechen, oder überhaupt von einer Frau, und Sie sollten sich was schämen…«, protestierte Sempere junior.
»Mea culpa.«
Zum Zeichen der Kapitulation hob ich die Hände. »Aber egal — jeder bringt seine Zuneigung auf seine Weise zum Ausdruck. Ich bin ein leichtfertiger und oberflächlicher Mensch, daher meine hündische Einstellung, aber Sie mit Ihrer aurea gravitas sind ein Mann von mystischen, tiefen Gefühlen. Was zählt, ist einzig, dass das junge Mädchen Sie anbetet und dass das Gefühl gegenseitig ist.«
»Nun gut…«
»Weder gut noch schlecht. Es ist so, wie es ist, Sempere. Sie sind ein achtbarer, verantwortungsbewusster Mann. Wenn es um mich ginge, was soll ich sagen… aber Sie sind nicht der Mann, der mit den edlen, lauteren Gefühlen einer erblühenden Frau spielen würde. Oder täusche ich mich da?«
»Vermutlich nicht.«
»Na also.«
»Was also?«
»Ist es denn noch nicht klar?«
»Nein.«
»Der Moment des Werbens ist gekommen.«
»Wie bitte?«
»Den Hof machen oder, wissenschaftlich ausgedrückt, rangehen. Schauen Sie, Sempere, aus irgendeinem merkwürdigen Grund haben uns Jahrhunderte angeblicher Zivilisation so weit gebracht, dass wir uns nicht mehr einfach an einer Ecke an eine Frau heranmachen oder ihr die Ehe antragen können. Zuerst muss man sie umwerben.«
»Ehe? Sind Sie übergeschnappt?«
»Was ich sagen will, ist, dass Sie vielleicht, und im Grunde ist das ja Ihre eigene Idee, nur haben Sie es noch nicht gemerkt, heute oder morgen oder übermorgen, wenn sich das Knieschlottern gelegt hat und Sie nicht mehr mit offenem Mund dastehen, dass Sie Isabella dann nach Feierabend an einen hübschen Ort zu Kaffee und Kuchen einladen, und dann werden Sie beide endlich sehen, dass Sie füreinander geschaffen sind. Zum Beispiel ins Quatre Gats, wo man etwas knauserig ist und das Licht runterdreht, um Strom zu sparen, was in solchen Fällen immer förderlich ist. Sie bestellen dem Mädchen einen Quark mit einem kräftigen Löffel Honig, das regt den Appetit an, und dann schenken Sie ihr so ganz nebenbei zwei Schluck von diesem Muskateller ein, der zwangsläufig in den Kopf steigt, und während Sie ihr die Hand aufs Knie legen, benebeln Sie sie mit dem Wortschwall, den Sie sonst immer zurückhalten, Sie Schlitzohr.«
»Aber ich weiß doch gar nichts von ihr oder wofür sie sich interessiert…«
»Sie interessiert sich für dieselben Dinge wie Sie. Bücher, Literatur, den Duft dieser Schätze, die Sie dort haben, die Verheißungen, die in den Romanzen und Abenteuern der Groschenromane liegen. Sie ist daran interessiert, die Einsamkeit zu vertreiben und nicht erst lange zu ergründen, warum auf dieser schlechten Welt nichts auch nur einen Centimo wert ist, wenn wir es nicht mit jemandem teilen können. Jetzt wissen Sie alles Wesentliche. Alles andere lernen und genießen Sie unterwegs.«
Sempere versank in Grübelei und schaute abwechselnd auf seine unberührte Kaffeetasse und auf mich. Ich konnte mein Börsenmaklergrinsen nur mit Ach und Krach zurückhalten.
»Ich weiß nicht, soll ich mich bei Ihnen bedanken oder Sie bei der Polizei anzeigen«, sagte er schließlich.
In diesem Augenblick waren die schweren Schritte von Sempere senior in der Buchhandlung zu hören. Einige Sekunden später erschien sein Kopf in der Tür, und er schaute uns mit einem Stirnrunzeln an.
»Was ist denn das? Den Laden sich selbst überlassen und munter plappern wie auf dem Jahrmarkt? Und wenn ein Kunde kommt? Oder irgendein Langfinger, der etwas mitgehen lassen will?«
Der junge Sempere verdrehte die Augen.
»Keine Angst, Señor Sempere, Bücher sind das Einzige auf der Welt, was nicht gestohlen wird, vor allem nicht, wenn der Laden schon geschlossen ist.«
Ich zwinkerte ihm zu.
Auf seinem Gesicht leuchtete ein schelmisches Lächeln auf. Sempere junior nutzte die Gunst des Augenblicks, um meinen Klauen zu entkommen und in die Buchhandlung zu entschwinden. Sein Vater setzte sich neben mich und witterte den Kaffee, den der Sohn nicht angerührt hatte.
»Was meint denn der Arzt über das Zusammentreffen von Koffein und Herz?«, fragte ich.
»Der findet selbst mit einem Anatomieatlas nicht einmal das Gesäß. Was soll er da vom Herzen verstehen?«
»Sicherlich mehr als Sie.«
Ich nahm ihm die Tasse ab.
»Aber ich bin stark wie ein Bär, Martín.«
»Stur wie ein Maulesel sind Sie. Tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie nach oben ins Bett.«
»Im Bett zu sein lohnt sich nur, wenn man jung und in angenehmer Gesellschaft ist.«
»Wenn Sie Gesellschaft wollen, suche ich sie Ihnen, aber ich glaube nicht, dass das die geeigneten Umstände für ihr Herz sind.«
»Martín, in meinem Alter reduziert sich die Erotik darauf, einen Wackelpudding zu genießen und den Witwen auf den Hals zu schauen. Was mir hier Sorgen macht, das ist der Thronfolger. Irgendein Fortschritt zu vermelden auf diesem Gebiet?«
»Wir befinden uns in der Phase des Düngens und der Aussaat. Es bleibt abzuwarten, ob das Wetter mitspielt und es etwas zu ernten gibt. In zwei, drei Tagen kann ich Ihnen mit einer Sicherheit von sechzig oder siebzig Prozent eine positive Einschätzung geben.«
Sempere lächelte zufrieden.
»Ein Meisterstück, mir Isabella als Verkäuferin zu schicken«, sagte er. »Aber finden Sie sie nicht ein bisschen jung für meinen Sohn?«
»Wer in meinen Augen ein bisschen unreif ist, das ist er, um ehrlich zu sein. Entweder legt er die Schlafmütze ab, oder Isabella verschluckt ihn in fünf Minuten roh. Zum Glück ist sie ein gutmütiger Mensch, sonst…«
»Wie kann ich Ihnen nur danken?«
»Indem Sie in Ihre Wohnung hinaufgehen und sich ins Bett legen. Wenn Sie pikante Gesellschaft brauchen, nehmen Sie Fortunata und Jacinta mit.«
»Sie haben recht. Mit Don Benito liegt man allemal richtig.«
»Unfehlbar. Und jetzt kommen Sie, ab in die Koje.«
Er stand auf. Jede Bewegung fiel ihm schwer, und er atmete mühsam und so röchelnd, dass einem die Haare zu Berge standen. Ich hakte ihn unter und spürte, dass seine Haut kalt war.
»Erschrecken Sie nicht, Martín, das ist mein Stoffwechsel, der ist etwas langsam.«
»Heute scheint er wie der von Krieg und Frieden zu sein.«
»Ein Schläfchen, und ich bin wie neugeboren.«
Ich beschloss, ihn in die Wohnung über der Buchhandlung, wo er mit seinem Sohn zusammenlebte, hinaufzubegleiten, um sicher zu sein, dass er sich auch wirklich hinlegte. Wir brauchten eine Viertelstunde, um zum ersten Treppenabsatz zu gelangen. Unterwegs begegneten wir einem Nachbarn, einem liebenswürdigen Gymnasiallehrer namens Don Anacleto, der im Jesuitenkolleg in der Calle Caspe Sprache und Literatur unterrichtete und eben nach Hause kam.
»Wie zeigt sich das Leben heute, mein lieber Sempere?«
»Steil, Don Anacleto.«
Gemeinsam mit dem Lehrer brachte ich Sempere, der mehr oder weniger an meinem Hals hing, in den ersten Stock hinauf.
»Wenn Sie gestatten, ziehe ich mich nach einem langen Tag des Ringens mit dieser Primatenmeute, die ich als Schüler habe, ins traute Heim zurück«, verkündete der Lehrer. »Ich kann Ihnen versichern, dieses Land wird binnen einer einzigen Generation zerfallen. Wie Ratten werden sie einander die Haut abziehen.«
Semperes Blick gab mir zu verstehen, ich solle Don Anacleto nicht allzu wörtlich nehmen.
»Ein guter Mann«, raunte er mir zu, »aber er ertrinkt in einem Glas Wasser.«
Beim Betreten der Wohnung überfiel mich die Erinnerung, wie ich an jenem weit zurückliegenden Morgen blutend hierhergekommen war, die Großen Erwartungen in der Hand, und wie Sempere mich auf den Armen hinaufgetragen hatte und mir eine Tasse Schokolade machte, während wir auf den Arzt warteten, mir beruhigende Worte zuflüsterte und mir mit einem lauwarmen Tuch und einer mir bis dahin unbekannten Zartheit das Blut abgewaschen hatte. Damals war er ein kräftiger Mann gewesen, der mir in jeder Hinsicht wie ein Riese erschien und ohne den ich jene glücklosen Jahre vermutlich nicht überlebt hätte. Jetzt, als ich ihn beim Hinlegen stützte und dann zwei Decken über ihm ausbreitete, war von dieser Kraft wenig oder gar nichts mehr da. Ich setzte mich neben ihn und nahm seine Hand, ohne zu wissen, was ich sagen sollte.
»Hören Sie, wenn wir beide gleich wie Schlosshunde losheulen, dann gehen Sie besser«, sagte er.
»Passen Sie auf sich auf, ja?«
»Keine Bange, ich werde mich mit Samthandschuhen anfassen.«
Ich nickte und ging zur Tür.
»Martín?«
Auf der Schwelle drehte ich mich um. Sempere sah mich so besorgt an wie an jenem Morgen, an dem ich einige Zähne und einen guten Teil meiner Unschuld verloren hatte. Ich ging, bevor er mich fragen konnte, was mit mir los sei.
Was Isabella von mir als Berufsschriftsteller als Erstes gelernt hatte, war die Kunst und Praxis des Hinausschiebens. Jeder alte Hase in diesem Geschäft weiß, dass vom Bleistiftspitzen bis zum Tagträumen alles wichtiger ist, als sich einfach hinzusetzen und das Gehirn auszuwringen. Diese grundlegende Lektion hatte Isabella durch Osmose verinnerlicht, und als ich nach Hause kam, fand ich sie nicht an ihrem Schreibtisch, sondern in der Küche, wo sie einem Gericht die letzte Würze gab, das duftete und aussah, als hätte seine Zubereitung mehrere Stunden gekostet.
»Haben wir etwas zu feiern?«, fragte ich.
»Bei dem Gesicht, das Sie machen, wohl nicht unbedingt.«
»Wonach duftet es?«
»Kandierte Ente mit Birnen aus dem Ofen und Schokoladensoße. Ich habe das Rezept in einem Ihrer Kochbücher gefunden.«
»Ich habe keine Kochbücher.«
Sie stand auf und legte einen ledergebundenen Band mit dem Titel Die 101 besten Rezepte der französischen Küche von Michel Aragon auf den Tisch.
»Das glauben Sie. In der hinteren Reihe der Bücherregale habe ich alles Mögliche gefunden, sogar ein Handbuch der Ehehygiene von einem Dr. Pérez-Aguado mit überaus anregenden Illustrationen und Sätzen wie ›Aufgrund des göttlichen Ratschlusses kennt das Weib keine Fleischeslust und findet seine geistige und gefühlsmäßige Verwirklichung in der Erfüllung der natürlichen Aufgaben von Mutterschaft und Hausarbeit‹. Da sind wir gleich wieder in Ali Babas Höhle.«
»Und darf man fragen, was du in der hinteren Reihe der Regale gesucht hast?«
»Inspiration. Die ich auch gefunden habe.«
»Aber kulinarischer Art. Wir hatten doch ausgemacht, dass du jeden Tag schreiben würdest, mit Inspiration oder ohne.«
»Ich stecke fest. Und das ist Ihre Schuld, weil Sie mir zu viele Aufgaben zuteilen und mich in Ihr Spiel mit dem unbefleckten Sempere junior verwickeln.«
»Findest du es nett, den Mann zu verspotten, der bis über beide Ohren in dich verliebt ist?«
»Was?«
»Du hast schon richtig gehört. Der junge Sempere hat mir gestanden, dass du ihn um den Schlaf bringst. Wörtlich. Er schläft nicht, isst nicht, trinkt nicht — der Ärmste kann nicht einmal urinieren, weil er den ganzen Tag an dich denken muss.«
»Sie phantasieren wohl.«
»Wer phantasiert, das ist der arme Sempere. Du hättest ihn sehen sollen. Um ein Haar hätte ich ihm eine Kugel verpasst, um ihn von seinem Schmerz und Elend zu erlösen.«
»Der nimmt mich doch gar nicht ernst«, protestierte sie.
»Weil er nicht weiß, wie er sich dir offenbaren und seinen Gefühlen Ausdruck verleihen soll. Wir Männer sind so. Roh und primitiv.«
»Er hat aber durchaus Worte gefunden, um mich anzufahren, weil ich mich bei der Bestellung der Nationalen Episoden geirrt habe. Da war er sehr beredt.«
»Das ist nicht dasselbe. Administrative Formalitäten sind eines, die Sprache der Leidenschaft ist etwas ganz anderes.«
»Dummes Zeug.«
»In der Liebe gibt es nichts Dummes, werte Assistentin. Und um das Thema zu wechseln — essen wir nun zu Abend oder nicht?«
Isabella hatte den Tisch ihrem Festschmaus entsprechend gedeckt und ein ganzes Arsenal Teller, Besteck und Gläser aufgefahren, die ich noch nie gesehen hatte.
»Ich weiß nicht, warum Sie diese Kostbarkeiten nicht benutzen, wo Sie sie schon haben. Das war alles in Kisten in dem Zimmer neben der Waschküche«, sagte sie. »Typisch Mann.«
Ich hob eines der Messer und betrachtete es im Licht der Kerzen, die Isabella aufgestellt hatte, und mir wurde klar, dass diese Dinge Diego Marlasca gehört hatten. Ich konnte förmlich spüren, wie mir der Appetit verging.
»Ist was?«, fragte Isabella.
Ich schüttelte den Kopf. Meine Assistentin servierte zwei Teller und schaute mich erwartungsvoll an. Ich kostete einen ersten Bissen und nickte mit einem Lächeln.
»Sehr gut.«
»Ein bisschen zäh, glaube ich. Im Rezept steht, man müsse es ich weiß nicht wie lange auf kleiner Flamme braten, aber bei Ihrem Herd gibt es entweder gar keine Flamme oder eine, die alles versengt, dazwischen ist nichts.«
»Es schmeckt gut«, wiederholte ich und aß ohne Appetit.
Isabella schaute mir argwöhnisch zu. Wir speisten schweigend weiter, sodass nur das Klappern des Bestecks auf den Tellern zu hören war.
»Haben Sie das mit dem jungen Sempere ernst gemeint?«
Ich nickte, ohne vom Teller aufzuschauen.
»Und was hat er sonst noch über mich gesagt?«
»Er hat gesagt, du seist eine klassische Schönheit, intelligent, zutiefst weiblich — er ist nun mal so kitschig —, und er fühle, dass es zwischen euch eine geistige Verbindung gebe.«
Sie warf mir einen Blick zu, der töten konnte.
»Schwören Sie mir, dass Sie sich das nicht aus den Fingern saugen«, sagte sie.
Ich legte die rechte Hand auf das Kochbuch und hob die linke.
»Ich schwöre es bei den 101 besten Rezepten der französischen Küche«, erklärte ich.
