Auguste Mariette versuchte an 37 verschiedenen Orten gleichzeitig dem Boden abzuringen, was seit Jahrtausenden verschüttet war. 2700 Arbeitskräfte schaufelten zwischen Nildelta und dem ersten Katarakt im Dienste der Geschichtsforschung.
Das Gerücht verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Ein Schotte hat in Luxor den größten Schatz entdeckt, der je auf ägyptischem Boden gefunden wurde. Von weit her aus der Provinz pilgerten die Fellachen zu dem schwerbewachten Grabeingang bei el-Kurna, um einen Blick auf den unermeßlichen Reichtum zu werfen. Konsul Aga Ayat spuckte Gift und Galle, daß der Fund seinen eigenen Leuten entgangen war und ein junger lungenkranker Schotte ihm das größte Geschäft seines Lebens vor der Nase weggeschnappt hatte. Und weil Alexander Rhind niemandem außer ein paar Vertrauten den Zugang zu dem Labyrinth gestattete, wucherten die Spekulationen über den Wert der gefundenen Gegenstände noch mehr. Man hätte meinen können, Rhind wäre auf eine riesige Goldader gestoßen.
Die Wahrheit war etwas komplizierter: Von vorneherein Stand fest, daß es sich bei diesem Grab um kein Pharaonen-grab handeln konnte. Das war selbst einem Amateur wie Rhind klar. Die Wände trugen keinerlei Schmuck oder Aufzeichnungen, woraus geschlossen werden konnte, daß dem ursprünglichen Grabherren wohl kaum historische Bedeutung zukam. Die Lage fernab vom Tal der Könige vor el-
Kurna deutete vielmehr auf einen königlichen Bediensteten oder einen Edelmann hin, von deren Grabstätten man in in der Umgebung bereits mehrere entdeckt hatte. Schon bei der sorgfältigen Untersuchung des ersten Mumienraumes wurde deutlich, daß die hier abgestellten Sarkophage zwar nicht aufgebrochen worden waren, daß das Grab und sein Inhalt aber nicht aus ein und derselben Zeit stammten, daß man das Grab also irgendwann einmal entdeckt und als Versteck für weitere Särge gewählt hatte. Gewölbe Nr. 1 enthielt einen schweren, unvollendeten Mumiensarg in der üblichen Form eines umwickelten Körpers mit blauen Hie -roglyphen auf weißem Grund. Auf den Knien der weiblichen Mumie lagen die kleinen Körper zweier Babys, nur mit einfachen Bandagen umwickelt. Die Bemalung des Sarkophages wies typische Merkmale der spätägyptischen Zeit, und zwar der römischen Epoche auf.
Neben diesem Mumiensarg fanden Rhind und Wenham zwei Kisten. Eine enthielt eine schmucklose, unbezeichnete Mumie. In der größeren lagen die präparierten Leichen eines Mannes und eines jungen Mädchens. Das Mädchen trug Schmuck: Halskette, Armreifen und Ohrringe aus Eisen. Zwei Mumien in einem Sarg, das war höchst ungewöhnlich und ließ den Schluß zu, daß der ursprüngliche Leichnam entfernt wurde, bevor die beiden hier ihre letzte Ruhestätte fanden.
Gewölbe Nr. 2 lag hinter einer verschlossenen Holztür, Sie verbarg einen großen, aber uninteressanten Sarkophag mit einer kurzen demotischen Inschrift. Drei ähnliche Sarkophage enthielt das dritte Gewölbe, darunter den einer Frau, Eine aufregende Entdeckung machten die beiden Ausgräber in Gewölbe Nr. 4. Ein massiver Sarkophag aus dunklem Assuan-Granit, roh bebauen und unpoliert, rief ihre höchste Bewunderung für die Leistung der Grabarbeiter hervor, die den Koloß mit Rollen, Hebelstangen und einer Art Flaschenzug hierher befördert haben mußten. Der Deckel war ver-schlossen. Mit Stemmeisen und Hebelstangen wuchteten die Ausgräber die steinerne Platte beiseite. Die Zeit der hier Bestatteten war so weit weg, so unbekannt, so unwirklich, exotisch, daß pietätvolle Bedenken überhaupt nicht aufkamen. Abenteuer- und Entdeckerlust eines neuen Zeitalters, das überall erkennbar wurde, eine zweite Aufklärung mit neuen Maßstäben, stand hinter dem monumentalen Projekt der Wiedergeburt des Alten Ägypten. Und dafür schien alles erlaubt - jedenfalls den Europäern. Die moslemischen Ägypter kannten vor diesen Mumien allerdings ebensowenig Ehrfurcht; für sie waren es die Leichname von Gottlosen. Unter der schweren Granitplatte verbarg sich die mit Pech übergossene Mumie eines Mannes, unkenntlich konserviert für die Ewigkeit. In Höhe des linken Armes lag jedoch eine gänzlich unversehrte Schriftrolle. Dieser Fund veranlaßte die Ausgräber, auch in den anderen Sarkophagen nach Papyrusrollen zu suchen. Und siehe da - im dritten Gewölbe fand sich ein weiterer Papyrus, er lag ebenfalls in Höhe des linken Armes der Mumie, diesmal war es eine Frau. Brugsch wurde zu Hilfe gerufen. Der brütete einen Tag und eine ganze Nacht über den beiden Papyri. Szenische Darstellungen der Einbalsamierung eines Toten umrahmten verschiedenartige Schriftreihen. Die Rolle aus dem Granitsarkophag trug den Namen des königlichen Bediensteten Se-bau, er war im 13. Regierungsjahr des Ptolemäus Philopater III. geboren und 59jährig im 21. Regierungsjahr von Cäsar Augustus gestorben, lebte also von 68 bis 9 vor Christus. Die zweite Rolle lag an der Seite seiner Ehefrau Tabai, die, fünf Jahre jünger als ihr Mann, diesen nur um einen Monat überlebt hatte.
