Als wir zur Buchhandlung kamen, war es schon dunkel. Vor der Tür von Sempere und Söhne hatten sich rund hundert Menschen mit Kerzen versammelt, und ein goldener Lichtschein durchbrach das Blau der Nacht. Einige weinten still, andere schauten sich stumm an. Ein paar Gesichter kannte ich, Freunde und Kunden von Sempere, Leute, die er mit Büchern beschenkt oder zum Lesen gebracht hatte. Je weiter sich die Nachricht im Viertel verbreitete, desto mehr Kunden und Freunde erschienen, die nicht glauben konnten, dass Señor Sempere nicht mehr da war.
In der Buchhandlung brannte Licht, und man sah Don Gustavo Barceló einen jungen Mann umarmen, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Erst als Isabella meine Hand drückte und mich in die Buchhandlung führte, erkannte ich Semperes Sohn. Barceló empfing mich mit einem niedergeschlagenen Lächeln. Der Buchhändlersohn weinte in seinen Armen, und ich brachte nicht den Mut auf, zu ihm zu treten und ihn zu begrüßen. Isabella legte ihm die Hand auf die Schulter. Sempere junior wandte sich um, sodass ich sein verhärmtes Gesicht sehen konnte. Sie führte ihn zu einem Stuhl, auf den er sich wie eine ausgediente Puppe fallen ließ. Isabella kniete sich neben ihn und umarmte ihn. Nie war ich auf jemanden so stolz gewesen wie in diesem Augenblick auf Isabella, die nicht mehr wie ein junges Mädchen wirkte, sondern wie eine Frau, die stärker und weiser war als alle Übrigen.
Barceló trat zu mir und reichte mir seine zitternde Hand.
»Es ist vor zwei Stunden geschehen«, sagte er heiser. »Er war einen Moment allein im Laden, und als sein Sohn zurückkam… Er soll sich mit jemandem gestritten haben… Ich weiß auch nicht. Der Doktor sagt, es sei das Herz gewesen.«
»Wo ist er?«, fragte ich mit Mühe.
Barceló deutete mit dem Kopf auf die Tür zum Hinterzimmer. Vor dem Eintreten atmete ich tief durch und ballte die Hände zur Faust. Er lag auf einem Tisch, die Hände auf dem Bauch gekreuzt. Seine Haut war weiß wie Papier, und die Gesichtszüge wirkten eingefallen, als wären sie aus Karton. Seine Augen waren noch geöffnet. Mir blieb die Luft weg, und etwas schien an meine Magenwände zu hämmern. Ich stützte mich auf den Tisch und atmete durch. Dann beugte ich mich über ihn und schloss ihm die Augen. Ich streichelte seine schon kalte Wange und sah mich um, betrachtete diese Welt aus Buchseiten und Träumen, die er geschaffen hatte. Ich stellte mir vor, er wäre noch da, inmitten seiner Bücher und Freunde. Als ich Schritte hinter mir hörte, wandte ich mich um und sah Barceló in Begleitung zweier Männer in Schwarz mit düsterem Gesicht, an deren Beruf kein Zweifel bestand.
»Diese Herren sind vom Bestattungsinstitut«, sagte Barceló.
Die beiden erwiderten seinen Gruß mit einem Nicken und professionellem Ernst und traten dann zum Leichnam, um ihn zu untersuchen. Einer von ihnen, ein großer hagerer Mann, nahm eine umfassende Einschätzung vor und sagte etwas zu seinem Kollegen, der die Angaben mit einem Nicken in ein Notizbuch eintrug.
»Die Beerdigung soll morgen Nachmittag auf dem Ostfriedhof stattfinden«, sagte Barceló. »Ich habe das Ganze lieber gleich selber in die Hand genommen — der Sohn ist am Boden zerstört, wie Sie sehen. Und je eher solche Dinge…«
»Danke, Don Gustavo.«
Der Buchhändler warf einen Blick auf seinen alten Freund und lächelte mit Tränen in den Augen.
»Und was sollen wir jetzt tun, nachdem uns der Alte allein gelassen hat?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht…«
Einer der Angestellten des Bestattungsinstituts räusperte sich diskret, um sich Gehör zu verschaffen.
»Wenn Sie einverstanden sind, holen mein Kollege und ich jetzt den Sarg und…«
»Tun Sie, was Sie tun müssen«, unterbrach ich ihn.
»Haben Sie hinsichtlich der Letzten Dinge eine bestimmte Vorstellung?«
Verständnislos sah ich ihn an.
»War der Verstorbene gläubig?«
»Señor Sempere glaubte an die Bücher«, sagte ich.
»Verstehe.«
Er zog sich zurück.
Ich schaute Barceló an, der die Achseln zuckte.
»Lassen Sie, ich werde den Sohn fragen«, sagte ich.
Ich ging nach vorn in die Buchhandlung. Isabella, die noch immer neben dem jungen Sempere kniete, warf mir einen fragenden Blick zu, stand auf und trat zu mir. Ich legte ihr flüsternd das Problem dar.
»Señor Sempere war ein guter Freund des Pfarrers von nebenan, von der Kirche Santa Ana. Man munkelt, in der Erzdiözese wollen sie den Pfarrer seit Jahren rauswerfen, weil er zu aufsässig ist, aber weil er schon so alt ist, haben sie beschlossen zu warten, bis er stirbt, sie kommen sowieso nicht gegen ihn an.«
»Das ist unser Mann«, sagte ich.
»Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Isabella.
Ich deutete auf den jungen Sempere.
»Wie geht es ihm?«
Isabella schaute mir in die Augen.
»Und Ihnen?«
»Mir geht es gut«, schwindelte ich. »Wer wird diese Nacht bei ihm bleiben?«
»Ich«, sagte sie ohne jedes Zögern.
Ich nickte und küsste sie auf die Wange, bevor ich wieder nach hinten ging. Dort hatte sich Barceló vor seinen alten Freund gesetzt, und während die beiden Bestatter Maß nahmen und nach Anzug und Schuhen fragten, schenkte er zwei Gläser Brandy ein und reichte mir eines. Ich setzte mich zu ihm.
»Auf das Wohl des lieben Sempere, der uns allen das Lesen, wenn nicht das Leben beigebracht hat«, sagte er.
Wir stießen an und tranken schweigend und blieben dort sitzen, bis die Männer mit dem Sarg und den Kleidern kamen, in denen Sempere beerdigt werden sollte.
»Wenn es Ihnen recht ist, kümmern wir uns darum«, schlug der aufgewecktere der beiden vor. Ich stimmte zu. Bevor ich wieder nach vorn ging, legte ich Sempere das alte Exemplar von Große Erwartungen, das ich mir nie wiedergeholt hatte, in die Hände.
»Für die Reise«, sagte ich.
Nach einer Viertelstunde kamen die beiden Bestatter mit dem Sarg aus dem Hinterzimmer und deponierten ihn auf einem großen Tisch, der mitten in der Buchhandlung vorbereitet worden war. Auf der Straße hatte sich eine Menschenmenge versammelt und wartete in tiefem Schweigen. Ich öffnete die Tür. Einer nach dem anderen traten die Freunde von Sempere und Söhne in den Laden, um den Buchhändler zu sehen. Manche konnten die Tränen nicht zurückhalten, und bei diesem Anblick nahm Isabella den Sohn an der Hand und brachte ihn in die Wohnung über der Buchhandlung, in der er zeit seines Lebens mit dem Vater gelebt hatte. Barceló und ich leisteten dem alten Sempere Gesellschaft, während die Besucher zum Abschied an ihm vorbeizogen. Diejenigen, die ihm sehr nahegestanden hatten, blieben. Die Totenwache dauerte die ganze Nacht. Barceló harrte bis fünf Uhr morgens aus und ich selbst so lange, bis Isabella in der Morgendämmerung herunterkam und mich nach Hause schickte, wenn auch nur, um mich umzuziehen und etwas zurechtzumachen.
Ich schaute den armen Sempere an und lächelte. Ich konnte nicht glauben, dass ich ihn nie wieder hinter dem Ladentisch antreffen würde, wenn ich in diesen Laden käme. Ich erinnerte mich an meinen ersten Besuch in der Buchhandlung, als ich noch ein kleiner Junge war und der Buchhändler mir groß und kräftig vorkam, unverwüstlich. Der weiseste Mann der Welt.
»Bitte gehen Sie nach Hause«, flüsterte Isabella.
»Wozu?«
»Bitte…«
Sie begleitete mich auf die Straße hinaus und umarmte mich.
»Ich weiß, wie lieb Sie ihn hatten und was er Ihnen bedeutet hat«, sagte sie.
Das weiß niemand, dachte ich. Niemand. Aber ich nickte, und nachdem ich sie auf die Wange geküsst hatte, machte ich mich ohne Ziel auf den Weg, durch die Straßen, die mir leerer vorkamen denn je, und im Glauben, wenn ich nicht stehen bliebe, wenn ich immer weiterginge, würde ich nicht merken, dass die Welt, wie ich sie kannte, nicht mehr existierte.
Die Menschenmenge hatte sich vor dem Friedhofstor versammelt und wartete auf das Eintreffen des Fuhrwerks. Niemand traute sich zu sprechen. In der Ferne waren das Tosen des Meeres und das Rattern eines Güterzuges zu hören, der unterwegs zu den Fabriken hinter dem Gottesacker war. Es war kalt, und Schneeflocken tanzten im Wind. Kurz nach drei Uhr nachmittags bog der von schwarzen Pferden gezogene Wagen zwischen Zypressen und alten Lagerhäusern in die Avenida Icaria ein. Semperes Sohn und Isabella fuhren mit. Sechs Kollegen der Barceloneser Buchhändlerzunft, unter ihnen Don Gustavo, hievten sich den Sarg auf die Schultern und trugen ihn auf den Friedhof. Ein schweigsamer Menschenzug folgte ihnen zwischen Gräbern und Familiengrüften hindurch unter einer tiefen, wie eine Quecksilberfläche schillernden Wolkendecke. Jemand fand, Semperes Sohn sei in einer einzigen Nacht um fünfzehn Jahre gealtert. Man nannte ihn Señor Sempere — jetzt war er für die Buchhandlung verantwortlich, und über vier Generationen hinweg hatte dieser verzauberte Basar in der Calle Santa Ana nie einen anderen Namen getragen und war immer von einem Señor Sempere geleitet worden. Isabella führte ihn am Arm, und ich hatte den Eindruck, ohne sie wäre er zusammengebrochen wie eine Marionette ohne Fäden.
Der Pfarrer der Kirche Santa Ana, ein Veteran im Alter des Verstorbenen, wartete vor dem offenen Grab und einer schmucklosen Marmorplatte, die davor lag. Die sechs Buchhändler setzten den Sarg vor der Grube ab. Barceló hatte mich erblickt und nickte mir zu. Ob aus Feigheit oder Respekt — ich zog es vor, im Hintergrund zu bleiben. Von dort aus konnte ich in etwa dreißig Meter Entfernung das Grab meines Vaters sehen. Sowie sich die Gemeinde um den Sarg herum versammelt hatte, schaute der Pfarrer mit einem Lächeln auf.
»Señor Sempere und ich waren fast vierzig Jahre lang befreundet, und in dieser ganzen Zeit haben wir nur ein einziges Mal über Gott und die Mysterien des Lebens gesprochen. Kaum einer weiß, dass der liebe Sempere keine Kirche mehr betreten hatte seit dem Tode seiner Gattin Diana, an deren Seite wir ihn heute betten wollen, auf dass sie für immer nebeneinander ruhen. Vielleicht galt er aus diesem Grund als Atheist, doch er war ein Mann des Glaubens. Er glaubte an seine Freunde, an die Wahrheit und an etwas, dem er weder Namen noch Gesicht zu geben wagte — er sagte, dazu seien wir Geistliche da. Señor Sempere glaubte, dass wir alle Teil von etwas Höherem seien. Wenn wir diese Welt verließen, würden unsere Erinnerungen und Sehnsüchte nicht verloren gehen, sondern zu den Erinnerungen und Sehnsüchten derer werden, die uns nachfolgen. Er war sich nicht sicher, ob wir Gott nach unserem Vorbild geschaffen hatten oder ob Gott uns geschaffen hatte, ohne recht zu wissen, was er tat. Er glaubte, Gott — oder was immer uns hierhergebracht hat — lebe in jeder unserer Handlungen, in jedem unserer Worte und manifestiere sich in allem, was uns zu mehr als reinen Lehmfiguren macht. Señor Sempere glaubte, Gott lebe auch ein wenig — oder gerade — in den Büchern, und aus diesem Grund widmete er sein Leben dem Bemühen, sie mit anderen zu teilen, sie zu schützen und sicherzustellen, dass ihre Seiten, wie unsere Erinnerungen und Sehnsüchte, nie verloren gingen. Er glaubte — und das lehrte er auch mich —, solange noch eine einzige Person auf der Welt fähig wäre, Bücher zu lesen und zu leben, gebe es auch noch ein Stück von Gott oder vom Leben. Ich weiß, dass es mein Freund nicht geschätzt hätte, wenn wir ihm mit Predigten und Gesängen das letzte Geleit gegeben hätten. Ich weiß, dass es ihm genügt hätte, zu wissen, dass ihn seine Freunde, die heute so zahlreich zu seinem Abschied gekommen sind, nie vergessen werden. Ich habe keinen Zweifel, dass der Herr, auch wenn der alte Sempere es nicht erwartet hat, unseren lieben Freund bei sich aufnehmen wird und dass er weiterleben wird in den Herzen all derer, die heute hier versammelt sind, all derer, die eines Tages durch ihn die Magie der Bücher entdeckt haben, und all derer, die irgendwann, selbst wenn sie ihn nicht gekannt haben, die Schwelle seiner kleinen Buchhandlung überschreiten werden, wo, wie er zu sagen pflegte, die Geschichte gerade begonnen hat. Mögen Sie in Frieden ruhen, mein lieber Sempere, und gebe Gott uns allen die Möglichkeit, Ihr Andenken zu ehren und dankbar zu sein für das Privileg, Sie gekannt zu haben.«
Tiefes Schweigen breitete sich auf dem Friedhof aus, nachdem der Pfarrer fertig gesprochen, mit gesenktem Blick den Sarg gesegnet und sich einige Schritte zurückgezogen hatte. Auf einen Wink des Chefs des Bestattungsinstituts traten die Totengräber vor und senkten den Sarg an Seilen langsam ins Grab. Ich erinnere mich an das Geräusch, als er den Boden erreichte, und an das erstickte Schluchzen unter den Anwesenden. Ich erinnere mich, wie ich dort stand, unfähig, einen Schritt zu tun, während die Totengräber das Grab mit der großen Marmorplatte zudeckten, auf der nur das Wort Sempere stand und unter der seit sechsundzwanzig Jahren seine Gattin Diana ruhte.
Allmählich zog sich die Trauergemeinde zurück und teilte sich dabei in Gruppen auf, die nicht wussten, wohin sie sich wenden sollten — niemand mochte wirklich gehen und den armen Señor Sempere allein zurücklassen. Barceló und Isabella nahmen den Sohn in ihre Mitte und begleiteten ihn. Ich blieb stehen, bis sich alle entfernt hatten, und erst dann wagte ich, an Semperes Grab zu treten, wo ich niederkniete und die Hand auf den Marmor legte.
»Bis bald«, murmelte ich.
Ich hörte ihn herankommen und wusste, dass er es war, noch ehe ich ihn sah. Ich stand auf und wandte mich um. Mit dem traurigsten Lächeln, das ich je gesehen habe, streckte mir Pedro Vidal die Hand entgegen.
»Willst du mir nicht die Hand geben?«, fragte er.
Ich tat es nicht. Einige Sekunden später nickte Vidal wie für sich und zog die Hand zurück.
»Was suchen Sie hier?«, herrschte ich ihn an.
»Sempere war auch mein Freund«, antwortete er.
»Aha. Und Sie sind allein?«
Vidal schaute mich verständnislos an.
»Wo ist sie?«, fragte ich.
»Wer?«
Ich ließ ein bitteres Lachen hören. Barceló, der uns bemerkt hatte, kam mit bestürzter Miene zurück.
»Mit welchem Versprechen haben Sie sie diesmal gekauft?«
Vidals Blick wurde hart.
»Du weißt nicht, was du sagst, David.«
Ich trat so nahe an ihn heran, dass ich seinen Atem im Gesicht spürte.
»Wo ist sie?«, wiederholte ich.
»Ich weiß es nicht.«
»Natürlich.«
Ich wandte mich ab und wollte zum Ausgang gehen, aber Vidal fasste mich am Arm und hielt mich zurück.
»Warte, David…«
Bevor mir recht bewusst wurde, was ich tat, drehte ich mich um und verpasste ihm einen Schlag. Meine Faust prallte gegen sein Gesicht, sodass er nach hinten stürzte. Ich sah Blut an meiner Hand und hörte jemanden herbeihasten. Zwei Arme hielten mich fest und zogen mich von Vidal weg.
»Um Gottes willen, Martín…«, sagte Barceló.
Er kniete neben dem keuchenden Vidal nieder, dessen Mund voller Blut war. Barceló stützte seinen Kopf und warf mir einen wütenden Blick zu. Ich entfernte mich rasch. Auf dem Weg begegnete ich einigen Trauernden, die stehen geblieben waren, um den Streit zu verfolgen. Ich hatte nicht den Mut, ihnen ins Gesicht zu blicken.
Mehrere Tage ging ich nicht mehr aus dem Haus, schlief zur Unzeit und nahm kaum etwas zu mir. Nachts setzte ich mich in der Veranda vors Kaminfeuer und lauschte der Stille, in der Hoffnung, Schritte vor der Tür zu vernehmen, im Glauben, Cristina würde zu mir zurückkommen, sobald sie von Señor Semperes Tod erfuhr, und sei es nur aus Mitleid, was mir mittlerweile schon genügt hätte. Eine knappe Woche nach dem Tod des Buchhändlers, als mir klar geworden war, dass sie nicht zurückkehren würde, begann ich wieder in den Turm hinaufzugehen. Ich holte das Manuskript aus der Truhe und las es durch, wobei ich jeden Satz und jeden Absatz genoss. Die Lektüre erfüllte mich gleichermaßen mit Ekel wie mit einer dunklen Befriedigung. Bei dem Gedanken an die hunderttausend Francs, die mir anfänglich wie ein Vermögen erschienen waren, sagte ich mir mit einem Lächeln, dass mich dieser Hurensohn zu einem sehr billigen Preis gekauft hatte. Die Eitelkeit überlagerte die Bitterkeit, und der Schmerz schloss die Tür zum Gewissen. In einem Akt des Hochmuts las ich Lux Aeterna, das Werk meines Vorgängers, Diego Marlasca, und warf es dann ins Kaminfeuer. Wo er gescheitert war, würde ich triumphieren. Wo er auf Abwege geraten war, würde ich den Ausgang aus dem Labyrinth finden.
Am siebten Tag nahm ich die Arbeit wieder auf. Ich wartete, bis es Mitternacht war, und setzte mich dann an den Schreibtisch, ein weißes Blatt in der Walze der alten Underwood und die schwarze Stadt vor den Fenstern. Meinen Händen entströmten Worte und Bilder, als hätten sie im Gefängnis meines Herzens wütend darauf gewartet. Die Seiten ergossen sich ohne Gewissen und Maß, ohne weitere Absicht, als Sinne und Gedanken zu verhexen und zu vergiften. Längst dachte ich nicht mehr an den Patron, seine Belohnung oder seine Forderungen. Zum ersten Mal in meinem Leben schrieb ich für mich und für niemanden sonst. Ich schrieb, um die Welt in Brand zu stecken und mit ihr zu verbrennen. Jede Nacht arbeitete ich so lange, bis ich vor Erschöpfung zusammenbrach. Ich hämmerte auf die Tasten ein, dass meine Finger bluteten und das Fieber mir den Blick vernebelte.
An einem Januarmorgen, als mir längst jedes Zeitgefühl abhandengekommen war, hörte ich es an der Tür klopfen. Ich lag im Bett, in den Anblick der alten Fotografie verloren, auf der Cristina als kleines Mädchen an der Hand eines Fremden einen Steg entlang in ein Meer aus Licht hinausschritt, dieses Bild, das mir mittlerweile als das einzig Gute erschien, das mir noch geblieben war, der Schlüssel zu sämtlichen Geheimnissen. Mehrere Minuten lang reagierte ich nicht auf das Klopfen, bis ich die Stimme erkannte und mir klar war, dass die Besucherin nicht aufgeben würde.
»Machen Sie schon auf, verdammt noch mal. Ich weiß, dass Sie da sind, und werde nicht gehen, bevor Sie die Tür aufmachen, oder ich schlage sie ein.«
Als ich öffnete, wich Isabella einen Schritt zurück und starrte mich entsetzt an.
»Ich bin’s, Isabella.«
Sie drängte mich beiseite und eilte direkt in die Veranda, wo sie die Fenster aufriss. Dann ließ sie Wasser in die Badewanne. Sie nahm mich am Arm und zog mich ins Bad. Dort befahl sie mir, mich auf den Wannenrand zu setzen, hob meine Lider und sah mir mit einem Kopf schütteln in die Augen. Wortlos begann sie mir das Hemd auszuziehen.
»Isabella, ich mag jetzt nicht.«
»Was sind denn das für Schnitte? Was haben Sie sich angetan?«
»Nur ein paar Kratzer.«
»Ich will, dass ein Arzt Sie untersucht.«
»Nein.«
»Wagen Sie mir nicht zu widersprechen«, antwortete sie streng. »Und jetzt setzen Sie sich in diese Wanne und machen Sie Gebrauch von Wasser und Seife, und danach rasieren Sie sich. Sie haben zwei Möglichkeiten: Entweder machen Sie es selbst, oder ich mache es. Und glauben Sie nicht, dass ich mich nicht traue.«
Ich lächelte.
»Das weiß ich schon.«
»Tun Sie, was ich Ihnen sage. Unterdessen hole ich einen Arzt.«
Ich wollte noch etwas entgegnen, aber sie brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Kein weiteres Wort. Wenn Sie meinen, Sie sind der Einzige, dem die Welt Schmerz zufügt, dann täuschen Sie sich. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, wie ein Hund zu verrecken, dann seien Sie wenigstens so anständig, zu bedenken, dass es uns anderen etwas ausmacht, obwohl ich wahrlich nicht weiß, warum.«
»Isabella…«
»Ins Wasser. Und tun Sie mir den Gefallen, Hose und Unterhose auszuziehen.«
»Ich weiß, wie man ein Bad nimmt.«
»Wer hätte das gedacht.«
Während Isabella einen Arzt holte, beugte ich mich ihren Befehlen und unterzog mich meiner Kaltwasser- und Seifentaufe. Seit der Beerdigung hatte ich mich nicht mehr rasiert, und im Spiegel sah ich aus wie ein Wolf. Die Augen waren blutunterlaufen und die Haut krankhaft weiß. Ich zog saubere Kleider an und setzte mich in die Veranda. Nach zwanzig Minuten kam Isabella mit einem Arzt zurück, den ich schon einmal im Viertel gesehen zu haben glaubte.
»Das ist der Patient. Achten Sie nicht auf seine Worte, er ist ein Schwindler«, verkündete sie.
Der Arzt warf einen Blick auf mich, um den Grad meiner Feindseligkeit abzuschätzen.
»Tun Sie, was Sie wollen, Doktor«, forderte ich ihn auf. »Als wäre ich gar nicht vorhanden.«
Der Arzt begann mit dem raffinierten Ritual, das die Basis der medizinischen Wissenschaft bildet — er maß den Blutdruck, hörte mich überall ab, überprüfte Pupillen und Rachen, stellte mysteriöse Fragen und guckte skeptisch. Als er die Schnitte auf der Brust untersuchte, die mir Irene Sabino mit einem Messer beigebracht hatte, hob er eine Braue und sah mich an.
»Was ist denn das?«
»Das bedarf einer langen Erklärung, Doktor.«
»Haben Sie das getan?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich werde Ihnen eine Salbe geben, aber ich fürchte, die Narben bleiben.«
»Ich glaube, das war auch die Absicht.«
Er setzte seine Untersuchung fort. Ich fügte mich widerstandslos und ließ den Blick auf Isabella ruhen, die von der Tür aus beklommen zuschaute. Da ging mir auf, wie sehr ich sie vermisst hatte und wie sehr ich ihre Gesellschaft schätzte.
»Was für ein Schrecken«, murmelte sie vorwurfsvoll.
Der Arzt untersuchte meine Hände und runzelte die Stirn, als er die wunden Fingerkuppen sah. Mit leisem Gemurmel verband er mir einen Finger nach dem anderen.
»Wie lange haben Sie schon nichts mehr gegessen?«
Ich zuckte die Schultern. Er wechselte einen Blick mit Isabella.
»Es besteht kein Grund zur Beunruhigung, aber ich möchte Sie spätestens morgen in meiner Praxis untersuchen.«
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein, Doktor«, sagte ich.
»Er wird kommen«, versicherte Isabella.
»Inzwischen empfehle ich Ihnen, etwas Warmes zu sich zu nehmen, zuerst Brühe und dann etwas Festes, viel Wasser, aber auf keinen Fall Kaffee oder Aufputschmittel — und vor allem Ruhe. Ein wenig an die frische Luft und die Sonne, aber ohne sich anzustrengen. Sie zeigen die klassischen Symptome von Erschöpfung und Dehydration und eine beginnende Anämie.«
Isabella seufzte.
»Nichts von Belang«, sagte ich.
Der Arzt schaute mich zweifelnd an und stand auf.
»Morgen in meiner Praxis, um vier Uhr nachmittags. Hier habe ich weder die Instrumente noch die Voraussetzungen, um Sie gründlich untersuchen zu können.«
Er klappte sein Köfferchen zu und verabschiedete sich mit einem freundlichen Gruß von mir. Isabella begleitete ihn zur Tür, und ich hörte sie zwei Minuten lang im Korridor tuscheln. Ich zog mich wieder an und wartete in der Veranda, ganz der folgsame Patient. Dann hörte ich, wie sich die Tür schloss und der Arzt die Treppe hinunterging. Ich wusste, dass Isabella im Vorraum stand und einen Moment wartete, bevor sie zurückkam. Als sie eintrat, empfing ich sie mit einem Lächeln.
»Ich mache Ihnen etwas zu essen.«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Das ist mir egal. Sie werden essen, und danach gehen wir an die frische Luft, Punktum.«
Sie machte mir eine Brühe, und ich aß sie unter einiger Überwindung mit einem Kanten Brot und einem freundlichen Gesicht, obwohl sie nach Steinen schmeckte. Den leeren Teller hielt ich Isabella unter die Nase, die mich während des Essens wie ein Feldwebel bewacht hatte. Anschließend führte sie mich ins Schlafzimmer, zog einen Mantel aus dem Schrank, stattete mich mit Handschuhen und Schal aus und schob mich zur Tür. Draußen pfiff ein kalter Wind, aber der Himmel leuchtete im Schein der untergehenden Sonne, die die Straßen in bernsteinfarbenes Licht tauchte. Isabella hakte sich bei mir unter, und wir marschierten los.
»Als wären wir verlobt«, sagte ich.
»Sehr witzig.«
Wir gingen zum Ciudadela-Park und dort in die Gärten, die den Umbráculo-Pavillon umgaben. Vor dem großen Brunnen setzten wir uns auf eine Bank.
»Danke«, murmelte ich.
Sie gab keine Antwort.
»Ich habe dich gar nicht gefragt, wie es dir geht«, sagte ich zaghaft.
»Das ist nichts Neues.«
»Wie geht es dir?«
Sie zuckte die Achseln.
»Meine Eltern sind glücklich, dass ich zurück bin. Sie sagen, Sie hätten einen guten Einfluss auf mich gehabt. Wenn die wüssten… Aber wir vertragen uns wirklich besser. Ich sehe sie allerdings auch nicht häufig — ich bin fast die ganze Zeit in der Buchhandlung.«
»Und Sempere? Wie kommt er mit dem Tod seines Vaters zurecht?«
»Nicht sehr gut.«
»Und du, wie kommst du mit ihm zurecht?«
»Er ist ein guter Mensch.«
Sie schwieg lange mit gesenktem Kopf.
»Er hat mich gebeten, ihn zu heiraten«, sagte sie schließlich. »Vor zwei Tagen, im Quatre Gats.«
Ich betrachtete ihr Profil, das gefasst wirkte und nichts von der jugendlichen Unschuld besaß, die ich in ihr hatte sehen wollen und die es wahrscheinlich nie gegeben hatte.
»Und?«
»Ich habe gesagt, ich würde es mir überlegen.«
»Und wirst du es tun?«
Isabella starrte in den Brunnen.
»Er hat gesagt, er wolle eine Familie gründen, Kinder haben… Wir würden in der Wohnung über der Buchhandlung leben und diese am Laufen halten, trotz der Bedenken, die Señor Sempere gehabt hatte.«
»Nun ja, du bist noch jung…«
Sie wandte mir den Kopf zu und schaute mich an.
»Liebst du ihn denn?«
Sie lächelte unendlich traurig.
»Was weiß denn ich. Ich glaube schon, aber nicht so sehr, wie er mich zu lieben glaubt.«
»In einer schwierigen Lage kann man manchmal Mitleid mit Liebe verwechseln«, sagte ich.
»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen.«
»Ich bitte dich ja nur, dir etwas Zeit zu lassen.«
Wir schauten uns an, in dieses grenzenlose Einvernehmen gehüllt, das keiner Worte mehr bedurfte, und ich umarmte sie.
»Freunde?«
»Bis dass der Tod uns scheidet.«
Auf dem Heimweg machten wir in einem Lebensmittelladen in der Calle Comercio halt, um Milch und Brot zu kaufen. Isabella sagte, sie werde ihren Vater bitten, mir ein Paket auserwählter Delikatessen zu schicken, und sie rate mir dringend, alles aufzuessen.
»Wie läuft’s denn in der Buchhandlung?«, fragte ich.
»Die Verkäufe sind gewaltig zurückgegangen. Ich glaube, den Leuten tut es weh zu kommen, weil sie dabei an den armen Señor Sempere denken müssen. Und die Zahlen sind nicht sehr gut.«
»Nämlich?«
»Im Minus. In den Wochen, die ich dort arbeite, habe ich die Bilanz durchgesehen und feststellen müssen, dass der selige Señor Sempere eine Katastrophe war. Er hat allen, die kein Geld hatten, Bücher geschenkt. Oder hat sie ausgeliehen und nie zurückbekommen. Er hat Sammlungen aufgekauft, von denen er wusste, dass er sie nicht würde weiterverkaufen können, weil die Besitzer sie schon längst verbrennen oder wegwerfen wollten. Mit Almosen unterhielt er eine Reihe bettelarme Dichterlinge. Den Rest können Sie sich in etwa ausmalen.«
»Tauchen denn Gläubiger auf?«
»So ungefähr zweimal pro Tag, die Briefe und Mahnungen der Bank nicht mitgerechnet. Die gute Nachricht ist, dass es uns nicht an Angeboten fehlt.«
»An Kaufangeboten?«
»Zwei Metzger aus Vic sind sehr interessiert an dem Ladenlokal.«
»Und was meint der junge Sempere dazu?«
»Dass man aus allem etwas machen kann. Realismus ist nicht seine Stärke. Er sagt, wir würden es schon schaffen, ich solle Vertrauen haben.«
»Und hast du keins?«
»Ich vertraue der Arithmetik, und wenn ich rechne, sehe ich, dass das Schaufenster der Buchhandlung in zwei Monaten voller Schinken und Bratwürste ist.«
»Wir werden schon eine Lösung finden.«
Isabella lächelte.
»Ich habe gehofft, dass Sie das sagen. Und wenn wir schon von offenen Rechnungen sprechen, sagen Sie mir, dass Sie nicht mehr für den Patron arbeiten.«
Ich zeigte ihr die offenen Hände.
»Ich bin wieder ein freier Schriftsteller«, sagte ich.
Sie kam mit mir die Treppe hinauf, und als ich mich von ihr verabschieden wollte, sah ich, dass sie zögerte.
»Was ist?«, fragte ich.
»Eigentlich wollte ich es Ihnen nicht sagen, aber… Es ist mir lieber, Sie erfahren es von mir als von jemand anderem. Es betrifft Señor Sempere.«
Wir traten in die Wohnung und setzten uns in der Veranda vor das Feuer, das Isabella mit ein paar Holzstücken neu anfachte. Die Asche von Marlascas Lux Aeterna, lag noch darin, und meine ehemalige Assistentin warf mir einen Blick zu, den man hätte einrahmen sollen.
»Was wolltest du mir von Sempere erzählen?«
»Ich weiß es von Don Anacleto, einem der Nachbarn im Haus. Er hat mir erzählt, er habe Señor Sempere an dem Abend, an dem er gestorben ist, mit jemandem im Laden streiten sehen. Er sei nach Hause gekommen, und man habe den Wortwechsel bis auf die Straße hinaus gehört.«
»Und mit wem hat er sich gestritten?«
»Mit einer Frau, einer schon etwas älteren. Don Anacleto konnte sich nicht erinnern, sie in dieser Gegend je gesehen zu haben, aber er sagte, irgendwie sei sie ihm doch bekannt vorgekommen. Nur, bei Don Anacleto weiß man nie — er mag Adjektive lieber als Zuckermandeln.«
»Hat er gehört, worüber sie sich gestritten haben?«
»Er hatte den Eindruck, sie sprächen über Sie.«
»Über mich?«
Isabella nickte.
»Sein Sohn hatte den Laden einen Moment verlassen, um in der Calle Canuda eine Bestellung abzuliefern. Er war nicht länger als zehn oder fünfzehn Minuten weg. Als er zurückkam, lag sein Vater hinter dem Ladentisch auf dem Boden. Er atmete noch, fühlte sich aber schon kalt an. Als der Arzt kam, war es bereits zu spät…«
Ich hatte das Gefühl, die Welt stürze über mir zusammen.
»Ich hätte es Ihnen doch nicht sagen sollen…«, flüsterte Isabella.
»Doch. Es war richtig. Hat Don Anacleto nichts weiter über diese Frau gesagt?«
»Nur dass er die beiden streiten hörte. Er hatte den Eindruck, dass es um ein Buch ging. Ein Buch, das sie kaufen und er nicht verkaufen wollte.«
»Und warum hat er mich erwähnt? Das verstehe ich nicht.«
»Weil es ein Buch von Ihnen war, Die Schritte des Himmels. Das einzige Exemplar, das Señor Sempere in seiner persönlichen Sammlung behalten hatte und das unverkäuflich war…«
Eine dunkle Gewissheit stieg in mir auf.
»Und das Buch…?«
»… ist nicht mehr dort. Verschwunden«, ergänzte sie. »Ich habe in dem Verzeichnis nachgeschaut, weil Señor Sempere alle Bücher vermerkt hat, die er verkaufte, mit Datum und Preis, und dieses war nicht zu finden.«
»Weiß sein Sohn davon?«
»Nein. Ich habe es niemandem außer Ihnen erzählt. Ich versuche immer noch zu verstehen, was an jenem Abend in der Buchhandlung geschehen ist. Und warum. Ich dachte, vielleicht wüssten Sie es…«
»Diese Frau hat versucht, das Buch mit Gewalt an sich zu reißen, und bei dem Streit hat Señor Sempere einen Herzanfall erlitten. Das ist geschehen«, sagte ich. »Und das wegen meinem verdammten Buch.«
Ich spürte, wie sich mir der Magen umdrehte.
»Da ist noch etwas«, sagte Isabella.