»Man schwört mit der anderen Hand.«
Mit vertauschten Händen und feierlichem Ausdruck wiederholte ich das Ganze. Isabella schnaubte.
»Was soll ich also tun?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Was tun Verliebte? Spazieren oder tanzen gehen…«
»Ich bin aber nicht in diesen Herrn verliebt.«
Ich aß weiter an meiner kandierten Ente, ohne auf ihren insistierenden Blick einzugehen. Nach einer Weile schlug sie auf den Tisch.
»Schauen Sie mich bitte an. All das ist Ihre Schuld.«
Bedächtig legte ich das Besteck hin, wischte mir mit der Serviette die Lippen ab und schaute sie an.
»Was soll ich also tun?«, wiederholte sie.
»Nun, das kommt ganz drauf an. Gefällt er dir denn oder nicht?«
Eine Wolke des Zweifels trübte ihre Miene.
»Ich weiß nicht. Zunächst einmal ist er ein wenig alt für mich.«
»Er ist praktisch genauso alt wie ich. Höchstens ein oder zwei Jahre älter. Vielleicht drei.«
»Oder vier oder fünf.«
Ich seufzte.
»Er steht in der Blüte seines Lebens. Ich dachte, dir gefallen reifere Herren.«
»Machen Sie sich nicht lustig über mich.«
»Isabella, ich bin nicht der Richtige, um dir zu sagen, was du tun sollst…«
»Das ist ja ein starkes Stück.«
»Lass mich doch ausreden. Was ich sagen will, ist, dass das etwas zwischen dem jungen Sempere und dir ist.
Wenn du mich um Rat fragst, dann würde ich sagen, gib ihm eine Chance. Nichts weiter. Sollte er sich dieser Tage dazu durchringen, einen ersten Schritt zu tun, und dich, sagen wir, zu Kaffee und Kuchen einladen, dann nimm die Einladung an. Vielleicht beginnt ihr euch zu unterhalten und lernt euch kennen und seid am Ende die besten Freunde — oder auch nicht. Aber ich glaube, Sempere ist ein guter Mensch, sein Interesse an dir ist echt, und ich würde zu behaupten wagen, dass im Grunde auch du etwas für ihn empfindest, wenn du es recht bedenkst.«
»Sie strotzen vor fixen Ideen.«
»Aber Sempere nicht. Ich glaube, es wäre schäbig, die Zuneigung und Bewunderung, die er für dich hegt, nicht zu respektieren. Und du bist nicht schäbig.«
»Das ist Erpressung.«
»Nein, das ist das Leben.«
Isabella schmetterte mich mit dem Blick nieder. Ich lächelte sie an.
»Tun Sie mir wenigstens den Gefallen und essen Sie auf.«
Ich leerte meinen Teller, wischte ihn mit Brot aus und ließ einen zufriedenen Seufzer hören.
»Was gibt’s zum Nachtisch?«
Nach dem Essen ließ ich eine nachdenkliche Isabella in der Veranda in ihren Zweifeln und Sorgen schmoren und ging in den Turm hinauf, wo ich die Fotografie von Diego Marlasca, die mir Salvador geliehen hatte, in den Lichtkegel der Lampe legte. Dann warf ich einen Blick auf die in den vergangenen Wochen für den Patron zusammengetragene kleine Bastion aus Blöcken, Notizen und Blättern. Ich spürte die Kälte von Diego Marlascas Besteck in den Händen und konnte mir mühelos vorstellen, wie er dasaß und dieselbe Aussicht über die Dächer des Ribera-Viertels genoss. Aufs Geratewohl begann ich eine meiner Seiten zu lesen. Zwar erkannte ich die Wörter und Sätze wieder, schließlich hatte ich sie ja geschrieben, aber der verworrene Geist, aus dem sie sich speisten, hatte weniger mit mir zu tun denn je. Ich ließ das Blatt zu Boden gleiten, und als ich aufschaute, sah ich in der Fensterscheibe mein Spiegelbild, einen Fremden vor dem blauen Dunkel, das über der Stadt lag. Es war mir klar, dass ich an diesem Abend keinen einzigen zusammenhängenden Absatz für den Patron zustande brächte. Ich knipste die Schreibtischlampe aus und blieb im Halbdunkel sitzen, hörte dem Wind zu, der an den Fenstern schabte, und malte mir aus, wie sich der brennende Diego Marlasca in das Becken stürzte, wie die letzten Luftblasen aus seinem Mund traten und das eisige Wasser seine Lungen füllte.
Ich erwachte im Morgengrauen mit schmerzendem Körper, in den Sessel des Arbeitszimmers eingezwängt. Beim Aufstehen knirschte das eine oder andere Gelenk meines Körpers. Ich schleppte mich zum Fenster und öffnete es sperrangelweit. Die Altstadtdächer leuchteten im Raureif, und purpurn zog sich der Himmel über Barcelona zusammen. Als die Glocken von Santa María del Mar schlugen, flog von einem Taubenschlag eine Wolke schwarzer Flügel auf. Ein schneidend kalter Wind trug den Geruch der Molen und den Ruß von den Schornsteinen im Viertel herbei.
Ich ging in die Wohnung hinunter, um Kaffee zu machen. In der Küche warf ich einen Blick in die Vorratskammer und war verblüfft. Seit Isabella bei mir war, glich dieser Schrank dem Lebensmittelgeschäft Quílez in der Rambla de Catalufia. Im Dickicht der exotischen, von Isabellas Vater importierten Leckerbissen entdeckte ich eine Blechdose englischer Kekse mit Schokoladenüberzug und probierte einen. Eine halbe Stunde später, als der Zucker und das Koffein allmählich in meinen Adern pulsierten und mein Gehirn seine Tätigkeit aufnahm, kam ich auf den genialen Gedanken, mein Leben an diesem Tag noch etwas komplizierter zu machen, falls das überhaupt möglich war. Sobald die Geschäfte öffneten, wollte ich dem Laden für Zauberartikel und Taschenspielerei in der Calle Princesa einen Besuch abstatten.
»Was machen Sie denn hier um diese Zeit?«
Von der Schwelle her beobachtete mich Isabella, die Stimme meines Gewissens.
»Kekse essen.«
Sie setzte sich an den Tisch und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Nach ihrem Aussehen zu schließen, hatte sie kein Auge zugetan.
»Mein Vater sagt, das ist die Lieblingsmarke der Königinmutter.«
»Genährt von solchen Keksen, muss sie eine Schönheit sein.«
Isabella nahm einen Keks und knabberte mit abwesendem Blick daran herum.
»Hast du darüber nachgedacht, was du tun willst? Ich meine in Bezug auf Sempere…«
Sie warf mir einen giftigen Blick zu.
»Und Sie, was werden Sie heute machen? Bestimmt nichts Gutes.«
»Ein paar Besorgungen.«
»Aha.«
»Aha oder haha?«
Isabella stellte die Tasse auf den Tisch und fasste mich ins Auge, als führe sie ein Verhör durch.
»Warum reden Sie eigentlich nie über das, was Sie da für diesen Kerl machen, für den Patron?«
»Unter anderem, weil es besser für dich ist.«
»Besser für mich. Natürlich. Ich armes Dummchen. Übrigens — ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, dass gestern Ihr Freund vorbeigekommen ist, der Inspektor.«
»Grandes? War er allein?«
»Nein. Es waren zwei schlagkräftige Schränke mit Bulldoggengesichtern dabei.«
Die Vorstellung von Marcos und Castelo vor meiner Tür verursachte mir Bauchschmerzen.
»Und was wollte Grandes?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Was hat er denn dann gesagt?«
»Er hat gefragt, wer ich bin.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Ihre Geliebte.«
»Sehr hübsch.«
»Jedenfalls schien es einen der beiden Schränke sehr zu amüsieren.«
Isabella verknusperte in zwei Bissen einen weiteren Keks. Sie sah, dass ich sie verstohlen anschaute, und hielt im Kauen inne.
»Oje, was hab ich da bloß gesagt?«, fragte sie und ließ es Krümel regnen.
Das durch die Wolkendecke dringende dunstige Licht erleuchtete die rot gestrichene Fassade des Ladens für Zauberartikel in der Calle Princesa nur spärlich. Durch die Glastür waren in dem düsteren, mit schwarzem Samt ausgekleideten Raum vage Umrisse des Interieurs zu erkennen. War man einmal drin, sah man in den Vitrinen Masken und Geräte im viktorianischen Stil, gezinkte Kartenspiele und präparierte Dolche, Zauberbücher und Fläschchen aus geschliffenem Glas, die einen Regenbogen an lateinisch etikettierten, wahrscheinlich in Albacete abgefüllten Tinkturen enthielten. Im Hintergrund stand ein leerer Ladentisch. Die Glocke der Eingangstür hatte mein Erscheinen angekündigt. Ich wartete einige Sekunden und studierte dieses Kuriositätenkabinett. Als ich in einem Spiegel, in dem sich alles spiegelte außer mir, mein Gesicht suchte, sah ich aus dem Augenwinkel eine kleine Gestalt durch den Vorhang des Hinterzimmers treten.
»Ein interessanter Trick, nicht wahr?«, sagte das Männchen mit dem weißen Haar und dem durchdringenden Blick.
Ich nickte.
»Wie funktioniert er?«
»Das weiß ich noch nicht. Er ist mir vor zwei Tagen von einem Fabrikanten von Trugspiegeln aus Istanbul geschickt worden. Der Erfinder nennt es ›Refraktionsumkehrung‹.«
»Er erinnert einen daran, dass nichts das ist, was es zu sein scheint«, bemerkte ich.
»Außer der Magie. Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?«
»Spreche ich mit Señor Damián Roures?«
Das Männchen nickte langsam und ohne mit der Wimper zu zucken. Seine Lippen waren zu einem heiteren Lächeln geformt, das, genau wie sein Spiegel, nicht das war, was es zu sein vorgab. Sein Blick war kalt und wachsam.
»Ihr Laden ist mir empfohlen worden.«
»Darf ich fragen, wer so freundlich war?«
»Ricardo Salvador.«
Das vorgeblich liebenswürdige Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.
»Ich wusste nicht, dass er noch lebt. Ich habe ihn seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen.«
»Und Irene Sabino?«
Roures seufzte und schüttelte den Kopf. Er steuerte um den Ladentisch herum auf die Tür zu, hängte das ›Geschlossen‹-Schild daran und schloss ab.
»Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Martín. Ich versuche, die Umstände von Señor Diego Marlascas Tod zu klären, den Sie gekannt haben, soviel ich weiß.«
»Soviel ich weiß, sind die schon vor vielen Jahren geklärt worden. Señor Marlasca hat sich umgebracht.«
»Ich habe es anders verstanden.«
»Ich weiß ja nicht, was Ihnen dieser Polizist erzählt hat. Das Ressentiment greift das Gedächtnis an, Señor… Martín. Salvador wollte schon damals alle von einer Verschwörung überzeugen, für die er keinerlei Beweise hatte. Alle wussten, dass er die Bettflasche von Marlascas Witwe war und sich zum Helden aufschwingen wollte. Und wie zu erwarten war, pfiffen ihn seine Vorgesetzten zurück und suspendierten ihn dann vom Dienst.«
»Er glaubt, man habe versucht, die Wahrheit zu vertuschen.«
Roures lachte.
»Die Wahrheit… Dass ich nicht lache. Wenn etwas vertuscht werden sollte, dann der Skandal. Die Anwaltskanzlei Valera und Marlasca hatte die Finger überall im Spiel, egal was in dieser Stadt gedeichselt wurde. Niemand war daran interessiert, dass eine Geschichte wie diese bekannt wurde. Marlasca hatte Stellung, Beruf und Ehe aufgegeben, um sich in diesem alten Haus einzuigeln und dort weiß Gott was zu machen. Jeder, der halbwegs bei Verstand war, konnte sich ausmalen, dass das nicht gut enden würde.«
»Was Sie und Ihren Partner Jaco nicht daran gehindert hat, aus Marlascas Wahn Kapital zu schlagen, indem Sie ihm versprochen haben, in Ihren spiritistischen Sitzungen mit dem Jenseits in Verbindung treten zu können…«
»Ich habe ihm nie etwas versprochen. Diese Sitzungen waren reiner Zeitvertreib. Das wussten alle. Versuchen Sie nicht, mir die Schuld an seinem Tod anzuhängen — ich habe nie etwas anderes getan als auf ehrliche Weise meinen Lebensunterhalt verdient.«
»Und Ihr Partner Jaco?«
»Ich bin nur für mich selbst verantwortlich. Was Jaco möglicherweise getan hat, habe ich nicht zu verantworten.«
»Also hat er etwas getan.«
»Was wollen Sie denn hören? Dass er mit diesem Geld abgehauen ist, von dem Salvador immer wieder sagte, es liege auf einem Geheimkonto? Dass er Marlasca umgebracht und uns alle hintergangen hat?«
»War es denn nicht so?«
Roures schaute mich lange an.
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht mehr gesehen seit dem Tag, an dem Marlasca gestorben ist. Ich habe Salvador und den anderen Beamten alles gesagt, was ich wusste. Ich habe nie gelogen, nie. Falls Jaco etwas getan hat, dann habe ich nie etwas davon erfahren.«
»Was können Sie mir über Irene Sabino sagen?«
»Irene liebte Marlasca. Sie hätte nie irgendetwas ausgeheckt, was ihm hätte schaden können.«
»Wissen Sie, was aus ihr geworden ist? Lebt sie noch?«
»Ich glaube schon. Sie soll in einer Wäscherei im Raval arbeiten. Irene war eine gute Frau. Zu gut. Und so weit ist es nun mit ihr gekommen. Sie glaubte an all diese Dinge aus tiefstem Herzen.«
»Und Marlasca? Was hat er in dieser Welt gesucht?«
»Marlasca steckte in irgendetwas drin, fragen Sie mich nicht, was. Nichts, was ich oder Jaco ihm verkauft hatten oder hätten verkaufen können. Alles, was ich darüber weiß, habe ich irgendwann von Irene gehört. Anscheinend hatte Marlasca jemanden getroffen, jemanden, den ich nicht kannte, und glauben Sie mir, ich kannte und kenne jeden in dieser Branche. Dieser Jemand hatte ihm versprochen, wenn er irgendetwas mache, ich weiß nicht, was, dann würde er seinen Sohn Ismael von den Toten zurückbekommen.«
»Hat Irene je erwähnt, wer dieser Jemand war?«
»Sie hat ihn nie gesehen. Marlasca hat es nicht erlaubt. Aber sie wusste, dass er Angst hatte.«
»Angst wovor?«
Roures schnalzte mit der Zunge. »Marlasca glaubte, er sei verdammt.«
»Können Sie sich etwas deutlicher ausdrücken?«
»Ich habe es ja vorhin schon gesagt. Er war krank. Er war überzeugt, dass etwas in ihn gefahren war.«
»Etwas?«
»Ein Geist. Ein Parasit. Ich weiß auch nicht. Sehen Sie, in diesem Gewerbe lernt man viele Leute kennen, die nicht ganz bei Trost sind. Sie erleben eine persönliche Tragödie, verlieren einen Geliebten oder ein Vermögen und fallen in ein Loch. Das Gehirn ist das fragilste Organ des Körpers. Señor Marlasca war nicht recht bei Sinnen, und das konnte jeder sehen, der sich nur fünf Minuten mit ihm unterhielt. Darum ist er zu mir gekommen.«
»Und Sie haben ihm gesagt, was er hören wollte.«
»Nein. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt.«
»Ihre Wahrheit?«
»Die einzige, die ich kenne. Ich hatte das Gefühl, dass dieser Mann ernstlich aus dem Gleichgewicht geraten war, und wollte ihn nicht ausnutzen. So was endet nie gut. In diesem Geschäft gibt es eine Grenze, die man nicht überschreitet, wenn man weiß, was gut für einen ist. Wer auf der Suche nach Zerstreuung oder ein wenig Emotion und jenseitigem Trost zu mir kommt, der wird bedient, und er bezahlt für eine Dienstleistung. Aber wer kommt, weil er demnächst den Verstand verliert, der wird nach Hause geschickt. Das ist eine Darbietung wie jede andere auch. Was man will, sind Zuschauer, keine Verrückten.«
»Eine mustergültige Ethik. Was haben Sie Marlasca also gesagt?«
»Ich habe ihm gesagt, das Ganze sei Hokuspokus und Firlefanz. Ich habe ihm gesagt, ich sei ein Schwindler, der sich seinen Lebensunterhalt mit spiritistischen Sitzungen für arme Unglückliche verdiene, die ihre Angehörigen verloren haben und des Glaubens bedürften, dass Liebhaber, Eltern und Freunde sie im Jenseits erwarten. Ich habe ihm gesagt, im Jenseits gebe es nichts, nur eine große Leere, diese Welt sei alles, was wir hätten. Ich habe ihm gesagt, er solle die Geister vergessen und zu seiner Familie zurückkehren.«
»Und hat er Ihnen geglaubt?«
»Offensichtlich nicht. Er kam zwar nicht mehr zu den Sitzungen, suchte aber anderswo Hilfe.«
»Nämlich?«
»Irene ist in einer Hütte am Strand von Bogatell aufgewachsen, und obwohl sie als Schauspielerin und Tänzerin am Paralelo berühmt geworden war, gehörte sie nach wie vor dorthin. Sie erzählte mir, sie habe Marlasca zu einer Frau gebracht, die die Hexe von Somorrostro genannt wurde und die ihn vor der Person schützen sollte, in deren Schuld er stand.«
»Hat Irene den Namen dieser Person genannt?«
»Falls sie es getan hat, weiß ich ihn nicht mehr. Ich sage Ihnen ja, sie kamen nicht mehr zu den Sitzungen.«
»Andreas Corelli?«
»Diesen Namen habe ich noch nie gehört.«
»Wo kann ich Irene Sabino finden?«
»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß«, antwortete Roures gereizt.