Auf beiden Papyrusrollen nahm die Aufzählung und Wie -derholung von Namen, Titeln und Abstammung breiten Raum ein. Darauf folgten die Totenklagen der Isis. Ersteres erwies sich als historisch wenig interessant, letzteres hatte man schon von anderen Dokumenten erfahren. Fasziniert war Heinrich Brugsch jedoch von der anschließenden zweiten Schriftenreihe. Die erste war hieratisch geschrieben, die zweite wiederholte den Text in demotisch. Damit hatte Brugsch einen weiteren Schlüssel zur Entzifferung der ägyptischen Schrift in den Händen. Die alten Ägypter, das mitteilsamste Volk der Weltgeschichte, hatten nämlich ihre Überlieferung vor eineinhalb Jahrtausenden mit ins Grab genommen. Überall an Tempelmauern, in Gräbern und auf Schriftrollen prangten kilometerlange Inschriften, Beschwörungen der eigenen Vergangenheit, nur - deuten oder gar lesen konnte diese Mitteilungen niemand, und es gab auch nicht die geringste Hoffnung, dieses Geheimnis jemals lüften zu können. Doch dann geschah das Unfaßbare: Ein französischer Soldat grub während Napoleons Ägypten-Feldzug 1799 im Mündungsdelta des Nils eine sechseckige schwarze Steintafel, groß wie eine Tischplatte, aus dem Wüstensand. Das war irgendwo in der Gegend von Raschid, das die Franzosen »Rosette« nannten. Fortan hieß die Platte »Stein von Rosette«. Dieser »Stein von Rosette« war mit 14 Zeilen griechischem Text beschrieben, enthielt aber auch einen demotischen und einen in Hieroglyphen abgefaßten Text. Die Forscher in Napoleons Ägypten-Expedition äußerten sofort die Vermutung, daß alle drei Texte denselben Inhalt haben könnten. Die griechische Schrift konnten sie lesen. Der Inhalt war nebensächlich: Um das Jahr 196 v. Christus priesen die Priester von Memphis den Pharao Ptolemäus V., der sie mit Wohltaten überhäuft hatte. Aber die demotische Schrift und die Hieroglyphen blieben vorerst ein Geheimnis. Abschriften wurden angefertigt, und Forscher in aller Welt versuchten, ein System in den zwei verschiedenen Schriftarten zu ergründen. Sie stellten abenteuerliche Theorien auf, und manch einer verkündete lauthals, er habe nun tatsächlich den geheimnisvollen Schlüssel gefunden. Vorerst entpuppte sich jedoch alles als blanker Unsinn.
Ein dänischer Archäologe fand schließlich die erste heiße Spur: Die ovalen Umrandungen, mit denen manche Hieroglyphen eingekreist waren, markierten offensichtlich die Eigennamen von Königen. Und ein englischer Physiker glaubte daraufhin auf dem Stein von Rosette den Namen Ptolemaios zu erkennen. Weiter kam auch er nicht. Bis dann am 22. September 1822 ein französischer Professor die Welt mit dem schlichten Satz überraschte: »Je tiens l'affaire - ich hab's, ich hab's!« Er meinte die Entschlüsselung der Hieroglyphen.
Jean-Francois Champollion, so hieß der erst 32-jährige Professor, ein Genie, das griechisch, lateinisch, hebräisch, arabisch, koptisch, syrisch, chaldäisch und chinesisch sprach, vermutete, daß im Altägyptischen wie im Koptischen die persönlichen Fürwörter durch acht verschiedene Endungen oder Lautzeichen ausgedrückt wurden, und daß die Hieroglyphen nicht nur aus Sinnbildern, sondern auch aus Lautzeichen bestünden. Unter dieser Voraussetzung studierte Champollion die Königsnamen auf dem Stein von Rosette und stieß dabei auf den verstümmelten Namen PTOLMIS. Aus dem griechischen Text wußte er, daß auch der Name Kleopatra erwähnt wurde. Hätte er recht mit seiner Theorie, so hätte er in diesem Namen zumindest die ersten vier Buchstaben aus PTOLMIS finden müssen; denn sie waren - wenn auch in anderer Reihenfolge - im Namen kLeOPaTra enthalten. Aber Champollion fand den Namen nicht. Von der Richtigkeit seiner Theorie überzeugt, sagte er sich, der Name könne nur auf der linken oberen Ecke der Rosette-Tafel gestanden haben - die Ecke fehlte. Was tun? Auf der Nilinsel Philae hatten englische Ausgräber einen Obelisk gefunden und im Vorjahr nach England geschafft. Er trug ebenfalls eine griechische und eine Hieroglyphenschrift und nannte im griechischen Text die Namen Ptole -maios und Kleopatra Champollion ließ die Abschrift kommen und fand seine Annahme in bezug auf die Schreibung von Kleopatra bestätigt. Genau eine Woche dauerte es nun noch, bis das Geheimnis der Hieroglyphen gelüftet war. Jetzt konnte man die Hieroglyphen zwar lesen - ein zweifelhafter Gewinn beim Erkennen von Namen -, aber übersetzen konnte man die Pyramidentexte und Totenbücher deshalb noch lange nicht. Und nach Champollions frühem Tod 1832 zweifelten namhafte Gelehrte überhaupt an der Richtigkeit der Arbeiten des französischen Sprachgenies. Ein deutscher Landratssohn, der ein Jahr nach Champol-lions Tod zufällig nach Paris kam, übernahm das schwierige Erbe. Einmal von dem Hieroglyphen-Problem fasziniert, ging er von Champollions Theorien als Grundlage aus, korrigierte offensichtliche Irrtümer und baute das System wissenschaftlich weiter aus. Dieser Mann hieß Richard Lepsius und er kopierte mit unglaublicher Besessenheit alle in Europa erreichbaren Hieroglypheninschriften, lieferte die ersten Übersetzungen und wurde so zum führenden Experten für die Probleme des alten Ägypten. Eine preußische Expedition unter seiner Leitung brachte 1845 nicht weniger als 194 Kisten mit 15ooo Einzelfunden nach Berlin, darunter einen tonnenschweren bemalten Pfeiler aus dem Grab Sethos' I. Männer aus Politik, Wissenschaft und Kunst pflegten Umgang mit Lepsius. Seine äußere Erscheinung, das feingeschnittene Gesicht mit den geistvollen Zügen, die jedoch bisweilen Kälte und Härte verrieten, wirkte edel und vornehm. Dieser Mann hatte einen nachhaltigen Eindruck auf den jungen Brugsch gemacht. Vielleicht wollte er dem großen Vorbild nacheifern, als er als Pennäler mit sechzehn Jahren eine demotische Sprachlehre schrieb. Dennoch liebte Brugsch den 17 Jahre älteren Professor nicht gerade, er litt eher unter ihm: Konfrontiert mit den Forschungsarbeiten des Gymnasiasten, hatte Richard Lepsius einmal gesagt, er solle sich lieber um seine Schularbeiten kümmern. Während Brugsch dankbar war, auf allerhöchst gnädigen Befehl des Königs 1500 Thaler im Jahr zu erhalten, hatte Lepsius' Ägyptenreise dereinst 100000 Thaler gekostet. Besonders begünstigt vom Schicksal und den Umständen war er nicht, dieser Brugsch, wenngleich sich seine Fähigkeiten mit jedem anderen Forscher messen konnten.