»Nämlich?«
»Einige Tage später habe ich Don Anacleto im Treppenhaus getroffen, und er sagte mir, er wisse jetzt, woher er diese Frau kenne. An dem Tag, an dem er sie sah, sei er nicht drauf gekommen, aber er glaube, sie vor vielen Jahren im Theater gesehen zu haben.«
»Im Theater?«
Sie nickte.
Ich sagte lange nichts. Isabella beobachtete mich besorgt.
»Jetzt kann ich Sie nicht mehr ruhig hier allein lassen. Ich hätte es Ihnen doch nicht sagen sollen.«
»Doch, es war richtig. Es geht mir gut. Ehrlich.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Diese Nacht bleibe ich bei Ihnen.«
»Und dein Ruf?«
»Auf dem Spiel steht nur Ihrer. Ich gehe kurz in den Laden meiner Eltern, um in der Buchhandlung anzurufen und Sempere zu benachrichtigen.«
»Das ist doch nicht nötig, Isabella.«
»Es wäre nicht nötig, wenn Sie akzeptiert hätten, dass wir im zwanzigsten Jahrhundert leben, und sich in diesem Mausoleum einen Telefonanschluss hätten einrichten lassen. In einer Viertelstunde bin ich zurück. Keine Widerrede.«
Als Isabella fort war, traf mich der Umstand, dass ich am Tod meines alten Freundes mitschuldig war, mit voller Wucht. Ich erinnerte mich, dass der alte Buchhändler immer gesagt hatte, Bücher hätten eine Seele, die Seele dessen, der sie geschrieben habe, und die Seele derer, die sie gelesen und von ihnen geträumt hätten. Da wurde mir klar, dass er bis zum letzten Augenblick gekämpft hatte, um mich zu schützen, und dass er sich geopfert hatte, um dieses bisschen Papier und Druckerschwärze zu retten, von dem er glaubte, ich hätte meine Seele hineingeschrieben. Als Isabella mit einer Tüte Leckerbissen aus dem Laden ihrer Eltern zurückkam, brauchte sie mich nur anzuschauen, um Gewissheit zu haben.
»Sie kennen diese Frau«, sagte sie. »Die Frau, die Señor Sempere umgebracht hat…«
»Ich glaube ja. Irene Sabino.«
»Ist es nicht die auf den alten Fotos, die wir im Zimmer am Ende des Flurs gefunden haben? Die Schauspielerin?«
Ich nickte.
»Und warum wollte sie dieses Buch?«
»Ich weiß es nicht.«
Später am Abend, nachdem wir ein wenig von den Köstlichkeiten von Can Gispert gegessen hatten, setzten wir uns in den großen Sessel vor das Feuer. Wir hatten beide darin Platz, Isabella lehnte den Kopf an meine Schulter, und wir schauten in die Flammen.
»Neulich nachts habe ich geträumt, ich hätte ein Kind«, sagte sie. »Ich träumte, es rufe nach mir, aber ich konnte es nicht hören und nicht zu ihm gehen, weil ich an einem Ort gefangen war, wo es sehr kalt war und ich mich nicht bewegen konnte. Es rief mich, und ich konnte nicht zu ihm.«
»Es war nur ein Traum«, sagte ich.
»Er kam mir sehr wirklich vor.«
»Vielleicht solltest du diese Geschichte aufschreiben.«
Isabella schüttelte den Kopf.
»Ich habe darüber nachgedacht. Und ich habe beschlossen, dass ich das Leben lieber lebe, statt es zu schreiben. Nehmen Sie es mir nicht übel.«
»Das finde ich einen weisen Entschluss.«
»Und Sie? Werden Sie das auch tun?«
»Ich fürchte, ich habe mein Leben schon gelebt.«
»Und diese Frau? Cristina?«
Ich atmete tief durch.
»Sie ist gegangen. Sie ist zu ihrem Mann zurückgekehrt. Noch ein weiser Entschluss.«
Isabella löste sich von mir und schaute mich mit gerunzelter Stirn an.
»Was ist?«, fragte ich.
»Ich glaube, Sie irren sich.«
»Worin?«
»Neulich kam Don Gustavo Barceló zu uns, und wir unterhielten uns über Sie. Er sagte, er habe Cristinas Mann gesehen, diesen…«
»Pedro Vidal.«
»Genau. Und der habe gesagt, Cristina sei zu Ihnen gegangen, er habe sie nicht wiedergesehen und seit einem Monat oder noch länger nichts mehr von ihr gehört. Es hat mich wirklich überrascht, sie nicht hier bei Ihnen zu sehen, aber ich habe nicht zu fragen gewagt…«
»Bist du sicher, dass das Barcelós Worte waren?«
Sie nickte.
»Was habe ich denn jetzt wieder gesagt?«, fragte sie beunruhigt.
»Nichts.«
»Da gibt es etwas, was Sie mir nicht erzählen…«
»Cristina ist nicht hier. Sie war nicht mehr hier seit dem Tod von Señor Sempere.«
»Wo ist sie denn dann?«
»Das weiß ich nicht.«
Nach und nach versickerte das Gespräch, wir saßen zusammengekauert im Sessel vor dem Feuer, und tief in der Nacht schlief Isabella ein. Ich legte den Arm um sie und schloss die Augen. In Gedanken versuchte ich dem, was sie erzählt hatte, irgendeinen Sinn abzugewinnen. Als das Morgenlicht über die Verandafenster strich, öffnete ich die Augen und sah, dass Isabella schon wach war und mich anschaute.
»Guten Morgen«, sagte ich.
»Ich habe nachgedacht«, begann sie.
»Und?«
»Ich denke, ich werde den Antrag von Señor Semperes Sohn annehmen.«
»Bist du sicher?«
»Nein«, lachte sie.
»Was werden deine Eltern sagen?«
»Vermutlich wird es ihnen nicht passen, aber sie werden sich schon dran gewöhnen. Natürlich wäre ihnen für mich ein Blut- und Leberwursthändler lieber gewesen als ein Buchhändler, aber sie werden es hinnehmen müssen.«
»Es könnte schlimmer sein, oder?«
Sie nickte.
»Ja. Es hätte auch ein Schriftsteller sein können.«
Wir sahen uns lange an, bis Isabella vom Sessel aufstand. Sie nahm ihren Mantel und knöpfte ihn von mir abgewandt zu.
»Ich muss gehen«, sagte sie.
»Danke für die Gesellschaft«, antwortete ich.
»Lassen Sie sie nicht entwischen«, sagte Isabella. »Suchen Sie sie, wo sie auch sein mag, und sagen Sie ihr, dass Sie sie lieben, selbst wenn’s gelogen ist. Wir Frauen mögen das.«
Und sie wandte sich um und beugte sich über mich, um mit ihren Lippen die meinen zu streifen. Dann drückte sie mir fest die Hand und ging ohne ein weiteres Wort.
Den Rest dieser Woche verbrachte ich damit, ganz Barcelona nach jemandem zu durchkämmen, der im letzten Monat Cristina gesehen hatte. Ich suchte die Orte auf, wo ich mit ihr gewesen war, und folgte vergeblich Vidals Lieblingsparcours durch Luxuscafés, — restaurants und — geschäfte. Jedem, dem ich begegnete, zeigte ich Cristinas Fotoalbum und fragte ihn nach ihr. Irgendwo stieß ich auf jemanden, der sie erkannte und sich erinnerte, ihr einmal zusammen mit Vidal begegnet zu sein. Ein anderer wusste sogar noch ihren Namen. Aber in den letzten Wochen hatte sie niemand mehr gesehen. Am vierten Tag meiner Suche schwante mir allmählich, dass sie an jenem Morgen, als ich die Fahrkarten kaufen ging, das Haus mit dem Turm in der Absicht verlassen hatte, von der Erdoberfläche zu verschwinden.
Da kam mir in den Sinn, dass die Familie Vidal im Hotel España in der Calle Sant Pau hinter dem Liceo ein Zimmer gemietet hatte, für den Fall, dass ein Familienmitglied nach einer Opernaufführung nicht mehr nach Pedralbes zurückfahren mochte oder konnte. Ich wusste, dass Vidal und sein Herr Vater es zumindest in ihren glorreichen Jahren benutzt hatten, um sich mit Señoritas und Señoras zu vergnügen, deren Anwesenheit in den offiziellen Residenzen in Pedralbes zu unerwünschtem Gerede geführt hätte — wegen ihrer niederen oder ihrer vornehmen Abstammung. Als ich noch in Doña Carmens Pension wohnte, hatte Vidal mir das Zimmer mehr als einmal angeboten, falls ich, wie er sich ausdrückte, Lust hätte, eine Dame an einem Ort auszuziehen, der keine Angst macht. Ich nahm zwar nicht an, dass Cristina gerade dort Zuflucht gesucht hatte, falls sie überhaupt von dem Zimmer wusste, aber es war der letzte Ort auf meiner Liste, sonst fiel mir nichts mehr ein. Es dämmerte schon, als ich ins Hotel España kam und, mich meiner Freundschaft mit Señor Vidal rühmend, den Geschäftsführer zu sprechen begehrte. Als ich ihm die Aufnahme von Cristina zeigte, lächelte er mich höflich an, ein Kavalier von eisiger Diskretion, und sagte, schon vor Wochen seien »andere« Angestellte von Señor Vidal gekommen und hätten sich nach derselben Person erkundigt, und denen habe er dasselbe geantwortet wie mir. Er habe diese Señora hier noch nie gesehen. Ich dankte ihm für seine frostige Liebenswürdigkeit und ging niedergeschlagen in Richtung Ausgang.
Als ich an den großen Scheiben zum Speisesaal vorüberkam, sah ich aus dem Augenwinkel ein vertrautes Gesicht. An einem der Tische saß der Patron, der einzige Gast im ganzen Saal, und tat sich an Zuckerwürfeln gütlich. Ich wollte rasch verschwinden, aber er wandte sich um und winkte mir lächelnd zu. Ich verfluchte mein Schicksal und winkte zurück. Da gab er mir ein Zeichen, ich solle mich zu ihm gesellen. Widerwillig ging ich in den Speisesaal.
»Welch angenehme Überraschung, Sie hier anzutreffen, mein lieber Freund. Soeben habe ich an Sie gedacht«, sagte Corelli.
Lustlos gab ich ihm die Hand.
»Ich dachte, Sie wären nicht in der Stadt«, bemerkte ich.
»Ich bin eher zurückgekommen als vorgesehen. Darf ich Sie zu etwas einladen?«
Ich winkte ab. Er bedeutete mir, mich zu ihm an den Tisch zu setzen, und ich gehorchte. Seinem üblichen Stil treu, trug er einen dreiteiligen Anzug aus schwarzem Wollstoff und eine rote Seidenkrawatte. Untadelig wie immer, doch diesmal stimmte irgendetwas nicht. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich dahinterkam — die Engelsbrosche steckte nicht an seinem Revers. Er folgte meinem Blick und nickte.
»Leider habe ich sie verloren und weiß nicht, wo«, erklärte er.
»Sie war hoffentlich nicht sehr wertvoll.«
»Ihr Wert war rein sentimentaler Natur. Aber reden wir von wichtigeren Dingen. Wie geht es Ihnen, mein Freund? Ich habe unsere Gespräche sehr vermisst, auch wenn wir gelegentlich verschiedener Meinung waren. Gute Gesprächspartner sind schwer zu finden.«
»Sie überschätzen mich, Señor Corelli.«
»Im Gegenteil.«
Ein kurzes Schweigen entstand, begleitet von diesem bodenlosen Blick. Da war es mir bedeutend lieber, wenn er seine banale Unterhaltung fortführte. Sobald er zu sprechen aufhörte, schien sich sein Aussehen zu verändern, und die Luft um ihn herum wurde dick.
»Wohnen Sie hier?«, fragte ich, um das Schweigen zu durchbrechen.
»Nein, ich wohne noch immer in dem Haus am Park Güell. Ich hatte einen Freund für heute Nachmittag herbestellt, aber offenbar verspätet er sich. Die Unzuverlässigkeit gewisser Leute ist bedauerlich.«
»Ich vermute, es gibt nicht viele, die Sie zu versetzen wagen, Señor Corelli.«
Der Patron schaute mir in die Augen.
»Nein. Tatsächlich sind Sie der Einzige, der mir in den Sinn kommt.«
Er nahm ein Stück Zucker und ließ es in seine Tasse gleiten. Ein zweites und ein drittes folgten. Er probierte den Kaffee und gab noch vier Stück dazu. Ein achtes steckte er sich in den Mund.
»Zucker entzückt mich«, bemerkte er.
»Sie zucken vor nichts zurück.«
»Sie sagen so gar nichts über unser Projekt, lieber Martín. Irgendein Problem?«
Ich schluckte.
»Es ist fast fertig.«
Das Gesicht des Patrons erstrahlte in einem Lächeln, dem ich nicht begegnen mochte.
»Das ist wirklich eine gute Nachricht. Wann werde ich es bekommen?«
»In zwei Wochen. Ich muss noch das eine oder andere überarbeiten. Aber das ist nur noch Feinschliff.«
»Können wir ein Datum festlegen?«
»Wenn Sie wollen…«
»Wie wäre es mit Freitag, dem 23. dieses Monats? Würden Sie dann eine Einladung zum Abendessen annehmen, um den Erfolg unseres Unternehmens zu feiern?«
Der 23. war in genau zwei Wochen.
»Einverstanden.«
»Also abgemacht.«
Er hob seine zuckergesättigte Tasse, als wollte er einen Toast ausbringen, und trank sie in einem Schluck aus.
»Und Sie?«, fragte er beiläufig. »Was führt Sie hierher?«
»Ich habe jemanden gesucht.«
»Jemanden, den ich kenne?«
»Nein.«
»Und haben Sie ihn gefunden?«
»Nein.«
Meiner Wortkargheit nachschmeckend, nickte der Patron bedächtig.
»Ich habe den Eindruck, Sie gegen Ihren Willen zurückzuhalten, mein Freund.«
»Ich bin bloß etwas müde, das ist alles.«
»Dann will ich Ihnen nicht länger die Zeit stehlen. Manchmal vergesse ich, dass Ihnen meine Gesellschaft, auch wenn ich die Ihre genieße, vielleicht nicht gleichermaßen angenehm ist.«
Ich lächelte gefügig und nutzte den Augenblick, um aufzustehen. Ich sah mich in seinen Pupillen gespiegelt, eine bleiche, in einem düsteren Schacht gefangene Puppe.
»Passen Sie auf sich auf, Martín. Bitte.«
»Das werde ich.«
Ich verabschiedete mich mit einem Nicken und ging zum Ausgang. Dabei hörte ich, wie er sich ein weiteres Zuckerstück in den Mund führte und zwischen den Zähnen zermahlte.
Auf dem Weg über die Ramblas sah ich, dass das gläserne Vordach des Liceo erleuchtet war und eine lange Reihe Autos auf dem Gehsteig wartete, von einem kleinen Regiment livrierter Fahrer bewacht. Die Plakate kündigten Cosi fan tutte an, und ich fragte mich, ob Vidal sich wohl aufgerafft hatte, seine Burg zu verlassen und herzukommen. Ich spähte zu der Gruppe von Fahrern auf der Promenade hinüber, erblickte bald Pep unter ihnen und winkte ihn herbei.
»Was tun Sie denn hier, Señor Martín?«
»Wo ist sie? Cristina, Señora Vidal. Wo ist sie?«
Der arme Pep rang die Hände.
»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.«
Er erklärte mir, dass Vidal sie seit Wochen suche und dass sein Vater, der Patriarch des Clans, sogar mehrere Angehörige der Polizei in Sold genommen habe, um sie aufzuspüren.
»Anfänglich dachte der Herr, sie sei bei Ihnen…«
»Sie hat nicht angerufen und auch keinen Brief geschickt, kein Telegramm…?«
»Nein, Señor Martín. Ich schwöre es Ihnen. Wir sind alle sehr in Sorge, und der Herr, nun… So habe ich ihn noch nie gesehen, seit ich ihn kenne. Heute ist der erste Abend, an dem er ausgeht, seit die Señorita, äh, die Señora ging…«
»Erinnerst du dich, ob Cristina irgendetwas gesagt hat, was auch immer, bevor sie die Villa Helius verlassen hat?«
»Nun…«
Pep senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Man konnte hören, wie sie sich mit dem Herrn gestritten hat. Ich sah, dass sie traurig war. Sie war sehr oft allein. Sie schrieb Briefe und brachte sie jeden Tag zur Post auf dem Paseo de la Reina Elisenda.«
»Hast du irgendwann unter vier Augen mit ihr gesprochen?«
»Eines Tages, kurz bevor sie wegging, hat mich der Herr gebeten, sie mit dem Wagen zum Arzt zu fahren.«
»War sie krank?«
»Sie konnte nicht schlafen. Der Doktor hat ihr Laudanumtropfen verschrieben.«
»Hat sie unterwegs irgendetwas gesagt?«
Pep zuckte die Achseln.
»Sie hat mich nach Ihnen gefragt, ob ich etwas von Ihnen gehört oder Sie gesehen hätte.«
»Nichts weiter?«
»Sie sah sehr traurig aus. Sie hat angefangen zu weinen, und als ich sie fragte, was ihr fehle, sagte sie, sie vermisse ihren Vater so sehr, Señor Manuel…«
Da begriff ich endlich, und ich verwünschte mich, nicht eher darauf gekommen zu sein. Pep schaute mich verwundert an und fragte, warum ich lächele.
»Wissen Sie, wo sie ist?«, fragte er.
»Ich denke schon«, murmelte ich.
In diesem Moment glaubte ich auf der anderen Straßenseite eine mir bekannte Stimme zu hören und einen vertrauten Schatten im Eingang des Liceo zu erkennen. Vidal hatte nicht einmal den ersten Akt durchgehalten. Pep ging auf seinen Herrn zu, und ich verschwand unbemerkt in der Nacht.
Selbst von weitem wirkten sie unverkennbar wie Boten schlechter Nachrichten. Die Glut einer Zigarette im Blau der Nacht, an der schwarzen Hauswand lehnende Silhouetten und die Atemwolken dreier Gestalten, die den Eingang zum Haus mit dem Turm überwachten: Inspektor Víctor Grandes mit seinen beiden Häschern Marcos und Castelo als Empfangskomitee. Unschwer konnte ich mir vorstellen, dass sie mittlerweile Alicia Marlascas Leiche auf dem Grund ihres Schwimmbeckens gefunden hatten und dass ich auf der schwarzen Liste um mehrere Plätze gestiegen war. Sowie ich sie erblickte, blieb ich stehen und verbarg mich in den Schatten der Straße. Ich beobachtete sie einige Augenblicke, um mich zu vergewissern, dass sie meine Anwesenheit in nur fünfzig Meter Entfernung nicht bemerkt hatten.
Im Schimmer der Laterne an der Fassade konnte ich Grandes’ Profil genau ausmachen. Langsam zog ich mich in die Dunkelheit zurück und verschwand in der ersten Gasse und dann im Passagen- und Arkadengewirr des Ribera-Viertels.
Zehn Minuten später war ich am Francia-Bahnhof. Die Schalter waren bereits geschlossen, aber zwischen den Bahnsteigen unter dem hohen Glas- und Stahlgewölbe standen noch mehrere Züge. Dem Fahrplan entnahm ich, dass es, wie befürchtet, bis zum Morgen keine Abfahrten mehr gab. Nach Hause zurückzukehren und Grandes & Co. in die Fänge zu geraten, durfte ich nicht riskieren — irgendetwas sagte mir, dass mein Besuch auf dem Präsidium diesmal auf Vollpension hinausliefe und dass mich nicht einmal Anwalt Valera so leicht wie das vorige Mal wieder herausbrächte.
Ich beschloss, die Nacht in einem einfachen Hotel gegenüber der Börse an der Plaza Palacio zu verbringen, wo der Legende nach die lebendigen Leichen einiger Spekulanten dahinvegetierten, denen ihre Habsucht und Milchmädchenrechnungen zum Verhängnis geworden waren. Dieses Loch wählte ich, weil mich dort vermutlich nicht einmal die Parzen suchen würden. Ich mietete mich unter dem Namen Antonio Miranda ein und bezahlte im Voraus. Der Angestellte, eine Art Weichtier, das zum festen Inventar der als Empfangstisch, Handtuchhalter und Souvenirstand dienenden Loge zu gehören schien, händigte mir den Schlüssel sowie ein Stück nach Lauge stinkender, gebrauchter Seife der Marke El Cid Campeador aus und teilte mir mit, wenn ich Lust auf weibliche Gesellschaft habe, könne er mir ein Dienstmädchen mit dem Spitznamen »die Einäugige« aufs Zimmer schicken, sobald sie von einem Hausbesuch zurück sei.
»Danach werden Sie sich wie neugeboren fühlen«, versicherte er mir.
Ich schützte einen beginnenden Hexenschuss vor und lehnte dankend ab, wünschte ihm eine gute Nacht und stieg die Treppe hinauf. Das Zimmer hatte die Größe und Anmutung eines Sargs. Ein rascher Blick überzeugte mich davon, dass ich mich besser angezogen auf die Pritsche legte, anstatt zwischen die Betttücher zu schlüpfen und mit allem zu fraternisieren, was daran haften mochte. Ich hüllte mich in eine ausgefranste Decke aus dem Schrank, die zwar roch, aber wenigstens nach Naphthalin, löschte das Licht und versuchte mir vorzustellen, ich liege in einer solchen Suite, wie sie jemandem mit hunderttausend Francs auf der Bank gebührt. Ich tat kaum ein Auge zu.
Gegen zehn Uhr verließ ich das Hotel und ging zum Bahnhof. Dort kaufte ich eine Fahrkarte erster Klasse in der Hoffnung, im Zug den Schlaf nachzuholen, der mir in meinem Loch verwehrt geblieben war, und steuerte, da mir bis zur Abfahrt noch zwanzig Minuten blieben, die Reihe öffentlicher Fernsprechzellen in der Halle an. Ich nannte der Telefonistin die Nummer von Ricardo Salvadors Nachbarn, die ich von ihm bekommen hatte.
»Ich möchte mit Emilio sprechen, bitte.«
»Am Apparat.«
»Mein Name ist David Martín. Ich bin ein Freund von Señor Ricardo Salvador. Er hat mir gesagt, in einem Notfall könne ich ihn unter dieser Nummer erreichen.«
»Ja… Können Sie einen Augenblick warten, bis wir ihn benachrichtigt haben?«
Ich schaute auf die Bahnhofsuhr.
»Ja, ich warte. Danke.«
Über drei Minuten vergingen, bis ich Schritte vernahm und Ricardo Salvadors Stimme mich mit Ruhe erfüllte.
»Martín? Geht es Ihnen gut?«
»Ja.«
»Gott sei Dank. Ich habe in der Zeitung die Geschichte mit Roures gelesen und mir große Sorgen um Sie gemacht. Wo sind Sie?«
»Señor Salvador, ich habe jetzt nicht viel Zeit. Ich muss die Stadt verlassen.«
»Geht es Ihnen wirklich gut?«
»Ja. Hören Sie — Alicia Marlasca ist tot.«
»Die Witwe? Tot?«
Langes Schweigen. Ich hatte den Eindruck, Salvador schluchze, und verfluchte mich dafür, ihm diese Nachricht so wenig feinfühlig übermittelt zu haben.
»Sind Sie noch da?«
»Ja…«
»Ich rufe Sie an, um Sie zu warnen und Ihnen zu sagen, dass Sie sehr vorsichtig sein müssen. Irene Sabino lebt und ist mir gefolgt. Jemand ist bei ihr, ich glaube, Jaco.«
»Jaco Corbera?«
»Ich bin nicht sicher, ob er es ist. Ich glaube, sie wissen, dass ich ihnen auf der Spur bin, und versuchen, alle zum Schweigen zu bringen, die sich mit mir unterhalten haben. Ich denke, Sie hatten recht…«
»Aber warum sollte Jaco jetzt zurückkommen?«, fragte Salvador. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Ich weiß es nicht. Ich muss los. Ich wollte Sie bloß warnen.«
»Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wenn mich dieser Hurenbock aufsucht, werde ich gewappnet sein. Ich erwarte ihn seit fünfundzwanzig Jahren.«
Der Bahnhofsvorsteher kündigte mit einem Pfeifen die Abfahrt des Zuges an.
»Trauen Sie niemandem, hören Sie? Ich melde mich, sobald ich wieder in der Stadt bin.«
»Danke für den Anruf, Martín. Passen Sie gut auf sich auf.«
Langsam glitt der Zug den Bahnsteig entlang, und ich suchte in meinem Abteil Zuflucht, um mich in meinem Sitz der lauen Wärme der Heizung und dem sanften Rütteln hinzugeben. Nach und nach ließen wir den Wald von Fabriken und Schloten hinter uns und entkamen dem rötlichen Licht des Himmels über der Stadt. Sanft ging die Öde von Depots und Zügen auf Abstellgleisen in eine endlose Ebene von Feldern und Hügeln mit alten Häusern und Türmen, Wäldern und Flüssen über. Zwischen Nebelbänken tauchten Fuhrwerke und Dörfer auf. Kleine Bahnhöfe zogen vorbei, während sich in der Ferne Kirchen und Gehöfte wie Luftspiegelungen abzeichneten.
Irgendwann schlief ich ein, und als ich wieder erwachte, sah die Landschaft vollkommen anders aus. Wir fuhren durch tiefe Täler zwischen hohen Felswänden vorbei an Seen und Bächen und streiften ausgedehnte Wälder am Fuß endlos scheinender Berghänge. Nach einer Weile weitete sich das Durcheinander von Bergen, Wäldern und in den Fels gebohrten Tunneln zu einem großen, offenen Tal, wo Wildpferdherden über eine schneebedeckte Ebene stürmten und in der Ferne kleine Dörfer mit Häusern aus Stein auszumachen waren. Auf der anderen Seite erhoben sich die Gipfel der Pyrenäen, deren verschneite Hänge in der Abenddämmerung bernsteinfarben glühten. Vor uns drängten sich auf einem Hügel kleine und große Häuser. Der Schaffner streckte den Kopf herein und lächelte mir zu.
»Nächster Halt Puigcerdà.«
In einer Dampfwolke, die den ganzen Bahnsteig einhüllte, blieb der Zug stehen. Ich stieg aus und sah mich in den nach Elektrizität riechenden Dunst gehüllt. Gleich darauf hörte ich den Pfiff des Bahnhofsvorstehers, worauf der Zug die Fahrt wieder aufnahm. Während die Wagen an mir vorüberzogen, tauchten um mich herum allmählich die Umrisse des Bahnhofs auf wie eine Fata Morgana. Ich stand allein auf dem Bahnsteig. Unendlich langsam fiel ein feiner Pulverschneevorhang nieder. Durch das Wolkengewölbe blinzelte im Osten eine rötliche Sonne und verwandelte den Schnee in winzige Funken. Ich ging zum Büro des Bahnhofsvorstehers und klopfte an die Scheibe. Er schaute auf, öffnete die Tür und sah mich desinteressiert an.
»Könnten Sie mir sagen, wie ich zur Villa San Antonio komme?«
Er hob die Braue.
»Das Sanatorium?«
»Ich glaube, ja.«
Er setzte ein nachdenkliches Gesicht auf, als wäge er ab, wie er einem Fremden den Weg beschreiben sollte, und nachdem er seinen Katalog an Gebärden und Grimassen durchgegangen war, bot er mir folgenden Abriss an:
»Sie gehen durchs Dorf, über den Platz mit der Kirche und dann bis zum See. Am See stoßen Sie auf eine lange, von alten Häusern gesäumte Allee, die zum Paseo de la Rigolisa führt. Dort, an der Ecke, steht ein großer dreistöckiger Kasten in einem Park. Das ist das Sanatorium.«
»Und kennen Sie irgendeinen Ort, wo ich ein Zimmer mieten kann?«
»Unterwegs kommen Sie am Hotel del Lago vorbei. Sagen Sie, der Sebas schickt Sie.«
»Danke.«
»Viel Glück.«
Durch den herabrieselnden Schnee stapfte ich die menschenleeren Straßen des Dorfes entlang und hielt nach dem Kirchturm Ausschau. Ab und zu begegnete ich einem Einheimischen, der mich mit einem Nicken grüßte und misstrauisch musterte. Auf dem Platz zeigten mir zwei junge Burschen, die einen Kohlenwagen abluden, den Weg zum See, und zwei Minuten später bog ich in eine Straße ein, die an einer großen, weißgefrorenen Fläche entlangführte. Mächtige alte Villen mit spitzen Türmen umgaben den See, und eine Promenade mit Bänken und Bäumen zog sich wie ein Band um die Eisfläche herum, in der kleine Ruderboote festsaßen. Ich trat ans Ufer und betrachtete den gefrorenen See vor mir. Die Eisschicht musste etwa eine Handbreit dick sein und glänzte an einigen Stellen wie Rauchglas, sodass man sich das schwarze Wasser unter dem Panzer vorstellen konnte.
Das Hotel del Lago war ein zweistöckiges, dunkelrot gestrichenes Gebäude direkt am Wasser. Bevor ich meinen Weg fortsetzte, reservierte ich ein Zimmer für zwei Nächte, die ich im Voraus bezahlte. Der Portier ließ mich wissen, dass das Hotel praktisch leer stand, sodass ich mir das Zimmer aussuchen konnte.
»Nr. 101 bietet bei Tagesanbruch eine spektakuläre Aussicht auf den See«, sagte er. »Aber wenn Sie die Aussicht nach Norden bevorzugen, habe ich…«
»Wählen Sie«, unterbrach ich ihn, da mir die erhabene Schönheit dieser Dämmerlandschaft egal war.
»Dann die Nr. 101. In der Sommersaison das Lieblingszimmer der Frischvermählten.«
Er reichte mir die Schlüssel zu der angeblichen Hochzeitssuite und nannte mir die Zeiten für das Abendessen. Ich sagte, ich werde später zurückkommen, und fragte, ob es weit sei bis zur Villa San Antonio. Er setzte dieselbe Miene auf wie der Bahnhofsvorsteher und schüttelte dann freundlich lächelnd den Kopf.
»Sie ist ganz in der Nähe, nur zehn Minuten von hier. Wenn Sie die Promenade am Ende dieser Straße nehmen, werden Sie die Villa an deren Ende bereits sehen. Sie ist nicht zu verfehlen.«
Zehn Minuten später stand ich vor dem Tor eines großen Parks, der mit eingeschneitem Laub bedeckt war. In einiger Entfernung stand, ins goldene Licht ihrer Fenster gehüllt und einer Schildwache gleich, die Villa San Antonio. Ich durchquerte den Park, während mir das Herz bis zum Hals schlug und mir trotz der schneidenden Kälte die Hände schwitzten. Ich stieg die Treppe zum Haupteingang hinauf. Die große Vorhalle war im Schachbrettmuster gefliest und führte zu einer breiten Treppe. Auf dieser sah ich eine junge Krankenschwester mit einem Tattergreis an der Hand, der eine Ewigkeit zwischen zwei Stufen zu verharren schien, als sei sein ganzes Leben in einem Atemzug gefangen.
»Guten Abend«, sagte eine Stimme zu meiner Rechten.
Sie hatte schwarze, ernste Augen, Gesichtszüge ohne jede Spur von Mitgefühl und die nüchterne Miene eines Menschen, der gelernt hat, nichts als schlechte Nachrichten zu erwarten. Sie musste um die fünfzig sein, und obwohl sie die gleiche Uniform trug wie die junge Krankenschwester mit dem Greis, strahlte alles an ihr Autorität und Rang aus.
»Guten Abend. Ich suche jemanden mit dem Namen Cristina Sagnier. Ich habe Grund zur Annahme, dass sie hier logiert…«
Sie schaute mich an, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Hier logiert niemand, mein Herr. Das ist weder ein Hotel noch ein Gästehaus.«
»Entschuldigen Sie. Ich habe eine lange Reise gemacht, um diese Person zu besuchen…«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte die Schwester. »Darf ich fragen, ob Sie ein Angehöriger oder Verwandter sind?«
»Mein Name ist David Martín. Ist Cristina Sagnier hier? Bitte…«
Ihr Ausdruck wurde weicher. Dann folgten die Andeutung eines freundlichen Lächelns und ein Nicken. Ich atmete durch.
»Ich bin Teresa, die Oberschwester der Nachtschicht. Wenn Sie so freundlich sein wollen, mir zu folgen, Señor Martín, werde ich Sie zum Büro von Dr. Sanjuán führen.«
»Wie geht es Señorita Sagnier? Kann ich sie sehen?«
Wieder das leichte, undurchdringliche Lächeln.
»Hier entlang, bitte.«
Der Raum war ein fensterloses Rechteck mit blau gestrichenen Wänden, in dem zwei Deckenlampen ein metallisches Licht verbreiteten. Ein nackter Tisch und zwei Stühle waren die einzigen Einrichtungsgegenstände. Er roch nach Desinfektionsmitteln, und es war kalt darin. Die Schwester hatte ihn Büro genannt, aber nach zehn Minuten einsamen Wartens auf einem der Stühle sah ich in ihm nur noch eine Zelle. Die Tür war geschlossen, aber trotzdem hörte man Stimmen, vereinzelte Schreie zwischen den Mauern. Ich verlor bereits das Gefühl dafür, wie lange ich mich schon hier befand, als die Tür aufging und ein Mann zwischen dreißig und vierzig Jahren in weißem Kittel und mit einem Lächeln so eiskalt wie der Raum eintrat. Dr. Sanjuán, vermutete ich. Er ging um den Tisch herum und nahm auf dem Stuhl mir gegenüber Platz. Dann legte er die Hände auf den Tisch und schaute mich einige Sekunden mit vager Neugier an, bevor er den Mund aufmachte.
»Ich bin mir darüber im Klaren, dass Sie eine lange Reise hinter sich haben und sicher müde sind, aber ich möchte gern wissen, warum Señor Vidal nicht hier ist«, sagte er schließlich.
»Er konnte nicht kommen.«
Er schaute mich ungerührt an und wartete. Sein Blick war frostig, und er hatte den speziellen Ausdruck von Leuten, die weder hören noch zuhören.
»Kann ich sie sehen?«
»Sie können niemanden sehen, wenn Sie mir nicht vorher die Wahrheit sagen und mir verraten, was Sie hier suchen.«
Ich nickte mit einem Seufzer. Ich war nicht hundertfünfzig Kilometer weit gefahren, um zu lügen.
»Mein Name ist Martín, David Martín. Ich bin ein Freund von Cristina Sagnier.«
»Hier nennen wir sie Señora Vidal.«
»Es ist mir egal, wie Sie sie nennen. Ich will sie sehen. Jetzt.«
Der Arzt seufzte.
»Sind Sie der Schriftsteller?«
Ungeduldig stand ich auf.
»Was ist das für ein Ort? Warum kann ich sie nicht endlich sehen?«
»Setzen Sie sich bitte. Tun Sie mir den Gefallen.«
Er deutete auf den Stuhl und wartete, bis ich mich wieder hingesetzt hatte.
»Darf ich fragen, wann Sie sie zum letzten Mal gesehen oder mit ihr gesprochen haben?«
»Das muss vor etwas über einem Monat gewesen sein. Warum?«
»Wissen Sie, ob jemand sie nach Ihnen gesehen oder mit ihr gesprochen hat?«
»Nein, das weiß ich nicht. Was ist hier eigentlich los?«
Er legte die rechte Hand an die Lippen und suchte nach den angemessenen Worten.
»Señor Martín, ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten.«
Ich spürte, wie sich mein Magen zu einem Knoten ballte.
»Was ist ihr zugestoßen?«
Er schaute mich wortlos an, und zum ersten Mal glaubte ich in seinem Blick einen Anflug von Zweifel zu erkennen.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich.