»Eine letzte Frage, und dann gehe ich.«
»Zu schön, um wahr zu sein.«
»Können Sie sich erinnern, ob Marlasca jemals den Namen Lux Aeterno, erwähnt hat?«
Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Danke für Ihre Hilfe.«
»Nichts zu danken. Und wenn möglich, kommen Sie nicht wieder her.«
Ich nickte, und auf dem Weg zur Tür spürte ich seinen misstrauischen Blick im Rücken.
»Warten Sie«, rief er mir zu, schon auf der Schwelle zum Hinterzimmer.
Ich drehte mich um. Das Männchen schaute mich unschlüssig an.
»Ich glaube mich zu erinnern, dass Lux Aeterno, der Titel von einer Art religiösem Pamphlet war, das wir einmal bei den Sitzungen in der Calle Elisabets verwendet haben. Es gehörte zu einer Sammlung ähnlicher Bändchen, wahrscheinlich aus der Bibliothek des Aberglaubens der Gesellschaft ›Die Zukunft‹ ausgeliehen. Ich weiß nicht, ob es das ist, was Sie meinten.«
»Wissen Sie noch, wovon es handelte?«
»Besser gekannt hat es mein Partner Jaco, der die Sitzungen leitete. Aber soviel ich weiß, war Lux Aeterno, eine Art Gedicht über den Tod und die sieben Namen des Sohnes der Morgendämmerung, den Lichtbringer.«
»Den Lichtbringer?«
Roures lächelte.
»Luzifer.«
Wieder auf der Straße, wusste ich nicht genau, was ich als Nächstes tun sollte, und machte mich auf den Heimweg. Kurz vor der Einmündung der Calle Montcada erblickte ich ihn. Inspektor Víctor Grandes lehnte an einer Hauswand, rauchte eine Zigarette und winkte mir lächelnd zu. Ich überquerte die Straße und ging zu ihm.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie sich für Zauberei interessieren, Martín.«
»Und ich nicht, dass Sie mich beschatten, Inspektor.«
»Ich beschatte Sie nicht. Sie sind bloß schwer ausfindig zu machen, und so habe ich gedacht, wenn der Berg nicht zu mir kommt, geh ich eben zum Berg. Haben Sie fünf Minuten Zeit, um etwas zu trinken? Die Oberpolizeidirektion lädt ein.«
»In diesem Fall… Haben Sie heute Ihre beiden Anstandswauwaus nicht dabei?«
»Marcos und Castelo sind im Präsidium geblieben und erledigen Papierkram. Aber wenn ich ihnen gesagt hätte, dass ich sie aufsuche, hätten sie sich bestimmt angeschlossen.«
Wir gingen durch die Schlucht aus mittelalterlichen Palästen zum Xampanyet hinunter und setzten uns an einen Tisch hinten im Lokal. Ein Kellner mit einem nach Lauge stinkenden Scheuerlappen sah uns fragend an, und Grandes bestellte zwei Bier und etwas Manchego-Käse. Als das Gewünschte kam, schob er mir den Teller zu, aber ich lehnte ab.
»Macht es Ihnen was aus? Um diese Zeit bin ich immer halbtot vor Hunger.«
»Bon appetit.«
Er verschlang einen Käsewürfel und leckte sich mit geschlossenen Augen die Lippen.
»Hat man Ihnen nicht gesagt, dass ich gestern bei Ihnen vorbeigekommen bin?«
»Es ist mir mit Verspätung ausgerichtet worden.«
»Verständlich. Übrigens, was für ein hübsches Ding, die Kleine. Wie heißt sie denn?«
»Isabella.«
»Sie schamloser Mensch — es gibt Leute, die sind wirklich vom Schicksal begünstigt. Ich beneide Sie. Wie alt ist denn die Süße?«
Ich warf ihm einen bösen Blick zu. Er lächelte zufrieden.
»Ein Vögelchen hat mir zugezwitschert, dass Sie in letzter Zeit Detektiv spielen. Lassen Sie uns Profis nichts mehr übrig?«
»Und wie heißt Ihr Vögelchen?«
»Es ist eher ein hässlicher Vogel. Einer meiner Vorgesetzten ist eng mit Anwalt Valera befreundet.«
»Stehen Sie auch auf deren Gehaltsliste?«
»Noch nicht, mein Lieber. Sie kennen mich ja. Alte Schule. Ehre und all der Quark.«
»Jammerschade.«
»Und sagen Sie, wie geht’s dem armen Ricardo Salvador? Wissen Sie, dass ich diesen Namen seit rund zwanzig Jahren nicht mehr gehört habe? Alle hielten ihn für tot.«
»Eine voreilige Diagnose.«
»Und wie fühlt er sich so?«
»Allein, verraten und verkauft.«
Der Inspektor nickte langsam.
»Das führt einem doch die Zukunft vor Augen, die man in diesem Job hat, nicht wahr?«
»Ich wette, in Ihrem Fall wird alles ganz anders, und bis zu Ihrer Beförderung an die Spitze des Präsidiums sind es höchstens noch zwei Jahre. Ich sehe Sie noch vor Ihrem fünfundvierzigsten Lebensjahr als Kriminaldirektor des Dienstes, wie Sie während der Fronleichnamsprozession die Hand von Bischöfen und Generalobersten der Armee küssen.«
Den sarkastischen Ton überhörend, nickte Grandes frostig.
»Apropos Handküsse, haben Sie das von Ihrem Freund Vidal schon gehört?«
Grandes begann nie ein Gespräch ohne einen Trumpf im Ärmel. Er schaute mich lächelnd an und genoss meine Beunruhigung.
»Was denn?«, murmelte ich.
»Neulich abends soll seine Frau versucht haben, sich umzubringen.«
»Cristina?«
»Stimmt, Sie kennen sie ja…«
Ohne es zu merken, war ich mit zitternden Händen aufgestanden.
»Seien Sie unbesorgt, Señora Vidal geht es gut. Ein Schrecken, nichts weiter. Anscheinend hat sie sich mit dem Laudanum vertan… Seien Sie so nett und setzen Sie sich wieder, Martín. Bitte.«
Ich setzte mich. Mein Magen ballte sich zu einem stechenden Knoten.
»Wann war das?«
»Vor zwei oder drei Tagen.«
Ich erinnerte mich an Cristinas Anblick am Fenster der Villa Helius vor einigen Tagen, als sie die Hand wie zum Gruß hob, ehe ich vor ihrem Blick floh und ihr den Rücken kehrte.
»Martín?«
Der Inspektor wedelte mit der Hand vor meinen Augen, als fürchtete er, ich hätte den Verstand verloren.
»Was?«
Er schaute mich mit unverstellter Besorgnis an.
»Haben Sie mir irgendetwas zu erzählen? Ich weiß, Sie werden mir nicht glauben, aber ich würde Ihnen gern helfen.«
»Glauben Sie immer noch, ich hätte Barrido und seinen Partner umgebracht?«
Grandes schüttelte den Kopf.
»Das habe ich nie geglaubt, aber andere würden es gern glauben.«
»Warum ermitteln Sie dann gegen mich?«
»Beruhigen Sie sich. Ich ermittle nicht gegen Sie, Martín. Ich habe nie gegen Sie ermittelt. An dem Tag, an dem ich es tue, werden Sie es merken. Einstweilen beobachte ich Sie. Weil Sie mir sympathisch sind und ich mir Sorgen mache, dass Sie in Schwierigkeiten geraten. Warum haben Sie kein Vertrauen zu mir und sagen mir, was los ist?«
Unsere Blicke trafen sich, und einen Augenblick war ich versucht, ihm alles zu erzählen. Ich hätte es getan, wenn ich gewusst hätte, wo ich anfangen sollte.
»Nichts ist los, Inspektor.«
Grandes nickte und schaute mich mitleidig an, vielleicht war es auch nur Enttäuschung. Er trank sein Bier aus und legte ein paar Münzen auf den Tisch. Dann klopfte er mir auf die Schulter und erhob sich.
»Passen Sie auf sich auf, Martín. Und achten Sie darauf, wo Sie hintreten. Nicht alle schätzen Sie so wie ich.«
»Ich werde es beherzigen.«
Es war beinahe Mittag, als ich nach Hause kam. Was mir der Inspektor erzählt hatte, wollte mir nicht aus dem Kopf. Ich stieg die Treppe so langsam hinauf, als wöge selbst meine Seele schwer. Ich öffnete die Tür mit der Befürchtung, von einer redseligen Isabella empfangen zu werden, doch es war alles still. Ich ging durch den Korridor zur Veranda, und da sah ich sie, schlafend auf dem Sofa und mit einem aufgeschlagenen Buch auf der Brust, einem meiner alten Romane, was mir ein Lächeln entlockte. In diesen Herbsttagen war die Temperatur in der Wohnung spürbar gesunken, und ich fürchtete, Isabella könnte sich erkälten. Ich hatte sie manchmal mit einem wollenen Schultertuch durch die Wohnung gehen sehen und wollte es aus ihrem Zimmer holen und leise über sie legen. Die Tür war angelehnt, und da ich dieses Zimmer nicht mehr betreten hatte, seit Isabella bei mir wohnte, obwohl es meine Wohnung war, fühlte ich mich etwas gehemmt. Ich erblickte das Schultertuch zusammengefaltet auf einem Stuhl. Der Raum roch nach Isabellas süßem Zitronenduft. Das Bett war noch ungemacht, und da ich wusste, dass ich im Ansehen meiner Assistentin um viele Punkte stieg, wenn ich mich einer häuslichen Beschäftigung hingab, beugte ich mich nieder, um die Laken glattzustreichen.
Da sah ich zwischen Matratze und Rahmen etwas stecken: Unter der Falte des Betttuchs lugte die Ecke eines Kuverts hervor. Als ich daran zog, hielt ich ein verschnürtes Bündel von etwa zwanzig blauen Umschlägen in der Hand. Ein Gefühl der Kälte durchfuhr mich, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich knotete die Schleife auf und nahm einen der Umschläge. Auf der Vorderseite standen mein Name und meine Adresse, als Absender war nur Cristina angegeben.
Mit dem Rücken zur Tür setzte ich mich aufs Bett und studierte einen nach dem anderen die Poststempel. Der erste war mehrere Wochen alt, der letzte drei Tage. Alle Umschläge waren geöffnet. Ich schloss die Augen und merkte, wie mir die Kuverts entglitten. Da hörte ich ihren Atem hinter mir.
»Verzeihen Sie mir«, hauchte sie.
Sie kam langsam näher und kniete sich hin, um die Briefe aufzulesen. Als sie alle wieder gebündelt hatte, reichte sie sie mir mit einem schmerzerfüllten Blick.
»Ich hab es getan, um Sie zu schützen«, sagte sie.
Isabellas Augen füllten sich mit Tränen, und sie legte mir eine Hand auf die Schulter.
»Geh«, sagte ich.
Ich stieß sie weg und stand auf. Isabella sank mit einem Stöhnen zu Boden, als würde sie innerlich verbrennen.
»Verlass dieses Haus.«
Ich ging, ohne mir die Mühe zu machen, die Haustür hinter mir zu schließen. Auf der Straße sah ich mich einer Welt voller fremder, ferner Fassaden und Gesichter gegenüber. Ich ging los, ohne Ziel und Richtung, ohne die Kälte, den Regen und den Wind zu spüren, der die Stadt wie ein Fluch zu peitschen begonnen hatte.
Die Straßenbahn hielt vor dem Eingang zu Gaudís Torre de Bellesguard, wo die Stadt am Fuß des Hügels erstarb. Ich folgte dem Pfad aus gelblichem Licht, den die Scheinwerfer der Straßenbahn in den Regen bohrten, und ging auf das Tor des Friedhofs San Gervasio zu. Seine Mauern erhoben sich in fünfzig Meter Entfernung zu einer marmornen Festung, aus der ein Dickicht an Statuen in allen Schattierungen einer Gewitterwolke aufragte. Am Eingang stand eine Pförtnerloge, in der sich ein Aufseher im Mantel über einem Kohlenbecken die Hände wärmte. Als er mich aus dem Regen auftauchen sah, schreckte er hoch. Er musterte mich einige Sekunden, bevor er das Türchen öffnete.
»Ich suche das Familiengrab der Marlascas.«
»In weniger als einer halben Stunde ist es dunkel. Sie kommen besser an einem anderen Tag wieder.«
»Je eher Sie mir sagen, wie ich es finde, desto eher gehe ich auch wieder.«
Er schaute in einem Verzeichnis nach und zeigte mir dann mit dem Finger den Standort auf einem Plan an der Wand. Ohne mich zu bedanken, ging ich davon.
Unschwer fand ich im Gewirr von Gräbern und Mausoleen die Marlasca-Gruft. Die Anlage ruhte auf einem Marmorsockel und war von einer Kuppel überspannt, auf der sich eine ebenfalls marmorne, geschwärzte Gestalt erhob. Ihr Gesicht war von einem Schleier verhüllt, aber wenn man sich dem Familiengrab näherte, hatte man den Eindruck, diese jenseitige Schildwache drehe den Kopf und verfolge einen mit den Augen. Die Jugendstilgruft war wie ein Amphitheater in einem Rund aus zwei großen Treppenaufgängen angelegt, die zu einer Säulengalerie hinaufführten. Ich stieg eine der Treppen empor und blieb vor der Galerie stehen, um zurückzuschauen. In der Ferne sah man durch den Regen hindurch schwach die Lichter der Stadt.
Ich betrat die Galerie. Sie war von Grabplatten gesäumt. Im Zentrum stand eine Frauenstatue, die flehentlich ein Kreuz umarmte. Ihr Gesicht war durch Schläge verunstaltet worden, und jemand hatte ihre Augen und Lippen schwarz angemalt, was ihr etwas Wölfisches verlieh. Es war nicht das einzige Zeichen von Schändung der Grabstätte. Den Grabplatten waren mit einem spitzen Gegenstand Kratzer oder Markierungen zugefügt worden, und auf einigen sah man obszöne Zeichnungen und Wörter, die im Halbdunkeln kaum zu entziffern waren. Diego Marlascas Grab befand sich ganz hinten. Ich ging hin und legte die Hand auf die Grabplatte. Dann zog ich sein Bild hervor, das mir Salvador gegeben hatte, und betrachtete es.