In Ägypten begannen nun Ausgrabungen, wie sie das Land in seiner 5000jährigen Geschichte noch nicht erlebt hatte. Auguste Mariette versuchte an 37 verschiedenen Orten gleichzeitig dem Boden abzuringen, was seit Jahrtausenden verschüttet war. 2700 Arbeitskräfte schaufelten zwischen Nildelta und dem ersten Katarakt im Dienste der Geschichtsforschung. In manchen Dörfern requirierte Mariette alle arbeitsfähigen Männer, und das Projekt geriet zu einer wahren Grabungsorgie. Kostbare Funde und unerwartete Entdek-kungen quollen nur so aus dem Boden. Tempelruinen wurden bis zu den Säulenenden freigelegt - jede Ausgrabung lieferte einen neuen Mosaikstein vom faszinierenden Verlauf der alten Geschichte.
Brugsch mußte Inschriften entschlüsseln, Symbole deuten, die beiden Freunde gruben zusammen in Sakkara und Giseh, in Theben, Abydos und auf der Insel Elephantine, eilten an Bord der »Samanoud« nilauf, nilab, Mariette kontrollierte, registrierte, holte die Funde ab. Dem Deutschen wurde der Ausgräberwahn Mariettes allmählich unheimlich. Längst hatte er die Übersicht verloren, um wissenschaftlich Nützliches leisten zu können. Ungestüm wie ein ausbeuterischer Unternehmer im heimischen Europa forderte er von seinen Leuten den letzten Einsatz, immer größere Leistung, sprich neue Funde.
Im oberägyptischen Edfu mußten die Araber ihr eigenes Dorf vom Dach des verschütteten Tempels abtragen und in der Ebene wieder aufbauen, um dann den besterhaltenen Pylontempel zu Ehren des Gottes Horus freilegen zu können. In Theben, wo Mariette und Brugsch den Terrassentempel der Königin Hatschepsut auszugraben begannen, wäre es beinahe zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit englischen Forschern gekommen, die in dem unmittelbar daneben gelegenen Mentuhotep-Tempel arbeiteten. Was sie in wochenlanger Plage dem Wüstenboden abgerungen hatten, wurde vom Schutt der Mariettschen Arbeiter wieder zugedeckt. Unverhofft stießen er und Brugsch auf eine Totenstadt aus der 11. und 17. Dynastie. Nur ein Gebiet schien für Mariette tabu, das Tal der Könige. Von Brugsch wußte er, daß den Geheimnissen dieses Ortes nicht mit Gewalt beizukommen war. Und allmählich stellte sich auch die Frage, wohin mit den Tausenden von Funden? Es bereitete dem Franzosen keine allzu große Mühe, Said Pascha von der Notwendigkeit eines Museums zu überzeugen, könne dies doch seinen vizeköniglichen Ruhm nur mehren. Der Pascha gab den türkischen Beamten Order, den Plan in Abstimmung mit Mariette zu verwirklichen. Zu die -sem Zweck ernannte er ihn zum »Direktor aller ägyptischen Altertümer«. Da traf Ende Juli 1858 die Nachricht ein: Prinz Plonplon kommt nicht!
Wenn Hoheit verhindert sei, meinte Mariette listig, so würde es großen Eindruck machen, dem Prinzen Napoleon einige Funde von den letzten Grabungen nach Paris zu senden. Und so geschah es. Prinz Plonplon ergötzte sich kurze Zeit an den Kostbarkeiten und übereignete sie schließlich dem Louvre.
In Kairo häuften sich indes die Ausgrabungsfunde in Schuppen und anderen Verliesen. Schließlich fand Mariette in der früheren Anlegestelle der Postdampfer zwischen Kairo und Alexandria im Vorort Bulak ein geeignetes Grundstück. Die Post wurde jetzt mit der Eisenbahn befördert, und die Station lag verwaist. Auf der Südseite dämmerte ein halbverfallenes Gebäude vor sich hin, in dem früher die Poststelle untergebracht war, die Nordseite nahm ein riesiger Kohlenschuppen ein, aus dem die Dampfschiffe versorgt wurden. Kein Mensch hätte es damals für möglich ge-halten, das daraus das erste ägyptische Museum entstehen könnte. Aber Mariette verfügte nicht nur über Durchsetzungsvermögen, auch Phantasie gehörte zu seinen Tugenden.
Innerhalb weniger Monate verwandelte er den Kohlenschuppen in ein respektables Museum. Er setzte ein prächtiges altägyptisches Eingangsportal davor, unterteilte das Innere in verschiedene Säle und funktionierte die alte Postkanzlei in die Altertümerverwaltung samt Dienstwohnung und Gärtchen um. Dabei ging ihm ein italienischer Maler zur Hand. Er hieß Luigi Vassali, war knapp zehn Jahre älter als Mariette und schlug sich als Porträtmaler durchs Leben. 1848 in ein politisches Komplott verwickelt, war er zum Tode verurteilt, begnadigt und des Landes verwiesen worden, hatte, auf dem Landweg nach Ägypten, in Smyrna eine Türkin geheiratet, die jedoch wenige Monate später starb -ein Abenteurer, so recht nach dem Geschmack des Franzosen. Vassalli malte den Kohlenschuppen mit leuchtenden farbigen altägyptischen Ornamenten aus, und selbst der gestrenge Brugsch zollte ihm dafür Anerkennung. Weil er sein bescheidenes Einkommen als Maler bisweilen durch den Kauf und Weiterverkauf der begehrten Papyrusrollen aufgebessert hatte, verstand er einiges von der ägyptischen Vergangenheit, und Mariette machte ihn zum ersten Verwalter des Museums.
Jetzt, da für seine Schätze repräsentative Räume zur Verfügung standen, ging Mariette an die systematische Ausstellung seiner zahlreichen Ausgrabungen, und Brugsch kam nicht umhin, seinen französischen Freund bisweilen zu bremsen, damit die Auswertung unter etwas strengeren wissenschaftlichen Gesichtspunkten erfolgen konnte. »Brugsch«, überraschte dieser den Deutschen eines Tages, »wir sind .beim Pascha vorgeladen.« Heinrich Brugsch, seit seinem Besuch bei Abbas Pascha vor einigen Jahren von tiefem Mißtrauen gegenüber orienta-lischen Potentaten, erkundigte sich nach dem Grund der Gnade.
Mariette schmunzelte: »Warten Sie's ab, Sie werden schon sehen.«
Da auch Mariette eingeladen war, von dem jeder wußte, daß er beim Pascha in höchstem Ansehen stand, befürchtete Brugsch kein größeres Unheil. In der Residenz des neuen Khediven hatte orientalisches Gepränge französischer Lebensart Platz gemacht. Said umgab sich mit Franzosen, er sprach französisch, und seine gute Laune, die sich gelegentlich zum herzhaften Gelächter steigerte, wirkte ansteckend auf seine Umgebung.