Wir durchschritten einen kurzen, von Metalltüren gesäumten Gang. Dr. Sanjuán ging mit einem Schlüsselbund in der Hand voran. Hinter den Türen glaubte ich ein Flüstern zu hören, das von Lachen oder Weinen erstickt wurde, als wir vorbeigingen. Der Raum befand sich am Ende des Korridors. Der Arzt schloss die Tür auf, blieb auf der Schwelle stehen und sah mich ausdruckslos an.
»Eine Viertelstunde«, sagte er.
Ich trat ein und hörte ihn hinter mir abschließen. Vor mir lag ein Raum mit hoher Decke und weißen Wänden, die sich in einem blitzblanken Fliesenboden spiegelten. Auf der einen Seite stand hinter einem Gazevorhang ein leeres Bett mit Metallgestell. Durch ein großes Fenster sah man den verschneiten Park, die Bäume und in einiger Entfernung den See. Erst als ich ein paar Schritte in den Raum hineinging, bemerkte ich sie.
Sie saß in einem Sessel vor dem Fenster, trug ein weißes Nachthemd und hatte das Haar zu einem Zopf geflochten. Ich ging um den Sessel herum und sah sie an. Ihre Augen blieben unbeweglich. Als ich neben ihr niederkniete, blinzelte sie nicht einmal. Ich legte die Hand auf ihre, und kein Muskel in ihrem Körper rührte sich. Da sah ich die Verbände um ihre Arme, zwischen Handgelenk und Ellbogen, und die Gurte, mit denen sie am Sessel festgebunden war. Ich streichelte ihre Wange und fing eine Träne auf.
»Cristina«, flüsterte ich.
Ihr Blick hing im Nirgendwo, nahm mich nicht wahr. Ich rückte einen Stuhl heran und setzte mich ihr gegenüber.
»Ich bin’s, David.«
Eine Viertelstunde lang blieben wir so sitzen, schweigend, ihre Hand in meiner, ihr Blick verloren und meine Worte ohne Antwort. Irgendwann hörte ich die Tür aufgehen und spürte, dass mich jemand sanft am Arm fasste und hochzog. Dr. Sanjuán. Widerstandslos ließ ich mich auf den Gang hinausführen. Er schloss die Tür ab und begleitete mich in das eisige Büro zurück. Dort sackte ich auf dem Stuhl zusammen und schaute ihn an, unfähig, etwas zu sagen.
»Möchten Sie, dass ich Sie einige Minuten allein lasse?«, fragte er.
Ich bejahte. Beim Hinausgehen lehnte er die Tür an. Ich schaute auf meine rechte Hand, die zitterte, und ballte sie zur Faust. Ich spürte kaum noch die Kälte im Raum und nahm die Schreie und Stimmen, die durch die Wände drangen, nicht mehr richtig wahr. Ich wusste nur, dass ich keine Luft bekam und hier wegmusste.
Dr. Sanjuán fand mich im Speisesaal des Hotels del Lago vor dem Feuer und einem Teller, den ich nicht angerührt hatte. Außer mir war nur noch ein Zimmermädchen anwesend, das von einem unbesetzten Tisch zum nächsten ging und mit einem Tuch das Besteck auf Hochglanz brachte. Vor den Fenstern war tiefe Nacht, und der Schnee fiel bedächtig wie blauer Glasstaub. Mit einem Lächeln trat der Arzt an meinen Tisch.
»Ich habe vermutet, Sie hier zu treffen. Alle Fremden landen hier. Auch ich habe hier meine erste Nacht im Dorf verbracht, als ich vor zehn Jahren anreiste. Welches Zimmer hat man Ihnen denn gegeben?«
»Angeblich das Lieblingszimmer der Frischvermählten, mit Blick auf den See.«
»Glauben Sie das nicht. Das sagen sie von allen Zimmern.«
Außerhalb des Sanatoriumsgeländes und ohne weißen Kittel wirkte Dr. Sanjuán entspannter und freundlicher.
»Ohne Ihre Kluft hätte ich Sie beinahe nicht erkannt«, sagte ich.
»In der Medizin ist es wie in der Armee. Ohne Uniform ist man ein Nichts. Wie geht es Ihnen?«
»Gut. Ich habe schon schlimmere Tage erlebt.«
»Hm. Ich habe Sie vorhin vermisst, als ich wieder ins Büro kam, um Sie zu holen.«
»Ich musste etwas frische Luft schnappen.«
»Verstehe. Aber eigentlich habe ich darauf gezählt, dass Sie weniger leicht zu beeindrucken wären.«
»Warum?«
»Weil ich Sie brauche. Besser gesagt, Cristina braucht Sie.«
»Sie halten mich bestimmt für einen Feigling«, sagte ich ein wenig verlegen.
Der Arzt schüttelte den Kopf.
»Wie lange geht es ihr schon so?«
»Seit Wochen. Praktisch seit sie hergekommen ist. Mit der Zeit hat sich ihr Zustand noch verschlimmert.«
»Weiß sie, wo sie ist?«
Er zuckte die Schultern.
»Das ist schwer zu beurteilen.«
»Was ist mit ihr geschehen?«
Dr. Sanjuán seufzte.
»Vor vier Wochen hat man sie nicht weit von hier aufgefunden, auf dem Dorffriedhof, wo sie auf dem Grabstein ihres Vaters lag. Sie litt an Unterkühlung und delirierte. Man hat sie ins Sanatorium gebracht — ein Zivilgardist hat sie erkannt, weil sie letztes Jahr mehrere Monate hier verbrachte, als sie ihren Vater besuchte. Viele Leute im Dorf kannten sie. Wir haben sie hierbehalten, und sie stand zwei Tage unter Beobachtung. Sie hatte viel Flüssigkeit verloren und möglicherweise seit Tagen nicht mehr geschlafen. Zeitweise kam sie wieder zu Bewusstsein. In solchen Momenten hat sie von Ihnen gesprochen. Sie sagte, Sie seien in großer Gefahr. Ich musste schwören, niemanden zu benachrichtigen, weder ihren Mann noch sonst jemand, bis sie es selbst tun könnte.«
»Trotzdem — warum haben Sie Vidal nicht über das informiert, was geschehen ist?«
»Ich hätte es getan, aber… Sie werden es absurd finden.«
»Was denn?«
»Ich war der Überzeugung, dass sie auf der Flucht war, und dachte, es sei meine Pflicht, ihr zu helfen.«
»Auf der Flucht vor wem?«
»Ich bin nicht sicher«, sagte er mit einem unbestimmbaren Ausdruck.
»Was verschweigen Sie mir, Doktor?«
»Ich bin ein einfacher Arzt. Es gibt Dinge, die ich nicht verstehe.«
»Was für Dinge?«
Er lachte nervös.
»Cristina glaubt, etwas — oder jemand — sei in sie gefahren und wolle sie vernichten.«
»Wer?«
»Ich weiß nur, dass sie glaubt, es habe mit Ihnen zu tun und es sei jemand oder etwas, was Ihnen Angst macht. Aus diesem Grund denke ich, dass ihr niemand anders helfen kann. Darum habe ich auch Vidal nicht benachrichtigt, wie es meine Pflicht gewesen wäre. Ich wusste, dass Sie früher oder später hier auftauchen würden.«
Er sah mich mit einer seltsamen Mischung aus Mitleid und Groll an.
»Auch ich schätze sie, Señor Martín. In den Monaten, die Cristina hier bei ihrem Vater verbracht hat… sind sie und ich schließlich gute Freunde geworden. Vermutlich hat sie Ihnen nichts von mir erzählt, und möglicherweise hatte sie auch keine Veranlassung dazu. Es war eine sehr schwierige Zeit für sie. Sie hat mir vieles anvertraut, so wie ich ihr, Dinge, die ich sonst niemandem gesagt habe. Ich habe ihr sogar die Ehe angetragen — nur damit Sie wissen, dass auch wir Ärzte hier ein wenig verrückt sind. Natürlich hat sie mich abgewiesen. Ich weiß auch nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle.«
»Sie wird aber wieder gesund werden, Doktor, nicht wahr? Sie wird sich erholen…«
Er wandte den Blick ab und schaute mit traurigem Lächeln ins Feuer.
»Das hoffe ich«, antwortete er.
»Ich will sie mitnehmen.«
Er hob die Brauen.
»Mitnehmen? Wohin?«
»Nach Hause.«
»Señor Martín, gestatten Sie mir, offen zu reden. Abgesehen davon, dass Sie kein direkter Angehöriger und noch weniger der Ehemann der Patientin sind, was ganz einfach ein gesetzliches Erfordernis wäre, ist Cristina nicht in der Lage, mit irgendwem irgendwohin zu gehen.«
»Geht es ihr hier bei Ihnen besser, eingeschlossen in diesem alten Kasten, an einen Stuhl gefesselt und unter Drogen gesetzt? Sagen Sie nicht, Sie hätten ihr wieder die Ehe angetragen.«
Er sah mich lange an und schluckte die Kränkung hinunter, die meine Worte zweifellos für ihn bedeuteten.
»Señor Martín, ich freue mich, dass Sie hier sind, denn ich glaube, gemeinsam werden wir Cristina helfen können. Ich glaube, Ihre Anwesenheit wird ihr gestatten, den Ort zu verlassen, an den sie sich geflüchtet hat. Und ich bin dieser Überzeugung, weil das Einzige, was sie in den letzten beiden Wochen gesagt hat, Ihr Name ist. Was immer ihr zugestoßen ist, ich glaube, es hatte mit Ihnen zu tun.«
Er schaute mich an, als erwarte er etwas von mir, etwas, was auf alle Fragen eine Antwort gäbe.
»Ich dachte, sie hätte mich verlassen«, begann ich.
»Wir wollten verreisen, alles hinter uns lassen. Ich war einen Moment aus dem Haus gegangen, um die Fahrkarten für den Zug zu kaufen und noch ein paar Besorgungen zu machen. Ich war höchstens anderthalb Stunden weg. Als ich zurückkam, war Cristina nicht mehr da.«
»Ist irgendetwas geschehen, bevor Sie weggingen? Haben Sie sich gestritten?«
Ich biss mir auf die Lippen.
»Ich würde es nicht Streit nennen.«
»Wie würden Sie es dann nennen?«
»Ich habe sie dabei ertappt, wie sie sich Papiere ansah, die mit meiner Arbeit zu tun hatten, und ich glaube, sie war gekränkt, weil sie das Gefühl hatte, ich würde ihr nicht vertrauen.«
»War es etwas Wichtiges?«
»Nein. Bloß ein Manuskript, ein Entwurf.«
»Darf ich fragen, was für eine Art Manuskript?«
Ich zögerte.
»Eine Fabel.«
»Für Kinder?«
»Sagen wir, für die ganze Familie.«
»Verstehe.«
»Nein, ich glaube nicht, dass Sie es verstehen. Es gab keinen Streit. Cristina war nur ein wenig ärgerlich, weil ich ihr nicht erlaubt hatte, einen Blick hineinzuwerfen, nichts weiter. Als ich sie verließ, ging es ihr gut, sie packte für die Reise. Dieses Manuskript hat keinerlei Bedeutung.«
Er nickte eher höflich als überzeugt.
»Könnte es sein, dass jemand sie bei Ihnen aufgesucht hat, während Sie weg waren?«
»Niemand außer mir wusste, dass sie da war.«
»Fällt Ihnen irgendein Grund ein, warum sie das Haus verlassen haben könnte, bevor Sie zurückkamen?«
»Nein. Wieso?«
»Das alles sind nur Fragen, Señor Martín. Ich versuche zu klären, was geschehen ist zwischen dem Augenblick, in dem Sie sie zum letzten Mal gesehen haben, und ihrem Erscheinen hier.«
»Hat sie gesagt, wer oder was in sie gefahren ist?«
»Das ist eine Redensart, Señor Martín. Nichts ist in Cristina gefahren. Patienten, die etwas Traumatisches erlebt haben, glauben nicht selten die Gegenwart verstorbener Angehöriger oder fiktiver Personen zu verspüren. Dazu gehört oft auch, dass sie in ihrem eigenen Geist Zuflucht suchen und die Türen zur Außenwelt verriegeln. Das ist eine emotionale Antwort, eine Art, sich gegen Gefühle oder Erregungszustände zu wehren, die sie nicht annehmen können. Das braucht Sie im Moment nicht zu beunruhigen. Was zählt und was uns helfen wird, ist, dass Sie der wichtigste Mensch für sie sind. Aufgrund von Dingen, die sie mir seinerzeit erzählt hat und die unter uns geblieben sind, und aufgrund dessen, was ich in den letzten Wochen selbst beobachtet habe, weiß ich, dass Cristina Sie liebt, Señor Martín. Sie liebt Sie so sehr, wie sie noch nie jemanden geliebt hat und wie sie mich sicher nie lieben wird. Darum bitte ich Sie, sich nicht durch Angst oder Ressentiments blenden zu lassen und mir zu helfen — wir wollen beide dasselbe. Wir wollen beide, dass Cristina diesen Ort wieder verlassen kann.«
Ich nickte beschämt.
»Verzeihen Sie, wenn ich vorhin…«
Er hob beschwichtigend die Hand. Dann stand er auf und schlüpfte in den Mantel. Wir gaben uns die Hand.
»Ich erwarte Sie morgen«, sagte er.
»Danke, Doktor.«
»Ich danke Ihnen. Dass Sie zu ihr gekommen sind.«
Als ich am nächsten Tag das Hotel verließ, ging gerade die Sonne über dem gefrorenen See auf. Eine Gruppe Kinder spielte am Ufer und warf mit Steinen nach dem Rumpf eines im Eis festgefrorenen Bootes. Es hatte zu schneien aufgehört, und in der Ferne konnte man die weißen Berge und am Himmel große Wolken sehen, die dahinglitten wie riesige Burgen aus Dunst. Kurz vor neun Uhr erreichte ich das Sanatorium. Dr. Sanjuán saß mit Cristina im Park in der Sonne und erwartete mich. Er hielt ihre Hand in der seinen, während er mit ihr sprach. Als er mich durch den Park kommen sah, winkte er mich herbei. Er hatte einen Stuhl für mich vor Cristina hingestellt. Ich setzte mich und schaute sie an. Unsere Blicke trafen sich, ohne dass sie mich sah.
»Cristina, schau, wer gekommen ist«, sagte der Arzt.
Ich ergriff ihre Hand und beugte mich dicht zu ihr hin.
»Sprechen Sie mit ihr«, sagte der Arzt.
Ich nickte, von diesem abwesenden Blick gebannt, und fand keine Worte. Der Arzt stand auf und verschwand im Haus, nachdem er einer Schwester aufgetragen hatte, uns nicht aus den Augen zu lassen. Ich ignorierte ihre Anwesenheit und rückte den Stuhl näher an Cristina heran. Dann strich ich ihr das Haar aus der Stirn, und sie lächelte.
»Erinnerst du dich an mich?«, fragte ich.
Ich sah mich in ihren Augen gespiegelt, wusste aber nicht, ob sie mich sah oder meine Stimme hörte.
»Der Doktor sagt, du wirst dich bald erholen, und dann können wir gehen. Wohin du willst. Ich habe gedacht, ich ziehe aus dem Haus mit dem Turm aus und wir gehen weit weg, wie du es wolltest. Irgendwohin, wo uns niemand kennt und wo es niemanden interessiert, wer wir sind und woher wir kommen.«
Ihre Hände steckten in Wollhandschuhen, die die Verbände an den Armen verbargen. Sie war abgemagert, und tiefe Furchen hatten sich in ihr Gesicht gegraben, die Lippen waren gesprungen und die glanzlosen Augen ohne Leben. Ich lächelte ihr zu und streichelte ihr Wangen und Stirn, sprach unablässig, erzählte ihr, wie sehr ich sie vermisst und dass ich sie überall gesucht hätte. So verbrachten wir zwei Stunden, bis der Arzt zurückkam und sie zusammen mit der Krankenschwester hineinbrachte. Ich blieb sitzen, da ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte, bis Dr. Sanjuán wieder herauskam und neben mir Platz nahm.
»Sie hat kein Wort gesagt. Ich glaube, sie hat nicht einmal wahrgenommen, dass ich da bin…«
»Da irren Sie sich, mein Freund. Das ist ein langsamer Prozess, aber ich versichere Ihnen, dass Ihre Anwesenheit ihr hilft, und zwar sehr.«
Ich nahm seine barmherzigen Almosen und Schwindeleien nickend entgegen.
»Morgen versuchen wir es wieder«, sagte er.
Es war noch nicht einmal zwölf.
»Und was soll ich jetzt tun bis morgen?«, fragte ich.
»Sie sind doch Schriftsteller. Schreiben Sie. Schreiben Sie etwas für sie.«
Am See entlang kehrte ich ins Hotel zurück. Der Portier erklärte mir, wie ich die einzige Buchhandlung des Ortes fände. Dort kaufte ich Schreibpapier und einen Füllfederhalter, der seit unvordenklichen Zeiten da gelegen haben musste. Dergestalt ausgerüstet, schloss ich mich in meinem Zimmer ein, nachdem ich eine Thermosflasche Kaffee bestellt hatte. Ich rückte den Tisch ans Fenster und schaute fast eine Stunde auf den See und die Berge in der Ferne, ehe ich das erste Wort schrieb. Ich erinnerte mich an die alte Fotografie, die mir Cristina geschenkt hatte und auf der ein Mädchen zu sehen war, das auf einem Holzsteg ins Meer hinausschritt. Ihr Geheimnis war ihr immer verborgen geblieben. Ich stellte mir vor, ich schreite ebenfalls über diesen Steg, meine Schritte führten mich hinter ihr her, und ganz allmählich begannen die Worte zu fließen, und das Gerüst einer kleinen Geschichte zeichnete sich ab. Ich wusste, dass ich die Geschichte schreiben würde, an die sich Cristina nicht erinnern konnte: warum sie als Mädchen an der Hand eines Fremden auf das glitzernde Wasser hinausgegangen war. Ich wollte die Geschichte dieser Erinnerung schreiben, die niemals eine gewesen war, der Erinnerung an ein geraubtes Leben. Die Bilder und das Licht, die in diesen Sätzen aufschienen, trugen mich wieder in das alte, finstere Barcelona zurück, das uns beide geschaffen hatte. Ich schrieb, bis die Sonne unterging und kein Tropfen Kaffee mehr in der Thermosflasche war, der gefrorene See unter dem blauen Mond zu leuchten begann und mir Augen und Hände schmerzten. Ich ließ den Füllfederhalter fallen und schob die Blätter von mir. Als der Portier anklopfte, um zu fragen, ob ich zum Abendessen käme, ignorierte ich ihn. Einen Moment später fiel ich in einen tiefen Schlaf, träumte ausnahmsweise einmal und glaubte an die heilende Kraft der Worte, selbst der meinen.
Die nächsten vier Tage verliefen alle gleich. Ich erwachte in der Morgendämmerung und trat auf den Balkon hinaus, um zuzuschauen, wie die Sonne den See zu meinen Füßen rot färbte. Gegen halb neun war ich im Sanatorium und traf wie üblich Dr. Sanjuán auf den Stufen der Eingangstreppe sitzend, wo er mit einer Tasse dampfenden Kaffees in der Hand den Park betrachtete.
»Schlafen Sie nie, Doktor?«, fragte ich.
»Nicht mehr als Sie.«
Gegen neun Uhr begleitete er mich zu Cristinas Zimmer, schloss die Tür auf und ließ uns allein. Immer saß sie im selben Sessel vor dem Fenster. Ich rückte einen Stuhl heran und ergriff ihre Hand. Sie nahm meine Anwesenheit kaum zur Kenntnis. Dann las ich ihr die am Vorabend für sie geschriebenen Seiten vor. Jeden Tag begann ich wieder von vorn. Manchmal unterbrach ich mich, um aufzuschauen und mich vom Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen überraschen zu lassen. Ich blieb den ganzen Tag bei ihr, bis gegen Abend der Arzt zurückkam und mich zu gehen bat. Dann schleppte ich mich im Schnee durch die menschenleeren Straßen ins Hotel, aß etwas zu Abend und schrieb anschließend in meinem Zimmer weiter, bis mich der Schlaf übermannte. Die Tage verloren ihre Namen.
Als ich am fünften Morgen Cristinas Zimmer betrat, war der Sessel, in dem ich sie immer antraf, leer. Alarmiert schaute ich mich um und entdeckte sie in einer Ecke, zusammengekauert, die Arme um die Knie geschlungen und das Gesicht tränenüberströmt. Bei meinem Anblick lächelte sie, und ich begriff, dass sie mich erkannt hatte. Ich kniete neben ihr nieder und umarmte sie. Ich glaube, ich war noch nie so glücklich wie in diesen Sekunden, in denen ich ihren Atem im Gesicht spürte und sah, dass ein Funken Licht in ihre Augen zurückgekehrt war.
»Wo bist du gewesen?«, fragte sie.
An diesem Nachmittag gestattete mir Dr. Sanjuán einen einstündigen Spaziergang mit ihr. Wir setzten uns auf eine Bank am See. Sie begann mir von einem Traum zu erzählen, von einem kleinen Mädchen, das in einer dunklen, labyrinthischen Stadt lebte, deren Straßen und Häuser lebendig waren und sich von den Seelen ihrer Bewohner ernährten. In ihrem Traum, genauso wie in der Erzählung, die ich ihr in den letzten Tagen vorgelesen hatte, schaffte es die Kleine zu entkommen, und sie gelangte zu einem auf das grenzenlose Meer hinausführenden Steg. Sie ging an der Hand eines namen- und gesichtslosen Fremden, der sie gerettet hatte und nun ans Ende dieses aus Planken gefügten Weges begleitete, wo jemand sie erwartete, den sie nie zu sehen bekam, denn ihr Traum war, genau wie meine Geschichte, unvollendet.
Vage erinnerte sich Cristina an die Villa San Antonio und an Dr. Sanjuán. Errötend erzählte sie mir, sie glaube, er habe ihr in der Woche zuvor die Ehe angetragen. In ihrem Kopf gerieten Zeit und Raum durcheinander. Manchmal dachte sie, ihr Vater wohne in einem der Zimmer und sie sei ihn besuchen gekommen. Einen Augenblick später wusste sie nicht mehr, wie sie hierhergekommen war, und manchmal fragte sie sich nicht einmal danach. Sie erinnerte sich, dass ich Fahrkarten für den Zug kaufen gegangen war, und manchmal sprach sie von jenem Morgen, an dem sie verschwunden war, als wäre es gestern gewesen. Zuweilen verwechselte sie mich mit Vidal und bat mich dann um Verzeihung. Andere Male verfinsterte die Angst ihr Gesicht, und sie begann zu zittern.
»Er kommt«, sagte sie. »Ich muss gehen. Bevor er dich sieht.«
Dann verfiel sie in ein langes Schweigen und schien weit weg von mir und der Welt, als hätte irgendetwas sie an einen fernen, unerreichbaren Ort geschleift. Nach einigen Tagen traf mich die Gewissheit, dass sie den Verstand verloren hatte, wie ein Schlag. Die Hoffnung des ersten Augenblicks wurde bitter, und wenn ich abends in meine Hotelzelle zurückkehrte, spürte ich manchmal, wie sich in mir der alte Abgrund von Dunkelheit und Hass auftat, den ich schon vergessen geglaubt hatte. Dr. Sanjuán, der mich ebenso geduldig und hartnäckig beobachtete wie seine Patienten, hatte mich vorgewarnt.
»Sie dürfen die Hoffnung nicht verlieren, mein Freund«, sagte er. »Wir machen große Fortschritte. Haben Sie Vertrauen.«
Gehorsam stimmte ich zu und ging Tag für Tag ins Sanatorium, um mit Cristina zum See zu spazieren und mir diese geträumten Erinnerungen anzuhören, die sie mir Dutzende Male erzählt hatte, aber täglich von neuem entdeckte. Täglich fragte sie mich, wo ich gewesen sei, warum ich sie nicht geholt, warum ich sie allein gelassen habe. Täglich schaute sie mich zwischen den Gitterstäben ihres unsichtbaren Käfigs hindurch an und bat mich, sie zu umarmen. Täglich fragte sie mich beim Abschied, ob ich sie liebe, und immer gab ich dieselbe Antwort.
»Ich werde dich immer lieben. Immer.«
Eines Nachts weckte mich ein Klopfen an meiner Zimmertür. Es war drei Uhr früh. Benommen schleppte ich mich zur Tür und sah mich einer der Krankenschwestern des Sanatoriums gegenüber.
»Dr. Sanjuán hat mich gebeten, Sie zu holen«, sagte sie.
Zehn Minuten später betrat ich die Villa San Antonio. Die Schreie waren schon im Park zu hören. Cristina hatte ihre Tür von innen verriegelt. Dr. Sanjuán, der aussah, als hätte er seit einer Woche nicht mehr geschlafen, und zwei Pfleger versuchten sie aufzubrechen. Drinnen hörte man Cristina schreien und gegen die Wände toben, Möbel umwerfen und Gegenstände zerschmettern.
»Wer ist da bei ihr?«, fragte ich wie erstarrt.
»Niemand«, antwortete der Arzt.
»Aber sie spricht mit jemandem…«
»Sie ist allein.«
Ein Nachtwächter kam mit einer langen Metallstange angerannt.
»Das ist alles, was ich gefunden habe«, sagte er.
Der Arzt nickte, und der Nachtwächter rammte die Stange in den Türspalt und stemmte sich mit aller Kraft dagegen.
»Wie hat sie von innen abschließen können?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht…«
Zum ersten Mal glaubte ich im Gesicht des Arztes Angst zu lesen; er wich meinem Blick aus. Kurz bevor der Nachtwächter die Tür aufbrechen konnte, wurde es drinnen plötzlich still.
»Cristina?«, rief der Arzt.
Keine Antwort. Endlich gab die Tür nach und sprang auf. Ich folgte dem Arzt ins Zimmer, das im Halbdunkel lag. Das Fenster stand offen, und ein eisiger Wind drang herein. Tische, Stühle und Sessel waren umgeworfen, die Wände verschmiert, sie wirkten wie mit dunkler Farbe beschriftet. Blut. Von Cristina keine Spur.
Die Pfleger rannten auf den Balkon hinaus und suchten den Park nach Spuren im Schnee ab. Der Arzt sah sich links und rechts nach Cristina um. Da hörten wir ein Lachen aus dem Bad. Ich ging zur Tür und öffnete sie. Cristina saß auf dem scherbenübersäten Boden und lehnte wie eine kaputte Puppe an der Metallwanne. Ihre über und über zerschnittenen Hände und Füße bluteten. Vom gesprungenen Spiegel, den sie mit den Händen zertrümmert hatte, rann immer noch ihr Blut. Ich legte die Arme um sie und suchte ihren Blick. Sie lächelte.
»Ich habe ihn nicht hereingelassen«, sagte sie.
»Wen?«
»Er wollte, dass ich vergesse, aber ich habe ihn nicht hereingelassen«, wiederholte sie.
Der Arzt kniete neben mir nieder und untersuchte die Schnittwunden, die Cristinas Körper bedeckten.
»Bitte«, flüsterte er und schob mich beiseite. »Nicht jetzt.«
Einer der Pfleger hatte eilig eine Trage geholt. Ich half ihnen, Cristina darauf zu betten, und hielt ihre Hand, während sie in ein Untersuchungszimmer gebracht wurde. Dort injizierte ihr Dr. Sanjuán ein Beruhigungsmittel, das ihr in Sekundenschnelle das Bewusstsein nahm. Ich blieb bei ihr und schaute zu, wie ihre Augen ein leerer Spiegel wurden, bis mich eine der Schwestern aus dem Raum zog. Mitten im halbdunklen, nach Desinfektionsmitteln riechenden Gang blieb ich stehen, die Hände und Kleider blutbefleckt. Ich lehnte mich an die Wand, ließ mich langsam zu Boden gleiten.
Als Cristina am nächsten Tag erwachte, war sie mit Lederriemen am Bett festgebunden, eingeschlossen in einem fensterlosen, einzig von einer gelblichen Glühbirne an der Decke beleuchteten Raum. Ich hatte sie auf einem Stuhl in der Ecke die ganze Nacht beobachtet und wusste nicht mehr, wie viel Zeit verstrichen war. Plötzlich riss sie vor Schmerz die Augen auf, als sie die stechenden Wunden auf ihren Armen spürte.
»David?«, rief sie.
»Ich bin hier.«
Ich trat ans Bett und beugte mich über sie, damit sie mein Gesicht und das blutarme, für sie einstudierte Lächeln sähe.
»Ich kann mich nicht bewegen.«
»Du bist mit Riemen festgebunden. Es ist zu deinem Besten. Sobald der Doktor kommt, wird er sie dir abnehmen.«
»Nimm du sie mir ab.«
»Das darf ich nicht. Nur der Doktor kann…«
»Bitte«, bettelte sie.
»Cristina, es ist besser, wenn…«
»Bitte.«
In ihrem Blick lagen Schmerz und Angst, vor allem aber eine Klarheit und Geistesgegenwart, die ich in all den vergangenen Tagen nicht an ihr gesehen hatte. Sie war wieder sie selbst. Ich löste die oberen Riemen über Armen und Taille. Dann streichelte ich ihr Gesicht. Sie zitterte.
»Ist dir kalt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Soll ich den Doktor holen?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»David, sieh mich an.«
Ich setzte mich auf die Bettkante und schaute ihr in die Augen.
»Du musst es vernichten«, sagte sie.
»Ich verstehe dich nicht.«
»Du musst es vernichten.«
»Was?«
»Das Buch.«
»Cristina, am besten hole ich den Doktor…«
»Nein. Hör mir zu.«
Sie umklammerte meine Hand.
»Der Vormittag, an dem du die Fahrkarten geholt hast, weißt du noch? Da bin ich noch einmal in dein Arbeitszimmer hinaufgegangen und habe die Truhe geöffnet.«
Ich seufzte.
»Ich habe das Manuskript gefunden und zu lesen begonnen.«
»Es ist nur eine Fabel, Cristina…«
»Lüg mich nicht an. Ich habe es gelesen, David. Zumindest so viel, um zu erkennen, dass ich es vernichten musste…«
»Mach dir deswegen jetzt keine Sorgen. Ich habe dir ja gesagt, dass ich das Manuskript vergessen habe.«
»Aber er hat dich nicht vergessen. Ich habe versucht, es zu verbrennen…«
Als ich sie das sagen hörte, ließ ich einen Moment lang ihre Hand los — bei der Erinnerung an die verbrannten Streichhölzer auf dem Boden des Arbeitszimmers musste ich eine kalte Wut unterdrücken.
»Du hast versucht, es zu verbrennen?«
»Aber ich konnte nicht«, flüsterte sie. »Da war noch jemand in der Wohnung.«
»Niemand war in der Wohnung, Cristina. Niemand.«
»Sowie ich das Streichholz angezündet hatte und es ans Manuskript hielt, hörte ich ihn hinter mir. Ich habe einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen und bin hingefallen.«
»Wer hat dich geschlagen?«
»Alles war ganz dunkel, als hätte sich das Tageslicht zurückgezogen und könnte nicht mehr herein. Ich drehte mich um, aber alles war ganz dunkel. Ich habe nur seine Augen gesehen. Augen wie von einem Wolf.«
»Cristina…«
»Er hat mir das Manuskript aus den Händen genommen und wieder in die Truhe gelegt.«
»Cristina, es geht dir nicht gut. Lass mich den Doktor holen und…«
»Du hörst mir nicht zu.«
Lächelnd küsste ich sie auf die Stirn.
»Natürlich höre ich dir zu. Aber es war niemand sonst in der Wohnung…«
Sie schloss die Augen, wandte den Kopf ab und stöhnte, als würden ihr meine Worte die Eingeweide umdrehen.
»Ich hole den Doktor…«
Ich beugte mich über sie, um sie wieder zu küssen. Dann ging ich, ihren Blick im Rücken spürend, zur Tür.
»Feigling«, sagte sie.
Als ich mit Dr. Sanjuán ins Zimmer zurückkam, hatte Cristina eben den letzten Riemen gelöst und wankte auf die Tür zu, blutige Fußspuren auf den weißen Fliesen hinterlassend. Gemeinsam hielten wir sie fest und legten sie wieder aufs Bett. Sie schrie und wehrte sich so verbissen, dass einem das Blut in den Adern gefror. Der Lärm alarmierte das Personal der Krankenstation. Ein Pfleger half uns, sie zu bändigen, während der Arzt sie wieder festschnürte. Als sie sich nicht mehr rühren konnte, schaute er mich ernst an.
»Ich muss sie noch einmal sedieren. Bleiben Sie hier und kommen Sie mir nicht auf die Idee, die Riemen zu lösen.«
Eine Minute blieb ich mit ihr allein und versuchte, sie zu beruhigen. Sie rang noch immer mit den Riemen. Ich hielt ihr Gesicht fest, um ihren Blick einzufangen.
»Cristina, bitte…«
Sie spuckte mir ins Gesicht.
»Geh.«
Der Arzt kam in Begleitung einer Schwester zurück. Sie trug ein Metalltablett mit einer Spritze, Verbandszeug und einem Fläschchen mit einer gelblichen Lösung.
»Gehen Sie hinaus«, befahl er mir.
Ich zog mich bis an die Tür zurück. Die Schwester hielt Cristina auf dem Bett fest, während ihr der Arzt ein Beruhigungsmittel in den Arm spritzte. Cristina schrie mit verzerrter Stimme. Ich hielt mir die Ohren zu und ging auf den Korridor hinaus.
Feigling, sagte ich zu mir. Feigling.
Auf der anderen Seite des Sanatoriums Villa San Antonio führte ein baumgesäumter Weg entlang einem Bewässerungsgraben aus dem Dorf hinaus. Auf der gerahmten Karte im Speisesaal des Hotels del Lago wurde er süßlich als »Promenade der Verliebten« bezeichnet. An diesem Nachmittag wagte ich mich nach meinem Besuch im Sanatorium auf diesen düsteren Pfad, der eher an Einsamkeit denn an Liebeleien denken ließ. Nachdem ich, ohne einer Menschenseele zu begegnen, so lange gegangen war, dass die gezackten Silhouetten der Villa San Antonio und der Villen am Seeufer einer Pappkulisse glichen, setzte ich mich auf eine Bank und schaute in den Sonnenuntergang am Ende des Cerdanya-Tals. In etwa zweihundert Meter Entfernung war der Umriss einer kleinen, einsam auf einem verschneiten Feld stehenden Kapelle zu erkennen. Ich stand auf und stapfte auf sie zu, ohne recht zu wissen, warum. Wenige Meter davor bemerkte ich, dass die Tür fehlte. Die Mauern waren von den Flammen geschwärzt, die den Bau teilweise verzehrt hatten. Ich stieg die Eingangsstufen hinauf und ging einige Schritte hinein. Aus der Asche ragten die Reste verbrannter Bänke und von der Decke gestürzter Balken. Pflanzen waren hereingewuchert und hatten den ehemaligen Altar erklommen. Durch die engen Fensterscharten sickerte das Dämmerlicht. Ich setzte mich auf die Überreste einer Bank vor dem Altar und hörte dem Pfeifen des Windes in den Spalten des versengten Gewölbes zu. Ich schaute auf und wünschte mir, wenigstens eine Spur des Glaubens meines alten Freundes Sempere in mir zu tragen, des Glaubens an Gott oder an die Bücher, um Gott oder die Hölle um eine weitere Chance zu bitten und Cristina von hier wegbringen zu können.
»Bitte«, murmelte ich, während ich die Tränen zurückdrängte.