Da hörte ich Schritte hinter mir auf der Treppe. Ich steckte das Bild wieder in den Mantel und ging auf den Eingang der Galerie zu. Die Schritte waren verstummt, und man hörte nur noch den Regen auf den Marmor prasseln. Langsam näherte ich mich dem Eingang und schaute hinaus. Die Gestalt hatte mir den Rücken zugewandt und betrachtete die Stadt in der Ferne. Es war eine Frau in Weiß, die den Kopf mit einem Tuch bedeckt hatte. Langsam wandte sie sich um und sah mich an. Sie lächelte. Trotz all der Zeit, die vergangen war, erkannte ich sie sofort — Irene Sabino. Ich tat einen Schritt auf sie zu und begriff erst da, dass sich noch jemand hinter meinem Rücken befand. Beim Schlag auf den Hinterkopf blitzte weißes Licht auf. Ich sank in die Knie und brach eine Sekunde später auf dem nassen Marmor zusammen. Im Regen zeichnete sich eine dunkle Gestalt ab. Irene kniete sich neben mir nieder. Ich spürte, wie ihre Hand meinen Kopf umfasste und die Stelle des Schlages ertastete. Als sie die Finger zurückzog, waren sie blutig. Sie streichelte mir damit übers Gesicht. Das Letzte, was ich sah, ehe ich das Bewusstsein verlor, war, dass sie ein Rasiermesser hervorzog und langsam aufklappte. Silberne Regentropfen glitten über die Schneide, während sie sie mir näherte.
Ich öffnete die Augen im blendenden Licht einer Öllampe und sah in das Gesicht des Aufsehers. Er betrachtete mich vollkommen ausdruckslos. Ich versuchte zu blinzeln, während mir eine Stichflamme aus Schmerz vom Nacken her durch den Schädel schoss.
»Leben Sie?«, fragte der Aufseher so teilnahmslos, dass ich nicht wusste, ob die Frage mir galt oder rein rhetorisch war.
»Ja«, stöhnte ich. »Stecken Sie mich ja nicht in irgendein Loch.«
Er half mir, mich aufzurichten. Jeder Zentimeter wurde mit einem Stich im Kopf beantwortet.
»Was ist geschehen?«
»Das müssten Sie doch wissen. Ich hätte schon vor einer Stunde schließen sollen, aber als Sie nicht aufgetaucht sind, bin ich hergekommen, um zu gucken, was los ist, und dann habe ich Sie gefunden, wie Sie hier Ihren Rausch ausschlafen.«
»Und die Frau?«
»Welche Frau?«
»Es waren zwei.«
»Zwei Frauen?«
Ich verneinte.
»Können Sie mir beim Aufstehen helfen?«
Mit seiner Unterstützung gelang es mir, mich zu erheben. Da spürte ich das Brennen und sah, dass mein Hemd offen war. Mehrere oberflächliche Schnitte liefen über meine Brust.
»Oioioi, das sieht aber gar nicht gut aus…«
Ich knöpfte den Mantel zu und tastete dabei nach der Innentasche. Marlascas Bild war verschwunden.
»Haben Sie Telefon in der Loge?«
»Ja, es steht im Saal mit dem türkischen Bad.«
»Dann können Sie mir vielleicht wenigstens behilflich sein, zur Torre de Bellesguard zu kommen, damit ich dort ein Taxi bestellen kann?«
Der Aufseher fluchte und stützte mich unter den Achseln.
»Ich hab Ihnen ja gesagt, Sie sollen an einem anderen Tag wiederkommen.«
Es war wenige Minuten vor Mitternacht, als ich endlich beim Haus mit dem Turm ankam. Sowie ich die Tür aufschloss, wurde mir klar, dass Isabella nicht mehr da war. Der Klang meiner Schritte im Korridor hatte ein anderes Echo. Ich machte gar nicht erst Licht, sondern ging im Halbdunkeln zu ihrem Zimmer und schaute hinein. Sie hatte sauber gemacht und alles aufgeräumt. Laken und Decken lagen peinlich genau zusammengefaltet auf einem Stuhl, die Matratze war unbezogen. Noch roch es nach Isabella. In der Veranda setzte ich mich an den Schreibtisch, den sie benutzt hatte. Sie hatte die Bleistifte gespitzt und fein säuberlich in ein Glas gestellt. Auf einem Tablett stapelten sich weiße Blätter. Die Schreibgarnitur, die ich ihr geschenkt hatte, stand daneben. Noch nie war mir die Wohnung so leer vorgekommen.
Im Bad zog ich die nassen Kleider aus und versorgte meinen Hinterkopf mit einem in Alkohol getränkten Wundverband. Der Schmerz war zu einem dumpfen, einem gewaltigen Kater nicht unähnlichen Pochen abgeklungen. Im Spiegel sahen die Schnitte auf der Brust wie mit der Feder gezogene Linien aus. Sie waren sauber und oberflächlich, brannten aber höllisch. Ich reinigte sie mit Alkohol und hoffte, dass sie sich nicht entzündeten.
Dann legte ich mich ins Bett und deckte mich mit mehreren Decken bis zum Hals zu. Die einzigen nicht schmerzenden Stellen meines Körpers waren die, welche Kälte und Regen bis zur Gefühllosigkeit betäubt hatten. Ich wartete darauf, dass mir wärmer wurde, und lauschte dieser kalten Stille, dieser Abwesenheit und Leere, die die Wohnung erstickte. Isabella hatte das Bündel mit Cristinas Briefen auf meinen Nachttisch gelegt. Ich streckte die Hand aus und nahm aufs Geratewohl einen. Er war zwei Wochen alt.
Lieber David,
die Tage vergehen, und ich schreibe dir weiterhin Briefe, die du vermutlich nicht beantworten willst, wenn du sie denn überhaupt öffnest. Mittlerweile denke ich, ich schreibe sie nur für mich, um die Einsamkeit zu vertreiben und einen Augenblick lang zu glauben, du seist bei mir. Jeden Tag frage ich mich, wie es dir wohl geht, was du wohl tust.
Manchmal denke ich, du habest Barcelona verlassen, um nie mehr zurückzukehren, und stelle dich mir irgendwo unter Fremden vor, wie du ein neues Leben beginnst, von dem ich nie etwas erfahren werde. Dann wieder denke ich, dass du mich noch hasst, dass du diese Briefe vernichtest und mich am liebsten niemals kennengelernt hättest. Ich gebe dir keine Schuld. Seltsam, wie leicht man, wenn man allein ist, einem Blatt Papier anvertraut, was jemandem ins Gesicht zu sagen man sich nicht trauen würde.
Ich habe es nicht leicht. Pedro könnte nicht liebenswürdiger und verständnisvoller sein mit mir. Er ist es so sehr, dass mich seine Geduld manchmal aufbringt, und sein Wunsch, mich glücklich zu machen, bewirkt nur, dass ich mich desto elender fühle. Er hat mir gezeigt, dass mein Herz leer ist, dass ich niemandes Liebe verdiene. Er verbringt fast den ganzen Tag bei mir, weil er mich nicht allein lassen mag.
Ich lächle jeden Tag und teile das Bett mit ihm. Wenn er mich fragt, ob ich ihn liebe, bejahe ich, und wenn ich die Wahrheit in seinen Augen lese, möchte ich sterben. Er macht es mir nie zum Vorwurf. Er spricht viel von dir und vermisst dich. So sehr, dass ich manchmal denke, du seist die Person, die er auf dieser Welt am meisten liebt. Ich sehe, wie er einsam älter wird, in der denkbar schlechtesten Gesellschaft, der meinen. Ich kann nicht verlangen, dass du mir verzeihst, aber wenn ich mir auf dieser Welt etwas wünsche, dann, dass du ihm verzeihst. Ich bin es nicht wert, dass du ihm deine Freundschaft und Gesellschaft entziehst.
Gestern habe ich eines deiner Bücher zu Ende gelesen. Pedro hat sie alle, und ich habe sie eines nach dem anderen gelesen, weil das die einzige Möglichkeit ist, mich dir nahe zu fühlen. Es war eine traurige, seltsame Geschichte — von zwei zerbrochenen, verlassenen Puppen in einem Wanderzirkus, die für eine Nacht zum Leben erwachen, aber wissen, dass sie im Morgengrauen sterben müssen. Als ich sie las, hatte ich das Gefühl, du schriebest über uns.
Vor einigen Wochen habe ich geträumt, ich hätte dich wiedergesehen, wir wären uns auf der Straße begegnet und du hättest dich nicht mehr an mich erinnert. Du hast mir zugelächelt und mich gefragt, wie ich heiße. Du wusstest nichts von mir. Du hast mich nicht gehasst. Jeden Abend, wenn Pedro neben mir einschläft, schließe ich die Augen und bitte den Himmel oder die Hölle darum, mich noch einmal dasselbe träumen zu lassen.
Morgen oder vielleicht übermorgen werde ich dir wieder schreiben, um dir zu sagen, dass ich dich liebe, obwohl dir das nichts bedeutet.
Ich ließ den Brief zu Boden gleiten, unfähig, weitere zu lesen. Morgen ist wieder ein Tag, sagte ich mir. Es konnte schwerlich noch schlimmer kommen. Ich konnte nicht ahnen, dass die besonderen Wonnen erst ihren Anfang genommen hatten. Ich musste etwa zwei Stunden geschlafen haben, als ich mitten in der Nacht aufschreckte. Jemand hämmerte an die Wohnungstür. Einige Sekunden tastete ich im Finstern verwirrt nach der Lampenschnur. Erneut wurde an die Tür gehämmert. Ich machte Licht, sprang aus dem Bett und ging zur Tür, wo ich den Deckel des Gucklochs zurückschob. Drei Gesichter im Halbdunkel des Treppenabsatzes. Inspektor Grandes und hinter ihm Marcos und Castelo, alle drei starrten. Ich atmete zweimal tief durch, dann öffnete ich.
»Guten Abend, Martín. Entschuldigen Sie die späte Stunde.«
»Wie spät ist es denn?«
»Spät genug, um deinen Arsch zu bewegen, du Mistkerl«, knurrte Marcos, was Castelo ein Lächeln abnötigte, mit dem ich mich hätte rasieren können.
Grandes warf ihnen einen missbilligenden Blick zu und seufzte.
»Kurz nach drei. Darf ich reinkommen?«
Verärgert nickte ich und machte ihm Platz. Er bedeutete seinen Männern, draußen zu warten. Sie bedachten mich mit einem Reptilienblick und blieben widerwillig stehen. Ich knallte ihnen die Tür vor der Nase zu.
»Sie sollten mit den beiden etwas vorsichtiger sein«, sagte Grandes, während er ungezwungen durch den Korridor marschierte.
»Fühlen Sie sich wie zuhause«, sagte ich.
Ich ging ins Schlafzimmer und zog das Erstbeste an, was ich auf einem Stuhl mit schmutziger Wäsche fand. Als ich wieder auf den Korridor trat, war von Grandes keine Spur zu sehen.
Ich fand ihn in der Veranda, wo er durchs Fenster den über die Dächer kriechenden Wolken zusah.
»Und das süße Püppchen?«, fragte er.
»Bei sich zuhause.«
Lächelnd wandte er sich um.
»Sehr weise, ihr keine Vollpension anzubieten.«
Er deutete auf einen Sessel. »Setzen Sie sich.«
Ich ließ mich in den Fauteuil fallen. Grandes blieb stehen und schaute mich unverwandt an.
»Was gibt es?«, fragte ich schließlich.
»Sie sehen schlecht aus, Martín. Sind Sie in eine Schlägerei geraten?«
»Ich bin gestürzt.«
»Mhm. Ich glaube, Sie haben heute den Zauberladen von Señor Damián Roures in der Calle Princesa aufgesucht.«
»Sie haben mich doch heute Mittag dort rauskommen sehen — was soll das Ganze?«
Grandes schaute mich kalt an.
»Nehmen Sie Ihren Mantel und einen Schal oder was auch immer. Es ist kalt. Wir gehen aufs Revier.«
»Wozu?«
»Tun Sie, was ich Ihnen sage.«
Ein Wagen des Präsidiums wartete auf dem Paseo del Born. Marcos und Castelo schoben mich ohne viel Federlesens hinein und zwängten sich links und rechts neben mich.
»Sitzt der junge Herr auch bequem?«, fragte Castelo und rammte mir den Ellbogen in die Rippen.
Der Inspektor setzte sich vorn neben den Fahrer. In den fünf Minuten, die wir durch die menschenleere, in ockerfarbenem Nebel liegende Vía Layetana fuhren, sagte keiner der drei ein Wort. Beim Zentralrevier angekommen, ging Grandes hinein, ohne auf uns zu warten. Mit einem Knochenbrechergriff packten mich Marcos und Castelo je an einem Arm und schleiften mich durch ein Labyrinth von Treppen, Gängen und Zellen zu einem fensterlosen Raum, der nach Schweiß und Urin stank. In der Mitte stand ein wurmstichiger Holztisch mit zwei schäbigen Stühlen. An der Decke hing eine nackte Glühbirne, und mitten im Fußboden, wo die leicht gegeneinander geneigten Flächen zusammenliefen, war ein Abflussgitter eingelassen. Es war eisig kalt. Ehe ich mich’s versah, wurde hinter mir die Tür ins Schloss geworfen. Ich hörte wie sich die Schritte entfernten. Zwölf Runden drehte ich in diesem Kerker, bevor ich mich auf einen der wackligen Stühle fallen ließ. In der folgenden Stunde hörte ich kein einziges Geräusch außer meinem Atem dem knarrenden Stuhl und dem Tropfen irgendeiner undichten Stelle, die ich nicht ausfindig machen konnte.
Eine Ewigkeit später vernahm ich den Hall näher kommender Schritte, und kurz danach öffnete sich die Tür. Marcos grinste herein und hielt Grandes die Tür auf, der eintrat, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und auf dem Stuhl am anderen Tischende Platz nahm. Er gab Marcos ein Zeichen, worauf dieser die Tür wieder schloss, nachdem er mir mit einem Augenzwinkern einen Kuss durch die Luft geschickt hatte. Der Inspektor geruhte erst nach einer guten halben Minute, mir ins Gesicht zu schauen.
»Wenn Sie mich beeindrucke wollten, dann haben Sie es bereits geschafft, Inspektor.«
Er überhörte meine Ironie und starrte mich an, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen.
»Was wissen Sie von Damián Roures?«, fragte er.
Ich zuckte die Schultern
»Nicht viel. Dass er einen Laden für Zauberartikel besitzt. Tatsächlich wusste ich bis vor einigen Tagen nicht einmal das, bis Ricardo Salvador mir von ihm erzählte. Heute oder gestern, ich weiß schon gar nicht mehr, wie spät es ist, habe ich ihn aufgesucht, weil ich mehr über den Mann herausfinden wollte, der vor mir in meiner jetzigen Wohnung gewohnt hat. Salvador sagte mir, Roures und der ehemalige Besitzer…«
»Marlasca.«
»Ja, Diego Marlasca. Wie gesagt, Salvador hat mir erzählt, Roures und Marlasca hätten vor Jahren miteinander zu tun gehabt. Ich stellte ihm einige Fragen, und er hat nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet. Das ist eigentlich alles.«
Grandes nickte mehrmals.