Wo er, Brugsch, denn bisher gegraben habe, erkundigte sich der Pascha, und der Deutsche erklärte, er habe sich vor allem in Luxor aufgehalten, sich dort selbst jedoch weniger mit Ausgrabungen als mit der Übersetzung bereits ausgegrabener Texte beschäftigt.
»Er ist zweifellos einer der größten Schriftgelehrten!« beteuerte Mariette.
»Und wovon leben Sie, Monsieur Brugsch?« fragte der Pascha.
Brugsch war auf diese Frage nicht vorbereitet. Er geriet ins Stottern. »Hoheit«, antwortete er verlegen, »Sie müssen wissen, ich bin ein armer preußischer Gelehrter, ich stamme aus keinem reichen Haus, mein Vater dient bei den Ulanen, ich bin froh, vom Preußenkönig ein bescheidenes Stipendium zu erhalten . .. «
»Ah, ein Ulane!« rief Said Pascha, der alles Militärische bewunderte, »die Kavallerie der Preußen. Wissen Sie, daß das Wort Ulane aus dem Türkischen kommt und >junger Mann« bedeutet?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, begann der Pascha vom preußischen Soldatentum zu schwärmen. Die anwesenden Franzosen lächelten etwas gequält. Ja, eine Batterie seiner Artillerie stehe unter der Leitung preußischer Timbaschis,
also Instrukteure. Wie es um den Gesundheitszustand des Preußenkönigs bestellt sei?
»Seine königliche Hoheit Friedrich Wilhelm IV. ist leidend«, antwortete Brugsch. »Wir alle müssen uns auf das Schlimmste gefaßt machen. Wilhelm L, der Bruder seiner königlichen Hoheit, hat bereits die Prinzregentschaft: übernommen.«
»Ich weiß«, sagte der Pascha, »Friedrich Wilhelm ist ein großer Freund meines Landes. Alle Welt wartet auf die Veröffentlichung des letzten Werkes über die Denkmäler Ägyptens, das er veranlaßt hat. Wann können wir damit rechnen?« Heinrich Brugsch bat um Nachsicht für sein Unwissen, er habe zu Professor Lepsius keinen Kontakt. »Monsieur«, meinte der Khedive höflich, »Ihre Leistungen wurden mir in den schönsten Farben geschildert. Ich möchte, daß Sie mir und meinem Land für ein paar Monate dienen. Unterstützen Sie Mariette mit Ihren Fähigkeiten, es soll nicht zu Ihrem Schaden sein.« Heinrich Brugsch verneigte sich höflich und wollte sich für das in ihn gesetzte Vertrauen bedanken, da hielt ihm der Pascha ein Samtsäckchen vor die Nase, er lächelte verschmitzt: »Der Lohn im voraus.« »Hoheit«, stammelte der Deutsche verlegen, »Hoheit!«, doch der Pascha wehrte ab: »Ein schwacher Dienst für die Wissenschaft.« Brugsch küßte ihm die Hand. Auf dem Weg vom Palast zum Museum, den sie in einer schwarzen Kutsche des Khediven zurücklegten, öffnete Brugsch das Säckchen, und seine Augen verklärten sich, als habe er soeben das Geheimnis der Hieroglyphen entschlüsselt. »Sie brauchen nicht zu zählen!« lachte Mariette, »ich bin ganz sicher, es stimmt.« Brugsch sah seinen Freund fragend an. Der nahm ihm das Säckchen aus der Hand und schüttete den Inhalt auf das Polster der Kutsche: »Zwanzigtausend Francs in blankem Gold!« Brugsch preßte beide Hände vor den Mund und starrte auf die blinkenden Münzen. »Zwanzigtausend«, wiederholte er immer wieder, »zwanzigtausend!« Ein halbes Leben hätte er dafür sparen müssen, der Preuße fühlte sich wie ein Krösus. Zwanzigtausend Francs, dafür konnte er in Charlottenburg ein Haus kaufen, schöne Kleider für Pauline, auf jeden Fall war er damit aller materiellen Sorgen enthoben. »Ma-riette«, sagte er ernst, »jetzt bin ich ein reicher Mann.«
Die Fahrt der beiden Ausgräber nilaufwärts glich einem Triumphzug siegreicher Feldherren. Wo immer die »Sama-noud« anlegte, wurden Mariette und Brugsch mit großem Respekt empfangen. Wo immer sie an Land gingen, waren bereits Grabungen im Gange. Was immer sie benötigten, für alles stand ein Firman des Paschas zur Verfügung. Die türkischen Mudire, die Provinzgouverneure, hatten auf allerhöchsten Befehl jede gewünschte Anzahl Ausgräber und jede Menge Steinkohlen für das Dampfschiff zu stellen. Die Besatzung des Schiffes bestand aus Marinesoldaten der ägyptischen Flotte, ein türkischer Kawaß versah Wach- und Polizeidienste, und ein Korse namens Floris, der seine Heimat aus undurchsichtigen Ursachen verlassen hatte, diente als Faktotum. Floris konnte alles. Obwohl - wie er allen Ernstes behauptete - an ihm ein Dichter verlorengegangen war, leistete er hervorragende Dienste als Bildhauer, Maler, Zimmermann, Tischler, Drechsler, Glaser, Uhrmacher, Schneider und Schuster. Der Landsmann des großen Napoleon besaß den Ehrgeiz, die Welt durch eine großartige Erfindung in Erstaunen zu versetzen, und daran arbeitete er in jeder freien Minute.