Ich lächelte bitter, ein geschlagener Mann, der einen Gott, an den er nie geglaubt hatte, mit armseligen Bitten anflehte. Ich schaute mich um, sah dieses Gotteshaus aus Schutt und Asche, Leere und Einsamkeit und wusste plötzlich, dass ich noch am selben Abend zurückgehen würde. Dazu bedurfte es keiner weiteren Wunder oder Segnungen, nur meiner Entschlossenheit, sie von hier wegzubringen und den Händen dieses verzagten, liebebedürftigen Arztes zu entreißen, der aus ihr sein Dornröschen machen wollte. Eher würde ich die Villa San Antonio in Brand stecken, als zuzulassen, dass noch einmal jemand Hand an sie legte. Ich würde sie mit zu mir nehmen, um an ihrer Seite zu sterben. Hass und Wut würden mir den Weg weisen.
Als es völlig dunkel war, verließ ich die Kapelle. Ich überquerte das im Mondlicht lodernde Silberfeld, ging auf den Pfad mit den Bäumen zurück und folgte im Finstern dem Bewässerungsgraben, bis ich in der Ferne die Lichter der Villa San Antonio und der Türme und Mansarden um den See herum erblickte. Beim Sanatorium angelangt, zog ich gar nicht die Klingel am Gittertor, sondern sprang über die Mauer und schlich in der Dunkelheit durch den Park. Auf der Rückseite steuerte ich einen Hintereingang an. Er war verschlossen, aber ich zögerte keine Sekunde, die Scheibe mit dem Ellbogen zu zertrümmern, um an die Klinke zu gelangen. Ich trat auf den Korridor, wo ich Stimmen und Gemurmel hörte und den von der Küche heraufsteigenden Duft einer Brühe roch. Ich ging durch das Erdgeschoss bis zum hintersten Zimmer. Hier hatte der gute Arzt Cristina eingeschlossen, zweifellos im Wahn, seine schlafende Schöne auf immer in einem Limbus von Narkotika und Riemen festzuhalten.
Ich hatte damit gerechnet, dass die Tür abgeschlossen wäre, aber die Klinke gab unter meiner Hand nach, die vor Aufregung zitterte. Ich stieß die Tür auf und trat ein. Als Erstes sah ich meinen eigenen Atem vor mir in der Luft schweben. Dann sah ich die blutigen Fußspuren auf dem weißen Fliesenboden. Das hohe Fenster zum Park stand weit offen, die Vorhänge bauschten sich im Wind. Das Bett war leer. Als ich näher trat, sah ich, dass die Riemen, mit denen der Arzt und die Schwestern Cristina festgebunden hatten, säuberlich durchgeschnitten waren, als wären sie aus Papier. Ich sprang in den Park hinaus und sah im Schnee rote Spuren leuchten, die sich zur Mauer hin entfernten. Dort angekommen, tastete ich sie ab und fand wieder Blut. Ich kletterte hinauf und sprang auf der anderen Seite hinunter. Die ungleichmäßigen Fußspuren führten in Richtung Dorf. Ich erinnere mich, dass ich losrannte.
Ich folgte den Spuren bis zu dem Park, der den See umgab. Der Vollmond ließ die große Eisfläche erstrahlen. Dort erblickte ich sie. Langsam humpelte sie auf den gefrorenen See hinaus, eine Blutspur zurücklassend. Ihr Nachthemd flatterte im Wind. Als ich das Ufer erreichte, war Cristina schon rund dreißig Meter weit auf den See hinausgelangt. Ich rief ihren Namen, und sie blieb stehen. Langsam drehte sie sich um und lächelte, während sich unter ihren Füßen ein Netz aus Rissen spann. Ich sprang aufs Eis und hörte die gefrorene Fläche unter meinen Schritten knacken. Trotzdem ging ich auf Cristina zu. Reglos stand sie dort und sah mir entgegen. Die Risse unter ihren Füßen wuchsen sich zu einem Geflecht schwarzer Kapillaren aus. Das Eis unter mir gab nach, und ich stürzte der Länge nach hin.
»Ich liebe dich«, hörte ich sie sagen.
Ich kroch zu ihr, aber die Spalten weiteten sich unter meinen Händen und bildeten einen Ring um Cristina. Nur wenige Meter trennten uns noch, als ich das Eis unter ihr brechen hörte. Vor ihr tat sich ein schwarzer Schlund auf und verschluckte sie wie eine Grube voll Teer. Sowie sie unter der Oberfläche verschwunden war, fügten sich die Schollen wieder zusammen und verschlossen die Öffnung. Die Strömung trieb ihren Körper unter der Eisschicht ein paar Meter weiter. Ich kroch zu der Stelle, wo die Falle über ihr zugeschnappt war, und schlug mit aller Kraft auf das Eis ein. Unter der durchscheinenden Fläche beobachtete sie mich mit offenen Augen und wogendem Haar. Ich hämmerte auf das Eis ein, bis meine Hände wund waren, vergebens. Cristina ließ mich keinen Moment aus den Augen. Sie legte ihre Hand ans Eis und lächelte. Schon entstiegen ihrem Mund die letzten Luftblasen, und die Pupillen weiteten sich ein letztes Mal. Einen Moment später versank sie langsam für immer in der Schwärze.
Ich ging nicht ins Hotel zurück, um meine Sachen zu holen. Verborgen zwischen den Bäumen, die den See umstanden, sah ich, wie der Arzt und zwei Zivilgardisten das Hotel betraten und sich, wie ich durchs Fenster erkennen konnte, mit dem Portier unterhielten. Durch dunkle, menschenleere Straßen schlich ich mich zum nebelverhüllten Bahnhof. Im Licht von zwei Gaslaternen sah man die Umrisse eines am Bahnsteig stehenden Zuges, rot getönt von dem an der Ausfahrt leuchtenden Signal. Die Lokomotive stand still, am Gestänge und den Hebeln hingen Eiszapfen wie Gelatinetropfen. Die Wagen waren dunkel, die Fenster von Raureif verschleiert. Im Büro des Bahnhofsvorstehers brannte ebenfalls kein Licht. Es dauerte noch Stunden bis zur Abfahrt des Zuges, und der Bahnhof lag verlassen da.
Ich trat zu einem der Wagen und versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Über die Gleise ging ich um den Zug herum, kletterte im Schatten auf die Plattform zwischen den beiden hintersten Wagen und versuchte mein Glück bei einer dieser Türen. Sie war offen. Ich schlüpfte in den Wagen und ins erstbeste Abteil. Dort schob ich von innen den Riegel vor. Zitternd vor Kälte, ließ ich mich auf den Sitz fallen. Ich wagte die Augen nicht zu schließen, vor lauter Angst, Cristinas Blick unter dem Eis zu begegnen. Minuten vergingen, vielleicht Stunden. Irgendwann fragte ich mich, warum ich mich eigentlich versteckte und warum ich nichts empfand.
Während ich in dieser Leere wartete, hörte ich das tausendfache Jammern von Metall und Holz, die sich in der Kälte zusammenzogen. Ich spähte ins Dunkel vor dem Fenster hinaus, bis das Licht einer Laterne über die Wagenwände strich und ich auf dem Bahnsteig Stimmen hörte. Ich rieb ein Guckloch in die beschlagene Scheibe und sah den Lokführer und zwei Arbeiter zum vorderen Teil des Zuges gehen. In einer Entfernung von zehn Metern unterhielt sich der Bahnhofsvorsteher mit den beiden Zivilgardisten, die ich zuvor mit dem Arzt im Hotel gesehen hatte. Er nickte und zog einen Schlüsselbund hervor, während er mit den beiden Gardisten auf den Zug zukam. Ich zog mich wieder tief in mein Abteil zurück. Einige Sekunden später hörte ich die Schlüssel klirren und die Wagentür klacken. Vom Ende des Gangs näherten sich Schritte. Ich schob den Riegel zurück, sodass die Tür unverschlossen war, und legte mich unter einer der Bänke auf den Boden, dicht an die Wand geschmiegt. Die Schritte der Gardisten kamen näher, während das Licht ihrer Laternen bläulich über die Scheiben des Wagens glitt. Als sie vor meinem Abteil haltmachten, hielt ich den Atem an. Die Stimmen waren verstummt. Ich hörte die Tür aufgehen, und die Stiefel bewegten sich zwei Handbreit vor meinem Gesicht. Der Gardist blieb einige Sekunden stehen, ging dann wieder hinaus und schloss die Tür. Seine Schritte entfernten sich.
Ich blieb reglos liegen. Zwei Minuten später hörte ich ein Rattern, und ein warmer Hauch aus dem Heizungsrost strich mir übers Gesicht. Eine Stunde später erhellte das erste Morgenlicht die Scheiben. Ich verließ mein Versteck und schaute hinaus. Fahrgäste schleppten allein oder zu zweit ihre Koffer und Bündel über den Bahnsteig. Der Lärm der Lokomotive ließ Wände und Boden vibrieren. Wenige Minuten später stiegen die Passagiere ein, und der Schaffner knipste das Licht an. Ich setzte mich wieder ans Fenster und erwiderte den Gruß eines Fahrgastes, der am Abteil vorbeiging. Mit dem Acht-Uhr-Schlag der großen Bahnhofsuhr setzte sich der Zug in Bewegung. Erst jetzt schloss ich die Augen. In der Ferne hörte ich die Kirchenglocken widerhallen wie einen Fluch.
Die Rückfahrt verzögerte sich durch mehrere ungeplante Unterbrechungen, und wir kamen erst in der Abenddämmerung jenes Freitags, des 23. Januars, in Barcelona an. Die Stadt lag unter einem scharlachroten Himmel, über den sich ein Geflecht schwarzen Rauchs zog. Es war warm, als ob sich der Winter unversehens zurückgezogen hätte und schmutzigfeuchte Ausdünstungen aus der Kanalisation aufstiegen. Unter meiner Haustür fand ich einen weißen Umschlag mit rotem Lacksiegel, den ich nicht einmal aufhob — ich wusste, dass er eine Erinnerung an das Treffen mit dem Patron enthielt, dem ich an diesem Abend in der alten Villa am Park Güell das Manuskript übergeben sollte. Im Dunkeln stieg ich die Treppe hinauf und öffnete die Wohnungstür. Ich machte kein Licht, sondern ging direkt ins Arbeitszimmer hinauf. Am Fenster stehend, betrachtete ich im höllischen Schein dieses entflammten Himmels den Raum. Ich stellte sie mir vor, so, wie sie es beschrieben hatte, wie sie vor der Truhe kniete, sie öffnete und die Mappe mit dem Manuskript herausnahm, wie sie diese verfluchten Seiten las in der Gewissheit, sie vernichten zu müssen, wie sie die Streichhölzer anzündete und die Flamme ans Papier hielt.
Da war noch jemand in der Wohnung.
Ich ging auf die Truhe zu, blieb aber einige Schritte davor stehen, als befände ich mich hinter Cristina und würde ihr nachspionieren. Dann öffnete ich die Truhe. Das Manuskript war noch da und erwartete mich. Ich streckte die Hand aus und strich mit den Fingern zärtlich über die Mappe. Da sah ich es unten in der Truhe silbern glitzern wie eine Perle auf dem Grund eines Teichs. Ich nahm den Gegenstand und betrachtete ihn im Licht des blutigen Himmels. Die Engelsbrosche.
»Verdammter Schweinehund«, hörte ich mich sagen.
Ich holte das Kästchen mit der alten Pistole meines Vaters aus dem Schrank und vergewisserte mich, dass die Trommel geladen war. Die restliche Munition verwahrte ich in meiner linken Manteltasche, die in ein Tuch gehüllte Waffe steckte ich in die rechte. Vor dem Hinausgehen betrachtete ich einen Augenblick den Fremden, der mich im Vorraum aus dem Spiegel anschaute. Ich lächelte, während der Friede des Hasses in meinen Adern loderte, und trat in die Nacht hinaus.
Andreas Corellis Haus ragte auf seiner Erhebung zur roten Wolkendecke empor. Dahinter wiegte sich der Schattenwald des Park Güell. Die Brise bewegte die Äste, und das Laub zischte in der Dunkelheit wie Schlangen. Ich musterte die Fassade. Im ganzen Haus brannte kein einziges Licht, die Fensterläden waren geschlossen. In meinem Rücken hörte ich die Hunde hecheln, die hinter der Parkmauer umherstreiften und meine Schritte verfolgten. Ich zog die Pistole aus der Tasche und wandte mich dem Gittertor am Parkeingang zu, wo die Silhouetten der Tiere zu sehen waren, fließende, in der Dunkelheit lauernde Schatten.
An Corellis Haustür ließ ich den Klopfer dreimal kurz fallen. Ich erwartete keine Antwort. Wenn nötig hätte ich das Schloss aufgeschossen, doch die Tür war nicht verriegelt. Ich drehte den Bronzeknauf, bis sich die Falle zurückzog und die schwere Eichentür langsam nach innen glitt. Vor mir tat sich der lange Korridor auf. Die Staubschicht auf dem Boden schimmerte wie feiner Sand. Nach einigen Schritten kam ich zu der Treppe, die auf der einen Seite der Eingangshalle in die Höhe führte und in einer Schattenspirale verschwand. Ich ging durch den Korridor auf den Salon zu. Von den alten gerahmten Fotografien an den Wänden verfolgten mich Dutzende Blicke. Außer meinen Schritten und meinem Atem war kein Laut zu hören. Am Ende des Korridors blieb ich stehen. Das Nachtlicht sickerte durch die Läden und formte rötliche Klingen. Ich hob die Pistole, trat in den Salon und wartete, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Möbel standen noch genauso da, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber selbst in dem schwachen Licht konnte man erkennen, dass sie alt und staubbedeckt waren. Wracks. Die Vorhänge waren zerfranst, und der Anstrich blätterte von den Wänden wie Schuppen. Ich steuerte eines der hohen Fenster an, um die Läden zu öffnen und etwas mehr Licht hereinzulassen. Als ich noch zwei Meter vom Balkon entfernt war, merkte ich, dass ich nicht allein war. Wie erstarrt hielt ich inne und drehte mich dann langsam um.
Die Gestalt war deutlich auszumachen, in dem gewohnten Sessel in der Ecke. In dem durch die Läden sickernden Licht sah ich die glänzenden Schuhe und die Umrisse des Anzugs. Das Gesicht lag völlig im Dunkeln, aber ich wusste, dass es mich ansah. Und dass es lächelte. Ich hob die Pistole und zielte.
»Ich weiß, was Sie getan haben«, sagte ich.
Corelli bewegte keinen Muskel, hockte reglos da wie eine Spinne. Ich tat einen Schritt auf ihn zu und zielte aufs Gesicht. In der Dunkelheit glaubte ich einen Seufzer zu hören, für einen Augenblick fiel das rötliche Licht auf seine Augen, und ich war mir sicher, dass er sich gleich auf mich stürzen würde. Ich drückte ab. Der Rückstoß der Waffe fuhr in meine Unterarme wie ein Hammerschlag. Aus dem Lauf stieg blauer Rauch auf. Eine Hand glitt von der Armlehne und baumelte herab, sodass die Fingernägel den Boden streiften. Ich schoss ein zweites Mal. Die Kugel riss auf Brusthöhe ein rauchendes Loch in die Kleider. Ich hielt die Pistole weiter mit beiden Händen auf ihn gerichtet und wagte keinen Schritt zu tun, sondern starrte auf die reglose Gestalt im Sessel. Allmählich hörte der Arm auf zu baumeln, hing der Körper leblos da, die langen polierten Nägel auf dem Eichenparkett wie verankert. Kein Laut war zu hören und keine Regung des Körpers auszumachen, der eben von zwei Kugeln getroffen worden war, im Gesicht und in der Brust. Ich machte ein paar Schritte rückwärts auf das Fenster zu und stieß es mit den Füßen auf, ohne Corellis Sessel aus den Augen zu lassen. Dunstiges Licht bahnte sich von der Balustrade einen Weg in seine Ecke und beleuchtete Körper und Gesicht des Patrons. Ich wollte schlucken, aber mein Mund war wie verdorrt. Der erste Schuss hatte zwischen den Augen ein Loch aufgerissen, der zweite ein Revers durchbohrt. Nirgends war ein Tropfen Blut zu sehen. Dafür rieselte ein feines, glänzendes Pulver wie von einer Sanduhr heraus und versickerte in den Falten seiner Kleider. Die Augen glänzten, und die Lippen waren zu einem sarkastischen Lächeln gefroren. Eine Puppe.
Ich senkte die Pistole in meiner noch zitternden Hand und trat langsam näher, beugte mich über den grotesken Hampelmann und streckte die Hand nach dem Gesicht aus. Einen Augenblick befürchtete ich, die Glasaugen würden sich jeden Moment bewegen und die Hände mit den langen Nägeln sich um meinen Hals klammern. Mit den Fingerspitzen strich ich ihm über die Wange. Lackiertes Holz. Ein bitteres Lachen entfuhr mir. Weniger war vom Patron nicht zu erwarten gewesen. Noch einmal besah ich mir diese spöttische Grimasse und verpasste der Puppe einen Schlag mit der Pistole, sodass sie zur Seite und dann auf den Boden fiel, wo ich auf sie eintrat. Das Holzgerippe geriet aus den Fugen, bis Arme und Beine in einer unmöglichen Stellung verheddert waren. Ich zog mich einige Schritte zurück und schaute mich um. Als ich das große Bild mit dem Engel erblickte, riss ich es mit einem Ruck herunter. Dahinter entdeckte ich die Kellertür, die ich noch von der Nacht in Erinnerung hatte, als ich hier eingeschlafen war. Sie war unverschlossen. Ich spähte in den dunklen Schacht hinunter. Dann ging ich zu der Kommode, in der Corelli bei unserer ersten Begegnung in diesem Haus die hunderttausend Francs verwahrt hatte, und suchte in den Schubladen, bis ich eine Blechbüchse mit Kerzen und Streichhölzern fand. Einen Augenblick zögerte ich und fragte mich, ob der Patron wohl auch sie dort bereitgelegt hatte, damit ich ebenso darauf stieß wie auf die Puppe. Mit einer brennenden Kerze ging ich durch den Salon zur Kellertür. Nach einem letzten Blick auf die zerstörte Puppe begann ich die Treppe hinabzusteigen, die Kerze vor mir und die Pistole fest in der Rechten. Auf jeder Stufe blieb ich stehen, um mich umzuschauen. Als ich in den Kellerraum gelangte, hielt ich die Kerze so weit wie möglich von mir weg und beschrieb mit ihr einen Halbkreis. Alles war noch da: der Operationstisch, die Gaslampen und das Tablett mit den chirurgischen Instrumenten. Alles voller Staub und Spinnweben. Aber da war noch etwas. An der Wand lehnten weitere Gestalten, so reglos wie die des Patrons. Ich stellte die Kerze auf den Operationstisch und trat zu diesen leblosen Körpern. In einem von ihnen erkannte ich den Butler, der uns eines Abends bedient hatte, und in einem weiteren den Chauffeur, der mich nach dem Abendessen mit Corelli nach Hause gefahren hatte. Die anderen konnte ich nicht identifizieren. Eine Puppe lehnte mit der Brust an der Wand, sodass ihr Gesicht nicht zu erkennen war. Mit der Pistolenmündung drehte ich sie herum und traf einen Augenblick später meinen eigenen Blick. Ein Schauder überlief mich. Die Puppe stellte mich dar, hatte aber nur ein halbes Gesicht, die andere Hälfte war ohne ausgeprägte Züge. Schon wollte ich dieses Gesicht mit einem Fußtritt zermalmen, als ich oben auf der Treppe ein Kind lachen hörte. Ich hielt den Atem an und hörte es ein paarmal trocken knarren. Ich rannte los, und als ich oben an der Treppe ankam, lag die Puppe des Patrons nicht mehr auf dem Boden. Von der Stelle, wo sie gelegen hatte, führten Fußspuren in den Korridor hinaus. Ich spannte die Pistole und folgte ihnen. Auf der Schwelle zum Korridor blieb ich stehen und hob die Waffe. Mitten im Gang endeten die Fußspuren. Ich suchte im Halbdunkel die verborgene Gestalt des Patrons, aber es war nichts von ihm zu sehen. Am Ende des Korridors stand die Tür noch immer offen. Langsam ging ich auf die Stelle zu, wo die Spuren aufhörten. Erst nach einem Augenblick bemerkte ich, dass der leere Rahmen, den ich in Erinnerung hatte, nun gefüllt war. Er enthielt eine Fotografie, die mit derselben Kamera aufgenommen schien wie alle anderen dieser makabren Sammlung und auf der Cristina zu sehen war, ganz in Weiß, abwesend ins Objektiv starrend. Sie war nicht allein. Zwei Arme umschlangen sie und hielten sie auf den Beinen. Der, dem sie gehörten, lächelte in die Kamera. Andreas Corelli.
Ich wandte mich hügelabwärts und schlug den Weg ins Gracia-Viertel mit seinen dunklen, verwinkelten Straßen ein. Dort fand ich ein Café, wo zahlreiche Gäste aus der Nachbarschaft hitzig über Politik oder Fußball stritten — was genau, war schwer auszumachen. Ich ging um den Pulk herum und gelangte durch eine Rauch- und Lärmwolke zur Theke, wo mir der Kneipenwirt einen einigermaßen feindseligen Blick zuwarf, mit dem er vermutlich alle Fremden zu empfangen pflegte, also alle, die weiter als zwei Straßen von seinem Etablissement entfernt wohnten.
»Ich muss telefonieren«, sagte ich.
»Das Telefon ist nur für Gäste.«
»Geben Sie mir einen Kognak. Und das Telefon.«
Er nahm ein Glas und deutete auf einen Gang im Hintergrund, der sich unter dem Schild Pissoir auftat. Dort fand ich die Andeutung einer Telefonzelle, direkt gegenüber den WCs inmitten von Ammoniakgestank und Schankraumgetöse. Ich nahm den Hörer ab und wartete auf die Verbindung. Wenig später meldete sich eine Telefonistin der Fernsprechgesellschaft.
»Ich möchte mit dem Anwaltsbüro Valera sprechen, Avenida Diagonal 442.«
Nach zwei Minuten hatte sie die Nummer gefunden und verband mich. Ich wartete mit dem Hörer in der einen Hand, während ich mir mit der anderen das linke Ohr zuhielt, bis endlich die Verbindung bestätigt wurde und kurz danach die Stimme von Anwalt Valeras Sekretärin zu hören war.
»Tut mir leid, aber Señor Valera ist im Augenblick nicht zu erreichen.«
»Es ist wichtig. Sagen Sie ihm, mein Name ist Martín, David Martín. Es geht um Leben oder Tod.«
»Ich weiß schon, wer Sie sind, Señor Martín. Es tut mir leid, aber ich kann Sie nicht mit Señor Valera verbinden, weil er nicht da ist. Es ist sehr spät, und er ist schon vor einer Weile gegangen.«
»Dann geben Sie mir die Adresse seiner Wohnung.«
»Diese Information darf ich Ihnen nicht geben, Señor Martín. Ich bedaure. Wenn Sie wollen, rufen Sie morgen Vormittag an und…«
Ich hängte auf und wartete wieder auf die Verbindung. Diesmal gab ich der Telefonistin die Nummer, die ich von Ricardo Salvador erhalten hatte. Sein Nachbar versprach, den ehemaligen Polizisten gleich zu holen, und nach einer Minute meldete er sich.
»Martín? Geht es Ihnen gut? Sind Sie in Barcelona?«
»Eben angekommen.«
»Sie müssen sehr vorsichtig sein. Die Polizei sucht Sie. Sie sind auch zu mir gekommen und haben mich über Sie und Alicia Marlasca ausgefragt.«
»Víctor Grandes?«
»Ich glaube ja. Er wurde von zwei Schränken begleitet, die mir gar nicht gefallen haben. Ich habe den Eindruck, er will Ihnen sowohl den Tod von Roures als auch den der Witwe Marlasca anhängen. Seien Sie besser sehr vorsichtig — Sie werden mit Sicherheit überwacht. Wenn Sie wollen, können Sie hierherkommen.«
»Danke, Señor Salvador, ich werde es mir überlegen. Ich möchte Ihnen nicht noch mehr Schwierigkeiten bereiten.«
»Was Sie auch tun, passen Sie auf. Ich glaube, Sie hatten recht — Jaco ist zurückgekommen. Ich weiß auch nicht, warum, aber er ist wieder da. Haben Sie irgendeinen Plan?«
»Ich werde als Erstes versuchen, Anwalt Valera zu finden. Ich glaube, hinter alldem steht der Verleger, für den Marlasca gearbeitet hat, und ich glaube auch, dass Valera als Einziger die Wahrheit kennt.«
»Soll ich Sie begleiten?«, fragte Salvador nach einer Pause.
»Das wird nicht nötig sein. Ich rufe Sie an, sobald ich mit Valera gesprochen habe.«
»Wie Sie wollen. Sind Sie bewaffnet?«
»Ja.«
»Freut mich zu hören.«
»Señor Salvador… Roures hat mir von einer Frau im Somorrostro-Viertel erzählt, bei der sich Marlasca Rat geholt hat. Jemand, den er durch Irene Sabino kennengelernt hatte.«
»Die Hexe von Somorrostro.«
»Was wissen Sie von ihr?«
»Da gibt es nicht viel zu wissen. Ich glaube, es gibt sie nicht einmal, so wenig wie diesen Verleger. Auf wen Sie aufpassen müssen, das sind Jaco und die Polizei.«
»Ich werde es mir merken.«
»Rufen Sie mich an, sobald Sie etwas wissen, ja?«
»Das werde ich. Danke.«
Ich hängte auf und warf einige Münzen auf die Theke für die Anrufe und das Glas Kognak, das noch unberührt dort stand.
Zwanzig Minuten später stand ich vor dem Haus Nummer 442 in der Avenida Diagonal und schaute zu den beleuchteten Fenstern der Kanzlei Valera hinauf. Die Portiersloge war geschlossen, aber ich hämmerte an die Tür, bis der Pförtner auftauchte und mit nicht sehr freundlichem Gesicht zu mir kam. Sowie er die Tür ein wenig öffnete, um mich mit bösen Worten abzufertigen, stieß ich sie auf und ging ungeachtet seines Protests direkt zum Aufzug. Er wollte mich am Arm festhalten, aber ich warf ihm einen so giftigen Blick zu, dass er davon absah.
Als Valeras Sekretärin die Tür öffnete, wurde aus dem Erstaunen auf ihrem Gesicht rasch Angst, die noch größer wurde, als ich den Fuß in die Tür stellte, damit sie sie mir nicht vor der Nase zuschlug, und ungebeten eintrat.
»Benachrichtigen Sie den Anwalt. Sofort.«
Erblasst schaute sie mich an.
»Señor Valera ist nicht da…«
Ich packte sie am Arm und stieß sie ins Büro des Anwalts. Das Licht brannte, aber Valera war nicht zu sehen. Die Sekretärin schluchzte verängstigt, und ich merkte, dass ich ihr die Finger in den Arm bohrte. Ich ließ sie los, und sie wich zitternd einige Schritte zurück. Ich seufzte und versuchte sie mit einer Handbewegung zu beruhigen, die aber nur die Pistole in meinem Hosenbund zum Vorschein brachte.
»Bitte, Señor Martín… Ich schwöre Ihnen, dass Señor Valera nicht da ist.«
»Ich glaube Ihnen ja. Beruhigen Sie sich doch. Ich will nur mit ihm sprechen, nichts weiter.«
Sie nickte, und ich lächelte ihr zu.
»Seien Sie so nett und rufen Sie ihn bei sich zuhause an.«
Die Sekretärin hob den Hörer ab und flüsterte der Telefonistin die Nummer des Anwalts zu. Als die Verbindung hergestellt war, reichte sie mir den Hörer.
»Guten Abend«, sagte ich.
»Martín, was für eine unangenehme Überraschung«, sagte Valera am anderen Ende der Leitung. »Darf ich fragen, was Sie zu dieser Abendstunde in meinem Büro machen, außer meine Angestellten zu terrorisieren?«
»Es tut mir leid, dass ich störe, Anwalt, aber ich muss dringend Ihren Klienten Andreas Corelli finden, und Sie sind der Einzige, der mir dabei helfen kann.«
Langes Schweigen.
»Ich fürchte, Sie irren sich, Martín. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Ich hatte gehofft, wir könnten das in aller Freundschaft regeln, Señor Valera.«
»Sie verstehen mich nicht, Martín. Ich kenne Señor Corelli nicht.«
»Wie bitte?«
»Ich habe ihn nie gesehen und nie mit ihm gesprochen, und noch viel weniger weiß ich, wo er zu finden ist.«
»Ich darf Sie daran erinnern, dass er Sie angeheuert hat, um mich aus dem Präsidium herauszuholen.«
»Wir haben vor einigen Wochen einen Brief und einen Scheck von ihm erhalten mit dem Hinweis, Sie seien ein Geschäftspartner von ihm, dem Inspektor Grandes zusetze, und wir sollten nötigenfalls Ihre Verteidigung übernehmen. Dem Brief lag ein Umschlag bei, den wir Ihnen persönlich zu übergeben hätten. Ich habe nur den Scheck eingelöst und meine Kontaktleute im Präsidium gebeten, mich zu benachrichtigen, falls Sie dorthin gebracht würden. So geschah es, und wie Sie sich bestimmt erinnern, habe ich meinen Teil des Abkommens erfüllt und Sie aus dem Präsidium herausgeholt, indem ich Grandes eine Menge Unannehmlichkeiten angedroht habe. Ich glaube, Sie können sich über uns nicht beklagen.«
Diesmal war ich es, der schwieg.
»Wenn Sie mir nicht glauben, dann bitten Sie Señorita Margarita, Ihnen den Brief zu zeigen«, fügte er hinzu.
»Und was ist mit Ihrem Vater?«, fragte ich.
»Mit meinem Vater?«
»Ihr Vater und Marlasca hatten Umgang mit Corelli. Er muss etwas gewusst haben…«
»Ich versichere Ihnen, dass mein Vater nie in direktem Kontakt zu diesem Señor Corelli stand. Die Korrespondenz mit ihm, wenn es sie denn gab, denn in den Archiven der Kanzlei ist davon nichts zu finden, hat ausschließlich der verstorbene Señor Marlasca persönlich geführt. Tatsächlich, da Sie schon danach fragen, kann ich Ihnen sagen, dass mein Vater an der Existenz dieses Señor Corelli zweifelte, vor allem in Señor Marlascas letzten Monaten, als er mit dieser Frau — wie soll ich sagen — zu verkehren begann.«
»Mit welcher Frau?«
»Mit diesem Revuegirl.«
»Irene Sabino?«
Ich hörte ihn gereizt aufseufzen.
»Vor seinem Tod hinterließ Señor Marlasca der Kanzlei einen Fonds, den sie treuhänderisch verwalten sollte und von dem eine Reihe Zahlungen auf das Konto eines gewissen Juan Corbera und einer María Antonia Sanahuja vorgenommen werden sollten.«
Jaco und Irene Sabino, dachte ich.
»Um welchen Betrag handelte es sich bei diesem Fonds?«
»Es war eine Einlage in Fremdwährung. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie sich auf ungefähr hunderttausend Francs belief.«
»Hat Marlasca je erwähnt, woher er dieses Geld hatte?«
»Wir sind eine Anwaltskanzlei, kein Detektivbüro. Die Kanzlei hat sich darauf beschränkt, Señor Marlascas Anweisungen zu befolgen, und diese nicht in Frage gestellt.«
»Hat er weitere Anweisungen hinterlassen?«
»Nichts Besonderes. Einmalige Zahlungen an Drittpersonen, die nichts mit der Kanzlei oder seiner Familie zu tun hatten.«
»Erinnern Sie sich an eine davon?«
»Mein Vater hat sich persönlich um diese Angelegenheiten gekümmert, damit die Kanzleiangestellten keinen Zugang zu, sagen wir, heiklen Informationen hätten.«
»Und fand es Ihr Vater nicht merkwürdig, dass sein ehemaliger Partner dieses Geld Unbekannten zukommen lassen wollte?«
»Natürlich fand er es merkwürdig. Er fand vieles merkwürdig.«
»Können Sie sich erinnern, wohin dieses Geld überwiesen werden sollte?«
»Wie soll ich mich daran erinnern können? Das ist mindestens fünfundzwanzig Jahre her.«
»Strengen Sie sich an«, sagte ich. »Señorita Margarita wird es Ihnen danken.«
Die Sekretärin warf mir einen verschreckten Blick zu, den ich mit einem Zwinkern beantwortete.
»Kommen Sie mir nicht auf die Idee, ihr auch nur ein Haar zu krümmen«, drohte Valera.
»Bringen Sie mich nicht auf dumme Gedanken«, unterbrach ich ihn. »Wie steht’s mit der Erinnerung? Kehrt sie langsam zurück?«
»Ich kann in den privaten Notizbüchern meines Vaters nachschauen. Das ist alles.«
»Und wo sind die?«
»Hier, bei seinen Papieren. Das wird aber einige Stunden dauern…«
Ich hängte auf und gab Valeras Sekretärin, die zu weinen begonnen hatte, ein Taschentuch und tätschelte ihr die Schulter.
»Kommen Sie, meine Gute, stellen Sie sich nicht so an, ich bin ja gleich weg. Glauben Sie mir jetzt, dass ich nur mit ihm sprechen wollte?«
Sie nickte ängstlich, ohne die Augen von der Pistole abzuwenden. Lächelnd knöpfte ich den Mantel zu.
»Eine Sache noch.«
Das Schlimmste befürchtend, sah sie mich an.
»Schreiben Sie mir seine Adresse auf. Und versuchen Sie nicht, mich zu leimen — wenn Sie lügen, komme ich zurück, und ich versichere Ihnen, dann werde ich die natürliche Freundlichkeit, die mich auszeichnet, beim Pförtner abgeben.«
Bevor ich ging, bat ich sie, mir das Telefonkabel zu zeigen, und kappte es, damit sie nicht in Versuchung geriet, Valera von meinem beabsichtigten Besuch in Kenntnis zu setzen oder unser kleines Missverständnis der Polizei zu melden.
Anwalt Valera wohnte an der Kreuzung von Calle Girona und Calle Ausiàs March in einem riesigen Eckhaus, das aussah wie ein normannisches Schloss. Vermutlich hatte er dieses Monstrum ebenso von seinem Vater geerbt wie die Kanzlei, und in jedem einzelnen Stein steckten das Blut und der Atem ganzer Generationen von Barcelonesen, die nie davon zu träumen gewagt hätten, den Fuß in einen solchen Palast zu setzen. Dem Pförtner sagte ich, Señorita Margarita schicke mich mit einigen Papieren aus der Kanzlei, worauf er mich nach einem Moment des Zögerns hereinließ. Unter seinem aufmerksamen Blick stieg ich langsam die breite Treppe hinauf. Der Absatz im ersten Stock war geräumiger als die meisten Wohnungen, die ich aus meiner Kindheit im nur wenige Meter von hier entfernten alten Ribera-Viertel in Erinnerung hatte. Der Türklopfer war eine Bronzefaust. Als ich ihn ergriff, merkte ich, dass die Tür nur angelehnt war. Ich drückte sie sanft auf und schaute hinein. Die Vorhalle mündete in einen langen, gut drei Meter breiten Korridor mit samtverkleideten Wänden. Ich schloss die Tür hinter mir und spähte ins warme Halbdunkel am Ende des Korridors. Leise Klaviermusik schwebte in der Luft, ein elegant-melancholisches Wehklagen — Granados.