»Das ist Ihre Geschichte?«
»Ich weiß nicht. Welches ist Ihre? Vergleichen wir sie doch, und dann verstehe ich vielleicht endlich, was zum Teufel ich hier mitten in der Nacht verloren habe und warum ich mir in einem Kellerloch, das nach Scheiße stinkt, die Füße abfriere.«
»Schreien Sie mich nicht an, Martín.«
»Entschuldigen Sie, Inspektor, aber ich finde, Sie könnten mir wenigstens sagen, was ich hier tue.«
»Ich werde Ihnen sagen, was Sie hier tun. Vor etwa drei Stunden ist ein Bewohner des Hauses, in dem sich Señor Roures’ Laden befindet, spät heimgekommen und hat gesehen, dass die Ladentür offen stand und das Licht darin brannte. Das hat ihn erstaunt, und er ist eingetreten, und als er den Inhaber nicht gesehen und dieser auf seine Rufe auch nicht geantwortet hat, ist er ins Hinterzimmer gegangen, wo er ihn inmitten einer Blutlache mit Draht an einen Stuhl gefesselt fand.«
Grandes machte eine lange Pause und durchbohrte mich mit den Augen. Ich vermutete, dass noch etwas käme. Fürs Finale sparte sich Grandes immer einen Knalleffekt auf.
»Tot?«, fragte ich.
Er nickte.
»Ziemlich. Jemand hat sich einen Spaß daraus gemacht, ihm mit einer Schere die Augen auszukratzen und die Zunge abzuschneiden. Der Gerichtsmediziner vermutet, dass er eine halbe Stunde später an seinem eigenen Blut erstickt ist.«
Ich spürte, dass mir die Luft wegblieb. Grandes lief im Raum herum. Dann blieb er hinter mir stehen, und ich hörte ihn eine Zigarette anzünden.
»Wie sind Sie zu dieser Verletzung gekommen? Sieht frisch aus.«
»Ich bin im Regen ausgeglitten und auf den Hinterkopf gefallen.«
»Verkaufen Sie mich doch nicht für dumm, Martín. Das ist nicht gut für Sie. Soll ich Sie ein Weilchen mit Marcos und Castelo allein lassen, damit sie Ihnen Manieren beibringen?«
»Ist ja gut. Man hat mir einen Schlag versetzt.«
»Wer?«
»Das weiß ich nicht.«
»Dieses Gespräch beginnt mich zu langweilen, Martín.«
»Und mich erst.«
Grandes setzte sich mir wieder gegenüber und schenkte mir ein versöhnliches Lächeln.
»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich mit dem Tod dieses Mannes irgendetwas zu tun habe?«
»Nein, Martín, das glaube ich nicht. Allerdings glaube ich, dass Sie mir nicht die Wahrheit erzählen und dass der Tod dieses armen Unglücklichen irgendwie mit Ihrem Besuch zusammenhängt. Wie der von Barrido und Escobillas.«
»Was bringt Sie auf diesen Gedanken?«
»Nennen Sie es Eingebung.«
»Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß.«
»Und ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen mich nicht für dumm verkaufen. Marcos und Castelo warten da draußen auf eine Chance, sich mit Ihnen unter sechs Augen zu unterhalten. Ist es das, was Sie wollen?«
»Nein.«
»Dann helfen Sie mir, Sie aus dieser Lage zu befreien und heimzuschicken, bevor die Laken kalt sind.«
»Was wollen Sie hören?«
»Die Wahrheit zum Beispiel.«
Entnervt schob ich den Stuhl zurück und stand auf. Die Kälte war mir in die Knochen gefahren, und ich hatte das Gefühl, gleich platze mir der Kopf. Ich begann den Tisch zu umkreisen und schleuderte die Worte dem Inspektor wie Steine an den Kopf.
»Die Wahrheit? Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, was die Wahrheit ist. Ich weiß nicht, was ich Ihnen erzählen soll. Ich weiß nicht, warum ich zu Roures und zu Salvador ging. Ich weiß nicht, was ich suche und was da mit mir geschieht. Das ist die Wahrheit.«
Grandes beobachtete mich stoisch.
»Hören Sie auf, Runden zu drehen, und setzen Sie sich hin. Sie machen mich ganz schwindlig.«
»Ich will aber nicht.«
»Martín, was Sie mir da erzählen, ist gleich null. Ich bitte Sie nur, mir zu helfen, damit auch ich Ihnen helfen kann.«
»Sie könnten mir nicht einmal helfen, wenn Sie wirklich wollten.«
»Wer dann?«
Ich ließ mich wieder auf den Stuhl fallen.
»Ich weiß es nicht…«, murmelte ich.
Ich glaubte in seinen Augen einen Anflug von Mitleid zu erkennen, vielleicht war es auch nur Müdigkeit.
»Hören Sie, Martín, fangen wir noch einmal von vorne an. Machen wir es auf Ihre Weise. Erzählen Sie mir eine Geschichte. Beginnen Sie ganz am Anfang.«
Ich schaute ihn schweigend an.
»Martín, glauben Sie nicht, nur weil Sie mir sympathisch sind, werde ich nicht meine Arbeit tun.«
»Tun Sie, was Sie tun müssen. Rufen Sie Hänsel und Gretel, wenn Sie Lust haben.«
In diesem Augenblick bemerkte ich in seinem Gesicht einen Funken Unruhe. Durch den Gang kamen Schritte näher, und irgendetwas sagte mir, dass der Inspektor sie nicht erwartet hatte. Man hörte einen kurzen Wortwechsel, und Grandes trat nervös an die Tür. Er klopfte dreimal, worauf Marcos, der Wache stand, sie öffnete. Ein Mann in einem Kamelhaarmantel und dazu passendem Anzug trat ein, schaute sich mit verdrießlicher Miene um und lächelte mir dann unendlich sanft zu, während er bedächtig die Handschuhe auszog. Zu meiner Verblüffung erkannte ich Anwalt Valera.
»Sind Sie wohlauf, Señor Martín?«, fragte er.
Ich nickte. Der Anwalt zog den Inspektor in eine Ecke, wo ich sie tuscheln hörte. Grandes gestikulierte mit verhaltener Wut. Valera schaute ihn kühl an und schüttelte den Kopf. Das Gespräch zog sich fast eine Minute hin. Schließlich schnaubte Grandes und ließ die Hände sinken.
»Nehmen Sie Ihren Schal, Señor Martín, wir gehen«, sagte Valera. »Der Inspektor hat keine weiteren Fragen.«
Hinter ihm biss sich Grandes auf die Lippen und schoss Marcos einen vernichtenden Blick zu, woraufhin der die Achseln zuckte. Valera, dessen liebenswürdig routiniertes Lächeln keinen Moment erschlaffte, nahm mich am Arm und zog mich aus diesem Kerkerloch.
»Ich hoffe, die Behandlung von Seiten dieser Beamten war korrekt, Señor Martín.«
»J-ja«, stotterte ich.
»Einen Augenblick«, sagte Grandes hinter uns.
Valera blieb stehen, bedeutete mir zu schweigen und drehte sich um.
»Falls Sie an Señor Martín weitere Fragen haben, können Sie sich an unser Büro wenden, wo man Ihnen sehr gern behilflich sein wird. Bis dahin werden wir uns, falls Sie keinen wichtigeren Rechtsgrund haben, Señor Martín in diesen Räumen einzubehalten, für heute zurückziehen, wünschen Ihnen eine gute Nacht und bedanken uns für Ihre Liebenswürdigkeit, die gegenüber Ihren Vorgesetzten zu erwähnen ich nicht versäumen werde, insbesondere gegenüber Oberinspektor Salgado, der ja, wie Sie wissen, ein enger Freund von mir ist.«
Marcos machte Anstalten, auf uns zuzugehen, aber der Inspektor hielt ihn zurück. Ich wechselte einen letzten Blick mit ihm, ehe mich Valera wieder am Arm nahm und mitzog.
»Nicht stehen bleiben«, raunte er.
Wir gingen durch den langen, von fahlen Leuchten gesäumten Gang zu einer Treppe, die uns zu einem weiteren langen Gang führte. Schließlich gelangten wir zu einer schmalen Tür und durch sie in die Eingangshalle im Erdgeschoss und zum Ausgang. Dort erwartete uns ein Mercedes-Benz mit laufendem Motor und einem Fahrer, der, kaum erblickte er Valera, die Tür aufriss. Ich stieg ein. Das Auto verfügte über eine Heizung, und die Ledersitze waren angewärmt. Valera setzte sich neben mich und gab dem Fahrer mit einem Klopfen an die Trennscheibe das Zeichen zum Abfahren. Als wir uns auf der mittleren Spur der Vía Layetana befanden, lächelte er mir zu, als wäre nichts geschehen, und zeigte auf den Nebel, den wir auf unserer Fahrt wie dichtes Buschwerk zerteilten.
»Eine unfreundliche Nacht, nicht wahr?«
»Wohin fahren wir?«
»Zu Ihnen natürlich. Es sei denn, Sie gehen lieber in ein Hotel oder…«
»Nein, schon gut.«
Der Wagen glitt langsam die Vía Layetana hinunter.
Valera schaute desinteressiert die leeren Straßen hinunter.
»Was tun Sie hier?«, fragte ich schließlich.
»Was glauben Sie, was ich tue? Sie und Ihre Interessen vertreten.«
»Sagen Sie dem Fahrer, er soll anhalten«, sagte ich.
Der Fahrer suchte Valeras Blick im Rückspiegel. Valera schüttelte den Kopf und hieß ihn weiterfahren.
»Reden Sie keinen Unsinn, Señor Martín. Es ist spät und kalt, und ich begleite Sie nach Hause.«
»Ich gehe lieber zu Fuß.«
»Seien Sie doch vernünftig.«
»Wer hat Sie geschickt?«
Er seufzte und rieb sich die Augen.
»Sie haben gute Freunde, Martín. Im Leben ist es wichtig, gute Freunde zu haben, und vor allem, sie sich zu erhalten. So wichtig, wie zu erkennen, wann man sich darauf versteift, einen falschen Weg zu beschreiten.«
»Das wird doch nicht der Weg sein, der durch das Haus Marlasca führt, in der Carretera de Vallvidrera 13?«
Valera lächelte geduldig, als wiese er nachsichtig ein ungezogenes Kind zurecht.
»Señor Martín, glauben Sie mir, je weiter Sie sich von diesem Haus und dieser ganzen Geschichte fernhalten, desto besser für Sie. Nehmen Sie von mir wenigstens diesen Rat an.«
Der Fahrer bog in den Paseo de Colón ein, um dann durch die Calle Comercio zum Paseo del Born zu gelangen. Vor dem großen Marktgelände stauten sich bereits die Karren mit Fleisch und Fisch, Eis und Gewürzen. Neben uns luden ein paar Burschen ein aufgeschlitztes Kalb ab und hinterließen eine Blut- und Dunstspur, die in der Luft zu riechen war.
»Ein Viertel voller Charme und pittoresker Bilder, das sie da haben, Señor Martín.«
Der Fahrer hielt an der Einmündung der Calle Flassaders und stieg aus, um uns die Tür zu öffnen. Der Anwalt stieg ebenfalls aus.
»Ich begleite Sie zur Tür«, sagte er.
»Man wird uns für ein Paar halten.«
Wir gingen durch die dunkle Schlucht der Gasse zu meinem Haus. Vor der Tür gab mir der Anwalt mit professioneller Höflichkeit die Hand.
»Danke, dass Sie mich da herausgeholt haben«, sagte ich.
»Danken Sie nicht mir dafür.«
Er zog einen Umschlag aus der Innentasche seines Mantels.
Ich erkannte das Engelssiegel sogar im Dämmerlicht, das von der Lampe an der Mauer über unseren Köpfen troff. Valera übergab mir den Umschlag und kehrte nach einem letzten Nicken zum Auto zurück. Ich schloss die Haustür auf, und in der Wohnung ging ich direkt in mein Arbeitszimmer, wo ich den Umschlag öffnete und das zusammengefaltete Blatt mit den kunstvollen Schriftzügen des Patrons herauszog.
Lieber Martín,
ich hoffe und wünsche mir, dass diese Note Sie in guter körperlicher und seelischer Verfassung antrifft. Die Umstände erfordern es, dass ich kurz in der Stadt hin, und es würde mich sehr freuen, an diesem Freitag um sieben Uhr abends im Billardraum des Reitklubs in den Genuss Ihrer Gesellschaft zu kommen, um über die Fortschritte unseres Projekts zu sprechen.
Ich faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es behutsam in den Umschlag. Dann zündete ich ein Streichholz an, ergriff das Kuvert an einer Ecke und hielt es über die Flamme. Ich sah zu, wie es brannte, bis der Lack scharlachrot auf den Schreibtisch tropfte und meine Finger voller Asche waren.
»Fahren Sie zur Hölle«, murmelte ich, während mir die Nacht jenseits der Fenster finsterer vorkam denn je.
Im Arbeitszimmer wartete ich im Sessel auf eine Morgendämmerung, die nicht kommen wollte, bis mich die Wut aus dem Haus trieb, um der Warnung von Anwalt Valera zu trotzen. Draußen pfiff die schneidende Kälte, die im Winter dem Tagesanbruch vorangeht. Beim Überqueren des Paseo del Born glaubte ich Schritte hinter mir zu hören. Ich sah mich um, erblickte aber niemanden außer den Marktburschen, die die Wagen abluden, und setzte meinen Weg fort. Auf der Plaza del Palacio sichtete ich im Dunst, der vom Hafen heranzog, die Lichter der ersten Straßenbahn. Schon sah ich über der Oberleitung blaue Funken sprühen. Ich stieg ein und setzte mich ganz nach vorn. Den Fahrschein händigte mir derselbe Schaffner wie beim vorigen Mal aus. Nach und nach tröpfelte ein Dutzend Fahrgäste herein, alle allein. Wenige Minuten später ruckte die Bahn los, während sich am Himmel zwischen schwarzen Wolken ein Netz rötlicher Kapillaren aufspannte. Man musste kein Dichter oder Weiser sein, um zu wissen, dass es kein schöner Tag werden würde.
Als wir in Sarrià eintrafen, war der Tag mit einem fahlen Licht angebrochen, in dem alles farblos schien. Ich stieg die einsamen Gassen des Viertels zur Flanke des Berges hinauf. Wieder glaubte ich bisweilen Schritte hinter mir zu hören, aber immer, wenn ich stehen blieb und mich umschaute, war niemand da. In dem Gässchen, das zum Haus Marlasca führte, bahnte ich mir einen Weg durch die Laubdecke, die unter meinen Füßen raschelte. Langsam ging ich durch den Patio und stieg die Stufen zur Haustür hinauf, wo ich seitlich durch die Fenster spähte. Ich ließ den Türklopfer dreimal fallen und trat einige Schritte zurück. Als ich nach einer Minute keine Antwort bekam, klopfte ich abermals. Das Echo der Schläge verlor sich im Inneren.
»Hallo?«, rief ich.
Die Bäume, die das Haus umgaben, schienen den Klang meiner Stimme zu verschlucken. Ich ging ums Haus herum bis in den Garten mit dem Schwimmbecken und von dort zu der verglasten Veranda. Die Fenster waren hinter halb geschlossenen Holzläden verborgen, sodass man nicht hineinsehen konnte. Eines der Fenster, direkt neben der Glastür der Veranda, war nur angelehnt. Durch die Scheibe war der Türriegel zu erkennen, und als ich mit dem Arm durch das offene Fenster langte, konnte ich ihn zurückzuschieben. Die Tür gab mit einem metallischen Geräusch nach. Ich sah mich noch einmal um und vergewisserte mich, dass niemand da war, dann trat ich ein.
Sowie sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, wurden die Konturen des Zimmers erkennbar. Ich drückte leicht die Fensterläden auf, um ein wenig Licht hereinzulassen. Ein Fächer aus Strahlen ließ die Gegenstände im Raum hervortreten.
»Jemand da?«, rief ich.
Meine Stimme verlor sich im Haus wie eine Münze in einem bodenlosen Schacht. Ich ging quer durch den Raum, wo ein gebogener, mit Holz verzierter Durchgang auf einen dunklen Korridor hinausführte. Zu beiden Seiten hingen an samtbezogenen Wänden verschwommene Gemälde. Am Ende des Korridors öffnete sich ein großer runder Salon mit Mosaikböden und einem Wandbild wie Email, auf dem eine weiße Engelsgestalt mit ausgestrecktem Arm und Fingern aus Feuer zu sehen war. Eine breite Steintreppe führte an den Wänden des Raums entlang in einer Spirale nach oben. An ihrem Fuß blieb ich stehen und rief erneut.