Bei Arab el-Madfuna, eine Tagesreise vor Luxor, ging die »Samanoud« vor Anker. Hier war ein Heer von Fellachen damit beschäftigt, die alte Tempelstadt Abydos auszugraben. Über Geröllhalden und Mauerreste hinweg wanden sich Menschenschlangen, Hunderte von Arbeitern schleppten Sand und Schutt in Körben zu den dafür vorgesehenen Plät-zen. Und immer wieder stießen sie auf Gräber, zogen Hunderte von Mumien aus dem Sand. Seit der 5. Dynastie gehörte es für die feine Gesellschaft zum guten Ton, sich in Abydos, dem Kultort des Totengottes Osiris, zur ewigen Ruhe betten zu lassen. Ramses II. und Sethos I. hatten sich mit gewaltigen Tempelstätten ein Denkmal gesetzt; doch während das Bauwerk des großen Ramses nur noch in zwei Meter hohen Fundamenten auszumachen war, kam mit dem Sethos-Tempel eines der besterhaltenen Bauwerke der alten Kultur zum Vorschein. Seine zahllosen Reliefs und Inschriften vermittelten neue Erkenntnisse. Als Brugsch und Mariette in Abydos eintrafen, ragte bereits die Vorhalle des Tempels aus dem Schutt. Von zwei vorangegangenen Höfen fanden sich nur noch Baureste. Eine Rampe führte zur Vorhalle. Auf zwölf Kalkstein-Pfeilern identifizierten die beiden Forscher Darstellungen Ramses' II., der vor den Göttern opferte. »Wieso Ramses?« fragte Mariette. »Er mußte wohl das Bauwerk seines Vaters vollenden«, meinte Brugsch und fügte hinzu: »Das finden wir gerade im Neuen Reich sehr häufig, daß Söhne die Bauten ihrer Väter zu Ende führen.«
»Aber daß er deshalb sich selbst darstellte und nicht seinen Vater . . .«
»Das ist in der Tat einmalig.« Die Männer arbeiteten sich in den dahinterliegenden Raum vor. Staunend wie Kinder betrachteten sie mit nach oben gerichteten Köpfen die 24 Säulen des 50 Meter breiten Saales, Papyrusbündel mit geschlossenen Kapitellen. »Sehen Sie nur, auch hier überall Ramses, Ramses, Ramses«, entfuhr es dem Deutschen. Der Vorarbeiter, der sie führte, lachte und bedeutete, ihm zu folgen, als habe er etwas noch viel Aufregenderes vorzuzeigen.
Und in der Tat: Dahinter tat sich ein zweiter Säulensaal mit 36 Papyrusbündelsäulen auf. Doch diesmal prangte Sethos an allen Säulen. An der Wand zur Rechten erkannte man Sethos vor dem Totengott Osiris und dem Schutzgott des Pharao Horus. »Noch niemals in meinem Leben«, sagte Mariette beinahe andächtig, »habe ich so schöne Reliefs gesehen.«
Vorbei an sieben kleinen, fensterlosen Totenkapellen drückten sich beide durch einen finsteren Korridor. Im schwankenden Schein der Karbidlampe des Vorarbeiters erkannte Brugsch verschiedene Namensringe an der Wand. Er nahm dem Arbeiter die Lampe aus der Hand und ließ den Lichtschein auf und ab tanzen. Jetzt bemerkte es auch Ma-riette: Ein Königsring reihte sich an den anderen: Ahmose, Thutmosis, Amenophis, Sethos . . . Brugsch ging mit dem Licht ans vordere Ende, hielt inne, las, zögerte einen Augenblick und sagte zu Mariette gewandt: »Menes!« - »Menes«, antwortete der und nickte: Menes, der erste nachweisbare Pharao. Vor den beiden Forschern tat sich eine unschätzbare Botschaft auf: aneinandergereiht die Namen von 76 Pharaonen von Menes bis Sethos I.
Zwei ähnliche Chroniken waren bereits in Sakkara und Karnak entdeckt worden. Doch nun mit dem dritten Vergleichsstück wurde es überhaupt erst möglich, die präzise Reihenfolge der Pharaonenherrscher aufzuzeichnen. Fehlstellen oder unklare Namensschreibungen konnten jetzt durch den Vergleich geklärt und in die Chronik des alten Ägypten eingefügt werden. Was Brugsch und Mariette freilich nicht ahnen konnten: Der Königskatalog von Abydos enthielt eine Fälschung, genauer gesagt, die Chronisten hatten vier Könige einfach ausgelassen. Und allein diese Tatsache brachte Jahrzehnte später noch einmal das ganze Geschichtsbild ins Wanken.
Doch davon hatten die beiden Forscher noch keine Ahnung. Wochenlang schwelgten sie in aufregenden neuen Entdeckungen. Mariette trieb die Arbeiter zu immer größeren Leistungen an, steckte neue Areale ab. Brugsch kopierte Inschriften, übersetzte und entdeckte neue Quellen für sein Hieroglyphen-Lexikon. Eine Vielzahl geschichtlicher, geographischer, astronomischer und mythologischer Aufzeichnungen brachte neue Erkenntnisse. Abends auf dem Schiff, das ihnen komfortable Unterkunft bot, führten beide Forscher ein gemeinsames Tagebuch in französischer Sprache. Sie hielten gemeinsame Erlebnisse fest, ihre Sorgen und Ängste, Beobachtungen und Erfolge. Dabei steigerten sie sich in einen schieren Ausgräberrausch, drangen immer tiefer in eine längst vergangene Welt ein und vergaßen darüber die Zeit, in der sie selbst lebten. Was scherte sie, daß sich in Indien ein britischer Vizekönig niederließ, Österreich die Lombardei an Italien verlor und im Kaukasus und in Amerika erste Erdölbohrungen stattfanden, wenn es darum ging, ein Gespräch des Pharaos Sethos mit seinem Vatergott Horus in die Gegenwart zurückzuholen!
Hinter dem Sethos-Tempel, acht Meter unter der Erde, stießen die Forscher auf einen Tempel mit zahllosen Unterwelt-Texten. Um dorthin zu gelangen, mußten die Priester einst einen 110 Meter langen Gang schräg nach unten gehen. Von einem Vorraum, dessen Wände vom Boden bis zur Decke mit Anleitungen beschrieben waren, wie man in das Reich der Toten gelangte, führte der Weg in einen großen Saal mit zehn mächtigen Pfeilern aus rotem Granit. Diesen Saal umgab ein Wassergraben, der in der Antike über einen Kanal vom Nil her mit Wasser gespeist wurde. Mariette erkannte sofort den Symbolgehalt dieser Architektur: Der Urhügel, auf dem der Kosmos geschaffen wurde, wird vom Urmeer umflossen. Deutliche Beweise für die Richtigkeit seiner Annahme fand der Franzose in dem darunterliegenden Querraum. Über einem Grabmal wölbte sich in Wort und Bild die gesamte Schöpfungsgeschichte der alten Ägypter: Der Luftgott Schu hob die Himmelsgöttin Nut empor. Mathematische und kosmographische Beschreibungen, Sternentafeln und Anweisungen unter ihrem Leib beschrieben das Weltbild jener Zeit. »Unser beider Leben«, meinte Brugsch eines Tages resignierend, »wird nicht ausreichen, dieses Abydos je ganz zu erforschen.« Mariette pflichtete ihm bei: »Außerdem erwarten uns eine große Zahl anderer Ausgrabungen. Wir wollen noch bis zur Insel Philae. Esna, Edfu, Kom Ombo, die Insel Elephantine liegen noch auf unserer Strecke - und überall wird bereits gegraben.« »Vergessen Sie das Tal nicht, mon cher!« mahnte Brugsch. »Wie könnte ich das Tal vergessen!« lachte Mariette. »Wenn wir morgen ablegen, sind wir übermorgen in aller Frühe in Luxor.«
Heinrich Brugsch war einverstanden. Auf dem Weg von der Ausgrabungsstätte zum Landeplatz, den beide auf Maultieren zurücklegten, kam ihnen Floris entgegengelaufen. »Messieurs, Messieurs! Große Erfindung von Floris. Kommen Sie, sehen Sie!« Sprühend vor Temperament und gestikulierend vor Aufregung versuchte der Korse seinen Herren klarzumachen, daß er nun endlich eine Maschine erfunden habe, die unabhängig von jeder Dampfkraft Arbeit leistete. Mariette und Brugsch verstanden nur »Perpetuum mobile«. Man wollte sehen.