»Señor Valera?«, rief ich. »Ich bin’s, Martín.«
Da ich keine Antwort bekam, wagte ich mich, der traurigen Musik folgend, zwischen Bildern und Mauernischen mit Muttergottes- und Heiligenstatuetten langsam durch den Gang vor. Durch mehrere von Vorhängen umrahmte Bögen gelangte ich ans Ende des Korridors, wo sich ein großer, schwachbeleuchteter Salon auftat, dessen Wände vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt waren. Im Hintergrund war eine große halb offene Tür zu sehen und jenseits davon das dunkelorange Flackern eines Kaminfeuers.
»Valera?«, rief ich erneut, diesmal etwas lauter.
Im Schein des Feuers zeichnete sich vor dieser Tür eine Silhouette ab. Zwei glänzende Augen musterten mich misstrauisch. Ein Hund, der aussah wie ein deutscher Schäferhund, aber ein weißes Fell hatte, kam langsam auf mich zu. Ich hielt inne, knöpfte behutsam den Mantel auf und tastete nach der Pistole. Der Hund blieb vor mir stehen und schaute mich an, dann entfuhr ihm ein klagendes Winseln. Ich streichelte ihm den Kopf, und er leckte mir die Finger. Schließlich machte er kehrt und ging auf die Tür zu, hinter der das Feuer flackerte. Auf der Schwelle blieb er stehen und schaute mich wieder an. Ich folgte ihm.
Die Tür führte in eine große, vom Kamin dominierte Bibliothek. Das Feuer war die einzige Lichtquelle, und über Wände und Decke tanzten Schatten. In der Mitte stand ein Tisch mit dem Grammophon, aus dem die Klaviermusik kam. Vor dem Feuer, mit der Rückenlehne zur Tür, befand sich ein großer Ledersessel. Der Hund trottete dorthin und schaute zu mir zurück. Als ich näher trat, sah ich auf der Lehne eine Hand mit Zigarette, von der langsam ein blauer Rauchfaden aufstieg.
»Valera? Ich bin’s, Martín. Die Tür stand offen…«
Der Hund legte sich vor den Sessel, ohne die Augen von mir abzuwenden. Langsam ging ich um ihn herum. Anwalt Valera saß in einem Dreiteiler mit offenen Augen und einem angedeuteten Lächeln auf den Lippen vor dem Feuer. Er hielt ein ledergebundenes Heft auf dem Schoß. Ich stellte mich vor ihn und schaute ihm in die Augen. Er zuckte nicht mit der Wimper. Da bemerkte ich den roten Blutstropfen, der ihm langsam über die Wange rann. Ich kniete mich vor ihm hin und nahm das Heft. Der Hund warf mir einen trostlosen Blick zu. Ich streichelte ihm den Kopf.
»Tut mir leid«, flüsterte ich.
Das Heft schien eine Art Notizbuch zu sein, dessen Einträge aus datierten Abschnitten bestanden, die durch eine kurze Linie getrennt waren. Valera hatte es in der Mitte aufgeschlagen. Der erste Eintrag der betreffenden Seite stammte vom 23. November 1904.
Bank-Avis (356a/23-11-04), 7500 Peseten, a conto Fonds D. M. Überbringung durch Marcel (persönlich) an die von D. M. angegebene Adresse. Passage hinter altem Friedhof, Bildhauerwerkstatt Sanabre und Söhne.
Ich las den Eintrag mehrmals und versuchte, ihm einen Sinn abzugewinnen. Die erwähnte Passage kannte ich aus meiner Zeit bei der Stimme der Industrie. Es handelte sich um ein elendes, hinter den Friedhofsmauern vergrabenes Gässchen in Pueblo Nuevo, in dem sich Werkstätten für Grabsteine und Friedhofsskulpturen aneinanderreihten und das an einem der Flussläufe endete, die den Strand von Bogatell und die sich bis zum Meer erstreckende Hüttensiedlung von Somorrostro durchkreuzten. Aus irgendeinem Grund hatte Marlasca die Anweisung hinterlassen, einer dieser Werkstätten eine beträchtliche Summe zu zahlen.
Auf der Seite dieses Tages gab es einen zweiten Eintrag zu Marlasca, nämlich den Beginn der Zahlungen an Jaco und Irene Sabino.
Banküberweisung aus Fonds D. M. auf Konto Bank Hispano Colonial (Filiale Calle Fernando), Nr. 008965-2564-1. Juan Corbera, Marfa Sanahuja. Erste Monatsrate von 7000 Peseten. Zahlungsplan festlegen.
Ich blätterte weiter. Die meisten Einträge betrafen kleinere Ausgaben und Transaktionen im Zusammenhang mit der Kanzlei. Ich musste mehrere Seiten mit kryptischen Erinnerungshilfen durchsehen, um einen neuen Eintrag zu Marlasca zu finden. Wieder ging es um eine durch diesen Marcel, wahrscheinlich einen der Kanzleireferendare, vorgenommene Barzahlung.
Bank-Avis (379a/29-12-04), 15000 Peseten a conto Fonds D. M. Überbringung durch Marcel. Strand von Bogatell, bei Bahnübergang, 9 Uhr. Kontaktperson wird sich ausweisen.
Die Hexe von Somorrostro, dachte ich. Nach seinem Tod hatte Diego Marlasca durch seinen Partner bedeutende Summen verteilen lassen. Das widersprach Salvadors Verdacht, Jaco sei mit dem Geld geflohen. Marlasca hatte persönlich Zahlungen angeordnet und das Geld in dem von der Anwaltskanzlei betreuten Fonds angelegt. Die anderen beiden Zahlungen legten die Vermutung nahe, dass Marlasca kurz vor seinem Tod mit einem Grabsteinbildhauer und irgendeiner undurchsichtigen Figur aus dem Somorrostro-Viertel Umgang gehabt hatte, einen Umgang, der seinen Niederschlag in der Überweisung einer großen Summe gefunden hatte. Verwirrter denn je klappte ich das Heft zu.
Als ich wieder gehen wollte und mich umdrehte, sah ich, dass an einer der Wände der Bibliothek auf dem granatroten Samt lauter gerahmte Fotografien hingen. Ich trat näher heran und erkannte das mürrische, ehrfurchtgebietende Gesicht des Patriarchen Valera, dessen Ölbild noch immer das Büro seines Sohnes dominierte. Auf den meisten Bildern sah man den Anwalt mit einer Reihe herausragender Männer und Patrizier der Stadt bei offenbar verschiedenen gesellschaftlichen Veranstaltungen. Man brauchte nur ein Dutzend dieser Porträts anzuschauen und einige von denen, die lächelnd zusammen mit dem alten Anwalt posierten, zu identifizieren, um festzustellen, dass die Kanzlei Valera, Marlasca und Sentis ein wichtiges Rad im Getriebe der Stadt Barcelona war. Valeras Sohn erschien ebenfalls auf einigen Bildern, viel jünger, aber zweifelsfrei zu erkennen, immer im Hintergrund, immer im Schatten des Vaters.
Ich spürte es, bevor ich es sah. Auf dem Bild waren Vater und Sohn Valera zu sehen. Es war vor dem Haus der Kanzlei aufgenommen worden. Neben ihnen stand ein großer, distinguierter Herr. Sein Gesicht tauchte auch auf vielen anderen Fotografien der Sammlung auf, immer an der Seite von Valera. Diego Marlasca. Ich konzentrierte mich auf diesen trüben Blick, das schmale, gelassene Gesicht, das mich aus dieser fünfundzwanzig Jahre alten Momentaufnahme betrachtete. Er war nicht um einen Tag gealtert. Als mir meine Naivität klar wurde, musste ich bitter lächeln. Dieses Gesicht war nicht das auf der Fotografie, die mir mein Freund, der alte Expolizist, gegeben hatte.
Der Mann, den ich als Ricardo Salvador kannte, war niemand anders als Diego Marlasca.
Das Treppenhaus lag im Dunkeln, als ich den Palast der Familie Valera verließ. Ich tastete mich durch die Eingangshalle, und als ich die Tür öffnete, warfen die Straßenlaternen ein Viereck blauen Lichts herein, an dessen Ende mir der Blick des Pförtners begegnete. Leichten Schrittes entfernte ich mich in Richtung Calle Trafalgar, wo die Nachtstraßenbahn zum Friedhof von Pueblo Nuevo abfuhr, dieselbe, in der ich meinen Vater so oft zu seiner Schicht bei der Stimme der Industrie begleitet hatte.
Sie war so gut wie leer, und ich setzte mich nach vorne. Je näher wir dem Pueblo Nuevo kamen, desto dichter wurde das Geflecht aus dunklen, von großen Pfützen übersäten Straßen. Sie waren kaum beleuchtet, und die Scheinwerfer der Straßenbahn ließen die Konturen Stück für Stück hervortreten wie eine Fackel in einem Tunnel. Schließlich erblickte ich das Friedhofstor, und vor einem endlosen, den Himmel rot und schwarz sprenkelnden Horizont von Fabriken und Schloten zeichneten sich Kreuze und Statuen ab. Ein Rudel ausgehungerter Hunde streunte vor den beiden großen Engeln herum, die das Friedhofsgelände bewachten. Einen Augenblick starrten sie reglos in die Lichter der Straßenbahn, die Augen entzündet wie die von Schakalen, dann verloren sie sich in den Schatten.
Ich sprang von der noch fahrenden Bahn ab, worauf sie sich wie ein Schiff im Nebel immer schneller entfernte, und ging die Friedhofsmauern entlang. Ich konnte die Hunde hören und riechen, die mir in der Dunkelheit nachliefen. Hinter dem Friedhof blieb ich an der Ecke der Gasse stehen und warf einen Stein nach den Tieren. Mit gellendem Gewinsel verschwanden sie in der Nacht. Die Gasse war nur ein schmaler Durchgang zwischen der Mauer und der endlosen Reihe von Steinmetzbetrieben. In etwa dreißig Meter Entfernung schaukelte im ockerfarbenen staubigen Licht einer Laterne das Schild von Sanabre und Söhne. Ich ging zur Tür, die aus einem mit Ketten und einem rostigen Vorhängeschloss gesicherten Gitter bestand. Ich schoss das Schloss mit der Pistole auf.
Vom anderen Ende der Gasse trug der Wind den Salpetergeruch des Meeres herbei, das sich kaum hundert Meter von hier brach, und verwehte das Echo des Schusses. Ich stieß das Gitter auf, teilte den dunklen Stoffvorhang, der das Innere verbarg, sodass das Laternenlicht durch den Eingang hereinfallen konnte, und trat in die Werkstatt von Sanabre und Söhne. Die tiefe, schmale Halle war voll mit im Dunkeln wie eingefroren wirkenden Skulpturen, deren Gesichter zum Teil erst halb behauen waren. Ich ging einige Schritte weiter, inmitten von Marienstatuen und Madonnen mit kleinen Knaben auf dem Arm, weißen Damen mit Marmorrosen in der Hand und zum Himmel erhobenem Blick sowie Steinblöcken, in denen sich Blicke abzuzeichnen begannen. Man konnte den Steinstaub riechen. Außer diesen Bildnissen war niemand da. Als ich eben wieder gehen wollte, sah ich sie ganz hinten im Atelier. Eine Hand ragte aus dem Profil eines Altaraufsatzes mit einer Figurengruppe. Langsam ging ich näher heran, und Zentimeter um Zentimeter trat die Silhouette hervor. Ich blieb davor stehen und betrachtete diesen großen Engel des Lichts — es war der gleiche wie der, den der Patron am Revers getragen und den ich im Arbeitszimmer auf dem Truhenboden gefunden hatte. Die Figur war gut und gern zweieinhalb Meter hoch, und ich erkannte ihre Gesichtszüge und vor allem das Lächeln. Zu ihren Füßen stand ein Grabstein, auf dem eingraviert war:
David Martín
1900–1930
Ich lächelte. Mein Freund Diego Marlasca hatte unbestreitbar Sinn für Humor und Freude an Überraschungen. Ich dachte, es war kaum verwunderlich, dass er in seinem Eifer den Ereignissen vorgegriffen und mir ein so anrührendes Denkmal gesetzt hatte. Ich kniete vor dem Grabstein nieder und strich mit den Fingern über meinen Namen. Hinter mir vernahm ich leichte, gemessene Schritte. Ich wandte mich um und erblickte ein vertrautes Gesicht. Der Junge trug denselben schwarzen Anzug wie vor einigen Wochen, als er mir auf dem Paseo del Born gefolgt war.
»Die Señora wird Sie jetzt empfangen«, sagte er.
Ich nickte und stand auf. Der Junge reichte mir seine Hand, und ich ergriff sie.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte er, während er mich zum Ausgang führte.
»Habe ich auch nicht«, murmelte ich.
Er brachte mich ans Ende der Gasse. Dort konnte man den Strand erahnen, verborgen hinter einer Reihe heruntergekommener Lagerhäuser und einem auf einem Abstellgleis verlassenen, unkrautüberwucherten Güterzug. Die Wagen waren verrostet, die Lok nur noch ein Skelett aus Heizkessel und Gestänge, das auf seine Verschrottung wartete.
Am Himmel guckte der Mond durch die Risse in einer bleiernen Wolkendecke. Auf dem Meer konnte man zwischen den Wellen einige Frachtdampfer und vor dem Strand von Bogatell einen Friedhof von Fischerbooten und Küstenschiffen ausmachen, die, von der stürmischen See ausgespuckt, hier gestrandet waren. In der anderen Richtung erstreckte sich die Barackensiedlung des Somorrostro-Viertels wie eine Schlackenschicht im Rücken der Festung industrieller Finsternis. Die Wellen brachen sich wenige Meter vor der vordersten Reihe der Holz- und Schilfhütten. Zwischen den Dächern dieses Elendsviertels, das wie eine endlose menschliche Mülldeponie die Stadt vom Meer trennte, zogen weiße Rauchwolken dahin. Der Gestank nach verbranntem Abfall lag in der Luft. Wir drangen in die Straßen dieser vergessenen Stadt ein, Durchgänge zwischen Häusern aus gestohlenen Backsteinen, aus Lehm und angespülten Balken. Ungeachtet der misstrauischen Blicke der Anwohner führte mich der Junge immer tiefer hinein. Tagelöhner ohne Tagelohn, Zigeuner, die aus ähnlichen Siedlungen an den Hängen des Montjuïc oder vor den Massengräbern des Friedhofs von Can Tunis vertrieben worden waren, Kinder und Greise, für die es keine Hoffnung mehr gab. Alle beobachteten mich argwöhnisch. Wir kamen an Frauen unbestimmbaren Alters vorbei, die vor den Baracken in Blechgefäßen Wasser oder Essen über dem Feuer wärmten. Wir blieben bei einem weißlichen Haus stehen, vor dessen Tür ein Mädchen mit Greisinnengesicht und einem durch Polio gelähmten Bein einen Eimer schleppte, in dem sich etwas Gräulich-Schleimiges bewegte. Aale. Der Junge zeigte auf die Tür.
»Hier ist es.«
Ich warf einen letzten Blick auf den Himmel. Der Mond verbarg sich wieder zwischen den Wolken, und vom Meer her näherte sich ein Schleier von Dunkelheit.
Ich trat ein.
Ihr Gesicht war von Erinnerungen gezeichnet, und ihre Augen konnten ebenso gut zehn wie hundert Jahre alt sein. Sie saß an einem kleinen Feuer und betrachtete den Tanz der Flammen fasziniert wie ein Kind. Ihr aschgraues Haar war zu einem Zopf geflochten, ihr Körper schlank und asketisch, ihre Bewegungen waren knapp und gemessen. Sie war in Weiß gekleidet und hatte ein Seidentuch um den Hals geknüpft. Sie lächelte mir warm zu und bot mir einen Stuhl neben sich an. Ich setzte mich. Zwei Minuten lang schwiegen wir und lauschten dem Knistern der Glut und dem Meeresrauschen. In ihrer Gegenwart schien die Zeit stillzustehen, und seltsamerweise war der Albdruck, der mich hergeführt hatte, verflogen. Langsam wurde der Hauch des Feuers spürbar, und an ihrer Seite schmolz die Kälte in meinen Knochen. Erst jetzt wandte sie die Augen von den Flammen. Sie ergriff meine Hand und begann zu sprechen.
»Meine Mutter hat fünfundvierzig Jahre lang in diesem Haus gelebt. Damals war es noch kein Haus, bloß eine Hütte aus Schilf und Strandgut. Selbst nachdem sie sich einen Namen gemacht hatte und von hier hätte weggehen können, weigerte sie sich, es zu tun. Sie sagte immer, an dem Tag, an dem sie das Somorrostro verließe, würde sie sterben. Sie war hier geboren, unter den Menschen des Strandes, und hier blieb sie bis ans Ende ihrer Tage. Es wurde viel über sie erzählt. Viele redeten über sie, und sehr wenige kannten sie wirklich. Viele fürchteten und hassten sie. Auch noch nach ihrem Tod. Ich erzähle Ihnen das alles, weil Sie wissen sollen, dass ich nicht die bin, die Sie suchen. Die Person, die Sie suchen oder zu suchen meinen —, die viele die Hexe von Somorrostro nannten, war meine Mutter.«
Verwirrt schaute ich sie an.
»Wann…?«
»Meine Mutter ist 1905 gestorben«, sagte sie. »Sie wurde wenige Meter von hier umgebracht, am Strand, durch einen Messerstich in den Hals.«
»Das tut mir leid. Ich habe geglaubt…«
»Das glauben viele Leute. Der Wunsch zu glauben kann sogar stärker sein als der Tod.«
»Wer hat sie umgebracht?«
»Sie wissen, wer.«
Ich antwortete erst nach einem Augenblick.
»Diego Marlasca…«
Sie nickte.
»Warum?«
»Um sie zum Schweigen zu bringen. Um seine Spur zu verwischen.«
»Das verstehe ich nicht. Ihre Mutter hatte ihm doch geholfen… Er selber gab ihr für ihre Hilfe eine große Summe.«
»Ebendarum wollte er sie umbringen, damit sie sein Geheimnis mit ins Grab nähme.«
Sie sah mich leicht lächelnd an, als ob meine Verwirrung sie zugleich amüsiere und ihr Mitleid einflöße.
»Meine Mutter war eine ganz gewöhnliche Frau, Señor Martín. Sie war im Elend aufgewachsen, und ihre einzige Kraft war der Wille zu überleben. Sie hatte nie lesen oder schreiben gelernt, aber sie konnte in die Menschen hineinsehen. Sie fühlte, was sie fühlten, was sie verbargen und sich ersehnten. Sie las es in ihrem Blick, ihren Mienen, ihrer Stimme, ihrem Gang oder ihren Gesten. Sie wusste im Voraus, was andere tun und lassen würden. Aus diesem Grund wurde sie von vielen als Hexe bezeichnet — weil sie in ihnen sehen konnte, was sie selbst nicht sehen wollten. Sie verdiente sich den Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Liebes- und Zaubertränken, die sie aus dem Wasser des Bachs, aus Kräutern und einigen Zuckerkörnern herstellte. Sie half verlorenen Seelen, an das zu glauben, woran sie glauben wollten. Als ihr Name immer bekannter wurde, begannen viele vornehme Leute sie aufzusuchen und um ihre Hilfe zu bitten. Die Reichen wollten noch reicher, die Mächtigen noch mächtiger werden. Die Engherzigen wollten sich als Heilige fühlen und die Heiligen für Sünden bestraft werden, die zu begehen sie zu ihrem Leidwesen nicht den Mut gehabt hatten. Meine Mutter hörte alle an und nahm ihre Münzen entgegen. Mit diesem Geld schickte sie mich und meine Geschwister auf die Schulen, die die Kinder ihrer Klienten besuchten. Sie erkaufte uns einen anderen Namen und ein anderes Leben weit weg von diesem Ort. Sie war ein guter Mensch, Señor Martín, lassen Sie sich nicht täuschen. Sie hat nie jemanden ausgenutzt, nie jemandem etwas anderes eingeredet, als was zu glauben für ihn unerlässlich war. Das Leben hatte sie gelehrt, dass wir Menschen nicht nur Luft zum Atmen, sondern ebenso sehr große und kleine Lügen brauchen. Sie sagte immer, wenn wir in der Lage wären, einen einzigen Tag lang vom Morgengrauen bis zur Dunkelheit die Welt und uns selbst völlig ungeschminkt zu sehen, würden wir uns das Leben nehmen oder den Verstand verlieren.«
»Aber…«
»Wenn Sie gekommen sind, um Magie zu finden, dann muss ich Sie leider enttäuschen. Meine Mutter hat mir erklärt, dass es keine Zauberei gibt, dass es auf der Welt nicht mehr Böses oder Gutes gibt, als wir uns vorstellen, ob aus Habsucht oder Naivität. Oder in irgendeinem Wahn.«
»Das war aber nicht das, was sie Diego Marlasca erzählt hat, als sie sein Geld annahm«, warf ich ein. »Mit siebentausend Peseten konnte man sich damals bestimmt für einige Jahre einen guten Namen und gute Schulen kaufen.«
»Für Diego Marlasca war es wichtig zu glauben. Meine Mutter half ihm dabei. Das war alles.«
»Woran zu glauben?«
»An seine eigene Rettung. Er war überzeugt, sich selbst verraten zu haben und die, die ihn liebten. Er glaubte, sich einem Weg verschrieben zu haben, der schlecht und falsch war. Meine Mutter dachte, das habe er mit den meisten Menschen gemein, die irgendwann in ihrem Leben innehalten, um in den Spiegel zu sehen. Es sind immer die miesesten Schurken, die sich tugendhaft vorkommen und auf den Rest der Welt herabsehen. Aber Diego Marlasca war ein anständiger Mann, der nicht zufrieden war mit dem, was er sah. Daher kam er zu meiner Mutter. Weil er die Hoffnung und wahrscheinlich auch den Verstand verloren hatte.«
»Hat Marlasca gesagt, was er getan hatte?«
»Er sagte, er habe seine Seele einem Schatten ausgeliefert.«
»Einem Schatten?«
»Das waren seine Worte. Einem Schatten, der ihm folgte, der seine Gestalt hatte, sein Gesicht und sogar seine Stimme.«
»Was sollte das bedeuten?«
»Schuld und Gewissensbisse bedeuten nichts. Dabei geht es nur um Gefühle, Emotionen, nicht um Ideen.«
Ich dachte, treffender hätte das auch der Patron nicht ausdrücken können.
»Und was konnte Ihre Mutter für ihn tun?«, fragte ich.
»Nichts weiter, als ihn zu trösten und ihm zu helfen, ein wenig Frieden zu finden. Diego Marlasca glaubte an die Magie, und daher dachte meine Mutter, sie müsse ihn davon überzeugen, der Weg zu seiner Rettung führe über sie. Sie erzählte ihm von einem alten Zauber, einer Fischerlegende, die sie als kleines Mädchen zwischen den Hütten am Strand aufgeschnappt hatte: Wenn ein Mensch im Leben von seinem Weg abkomme und spüre, dass der Tod einen Preis auf seine Seele ausgesetzt habe, so müsse er eine reine Seele finden, die sich für ihn opfere — damit könne er sein schwarzes Herz tarnen, und der Tod würde vorüberziehen, ohne ihn zu sehen.«
»Eine reine Seele?«
»Frei von Sünde.«
»Und wie wurde das ausgeführt?«
»Nicht ohne Schmerzen vermutlich.«
»Was für eine Art Schmerzen?«
»Ein Blutopfer. Eine Seele für eine andere. Tod für Leben.«
Ein langes Schweigen folgte. Meeresrauschen war zu hören und zwischen den Hütten der Wind.
»Irene hätte sich Herz und Augen aus dem Leib gerissen für Marlasca. Er war für sie der einzige Grund zu leben. Sie liebte ihn blind und glaubte wie er, seine einzige Rettung liege in der Magie. Anfänglich wollte sie sich das Leben nehmen, sich für ihn opfern, aber meine Mutter redete es ihr aus. Sie sagte ihr, was sie bereits wusste, nämlich dass ihre Seele nicht frei von Sünde sei, das Opfer also umsonst wäre. Das sagte sie ihr, um sie zu retten. Um beide zu retten.«
»Vor wem?«
»Vor sich selbst.«
»Aber sie machte einen Fehler…«
»Auch meine Mutter konnte nicht alles sehen.«
»Und was tat Marlasca dann?«
»Das wollte mir meine Mutter nie sagen, ich und meine Geschwister sollten nichts mit dieser Geschichte zu tun haben. Sie schickte uns alle weit weg und verteilte uns auf verschiedene Internate, damit wir vergäßen, woher wir kamen und wer wir waren. Sie sagte, jetzt seien wir die Verdammten. Kurz darauf ist sie gestorben, ganz allein. Das erfuhren wir erst lange danach. Als man ihre Leiche fand, wagte niemand, sie anzurühren, und man ließ das Meer sie forttragen. Niemand wagte, über ihren Tod zu sprechen. Aber ich wusste, wer sie umgebracht hatte und warum. Und noch heute glaube ich, dass meine Mutter wusste, dass sie bald sterben würde und von wessen Hand. Sie wusste es und unternahm nichts dagegen, denn am Ende glaubte sie es selbst. Sie glaubte es, weil sie nicht ertragen konnte, was sie getan hatte. Sie glaubte, wenn sie ihre Seele hingebe, würde sie unsere retten, die Seele dieses Ortes. Aus diesem Grund mochte sie nicht von hier fliehen, denn die alte Legende besagte, die Seele, die geopfert werde, müsse stets an dem Ort bleiben, wo der Verrat begangen worden sei, eine Binde vor den Augen des Todes, auf ewig gefangen.«
»Und wo ist die Seele, die diejenige von Diego Marlasca gerettet hat?«
Die Frau lächelte.
»Es gibt weder Seelen noch Rettungen, Señor Martín. Das sind alte Märchen und Geschwätz. Das Einzige, was es gibt, sind Asche und Erinnerungen, die werden wohl dort sein, wo Marlasca sein Verbrechen begangen hat, das Verbrechen, das er all diese Jahre verborgen hat, um das Schicksal an der Nase herumzuführen.«
»Das Haus mit dem Turm… Ich habe fast zehn Jahre dort gelebt, und da ist nichts.«
Sie lächelte wieder, sah mir fest in die Augen und küsste mich auf die Wange. Ihre Lippen waren eisig wie die einer Leiche. Ihr Atem roch nach verwelkten Blumen.
»Vielleicht haben Sie nicht da gesucht, wo Sie hätten suchen müssen«, raunte sie mir ins Ohr. »Vielleicht ist diese gefangene Seele die Ihre.«
Dann löste sie das Tuch um ihren Hals, und eine lange Narbe kam zum Vorschein. Diesmal war das Lächeln ein böses Grinsen, und die Augen leuchteten mit einem grausamen, spöttischen Glanz.
»Bald wird die Sonne aufgehen. Gehen Sie, solange Sie können«, sagte die Hexe von Somorrostro, kehrte mir den Rücken zu und sah wieder ins Feuer.
In der Tür erschien der Junge im schwarzen Anzug und reichte mir die Hand zum Zeichen, dass meine Zeit um sei. Ich stand auf und folgte ihm. Als ich mich umdrehte, sah ich überraschend mein Bild in einem Spiegel an der Wand. Darin sah man die gebeugte, in Lumpen gehüllte Gestalt einer am Feuer sitzenden Greisin. Ihr dunkles, bitteres Lachen begleitete mich hinaus.
Als ich zum Haus mit dem Turm kam, wurde es allmählich Tag. Das Schloss der Haustür war defekt. Ich schob sie auf und trat in die Eingangshalle. Der Verriegelungsmechanismus auf der Rückseite der Tür dampfte und verströmte einen intensiven Säuregeruch. Langsam stieg ich die Treppe hinauf, fest überzeugt, dass Marlasca auf dem dunklen Absatz auf mich warten oder mir, wenn ich mich umwandte, von unten zulächeln würde. Oben bemerkte ich, dass auch das Schlüsselloch der Wohnungstür Säurespuren aufwies. Ich steckte den Schlüssel hinein und musste mich mehrere Minuten lang abmühen, um es aufzukriegen — der Mechanismus war zwar beschädigt, aber offensichtlich nicht zu knacken gewesen. Ich zog den leicht verätzten Schlüssel heraus, stieß die Tür auf, die ich offen ließ, und trat in den Korridor, ohne aus dem Mantel zu schlüpfen. Dann zog ich die Pistole aus der Tasche und öffnete die Trommel, um die leeren Hülsen durch neue Kugeln zu ersetzen, so, wie ich es immer bei meinem Vater gesehen hatte, wenn er im Morgengrauen nach Hause kam.
»Salvador?«, rief ich.
Das Echo meiner Stimme hallte in der Wohnung wider. Ich spannte die Pistole. Dann ging ich weiter durch den Korridor bis zum Zimmer an seinem Ende. Die Tür war nur angelehnt.
»Salvador?«, rief ich noch einmal.
Ich richtete die Waffe auf die Tür und versetzte dieser einen Fußtritt. Drinnen war keine Spur von Marlasca zu sehen, nur der Stapel Kisten und das an der Wand aufgehäufte Gerümpel. Wieder drang mir dieser Geruch in die Nase, der durch die Mauern zu sickern schien. Ich trat zum Schrank an der hinteren Wand, öffnete die Türen weit und nahm die alten Kleider von den Bügeln. Der feuchtkalte Luftzug aus dem Loch in der Rückwand strich mir übers Gesicht. Was immer Marlasca in diesem Haus versteckt haben mochte, es befand sich jenseits der Mauer.
Ich steckte die Pistole wieder in die Tasche und zog den Mantel aus. Dann griff ich zwischen die Rückseite des Schranks und die Wand, fasste die Kante und zog ihn mit aller Kraft nach vorn. Mit dem ersten Ruck schaffte ich einige Zentimeter, sodass ich den Schrank fester in den Griff bekam und erneut ziehen konnte. Er bewegte sich fast eine Handbreit. Nun rückte ich ihn weiter ab, bis die Wand dahinter sichtbar wurde und ich genügend Platz hatte, um mich in die entstandene Lücke zu zwängen. Mit der Schulter lehnte ich mich an ihn und schob ihn vollständig an die angrenzende Wand. Einen Augenblick schöpfte ich Atem, dann musterte ich die Mauer. Sie war in einem Ocker gestrichen, das sich von der Farbe der übrigen Wände unterschied. Unter dem Anstrich konnte man ungeglätteten, lehmigen Mörtel erahnen. Als ich dagegen klopfte, wurde schnell klar, dass es sich um keine tragende Wand handelte und dass es auf der anderen Seite irgendetwas geben musste. Ich presste den Kopf an die Wand und horchte. Da vernahm ich ein Geräusch — Schritte, die durch den Korridor näher kamen… Leise wandte ich mich von der Wand ab und streckte die Hand nach dem Mantel über dem Stuhl aus, um die Pistole an mich zu nehmen. Ein Schatten fiel über die Schwelle. Ich hielt den Atem an. Langsam erschien eine Silhouette im Zimmer.
»Inspektor…«, murmelte ich.
Víctor Grandes lächelte kühl. Ich stellte mir vor, wie sie, in einem benachbarten Hauseingang verborgen, seit Stunden auf mich gewartet hatten.
»Renovieren Sie, Martín?«
»Ich schaffe Ordnung.«
Der Inspektor betrachtete den Stapel Kleider und Kisten und den verrückten Schrank und nickte bloß.
»Ich habe Marcos und Castelo gebeten, unten zu warten. Ich wollte anklopfen, aber da Sie die Tür offen gelassen haben, war ich so frei. Ich habe mir gesagt: Bestimmt erwartet mich der liebe Martín.«
»Was kann ich für Sie tun, Inspektor?«
»Mich aufs Präsidium begleiten, wenn Sie so freundlich sein wollen.«
»Bin ich festgenommen?«
»Ich fürchte, ja. Machen Sie es mir leicht, oder muss ich Gewalt anwenden?«
»Das müssen Sie nicht«, versicherte ich ihm.
»Da bin ich Ihnen aber dankbar.«
»Darf ich meinen Mantel mitnehmen?«
Einen Moment schaute er mir in die Augen. Dann nahm er den Mantel und half mir hinein. Ich spürte das Gewicht der Pistole am Oberschenkel. Gelassen knöpfte ich den Mantel zu. Bevor wir das Zimmer verließen, warf der Inspektor einen letzten Blick auf die entblößte Wand. Dann bedeutete er mir, auf den Korridor hinauszugehen. Marcos und Castelo waren auf den Treppenabsatz heraufgekommen, wo sie mit triumphierendem Grinsen warteten. Am Ende des Korridors angekommen, blieb ich einen Moment stehen und schaute in die Wohnung zurück, die sich zu einem Schacht von Schatten zusammenzuziehen schien. Ich fragte mich, ob ich sie wohl jemals Wiedersehen würde. Castelo zog Handschellen hervor, aber Grandes schüttelte den Kopf.
»Das wird doch nicht nötig sein, oder, Martín?«
Ich verneinte. Grandes lehnte die Tür an und schob mich sanft, aber bestimmt zur Treppe.
Diesmal gab es weder einen Knalleffekt noch ein Schauerszenario noch Anklänge an feuchtdunkle Kerker. Der Raum war groß, hell und hoch und ließ mich an das Klassenzimmer einer religiösen Eliteschule denken, das Kruzifix an der Wand inbegriffen. Er lag im ersten Stock des Präsidiums und hatte breite Fenster, durch die man auf die Menschen und Straßenbahnen hinuntersah, die bereits ihr morgendliches Defilee durch die Vía Layetana aufgenommen hatten. In der Mitte des Zimmers standen zwei Stühle und ein Metalltisch, die, so mutterseelenallein in so viel kahlem Raum, winzig wirkten. Grandes führte mich zum Tisch und schickte Marcos und Castelo hinaus. Die beiden nahmen sich Zeit, dem Befehl nachzukommen. Man konnte die Wut, die sie schnaubten, förmlich riechen. Grandes wartete, bis sie draußen waren, dann entspannte er sich.
»Ich dachte, Sie würden mich den Wölfen zum Fraß vorwerfen«, sagte ich.
»Setzen Sie sich.«
Ich gehorchte. Wären da nicht Marcos’ und Castelos Blicke bei ihrem Abmarsch, die Metalltür und die vergitterten Fenster gewesen, niemand wäre auf die Idee gekommen, meine Lage könnte ernst sein. Dass sie es doch war, davon überzeugten mich die Thermosflasche Kaffee und die Schachtel Zigaretten, die Grandes auf den Tisch legte, vor allem aber sein gelassenes, freundliches — sein sicheres Lächeln. Diesmal war es ernst.
Er setzte sich mir gegenüber, klappte eine Mappe auf und entnahm ihr einige Fotografien, die er nebeneinander auf den Tisch legte. Die erste zeigte Anwalt Valera im Sessel seines Lesezimmers. Auf der daneben sah man die Leiche der Witwe Marlasca beziehungsweise das, was von ihr übrig war, nachdem man sie vom Grund ihres Schwimmbeckens in der Carretera de Vallvidrera geborgen hatte. Das dritte Bild zeigte ein Männchen mit aufgeschlitzter Kehle, das Damián Roures zu sein schien. Das vierte Bild war eines von Cristina Sagnier, ganz offensichtlich am Tag ihrer Vermählung mit Pedro Vidal aufgenommen. Die beiden letzten waren Studioporträts meiner ehemaligen Verleger Barrido und Escobillas. Nachdem er die sechs Fotos fein säuberlich angeordnet hatte, warf mir Grandes einen unergründlichen Blick zu und ließ wortlos einige Minuten verstreichen, um meine Reaktion — oder ihr Ausbleiben — auf diese Bilder zu studieren. Dann schenkte er unendlich bedächtig zwei Tassen Kaffee ein und schob die eine zu mir.