»Hallo? Señora Marlasca?«
Das Haus lag in vollkommener Stille da, meine Worte verklangen in einem schwachen Widerhall. Ich stieg zum ersten Stock hinauf und blieb auf dem Treppenabsatz stehen, von dem aus man den Salon mit dem Wandbild überblicken konnte. Ich sah meine Fußabdrücke in der Staubschicht auf dem Boden. Außerdem sah ich im Staub eine Art Gleis aus zwei parallelen Linien im Abstand von zwei oder drei Handbreit und dazwischen Fußabdrücke. Große Fußabdrücke. Verwirrt betrachtete ich diese Spur, bis mir aufging, was ich da sah. Die Spur eines Rollstuhls und die Fußstapfen der Person, die ihn geschoben hatte.
Ich glaubte hinter mir ein Geräusch zu hören und wandte mich um. Eine angelehnte Tür am Ende des Flurs bewegte sich leicht. Ein kalter Wind kam von dort. Langsam ging ich auf die Tür zu. Dabei warf ich einen Blick in die Zimmer auf beiden Seiten — Schlafzimmer, deren Möbel mit weißen Tüchern zugedeckt waren. Die geschlossenen Fenster und das stickige Halbdunkel ließen ahnen, dass sie seit langem unbenutzt waren, mit Ausnahme eines etwas größeren Raums, in dem sich ein Ehebett befand. Ich trat ein und roch die seltsame Mischung aus Parfüm und Krankheit, die alte Menschen verströmen. Vermutlich war dies das Zimmer der Witwe Marlasca, aber nichts deutete auf ihre Anwesenheit hin.
Das Bett war ordentlich gemacht. Davor stand eine Kommode mit einer Reihe gerahmter Porträts. Ausnahmslos auf allen war ein Junge mit hellen Haaren und fröhlichem Gesicht zu sehen. Ismael Marlasca. Auf einigen posierte er mit seiner Mutter oder mit anderen Kindern. Nirgends erschien Diego Marlasca.
Wieder schreckte mich das Geräusch einer klappenden Tür auf, und ich verließ das Schlafzimmer und die Fotos. Die Tür am Ende des Flurs bewegte sich immer noch leicht. Bevor ich eintrat, hielt ich einen Augenblick inne und atmete tief ein, dann stieß ich die Tür auf.
Alles war weiß. Wände und Decke waren makellos weiß gestrichen. Weiße Seidengardinen. Ein kleines, mit weißen Tüchern bezogenes Bett. Ein weißer Teppich. Weiße Regale und Schränke. Nach dem Halbdunkel im übrigen Haus war ich von so viel Helligkeit einige Sekunden lang geblendet. Der Raum schien einem Traum, einer Märchenphantasie entsprungen. In den Regalen Spielzeuge und Märchenbücher. Vor einem Toilettentisch saß ein lebensgroßer Harlekin aus Porzellan und betrachtete sich im Spiegel. An der Decke hing ein Mobile aus weißen Vögeln. Auf den ersten Blick wirkte es wie das Zimmer eines verhätschelten Kindes, Ismael Marlasca, aber es hatte die beklemmende Atmosphäre einer Totenkammer.
Ich setzte mich aufs Bett. Erst jetzt merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war der Geruch — ein süßlicher Gestank lag in der Luft. Ich stand auf, schaute mich um und ging zweimal im Zimmer auf und ab, ohne die Ursache finden zu können. Auf einem Sakristeischrank befand sich ein Porzellanteller mit einer schwarzen Kerze inmitten dunkler Tropfen. Ich drehte mich um. Der Gestank schien vom Kopfende des Bettes herzukommen. Ich zog die Nachttischschublade auf und fand ein in drei Teile zerbrochenes Kruzifix. Der Gestank war stärker geworden. Da sah ich es — unter dem Bett lag etwas. Ich kniete nieder und zog eine der Blechdosen hervor, in denen Kinder ihre Schätze verwahren, und stellte sie auf das Bett. Der Gestank war jetzt viel deutlicher und durchdringender. Ich ignorierte die aufsteigende Übelkeit und nahm den Deckel ab. In der Dose lag eine weiße Taube, deren Herz mit einer Nadel durchbohrt war. Ich wich einen Schritt zurück, bedeckte Mund und Nase mit der Hand und floh dann auf den Flur hinaus. Im Spiegel beobachteten mich die Augen des schakalisch grinsenden Harlekins. Ich rannte zur Treppe und stürzte die Stufen hinunter, um zu dem in die Veranda führenden Korridor und der Tür zu gelangen, die ich vom Garten aus geöffnet hatte. Einen Moment lang dachte ich, ich hätte mich verirrt und das Haus wolle mich nicht hinauslassen, als wäre es ein Wesen, das Flure und Zimmer nach Lust und Laune verschieben konnte. Endlich sah ich die verglaste Veranda und lief zur Tür. Erst als ich mit dem Riegel rang, hörte ich das heimtückische Lachen hinter mir und wusste, dass ich in diesem Haus nicht allein war. Ich wandte mich um und sah eine dunkle Gestalt, die mich vom anderen Ende des Korridors beobachtete. Sie hatte einen glänzenden Gegenstand in der Hand. Ein Messer.
Das Schloss gab nach, und ich stieß die Tür mit solcher Wucht auf, dass ich der Länge nach auf die Marmorplatten am Schwimmbecken fiel. Mein Gesicht landete nur eine Handbreit von der Wasseroberfläche entfernt, sodass mir der Gestank des fauligen Wassers in die Nase stieg. Ich starrte ins Dunkel über dem Beckengrund. Da tat sich zwischen den Wolken ein Spalt auf, und die Sonne schien ins Wasser und strich über den zerbröckelten Mosaikboden. Das Bild zeigte sich nur einen Augenblick. Der Rollstuhl war auf dem Grund gestrandet und nach vorn gekippt. Das Licht wanderte weiter bis zur tiefsten Stelle des Schwimmbeckens, und dort erblickte ich sie. An der Seitenwand lehnte ein Körper, in ein weißes, im Wasser schwebendes Kleid gehüllt. Zuerst dachte ich an eine Puppe — die scharlachroten Lippen waren im Wasser aufgequollen, die Augen leuchteten wie Saphire. Langsam wallte das rote Haar im fauligen Wasser, die Haut war blau. Die Witwe Marlasca. Eine Sekunde später zogen sich die Wolken wieder zusammen, und das Wasser war der trübe Spiegel von ehedem, in dem ich nur mein Gesicht und einen Schatten sehen konnte, der jetzt hinter mir auf der Schwelle der Veranda mit dem Messer in der Hand Gestalt annahm. Ich schoss hoch und rannte los, durch den Garten, zwischen den Bäumen hindurch, mir an den Büschen Gesicht und Hände zerkratzend, bis ich zum Eisentor und auf die Straße gelangte. Ich rannte weiter und blieb erst auf der Carretera de Vallvidrera stehen. Völlig außer Atem, wandte ich mich um und sah, dass das Haus Marlasca wieder am Ende des Gässchens verborgen war, unsichtbar für die Welt.
Mit derselben Straßenbahn fuhr ich zurück, durch eine Stadt, die unter einem eisigen, Laub aufwirbelnden Wind von Minute zu Minute düsterer wurde. Als ich auf der Plaza Palacio ausstieg, hörte ich zwei von den Molen kommende Matrosen von einem Unwetter sprechen, das sich vom Meer her näherte. Tatsächlich ballten sich am Himmel nach und nach rote Wolken zusammen, die wie vergossenes Blut vom Meer kamen. In den Straßen um den Paseo del Born befestigten die Leute Türen und Fenster, die Krämer schlossen vorzeitig die Läden, und die Kinder kamen aus den Häusern, um mit ausgebreiteten Armen gegen den Wind anzurennen und über das Krachen des Donners zu lachen. Die Straßenlampen flackerten, und die Blitze überzogen die Fassaden mit weißem Licht. Ich hastete zum Haus mit dem Turm und stürzte die Treppe hinauf. Hinter den Mauern hörte man das Toben des Gewitters näher kommen.
In der Wohnung war es so kalt, dass ich meinen Atem sehen konnte, als ich in den Korridor trat. In einem Abstellraum hatte ich ein altes Kohlenbecken, das ich erst vier- oder fünfmal benutzt hatte und das ich nun mit alten Zeitungen anzündete. Dasselbe tat ich mit dem Kamin in der Veranda. Dann setzte ich mich vor den Flammen auf den Boden. Meine Hände zitterten, ich wusste nicht, ob vor Kälte oder vor Angst. Während ich darauf wartete, dass es warm wurde, betrachtete ich das Netz aus weißem Licht, das die Blitze an den Himmel zeichneten.
Der Regen ließ lange auf sich warten, dann aber stürzte er in wilden Tropfenvorhängen nieder, die in Minutenschnelle alles Licht erstickten, Dächer und Gassen ertränkten und Wände und Scheiben peitschten. Dank Kohlenbecken und Kaminfeuer erwärmte sich die Wohnung langsam, aber mir war immer noch kalt. Ich ging ins Schlafzimmer, um Decken zu holen und mich einzuwickeln. Ich öffnete den Schrank und begann, unten in den beiden großen Schubladen zu wühlen. Das Kästchen war noch da, ganz hinten versteckt. Ich legte es aufs Bett.
Ich betrachtete die alte Pistole meines Vaters, das Einzige, was mir von ihm geblieben war. Mit dem Zeigefinger streichelte ich den Abzug. Aus dem Munitionsfach im doppelten Boden des Kästchens nahm ich sechs Kugeln und steckte sie in die Trommel. Dann legte ich das Kästchen auf den Nachttisch und ging mit der Pistole und einer Decke in die Veranda zurück. Eingemummt, die Waffe auf der Brust, legte ich mich aufs Sofa und verlor mich in der Betrachtung des Gewitters vor dem Fenster. Ich hörte die Uhr auf dem Kaminsims ticken und brauchte nicht hinzuschauen, um zu wissen, dass bis zum Treffen mit dem Patron im Billardraum des Reitklubs nur noch eine halbe Stunde fehlte.
Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie er durch die menschenleeren, überschwemmten Straßen der Stadt fuhr, stellte ihn mir im Fond seines Wagens vor, in der Dunkelheit glänzten seine goldenen Augen, während sich der Silberengel auf der Kühlerhaube des Rolls-Royce einen Weg durchs Gewitter bahnte. Ich dachte ihn mir reglos wie eine Statue, weder atmend noch lächelnd, ohne jeden Ausdruck. Gleich darauf hörte ich das brennende Holz knacken und hinter den Scheiben den Regen prasseln. Ich schlief mit der Waffe in den Händen und der Gewissheit ein, dass ich nicht zu dem Treffen gehen würde.
Kurz nach Mitternacht öffnete ich die Augen. Das Feuer war fast niedergebrannt, und die Veranda lag in dem tanzenden Dämmerlicht, das die letzte Glut in den Raum warf. Noch immer regnete es in Strömen. Die Pistole war nach wie vor in meinen Händen, jetzt lauwarm. Einige Sekunden blieb ich liegen, ohne zu blinzeln. Ich wusste, dass jemand vor der Tür stand, noch bevor ich das Klopfen hörte.
Ich warf die Decke ab und richtete mich auf. Wieder das Klopfen. Fingerknöchel an der Wohnungstür. Mit der Waffe in der Hand stand ich auf und trat in den Korridor hinaus. Erneutes Klopfen. Ich ging einige Schritte auf die Tür zu und blieb stehen. Ich stellte ihn mir vor, wie er lächelnd auf dem Treppenabsatz stand, wie der Engel am Revers in der Dunkelheit leuchtete. Ich spannte die Pistole. Und abermals wurde angeklopft. Ich wollte das Licht anschalten, doch es gab keinen Strom. Ich ging weiter, bis zur Tür. Den Deckel des Gucklochs zurückzuschieben traute ich mich nicht. Reglos blieb ich stehen, fast ohne zu atmen, und richtete die Waffe auf die Tür.
»Gehen Sie«, rief ich mit kraftloser Stimme.
Da hörte ich auf der anderen Seite ein Weinen und ließ die Waffe sinken. Ich öffnete die Tür zur Dunkelheit, und da stand sie. Ihre Kleider waren durchnässt, und sie zitterte. Ihre Haut war eiskalt. Als sie mich erblickte, wäre sie mir beinahe ohnmächtig in die Arme gefallen. Ich hielt sie fest und drückte sie wortlos an mich. Sie lächelte mich matt an, und als ich die Hand an ihre Wange hob, küsste sie sie mit geschlossenen Augen.
»Verzeih mir«, flüsterte sie.
Cristina öffnete die Augen wieder und schaute mich mit diesem verwundeten, gebrochenen Blick an, der mich selbst in die Hölle verfolgt hätte. Ich lächelte.
»Willkommen zuhause.«
Ich zog sie im Kerzenlicht aus. Befreite sie von den mit schlammigem Wasser vollgesaugten Schuhen, dem durchweichten Kleid, den zerrissenen Strümpfen. Trocknete ihr den Körper und die Haare mit einem Tuch. Sie zitterte immer noch vor Kälte, als ich sie ins Bett legte und mich neben sie, um sie zu umarmen und zu wärmen. So blieben wir lange liegen, schweigend, und hörten dem Regen zu. Mit der Zeit spürte ich, wie ihr Körper unter meinen Händen auftaute, und sie begann tief zu atmen. Ich dachte schon, sie sei eingeschlafen, als ich sie im Halbdunkel sagen hörte:
»Deine Freundin ist zu mir gekommen.«
»Isabella.«
»Sie hat mir erzählt, sie habe meine Briefe vor dir versteckt, aber sie habe es nicht aus Böswilligkeit getan. Sie dachte, es sei zu deinem Besten, und vielleicht hatte sie recht.«
Ich beugte mich über sie und suchte ihre Augen. Ich streichelte ihre Lippen, und sie lächelte schwach.
»Ich dachte, du hättest mich vergessen«, sagte sie.
»Ich hab’s versucht.«
Ihr Gesicht wirkte müde. Die Monate der Trennung hatten Linien in ihre Haut gezeichnet, und in ihrem Blick lagen Niederlage und Leere.
»Wir sind nicht mehr jung«, sagte sie, als lese sie meine Gedanken.
»Wann sind wir denn je jung gewesen, du und ich?«
Ich warf die Decke beiseite und betrachtete ihren nackten Körper auf dem weißen Betttuch. Mit den Fingerspitzen streichelte ich ganz leicht ihren Hals und ihre Brüste, kaum die Haut berührend. Ich zeichnete Kreise auf ihren Bauch und zog die Form des Beckens nach. Ich ließ meine Finger in den fast durchsichtigen Haaren zwischen ihren Schenkeln spielen.
Aus halb geschlossenen Augen beobachtete mich Cristina schweigend.
»Was machen wir nun?«, fragte sie.
Ich beugte mich über sie und küsste sie auf die Lippen. Sie umarmte mich, und so blieben wir liegen, während das Kerzenlicht verflackerte.
»Es wird uns schon etwas einfallen«, murmelte sie.
Kurz nach der Morgendämmerung erwachte ich, allein im Bett. In der Befürchtung, Cristina sei abermals mitten in der Nacht gegangen, sprang ich hoch. Da sah ich ihre Kleider auf dem Stuhl und die Schuhe darunter und atmete tief durch. Ich fand sie in der Veranda in eine Decke gehüllt auf dem Boden vor dem Kamin sitzend, wo ein glühendes Stück Holz einen blauen Feuerschein verbreitete. Ich setzte mich neben sie und küsste sie auf den Hals.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagte sie, ins Feuer starrend.