Vor der »Samanoud« dümpelte ein Kahn mit kranartigem Aufbau. Wasserräder zu beiden Seiten verliehen dem Fahrzeug eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Dampfer, ein Schlot fehlte allerdings. Den gedachte Floris durch schlichte Überlistung der Schwerkraft zu ersetzen. Das Herz des Ganzen bildeten zwei Steinblöcke, jeder beinahe einen halben Zentner schwer, die, an senkrechten Pendelbalken befestigt, die Schaufelräder des merkwürdigen Schiffchens in Bewegung versetzen sollten.
Mit einem Satz sprang Floris auf sein Boot, heulte mit vor den Mund gehaltenen Händen wie die Sirene eines Dampfschiffs und versetzte die schweren Pendel unter lauten An-feuerungsrufen in gegeneinanderlaufende Schwingungen. Große hölzerne Zahnräder übertrugen die Bewegungen auf die Schaufeln wie bei einem Uhrwerk. Die Schaufelräder drehten sich - sie drehten sich tatsächlich, aber viel zu langsam, um das Fahrzeug in Bewegung zu setzen. Wütend über die Trägheit der Materie versetzte Floris die schweren Holzpendel in immer heftigere Schwingungen, vergaß in seinem Wahn ganz die Gefährlichkeit der unerprobten Technik, und plötzlich krachte einer der schweren Steinarme gegen Floris' Brust. Der besessene Erfinder flog wie von einer wuchtigen Faust getroffen in hohem Bogen in den Nil. Starr vor Schreck blickte Brugsch auf den wie leblos im Wasser treibenden Körper, Mariette überlegte nicht lange, sprang in voller Kleidung hinterher und zog den bewußtlosen Floris an Land. Ein paar Rippenbrüche und dunkelblaue Blutergüsse waren das einzige Ergebnis des Experiments. Während die beiden Forscher den bedauernswerten Floris mit pumpenden Armbewegungen und sehr viel Raki-Schnaps ins Leben zurückholten, machte sich das Teufelswerk des Erfinders selbständig, glitt den ewigen Gesetzen der Strömung gehorchend ein kurzes Stück nilabwärts und versank, nach einem letzten Nicken des kranartigen Aufbaus, gerade in dem Augenblick in den Fluten, als Floris die Augen aufschlug.
Statt Bedauern erntete der dem Tode entronnene Techniker aber nur Vorwürfe. »Du verrückter Hund!« schrie ihn Mariette an, »glaubst schlauer zu sein als alle anderen vor dir, bildest dir ein, etwas zustande zu bringen, das noch nie -mand geschafft hat, noch niemand, hörst du!« Brugsch legte beruhigend eine Hand auf Mariettes Arm und sagte leise: »Tun wir denn etwas anderes?«
Der Bahnhof in Alexandria sah aus wie ein Märchenschloß mit Erkern und Türmchen, rot-blauen Glasscheiben und gefliesten Wänden. Livrierte Bedienstete in gold- und emailstrotzenden Uniformen verkauften Billetts mit der Feierlichkeit eines Standesbeamten, Gepäckmeister kommandierten Lakaien an Truhen, Kisten und Koffer, und das vornehm gekleidete englische Fahrpersonal genoß das Ansehen gottbegnadeter Pioniere, Frack und Zylinder waren Vorschrift. Doch an diesem Tag lag über dem Eisenbahn-Schloß ein zusätzlicher Hauch von Würde und Glanz. Teppiche waren von der Promenade bis zum Bahnsteig ausgerollt. Ein Sonderzug stand unter Dampf und erwartete königliche Gäste.
Said Pascha hatte seinen gesamten Familienclan zu einem großen Fest nach Alexandria, seinem Lieblingsaufenthalt, geladen und verabschiedete sie nun auf dem Bahnsteig vor der Heimreise nach Kairo.
Die Sonderwagen des Khediven versetzte selbst die luxusverwöhnte Verwandtschaft Said Paschas in Entzücken, schließlich galt es noch immer als einmaliges Erlebnis, von erhitztem Wasserdampf eine Tagesreise durch das Nildelta gezogen zu werden. Achmed Rifat Pascha, der Neffe des Vizekönigs, klopfte mißtrauisch an Kessel und Leitungen des fauchenden Dampfrosses, schüttelte verständnislos lächelnd den Kopf und schwang, unterstützt von zwei Lakaien, seinen voluminösen Körper auf die Plattform des Salonwagens. Im Innern hatte bereits die gesamte männliche Verwandtschaft Platz genommen, bis auf Achmeds Bruder Ismail, den angeblich eine Krankheit ans Bett fesselte. Wie üblich saßen die Damen getrennt im zweiten Waggon. Der zurückbleibende Khedive winkte huldvoll zum Abschied, und ein vornehmer Bahnhofsvorsteher gab das Zeichen zur Abfahrt. Zischen, Fauchen, Stoßen, das Lokomobil setzte sich langsam in Bewegung und entschwand nach wenigen Augenblicken hinter den Palmen im Osten. Bei der Ortschaft Kafr el Zayat, etwa in der Mitte zwischen Alexandria und Kairo, kreuzte die Bahnlinie den westlichen Nilarm. In den ersten Jahren ihres Bestehens mußten dort die Passagiere aussteigen, um auf einer Fähre übergesetzt zu werden und die Fahrt mit einem anderen Zug fortzusetzen. Der Bau einer Eisenbahnbrücke wäre zwar möglich gewesen, hätte jedoch die Durchfahrt für Schiffe versperrt, die noch immer das wichtigste und billigste Transportmittel zwischen Alexandria und Kairo darstellten. Das umständliche Umsteigen verzögerte die Eisenbahnfahrt natürlich erheblich, bis Robert Stephenson, der kühne Erbauer der Eisenbahn, eine Drehbrücke konstruierte, von noch größerem technischen Aufwand als das Schienenungeheuer selbst: Auf einem Pfeiler inmitten des Nils drehte sich die Brücke parallel zum Flußlauf und gab so ganztätig die Durchfahrt für die Schiffe frei. Nur zweimal am Tag, wenn Zug und Gegenzug sich der Ortschaft Kafr el Zayat näherten, kündeten Sirenen die bevorstehende Drehung der Brücke an, Schiffe und Fel-lukas drehten bei, und das Dampfroß donnerte mit seinen hochrädrigen Waggons über die zitternde Eisenkonstruktion.
