IX. Mariettes Tod

»Wir müssen hier raus!« rief Heinrich Brugsch, der nun bemerkte, wie immer neue, höhere Wellen in das Haus fluteten. Mariette zeigte keine Regung, starrte geistesabwesend vor sich hin, als habe er sich damit abgefunden, hier inmitten seiner Welt zu sterben.


»Ich habe Sie kommen lassen, mein lieber Brugsch, weil ich in einer Notlage hm. Das ganze Land ist in einer Notlage!« Ismail Pascha ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, unruhig auf und ab. Der Audienzsaal im goldglitzernden Ab-din-Palast machte freilich weniger den Eindruck allseitiger Bedürftigkeit, im Gegenteil, die protzige Einrichtung und der Aufwand an Dienern und anderem Personal hatte sogar zugenommen. Ein Zeremonienmeister mit dem wohlklingenden Namen Tonino Salomone inszenierte die Auftritte des prunksüchtigen Khediven bis ins kleinste Detail, der Professor durfte in einem der samtroten Sessel Platz nehmen. »Ich wüßte nicht, wie ich Majestät von Nutzen sein könnte«, bedauerte Heinrich Brugsch. Aber der ließ ihn gar nicht ausreden und kam sogleich zur Sache: »Die Kunstschätze, welche Sie und Mariette seit zwanzig Jahren ausgegraben haben, stellen doch einen beachtlichen Wert dar. Wie man hört, leben ganze Dörfer meines Landes vom Schwarzhandel.«

»Das ist leider wahr«, bestätigte Brugsch. Der Pascha fuhr fort: »Warum, bei Allah, verkaufe ich die Kunstschätze nicht selbst? Sie gehören doch mir, mir und niemand anderem!« »Sie gehören dem ganzen Land!« unterbrach der Professor. »Und sie sind für Ägypten von höchster Bedeutung. Sie können diese Schätze nicht einfach verkaufen!« »Aber ich brauche Geld, Professor, viel Geld. Ich nehme eine Anleihe nach der anderen auf. Goschen, Oppenheim und Bischofsheim geben sich bei mir die Klinke in die Hand. Sie bewundern meine uralten Goldschätze - wertlos, alles wertlos, solange ich sie nicht verkaufen kann.« »Mariette würde es nicht überleben«, sagte Brugsch, »er ist schwerkrank, all das ist sein Lebenswerk!« Der Khedive blieb unnachgiebig: »Deswegen habe ich Sie ja rufen lassen. Sie sind sein Freund, Sie haben den größten Einfluß auf ihn. Sie müssen es ihm beibringen!« Der Auftrag traf Brugsch wie ein Schlag ins Gesicht. Das war das Ende ihrer Forschungsarbeit! Aber der Professor brachte keinen Ton hervor, er wurde vom Vizekönig bezahlt, wollte er seine Stellung nicht riskieren, so mußte er gehorchen.

Ismail Pascha, der die Betroffenheit des Preußen sah, fragte: »Welchen Nutzen hat diese Altertumswissenschaft überhaupt? Gut, ich verstehe, daß die ägyptische Geschichte, die Götterlehre und sonstige Dinge diesem und jenem besonderes Vergnügen bereiten, aber für die Praxis ist diese Wissenschaft doch nutzlos und tot. Ja«, fügte er hinzu, »wenn man dadurch erfahren könnte, an welchen Stellen sich vergrabene Schätze befinden oder woher die alten Ägypter das viele Gold geholt haben, das wäre etwas anderes! Ich habe euch Europäern bisher viel zuviel Glauben geschenkt. Wenn einer kam und sagte, eine Eisenbahn ist gut für dein Land, dann ließ ich ihn Geleise bauen, sagte einer, du mußt die Geschichte deines Landes kennen, dann ließ ich ihn die Erde aufwühlen. Hier« - er deutete auf einen Bund Spargel, der neben ihm auf einem Tischchen lag -, »dieser Spargel zeigt mir, daß ich zu meinen Ägyptern oft ungerecht war und immer nur Europäisches gelten ließ.«

Auf Brugschs fragenden Blick erzählte der Khedive, er habe dem französischen Hofgärtner seinen Unmut ausgedrückt, weil er trotz hoher Ausgaben für die vizeköniglichen Plantagen Ende Februar noch nicht einmal Spargel ernten könne, während er im rauhen Europa längst zu haben sei. Der Hofgärtner habe daraufhin geantwortet, auch er könne im Februar mit frischem Spargel aufwarten, wenn er nur ein Glashaus hätte. Also habe er für 80000 Francs ein Glashaus gebaut. Erregt sprang der Pascha auf: »Aber dieser Spargel stammt nicht aus dem Glashaus, ein arabischer Gärtnergehilfe brachte ihn mir. Ich fragte ihn, wie er diesen ausgezeichneten Spargel um diese Zeit gezüchtet habe, und er erklärte, er habe die Beete bei Kälte mit Palmzweigen abgedeckt und bei Sonnenschein der Wärme preisgegeben. Sehen Sie, Professor, so habe ich es immer gemacht, und das war falsch.«

Heinrich Brugsch hörte das Beispiel des Vizekönigs nur mit halbem Ohr. Er hatte erkannt, daß er Ismail Pascha nur mit List von seinem Vorhaben abbringen konnte, die Altertümer zu verkaufen. »Und wenn ich Euch mit Hilfe der Altertumswissenschaft den Weg zu den Goldminen der alten Ägypter weisen könnte?« fragte er unvermittelt. Der Pascha sah den Gast verblüfft an. Er wußte nicht so recht, ob es dem Professor ernst war. »Es gibt kein Gold in Ägypten«, sagte er abweisend.

»Die alten Papyri behaupten das Gegenteil!« antwortete Brugsch. »Gesetzt den Fall, Ihr würdet auf Goldlager stoßen, würdet Ihr dann die Kunstschätze unangetastet lassen?« Der Khedive blieb zunächst noch ungläubig. Schließlich streckte er dem Professor aber doch die Hand entgegen: »Mein Wort darauf, Brugsch. Übergeben Sie General Stone eine kurze Denkschrift, die alle Daten enthält. Stone wird eine Expedition ausrüsten.«

Brigadegeneral Charles P. Stone genoß das Vertrauen des Khediven. Er war Amerikaner, stammte aus Connecticut, hatte eine Ausbildung der Militärakademie West Point im Staate New York erhalten und im Bürgerkrieg eine zwielichtige Rolle gespielt. Für die Zwecke des Vizekönigs, den Aufbau einer schlagkräftigen ägyptischen Armee, war Stone genau der richtige Mann. Seine Ausbildung als Ingenieur und Topograph schien ihn für das Goldsucherunternehmen zusätzlich zu prädestinieren.

Bei seinen nächtelangen Studien, die er über Papyrusrollen und Inschriften verbrachte, hatte Heinrich Brugsch wiederholt Hinweise auf ein Goldtal entdeckt. Natürlich wurde dabei kein Ortsname genannt, aber Wegstrecken, Entfernungen und Ortsbeschreibungen siedelten das Goldtal irgendwo zwischen Nil und dem Roten Meer an. Brugsch überprüfte in fieberhafter Arbeit noch einmal alle auf das Goldtal bezugnehmenden Textstellen - schließlich ging es um einen hohen Einsatz. Um den kranken Mariette nicht zu beunruhigen, erzählte er ihm nichts von seinem Gespräch mit dem Vizekönig.