»Warum hast du mich denn nicht geweckt?«
»Ich habe mich nicht getraut. Du hast ausgesehen, als würdest du zum ersten Mal seit Monaten richtig schlafen. Also habe ich deine Wohnung ausgekundschaftet.«
»Und?«
»Diese Räume sind wie verhext vor Traurigkeit. Warum zündest du sie nicht an?«
»Und wo sollen wir dann wohnen?«
»Wir?«
»Warum nicht?«
»Ich dachte, du schreibst keine Märchen mehr.«
»Das ist wie Rad fahren. Hat man es einmal gelernt…«
Cristina schaute mich lange an.
»Was ist in dem Zimmer am Ende des Flurs?«
»Nichts. Alter Trödel.«
»Es ist abgeschlossen.«
»Willst du es sehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist nur eine Wohnung, Cristina. Ein Haufen Steine und Erinnerungen. Sonst nichts.«
Sie nickte mit wenig Überzeugung.
»Warum gehen wir nicht fort?«, fragte sie.
»Wohin?«
»Weit weg.«
Ich musste unwillkürlich lächeln, aber sie blieb ernst.
»Wohin?«, fragte ich.
»Irgendwohin, wo niemand weiß, wer wir sind, und wo das den Leuten auch egal ist.«
»Das willst du?«, fragte ich.
»Du nicht?«
Ich zögerte einen Augenblick.
»Und Pedro?«
Ich verschluckte mich fast an dem Namen.
Sie schüttelte die Decke von ihren Schultern und schaute mich herausfordernd an.
»Brauchst du seine Erlaubnis, um mit mir ins Bett zu gehen?«
Ich biss mir auf die Zunge. Cristina schaute mich mit Tränen in den Augen an.
»Entschuldige«, flüsterte sie. »Ich habe kein Recht, so zu sprechen.«
Ich nahm die Decke vom Boden und versuchte, sie ihr über die Schultern zu legen, aber sie drehte sich abweisend weg.
»Pedro hat mich verlassen«, sagte sie mit gebrochener Stimme. »Gestern ist er ins Ritz gezogen, um zu warten, um nicht dabei zu sein, wenn ich gehe. Er sagte, er wisse, dass ich ihn nicht liebe, dass ich ihn aus Dankbarkeit oder aus Mitleid geheiratet habe. Er sagte, er wolle mein Mitleid nicht, jeder Tag, den ich bei ihm verbringe und vorgebe, ihn zu lieben, tue ihm weh. Er sagte, was ich auch tun würde, er werde mich immer lieben und deshalb wolle er mich nicht mehr sehen.«
Ihre Hände zitterten.
»Er hat mich von ganzem Herzen geliebt, und das Einzige, was ich zustande gebracht habe, war, ihn unglücklich zu machen.«
Sie schloss die Augen, und ihr Gesicht verzog sich zu einer schmerzlichen Grimasse. Einen Moment später ließ sie ein tiefes Wimmern hören und begann, mit den Fäusten auf ihr Gesicht und ihren Körper einzuschlagen. Ich nahm sie rasch in die Arme und hielt sie fest, damit sie sich nicht mehr bewegen konnte. Sie wand sich und schrie. Ich drückte sie zu Boden und hielt sie dort fest. Langsam ergab sie sich, erschöpft, das Gesicht tränenüberströmt, die Augen gerötet. So verharrten wir fast eine halbe Stunde, bis sich ihr Körper allmählich entspannte. Sie fiel in ein langes Schweigen. Ich deckte sie zu und umarmte sie, ohne ihr meine eigenen Tränen zu zeigen.
»Wir werden weit weg gehen«, raunte ich ihr ins Ohr, ohne zu wissen, ob sie mich hören oder verstehen konnte. »Irgendwohin, wo niemand weiß, wer wir sind, und wo es den Leuten egal ist. Ich verspreche es dir.«
Cristina wandte mir den Kopf zu. Ihr Ausdruck war leer, als hätte man ihr die Seele mit dem Hammer zerschlagen. Ich umarmte sie fest und küsste sie auf die Stirn. Draußen goss es noch immer, und in diesem blassgrauen Morgenlicht gefangen, dachte ich zum ersten Mal: Wir gehen unter.
Noch an diesem Morgen gab ich das Projekt für den Patron auf. Während Cristina schlief, ging ich in mein Arbeitszimmer hinauf und verstaute die Mappe mit allen schon geschriebenen Seiten, mit den Notizen und Entwürfen in einer alten Truhe an der Wand. In einem ersten Impuls hatte ich alles verbrennen wollen, doch dann verließ mich der Mut. Mein ganzes Leben lang hatte ich die Seiten, die ich hervorbrachte, als einen Teil von mir empfunden. Normale Menschen bringen Kinder zur Welt, unsereiner Bücher. Wir Schriftsteller sind dazu verdammt, ihnen unser ganzes Leben zu widmen, obwohl sie es uns fast nie danken. Wir sind dazu verdammt, auf ihren Seiten zu sterben, ja manchmal ohnmächtig hinzunehmen, dass sie uns tatsächlich ums Leben bringen. Von all den seltsamen Geschöpfen aus Papier und Tinte, die ich auf diese elende Welt gebracht hatte, war dieses Auftragswerk als Gegenleistung für die Versprechungen des Patrons das groteskeste. Es gab nichts auf diesen Seiten, was etwas anderes als das Feuer verdient hätte, und doch blieben sie Blut von meinem Blut, und ich brachte es nicht fertig, sie zu vernichten. Ich begrub sie ganz unten in dieser Truhe und verließ betrübt das Arbeitszimmer. Beinahe schämte ich mich über meine Feigheit und die diffusen Vatergefühle, die mir dieses finstere Manuskript einflößte. Wahrscheinlich hätte der Patron die Ironie der Lage zu schätzen gewusst. Mir verursachte sie nichts als Übelkeit.
Cristina schlief bis weit in den Nachmittag hinein. Das nutzte ich, um in einem Milchgeschäft neben dem Markt etwas Milch, Brot und Käse zu kaufen. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, aber die Straßen waren eine einzige Pfütze, und die Feuchtigkeit in der Luft war zu greifen wie kalter Staub und drang durch die Kleider bis in die Knochen. Während ich im Laden wartete, bis ich an die Reihe kam, hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Als ich wieder auf der Straße war und den Paseo del Born überquerte, drehte ich mich um und sah, dass mir ein knapp fünfjähriger Junge folgte. Ich blieb stehen und schaute ihn an. Er blieb ebenfalls stehen und hielt meinem Blick stand.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte ich. »Komm her.«
Er näherte sich ein paar Schritte bis auf wenige Meter. Seine Haut war blass, fast bläulich, als hätte sie nie das Sonnenlicht gesehen. Er war schwarz gekleidet, trug glänzende neue Lackschuhe und hatte dunkle Augen mit so großen Pupillen, dass kaum das Weiße zu sehen war.
»Wie heißt du?«, fragte ich.
Er lächelte und zeigte mit dem Finger auf mich. Ich wollte einen Schritt auf ihn zu tun, aber er lief davon und verschwand am Ende des Paseo del Born.
Wieder zuhause, sah ich, dass ein Brief in der Tür steckte. Das rote Lacksiegel mit dem Engel war noch warm. Ich schaute mich nach links und rechts um, sah aber niemanden auf der Straße. Ich ging in die Vorhalle und schloss die Haustür doppelt ab. Noch bevor ich hinaufging, riss ich den Umschlag auf.
Lieber Freund,
ich bedaure zutiefst, dass Sie gestern Abend nicht zu unserem Treffen kommen konnten. Ich hoffe, es geht Ihnen gut und es war weder ein Notfall noch ein Missgeschick für ihr Fernbleiben verantwortlich. Es ist schade, dass ich diesmal nicht in den Genuss Ihrer Gesellschaft kommen konnte, aber ich hoffe darauf und wünsche, dass sich glücklich löst, was immer Sie daran gehindert hat, mich zu treffen, und dass nächstes Mal die Voraussetzungen für unsere Begegnung günstiger sind. Ich muss für einige Tage die Stadt verlassen, aber sobald ich zurück bin, werde ich mich bei Ihnen melden. In der Erwartung, Neues von Ihnen und Ihren Fortschritten bei unserem gemeinsamen Projekt zu erfahren, grüßt Sie wie immer herzlich Ihr Freund
Ich zerknüllte den Brief in der Faust und steckte das Knäuel in die Tasche. Leise betrat ich die Wohnung und drückte vorsichtig die Tür ins Schloss. Ich spähte ins Schlafzimmer und sah, dass Cristina noch schlief. Ich ging in die Küche und bereitete Kaffee und ein kleines Frühstück. Nach wenigen Minuten hörte ich Cristinas Schritte. In einem alten Pullover von mir, der ihr bis zur Mitte der Schenkel reichte, stand sie auf der Schwelle und schaute mir zu. Ihre Haare waren zerzaust, die Augen geschwollen. Auf den Lippen und Wangenknochen hatten ihre Schläge dunkle Flecken hinterlassen, als hätte ich sie kräftig geohrfeigt. Sie wich meinem Blick aus.
»Entschuldige«, murmelte sie.
»Hast du Hunger?«, fragte ich.
Ich ignorierte ihr Kopfschütteln und lud sie ein, sich zu setzen, und stellte eine Tasse Milchkaffee mit Zucker sowie eine Scheibe frischgebackenes Brot mit Käse und ein wenig Schinken vor sie hin. Sie machte keinerlei Anstalten, etwas anzurühren.
»Nur einen Bissen«, sagte ich.
Sie spielte lustlos mit dem Käse herum und lächelte schwach.
»Gut«, sagte sie.
»Wenn du ihn probierst, wird er dir noch besser gefallen.«
Wir aßen schweigend. Zu meiner Überraschung leerte Cristina ihren Teller zur Hälfte. Dann verbarg sie sich hinter der Kaffeetasse und schaute mich flüchtig an.
»Wenn du willst, gehe ich noch heute«, sagte sie schließlich. »Mach dir keine Sorgen — Pedro hat mir Geld gegeben, und…«
»Du sollst nirgendwo hingehen. Du sollst nie wieder weggehen, hörst du?«
»Ich bin keine gute Gesellschaft, David.«
»Dann sind wir ja schon zwei.«
»Hast du das ernst gemeint? Weit weg zu gehen?«
Ich nickte.
»Mein Vater hat immer gesagt, das Leben gibt niemandem eine zweite Chance.«
»Es gewährt sie nur denen, denen es nie eine erste gegeben hat. Eigentlich sind es Chancen aus zweiter Hand, die jemand nicht wahrzunehmen verstand, aber sie sind besser als gar nichts.«
Sie lächelte schwach.
»Komm mit spazieren«, sagte sie unversehens.
»Wo willst du denn hin?«
»Mich von Barcelona verabschieden.«
Gegen Abend brach durch die Wolkendecke, Überbleibsel des Gewitters, die Sonne hindurch. Die regenglänzenden Straßen wurden zu bernsteinfarbenen Spiegeln, auf denen die Passanten ihrer Wege gingen. Ich erinnere mich, dass wir zum Anfang der Ramblas spazierten, wo das Kolumbus-Denkmal aus dem Dunst ragte. Wir schritten schweigsam dahin, betrachteten die Fassaden und die Menschenmenge, als wären sie Luftspiegelungen, als wäre die Stadt bereits verlassen und vergessen. Nie war mir Barcelona so schön und so traurig erschienen wie an diesem Abend. Als es dunkel wurde, gingen wir zu Sempere und Söhne und stellten uns auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einen Hauseingang, wo uns niemand sehen konnte. Das Schaufenster der alten Buchhandlung warf einen schwachen Schimmer auf die feuchtglitzernden Pflastersteine. Im Inneren sah man Isabella auf einer Leiter Bücher ins oberste Regalfach einordnen, während Sempere junior hinter dem Ladentisch vorgab, ein Geschäftsbuch durchzugehen, und dabei zu ihren Knöcheln hinaufschielte. Señor Sempere, alt und müde in einer Ecke sitzend, beobachtete sie mit traurigem Lächeln.
»Fast alles Gute in meinem Leben ist mir an diesem Ort begegnet«, sagte ich. »Ich mag dort nicht auf Wiedersehen sagen.«
Als wir zum Haus mit dem Turm zurückkamen, war es schon dunkel. In der Wohnung empfing uns die Wärme des Feuers, das ich hatte brennen lassen. Cristina ging durch den Korridor voran und zog sich wortlos aus, eine Kleiderspur hinter sich zurücklassend. Ich legte mich neben sie aufs Bett, wo sie mich erwartete, und ließ sie meine Hände führen. Während ich sie streichelte, spannten sich unter der Haut ihre Muskeln. In ihren Augen lag nichts Sanftes, sondern nur Dringlichkeit und ein Verlangen nach Wärme. Ich verlor mich in ihrem Körper, fiel hungrig über sie her und spürte dabei ihre Nägel in meiner Haut. Sie stöhnte vor Schmerz und Leben, als bekäme sie keine Luft. Schließlich ließen wir erschöpft und schweißbedeckt voneinander ab. Cristina legte den Kopf an meine Schulter und suchte meinen Blick.
»Deine Freundin hat mir gesagt, du seist in Schwierigkeiten.«
»Isabella?«
»Sie macht sich große Sorgen um dich.«
»Isabella gefällt sich manchmal in der Rolle meiner Mutter.«
»Ich denke nicht, dass das der Punkt ist.«
Ich mied ihre Augen.
»Sie hat mir erzählt, du arbeitest an einem neuen Buch, einem Auftrag für einen französischen Verleger. Sie nennt ihn Patron. Sie sagt, er zahle dir ein Vermögen, aber du würdest dich schuldig fühlen, weil du das Geld angenommen hast. Sie sagt, du hättest Angst vor diesem Mann, dem Patron, und das Ganze sei ziemlich undurchsichtig.«
Ich stöhnte gereizt.
»Gibt es irgendetwas, was dir Isabella nicht erzählt hat?«
»Alles andere geht nur Isabella und mich etwas an«. Sie zwinkerte mir zu. »Hat sie etwa gelogen?«
»Sie hat nicht gelogen, sie hat spekuliert.«
»Und wovon handelt das Buch?«
»Es ist ein Kindermärchen.«
»Isabella war sicher, dass du das sagen würdest.«
»Wenn dir Isabella schon alle Antworten gegeben hat, wozu fragst du dann?«
Sie schaute mich ernst an.
»Zu deiner Beruhigung, und zu der von Isabella, ich habe das Buch aufgegeben. C’est fini«, versicherte ich.
»Wann?«
»Heute Morgen, als du noch geschlafen hast.«
Skeptisch runzelte sie die Stirn.
»Und dieser Mann, der Patron, weiß er es?«
»Ich habe nicht mit ihm gesprochen. Aber vermutlich kann er es sich denken. Und wenn nicht, wird er es sehr bald erfahren.«
»Wirst du ihm dann das Geld zurückgeben müssen?«
»Ich glaube, das Geld interessiert ihn keinen Deut.«
Cristina verfiel in ein langes Schweigen.
»Darf ich es lesen?«, fragte sie dann.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Es ist ein Entwurf ohne Hand und Fuß. Eine Ansammlung von Gedanken und Notizen, lose Fragmente. Nichts Lesbares. Es würde dich langweilen.«
»Ich würde es trotzdem gern lesen.«
»Warum?«
»Weil du es geschrieben hast. Pedro sagt immer, die einzige Art, einen Schriftsteller wirklich kennenzulernen, sei der Tintenspur zu folgen, die er hinterlässt. Der Mensch, den man zu sehen glaube, sei nur eine Hülle, und die Wahrheit stecke immer in der Dichtung.«
»Das muss er auf einer Ansichtskarte gelesen haben.«
»Er hat es aus einem deiner Bücher. Ich weiß es, weil ich es auch gelesen habe.«
»Das Plagiat erhebt es nicht über den Rang einer Albernheit.«
»Ich finde, es hat Gehalt.«
»Dann muss es wohl stimmen.«
»Darf ich es also lesen?«
»Nein.«
Am Küchentisch, einander gegenüber, aßen wir am Abend, was noch an Brot und Käse vom Nachmittag da war, und sahen uns ab und zu an. Cristina kaute ohne Appetit und prüfte jeden Bissen Brot im Licht der Öllampe, bevor sie ihn zum Mund führte.