Die Pilger einer Kamelkarawane bemerkten das drohende Unheil als erste. Sie warteten am Flußufer auf die große Fähre, die sie und ihre Tiere übersetzen sollte. Pfeifend näherte sich die Eisenbahn - aber die Drehbrücke stand offen. Mißtrauisch gegenüber der unverständlichen Technik glaubten sie zunächst, das fauchende Ungeheuer würde bremsen. Aber das Lokomobil verlangsamte seine Fahrt keineswegs, obwohl zwei Kilometer notwendig waren, um das schnaubende Ungetüm zum Stehen zu bringen. Als die Eisenbahn nur noch 200 Meter von der offenstehenden Brücke trennten, rannten die Pilger wild schreiend und gestikulierend dem Zug entgegen. Der Lokführer, derlei Ovationen gewöhnt, winkte huldvoll zurück, der Heizer legte eine Schaufel Kohlen nach. Die Pilger warfen sich zu Boden, verneigten sich mit erhobenen Händen gen Mekka und riefen »Maschallah, maschallah! - was Gott alles geschehen läßt!« Die Dampfeisenbahn brauste geradewegs auf die geöffnete Brücke zu. Es schien, als bemerkte der Lokomotivführer das drohende Unheil im allerletzten Augenblick -doch zu spät. Quietschend, ächzend, krachend stürzte das tonnenschwere Lokomobil in den Fluß, den Kohlenanhänger und die beiden bunten Salonwagen hinter sich herziehend.
Der sonst so träge dahinfließende Nil verwandelte sich augenblicklich in ein tosendes, quirlendes, kochendes Gewässer. Für ein paar Sekunden schwammen die ineinanderver-keilten Waggons in dem schäumenden Wasser. Man hörte Schreie, sah Hände aus dem Wasser ragen, Schleier und Frauen in weiten Gewändern dahintreiben, dann versank der Eisenbahnzug wie von unsichtbarer Hand in die Tiefe gezogen.
Schnaubend und prustend hielt sich ein Mann über Wasser: Prinz Halim. Verzweifelt versuchte er Achmed, den designierten Thronfolger, zu fassen. Aber Achmed, dick, tolpatschig und ungeschickt, konnte nicht schwimmen und ertrank wie die übrigen Mitglieder der Familie. Es konnte nie geklärt werden, warum der Sonderzug dem Brückenwärter von Kafr el Zayat nicht gemeldet worden war, und schon bald verbreitete sich das Gerücht, Prinz Ismail, der als einziger nicht an dem Familientreffen teilgenommen hatte, habe die Hand im Spiel gehabt. Ismail, der Neffe des regierenden Vizekönigs, stand an zweiter Stelle der Thronfolge. Er wurde in Paris erzogen, war also ein Freund der Franzosen wie sein Onkel Said und förderte den europäischen Kultureinfluß in Ägypten. Aber waren das Indizien dafür, daß Ismail seine gesamte Verwandtschaft auf einen Schlag auslöschen ließ?
Anthony C. Harris, ein würdiger Siebziger mit weißem Schnauzbart, sah genauso aus, wie man sich einen Eng-lishman vorstellt: vornehm, zurückhaltend und stets gut gekleidet. Harris ging nie ohne Hut, unter der gnadenlosen Sonne Oberägyptens trug er einen weißen Tropenhelm. Das einzige, was eigentlich nicht zu ihm paßte, war seine ständige Begleiterin, jene unförmige Negerin namens Selima, die er an Kindesstatt angenommen und ganz vortrefflich erzogen hatte. Sie war geistvoll, sogar witzig. Trotzdem bereitete es ihrem Vater unüberwindliche Schwierigkeiten, sie an den Mann zu bringen. Da half keine Mitgift und kein gutes Zureden - schließlich gab er es auf. Selima war keineswegs traurig, sie meinte schlicht: »Welcher Europäer wird mich mit diesem Gesicht schon aus reiner Liebe heiraten?«
Immer wenn Harris und seine Tochter in Luxor auftauchten, wurde das »Französische Haus«, wo der reiche Kaufmann aus Alexandria abzusteigen pflegte, von finsteren Gestalten belagert. Möglichst unauffällig schlichen sie um das Schloß, versteckten sich hinter Säulen, um nicht gesehen zu werden. Aber nicht etwa vor Harris fürchteten sie sich, sondern untereinander mieden sie jeden Kontakt. Es waren Grabräuber oder deren Abgesandte, und jeder hatte dem reichen Kaufmann aus Alexandria ein günstiges Angebot zu machen.
In ihren Kreisen galt es als offenes Geheimnis, daß Harris die höchsten Preise zahlte, wenn die Ware überdurchschnittlich gut war. Harris' Haus in der Nähe der Festungswerke von Alexandria glich einem einzigartigen Museum. Natürlich waren die angebotenen Objekte allesamt illegal erworben, konnten also nicht einfach öffentlich zum Kauf angeboten werden. Kompliziert wurde die Angelegenheit jedoch dadurch, daß sich die verschiedenen Grabräuber-Banden gegenseitig belauerten. Wer was wann auf den Markt brachte, konnte die Konkurrenz auf die Spur eines soeben entdeckten Grabes bringen, dessen Inhalt eine ganze Bande oft jahrelang ernährte.
»Sieh nur«, sagte Harris zu Selima, während der Wind in das Segel des Fährbootes fuhr, »in den Felswänden von Der el-Bahari kommt ein ganzer Tempel zum Vorschein!« »Ja, Sir«, sagte die wohlerzogene Tochter und blinzelte gegen die schrägstehende Sonne. »Ein Teufelskerl, dieser Mariette, ein wahrer Teufelskerl. Leider verheiratet. Er wird nicht eher ruhen, bis er das ganze Nildelta umgepflügt hat.«
»Ja, Sir«, sagte Selima, »und dieser Dr. Brugsch?« »Ist auch da«, antwortete Harris, »aber auch schon verheiratet. Die beiden machen doch alles gemeinsam. Tolle Männer, die beiden.« »Ja, Sir«, sagte Selima.