»Vor allen Dingen möchte ich Ihnen die Chance geben, mir alles zu erzählen, Martín. Auf Ihre Weise und ohne jede Eile«, sagte er schließlich.
»Das wird nichts bringen«, antwortete ich. »Es wird nichts ändern.«
»Ist Ihnen ein Kreuzverhör mit anderen möglichen Beteiligten lieber? Mit Ihrer Assistentin zum Beispiel? Wie hieß sie noch? Isabella?«
»Lassen Sie Isabella aus dem Spiel, sie weiß nichts.«
»Überzeugen Sie mich.«
Ich schaute zur Tür.
»Es gibt nur eine Art, hier rauszukommen, Martín«, sagte der Inspektor und zeigte mir einen Schlüssel.
Wieder spürte ich das Gewicht der Pistole in der Manteltasche.
»Wo soll ich anfangen?«
»Sie sind der Erzähler. Ich bitte Sie bloß, mir die Wahrheit zu sagen.«
»Ich weiß nicht, was die Wahrheit ist.«
»Die Wahrheit ist, was schmerzt.«
Über zwei Stunden lang sagte Inspektor Grandes kein einziges Wort. Er hörte aufmerksam zu, nickte gelegentlich oder notierte sich einzelne Worte in seinem Heft. Am Anfang schaute ich ihn noch an, aber bald vergaß ich seine Anwesenheit und stellte fest, dass ich die Geschichte mir selbst erzählte. Die Worte ließen mich in eine vergessen geglaubte Zeit zurückreisen, in die Nacht, in der mein Vater vor dem Zeitungsgebäude erschossen wurde. Ich beschwor meine Tage bei der Stimme der Industrie herauf, die Jahre, in denen ich nur dank meiner Mitternachtsgeschichten überlebt hatte, und Andreas Corellis ersten Brief, in dem er mir große Erwartungen verkündete. Ich erzählte von dem ersten Treffen mit dem Patron auf dem Wasserspeicher beim Ciudadela-Park und den Tagen, an denen ich keine andere Aussicht hatte als die auf einen baldigen Tod. Ich sprach von Cristina, von Vidal und von einer Geschichte, deren Ende jeder außer mir hätte vorausahnen können. Ich erzählte von den beiden Büchern, die ich geschrieben hatte, das eine unter meinem und das andere unter Vidals Namen, vom Verlust jener elenden Erwartungen und von dem Abend, an dem ich sah, wie meine Mutter das einzig Gute, was ich im Leben geschaffen zu haben glaubte, in den Papierkorb warf. Ich suchte weder das Mitleid noch das Verständnis des Inspektors. Ich wollte lediglich eine imaginäre Landkarte der Ereignisse skizzieren, die mich in diesen Raum, an diesen Punkt absoluter Leere geführt hatten. Ich kehrte ins Haus am Park Güell zurück und zu jenem Abend, an dem mir der Patron ein Angebot unterbreitet hatte, das ich nicht ablehnen konnte. Ich gestand, wie mir ein erster Verdacht gekommen war, erzählte von meinen Nachforschungen zur Geschichte des Hauses mit dem Turm, zu Diego Marlascas seltsamem Tod und von dem Netz von Täuschungen, in das ich mich verstrickt oder das ich mir gesucht hatte, um meine Eitelkeit, meine Gier und den Wunsch zu befriedigen, um jeden Preis zu leben — zu leben, um die Geschichte erzählen zu können.
Ich ließ nichts aus. Nichts außer dem Wichtigsten, dem, was ich nicht einmal mir selbst zu erzählen wagte. In meinem Bericht kehrte ich ins Sanatorium Villa San Antonio zurück, um Cristina zu suchen, und fand bloß Fußstapfen, die sich im Schnee verloren. Wenn ich es immer wieder von neuem sagte, würde ich es irgendwann vielleicht selber glauben. Meine Geschichte endete an diesem nämlichen Morgen, als ich von den Baracken des Somorrostro-Viertels zurückkam, um zu entdecken, dass Diego Marlasca beschlossen hatte, das fehlende Bild in der von Inspektor Grandes auf dem Tisch ausgebreiteten Galerie habe meines zu sein.
Am Ende meiner Erzählung verfiel ich in ein langes Schweigen. In meinem ganzen Leben hatte ich mich nie müder gefühlt. Am liebsten wäre ich schlafen gegangen, um nie wieder aufzuwachen. Grandes beobachtete mich von der anderen Seite des Tisches. Ich hatte den Eindruck, er war verwirrt, traurig und zornig, vor allem aber ratlos.
»Sagen Sie doch was«, sagte ich.
Er seufzte. Dann stand er zum ersten Mal von seinem Stuhl auf und trat ans Fenster, mit dem Rücken zu mir. Ich sah mich die Pistole aus dem Mantel ziehen, ihm eine Kugel in den Nacken jagen und mit dem Schlüssel aus seiner Tasche den Raum verlassen. In sechzig Sekunden könnte ich auf der Straße sein.
»Der Grund, warum wir uns unterhalten, ist ein Telegramm, das gestern vom Revier der Gendarmerie von Puigcerdà kam und in dem steht, Cristina Sagnier sei aus dem Sanatorium Villa San Antonio verschwunden und Sie seien der Hauptverdächtige. Der Chefarzt des Sanatoriums sagt, Sie hätten Interesse daran bekundet, sie mitzunehmen, aber er habe Ihnen das Entlassungsschreiben verweigert. Ich erzähle Ihnen das alles, damit Sie ganz genau verstehen, warum wir hier sind, in diesem Raum, mit heißem Kaffee und Zigaretten, und uns wie alte Freunde unterhalten. Wir sind hier, weil die Frau eines der reichsten Männer Barcelonas verschwunden ist und Sie als Einziger wissen, wo sie ist. Wir sind hier, weil sich der Vater Ihres Freundes Pedro Vidal, einer der mächtigsten Männer dieser Stadt und anscheinend ein alter Bekannter von Ihnen, für den Fall interessiert und meine Vorgesetzten freundlich gebeten hat, diese Information von Ihnen einzuholen, ehe wir Ihnen auch nur ein Haar krümmen, und alle weiteren Erwägungen auf später zu verschieben. Hätte er das nicht getan und hätte ich nicht darauf bestanden, eine Chance zu bekommen, die Sache auf meine Art zu klären, so säßen Sie jetzt im Kerker von Campo de la Bota, und anstatt mit mir zu reden, würden Sie sich direkt mit Marcos und Castelo unterhalten. Diese beiden — das zu Ihrer Information — sind übrigens der Ansicht, es sei alles reine Zeitverschwendung und gefährde das Leben von Señora Vidal, Ihnen nicht als Erstes mit einem Hammer die Knie zu zerschmettern, eine Meinung, der sich meine Vorgesetzten mit jeder Minute mehr anschließen dürften, weil sie denken, ich halte Sie aus Freundschaft an der langen Leine.«
Grandes wandte sich um und schaute mich mit verhaltenem Zorn an.
»Sie haben mir nicht zugehört«, sagte ich. »Sie haben nichts von dem vernommen, was ich Ihnen erzählt habe.«
»Ich habe Ihnen ganz genau zugehört, Martín. Ich habe gehört, wie Sie, dem Tode nahe und verzweifelt, mit einem mehr als mysteriösen Pariser Verleger, von dem nie jemand gehört und den nie jemand gesehen hat, einen Vertrag abgeschlossen haben, um, in Ihren eigenen Worten, für hunderttausend Francs eine neue Religion zu erfinden, nur um dann festzustellen, dass Sie in Wirklichkeit in ein finsteres Komplott geraten sind, in das auch ein Anwalt verwickelt ist, der vor fünfundzwanzig Jahren seinen eigenen Tod simuliert hat, ferner seine Geliebte, ein heruntergekommenes Revuegirl, und das alles, um einem Schicksal zu entkommen, das jetzt das Ihre ist. Ich habe gehört, wie dieses Schicksal Sie dazu gebracht hat, in ein verwunschenes Haus zu ziehen — eine Falle, in die schon Ihr Vorgänger, Diego Marlasca, getappt war —, und wo es für Sie offensichtlich wurde, dass jemand Sie verfolgte und alle umbrachte, die das Geheimnis eines Mannes hätten lüften können, welcher, Ihren Worten nach zu urteilen, fast so verrückt war wie Sie. Der Mann im Schatten, der die Identität eines ehemaligen Polizisten angenommen hat, um zu verbergen, dass er noch lebt, hat mithilfe seiner Geliebten eine Reihe Verbrechen begangen, ja sogar den Tod von Señor Sempere bewirkt, aus einem merkwürdigen Grund, den nicht einmal Sie erklären können.«
»Irene Sabino hat Sempere umgebracht, um ihm ein Buch zu stehlen. Ein Buch, von dem sie glaubte, dass es meine Seele enthalte.«
Grandes schlug sich mit der Hand an die Stirn, als sei soeben der Groschen gefallen.
»Natürlich. Wie dumm ich bin. Das erklärt alles. Wie das mit diesem schrecklichen Geheimnis, das Ihnen eine Strandhexe am Bogatell enthüllt hat. Die Hexe von Somorrostro. Das gefällt mir. Typisch für Sie. Also: Dieser Marlasca hat eine Seele gefangen genommen, um die seine zu tarnen und so einer Art Fluch zu entkommen. Sagen Sie, haben Sie das aus der Stadt der Verdammten, oder haben Sie sich das gerade aus den Fingern gesogen?«
»Ich habe mir gar nichts aus den Fingern gesogen.«
»Versetzen Sie sich in meine Lage, und überlegen Sie mal, ob Sie irgendetwas von dem glauben würden, was Sie da erzählt haben.«
»Vermutlich nicht. Aber ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«
»Natürlich. Sie haben mir konkrete Angaben und Beweise geliefert, damit ich die Wahrhaftigkeit Ihres Berichts überprüfen kann, von Ihrem Besuch bei Dr. Trías über Ihr Konto bei der Bank Hispano Colonial, Ihren eigenen Grabstein in einer Werkstatt im Pueblo Nuevo bis hin zu der juristischen Verbindung zwischen einem Mann, den Sie Patron nennen, und der Anwaltskanzlei Valera, neben vielen anderen Details, die von Ihrer Erfahrung im Erfinden von Detektivgeschichten zeugen. Das Einzige, was Sie mir nicht erzählt haben und was ich, offen gestanden, zu Ihrem und zu meinem Besten zu hören gehofft hatte, ist, wo Cristina Sagnier ist.«
Mir wurde klar, dass mich in diesem Augenblick nur eine Lüge retten konnte. Sowie ich die Wahrheit über Cristina ausspräche, wären meine Stunden gezählt.
»Ich weiß nicht, wo sie ist.«
»Sie lügen.«
»Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es nichts bringen würde, Ihnen die Wahrheit zu erzählen.«
»Außer dass ich wie ein Idiot dastehe, weil ich Ihnen helfen wollte.«
»Das versuchen Sie, Inspektor? Mir zu helfen?«
»Ja.«
»Dann überprüfen Sie alles, was ich Ihnen gesagt habe. Finden Sie Marlasca und Irene Sabino.«
»Meine Vorgesetzten haben mir vierundzwanzig Stunden mit Ihnen zugestanden. Wenn ich ihnen Cristina Sagnier bis dann nicht wohlbehalten oder wenigstens lebend zurückbringe, werden sie mich von dem Fall entbinden und ihn Marcos und Castelo übergeben, die schon lange auf die Chance warten, sich verdient zu machen, und sie werden sie nicht ungenutzt lassen.«
»Dann verlieren Sie keine Zeit.«
Grandes schnaubte, doch er nickte.
»Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, Martín.«
Es war ungefähr neun Uhr vormittags, als mich Inspektor Víctor Grandes in diesem Raum mit der Thermosflasche kalt gewordenen Kaffees und seiner Schachtel Zigaretten allein ließ. Vor die Tür postierte er einen seiner Männer, dem er, wie ich hörte, einschärfte, unter keinen Umständen jemanden zu mir hereinzulassen. Fünf Minuten nach seinem Weggang wurde an die Tür gehämmert, und in dem Fensterchen zeichnete sich das Gesicht von Marcos ab. Seine Worte verstand ich nicht, aber was ich ihm von den Lippen ablas, ließ keinen Zweifel aufkommen:
Mach dich auf was gefasst, du Schweinehund.
Den Rest des Vormittags verbrachte ich auf dem Fensterbrett sitzend, wo ich den Menschen jenseits der Gitterstäbe zuschaute, die sich frei wähnten, die rauchten und so genussvoll ein Stück Zucker ums andere verzehrten, wie ich es mehr als einmal den Patron hatte tun sehen. Am Mittag übermannte mich die Müdigkeit, vielleicht auch nur die Last der Verzweiflung, und ich legte mich, mit dem Gesicht zur Wand, auf den Boden. In weniger als einer Minute war ich eingeschlafen. Als ich erwachte, lag der Raum im Dämmerlicht. Es war schon Abend, und das ockerfarbene Licht der Straßenlaternen auf der Vía Layetana warf die Schatten von Autos und Straßenbahnen an die Decke. Ich stand auf, da ich spürte, wie mir die Kälte des Bodens in sämtliche Muskeln kroch. Doch der Heizkörper in der Ecke war eisiger als meine Hände.
In diesem Moment hörte ich hinter mir die Tür aufgehen und drehte mich um. Auf der Schwelle stand der Inspektor und beobachtete mich. Auf ein Zeichen von ihm knipste jemand das Licht an und schloss die Tür. Die harte, metallische Helligkeit blendete mich für einen Moment. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich mich einem Inspektor gegenüber, der fast so elend aussah wie ich.
»Müssen Sie auf die Toilette gehen?«
»Nein. Angesichts der Umstände habe ich beschlossen, schon mal zu üben und in die Hose zu pissen, wenn Sie mich dann in die Schreckenskammer der Inquisitoren Marcos und Castelo schicken.«
»Freut mich, dass Sie Ihren Sinn für Humor noch nicht verloren haben. Sie werden ihn brauchen. Setzen Sie sich.«
Wir nahmen wieder dieselben Plätze wie einige Stunden zuvor ein und schauten uns schweigend an.
»Ich habe die Einzelheiten Ihrer Geschichte überprüft.«
»Und?«
»Wo soll ich anfangen?«
»Sie sind der Polizist.«
»Als Erstes habe ich die Praxis von Dr. Trías aufgesucht, in der Calle Muntaner. Das war eine kurze Angelegenheit. Dr. Trías ist vor zwölf Jahren gestorben, und seit acht Jahren führt ein Zahnarzt namens Bernat Llofriu die Praxis, der, unnötig es zu erwähnen, noch nie von Ihnen gehört hat.«
»Unmöglich.«
»Warten Sie, es wird noch besser. Danach bin ich zur Hauptfiliale der Bank Hispano Colonial gegangen. Eindrucksvolles Dekor und untadelige Bedienung. Am liebsten hätte ich gleich ein Sparbuch eröffnet. Dort habe ich herausgefunden, dass Sie bei diesem Unternehmen nie irgendein Konto hatten und dass man dort nie von jemandem namens Andreas Corelli gehört hat und dass derzeit kein Kunde ein Devisenkonto mit einem Betrag von hunderttausend französischen Francs besitzt. Soll ich fortfahren?«
Ich presste die Lippen zusammen und nickte.
»Nächster Halt war die Kanzlei des verstorbenen Anwalts Valera. Dort habe ich feststellen können, dass Sie zwar ein Bankkonto haben, nicht aber bei der Hispano Colonial, sondern bei der Bank von Sabadell, von wo aus Sie vor etwa sechs Monaten zweitausend Peseten auf das Konto der Anwälte überwiesen haben.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Ganz einfach. Sie haben Valera anonym engagiert, oder so dachten Sie wenigstens, denn Banken haben ein Gedächtnis wie Dichter, und wenn sie einmal einen Centimo haben davonfliegen sehen, vergessen sie es nie wieder. Ich gestehe, an diesem Punkt fand ich Geschmack an der Sache und beschloss, der Steinmetzwerkstatt Sanabre und Söhne einen Besuch abzustatten.«
»Sagen Sie nicht, Sie hätten den Engel nicht gesehen…«
»Doch, doch, und ob ich ihn gesehen habe. Beeindruckend. Ebenso wie der von Ihnen persönlich unterschriebene, vor drei Monaten datierte Brief, mit dem Sie die Arbeit in Auftrag gegeben haben, und die Quittung über die Vorauszahlung, die der gute Sanabre bei seinen Papieren aufbewahrt hat. Ein entzückender Mensch und überaus stolz auf seine Arbeit. Er hat gesagt, das sei sein Meisterwerk, er habe eine göttliche Eingebung gehabt.«
»Haben Sie ihn nicht nach dem Geld gefragt, das ihm Marlasca vor fünfundzwanzig Jahren gezahlt hat?«
»Das habe ich. Er hatte die Quittungen immer noch. Zahlungen für die Instandhaltung und Renovierung des Familiengrabes.«
»In Marlascas Grab liegt jemand, der nicht Marlasca ist.«
»Das sagen Sie. Aber wenn ich ein Grab schänden soll, müssen Sie mir schon stichhaltigere Argumente liefern. Erlauben Sie mir, meinen Gang durch Ihre Geschichte fortzusetzen.«
Ich musste schlucken.
»Da ich schon mal da war, bin ich auch gleich zum Strand von Bogatell gegangen, wo ich für einen Real mindestens zehn Personen gefunden habe, die bereit waren, mir das schreckliche Geheimnis der Hexe von Somorrostro zu enthüllen. Ich habe es Ihnen heute Morgen nicht gesagt, als Sie mir Ihre Geschichte erzählt haben, um das Drama nicht zu ruinieren, aber tatsächlich ist das Weibsbild, das sich so nannte, schon vor Jahren gestorben. Die Alte, die ich heute Morgen gesehen habe, vermag nicht einmal Kinder zu erschrecken, sie ist an den Stuhl gefesselt. Ein Detail, das Sie entzücken wird: Sie ist stumm.«
»Inspektor…«
»Ich bin noch nicht fertig. Sie sollen nicht sagen können, ich nehme meine Arbeit nicht ernst. Ich nehme sie so ernst, dass ich von dort zu dem alten Kasten am Park Güell gegangen bin, den Sie mir beschrieben haben, der seit mindestens zehn Jahren leer steht und in dem es, wie ich Ihnen leider sagen muss, weder Fotografien noch sonst irgendwelche Bilder noch irgendetwas außer Katzenscheiße gibt. Wie finden Sie das?«
Ich gab keine Antwort.
»Sagen Sie, Martín, an meiner Stelle — was hätten Sie in einer solchen Situation getan?«
»Aufgegeben, nehme ich an.«
»Genau. Aber ich bin nicht Sie und habe nach dieser einträglichen Rundreise wie ein Blödmann beschlossen, Ihrem Rat zu folgen und die fürchterliche Irene Sabino zu suchen.«
»Haben Sie sie gefunden?«
»Bitte etwas mehr Vertrauen in die Ordnungskräfte, Martín. Natürlich haben wir sie gefunden. Zu Tode gelangweilt in einer elenden Pension im Raval, wo sie seit Jahren wohnt.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«
Grandes nickte.
»Lange und ausführlich.«
»Und?«
»Sie hat nicht die leiseste Idee, wer Sie sind.«
»Das hat sie gesagt?«
»Unter anderem.«
»Was da wäre?«
»Sie hat mir erzählt, sie habe Diego Marlasca bei einer von Roures organisierten Sitzung in einer Wohnung in der Calle Elisabets kennengelernt, wo sich 1903 die spiritistische Gesellschaft ›Die Zukunft‹ versammelte. Sie hat mir erzählt, sie habe einen Mann angetroffen, der, vollkommen vernichtet durch den Verlust seines Sohnes und gefangen in einer sinnentleerten Ehe, in ihren Armen Zuflucht gesucht habe. Sie hat mir erzählt, Marlasca sei ein guter, aber verwirrter Mann gewesen, der geglaubt habe, irgendetwas sei in ihn gefahren, und von seinem baldigen Tod überzeugt gewesen sei. Sie hat mir erzählt, vor seinem Tod habe er einen Fonds eingerichtet, damit sie und der Mann, den sie wegen Marlasca verlassen habe, Juan Corbera alias Jaco, etwas bekämen, wenn er nicht mehr da wäre. Sie hat mir erzählt, Marlasca habe sich das Leben genommen, um dem Schmerz ein Ende zu setzen, der ihn aufgezehrt habe. Sie hat mir erzählt, sie und Juan Corbera hätten von Marlascas Barmherzigkeit gelebt, bis das Geld aufgebraucht gewesen sei, und der Mann, den Sie Jaco nennen, habe sie kurz darauf verlassen und sie habe erfahren, er sei einsam und im Alkoholrausch gestorben, während er als Nachtwächter in der Fabrik Casaramona gearbeitet habe. Sie hat mir erzählt, sie habe Marlasca tatsächlich zu dieser Frau gebracht, die die Hexe von Somorrostro genannt werde, weil sie gedacht habe, sie würde ihn trösten und ihn davon überzeugen können, dass er im Jenseits seinen Sohn wiederfände… Soll ich fortfahren?«
Ich knöpfte mein Hemd auf und zeigte ihm die Schnitte, die mir Irene Sabino an dem Abend in die Brust geritzt hatte, als sie und Marlasca mich auf dem Friedhof von San Gervasio angegriffen hatten.
»Ein sechszackiger Stern. Bringen Sie mich nicht zum Lachen, Martín. Diese Schnitte können Sie sich selbst beigebracht haben. Sie bedeuten gar nichts. Irene Sabino ist bloß eine arme Frau, die sich ihren Lebensunterhalt als Angestellte in einer Wäscherei in der Calle Cadena verdient, sie ist keine Hexe.«
»Und was ist mit Ricardo Salvador?«
»Ricardo Salvador wurde 1906 aus dem Polizeidienst entlassen, nachdem er zwei Jahre lang im Todesfall Marlasca herumgestochert hatte, während er eine unerlaubte Beziehung mit der Witwe des Verstorbenen unterhielt. Das Letzte, was man über ihn hat in Erfahrung bringen können, ist, dass er nach Südamerika ausgewandert ist, um dort ein neues Leben anzufangen.«
Angesichts der Ungeheuerlichkeit dieses Schwindels musste ich unwillkürlich lachen.
»Merken Sie es denn nicht, Inspektor? Merken Sie nicht, dass Sie in genau dieselbe Falle tappen, wie Marlasca sie mir gestellt hat?«
Grandes sah mich mitleidig an.
»Wer nicht merkt, was vorgeht, das sind Sie, Martín. Die Zeit läuft, und statt mir zu sagen, was Sie mit Cristina Sagnier gemacht haben, wollen Sie mich mit allen Mitteln von einer Geschichte überzeugen, die aus der Stadt der Verdammten zu stammen scheint. Hier gibt es nur eine einzige Falle: die, die Sie sich selbst gestellt haben. Und mit jeder Minute, die vergeht, ohne dass Sie mir die Wahrheit sagen, wird es schwieriger für mich, Sie hier rauszubringen.«
Grandes fuhr vor meinen Augen zweimal mit der Hand durch die Luft, als wollte er sich versichern, dass mein Sehvermögen noch intakt war.
»Nein? Nichts? Wie Sie wollen. Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen auch noch den Rest von dem erzähle, was der Tag hergegeben hat. Nach meinem Besuch bei Irene Sabino war ich wirklich müde und bin für eine Weile ins Präsidium zurückgekommen, wo ich noch Zeit und Lust hatte, die Gendarmerie in Puigcerdà anzurufen. Dort hat man mir bestätigt, dass man Sie am Abend ihres Verschwindens aus Cristina Sagniers Zimmer kommen sah, dass Sie nie in Ihr Hotel zurückgekehrt sind, um Ihre Sachen zu holen, und dass der Chefarzt des Sanatoriums erzählt hat, Sie hätten die Lederriemen durchgeschnitten, mit denen die Patientin festgebunden gewesen sei. Da habe ich einen alten Freund von Ihnen angerufen, Pedro Vidal, der so freundlich war, ins Präsidium zu kommen. Der arme Mann ist am Boden zerstört. Er hat mir erzählt, bei Ihrer letzten Begegnung hätten Sie ihn geschlagen. Stimmt das?«
Ich bejahte.
»Nur damit Sie es wissen — er trägt es Ihnen nicht nach. Er hat mich tatsächlich mehr oder weniger zu überreden versucht, Sie gehen zu lassen. Er sagt, bestimmt gebe es für alles eine Erklärung. Sie hätten ein schwieriges Leben gehabt. Sie hätten seinetwegen den Vater verloren. Er fühle sich schuldig. Er wolle einzig und allein seine Frau wiederhaben, und er habe nicht die geringste Absicht, Vergeltung zu üben.«
»Sie haben Vidal die ganze Geschichte erzählt?«
»Es blieb mir nichts anderes übrig.«
Ich vergrub das Gesicht in den Händen.
»Und was hat er gesagt?«
Grandes zuckte die Schultern.
»Er denkt, Sie hätten den Verstand verloren. Sie müssten unschuldig sein, und Ihnen solle nichts geschehen, ob Sie es nun seien oder nicht. Was seine Familie angeht — das ist schon eine andere Frage. Ich weiß, dass der Herr Vater Ihres Freundes Vidal, als dessen Busenfreund man Sie ja nicht unbedingt bezeichnen kann, Marcos und Castelo insgeheim eine Prämie angeboten hat, wenn sie Ihnen in weniger als zwölf Stunden ein Geständnis entlocken. Sie haben ihm versichert, dass Sie nach einem einzigen Vormittag sogar die Verse des Canigó aufsagen würden.«
»Und Sie, was glauben Sie?«
»Was ich wirklich glaube? Eigentlich möchte ich gern glauben, dass Pedro Vidal recht hat, dass Sie den Verstand verloren haben.«
Ich sagte ihm nicht, dass ich das in diesem Augenblick selbst zu glauben begann. Ich sah ihn an und erkannte an seinem Ausdruck, dass etwas nicht stimmte.
»Da gibt es etwas, was Sie mir nicht erzählt haben«, sagte ich.
»Ich würde sagen, ich habe Ihnen mehr als genug erzählt.«
»Und was haben Sie mir nicht gesagt?«
Grandes sah mich aufmerksam an und ließ dann ein unterdrücktes Lachen hören.
»Heute Morgen, als Sie mir erzählt haben, dass an dem Abend, an dem Señor Sempere starb, jemand in die Buchhandlung gekommen war und dass man Sempere und die Person streiten hören konnte, nahmen Sie an, diese Person habe ein Buch kaufen wollen, ein Buch von Ihnen. Da Sempere es nicht habe verkaufen wollen, kam es zum Streit, und der Buchhändler erlitt einen Herzanfall. Wie Sie sagten, war es mehr oder weniger ein Einzelstück. Wie hieß das Buch?«
»Die Schritte des Himmels.«
»Genau. Das ist das Buch, das, wie Sie annahmen, an dem Abend gestohlen wurde, an dem Sempere starb.«
Ich nickte. Der Inspektor zündete sich eine Zigarette an. Nach ein paar Zügen drückte er sie wieder aus.
»Das ist mein Dilemma, Martín. Einerseits glaube ich, dass Sie mir einen ganzen Berg von Lügengeschichten aufgetischt haben, weil Sie mich für einen Volltrottel halten oder weil Sie — und ich weiß nicht, was schlimmer ist — angefangen haben, selber daran zu glauben, nachdem Sie sie so oft erzählt haben. Alles spricht gegen Sie, und das Einfachste für mich wäre, mir nicht die Hände schmutzig zu machen und Sie Marcos und Castelo zu übergeben.«
»Aber…«
»… aber, und das ist ein mikroskopisch kleines Aber, ein Aber, das meine Kollegen problemlos vom Tisch wischen könnten, das mich aber stört wie ein Staubkorn im Auge und das mich zumindest in Erwägung ziehen lässt, ob vielleicht das — und was ich Ihnen nun sage, widerspricht allem, was ich in zwanzig Jahren in diesem Metier gelernt habe —, was Sie mir erzählt haben, zwar nicht die Wahrheit, aber auch nicht unbedingt falsch ist.«
»Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich Ihnen erzählt habe, woran ich mich erinnere, Inspektor. Sie mögen mir glauben oder nicht. Tatsache ist, dass manchmal nicht einmal ich mir glaube. Aber es ist das, woran ich mich erinnere.«
Grandes stand auf und begann den Tisch zu umkreisen.
»Heute Nachmittag, als ich mich mit María Antonia Sanahuja, oder Irene Sabino, unterhalten habe, im Zimmer ihrer Pension, habe ich sie gefragt, ob sie wisse, wer Sie seien. Sie verneinte. Ich habe ihr erklärt, Sie wohnten im Haus mit dem Turm, wo sie und Marlasca mehrere Monate verbracht hatten. Ich habe sie wieder gefragt, ob sie sich an Sie erinnern könne. Sie verneinte. Ein wenig später habe ich gesagt, Sie hätten das Grab der Familie Marlasca besucht und beteuert, sie dort gesehen zu haben. Zum dritten Mal verneinte sie, Sie je gesehen zu haben. Und ich habe ihr geglaubt. Ich habe ihr geglaubt, bis sie, als ich eben gehen wollte, sagte, ihr sei ein wenig kalt, und den Schrank öffnete, um ein wollenes Schultertuch herauszunehmen. Da habe ich auf dem Nachttisch ein Buch gesehen. Es fiel mir auf, weil es das einzige Buch im ganzen Zimmer war. Ich habe den Augenblick genutzt, als sie mir den Rücken zudrehte, um die handschriftliche Widmung auf der ersten Seite zu lesen.«
»›Für Señor Sempere, den besten Freund, den sich ein Buch wünschen kann, zum Dank, dass er mir die Tore zur Welt geöffnet und mich gelehrt hat, durch sie hindurchzugehen«, zitierte ich aus dem Gedächtnis.
»Gez. David Martín«, ergänzte Grandes.
Mit dem Rücken zu mir blieb er vor dem Fenster stehen.
»In einer halben Stunde wird man Sie abholen und mir den Fall abnehmen«, sagte er. »Sie werden in Marcos’ Obhut übergehen. Und ich werde nichts mehr tun können. Haben Sie mir noch irgendetwas zu sagen, womit Sie Ihre Haut retten könnten?«
»Nein.«
»Dann nehmen Sie diese lächerliche Pistole, die Sie seit Stunden in Ihrem Mantel versteckt haben, und drohen Sie damit, mir das Hirn wegzupusten, wenn ich Ihnen nicht den Schlüssel zu dieser Tür gebe — aber passen Sie auf, dass Sie sich nicht in den Fuß schießen.«
Ich schaute zur Tür.
»Im Gegenzug bitte ich Sie nur, mir zu sagen, wo Cristina Sagnier ist, wenn Sie überhaupt noch lebt.«
Unfähig, einen Ton herauszubringen, sah ich zu Boden.
»Haben Sie sie umgebracht?«
Nach einem langen Schweigen sagte ich:
»Ich weiß es nicht.«
Grandes trat zu mir und gab mir den Schlüssel.
»Hauen Sie ab, Martín.«
Ich zögerte einen Moment, ehe ich ihn ergriff.
»Nehmen Sie nicht die Haupttreppe. Wenn Sie auf den Gang kommen, gibt es hinten links eine blaue Tür, die nur von innen zu öffnen ist und zur Feuertreppe führt. Der Ausgang geht auf die rückwärtige Gasse hinaus.«
»Wie kann ich Ihnen danken?«
»Zuerst einmal, indem Sie keine Zeit mehr verlieren. Sie haben rund dreißig Minuten, bevor Ihnen die ganze Abteilung auf den Fersen ist. Verschwenden Sie sie nicht.«
Ich ging mit dem Schlüssel zur Tür. Vor dem Hinausgehen wandte ich mich noch einmal kurz um. Grandes hatte sich auf den Tisch gesetzt und schaute mich ausdruckslos an.
»Diese Engelsbrosche«, sagte er und deutete auf sein Revers.
»Ja?«
»Die habe ich an Ihrem Revers gesehen, seit ich Sie kenne.«
Die Straßen des Raval waren Tunnel, deren Schwärze die flackernden Laternen kaum anzukratzen vermochten. Ich brauchte wenig mehr als die mir von Inspektor Grandes zugestandenen dreißig Minuten, um herauszufinden, dass es in der Calle Cadena zwei Wäschereien gab. In der einen, einer Höhle hinter einem dampfglänzenden Aufgang, waren nur Kinder mit violett verfärbten Händen und gelblichen Augen beschäftigt. Die zweite, ein schmutziger, nach Lauge stinkender Laden, von dem man sich nur schwer vorstellen konnte, dass dort irgendetwas sauber herauskam, wurde von einem Mannweib geleitet, das angesichts von ein paar Münzen unumwunden zugab, dass María Antonia Sanahuja sechs Nachmittage pro Woche dort arbeitete.
»Was hat sie denn jetzt wieder angestellt?«, fragte sie.
»Sie hat geerbt. Sagen Sie mir, wo ich sie finden kann, vielleicht fällt was für Sie ab.«
Sie lachte, aber in ihren Augen blitzte Habgier auf.
»Soviel ich weiß, wohnt sie in der Pension Santa Lucía, in der Calle Marques de Barberá. Wie viel hat sie denn geerbt?«
Ich warf noch einmal einige Münzen auf den Ladentisch und verließ das schmutzige Loch, ohne eine Antwort zu geben.
Irene Sabinos Pension moderte in einem düsteren Haus vor sich hin, das aus ausgegrabenen Knochen und geklauten Grabsteinen zusammengebastelt schien. Die Briefkastenschilder im Erdgeschoss waren verrostet, und für die ersten beiden Stockwerke waren keine Namen angegeben. Der dritte Stock beherbergte ein Näh- und Konfektionsatelier mit dem hochtrabenden Namen Mediterran-Textil. Den vierten und obersten belegte die Pension Santa Lucía. Im Halbdunkel führte eine Treppe nach oben, auf der gerade eine einzige Person Platz fand, der Gestank der Abwasserleitungen sickerte durch die Wände und zerfraß den Anstrich wie Säure. Ich stieg die vier Stockwerke zu einem schrägen Treppenabsatz hinauf, auf den eine einzige Tür mündete. Ich klopfte mit der Faust an, und nach einer Weile öffnete ein Mann, der so groß und mager war wie ein Albtraum von El Greco.
»Ich suche María Antonia Sanahuja«, sagte ich.
»Sind Sie der Arzt?«, fragte er.
Ich schob ihn beiseite und trat ein. Die Wohnung war ein einziges Durcheinander von kleinen, dunklen Zimmern links und rechts eines Flurs, an dessen Ende ein Fenster auf einen Lichtschacht hinausging. Der Gestank der Rohrleitungen erfüllte die Luft. Der Mann, der mir die Tür geöffnet hatte, offensichtlich ein Mieter, war auf der Schwelle stehen geblieben und beobachtete mich verwirrt.
»Welches ist ihr Zimmer?«, fragte ich.
Er schaute mich schweigend und verschlossen an. Ich zeigte ihm die Pistole. Ohne die Fassung zu verlieren, deutete er auf die letzte Tür des Korridors neben dem Lichtschacht. Sie war verschlossen, und ich begann mit aller Kraft am Türknauf zu rütteln. Die anderen Bewohner waren auf den Flur herausgetreten, ein Chor vergessener Seelen, die seit Jahren nicht mehr mit dem Sonnenlicht in Berührung gekommen zu sein schienen. Ich erinnerte mich an meine elenden Tage in Doña Carmens Pension, die mir jetzt wie eine Dependance des Hotel Ritz vorkam, verglichen mit diesem Purgatorium, einem von vielen im Gewimmel des Raval.