Tags darauf überreichte der Professor dem General eine Liste mit der Übersetzung aller altägyptischen Hinweise auf das Gebiet. Er selbst, so schrieb Brugsch, halte es für unwahrscheinlich, daß das Goldtal zwischen Kena und der pto-lemäischen Hafenstadt Koser liege. Dort gebe es zwar eine Reihe Wüstentäler, in denen die alten Ägypter unter anderem auch Granit abgebaut hatten, aber wohl kaum Gold. Er vermutete die Goldminen weit eher im Wadi Hammamat. »Sie müssen allerdings Bergleute mitnehmen!« sagte Brugsch zu dem General. »Ich meine Fachleute, die auch Bodenuntersuchungen machen können; denn Sie dürfen nicht erwarten, daß irgendwo in der Wüste die Tore von Goldbergwerken offenstehen.«

Charles P. Stone, groß, drahtig, entschlossen, reagierte beleidigt: »Wenn es Goldvorkommen in dieser Gegend gibt, dann werde ich sie finden, verlassen Sie sich darauf, Mister Brugsch. Das einzige Problem, mit dem wir zu kämpfen ha-ben werden, ist das Trinkwasser. Zwischen Kena und dem Roten Meer gibt es nicht einen Brunnen. Ich benötige eine eigene Kamelkarawane mit Wasser.« »Na, dann viel Glück, General!« sagte Brugsch. Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, da wurde ihm bewußt, daß er es eigentlich war, der dieses Glück dringend nötig hatte. Er war nicht der erste, der den Hinweisen auf die Goldminen der Pharaonen nachging. Vierzig Jahre vor ihm hatte der Minister für öffentliche Aufgaben Linant de Bellefonds, damals noch Ingenieur und Kartenzeichner in Diensten Mohammed Alis, die Wüste zum Roten Meer durchkämmt, hatte Karten und Skizzen angefertigt, war aber ohne die erhoffte Goldausbeute zurückgekehrt. Jetzt verfolgte der alte Mann das Unternehmen mit besonderem Interesse. In dieser Nacht konnte Brugsch keinen Schlaf finden. Hatte er wirklich alle Hinweise ausgewertet? Durfte er überhaupt Stones Expedition allein ziehen lassen?

Mariette saß verkrampft in einem Lehnstuhl, als sein Freund Heinrich Brugsch eintrat. Es bereitete ihm sichtlich Mühe, den Arm zur Begrüßung zu heben. »Es geht mir schon wie -der gut«, sagte der Franzose, aber Brugsch sah sofort, daß dies nicht stimmte. Sein Gesicht war gerötet, die Augen eingefallen, er wirkte müde. »Was sagen die Ärzte?« fragte der Preuße. »Was sollen sie schon sagen?« spottete Mariette. »Die Zuckerkrankheit ist ein schleichendes Gift, das einen langsam ausdörrt. Ich schütte Unmengen Tee in mich hinein und habe ständig Durst, die Waden schmerzen teuflisch, jede Bewegung ist eine Anstrengung, und manchmal sehe ich alles wie durch einen Schleier.«

Brugsch faßte die Hand des Freundes. »Keine Bange, Auguste, das wird schon wieder. Du mußt dich nur schonen.« Mariette versuchte zu lachen. »Das einzig Gute an dieser verfluchten Krankheit ist, daß mein Bauch abnimmt.«

Brugsch gab sich Mühe, das Lachen des Freundes zu erwidern; doch dieses Lachen war nicht mehr der lautstarke Ausbruch von Vitalität, der so ansteckend wirken konnte, es war ein mühsames, erzwungenes Lachen, das betroffen machte. Um Mariettes Lehnstuhl herum lagen Stöße von Papier verstreut, Aufzeichnungen und Berichte von den verschiedenen Ausgrabungen. »Ein guter Mann, dein Bruder Emil«, begann er unvermittelt. »Er reist von einer Ausgrabung zur anderen, um mir Bericht zu erstatten. Ich bin sehr zufrieden mit ihm, er hat die Leute fest im Griff.« Heinrich nickte, er hob einzelne Blätter hoch und las, wo überall gegraben wurde: Memphis, Beni Suef, Abydos, Mit-raline, Tuna, Esna, Edfu, Medinet Habu, Der el-Bahari, Tal der Könige. Das Tal! Wehmütig strich er über das Blatt Papier. Damals, vor zwanzig Jahren, als er abwechselnd in einem Felsengrab und im Tempel von Karnak wohnte, damals war er sich noch seiner Sache sicher, er würde eines Tages die ganz große Entdeckung machen, das unversehrte Grab eines Pharaos finden; aber das Glück war nicht auf seiner Seite gewesen. Ein Schreibstubengelehrter war er geworden, Professor zwar mit gesichertem Einkommen, doch seine Illusionen waren verflossen.

Mariette, der seinen Freund beobachtete, fragte: »Glaubst du eigentlich noch immer, daß im Tal der Könige noch weitere Gräber verborgen sind?« Heinrich sah Auguste lang an; dann nickte er stumm. »Ehrlich gesagt«, meinte Mariette, »ich lasse nur deshalb weiterforschen, weil du so fest davon überzeugt bist, dort auch noch andere Pharaonen zu finden. Ich selbst glaube längst nicht mehr daran. Hier« - er zog ein Blatt nach dem anderen von dem Stoß vor ihm - »alles Fehlanzeige, jede Woche ein Mißerfolg, nichts, nichts, gar nichts.« »Du solltest«, begann Brugsch umständlich, »vielleicht deine Arbeiten etwas einschränken. Ich meine, es geht dir nicht besonders gut, du kannst nicht mehr alle Grabungen kontrollieren, außerdem verschlingen die Arbeiten Unsummen Geldes, und der Vizekönig könnte eines Tages der Altertümerverwaltung überdrüssig werden.« Da aber wurde der Franzose wütend, lautstark und mit heftigen Armbewegungen, wie in seinen besten Tagen, schrie er: Was er glaube, ob er denn eine Mumie vor sich habe? Er fühle sich immer noch kräftig genug, um es mit jedem aufzunehmen - sogar mit dem Khediven. »Soll er doch seinen Lebensaufwand reduzieren, der alte Ismail, weniger Feste, weniger Frauen, weniger Paläste! Das hier« - und dabei trommelte er mit der Faust auf seine Papiere - »das ist unser aller Vergangenheit, wir haben ein Recht darauf, und dafür kämpfe ich, bis ich umfalle, Henri, verstehst du?« Brugsch versuchte den tobenden Freund zu beruhigen, betonte, daß seine Arbeit anerkannt sei und von niemandem in Zweifel gezogen werden könne. Er erkannte jedoch, daß vorläufig nicht daran zu denken war, Mariette in die Pläne des Vizekönigs einzuweihen. Wenn General Stone doch erfolgreich wäre!

Brugschs Bruder Emil kam zur Türe herein. »Ich habe Gutes über dich gehört«, sagte Heinrich. Emil, beinahe verlegen, antwortete, leider bringe er heute schlechte Nachricht. Ali, der Vorarbeiter der Grabungen in Sakkara, habe es abgelehnt, die Arbeiten fortzusetzen, sie seien kaum noch erfolgversprechend. Mariettes gerötetes Gesicht färbte sich noch einen Ton dunkler, er erhob sich mühsam aus seinem Stuhl, stemmte den linken Arm in die Hüfte und fuchtelte mit der Rechten wild in der Luft herum: »Der Kerl soll mich kennenlernen. Ich werde ihn lehren, wer hier Entscheidungen trifft. Emil, mein Pferd!«

Gemeinsam redeten die beiden Brüder auf Mariette ein, er solle auf seine Gesundheit achten und sich zurückhalten. Heinrich Brugsch erbot sich, selbst nach Sakkara zu fahren und den Vorarbeiter zur Raison zu bringen; aber alle Beschwichtigungsversuche waren zwecklos. Mariette, der so-eben noch bemitleidenswert in seinem Lehnstuhl gesessen hatte, schwang sich auf sein Pferd und preschte, gefolgt von dem jungen Brugsch, davon.

Der Khedive Ismail nahm indes eine Anleihe nach der anderen auf. Längst baute er keine neuen pompösen Paläste mehr, ihm ging es nur darum, die Zinsen seiner Schuldenlast begleichen zu können. Zwei Milliarden Mark betrugen inzwischen die Schulden des Khediven, sie waren mit ein Grund dafür, daß der türkische Sultan Ägypten 1873 in weitgehende Selbständigkeit entließ, zumindest im finanziellen Bereich. Daraus entwickelte sich ein ägyptischer Nationalismus, der von Frankreich und England aufmerksam beobachtet wurde. Hatte der britische Premierminister Palmerston anfangs noch alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das Kanalprojekt zu torpedieren, so fand Großbritanniens Außenminister, der Earl of Clarendon, nach der Eröffnung der neuen Wasserstraße jetzt nur noch Komplimente für das Jahrtausendwerk.