»Es gibt einen Zug, der morgen Mittag vom Francia-Bahnhof aus nach Paris fährt«, sagte sie. »Ist das zu bald?«
In meinem Kopf wurde ich das Bild nicht los, dass Andreas Corelli die Treppe heraufstieg und jeden Moment an die Tür klopfte.
»Vermutlich nicht.«
»Ich kenne ein kleines Hotel gegenüber dem Jardin du Luxembourg, das monateweise Zimmer vermietet. Es ist ein wenig teuer, aber…«
Ich mochte sie nicht fragen, woher sie das Hotel kannte.
»Der Preis spielt keine Rolle, aber ich spreche kein Französisch«, sagte ich.
»Aber ich.«
Ich senkte den Blick.
»Schau mir in die Augen, David.«
Widerwillig blickte ich auf.
»Wenn ich lieber gehen soll…«
Ich schüttelte heftig den Kopf. Sie nahm meine Hand und führte sie an die Lippen.
»Es wird alles gut, du wirst schon sehen«, sagte sie. »Es wird das erste Mal in meinem Leben sein, dass alles gut wird.«
Ich schaute sie an, eine gebrochene Frau im Halbdunkel mit Tränen in den Augen, und wünschte mir nichts sehnlicher, als ihr endlich zu geben, was sie nie gehabt hatte.
Unter zwei Decken legten wir uns in der Veranda aufs Sofa und schauten in die Glut im Kamin. Während ich Cristinas Haar streichelte, schlief ich mit dem Gedanken ein, dass dies die letzte Nacht in diesem Haus war, dem Gefängnis meiner Jugend. Ich träumte, ich laufe durch die Straßen eines Barcelona voller Uhren, deren Zeiger sich entgegen dem Uhrzeigersinn drehten. Gassen und Alleen bogen und krümmten sich wie Tunnel mit eigenem Willen, wenn ich sie passierte, und bildeten ein lebendes Labyrinth, das alle meine Versuche weiterzukommen zu verhöhnen schien. Schließlich gelang es mir unter einer Mittagssonne, die vom Himmel herunterbrannte wie eine glühende Metallkugel, den Francia-Bahnhof zu erreichen, wo ich zum Bahnsteig hastete. Dort glitt eben der Zug hinaus. Ich rannte ihm hinterher, aber er beschleunigte rasch, und obwohl ich alles gab, konnte ich ihn nur noch mit den Fingerspitzen berühren. Ich rannte weiter, bis ich keinen Atem mehr hatte und am Ende des Bahnsteigs ins Leere fiel. Als ich aufschaute, war es endgültig zu spät. Der Zug entfernte sich immer mehr, und Cristinas Gesicht schaute aus dem hintersten Fenster zu mir zurück.
Ich öffnete die Augen und wusste sogleich, dass sie nicht da war. Das Feuer war zu einem Häufchen Asche geschrumpft, in dem es kaum noch Glut gab. Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Es wurde Tag. Ich presste das Gesicht an die Scheibe, draußen sah ich eine flimmernde Helligkeit. Dann ging ich zur Wendeltreppe, die in den Turm hinaufführte. Kupferglanz ergoss sich über die Stufen. Langsam stieg ich hinauf. Auf der Schwelle zum Arbeitszimmer blieb ich stehen. Cristina saß mit dem Rücken zu mir auf dem Boden. Die Truhe an der Wand stand offen. Sie hatte die Mappe mit dem Manuskript für den Patron in der Hand und wollte eben die Schleife lösen.
Als sie meine Schritte hörte, hielt sie inne.
»Was machst du hier?«
Ich versuchte, die Beunruhigung in meiner Stimme zu verbergen.
Lächelnd wandte sie sich um.
»Herumschnüffeln.«
Sie folgte meinem Blick auf die Mappe in ihren Händen und machte ein schelmisches Gesicht.
»Was ist da drin?«
»Nichts. Notizen. Aufzeichnungen. Nichts von Interesse…«
»Lügner. Ich gehe jede Wette ein, dass dies das Buch ist, an dem du gearbeitet hast.«
Sie nestelte weiter an der Schleife herum. »Ich sterbe fast vor Lust, es zu lesen…«
»Mir wäre es lieber, du würdest es nicht tun«, sagte ich so gelassen wie möglich.
Sie runzelte die Stirn. Ich nutzte den Augenblick, um vor ihr niederzuknien und ihr die Mappe sanft zu entwinden.
»Was ist los, David?«
»Nichts, gar nichts ist los«, sagte ich mit einem dümmlichen Lächeln auf den Lippen.
Ich band die Schleife wieder fest und legte die Mappe in die Truhe.
»Willst du sie nicht noch abschließen?«, fragte Cristina.
Ich drehte mich um und wollte mich entschuldigen, aber da war sie bereits treppab verschwunden. Mit einem Seufzer klappte ich den Deckel über der Truhe zu.
Sie war im Schlafzimmer. Einen Moment lang sah sie mich an wie einen Fremden. Ich blieb in der Tür stehen.
»Entschuldige«, begann ich.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich hätte die Nase nicht in Dinge stecken sollen, die mich nichts angehen.«
»Das ist es nicht.«
Sie schenkte mir ein eisiges Lächeln und zerschnitt mit einer Handbewegung die Luft.
»Es hat keine Bedeutung«, sagte sie.
Ich nickte und verschob die Fortsetzung auf ein andermal.
»Bald öffnen im Francia-Bahnhof die Schalter«, sagte ich. »Ich dachte, ich geh schon mal hin, um rechtzeitig dort zu sein, und kaufe die Fahrkarten für heute Mittag. Danach gehe ich zur Bank und hebe Geld ab.«
Cristina nickte.
»Sehr schön.«
»Warum packst du nicht inzwischen eine Tasche mit etwas zum Anziehen? Ich bin in höchstens zwei Stunden zurück.«
Sie lächelte schwach.
»Ich werde da sein.«
Ich trat zu ihr und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände.
»Morgen Abend sind wir in Paris«, sagte ich, küsste sie auf die Stirn und ging.
Der Boden der Halle des Francia-Bahnhofs lag vor mir wie ein Spiegel, der das Bild der großen Uhr an der Decke wiederholte. Die Zeiger standen auf sieben Uhr fünfunddreißig, aber die Schalter waren noch immer geschlossen. Ein mit grobem Besen und geziertem Wesen ausgestatteter Putzer wienerte den Boden. Dabei sang er ein Lied und wiegte, soweit es ihm sein Hinkebein erlaubte, mit einer gewissen Grazie die Hüften. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, schaute ich ihm zu. Er war ein winziges Männchen, das die Welt in sich selbst zusammengefaltet zu haben schien, bis ihm nur noch sein Lächeln geblieben war — und das Vergnügen, dieses Stück Boden sauber zu halten, als wäre es die Sixtinische Kapelle. Sonst war in der Halle niemand zu sehen. Schließlich bemerkte er, dass er beobachtet wurde. Als ihn die fünfte Durchquerung an meinem Observationsposten auf einer der Holzbänke am Rande der Halle vorbeiführte, blieb er stehen, stützte sich mit beiden Händen auf den Mopp und schaute mich unverblümt an.
»Sie machen nie zur angekündigten Zeit auf«, erklärte er mit einer Handbewegung zu den Schaltern hin.
»Warum hängen sie dann ein Schild auf, dass sie um sieben öffnen?«
Das Männchen zuckte die Schultern und seufzte philosophisch.
»Na ja, sie machen ja auch einen Fahrplan für die Züge, und in den fünfzehn Jahren, die ich hier bin, habe ich keinen einzigen pünktlich ankommen oder abfahren sehen.«
Dann setzte er seine gründliche Reinigungsarbeit fort, und eine Viertelstunde später ging das Schalterfenster auf. Ich stellte mich davor und lächelte den Beamten an.
»Ich dachte, sie öffnen um sieben«, sagte ich.
»Das steht auf dem Schild. Was wollen Sie?«
»Zwei Fahrkarten erster Klasse nach Paris für den Mittagszug.«
»Heute?«
»Wenn es nicht zu viel verlangt ist.«
Für die Ausfertigung der Fahrkarten benötigte er nahezu fünfzehn Minuten. Als das Meisterwerk vollendet war, warf er es lustlos vor mich hin.
»Um eins. Bahnsteig vier. Kommen Sie rechtzeitig.«
Ich zahlte und wurde, da ich mich nicht gleich zurückzog, mit einem feindseligforschenden Blick bedacht.
»Noch was?«
Lächelnd schüttelte ich den Kopf, was er nutzte, um mir das Schalterfensterchen vor der Nase zuzuknallen.
Ich ging durch die makellos glänzende Halle auf den Ausgang zu. Der Putzer grüßte mich aus der Ferne mit einem »Bon voyage«.
Der Hauptsitz der Bank Hispano Colonial in der Calle Fontanella erinnerte an einen Tempel. Ein hoher Säulengang führte zu einer statuengesäumten Halle, in der ganz hinten eine Reihe Schalter altarförmig angeordnet waren. Zu beiden Seiten, wie Kapellen und Beichtstühle, standen Eichentische mit majestätischen Sesseln, an denen eine kleine Armee tadellos gekleideter Angestellter mit herzlichem Dauerlächeln Kunden empfing. Ich hob viertausend Francs in bar ab und nahm die Anweisungen entgegen, wie ich in der Pariser Filiale der Bank, Rue de Rennes, Ecke Boulevard Raspail, in der Nähe des von Cristina erwähnten Hotels, Mittel abheben konnte. Mit diesem kleinen Vermögen in der Tasche verabschiedete ich mich, ohne der Warnung des Bevollmächtigten Beachtung zu schenken, wie unvorsichtig es sei, mit einer solchen Menge Bargeld durch die Straßen zu gehen.
Die Sonne stieg einen Himmel hinauf, der so blau war wie die Farbe des Glücks, und eine frische Brise trug den Meeresgeruch herbei. Ich ging leichten Schrittes, als hätte ich eine ungeheure Last abgeworfen, und glaubte schon, die Stadt habe beschlossen, mich ohne Groll zu entlassen. Auf dem Paseo del Born kaufte ich für Cristina weiße Rosen mit einer roten Schleife. Im Treppenhaus nahm ich zwei Stufen auf einmal, mit einem Lächeln auf den Lippen und der Gewissheit, dass dies der erste Tag eines schon für immer verloren geglaubten Lebens war. Als ich aufschließen wollte, gab die Tür nach sie war angelehnt.
Ich stieß sie ganz auf und trat hinein. In der Wohnung herrschte vollkommene Stille.
»Cristina?«
Ich legte die Blumen auf die Kommode und schaute ins Schlafzimmer hinein. Cristina war nicht da. Auch in der Veranda kein Zeichen von ihr. Am Fuß der Treppe zum Arbeitszimmer rief ich hinauf.
»Cristina?«
Nur das Echo meiner Stimme war zu hören. Mit einem Schulterzucken schaute ich auf die Uhr in einer der Vitrinen im Bücherregal der Veranda. Fast neun Uhr. Vermutlich war sie aus dem Haus gegangen, um irgendetwas zu besorgen, und verwöhnt von ihrem Leben in Pedralbes, wo es die Aufgabe der Bediensteten war, sich mit Türen und Schlössern herumzuschlagen, hatte sie die Tür offen gelassen. Ich legte mich in der Veranda aufs Sofa und wartete. Die reine, strahlende Wintersonne schien herein und lud dazu ein, sich von ihr liebkosen zu lassen. Ich schloss die Augen und versuchte, mir zu überlegen, was ich mitnehmen wollte. Ein halbes Leben lang war ich von all diesen Dingen umgeben gewesen, und jetzt, im Moment des Abschieds, war ich außerstande, eine knappe Liste derjenigen zusammenzustellen, die ich für unentbehrlich hielt. Ohne es recht zu merken, sank ich im warmen Sonnenlicht und mit zarten Hoffnungen in einen sanften Schlaf.
Als ich erwachte und auf die Uhr schaute, war es halb eins am Mittag. Nur noch eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Zuges. Ich sprang auf und lief zum Schlafzimmer.
»Cristina?«
Diesmal suchte ich in der ganzen Wohnung, Zimmer für Zimmer, bis ich zum Arbeitszimmer gelangte. Niemand war da, aber ich glaubte einen seltsamen Geruch wahrzunehmen. Phosphor. Das Licht vom Fenster fing ein schwaches Netz blauer, in der Luft hängender Rauchfasern ein. Auf dem Fußboden des Arbeitszimmers lagen zwei heruntergebrannte Streichhölzer. Ich verspürte einen Stich der Besorgnis, kniete vor der Truhe nieder und öffnete den Deckel. Ich atmete erleichtert auf — die Mappe mit dem Manuskript war noch da. Ich wollte die Truhe schon wieder schließen, als ich sah, dass die Schleife entknotet war. Ich ging die Mappe durch, vermisste aber nichts. Diesmal verschnürte ich sie mit einem doppelten Knoten und legte sie zurück. Ich klappte den Deckel zu und ging in die Wohnung hinunter. Dort setzte ich mich in die Veranda, mit Blick auf den langen Korridor, der zur Eingangstür führte, und wartete. Die Minuten zogen mit grenzenloser Grausamkeit vorüber.
Langsam brach über mich das Bewusstsein dessen herein, was geschehen war, und der Wunsch, zu glauben und zu vertrauen, wurde zu Calle und Bitterkeit. Bald hörte ich die Glocken von Santa María del Mar zwei Uhr schlagen. Längst war der Zug nach Paris abgefahren und Cristina nicht zurückgekommen. Ich begriff, dass sie gegangen war, dass die kurzen gemeinsamen Stunden nur eine Illusion gewesen waren. Vor den Fenstern sah ich den strahlenden Tag, nun nicht mehr in der Farbe des Glücks, und ich stellte mir vor, wie sie wieder in der Villa Helius war und in Pedro Vidals Armen Zuflucht suchte. Ich spürte, wie mir der Groll langsam das Blut vergiftete, und lachte über mich und meine absurden Erwartungen. Unfähig, einen einzigen Schritt zu tun, sah ich zu, wie die Stadt in der Dämmerung dunkler und dunkler und die Schatten auf dem Boden der Veranda länger wurden. Dann stand ich auf und trat ans Fenster. Ich öffnete es weit und schaute hinaus. Ein senkrechter Abgrund tat sich vor mir auf. Genügend, um mir die Knochen zu zerschmettern und sie in Dolche zu verwandeln, die meinen Körper durchbohrten, sodass er in einer Blutlache auf dem Hof verlöschte. Ich fragte mich, ob der Schmerz so grässlich wäre, wie ich ihn mir vorstellte, oder ob die Wucht des Aufpralls die Sinne betäuben und der Tod schnell eintreten würde.
Da hörte ich die Schläge an der Tür. Einen, zwei, drei. Ein beharrliches Klopfen. Noch von meinen Gedanken benommen, drehte ich mich um. Erneutes Klopfen. Jemand stand unten vor der Tür. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und ich stürzte die Treppe hinunter, in der festen Überzeugung, Cristina sei zurückgekommen, unterwegs sei irgendetwas vorgefallen und habe sie aufgehalten, mein schäbiges, verwerfliches Misstrauen sei ungerechtfertigt gewesen, allem zum Trotz sei das nun der erste Tag des verheißenen Lebens. Ich lief zur Tür und riss sie auf. Da stand sie, im Halbdunkel, weiß gekleidet. Ich wollte sie umarmen, aber da sah ich ihr tränenüberströmtes Gesicht und musste begreifen, dass diese Frau nicht Cristina war.
»David«, flüsterte Isabella mit erstickter Stimme, »Señor Sempere ist gestorben.«