»Gehen Sie in Ihre Zimmer zurück«, sagte ich.
Niemand schien mich gehört zu haben. Ich hob die Hand mit der Waffe. Sogleich zogen sich alle wie verängstigte Nager zurück, mit Ausnahme des Ritters von der traurigen Gestalt. Ich konzentrierte mich wieder auf die Tür.
»Sie hat von innen abgeschlossen«, erklärte der Pensionsgast. »Sie ist schon den ganzen Nachmittag da drin.«
Unter der Tür drang ein Geruch heraus, der mich an bittere Mandeln denken ließ. Ich klopfte mehrmals mit der Faust an, ohne eine Antwort zu bekommen.
»Die Hauswirtin hat einen Hauptschlüssel«, sagte der Mieter. »Wenn Sie warten wollen… Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie kommt.«
Ich drängte ihn beiseite und warf mich mit aller Kraft gegen die Tür. Beim zweiten Angriff gab das Schloss klein bei. Sowie ich im Zimmer stand, überfiel mich der säuerliche, Übelkeit erregende Gestank.
»Mein Gott«, murmelte der Mieter hinter mir.
Der ehemalige Star vom Paralelo lag bleich und schweißbedeckt auf einer Pritsche. Als sie mich erblickte, verzogen sich ihre schwarzen Lippen zu einem Lächeln. Die Hände umklammerten das Giftfläschchen, das bis auf den letzten Tropfen geleert war. Der Blut- und Gallegestank ihres Atems erfüllte das Zimmer. Der Mieter hielt sich mit der Hand Nase und Mund zu und zog sich auf den Korridor zurück. Ich sah, wie Irene Sabino sich wand, während das Gift sie innerlich zerfraß. Der Tod ließ sich Zeit.
»Wo ist Marlasca?«
Sie schaute mich durch die Todestränen hindurch an.
»Er hat mich nicht mehr gebraucht. Er hat mich nie geliebt.«
Ihre Stimme war rau und gebrochen. Ein trockener Husten verursachte ein Geräusch in ihrer Brust, als würde etwas reißen, und einen Moment später trat ihr eine dunkle Flüssigkeit in den Mund. Mit ihrem letzten Lebenshauch schaute sie mich an, ergriff meine Hand und drückte sie kräftig.
»Sie sind verdammt, wie er.«
»Was kann ich tun?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. Ein neuer Hustenanfall ließ ihre Brust erbeben. Die Äderchen in den Augen platzten, und ein Netz blutender Linien breitete sich zu den Pupillen hin aus.
»Wo ist Ricardo Salvador? Liegt er in Marlascas Grab, in der Familiengruft?«
Irene Sabino schüttelte den Kopf. Ihre Lippen formten stumm ein Wort: Jaco.
»Wo also ist Salvador?«
»Er weiß, wo Sie sind. Er sieht Sie. Er hat es auf Sie abgesehen.«
Ich hatte den Eindruck, sie begann zu delirieren. Der Druck ihrer Hand wurde immer schwächer.
»Ich habe ihn geliebt«, sagte sie. »Er war ein guter Mensch. Ein guter Mensch. Er hat ihn verändert. Er war ein guter Mensch…«
Ein Geräusch von zerreißendem Fleisch kam aus ihrem Mund, und ihr Körper straffte sich in einem Muskelkrampf. Irene Sabino starb, die Augen auf meine geheftet, und nahm Diego Marlascas Geheimnis mit ins Grab. Jetzt blieb nur noch ich.
Ich bedeckte ihr Gesicht mit einem Laken und seufzte. In der Tür stand der Mieter und bekreuzigte sich. Ich sah mich um und versuchte, etwas zu finden, was mir weiterhelfen konnte, irgendeinen Hinweis, was ich als Nächstes tun sollte. Irene Sabino hatte ihre letzten Tage in einer fensterlosen Zelle von vier mal zwei Metern verbracht; ein Metallbett, auf dem jetzt ihr Leichnam lag, ein Schrank an der Wand gegenüber und ein Nachttischchen waren die einzigen Möbel. Unter dem Bett schaute, neben einem Nachttopf und einer Hutschachtel, ein Koffer hervor. Auf dem Nachttisch befanden sich ein Teller mit Brotkrumen, ein Wasserkrug und ein Stapel Postkarten, die sich bei genauerem Hinsehen als Heiligenbilder und Totenzettel von Beerdigungen entpuppten. Daneben lag in ein weißes Tuch gehüllt etwas, was wie ein Buch aussah. Ich wickelte es aus und fand das Exemplar von Die Schritte des Himmels, das ich Señor Sempere gewidmet hatte. Auf der Stelle verflog das Mitleid, das mir diese sterbende Frau eingeflößt hatte. Die Unglückliche hatte meinen besten Freund umgebracht, um ihm dieses verfluchte Buch zu entreißen. Da erinnerte ich mich an das, was mir Sempere das erste Mal gesagt hatte, als ich seine Buchhandlung betrat: Jedes Buch habe eine Seele, die Seele dessen, der es geschrieben habe, und die Seele derer, die es gelesen und von ihm geträumt hätten. Sempere war im Glauben an diese Worte gestorben, und mir ging auf, dass Irene Sabino auf ihre Weise ebenfalls daran geglaubt hatte.
Noch einmal las ich die Widmung. Auf Seite sieben fand ich die erste Markierung — eine bräunliche Zeichnung, die über die Worte geschmiert war und einen sechszackigen Stern darstellte, wie sie ihn mir vor Wochen mit dem Messer in die Brust geritzt hatte. Ich begriff, dass die Zeichnung mit Blut gemacht war. Ich blätterte weiter und stieß auf immer mehr Zeichnungen. Lippen. Eine Hand. Augen. Sempere hatte sein Leben für einen elenden, lächerlichen Jahrmarktsbudenzauber hergegeben.
Ich steckte das Buch in die Mantelinnentasche und kniete neben dem Bett nieder, wo ich den Koffer hervorzog und den Inhalt auf den Boden kippte. Nichts außer Kleidern und alten Schuhen. Dann öffnete ich die Hutschachtel und fand ein Lederetui mit dem Rasiermesser, mit dem mich Irene Sabino behandelt hatte. Plötzlich breitete sich ein Schatten auf dem Boden aus, und ich wandte mich abrupt um, die Pistole im Anschlag. Der hochaufgeschossene Mieter schaute mich einigermaßen verdutzt an.
»Ich glaube, Sie kriegen Gesellschaft«, sagte er knapp.
Ich trat auf den Korridor hinaus und ging zur Wohnungstür. Als ich ins Treppenhaus hinabschaute, hörte ich schwere Schritte heraufkommen. Zwei Stockwerke tiefer wurde ein emporschauendes Gesicht erkennbar, und mein Blick traf den von Marcos. Er zog den Kopf zurück, und die Schritte beschleunigten sich. Er war nicht allein. Ich schloss die Tür, stemmte mich dagegen und versuchte gleichzeitig zu überlegen. Der Mieter beobachtete mich ruhig, aber gespannt.
»Gibt es außer dieser Tür noch einen anderen Ausgang?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
»Der Ausgang aufs Dach?«
Er zeigte auf die Tür, die ich gerade geschlossen hatte. Einen Augenblick später spürte ich, wie Marcos und Castelo sich gegen sie warfen. Ich entfernte mich rückwärts durch den Flur, die Waffe auf die Tür gerichtet.
»Ich geh für alle Fälle schon mal in mein Zimmer«, sagte der Mieter. »Es war mir ein Vergnügen.«
»Ganz meinerseits.«
Ich starrte auf die Tür, die gewaltig erbebte. Um Angeln und Schloss begann das alte Holz zu splittern. Ich ging ans Ende des Korridors und öffnete das Fenster zum Lichtschacht. Ein vertikaler Tunnel, etwa einen mal anderthalb Meter groß, verlor sich in den Schatten. Etwa drei Meter über dem Fenster war der Rand des flachen Dachs zu erkennen. An der gegenüberliegenden Wand des Lichtschachts war ein Abwasserrohr mit verrosteten Ringen befestigt. Die eiternde Feuchtigkeit hatte die Mauer schwarz gesprenkelt. Noch immer donnerten die Schläge in meinem Rücken. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass die Tür praktisch aus den Angeln gehoben war. Es blieben mir höchstens noch ein paar Sekunden. Ich hatte keine andere Wahl, kletterte durchs Fenster und sprang.
Ich schaffte es, mich an der Rohrleitung festzuhalten und einen Fuß auf einen der Ringe zu stellen. Ich streckte die Hand aus und packte das Rohr weiter oben, aber sowie ich kräftig daran zog, löste sich ein meterlanges Stück unter meinen Händen und schepperte in die Tiefe des Lichtschachts. Beinahe wäre ich mitgestürzt, aber ich konnte mich an das Metallstück klammern, mit dem der Ring in der Mauer verankert war. Jetzt war die Rohrleitung, auf die ich gesetzt hatte, um aufs Dach zu klettern, ganz außer Reichweite. Es gab nur zwei Möglichkeiten: wieder auf den Korridor zurück, wo jeden Moment Marcos und Castelo eindringen würden, oder in diesen schwarzen Schacht hinuntersteigen. Ich hörte die Tür gegen die Wand in der Wohnung krachen und ließ mich langsam an der Rohrleitung hinabgleiten, wobei ich mich, so gut es ging, festhielt und mir kräftig die linke Hand aufschürfte. Ich hatte bereits anderthalb Meter geschafft, als sich die Silhouetten der beiden Polizisten im Licht des Schachtfensters abzeichneten. Marcos’ Gesicht schaute als erstes in den Schacht. Er grinste, und ich fragte mich, ob er ohne Federlesens gleich auf mich schießen würde. Da erschien Castelo neben ihm.
»Bleib du hier. Ich geh in die Wohnung hier drunter«, befahl Marcos.
Castelo nickte und ließ mich nicht aus den Augen. Sie wollten mich lebendig, wenigstens für ein paar Stunden. Ich hörte Marcos’ Schritte davoneilen. Im nächsten Augenblick würde ich ihn knapp einen Meter unter mir aus dem Fenster schauen sehen. Ein Blick nach unten zeigte mir, dass aus den Fenstern der ersten beiden Stockwerke Licht drang, während das des dritten dunkel war. Langsam ließ ich mich weiter hinabgleiten, bis mein Fuß auf dem nächsten Ring Halt fand. Vor mir lagen das dunkle Fenster des dritten Stocks und ein leerer Korridor, an dessen Ende Marcos an die Tür klopfte. Um diese Zeit war das Konfektionsatelier bereits geschlossen und niemand mehr da. Die Schläge an die Tür verstummten, und ich begriff, dass Marcos in den zweiten Stock hinuntergelaufen war. Ich sah nach oben, wo mich Castelo weiterhin beobachtete und sich wie eine Katze die Lippen leckte.
»Fall nicht runter — wir wollen uns noch mit dir amüsieren«, sagte er.
Ich hörte Stimmen im zweiten Stock — man hatte Marcos also geöffnet. Ohne lange zu überlegen, warf ich mich mit aller Kraft gegen das Fenster des dritten. Gesicht und Hals mit den Mantelärmeln schützend, stürzte ich durch die Scheibe und landete in einem See aus Scherben. Mühsam rappelte ich mich auf, und im Halbdunkel sah ich, dass sich auf meinem linken Ärmel ein dunkler Fleck ausbreitete. Eine Scherbe scharf wie ein Dolch ragte mir oberhalb des Ellbogens aus dem Arm.
Als ich sie herauszog, wich die Kälte einer Lohe aus Schmerz, die mich in die Knie zwang. In dieser Haltung sah ich, dass mir Castelo durch den Lichtschacht gefolgt war und mich jetzt von dort beobachtete, wo ich abgesprungen war. Noch bevor ich die Waffe ziehen konnte, machte er einen Satz aufs Fenster zu. Seine Hände klammerten sich am Rahmen der zerbrochenen Scheibe fest, und in einer Reflexbewegung warf ich mich mit meinem ganzen Gewicht gegen diesen Rahmen. Mit einem trockenen Knacken brachen seine Fingerknochen, sodass er vor Schmerz aufheulte. Ich zog die Pistole und zielte auf sein Gesicht, aber er hatte bereits gemerkt, dass seine Hände vom Rahmen glitten. Ein schreckerfüllter Blick, dann stürzte er in den Schacht, wobei er gegen die Wände prallte und in den Lichtflecken vor den Fenstern der unteren Stockwerke Blutspuren hinterließ.
Ich schleppte mich durch den Korridor zur Tür. Die Wunde am Arm pochte heftig, und ich merkte, dass ich auch an den Beinen mehrere Schnitte hatte. Ich wankte weiter. Links und rechts taten sich im Halbdunkel Räume mit Nähmaschinen, Fadenspulen und großen Tuchrollen auf Tischen auf. Als ich die Tür erreichte, legte ich die Hand auf den Knauf. Eine Zehntelsekunde später spürte ich, wie er sich unter meinen Fingern drehte. Ich ließ ihn los. Auf der anderen Seite stand Marcos und versuchte, die Tür zu öffnen. Ich zog mich ein paar Schritte zurück. Da schüttelte ein Krachen die Tür, und in einer Wolke von Funken und blauem Rauch flog ein Teil des Schlosses in die Luft. Marcos versuchte, es aufzuschießen. Ich flüchtete mich in den ersten Raum, der voll mit arm- und beinlosen Figuren war aneinandergelehnte Schaufensterpuppen. Ich glitt zwischen die im Dämmerlicht glänzenden Torsi. Dann hörte ich einen zweiten Schuss. Die Tür sprang auf. Das gelbliche, im Pulverdampf gefangene Licht des Treppenabsatzes fiel in die Wohnung. Marcos’ Körper erschien als scharf gezeichneter Schattenriss in der Helligkeit. Seine schweren Schritte hallten durch den Korridor. Hinter den Puppen verborgen, drängte ich mich an die Wand, die Pistole in den zittrigen Händen.
»Kommen Sie raus, Martín«, sagte Marcos ganz ruhig, während er langsam weiterging. »Ich tu Ihnen nichts. Ich habe Anweisung von Grandes, Sie ins Präsidium zu bringen. Wir haben diesen Kerl gefunden, Marlasca. Er hat alles gestanden. Sie haben eine saubere Weste. Machen Sie jetzt keine Dummheiten. Kommen Sie raus, und im Präsidium besprechen wir alles.«
Ich sah ihn an der Tür vorbei- und weitergehen.
»Martín, hören Sie mir zu. Grandes ist unterwegs. Wir können das alles klären, ohne die Dinge noch komplizierter zu machen.«
Ich spannte die Pistole. Marcos’ Schritte blieben stehen. Ein Schleifen auf den Fliesen. Er war auf der anderen Seite der Wand und wusste genau, dass ich mich in diesem Raum befand und dass für mich kein Weg an ihm vorbeiführte. Ich sah, wie sich in der Tür seine Gestalt langsam aus den Schatten löste, dann aber mit dem Halbdunkel verschmolz, sodass nur der Glanz seiner Augen von seiner Anwesenheit zeugte. Er war noch knapp vier Meter von mir entfernt. Ich glitt an der Wand in die Knie. Hinter den Puppen erschienen Marcos’ Beine.
»Ich weiß, dass Sie hier sind, Martín. Lassen Sie die Kindereien.«
Er blieb stehen. Ich sah, wie er niederkniete und die Blutspur betastete, die ich hinterlassen hatte. Er hielt sich einen Finger an die Lippen. Ich stellte mir sein Grinsen vor.
»Sie bluten stark, Martín. Sie brauchen einen Arzt. Kommen Sie raus, und ich geh mit Ihnen zu einer Ambulanz.«
Ich schwieg weiterhin. Marcos blieb vor einem Tisch stehen und griff nach einem blitzenden Gegenstand zwischen den Stofffetzen. Eine große Zuschneideschere.
»Ganz wie Sie wollen, Martín.«
Ich hörte, wie er die Schere klackend öffnete und schloss. Ein stechender Schmerz fuhr durch meinen Arm, und ich biss mir auf die Lippen, um nicht aufzuheulen. Marcos drehte das Gesicht in meine Richtung.
»Da wir schon von Blut sprechen, werden Sie sicher gern hören, dass wir Ihre kleine Hure haben, diese Isabella, und dass wir uns, bevor wir mit Ihnen loslegen, für sie Zeit nehmen werden…«
Ich hob die Waffe und zielte auf sein Gesicht. Der Glanz des Metalls verriet mich. Marcos warf sich auf mich, stieß dabei die Puppen um und entging dem Schuss. Ich spürte sein Gewicht auf mir und seinen Atem im Gesicht. Einen Zentimeter neben meinem linken Auge schnappte kräftig die Schere zu. Mit aller Kraft stieß ich die Stirn gegen sein Gesicht, sodass er zur Seite fiel. Ich hob die Waffe und legte auf sein Gesicht an. Mit gespaltener Lippe richtete sich Marcos auf und starrte mich an.
»Hast ja keinen Mumm«, murmelte er.
Er legte die Hand auf den Lauf und lächelte mir zu. Ich drückte ab. Die Kugel zerfetzte ihm die Hand und riss ihm den Arm wie nach einem Schlag nach hinten. Er fiel rücklings zu Boden und hielt sich sein verstümmeltes Handgelenk, während sich sein pulverversengtes Gesicht vor Schmerz verzerrte und er lautlos heulte. Ich stand auf und ließ ihn dort liegen, auf dass er in einer Lache seines eigenen Urins verblute.
Mit letzter Kraft schleppte ich mich durch die Gassen des Raval zum Paralelo, wo vor dem Teatro Apolo eine Reihe Taxis warteten. Ich schlüpfte in das erstbeste hinein. Als er die Tür hörte, drehte sich der Fahrer um, und als er mich erblickte, versuchte er mich mit einer Grimasse abzuschrecken. Ungeachtet seines Protests ließ ich mich auf den Rücksitz fallen.
»Hören Sie, Sie sterben mir doch nicht etwa da hinten?«
»Je eher Sie mich dahin bringen, wo ich hinwill, desto schneller sind Sie mich wieder los.«
Er fluchte leise und ließ den Motor an.
»Und wo wollen Sie hin?«
Wenn ich das wüsste, dachte ich.
»Fahren Sie einfach los, ich sag’s Ihnen dann schon.«
»Losfahren wohin?«
»Richtung Pedralbes.«
Zwanzig Minuten später erblickte ich die Lichter der Villa Helius auf dem Hügel. Ich gab dem Fahrer ein Zeichen, der schon nicht mehr daran geglaubt hatte, mich je wieder loszuwerden. Er setzte mich vor der Tür ab und vergaß beinahe, für die Fahrt zu kassieren. Ich schleppte mich zum Eingang und klingelte. Dann ließ ich mich auf die Stufen fallen und lehnte den Kopf an die Wand. Ich hörte Schritte näher kommen, und irgendwann hatte ich den Eindruck, die Tür werde geöffnet und eine Stimme sage meinen Namen. Ich spürte eine Hand auf der Stirn und glaubte Vidals Augen zu erkennen.
»Verzeihen Sie, Don Pedro«, sagte ich flehend, »ich wusste nicht, wohin…«
Er rief etwas, und nach einer Weile spürte ich, wie mich mehrere Hände an Armen und Beinen hochhoben. Als ich die Augen wieder öffnete, lag ich in Don Pedros Schlafzimmer, in demselben Bett, das er mit Cristina in den kaum zwei Monaten ihrer Ehe geteilt hatte. Ich seufzte. Vidal schaute mich vom Fußende des Bettes aus an.
»Sprich jetzt nicht«, sagte er. »Der Arzt kommt gleich.«
»Glauben Sie ihnen nicht, Don Pedro«, wimmerte ich. »Glauben Sie ihnen nicht.«
Vidal nickte mit zusammengepressten Lippen.
»Natürlich nicht.«
Er nahm eine Decke und legte sie über mich.
»Ich geh runter und warte auf den Arzt. Schlaf.«
Nach einer Weile hörte ich Schritte und Stimmen ins Schlafzimmer kommen. Ich spürte, dass mir die Kleider ausgezogen wurden, und sah die zahllosen Schnitte, die meinen Körper wie blutiger Efeu bedeckten. Ich spürte, wie die Pinzetten Glassplitter mit Haut und Fleisch aus den Wunden zupften. Ich spürte die Wärme des Desinfektionsmittels und die Nadelstiche, mit denen der Arzt die Wunden vernähte. Es war kein Schmerz mehr da, kaum noch Müdigkeit. Sowie ich zusammengenäht, ausgebessert und verbunden war wie eine kaputte Marionette, deckten mich der Arzt und Vidal zu und betteten meinen Kopf auf das angenehmste, weichste Kissen meines Lebens. Ich öffnete die Augen und blickte in das Gesicht des Arztes, eines aristokratischen Herrn mit beruhigendem Lächeln. Er hielt eine Spritze in der Hand.
»Sie haben Glück gehabt, junger Mann«, sagte er, während er mir die Nadel in den Arm bohrte.
»Was ist das?«, murmelte ich.
Neben dem Gesicht des Arztes erschien dasjenige Vidals.
»Es wird dir schlafen helfen.«
In meinem Arm breitete sich eine Kältewolke aus, die sich bis zur Brust hinzog. Ich fiel in einen schwarzsamtenen Schacht, während mich Vidal und der Arzt aus der Höhe beobachteten. Die Welt schloss sich zu einem Lichttropfen, der sich in meinen Händen verflüchtigte. Ich tauchte in einen warmen, endlosen, chemischen Frieden, den ich am liebsten nie wieder verlassen hätte.
Ich erinnere mich an eine Welt aus schwarzem Wasser unter dem Eis. Das Mondlicht streifte das gefrorene Gewölbe über mir und zerfiel in tausend körnige Strahlenbündel, die sich in der Strömung wiegten, welche mich mitzog. Ihr weißes Gewand bauschte sich langsam um sie, die Silhouette ihres Körpers sichtbar im Gegenlicht. Cristina streckte die Hand nach mir aus, und ich kämpfte gegen die kalte, stete Strömung an. Als unsere Hände nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt waren, entfaltete eine dunkle Wolke ihre Flügel hinter ihr und hüllte sie ein wie in einer Explosion. Schwarze Lichttentakel umfassten ihre Arme, den Hals und das Gesicht und rissen sie in die Dunkelheit hinab.
Ich erwachte beim Klang meines Namens aus Inspektor Víctor Grandes’ Mund. Ich schoss hoch, ohne zu wissen, wo ich mich befand — an einem Ort, der, wenn er denn überhaupt irgendeinem Ort ähnelte, der Suite eines Grandhotels glich. Die Peitschenhiebe aus Schmerz, die von den Schnitten auf meinem Körper ausgingen, holten mich in die Wirklichkeit zurück. Ich befand mich in Vidals Schlafzimmer in der Villa Helius. Zwischen den angelehnten Fensterläden deutete sich das Licht des frühen Abends an. Im Kamin brannte ein Feuer, es war warm. Die Stimmen kamen aus dem Erdgeschoss. Pedro Vidal und Inspektor Grandes.
Ich ignorierte das Reißen und Stechen, das mir auf der Haut brannte, und sprang aus dem Bett. Meine blutverschmierten Kleider lagen auf einem Sessel. Ich sah mich nach dem Mantel um. Die Pistole steckte noch in seiner Tasche. Ich spannte sie, verließ das Zimmer und folgte dem Klang der Stimmen bis zur Treppe. Eng an die Wand geschmiegt, stieg ich einige Stufen hinunter.
»Das mit ihren Männern tut mir sehr leid, Inspektor«, hörte ich Vidal sagen. »Sie können sicher sein, sobald sich David mit mir in Verbindung setzt oder ich etwas über seinen Verbleib erfahre, werde ich es Sie sofort wissen lassen.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Señor Vidal. Tut mir leid, dass ich Sie unter diesen Umständen behelligen muss, aber die Lage ist äußerst ernst.«
»Das ist mir klar. Danke für Ihren Besuch.«
Schritte in Richtung Halle und das Geräusch der Haustür. Sich entfernende Schritte im Garten. Vidals schweres Atmen am Fuß der Treppe. Ich ging noch einige Stufen hinunter und sah, dass er die Stirn an die Tür lehnte. Als er mich hörte, wandte er sich um. Er sagte kein Wort, sondern schaute nur auf die Pistole in meinen Händen. Ich legte sie auf das Tischchen am Fuß der Treppe.
»Komm, schauen wir mal, ob wir was Sauberes zum Anziehen für dich finden.«
Ich folgte ihm in ein riesiges Ankleidezimmer, das eher einem Textilmuseum glich. All die exquisiten Anzüge, die ich aus Vidals glorreichen Jahren in Erinnerung hatte, hingen hier, dazu Dutzende Krawatten, Schuhe und Manschettenknöpfe in roten Samtetuis.
»All das stammt aus der Zeit, als ich noch jung war. Es wird dir gut stehen.«
Vidal wählte für mich aus. Er reichte mir ein Hemd, das wahrscheinlich so teuer war wie eine kleine Parzelle Land, einen in London maßgeschneiderten Dreiteiler und italienische Schuhe, die der Garderobe des Patrons wohl angestanden hätten. Schweigend zog ich mich an, während mir Vidal nachdenklich zuschaute.
»Ein wenig breit an den Schultern, aber damit wirst du dich abfinden müssen.«
Er gab mir Manschettenknöpfe mit Saphiren.
»Was hat Ihnen denn der Inspektor erzählt?«
»Alles.«
»Und haben Sie ihm geglaubt?«
»Spielt es eine Rolle, was ich glaube?«
»Für mich spielt es eine Rolle.«
Vidal setzte sich auf einen Schemel vor einer von oben bis unten mit Spiegeln bedeckten Wand.
»Er sagt, du wüsstest, wo Cristina ist«, sagte er.
Ich nickte.
»Lebt sie?«
Ich schaute ihm in die Augen und nickte sehr, sehr langsam. Vidal lächelte schwach und wich meinem Blick aus. Dann begann er zu weinen, mit einem Stöhnen, das aus tiefster Tiefe aufstieg. Ich setzte mich neben ihn und umarmte ihn.
»Verzeihen Sie mir, Don Pedro, verzeihen Sie mir…«
Später, als die Sonne langsam dem Horizont entgegensank, warf Don Pedro meine alten Kleider ins Feuer. Bevor er den Mantel den Flammen übergab, zog er Die Schritte des Himmels hervor und reichte mir das Buch.
»Von den beiden Büchern, die du letztes Jahr geschrieben hast, ist dies das gute«, sagte er.
Ich sah zu, wie er meine brennenden Kleider im Feuer schürte.
»Wann haben Sie es gemerkt?«
Er zuckte die Schultern.
»Selbst einen eitlen Dummkopf kann man nicht ewig täuschen, David.«
Ich war mir nicht sicher, ob in seiner Stimme Groll lag oder nur Traurigkeit.
»Ich habe es getan, weil ich dachte, es würde Ihnen helfen, Don Pedro.«
»Ich weiß schon.«
Er lächelte ohne Bitterkeit.
»Verzeihen Sie mir«, flüsterte ich.
»Du musst die Stadt verlassen. An der Mole San Sebastián ankert ein Frachter, der um Mitternacht in See sticht. Es ist alles arrangiert. Frag nach Kapitän Olmo, er erwartet dich. Nimm eins der Autos aus der Garage. Du kannst es auf der Mole stehenlassen, Pep wird es morgen holen. Sprich mit keinem. Geh nicht nach Hause zurück. Du wirst Geld brauchen.«
»Geld habe ich genug«, log ich.
»Geld hat man nie genug. Wenn du in Marseille an Land gehst, wird dich Olmo zu einer Bank begleiten und dir fünfzigtausend Francs auszahlen.«
»Don Pedro…«
»Hör mir zu. Diese beiden Männer, die du umgebracht hast, wie Grandes sagt…«
»Marcos und Castelo. Ich glaube, sie haben für Ihren Vater gearbeitet, Don Pedro.«
Vidal schüttelte den Kopf.
»Weder mein Vater noch seine Anwälte verkehren je mit der mittleren Etage, David. Was glaubst du wohl, wie diese beiden wissen konnten, wo sie dich eine halbe Stunde nach deiner Flucht aus dem Präsidium finden würden?«
Kalte Gewissheit brach über mich herein.
»Von meinem Freund, Inspektor Víctor Grandes.«
»Genau. Grandes hat dich bloß gehen lassen, weil er sich die Hände nicht schmutzig machen wollte. Sobald du weg warst, haben sich seine beiden Männer an deine Fersen geheftet. Es wäre ein Schlagzeilentod gewesen — Mordverdächtiger ergreift die Flucht und kommt um beim Versuch, sich der Festnahme zu entziehen.«
»Wie in den alten Zeiten bei den Vermischten Meldungen«, sagte ich.
»Einige Dinge ändern sich nie, David. Das solltest du besser wissen als irgendjemand sonst.«
Er öffnete seinen Schrank und gab mir einen noch ungetragenen Mantel. Ich steckte das Buch in die Innentasche. Vidal lächelte mich an.
»Wenigstens einmal im Leben sehe ich dich gut angezogen.«
»Ihnen stand das besser.«
»Das schon.«
»Don Pedro, es gibt vieles, was…«
»Jetzt ist es nicht mehr von Belang, David. Du schuldest mir keine Erklärung.«
»Ich schulde Ihnen weit mehr als eine Erklärung…«
»Dann erzähl mir von ihr.«
Vidals verzweifelte Augen baten mich, ihn zu belügen. Wir setzten uns in den Salon vor die großen Fenster, die auf ganz Barcelona hinabsahen, und ich schwindelte ihm aus tiefstem Herzen etwas vor. Ich sagte, Cristina habe unter dem Namen Madame Vidal ein kleines Dachgeschoss in der Rue Soufflot gemietet und mir gesagt, sie werde mich jeden Abend vor dem Brunnen des Jardin du Luxembourg erwarten. Ich sagte, sie spreche ständig von ihm, sie werde ihn nie vergessen und egal, wie viele Jahre ich auch an ihrer Seite verbrächte, ich wisse, dass ich nie die Leere würde füllen können, die er hinterlassen habe. Don Pedro nickte, den Blick in der Ferne verloren.
»Du musst mir versprechen, auf sie aufzupassen, David. Sie nie zu verlassen. Bei ihr zu bleiben, was auch geschehen mag.«
»Ich verspreche es, Don Pedro.«
Im blassen Licht der Abenddämmerung sah ich in ihm nur noch einen alten, besiegten Mann, krank vor Erinnerungen und Reue, einen Mann, der nie geglaubt hatte und dem jetzt nur noch der Balsam der Leichtgläubigkeit blieb.
»Ich wäre dir gern ein besserer Freund gewesen, David.«
»Sie sind der beste aller Freunde gewesen, Don Pedro. Sie sind viel mehr als das gewesen.«
Er streckte den Arm aus und nahm meine Hand. Er zitterte.
»Grandes hat mir von diesem Mann erzählt, von dem, den du den Patron nennst… Er sagt, du schuldest ihm etwas und glaubst, die einzige Art, deine Schuld zu bezahlen, bestehe darin, ihm eine reine Seele zu opfern…«
»Das sind Albernheiten, Don Pedro. Das dürfen Sie nicht ernst nehmen.«
»Mit einer schmutzigen und müden Seele wie der meinen ist dir wohl nicht gedient, oder?«
»Ich kenne keine reinere Seele als Ihre, Don Pedro.«
Er lächelte.
»Könnte ich mit deinem Vater tauschen, so würde ich es tun, David.«
»Ich weiß.«
Er stand auf und schaute zu, wie sich die Dunkelheit auf die Stadt niedersenkte.
»Du solltest dich auf den Weg machen«, sagte er. »Geh in die Garage und nimm einen Wagen. Welchen du willst. Ich sehe mal nach, ob ich etwas Bargeld dahabe.«
Ich nickte, nahm den Mantel und verließ das Haus. In der Garage der Villa Helius standen zwei wie Königskarossen glänzende Autos. Ich wählte das kleinere, diskretere, einen schwarzen Hispano-Suiza, der nicht mehr als zwei-, dreimal benutzt worden zu sein schien und noch neu roch. Ich setzte mich ans Steuer, ließ den Motor an und fuhr aus der Garage, um im Hof zu warten. Als Don Pedro nach einer Minute nicht erschien, stieg ich bei laufendem Motor aus. Ich ging ins Haus, um mich von ihm zu verabschieden und ihm zu sagen, er solle sich wegen des Geldes keine Gedanken machen, ich würde schon irgendwie klarkommen. In der Halle erinnerte ich mich, dass ich die Waffe auf dem Tisch gelassen hatte. Als ich sie mitnehmen wollte, war sie nicht mehr da.
»Don Pedro?«
Die Tür zum Salon war angelehnt. Ich schaute hinein und erblickte ihn in der Mitte des Raums. Er führte eben die Pistole meines Vaters an die Brust und richtete den Lauf aufs Herz. Ich lief zu ihm, und das Krachen des Schusses erstickte meine Rufe. Die Waffe fiel ihm aus der Hand. Sein Körper neigte sich zur Seite und sank, auf dem Marmor eine scharlachrote Spur hinterlassend, langsam zu Boden. Ich fiel neben ihm auf die Knie und nahm ihn in den Arm. Der Schuss hatte ein rauchendes Loch in seine Kleider gebohrt, aus dem dickflüssig dunkles Blut quoll. Don Pedro schaute mir fest in die Augen, während sich sein Lächeln mit Blut füllte und sein Körper zu zittern aufhörte und, umgeben vom Geruch nach Pulver und Elend, in sich zusammensank.
Ich setzte mich wieder ins Auto, die blutigen Hände am Lenkrad. Ich konnte kaum atmen. Nach einer Minute löste ich die Handbremse. Die Dämmerung hatte den Himmel über den pulsierenden Lichtern der Stadt rot gefärbt. Die Villa Helius hinter mir lassend, fuhr ich die Straße hinunter. Bei der Avenida Pearson hielt ich an und sah in den Rückspiegel. Aus einem versteckten Gässchen bog ein Auto heraus und blieb etwa fünfzig Meter hinter mir stehen. Die Scheinwerfer brannten nicht. Inspektor Grandes.