Trotz seiner Intelligenz und Bildung war Ismail Pascha naiv. Er bemerkte nicht die Unterwanderung seiner Armee durch englische Militärs. Auch die Machenschaften seines Finanzministers Ismail Saddyk blieben ihm lange Zeit verborgen, und als er sie entdeckte, hatte ihn dieser bereits um ein Vermögen gebracht, sich einen pompösen Palast erschwindelt und Steuergelder auf ein geheimes Bankkonto in London transferiert. Ismail Saddyk hielt in den Moscheen Kairos Hetzreden gegen den Khediven, warf ihm vor, Ägypten an die Europäer verkauft zu haben, und wirtschaftete gleichzeitig weiter in die eigene Tasche. Der Zorn Ismail Paschas traf ihn zu spät: Er ließ ihn verhaften, fesseln und zu Schiff nach Edfu in Oberägypten transportieren. Dort lud man ihn auf ein Kamel und erklärte ihm, er würde nach Dongola in die Verbannung geschickt. Der abgesetzte Finanzminister, ein Alkoholiker, verweigerte daraufhin jede Nahrungsaufnahme und wünschte nur noch Cognac zu trinken. »Reicht mir eine Flasche«, rief er, »bevor ich verdurste!« Die Bitte wurde gewährt. Er nahm die Flasche Cognac, trank sie in einem Zug aus und fiel tot von seinem Kamel.

Ismail Pascha riß sogar den Marmorboden seines Palastes heraus, um an die veruntreuten Steuergelder heranzukommen - vergebens. Auch sein Londoner Bankkonto wurde nie entdeckt, und der Vizekönig von Ägypten war wieder um eine Hoffnung ärmer.

Gläubiger und Bankiers in Europa wurden unruhig, weil Ismail seinen Zinsverpflichtungen nicht mehr nachkommen konnte. Das war die große Stunde des britischen Premierministers Benjamin Disraeli. Der konservative Regierungschef schickte am 17. November 1875 seinem Konsul in Kairo ein Telegramm folgenden Inhalts: Die britische Regierung erklärt sich bereit, die Suezkanal-Aktien des Vizekönigs für einen angemessenen Preis zu übernehmen und erwartet eine entsprechende Forderung. Sechs Tage später traf in London die Antwort des ägyptischen Vizekönigs ein: Vier Millionen britische Pfund. Das Angebot sollte 48 Stunden Gültigkeit haben.

Premier Disraeli hatte wohl selbst nicht so recht an den Erfolg dieses diplomatischen Coups gedacht, er befand sich in einer Zwickmühle. Das Parlament war bereits in den Ferien, woher sollte er innerhalb kürzester Zeit diese Riesensumme nehmen?

In ganz England gab es überhaupt nur einen Mann, der -glaubhaft - einen Scheck in dieser Höhe ohne mehrfache Gegenzeichnung unterschreiben konnte: Lionel Rothschild, der Leiter des gleichnamigen Londoner Bankhauses, ein Freund Disraelis. Der Premierminister schickte aus Gründen der Diskretion seinen Privatsekretär in die Villa des Bankiers. Rothschild saß beim Mittagessen, als ihm der dringende Besuch angekündigt wurde, er erhob sich, begrüßte den Sekretär des Premiers und fragte, noch ehe dieser sein Problem vorbringen konnte: »Wieviel?« Verblüfft antwortete der Sekretär: »Vier Millionen Pfund.«

»Und welche Sicherheit?« »Die britische Regierung.«

Lionel Rothschild zückte sein Scheckbuch und sagte mit einem Lächeln: »Da haben Sie das Geld.«

Im Haus des Mustafa Aga Ayat in Luxor herrschte ausgelassene Stimmung. Der britische Konsul gab eine Phantasia zu Ehren von Charles Gordon. Er war gerade zusammen mit seinen beiden amerikanischen Begleitern Major Campbell und Colonel Chaille-Long von einer Sudan-Expedition zurückgekehrt. Zu dem Fest hatte der Aga alle Europäer eingeladen, die sich gerade in der Gegend aufhielten. Die Männer saßen um einen Teppich herum auf dem Boden, tranken warmen Rakischnaps, sogen an ihren Wasserpfeifen und lachten Tränen über die Verrenkungen einer kleinen, nackten Frau. Die Pygmäin war äußerst wohlgenährt, aber nur knapp einen Meter groß und beinahe ebenso breit. Wann immer der Klang einer Flöte erscholl, verbog sie ihre pummeligen Glieder zu unbeschreiblichen Verrenkungen, rollte wild mit den Augen und brachte ihre schwabbelnden Brüste zum Rotieren. Colonel Chaille-Long hatte das seltene Wesen im Sudan gekauft, nicht ohne sie zu fragen, ob sie mit ihm kommen wolle. »Ja«, hatte sie gemeint, »wenn du mich nicht aufißt!«

Der Amerikaner klatschte in die Hände und feuerte die Tänzerin an: »Tanz, Ticki-Ticki, tanz!«

Die Umsitzenden fielen in den Klatschrhythmus ein:

»Tanz, Ticki-Ticki, tanz!«, und die Pygmäenfrau verrenkte sich und trampelte bis zur Erschöpfung.

»Ich habe ihr einen Sack gekauft zum Anziehen«, lachte der Colonel gluckernd, »aber was soll ich machen, sie zieht ihn nicht an, lieber geht sie nackt und trägt ihr Kleid unter dem Arm. Ich kann doch nicht mit einer nackten Frau durch Kairo gehen.«

Die Gäste grölten vor Vergnügen, schlugen sich auf die abgewinkelten Schenkel und spülten die Hitze des Abends mit gelbgrünem, klebrigem Fruchtsaft hinunter. Die eigenwilligste Erscheinung unter den Gästen des Mustafa Aga Ayat war eine bildhübsche Dame. Sie war Engländerin, hieß Amelia Edwards und galt als Enfant terrible unter den Forschungsreisenden der damaligen Zeit. Die Tochter eines britischen Offiziers, der noch unter Wellington gedient haue, war Journalistin, was zu dieser Zeit ungewöhnlich genug war. Noch ungewöhnlicher freilich erschien, daß sie sich m Männerkleider zwängte und mutterseelenallein riskante Reisen unternahm, die sie in Büchern und Zeitschriftenartikeln ausführlich beschrieb.

Von Ägypten war die schöne Amelia so fasziniert, daß sie sich fürs erste einmal dort niederließ, Hieroglyphen und ägyptische Geschichte büffelte und sich schließlich die Erforschung des Nillandes zum Ziel setzte. »Wir hatten schon einmal eine Europäerin hier in Luxor«, meinte Mustafa, »sie wohnte im Maison de France auf den Tempelsäulen und war beliebter als alle Reisenden vor ihr. Sie hieß Lady Duff-Gordon, war mit unserem Charles Gordon aber nicht verwandt. Eines Tages war sie verschwunden. Später hörte ich, sie sei auf einem Schiff in Kairo gestorben, sie war schwer lungenkrank. Eine schöne Frau, diese Lady Gordon . ..«

Man lächelte betroffen; dann geleitete der Aga seine Gäste in einen Vorraum, der zur - wohl mehr symbolischen - Reinigung der Gäste diente. Zwei Diener, barfuß, mit einem Turban auf dem Kopf, gössen den Geladenen aus einer Kupferkanne parfümiertes Wasser über die Hände und boten bunte Handtücher an, die gleichzeitig als Servietten dienen sollten. Im eigentlichen Speiseraum stand nichts weiter als ein bunt und grell beleuchteter runder Tisch mit zierlichen Stühlchen. Amelia hielt vergeblich nach Geschirr und Eßbesteck Ausschau, dafür standen für jeden Gast zwei Gläser bereit.

»Heute abend«, sagte Mustafa, »sind wir alle Araber. Wir trinken Nilwasser und essen mit den Fingern.« Der erste Gang des Essens bestand aus einer weißen Suppe, die in einer riesigen Schüssel in die Mitte des Tisches gestellt wurde. Jeder bekam dazu einen großen Holzlöffel. Mit den weiteren Speisen, Reisgerichten, Fisch und Fleisch, verhielt es sich nicht viel anders. Die Diener setzten große Platten in die Mitte des Tisches, den Gästen blieb nichts anderes übrig, als mit ihren Fingern hineinzugreifen und sich handvollgroße Portionen herauszugreifen. Ein Kanten Brot, der jedem einzelnen zugeteilt wurde, diente als eine Art Servierbrett oder Teller, auf dem jeder seine Portion ablegte, um sie von hier dem Mund zuzuführen. Das war schon schwierig genug. Als die Diener jedoch einen knusprig braungebratenen Truthahn hereintrugen und ihn wortlos in die Mitte des Tisches stellten, da blickten Amelia und die anderen Gäste doch ein wenig hilflos drein. Der Aga sah es, krempelte den rechten Ärmel hoch, packte den großen Vogel, zerriß ihn mit gekonnten Griffen in kleine Teile und reichte diese seinen Gästen. Nach dem Dessert - es wurden Götterspeise, Milchreis, Reispudding und eingelegte Aprikosen angeboten - bat Mustafa seine Gäste in ein Nebengemach, wo wohlproportionierte Negerinnen die Anwesenden mit ihrem Tanz unterhielten. Sie zogen zu den Klängen von Geigen, Darrabouka und Tambourin alle Register ihres Könnens. Dazu wurden Wasserpfeifen gereicht und schwarzer süßer Kaffee. Amelia hatte in einer Ecknische Platz genommen, der Aga nahm dies zum Anlaß, die Engländerin darauf hinzuweisen, daß auf jenem Diwan schon der Prince of Wales gesessen habe. An diesem Abend war die Gesellschaft nicht ganz so erlaucht. Links und rechts von Amelia Edwards thronten der Direktor des Telegrafenamtes von Luxor, der Provinzgouverneur, der preußische Konsul mit seinem Sohn und ein paar in kostbare Seidenroben gekleidete Kaufleute. In einer Ecke hatten sich der Amerikaner Edwin Smith und der Deutsche Georg Ebers niedergelassen. Sie waren Nachbarn; denn beide wohnten auf der anderen Seite des Nils in einem wohnlich eingerichteten Felsengrab hoch über Schech abd el-Kurna. Sie sprachen leise, aber man konnte hören, daß es um Geld ging und um eine Papyrusrolle. Der Mann, der die Wasserpfeife reichte, war Mohammed Abd er-Rassul. Er musterte jeden einzelnen Gast und überlegte dabei, wer von den Anwesenden sich wohl für Pharaonenschmuck interessierte und bereit wäre, die wohl teuerste Schmuckkollektion der Welt zu erwerben? Die beiden Männer in der Ecke schieden aus. Smith handelte selbst mit Ausgrabungsobjekten und zahlte nur Spottpreise für die Funde. Der Deutsche schien Archäologe zu sein - dieser Mann war sogar gefährlich! Die Einheimischen kamen ohnehin nicht infrage, weil sie das Geld nicht aufbringen konnten. Die Kaufleute kannte er nicht, er wußte nicht, an wen er geriet. Und die schöne Engländerin? Sie war sicher die Sachkundigste, kaufte im ganzen Land Funde zusammen, grub selbst, forschte, machte Aufzeichnungen. Mohammed überlegte. Diese Frau würde sich nie mit dem Besitz der heißen Ware zufriedengeben. Sie würde Nachforschungen anstellen, die Altertümerverwaltung einschalten, vielleicht sogar die Polizei, ein Risiko. Mohammed gab auf.

»Tut mir leid, Mister Ebers«, sagte der Amerikaner, »für 5000 Dollar kann ich Ihnen die Schriftrolle nicht verkaufen - 10000, und keinen Cent weniger!«

»10000 Dollar!« entrüstete sich der Deutsche. »Das ist ein Vermögen!«

»Ja«, antwortete Smith, »aber welch ein Papier. Jedes Mu-seum der Welt wird Sie darum beneiden. Im übrigen habe ich nicht viel weniger gezahlt, als ich das Stück vor 15 Jahren erworben habe.« Als der Amerikaner das ungläubige Lächeln seines Gegenübers bemerkte, fügte er hinzu: »Nun ja, nicht ganz soviel, schließlich haben sich die Zeiten geändert. Als ich hierherkam, konnte man noch mit einem britischen Pfund einen Monat auskommen, aber heute? - Ich würde den Papyrus auch nie im Leben verkaufen, wenn ich nicht in finanziellen Schwierigkeiten steckte.« »8000 Dollar!« sagte Ebers. »Mein letztes Wort.« Smith tat so, als müßte er heftig mit sich kämpfen, er schlug die Hände vors Gesicht und blies den Atem gegen die Handflächen. Dann sagte er mit einem tiefen Seufzer: »Also gut, Sie sollen ihn haben, Mister Ebers.« Sowohl Smith als auch Ebers wußten natürlich um die Bedeutung der 20 Meter langen, dreieinhalb Jahrtausende alten Papyrusrolle mit hieratischen Schriftzeichen. Obwohl kein studierter Archäologe, hatte sich der Amerikaner in jahrelangen, mühsamen Studien altägyptische Schriftkenntnisse angelernt.

Der vollbärtige Georg Ebers hingegen war ein Mann vom Fach, ein Spätberufener zwar, der sich zunächst der Juristerei verschrieben, aber dann den Weg zur Ägyptologie gefunden und bei Lepsius in Berlin studiert hatte. »Der tolle Ebers«, nannte man ihn, obwohl er eigentlich, gehbehindert und von kränklicher Verfassung, nicht gerade den Eindruck eines Mannes machte, der Bäume auszureißen in der Lage war. Aber, so sagte er, Nachgeborene - so bezeichnete er sich, weil er zwei Wochen nach dem Tod seines Vaters zur Welt gekommen war -, Nachgeborene sind Glückskinder. Begeistert von der Kultur Ägyptens hatte er als junger Mann ein paar Bücher geschrieben, mühselige Romane im Geschmack der Zeit, die ihm von den Verlegern aus der Hand gerissen und gewinnbringend in 16 Sprachen übersetzt wurden - ungewöhnlich für einen Ägyptologen. Jetzt, mit vier-zig, war er Professor für Ägyptologie an der Universität Leipzig. Und dies war seine erste Ägyptenreise. »Ich wünsche Ihnen viel Glück, Professor!« sagte Smith, und er meinte es gewiß ehrlich. Denn auch er hatte sich bereits an der Übersetzung der 108 Absätze von jeweils 20 Zeilen versucht, mehr oder weniger vergeblich freilich. Diese Übersetzung, das wußte der Amerikaner, war ein Lebenswerk, und dafür war er zu alt.

Ebers hingegen hatte bei der Begutachtung der Schriftrolle den einleitenden Satz entschlüsselt: »Hier beginnt das Buch über die Herstellung von Medizin für alle Teile des menschlichen Körpers . . .« Ein medizinisches Lehrbuch der alten Ägypter also. Er versprach sich viel von dem äußerst mühsam zu entschlüsselnden Inhalt, doch daß dieser 20 Meter lange Papyrus ihn später einmal weltberühmt machen sollte, das ahnte nicht einmal er.