Ich fuhr weiter die Avenida Pearson hinunter, an dem großen schmiedeeisernen Drachen vorbei, der den Haupteingang der Finca Güell bewachte. Der Wagen des Inspektors folgte mir in rund hundert Meter Abstand. Bei der Diagonal angekommen, bog ich nach links ein in Richtung Stadtzentrum. Es war kaum Verkehr, und Grandes konnte mir problemlos folgen, bis ich nach rechts abbog in der Hoffnung, ihn in den engen Gassen von Las Corts abzuschütteln. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits bemerkt, dass seine Anwesenheit kein Geheimnis mehr war, hatte die Scheinwerfer eingeschaltet und aufgeholt. Zwanzig Minuten lang umkreisten wir ein Gewirr von Gassen und Straßenbahnen. Ich glitt zwischen Bussen und Autos hindurch und erblickte immer wieder von neuem die Lichter von Grandes’ Wagen hinter mir, der mir unermüdlich folgte. Nach einer Weile erhob sich vor uns der Hügel von Montjuïc. Der große Palast der Weltausstellung und die Reste der übrigen Pavillons waren zwar erst knapp zwei Wochen zuvor geschlossen worden, aber im Dunst der Dämmerung wirkten sie bereits wie die Ruinen einer großen vergessenen Kultur. Ich steuerte die breite Straße hinauf zum Magischen Brunnen mit seinen Wasser- und Lichtspielen an und beschleunigte, was der Motor hergab. Je höher wir auf der Straße kamen, die sich um den Hügel herum dem Stadion entgegenschlängelte, desto mehr gewann der Inspektor an Terrain, bis ich im Rückspiegel deutlich sein Gesicht erkennen konnte. Einen Augenblick fühlte ich mich versucht, die Straße zum Kastell oben auf dem Hügel zu nehmen, aber eine ausweglosere Sackgasse gab es nicht. Meine einzige Hoffnung bestand darin, auf die andere, dem Meer zugewandte Seite des Hügels zu gelangen und auf einer der Hafenmolen zu verschwinden. Dazu brauchte ich einen gewissen Vorsprung. Grandes befand sich jetzt etwa fünfzehn Meter hinter mir. Vor mir lagen die großen Balustraden von Miramar mit ihrem weiten Ausblick über die Stadt. Ich machte eine Vollbremsung, sodass Grandes mit voller Wucht auf den Hispano-Suiza auffuhr. Der Aufprall schob uns beide in einer Funkengirlande fast zwanzig Meter weiter. Ich nahm den Fuß von der Bremse und fuhr ein kleines Stück vor. Während Grandes die Kontrolle wiederzugewinnen versuchte, legte ich den Rückwärtsgang ein und trat das Gaspedal durch. Als er merkte, was ich vorhatte, war es bereits zu spät. Ich attackierte ihn mit freundlicher Genehmigung des exklusivsten Rennstalls der Stadt, dessen Karosserien und Motoren deutlich robuster waren als bei ihm. Die Wucht der Karambolage schüttelte ihn in seinem Wagen durch, und sein Kopf prallte gegen die Windschutzscheibe, die in einem Splitterregen zerbarst. Weißer Dampf quoll aus der Motorhaube, die Scheinwerfer hatten den Geist aufgegeben. Ich legte den ersten Gang ein und beschleunigte. Grandes blieb zurück, und ich steuerte die Aussichtsplattform von Miramar an. Nach wenigen Sekunden bemerkte ich, dass der Aufprall die hintere Stoßstange an einen der Reifen gequetscht hatte, den sie nun abhobelte. Der Gestank nach verbranntem Gummi drang mir in die Nase. Zwanzig Meter weiter platzte der Reifen, der Wagen begann zu schlingern und blieb in einer schwarzen Rauchwolke stehen. Ich stieg aus und schaute zu Grandes’ Wagen zurück. Eben schälte sich der Inspektor heraus und richtete sich langsam auf. Ich sah mich um. Die Endstation der Drahtseilbahn, die den Hafen vom Montjuïc zum San-Sebastián-Turm überquerte, lag rund fünfzig Meter vor mir. Ich erkannte die Umrisse der an ihren Kabeln hängenden Kabinen, die lautlos durch die scharlachrote Dämmerung glitten, und rannte los.
Einer der Seilbahnangestellten wollte eben den Eingang schließen, als er mich heranspurten sah. Er hielt mir die Tür auf und deutete hinein.
»Letzte Fahrt des Tages«, verkündete er. »Sie sollten sich beeilen.«
Am Schalter war die Jalousie bereits halb heruntergelassen, als ich die letzte Fahrkarte des Tages erwarb und mich eilig einer vierköpfigen Gruppe zugesellte, die vor der Kabine wartete. Ich wurde erst auf ihre Gewandung aufmerksam, als der Seilbahnangestellte das Türchen öffnete und sie hineinkomplimentierte. Priester.
»Die Seilbahn wurde anlässlich der Weltausstellung erbaut und mit der allerneusten Technologie ausgestattet. Ihre Sicherheit ist jederzeit gewährleistet. Sowie die Fahrt beginnt, wird diese nur von außen zu öffnende Tür verriegelt bleiben, um Unfälle oder, da sei Gott vor, Selbstmordversuche zu vereiteln. Natürlich besteht bei Ihnen, Eure Exzellenzen, keine Gefahr, dass…«
»Junger Mann«, unterbrach ich ihn, »könnten Sie das Zeremoniell, da es Nacht wird, etwas beschleunigen?«
Der Seilbahnangestellte bedachte mich mit einem feindseligen Blick. Einer der Priester bemerkte die Blutflecken an meinen Händen und bekreuzigte sich. Der Angestellte nahm seinen gespreizten Sermon wieder auf.
»Sie werden in rund sechzig Meter Höhe über den Hafengewässern durch den Himmel von Barcelona gleiten und sich der spektakulärsten Aussicht der ganzen Stadt erfreuen, wie sie bislang nur Schwalben, Möwen und anderen vom Allerhöchsten mit Federwerk beschenkten Geschöpfen verstattet war. Die Fahrt weist eine Dauer von zehn Minuten auf — mit zweimaligem Halt, dem ersten am mittleren Turm des Hafens oder, wie ich ihn gerne nenne, am Eiffelturm Barcelonas, auch San-Jaime-Turm geheißen, und dem zweiten und letzten am San-Sebastián-Turm. Jetzt wünsche ich Euren Exzellenzen ohne weiteren Verzug eine glückliche Überfahrt und wiederhole den Wunsch der Gesellschaft, Sie bald wieder an Bord der Hafenseilbahn von Barcelona begrüßen zu dürfen.«
Ich stieg als Erster in die Gondel ein. Als die vier Priester an ihm vorbeizogen, streckte der Seilbahnangestellte die Hand aus in der Erwartung eines Trinkgeldes, das er nicht bekam. Sichtlich enttäuscht, knallte er das Türchen zu, drehte sich um und wollte den Starthebel betätigen. Draußen wartete Inspektor Víctor Grandes auf ihn, übel zugerichtet, aber lächelnd, die Erkennungsmarke in der Hand. Der Seilbahnangestellte öffnete ihm das Türchen, und mit einem Kopfnicken für die Priester und einem Augenzwinkern für mich trat er in die Kabine. Sekunden später fuhren wir los.
Die Gondel entschwebte dem Berggrat folgend dem Gebäude. Die Priester hatten sich alle auf einer Seite zusammengeschart, um erstens die Aussicht auf das eindunkelnde Barcelona zu genießen und zweitens nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, welch undurchsichtige Angelegenheit Grandes und mich hier zusammengeführt hatte. Der Inspektor trat langsam auf mich zu und zeigte mir die Waffe in seiner Hand. Große rote Wolken schwebten über dem Hafenwasser. Die Kabine tauchte in eine von ihnen ein, sodass wir uns für einen Augenblick in einem See aus Feuer zu befinden schienen.
»Sind Sie schon mal hier oben gewesen?«, fragte Grandes.
Ich nickte.
»Meiner Tochter gefällt das sehr. Einmal im Monat will sie hin- und zurückfahren. Ein wenig teuer, aber die Sache ist es wert.«
»Mit dem, was Ihnen der alte Vidal dafür zahlt, mich auszuliefern, können Sie mit Ihrer Tochter sicher jeden Tag herkommen, wenn Sie Lust haben. Nur aus Neugier: Was hat er denn für einen Preis auf mich ausgesetzt?«
Grandes lächelte. Die Kabine verließ die scharlachrote Wolke, und wir schwebten über das Hafenbecken, über dessen dunkle Wasser sich die Lichter der Stadt ergossen.
»Fünfzehntausend Peseten.«
Er klopfte auf einen weißen Umschlag, der aus seiner Manteltasche ragte.
»Da sollte ich mich vermutlich geschmeichelt fühlen. Manche töten schon für zwei Duros. Ist im Preis inbegriffen, dass Sie Ihre beiden Männer ans Messer geliefert haben?«
»Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie der Einzige sind, der hier jemanden umgebracht hat.«
Mittlerweile hatten die vier Priester den Zauber des schwindelerregenden Über-die-Stadt-Schwebens vergessen und schauten uns konsterniert an. Grandes warf einen raschen Blick auf sie.
»Wenn es nicht zu viel verlangt ist, wäre ich Euren Exzellenzen sehr dankbar, wenn Sie beim ersten Halt aussteigen und uns unsere weltlichen Angelegenheiten allein austragen lassen würden.«
Vor uns erhob sich der Turm im Hafenbecken wie ein Pfeiler aus Stahl und Kabeln, der einer technischen Kathedrale entstammte. Die Kabine fuhr in die Kuppel ein und kam neben der Plattform zum Stillstand. Als das Türchen aufging, verließen die vier Priester fluchtartig die Gondel. Grandes dirigierte mich mit der Waffe nach hinten. Beim Aussteigen warf mir einer der Priester einen besorgten Blick zu.
»Keine Bange, junger Mann, wir werden die Polizei benachrichtigen«, sagte er, bevor das Türchen wieder geschlossen wurde.
»Das sollten Sie unbedingt tun«, antwortete Grandes.
Die Kabine verließ den Turm und setzte zum letzten Stück der Überfahrt an. Grandes trat ans Fenster und betrachtete die Stadt, ein Blendwerk aus Lichtern und Dünsten, Kathedralen und Palästen, Gässchen und breiten Alleen, das in ein Labyrinth aus Schatten eingebettet war.
»Die Stadt der Verdammten«, sagte er. »Je weiter weg, desto schöner.«
»Ist das meine Grabinschrift?«
»Ich werde Sie nicht umbringen, Martín. Ich bringe die Leute nicht um. Diesen Gefallen werden Sie mir tun. Mir und Ihnen selbst. Sie wissen genau, dass ich recht habe.«
Kurzerhand feuerte er drei Schüsse auf den Schließmechanismus des Türchens ab und stieß dieses mit dem Fuß auf, sodass es in der Luft flatterte und ein feuchter Wind in die Kabine strömte.
»Sie werden nichts spüren, Martín, glauben Sie mir. Der Aufprall dauert keine Zehntelsekunde. Und dann herrscht Ruhe, Frieden.«
Ich blickte zum offenen Türchen. Vor mir lag ein Abgrund von siebzig Metern. Ich schaute in Richtung San-Sebastián-Turm, von dem wir noch einige Minuten entfernt waren. Grandes las meine Gedanken.
»In einigen Minuten wird alles zu Ende sein, Martín. Eigentlich müssten Sie mir dankbar sein.«
»Glauben Sie wirklich, ich hätte all diese Leute umgebracht, Inspektor?«
Er hob den Revolver und zielte auf mein Herz.
»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch schnurzegal.«
»Ich dachte, wir wären Freunde.«
Grandes lächelte und schüttelte den Kopf.
»Sie haben keine Freunde, Martín.«
Zum Krachen des Schusses spürte ich einen Einschlag in der Brust, als wäre mir ein Vorschlaghammer in die Rippen gerammt worden. Ich bekam keine Luft mehr und fiel auf den Rücken, während mich ein Schmerzkrampf durchfuhr. Grandes hatte mich an den Beinen gefasst und schleifte mich zum Türchen. Auf der anderen Seite erschien zwischen Wolkenschleiern der San-Sebastián-Turm. Grandes trat über mich hinweg, kniete hinter mir nieder und schob mich an den Schultern zum Türchen. Ich spürte den feuchten Wind an den Beinen. Der Inspektor gab mir einen weiteren Stoß, sodass meine Hüften aus der Kabine hingen.
Gerade als ich zu fallen begann, streckte ich die Arme aus und grub dem Inspektor die Finger in den Hals. Durch das Gewicht meines Körpers war er in der Öffnung verkeilt. Ich presste mit all meiner Kraft, drückte ihm die Luftröhre zu und quetschte seine Halsschlagadern. Mit der einen Hand versuchte er sich aus meinem Würgegriff zu befreien, während die andere nach der Waffe tastete. Seine Finger fanden den Kolben und glitten auf den Abzug zu. Der Schuss streifte meine Schläfe, traf den Rand des Türchens, prallte ab, sauste in die Kabine zurück und fräste ihm ein sauberes Loch in die Handfläche. Ich vergrub die Nägel in seinem Hals und spürte, wie die Haut nachgab. Grandes ächzte. Ich zog kräftig und hievte mich hinauf, bis wieder mehr als mein halber Körper in der Kabine war. Sowie ich mich an den Metallwänden festklammern konnte, ließ ich Grandes los und warf mich zur Seite.
Ich betastete meine Brust und fand das Einschussloch. Ich knöpfte den Mantel auf und zog Die Schritte des Himmels heraus. Die Kugel war durch den vorderen Deckel eingedrungen, hatte die fast vierhundert Seiten durchbohrt und guckte wie eine silberne Fingerspitze aus dem hinteren Deckel. Neben mir wand sich Grandes am Boden und hielt sich verzweifelt den Hals. Sein Gesicht war dunkelviolett, und die Stirn- und Schläfenadern pulsierten wie Hochspannungskabel. Er warf mir einen flehenden Blick zu. Ein Netz geborstener Gefäße breitete sich in seinen Augen aus, und ich begriff, dass ich ihm mit den Händen die Luftröhre zerquetscht hatte und er hoffnungslos erstickte.
Ich schaute zu, wie er im qualvollen Todeskampf auf dem Boden zuckte. Ich zog den weißen Umschlag aus seiner Tasche, öffnete ihn und zählte fünfzehntausend Peseten — der Preis für mein Leben. Ich steckte ihn ein. Grandes robbte seiner Waffe entgegen. Ich stand auf und schob sie mit dem Fuß aus seiner Reichweite. Mitleid heischend klammerte er sich an meinen Knöchel.
»Wo ist Marlasca?«, fragte ich.
Seiner Kehle entrang sich ein dumpfes Ächzen. Ich sah ihm in die Augen und erkannte, dass er lachte. Die Kabine war schon in den San-Sebastián-Turm eingefahren, als ich ihn zum Türchen hinausstieß. Ich sah seinen Körper fast achtzig Meter tief durch ein Gewirr von Stangen, Kabeln, Zahnrädern und Stahlstreben stürzen, die ihn zerfetzten.
Das Haus mit dem Turm war in Dunkelheit gehüllt. Ich tappte die Steinstufen zum Treppenabsatz hinauf und fand die Tür angelehnt. Ich stieß sie auf und blieb auf der Schwelle stehen, um die Schatten im langen Korridor zu erkunden. Dann tat ich einige Schritte und blieb wieder stehen, reglos, abwartend. An der Wand tastete ich nach dem Schalter, den ich viermal drehte, ohne dass das Licht anging. Vorsichtig brachte ich die drei Meter bis zur ersten Tür rechts hinter mich, die in die Küche führte, und blieb davor stehen. Ich erinnerte mich, in einem der Speiseschränke eine Öllampe zu verwahren, die ich zwischen noch ungeöffneten Kaffeedosen aus dem Hause Gispert auch fand. Ich stellte sie auf den Küchentisch und zündete sie an, sodass sie die Wände in schwaches Bernsteinlicht tauchte. Dann ging ich mit der Lampe wieder auf den Korridor hinaus.
Das flackernde Licht in die Höhe haltend, rückte ich langsam vor und erwartete jeden Augenblick, etwas oder jemanden aus einer der Türen links und rechts auftauchen zu sehen. Ich wusste, dass ich nicht allein war.
Ich konnte es riechen. Ein säuerlicher Gestank nach Wut und Hass lag in der Luft. Am Ende des Korridors hielt ich vor der Tür zum letzten Zimmer inne. Im Schein der Lampe traten die Umrisse des von der Wand abgerückten Schranks hervor, die Kleider waren noch genauso auf dem Boden verstreut, wie ich sie zwei Tage zuvor hinterlassen hatte, als Grandes mich verhaftet hatte. Dann ging ich weiter, bis zum Fuß der Wendeltreppe. Langsam stieg ich ins Arbeitszimmer hinauf, alle zwei, drei Stufen einen Blick zurückwerfend. Durch die Fenster sickerte der rötliche Schein der Dämmerung. Rasch durchquerte ich den Raum bis zur Truhe an der Wand und klappte den Deckel auf. Die Mappe mit dem Manuskript für den Patron war verschwunden.
Als ich auf dem Weg zurück zur Treppe am Schreibtisch vorbeikam, sah ich, dass die Tastatur meiner alten Underwood zertrümmert war, als hätte jemand mit Fäusten auf sie eingeschlagen. Langsam stieg ich die Stufen hinunter. Wieder im Korridor, spähte ich in die Veranda. Selbst im Halbdunkel konnte ich sehen, dass meine sämtlichen Bücher auf dem Boden lagen und das Leder in Fetzen von den Sesseln hing. Ich drehte mich um und starrte in die zwanzig Meter Korridor, die mich von der Eingangstür trennten. Im spärlichen Licht der Öllampe waren nur zur Hälfte Umrisse zu erkennen, jenseits davon wogten die Schatten wie schwarzes Wasser.
Ich erinnerte mich, die Wohnungstür beim Eintreten offen gelassen zu haben. Jetzt war sie zu. Ich ging einige Meter weiter, aber als ich wieder am hintersten Zimmer vorbeikam, ließ mich etwas abrupt stehen bleiben. Beim Eintreten hatte ich es nicht bemerkt, da die Zimmertür nach links aufging und ich nicht aufmerksam genug hingeschaut hatte, aber jetzt sah ich es ganz genau. Eine weiße Taube mit ausgebreiteten Flügeln hing wie ein Kreuz an der Tür. Frische Blutstropfen rannen übers Holz.
Ich trat ins Zimmer. Hinter der Tür war niemand. Der Schrank stand noch immer an der Seitenwand. Die feuchtkühle Luft, die aus dem Loch in der Wand kam, erfüllte den Raum. Ich stellte die Lampe auf den Boden, begann, mit den Fingernägeln im aufgeweichten Mörtel um das Loch herum zu bohren, und spürte, dass er zerbröselte. In der Schublade eines Tischchens in der Ecke fand ich einen alten Brieföffner, mit dem ich im Mörtel stocherte. Der Gips löste sich leicht, die Schicht war höchstens drei Zentimeter dick. Auf der Rückseite stieß ich auf Holz.
Eine Tür.
Mit dem Brieföffner brach ich den Gips an den Rändern heraus, bis sich die Tür allmählich in der Wand abzeichnete. Mittlerweile hatte ich die im Schatten lauernde nahe Anwesenheit vergessen, die die Wohnung vergiftete. Die Tür hatte keine Klinke, nur ein rostiges Schloss, das mit Gips verklebt war. Ich bohrte den Brieföffner hinein und stocherte vergebens. Dann trat ich mit den Füßen auf die Tür ein, bis der Gips, der das Schloss festhielt, allmählich nachgab. Schließlich hatte ich es so weit freigelegt, dass ein einfacher Stoß die Tür aufdrückte.
Ein Schwall fauliger Luft drang heraus und setzte sich in meine Kleider und auf die Haut. Ich hob die Lampe vom Boden auf und ging hinein. Der Raum war ein Rechteck von etwa fünf oder sechs Meter Tiefe. Die Wände waren übersät mit Zeichnungen und Inschriften, die mit den Fingern angebracht schienen. Die Linien waren dunkelbräunlich — trockenes Blut. Der Boden war bedeckt mit etwas, was ich zunächst für Staub hielt, was sich aber im Schein der Lampe als Überreste kleiner Knochen entpuppte. Tierknochen, zerbröckelt in einem Meer aus Asche. Von der Decke hingen an schwarzen Schnüren unzählige Gegenstände, unter denen ich religiöse Figuren, Heiligen- und Muttergottesbilder mit verbranntem Gesicht und ausgestochenen Augen, mit Stacheldraht umwickelte Kruzifixe, Reste von Blechspielzeug und glasäugigen Puppen entdeckte. Die Gestalt befand sich ganz hinten, war fast nicht zu sehen.
Ein auf die Ecke ausgerichteter Stuhl. Darauf eine schwarzgekleidete Person. Ein Mann. Die Hände waren im Rücken mit Handschellen gefesselt. Ein dicker Draht hielt seine Glieder am Stuhl fest. Eine Kälte überkam mich, wie ich sie bisher nicht gekannt hatte.
»Salvador?«, brachte ich heraus.
Langsam ging ich auf ihn zu. Die Gestalt rührte sich nicht. Einen Schritt von ihr entfernt blieb ich stehen und streckte zögernd die Hand nach ihr aus. Meine Finger berührten ihr Haar und legten sich auf ihre Schulter. Als ich den Körper drehen wollte, spürte ich, dass unter meinen Fingern etwas nachgab. Im nächsten Moment vernahm ich ein leises Rascheln, und die Leiche zerfiel zu Asche, die sich über die Kleider und Drahtfesseln ergoss und dann in einer dunklen Wolke aufstieg, um zwischen den Wänden des Gefängnisses hängen zu bleiben, in dem Salvador jahrelang versteckt gewesen war. Ich schaute zu, wie die Asche emporstieg, führte die Hände ans Gesicht und verstrich die Reste von Ricardo Salvadors Seele auf der Haut. Als ich die Augen öffnete, sah ich Diego Marlasca, seinen Kerkermeister, auf der Türschwelle der Zelle warten, in den Händen das Manuskript des Patrons und Feuer in den Augen.
»Ich habe es gelesen, während ich auf Sie gewartet habe, Martín«, sagte er. »Ein Meisterwerk. Der Patron wird es mir zu lohnen wissen, wenn ich es ihm in Ihrem Namen übergebe. Ich gestehe, ich war nie fähig, das Rätsel zu lösen, bin nie weitergekommen. Ich freue mich, festzustellen, dass der Patron einen talentierteren Nachfolger gefunden hat.«
»Gehen Sie mir aus dem Weg.«
»Tut mir leid, Martín. Glauben Sie mir, es tut mir wirklich leid. Ich hatte viel für Sie übrig.«
Er zog etwas aus der Tasche, was wie ein Elfenbeingriff aussah. »Aber ich kann Sie nicht aus diesem Zimmer lassen. Es ist Zeit, dass Sie die Stelle des armen Salvador einnehmen.«
Er drückte auf einen Knopf im Griff, und im Halbdunkel blitzte ein doppelschneidiges Messer auf.
Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf mich. Die Messerklinge schlitzte mir die Wange auf und hätte mir das linke Auge ausgestochen, hätte ich mich nicht zur Seite geworfen. Ich fiel rücklings auf den mit Knöchelchen und Asche bedeckten Boden. Marlasca umklammerte das Messer mit beiden Händen und ließ sich auf mich fallen, das ganze Gewicht auf die Schneide verlagernd. Die Messerspitze zitterte zwei Zentimeter über meiner Brust, während ich ihn mit der Rechten an der Gurgel packte.
Er drehte den Kopf, um mich ins Handgelenk zu beißen, und ich verpasste ihm eine gerade Linke ins Gesicht. Er reagierte kaum. Die Wut, die ihn antrieb, war jenseits von Vernunft und Schmerz, und mir war klar, dass er mich nicht lebend aus dieser Zelle entkommen lassen würde. Er griff mich mit einer unmöglich scheinenden Kraft an. Ich spürte, wie mir die Messerspitze in die Haut drang. Wieder schlug ich mit aller Kraft zu. Meine Faust prallte auf sein Gesicht und brach ihm das Nasenbein. Sein Blut rann mir über die Fingerknöchel. Er jaulte erneut auf, wenn auch nicht vor Schmerz, und bohrte das Messer einen Zentimeter tief in meinen Körper. Ein stechendes Glühen fuhr mir durch die Brust. Wieder attackierte ich ihn, suchte mit den Fingern seine Augenhöhlen, aber er hob das Kinn, sodass ich ihm die Nägel nur in die Wange schlagen konnte. Diesmal fühlte ich seine Zähne auf meinen Fingern.
Ich rammte ihm die Faust in den Mund, spaltete ihm die Lippen und brach ihm mehrere Zähne aus. Er heulte auf, und die Wucht seines Angriffs ließ einen Augenblick nach. Ich stieß ihn zur Seite, sodass er zu Boden fiel, das Gesicht eine vor Schmerz bebende, blutige Fratze. Ich rückte von ihm ab und betete im Stillen, er möge nicht mehr aufstehen. Aber gleich schleppte er sich zum Messer und begann sich aufzurichten.
Mit dem Messer in der Hand und gellendem Geheul stürzte er auf mich zu. Diesmal überrumpelte er mich nicht. Ich angelte nach der Öllampe und warf sie mit aller Kraft auf ihn. Sie zerbarst in seinem Gesicht und überzog Augen, Lippen, Hals und Brust mit Öl. Unverzüglich ging er in Flammen auf, und in wenigen Augenblicken breitete sich das Feuer über seinen ganzen Körper aus. Die Haare waren im Nu verbrannt. Durch die Flammen hindurch, die ihm die Lider verzehrten, sah ich seinen hasserfüllten Blick. Ich ergriff das Manuskript und verließ den Raum. Marlasca hielt immer noch das Messer in der Hand, und als er versuchte, mir aus diesem verfluchten Zimmer hinaus zu folgen, stolperte er kopfüber in den Haufen alter Kleider, die augenblicklich Feuer fingen. Die Flammen sprangen auf den Schrank und die an der Wand aufgestapelten Möbel über. Ich entfloh in den Korridor und sah ihn bereits wieder mit ausgebreiteten Armen hinter mir hertorkeln. Ich rannte zur Tür, aber bevor ich hinauslief, wandte ich mich noch einmal zurück, um zuzusehen, wie Diego Marlasca, während er zornig auf die Wände einschlug, die sofort zu brennen begannen, von den Flammen verzehrt wurde. Das Feuer griff auf die in der Veranda verstreuten Bücher über und erreichte die Gardinen. Züngelnd stiegen die Flammen die Tür- und Fensterrahmen hoch zur Decke und dann zum Arbeitszimmer hinauf. Das Letzte, was ich sah, war, wie dieser verwunschene Mensch am Ende des Korridors in die Knie sank, der schalen Hoffnungen seines Wahns beraubt und nur noch eine Fackel aus Fleisch und Hass, die von dem wütenden Lohen im Haus mit dem Turm verschlungen wurde. Dann öffnete ich die Tür und lief die Treppe hinunter.
Auf der Straße hatten sich einige Anwohner versammelt, sowie sie die ersten Flammen aus den Fenstern des Turms hatten schlagen sehen. Niemand beachtete mich, als ich mich entfernte. Kurz darauf hörte ich die Fensterscheiben des Arbeitszimmers bersten, wandte mich um und sah das tobende Feuer die drachenförmige Wetterfahne erfassen. Zwischen den Nachbarn hindurch, die, den Blick zum Feuerschein am schwarzen Himmel erhoben, heranbrandeten, entschwand ich zum Paseo del Born.
An jenem Abend ging ich zum letzten Mal zur Buchhandlung Sempere und Söhne. An der Tür hing die »Geschlossen«-Tafel, aber beim Näherkommen sah ich, dass noch Licht brannte und Isabella hinter dem Ladentisch stand, allein, in ein dickes Rechnungsbuch vertieft, das, nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, das Ende der alten Buchhandlung verhieß. Wie ich sie so am Bleistift knabbern und sich mit dem Zeigefinger an der Nase kratzen sah, war mir klar, dass es diesen Ort immer geben würde, solange sie da wäre. Ihre Gegenwart würde ihn ebenso retten, wie sie mich gerettet hatte. Ich traute mich nicht, diesen Augenblick zu stören, und blieb stehen und beobachtete sie lächelnd, ohne dass sie mich bemerkte. Auf einmal schaute sie auf, als hätte sie meine Gedanken erraten, und erblickte mich. Ich winkte ihr zu und sah, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie klappte das Buch zu und kam hinter dem Ladentisch hervorgeeilt, um mir aufzumachen. Sie starrte mich an, als sähe sie ein Gespenst.
»Dieser Mann hat doch gesagt, Sie seien abgehauen… Auf Nimmerwiedersehen.«
Vermutlich hatte ihr Grandes einen Besuch abgestattet.
»Sie sollen wissen, dass ich ihm kein Wort geglaubt habe«, fuhr sie fort. »Ich hole gleich…«
»Ich habe nicht viel Zeit, Isabella.«
Niedergeschlagen schaute sie mich an.
»Sie gehen, nicht wahr?«
Ich nickte. Isabella schluckte schwer.
»Ich hab Ihnen ja gesagt, dass ich Abschiede nicht mag.«
»Ich noch weniger. Ich bin auch nicht gekommen, um mich zu verabschieden. Ich bin gekommen, um einige Dinge zurückzubringen, die mir nicht gehören.«
Ich zog Die Schritte des Himmels aus der Tasche und reichte ihr das Buch.
»Das hätte die Vitrine mit Señor Semperes persönlicher Sammlung nie verlassen dürfen.«
Als Isabella die noch im Deckel steckende Kugel erblickte, schaute sie mich wortlos an. Da zog ich den weißen Umschlag mit den fünfzehntausend Peseten hervor, mit denen der alte Vidal meinen Tod zu kaufen versucht hatte, und legte ihn auf den Ladentisch.
»Und das ist für all die Bücher, die mir Sempere im Lauf der Jahre geschenkt hat.«
Isabella machte ihn auf und zählte verdutzt das Geld.
»Ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann…«
»Betrachte es als mein vorzeitiges Hochzeitsgeschenk.«
»Und ich hatte noch immer die Hoffnung, dass Sie mich eines Tages zum Altar führen würden, und sei es nur als Trauzeuge.«
»Nichts hätte ich lieber getan.«
»Aber Sie müssen gehen.«
»Ja.«
»Für immer.«
»Für eine gewisse Zeit.«
»Und wenn ich mitgehe?«
Ich küsste sie auf die Stirn und umarmte sie.
»Wohin ich auch gehe, du wirst immer bei mir sein, Isabella. Immer.«
»Ich habe nicht vor, Sie zu vermissen.«
»Ich weiß.«
»Darf ich Sie wenigstens zum Zug begleiten oder wohin auch immer?«
Ich zögerte zu lange, um mir diese letzten Minuten in ihrer Gesellschaft zu versagen.
»Um sicher zu sein, dass Sie auch wirklich gehen und dass ich Sie für immer los bin«, fügte sie hinzu.
»Abgemacht.«
Gemächlich spazierten wir Arm in Arm die Ramblas hinunter. An der Calle Arc del Teatre angekommen, bogen wir in die dunkle Gasse ein, die sich einen Weg durchs Raval bahnte.
»Isabella, was du heute Abend sehen wirst, darfst du niemandem erzählen.«
»Nicht einmal meinem Sempere junior?«
»Natürlich. Ihm darfst du alles erzählen. Vor ihm haben wir fast keine Geheimnisse.«
Als er die Tür öffnete, lächelte Isaac uns zu und trat beiseite.
»Höchste Zeit, dass mal wieder ein hoher Besuch kommt«, sagte er mit einer Verbeugung vor Isabella. »Ich ahne, dass Sie den Führer spielen wollen, nicht wahr, Martín?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht…«
Isaac schüttelte den Kopf und gab mir die Hand.
»Viel Glück«, sagte er.
Er ließ mich mit Isabella allein und zog sich in die Schatten zurück. Meine ehemalige Assistentin, die frischgebackene Geschäftsführerin von Sempere und Söhne, betrachtete alles ebenso erstaunt wie misstrauisch.
»Was ist das denn für ein Ort?«
Ich nahm sie bei der Hand und führte sie langsam in den großen Saal, in dem sich der Eingang befand.
»Willkommen im Friedhof der Vergessenen Bücher, Isabella.«
Sie schaute zu der hohen Glaskuppel hinauf und verlor sich in dem unmöglichen Anblick. Weiße Lichtstrahlen durchbohrten dieses Babel mit seinen Tunneln, Stegen und Brücken, welche dem Innern der Bücherkathedrale zustrebten.
»Dieser Ort ist ein Rätsel. Ein Heiligtum. Jedes Buch, das du siehst, jeder Band hat eine Seele. Die Seele dessen, der es geschrieben hat, und die Seele derer, die es gelesen und gelebt und von ihm geträumt haben. Immer wenn ein Buch den Besitzer wechselt, immer wenn jemand den Blick über seine Seiten gleiten lässt, wächst sein Geist, und es wird stärker. Die Bücher, an die sich niemand mehr erinnert, die mit der Zeit verloren gingen, leben an diesem Ort für immer weiter und warten darauf, einem neuen Leser, einem neuen Geist in die Hände zu fallen…«
Später ließ ich Isabella am Eingang des Labyrinths zurück und begab mich allein mit dem verfluchten Manuskript, das zu vernichten ich nicht den Mut gehabt hatte, in die Tunnel. Ich vertraute darauf, dass mich meine Schritte an den richtigen Ort führen würden, um es auf ewig zu begraben. Ich bog um tausend Ecken, bis ich mich schon verirrt wähnte. In der Gewissheit, denselben Weg bereits zehnmal gegangen zu sein, fand ich mich unversehens am Eingang zu dem kleinen Raum, wo ich mich in dem Spiegel, in dem der Blick des Mannes in Schwarz stets gegenwärtig war, mir selbst gegenübergesehen hatte. Zwischen zwei schwarzen Lederbänden erspähte ich eine Lücke und stellte, ohne lange zu überlegen, die Mappe des Patrons hinein. Ich wollte schon wieder gehen, da wandte ich mich noch einmal um und trat erneut ans Regal. Ich zog den Band neben meinem Manuskript heraus und schlug ihn auf. Ich brauchte nur zwei Sätze zu lesen, um wieder das düstere Lachen hinter mir zu hören. Ich stellte ihn zurück und nahm aufs Geratewohl einen anderen, den ich rasch durchblätterte. Dann noch einen und einen weiteren, bis ich Dutzende von den Bänden in diesem Raum angeschaut und festgestellt hatte, dass sie in unterschiedlichen Schattierungen alle dieselben Worte enthielten, dass dieselben Bilder sie verdunkelten und dass sich in ihnen dieselbe Fabel wiederholte wie ein Pas de deux in einer unendlichen Spiegelgalerie. Lux Aeterna.
Als ich das Labyrinth verließ, erwartete mich Isabella auf einer Stufe sitzend, das von ihr ausgesuchte Buch in der Hand. Ich setzte mich neben sie, und sie lehnte den Kopf an meine Schulter.
»Danke, dass Sie mich hergebracht haben«, sagte sie.
Da wurde mir klar, dass ich diesen Ort nie Wiedersehen würde, dass ich dazu verdammt war, von ihm zu träumen und die Erinnerung an ihn in mein Gedächtnis zu meißeln und mich glücklich zu schätzen, dass ich durch seine Gänge hatte streifen und seine Geheimnisse berühren dürfen. Einen Augenblick lang schloss ich die Augen, damit sich mir dieses Bild für immer einprägen konnte. Dann nahm ich Isabella bei der Hand, ohne mich noch einmal umzuschauen, und ging mit ihr zum Ausgang. Der Friedhof der Vergessenen Bücher blieb für immer hinter mir zurück.
Isabella begleitete mich auf die Mole, wo das Schiff wartete, das mich weit weg bringen sollte von dieser Stadt und von allem, was ich gekannt hatte.
»Wie hieß gleich noch mal der Kapitän?«
»Charon.«
»Finde ich gar nicht lustig.«
Ich umarmte sie ein letztes Mal und schaute ihr schweigend in die Augen. Unterwegs hatten wir vereinbart, dass es keine Abschiedsszene, keine feierlichen Worte oder Versprechungen geben würde. Als von Santa María del Mar die Mitternachtsschläge herüberdrangen, ging ich an Bord. Kapitän Olmo hieß mich willkommen und erbot sich, mir meine Kajüte zu zeigen. Ich wollte lieber noch warten. Die Besatzung löste die Taue, und langsam entfernte sich der Rumpf von der Mole. Ich stellte mich aufs Achterdeck und sah zu, wie die Stadt in einer Lichterflut zurückblieb. Isabella stand reglos da, ihren Blick auf meinen geheftet, bis sich die Mole in der Dunkelheit verlor und Barcelona als große Fata Morgana ins schwarze Wasser eintauchte. Eines nach dem anderen erloschen die Lichter der Stadt in der Ferne und ich merkte, dass ich bereits begonnen hatte, mich zu erinnern.