Während die beiden Männer das Geschäft mit einem Händedruck besiegelten, meinte der Amerikaner: »Ich hoffe, es kränkt Sie nicht, wenn ich Ihnen sage, daß ich noch einen zweiten medizinischen Papyrus in meinem Besitz habe.« Ebers stutzte. »Er ist«, beteuerte Smith, »zwar nur viereinhalb Meter lang, aber, soweit ich ihn bisher entziffert habe, ein chirurgisches Lehrbuch aus frühester Zeit.« Natürlich war Georg Ebers nicht gerade begeistert, aber sollte er sich ärgern? Seine Rolle war der bedeutendste medizinische Papyrus, den es gab, und er sollte fortan seinen Namen tragen: der Papyrus Ebers. Musik, Tanz und Unterhaltung der fröhlichen Gesellschaft wurden jäh gestört durch militärische Kommandos, die von draußen in das Haus drangen. Ticki-Ticki versteckte sich ängstlich, soweit das bei ihrer Leibesfülle möglich war, hinter ihrem Colonel, die anderen starrten erwartungsvoll auf den Eingang, in dem die hünenhafte Figur eines ArmeeOffiziers erschien. Er legte die Hand an die Mütze und grüßte militärisch knapp: »Entschuldigen Sie, meine Herrschaften, ich bin General Stone, man sagte mir, ich würde hier den Mudir von Kena finden!« Der Provinzgouverneur erhob sich vom Teppich: »General !«

Der General salutierte abermals, nahm seine Mütze ab und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Erst jetzt fiel auf, welch erschöpften Eindruck er machte. »Wir sind die ganze Nacht marschiert«, sagte er an den Mudir gewandt, »wir kommen aus dem Wadi Hammamat. Meine Männer brauchen Verpflegung, vor allem etwas zu trinken und ein Nachtquartier!«

»Ich werde mich sofort darum kümmern!« sagte der Mu-dir. Amelia Edwards reichte dem General ein Glas, das er dankend annahm und gierig hinunterstürzte. »Wie viele Männer haben Sie mitgebracht?« erkundigte sich der Gouverneur. »Dreißig!« antwortete Stone. »Die andere Hälfte haben wir mit allen Vorräten zur Bewachung im Wadi zu-rückgelassen. Wir müssen morgen eine Expedition mit Nachschub losschicken .. .«

»Bewachung?« fragte Amelia Edwards verwundert. »Was in aller Welt wollen Sie im Wüstental von Hammamat bewachen?«

Über Stones Gesicht huschte ein triumphierendes Lächeln; dann antwortete er: »Die Goldminen. Wir haben die Goldminen der alten Ägypter gefunden. Ein Professor aus Deutschland hat ihre Lage aus den alten Schriften herausgelesen.« Er griff in die Tasche und fingerte einen Stein hervor: »Hier, sehen Sie!«

Den handtellergroßen, schwarzen Stein durchzog, deutlich erkennbar, eine helle Goldader. Sie versetzte die Anwesenden in andächtiges Staunen. Ebers schüttelte immer wieder den Kopf und murmelte: »Ein Tausendsassa, dieser Brugsch, ein Tausendsassa!«

Der General wurde mit Fragen bestürmt, aber der Aga gab zu bedenken, man könne die armen Soldaten nicht draußen stehen lassen. Er gab dem Diener Befehl, sie hereinzuholen, Raki und Reis reichten auch für sie noch. Es habe überhaupt keine Schwierigkeiten bereitet, drei verschiedene Bergwerke zu entdecken, berichtete Stone, die Beschreibungen des Professors seien äußerst präzise gewesen. Allerdings seien die artesischen Brunnen, die er auf dem Weg in das Wadi erwähnt habe, zwar vorhanden gewesen, aber wohl schon vor Jahrhunderten verschüttet worden. Seine Männer hätten einen aufgegraben und seien in einigen Metern Tiefe tatsächlich auf feuchten Sand gestoßen. Georg Ebers kannte als einziger den Hintergrund, vor dem diese Expedition stattgefunden hatte. Er wußte um das Risiko, das ein Scheitern des Unternehmens bedeutet hätte, und die Freude stand ihm ins Gesicht geschrieben: Die ägyptische Altertumswissenschaft war fürs erste gerettet. Während Stones Soldaten, ausgemergelt von sieben Tagen Hitze und Trockenheit, den Speisen und Getränken des Aga Ayat zusprachen, spielten erneut die Musikanten, und die Mädchen tanzten. General Stone bat den Leiter des Telegrafenamtes, sofort folgende Depesche an den Khediven aufzunehmen: »General Stone beehrt sich, Seiner königlichen Hoheit Mitteilung zu machen, daß die Goldbergwerke im Wadi Hammamat gefunden sind.«

Ebers kritzelte etwas in sein Notizbuch, er riß ein Blatt heraus und reichte es dem Telegrafenbeamten: »Wenn Sie dieses Telegramm ebenfalls aufnehmen könnten, es ist für Professor Brugsch bestimmt.« Auf dem Zettel standen zwei Zeilen: »Goldbergwerke gefunden - Ägyptologie gerettet.«

Als der Nil über die Ufer trat, tanzten die Menschen auf den Straßen. Das taten sie jedes Jahr; denn die im Juni einsetzende Nilflut, Folge der Regenfälle im Äthiopischen Hochland, war für die Bewässerung ihrer Felder von größter Bedeutung, und schon die alten Ägypter setzten nach der Höhe des Wasserstandes die Steuern fest. Doch der Sommer des Jahres 1878 übertraf alle Erwartungen. Schmutzigbraune Wassermassen wälzten sich unaufhaltsam ansteigend nach Norden, spülten Dämme und Wehre weg, überfluteten Felder und Siedlungen und drangen tief in das Landesinnere auf Gebiete vor, die seit Menschengedenken nicht von der Nilflut erreicht worden waren. Das Tanzen der Menschen verebbte zu stummem Gebet. Wollte der Nil das Land mit sich fortreißen ?

Die Behörden in Kairo hatten alle Flutwarnungen aus Oberägypten ignoriert, der Beamtenapparat des Khediven war durch die Zuspitzung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse ohnehin blockiert. Seit Monaten wurden keine Gehälter mehr bezahlt, das Chaos trieb seinem Höhepunkt entgegen, wer kümmerte sich in dieser Situation um die Ankündigung einer Nilflut. Tagelang leckten die braunen Wasser an den Uferböschungen in der Stadt, als die ersten Wogen über die Prome-naden schwappten, wurden die Brücken gesperrt - eine reine Vorsichtsmaßnahme, wie es hieß. Der Höchstpegel sei überschritten, man warte stündlich auf das Fallen des Wasserstandes, es bestehe kein Grund zur Besorgnis. Doch dann, in der folgenden Nacht, gegen elf Uhr, wälzte sich eine neue, noch höhere Flutwelle auf Kairo zu. Die Stadt schlief. Auguste Mariette saß im Arbeitszimmer seines Hauses an der Nillände und studierte die laufenden Grabungsberichte. Es ging ihm nicht besonders gut; er hatte mit zunehmenden Lähmungserscheinungen in den Beinen zu kämpfen, aber, so meinte er, wer auf die Sechzig zugehe, dürfe sich über derlei Beschwerden nicht beklagen.

Um Mariette herum herrschte eine beispiellose Unordnung. Kisten und Kästchen mit Scherben und Kleinfunden türmten sich auf Stapeln von Büchern, Stößen von Papier, Karten, Aufzeichnungen und Rechnungen. Obwohl der Franzose von einer Wirtschafterin, einem Hausdiener und einem Kutscher bedient wurde, ließ er nicht zu, daß in die -sem Raum auch nur ein Blatt verrückt oder ein Staubkorn beseitigt wurde. Dies war sein Reich, seine Welt; hier arbeitete er meist im Kerzenschein bis lange nach Mitternacht, notierte Entdeckungen und Funde, verfaßte neue Anweisungen und erledigte den gesamten verwaltungstechnischen Aufwand, den die Altertümerverwaltung mit sich brachte. Immer bedrohlicher wurde das Rauschen der Nilflut, immer näher kam das Schlagen der Wellen, immer heftiger hörte man das Gurgeln und Zischen. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Mariette war so in seine Berichte vertieft, daß er das schmale Rinnsal, das sich über die Türschwelle einen Weg in das Innere suchte, zwar wahrnahm, aber nicht mit wachem Verstand registrierte. Erst, als das Wasser einen Stoß Grabungsaufzeichnungen erreichte und von dem trockenen Papier in Sekunden aufgesogen wurde, schrak Mariette aus seinen Gedanken hoch: die Nilflut!

Mariette sprang auf, fiel zurück in seinen Sessel, zog sich mit den Armen hoch, versuchte auf die Beine zu kommen, zu stehen - vergebens. Seine Beine gehorchten nicht, sie widersetzten sich den Befehlen seines Gehirns. Auguste! sagte er zu sich, du mußt aufstehen. Er stützte sich auf den Armlehnen ab, versuchte es noch einmal und blieb dann auf halbem Weg stecken.

Was ist mit meinen Beinen los? Warum gehorchen sie mir nicht? Warum nicht? dachte er fieberhaft. Er zog sich mit den Armen über den Schreibtisch, schob die Kerze vor sich her und blickte, hilflos auf dem Bauch liegend, im Zimmer umher.

Von allen Seiten drückte jetzt das Wasser in den Raum, es quoll sprudelnd unter der Türe hindurch, modernder Geruch machte sich breit. Karten und Blätter, die gestapelt auf dem Boden herumlagen, wölbten sich, wenn sie das Wasser benetzte, bäumten sich auf, als wollten sie sich gegen die Fluten wehren.

Der hilflose Forscher klammerte sich an den Rand seiner Schreibtischplatte. Sein Licht begann bedrohlich zu flackern. »Hilfe!« schrie Mariette, »Hilfe!« Dabei wußte er ganz genau, daß ihn niemand hören konnte. Den Diener hatte er nach Hause geschickt, die beiden anderen Bediensteten lebten ohnehin außerhalb des Hauses. Wenn Mariette über den Rand des Schreibtisches starrte, sah er, wie das Wasser ganz langsam, aber stetig an dem Möbelstück hochstieg, und er überlegte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis es ihn erreicht habe. Da begann der große Mann zu weinen. Es waren Tränen der Verzweiflung, die Mariette aus den Augen flössen.

Inzwischen stand das Wasser schon knietief, Papierstapel stürzten ein, Blätter schwammen wie Schiffchen umher, Kisten wurden überflutet. Wollte dieser gottverdammte Nilstrom sein Lebenswerk vernichten? Die Aufzeichnungen von 28 Jahren wissenschaftlicher Arbeit?

Mit einem lauten Knall sprang die Türe auf. Mariette drehte sich um, glaubte, daß Hilfe nahte; doch nur eine große Woge schwappte zur Tür herein, klatschte gegen den Schreibtisch, und ein paar stinkende Spritzer durchnäßten ihn bis auf die Haut. Jetzt begann Mariette um sein Leben zu fürchten. Soll ich denn hier auf meinem Schreibtisch ersaufen? schoß es durch sein Gehirn. Er stützte sich auf, kam auf dem Tisch zu sitzen, seine Beine baumelten im Wasser. Das große Regal an der Wand, in dem Tausende von Aufzeichnungen archiviert lagen, begann im Rhythmus der Wellen zu schwanken, neigte sich bedrohlich nach vorn, knarzte. Was in Sakkara, Abydos, in Beni Suef, Mendes und Bubastis ausgegraben und gefunden worden war, hier lag es aufgezeichnet und wartete auf Auswertung. Das alles durfte nicht vernichtet werden! Mariette fixierte das tanzende Gestell mit den Augen, als wollte er es hypnotisieren: Bleib stehen, hörst du! Die Beschwörungen blieben ungehört. Ein Ächzen, Knacken, ein Bersten - Akten, Bücher, Papier und Kästen stürzten in sich zusammen, klatschten schäumend in das schwankende Wasser, das jetzt die Schreibtischplatte erreicht hatte.

Da hörte er eine Stimme. Sie klang suchend, flehend: »Mariette! Mariette!« - Es war Brugsch. Seine Stimme hallte gespensterhaft durch das Museum. »Mariette! Mariette!« Brugsch watete durch das Museum, brachte, manchmal bis zum Bauch im Wasser stehend, kleinere Objekte, die vom Wasser vernichtet zu werden drohten, in Sicherheit, und konnte um alles in der Welt nicht verstehen, wo Mariette geblieben war.

»Henri!« schrie der Hilflose auf seinem Schreibtisch. »Hier bin ich«, er lauschte in das Rauschen der Nilflut. »Henri!« Aber es kam keine Antwort. Heinrich Brugsch versuchte mit höchster Anstrengung zu retten, was noch zu retten war. Plötzlich hielt er inne. Ihm war es, als riefe jemand seinen Namen. Kein Zweifel, das war Auguste! Brugsch kämpfte sich zur Türe durch, lauschte. Das Rufen kam aus Mariettes Wohnhaus. Auf einmal war ihm klar: Mariette brachte seine wissenschaftlichen Aufzeichnungen in Sicherheit, natürlich, wie konnte er das vergessen! Sein Lebenswerk!

Ein Blick durch die Türe ließ Brugsch erschauern. Mariette lag auf dem Schreibtisch und schlug halb wahnsinnig mit den Händen in das schmutzigbraune Wasser. Er registrierte Brugschs Anwesenheit zwar, aber er reagierte nicht darauf.

»Auguste!« rief Brugsch voll Angst. »Was ist mit dir?« - Er arbeitete sich zu dem Hilflosen vor, packte ihn bei der Schulter. »Was ist mit dir, Auguste?«

Tränen rannen über das Gesicht des kranken Mannes, das in diesem Augenblick das Gesicht eines Greises zu sein schien. »Auguste!« Eine hilflose Geste verriet Brugsch, was geschehen war. Mariette sagte kein Wort, er deutete nur auf seine steifen Beine und sah um sich, wo all das, was er in einem halben Leben wie ein Besessener zusammengetragen hatte, der Vernichtung anheimfiel. »Wir müssen hier raus!« rief Heinrich Brugsch, der nun bemerkte, wie immer höhere Wellen in das Haus fluteten. Mariette zeigte keine Regung, starrte geistesabwesend vor sich hin, als habe er sich damit abgefunden, hier inmitten seiner Welt zu sterben.

Da packte der schmächtige Preuße seinen Freund an beiden Händen, zog ihn wie einen schweren Sack auf den Rük-ken und trug und schleifte ihn durch das brodelnde, kreisende, gurgelnde Wasser. Er kannte Schwellen und Stufen des Hauses, tastete sich vorsichtig vor, die schwere Last drohte ihm jeden Augenblick zu entgleiten. Mit kurzem Blick nahm Brugsch wahr, daß die Rettungsarbeiten, die er im Museum geleistet hatte, sinnlos gewesen waren, der Wasserspiegel hatte längst alles überflutet. Auf halbem Weg kam dem Preußen sein Bruder Emil ent-gegen. Im Wasser stehend hakten sie den willenlosen Ma-riette an den Armen unter und brachten ihn so hinter dem Museumsgarten in Sicherheit. »Ist er verletzt?« fragte Emil. Heinrich schüttelte den Kopf: »Ich glaube, seine Beine sind wieder gelähmt. Versuche deine Beine zu bewegen!« rief er und kam ganz nahe an das Gesicht Mariettes heran. Aber der Angesprochene gab keine Regung von sich, er atmete schwer, sagte aber nichts. »Es muß ein Schock für ihn sein!« sagte Heinrich Brugsch. »Sein Lebenswerk in der Nilflut versinken zu sehen. Solche Lähmungserscheinungen können durch so etwas ausgelöst werden.«

»Aber sein Ruhm ist nicht im Wasser versunken«, meinte Emil.

»Ruhm!« sagte Heinrich verächtlich. »Er hat das alles nicht um des Ruhmes willen getan, er tat es um der Sache willen, verstehst du. Und für die Altertumswissenschaft waren die Aufzeichnungen wichtiger als sein Ruhm.« Emil nickte. Sie trugen Mariette zu Brugschs Haus, wickelten ihn in Wolldecken und flößten ihm Rakischnaps ein. Auf einmal richtete Mariette sich auf, mußte husten und murmelte dann bitter. »Ich danke Euch, aber Ihr hättet mich lieber mit all meinem Zeug ersaufen lassen sollen.«

Die wiederentdeckten Goldbergwerke brachten in der Tat beachtenswerte Mengen des kostbaren Metalls ans Tageslicht, doch angesichts des Staatsbankrotts waren diese Erlöse nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Von der Pariser Rothschild-Bank war dem Khediven eine letzte Anleihe von neun Millionen ägyptischer Pfund auf den Privatbesitz des Paschas gewährt worden. Nicht einmal die Aufnahme eines Briten und eines Franzosen ins Kabinett - ihre Länder teilten sich die Schuldenlast - konnte das Ruder noch herumreißen. Es schien nur noch eine Frage von Tagen, bis Ismail und seine Regierung aufgaben.

Am 26. Juli 1879 trafen in Kairo zwei ungewöhnliche Telegramme ein. Absender war der türkische Sultan in Konstantinopel. Allein die Adressen genügten, um dem Vasallen die neue Situation unmißverständlich klarzumachen. Das eine Telegramm war gerichtet »An den Ex-Khediven Ismail Pascha«, das andere trug die Anschrift »An Seine königliche Hoheit, den Khediven von Ägypten Taufik Pascha«. Der 26jährige Prinz Taufik war ein Sohn Ismail Paschas. Vater und Sohn hatten Tränen in den Augen, als sie sich im Abdin-Palast in die Arme fielen. »Sei gegrüßt, mein König!« sagte der Vater. »Möge dir mehr Erfolg beschieden sein als deinem Vater!«

Vier Tage später bestieg der abgesetzte Vizekönig in Alexandria seine Yacht »Mahroussa«. Der Kapitän hatte Order, nicht innerhalb des Ottomanischen Reiches an Land zu gehen. Deshalb nahm die »Mahroussa« Kurs auf Neapel, wo König Umberto den Gast aus Ägypten willkommen hieß und ihm den Palast »La Favorita« zur Verfügung stellte. Umbertos Vater Victor Emanuele II. hatte sich einst beim Vizekönig eine größere Summe Geld geborgt, aber nie zurückgezahlt; jetzt konnte Umberto sich revanchieren. Das Wort »Ägypten« war fortan aus dem Wortschatz des Ex-Khediven gestrichen und es durfte in seinem Palast auch nicht gebraucht werden.

Mit der Absetzung des Vizekönigs waren die Probleme des Landes freilich nicht gelöst. Taufik, der älteste von sieben Söhnen Ismails, war jedoch eine leichter zu führende Marionette in den Händen der Großmächte. Seit 1876 wurden wichtige Entscheidungen von den beiden ausländischen Ministern im Kabinett getroffen: Der Engländer Sir Rivers Wilson leitete das Finanzressort, der Franzose M. de Blignie -res war für öffentliche Ausgaben zuständig. Blignieres ließ eines Tages Mariette ins Ministerium rufen: »Mein lieber Mariette«, begann er ohne Umschweife, »Sie wissen um den desolaten Zustand der ägyptischen Staatsfi-nanzen, und deshalb sehen wir uns zu unserem größten Bedauern gezwungen, die Sparmaßnahmen auch auf das Gebiet der Altertumswissenschaft auszudehnen. Ihre Ausgrabungen und Ihre Behörde haben Hunderttausende verschlungen und damit zum Staatsbankrott beigetragen.« »Soll das heißen«, unterbrach ihn Mariette, »daß Sie die Verwaltung der Altertümer aufzulösen gedenken?« Der Minister hob verlegen die Schultern: »Nicht direkt -nur Grabungen können Sie keine mehr vornehmen. Wir können uns derart sinnlose Ausgaben einfach nicht mehr leisten.«

»Sinnlose Ausgaben«, wiederholte Auguste Mariette, »sinnlose Ausgaben, ich verstehe.« Noch vor ein paar Jahren hätte Mariette zu toben begonnen, den Minister mit üblen Flüchen beschimpft und vielleicht irgendeinen Ausweg aus der Misere gefunden; aber Mariette wirkte kraftlos, beinahe hilflos.

»Es steht Ihnen natürlich frei, Ihren privaten Forschungen nachzugehen«, meinte der Minister entschuldigend. »Wir werden Ihnen, in Anerkennung Ihrer Verdienste, auch eine kleine Unterstützung aussetzen, aber für große Grabungsprojekte dürfen Sie nicht mehr mit uns rechnen.« Eine kleine Unterstützung. Nichts konnte einen Mann wie Mariette härter treffen, mehr demütigen als diese Worte. Grußlos hatte er sich umgedreht und war gegangen. Zur gleichen Zeit hatte Heinrich Brugsch eine Audienz bei Finanzminister Rivers Wilson. Der Brite teilte ihm in arrogantem Ton mit, daß die deutsche Hochschule ab sofort aufgelöst sei, er selbst, Brugsch, sei dem Finanzministerium als Beamter zugeordnet. Darauf entgegnete der preußische Professor, er möge vielleicht ein passabler Altertumswissenschaftler sein, denn damit habe er sich ein Leben lang beschäftigt, aber zum Finanzbeamten habe er einfach nicht das Zeug.

»Was sind Sie eigentlich?« fragte Wilson mürrisch.

»Ein getreuer Untertan Seiner Majestät des Kaisers von Deutschland.«

»Nein, ich meine, was Sie gelernt haben, wozu Sie tauglich sind im Dienste der Regierung?«

»Ich bin Gelehrter und in meiner Heimat Universitätsprofessor.«

»Können wir hier nicht gebrauchen«, kam die Antwort Wilsons, »Leute mit Ihren Kenntnissen gibt es zu Hunderten in England.«

Brugsch spürte einen Stich im Herzen. Er ging nach Hause und reichte seinen Abschied ein.

Durch das Tal der Könige hallten die Schläge von Steinhämmern und Äxten. Wie Spinnen seilten sie sich von den Felsklippen in die brüchigen Gesteinswände ab, bearbeiteten je -den Felsvorsprung, klopften jede Spalte ab und inspizierten jedes Loch. Eine französische Expedition, ausgerüstet mit bestem technischem Material, unterstützt mit reichlichen Geldern, untersuchte jeden Winkel des Tales, um diesem faszinierenden Ort das letzte Geheimnis zu entreißen. Wo aber lag dieses Geheimnis? Wo waren die übrigen Pharaonen begraben?

Leiter der Expedition war Gaston Maspero, jener Mas-pero, der vor dreizehn Jahren Mariette auf der Pariser Weltausstellung um eine Hieroglypheninschrift angebettelt hatte. Er hatte sie tatsächlich in einer einzigen Nacht übersetzt und damit die besten Empfehlungen des Direktors der Altertümerverwaltung erhalten. Sieben Jahre später war der junge Gelehrte bereits Professor für Philologie und Archäologie am College de France, und es schien keine Frage, daß der glatzköpfige Maspero mit dem breiten Gesicht und der viel zu kleinen Brille einmal Nachfolger Mariettes werden würde.

Wie Heinrich Brugsch war auch Maspero überzeugt, daß im Tal der Könige noch weitere Pharaonengräber existier-ten, nur wo, das wußte er nicht. Es gab keinen geeigneten Hinweis, nur vage Vermutungen und dann eben jene kostbaren Grabbeigaben, die seit einer Reihe von Jahren auf dem internationalen Antiquitätenmarkt auftauchten, Schmuckstücke und Gebrauchsgegenstände von Königen der 18. bis 20, Dynastie. Irgendwoher mußten sie doch kommen! Nach wochenlangen, vergeblichen Sondierungsarbeiten änderte Maspero sein Vorhaben, er gab die Suche nach neuen Entdeckungen auf und beschäftigte sich mit dem Vorhandenen. Der junge Professor skizzierte mit seinen Assistenten alle Darstellungen und Inschriften in den Königsgräbern, damit sie einem größeren Kreis von Forschern zugänglich gemacht werden konnten. Ihm war bewußt geworden, dem Geheimnis, das das Tal umgab, war nicht mit Hacken und Brechstangen beizukommen, dieses Geheimnis konnte nur jahrelange Forschungsarbeit am Schreibtisch lösen -oder der Zufall.

»Kommen Sie schnell, Mariette hat einen Blutsturz erlitten!« Mariettes Diener stand aufgeregt m der Türe. Heinrich und Emil Brugsch sprangen auf und eilten zu seinem Haus an der Nillände, das noch immer deutliche Spuren des Hochwassers trug.

»Ihr habt wohl gedacht, es ist schon soweit?« Mariette empfing die beiden im Bett sitzend mit ironischen Worten, wie es seine Art war. Aber sein Gesicht wirkte eingefallen, die Stimme klang matt, anders als sonst sprach er langsam, beinahe zögernd.

Mariette war nicht allein. Zwei Scheichs aus der Gegend von Sakkara, die Heinrich Brugsch noch von den ersten Grabungen im Serapis-Tempel her kannte, saßen an seinem Krankenbett. »Sie graben für mich in Sakkara«, sagte Mariette, »sie tun es freiwillig und ohne Entlohnung. Sie haben den Zugang von drei kleinen Pyramiden gefunden und eine Menge hieroglyphischer Inschriften.«

Heinrich Brugsch sah die Scheichs fragend an: »Inhalt?« »Ausgeraubt, Effendi!« beteuerten die Araber. »Könntet Ihr beide Euch die Entdeckung einmal näher ansehen?« Mariettes Stimme klang bittend, beinahe flehentlich, und keiner der beiden Männer wagte es, dem Freund diese Bitte abzuschlagen.

Die Brugsch-Brüder nahmen am nächsten Morgen die Eisenbahn nach Bedreschein, bestiegen zwei Esel und gelangten nach zwei Stunden zu dem Pyramidenfeld im Westen des Dorfes Sakkara. Sie wurden erwartet. Zusammen mit den Wüstenscheichs zwängten sie sich in den tiefliegenden Eingang der westlichen Pyramide, sorgfältig auf die über ihnen hängenden Steinblöcke achtend, die jeden Augenblick bei der leisesten Berührung herabstürzen und sie mit ihrem tonnenschweren Gewicht zermalmen konnten. Der finstere Gang, den sie stellenweise auf allen vieren kriechend zurücklegten, endete nach ein paar Ecken in einer Grabkammer, die von oben bis unten mit Hieroglyphen beschriftet war.

Heinrich deutete auf einen Königsring: »Das ist Phiops«, sagte er leise, als könnte er die Grabesruhe des Pharao stören, »ein König der sechsten Dynastie, am Ende des Alten Reiches.«

»Ein wichtiger Pharao?« erkundigte sich Emil. Sein Bruder zeigte auf die Inschriften: »Wenn wir sie entschlüsselt haben, werden wir mehr wissen.« An einer Seite der Kammer stand ein rotgesprenkelter Granitsarkophag, der beschriftete Deckel war zurückgeschoben, und daneben, auf dem Boden, lag eine Mumie. »Das ist Phiops!« sagte Heinrich Brugsch ergriffen. Die beiden knieten nieder und blickten in das Gesicht eines im Jünglingsalter gestorbenen Königs. Grabräuber hatten die Mumienbinden von seinem Leib gerissen, alle Schmuckstücke und Amulette geraubt, aber sonst war die Mumie unbeschädigt.

»Ich hätte gewünscht, daß Mariette diesen Augenblick miterleben kann«, sagte Heinrich Brugsch traurig. »Warum nehmen wir die Mumie nicht einfach mit?« meinte Emil. »Wir bringen sie ihm ans Krankenbett.« Heinrich zögerte. »Warum nicht«, sagte er schließlich, »er wird sich sicher freuen.«

Die Brüder holten einen schlichten, halb zerfallenen Holzsarg, der bei Grabungen an anderer Stelle entdeckt worden war, legten die Mumie des Königs Phiops hinein und schoben den kostbaren Fund durch das Gängelabyrinth ins Freie. Dann schwang sich Emil auf seinen Esel und legte den Königssarg quer über die Schenkel.

Das sperrige Gepäck müsse in den Gepäckwagen, meinte der Bahnhofsvorsteher und ließ sich auch nicht umstimmen, als die Brugsch-Brüder ankündigten, sie wollten Billetts erster Klasse kaufen. Um den drohenden Menschenauflauf auf dem Wüstenbahnhof zu vermeiden, nahmen die beiden dritter Klasse samt Reisegepäck und bestiegen, weil sie sich von Pharao Phiops nicht trennen wollten, selbst ebenfalls den Gepäckwagen.

Die Eisenbahn holperte in der flirrenden Hitze des Nachmittags in Richtung Kairo, doch eine halbe Stunde vor der Endstation kreischten die Bremsen, Räder polterten über die Schwellen, ein eisernes Krachen und Klirren: die Lokomotive war aus den Geleisen gesprungen - keine Besonderheit auf dieser Strecke.

Aufgeregt rannten Kondukteure, Heizer und Zugführer hin und her und vermittelten den Eindruck, daß in den nächsten 24 Stunden an ein Weiterkommen nicht zu denken war. Deshalb packten die Brugsch-Brüder ihren Holzsarg und machten sich, der eine vorne, der andere hinten, auf den Weg nach Kairo. Die Sonne stand schräg, und der Bahndamm reflektierte die Glut wie der Rost eines Backofens. König Phiops wurde von Minute zu Minute schwerer, das heißt, der Pharao wog gar nicht soviel, der hölzerne Sarg machte den größeren Teil des Gewichtes aus. Die Männer setzten die schwere, unhandliche Last ab, wischten sich den Schweiß von der Stirn und faßten den Entschluß, die Mumie aus dem Sarg zu nehmen und ohne den schweren Kasten nach Kairo zu transportieren. Heinrich faßte den Pharao am Kopfende, Emil an den Beinen - so trotteten sie schlapp vor sich hin. »Heinrich!« rief der hinter seinem Bruder herlaufende Emil noch. »Heinrich, bleib stehen!« Aber zu spät: Die Mumie des Königs brach in der Mitte auseinander und verbreitete eine weiße Staubwolke über dem Bahndamm. Da standen sie nun, jeder einen halben Pharao in den Händen, starrten sich erschrocken an, wußten nicht, ob die Situation zum Lachen oder zum Heulen war. Nur sehen durfte sie niemand! Deshalb nahm jeder seinen halben Pharao, und mit beschleunigtem Gang strebten sie der Bahnstation am Stadtrand von Kairo zu. Dort bestiegen sie eine Droschke zur Stadt.

Der Mautbeamte an der eisernen Brücke Kasr en-Nil erkundigte sich mit mißtrauischem Blick auf die Mumienhälften, was die Reisenden zu verzollen hätten. »Gar nichts«, sagte Heinrich, »mafisch!« »Und das da?« erkundigte sich der Zöllner. »Pökelfleisch«, sagte Heinrich Brugsch und drückte ihm ein Geldstück in die Hand.

Der Beamte legte die Hand an die Mütze: »Jallah«, ab! Mariettes Zustand hatte sich rapide verschlechtert. Er sprach mit leiser, heiserer Stimme, als die Brugsch-Brüder von ihrer erfolgreichen Entdeckung in Sakkara berichteten. »Also gibt es doch beschriftete Königspyramiden«, sagte Mariette schwach. »Henri, ich glaube, es gibt noch viel zu entdecken!«

Der Freund nickte und begann umständlich zu erklären, daß sie eine Überraschung bereithielten, sie hätten nämlich nicht nur das Grab des Pharao Phiops gefunden, sondern auch seine Mumie.

Mit aller Kraft, die er noch aufbringen konnte, richtete Mariette sich auf und sah die beiden fragend an. »Wir wollten die Mumie nicht unbewacht zurücklassen«, sagte Heinrich entschuldigend, »wir haben sie mitgebracht. Willst du sie sehen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, gingen die beiden hinaus und kamen stolz, ein jeder mit einer Pharao-Hälfte zurück, Mariette riß die Augen weit auf, rang nach Luft und sank bewußtlos in seine Kissen zurück. Zwei Tage später war Auguste Mariette tot. Man schrieb den 17. Januar 1880.

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