Der Fährmann übergab dem Schiffsjungen das Ruder und kam breitbeinig auf Harris zu. »Mister!« sagte er und blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um, »haben Sie Interesse für Papyrus?«
»Papyrus? Immer! Was soll er kosten?« Der Fährmann legte den Finger auf den Mund. »Kein gewöhnlicher Papyrus, Mister .. .«
»Was heißt, kein gewöhnlicher Papyrus?« fiel ihm Harris ins Wort, »Ihr haltet Euch wohl schon Euere eigenen Gelehrten ?«
»Nein, Mister«, antwortete der Fährmann und bemühte sich, leise zu sprechen, »dieser Papyrus ist so groß, riesengroß, es ist die längste Schriftrolle, die je gefunden wurde.« Harris zeigte mit ausgebreiteten Armen ein Maß an. »So groß oder länger?« fragte er.
»Dreißig Meter«, sagte der Fährmann gelassen, »vielleicht vierzig.«
Der Engländer wurde unruhig: »Aber das ist doch ganz unmöglich. Wann kann ich den Papyrus sehen?« »Heute abend.« »Gut. Und wo?«
»Mister, Sie gehen hinter dem Tempel von Medinet Habu in der Schlucht, die nach Der el-Medina führt, 225 Schritte bis zum Fuß des südlichen Hügels. Dort wird ein Mann mit einer Laterne auf Sie warten. Aber kommen Sie allein und ohne Waffen und bringen Sie zweihundert Pfund mit.« »Zweihundert Pfund?« rief Harris entrüstet; aber er hätte auch bei der Hälfte der Summe Entrüstung geheuchelt. Der Fährmann blieb ruhig: »Mister, es ist der größte Papyrus, der je gefunden wurde .. .« Dann ging er an sein Ruder zurück, um das Fährboot sicher ans Ufer zu steuern. Dort warteten zwei Dutzend Fellachenjungen mit ihren Eseln und balgten sich darum, wessen Tiere die Herrschaften nach Der el-Bahari tragen durften. Mariette kam den beiden entgegen. Schon von weitem rief er: »Sie müssen es gesehen haben. Es ist, als könnten die Steine reden.« Und dann berichtete er von den Grabungsarbeiten im Talkessel von Der el-Bahari: »Ein Tempelchen haben wir unter dem Geröll vermutet, aber nun kommt eine ganze Anlage in mehreren Stockwerken zum Vorschein, ein Terrassentempel auf drei Ebenen. Diese Königin Makare-Hatschepsut scheint viel bedeutender gewesen zu sein, als wir bisher angenommen haben.«
»Sie meinen, diese Königin hat sogar das Land regiert, war also nicht nur Ehefrau eines Pharaos?« fragte Harris. »Ja, das meine ich«, sagte Mariette, »und eigentlich war das seit langem klar. Der achte Pylon, die beiden Obelisken in Karnak, all das ist ihr Werk. Und wir sollten in Karnak alle Inschriften mit dem Namen Thutmosis' III. noch einmal unter die Lupe nehmen.«
Harris und seine Tochter sahen den Franzosen fragend an, und Mariette meinte: »Sie werden gleich sehen, warum«. Es gehörte schon sehr vie l Phantasie dazu, sich unter den Hügeln, Gräbern und Schuttmassen einen Tempel mit drei hintereinanderliegenden Terrassen vorzustellen. Das Her-ausragendste der Anlage war ein festungsartiger Turm, der, so kündigte der Ausgräber an, in den nächsten Tagen eingerissen würde, weil er nicht dazu gehöre. Vermutlich habe sich darin einmal ein arabischer Scheich verschanzt. Doch dann zeigte Mariette auf einzelne Pfeiler und Säulen und erklärte, wie man sich das Bauwerk vorzustellen habe. In der Tat, Mariette schien recht zu haben: Mit einiger Phantasie erhob sich vor ihnen eine gewaltige Tempelanlage. »Meine Leute haben schon Feierabend«, erklärte der Ausgräber, während sie sich über rollendes Gestein emporarbeiteten. Die Fellachen lagen müde im Sand, manche schliefen, den Kopf auf ihren Tragekorb gelegt, andere redeten lautstark miteinander. Selima erkundigte sich nach der Anzahl der Arbeitskräfte. Mariette wußte es nicht, aber ein paar hundert, meinte er, würden es schon sein. Inzwischen war es ziemlich schwierig, noch genügend Fellachen zu bekommen, da sie von Lesseps für den Bau des Suezkanals in Beschlag genommen wurden. Dabei hatten die Bauarbeiten noch nicht einmal begonnen.
In einer Mulde, aus der ein unterschiedlich hohes Mauerwerk herausragte, saß Heinrich Brugsch mit einem Zeichen-brett und kopierte Hieroglyphen. »Wir haben Besuch, mon ami!« sagte Mariette, und Brugsch begrüßte Anthony Harris und seine Tochter herzlich. Der Engländer erkundigte sich, ob er noch immer vom Heimweh nach Berlin geplagt sei, und Brugsch antwortete, Berlin könne er verschmerzen bei all den Wundern, die sich hier vor ihm auftäten. »Aber Pauline, meine Frau, ist mit meiner Arbeit fern von der Heimat nicht so ganz einverstanden. Sie schreibt, sie habe mich nicht geheiratet, um nur noch schriftlich mit mir zu verkehren. Ich werde im März nach Berlin zurückgehen.« Mariette hob die Schultern. »Aber jetzt«, meinte er schließlich, »zeigen Sie unseren Besuchern doch einmal unsere Entdeckungen.«
Auf einmal war alle Traurigkeit aus dem Gesicht des Deutschen verflogen, er richtete sich auf, stellte sich breitbeinig vor das Mauerwerk, die Arme in die Hüften gestützt, als habe er einen Gegner besiegt, und begann zu berichten: »Sie war die Tochter Thutmosis' I. und mit Thutmosis II., ihrem Stiefbruder, verheiratet. Es waren wohl Erbstreitigkeiten, die dazu führten, daß Hatschepsut schließlich die Macht übernahm. Hier, sehen Sie sich das an« - Brugsch deutete auf ein Relief in der Mauer - »die Königin trat wie ein Mann auf, im Lendenschurz mit nacktem Oberkörper, sogar eine Bartperücke hängte sie sich um.« »Unglaublich«, staunte Selima.
Harris betrachtete die zum Teil bemalten Reliefs aus der Nähe und erkundigte sich nach der Bedeutung der seltsamen Bilder, auf denen Sklaven an Tragestangen aufgehängte grünblättrige Bäume durch die Wüste schleppten. »Das ist der wohl interessanteste Teil unserer Entdek-kung«, sagte der Deutsche. »Hatschepsut betrieb offensichtlich eine systematische Außenpolitik und weitete die Handelsbeziehungen mit fernen Ländern aus. Hier sehen wir sie vor dem Thronrat. Die Erklärung lautet: >Im Jahre 9 ihrer Regierung erschien die Königin mit ihrer Atef-Krone auf dem großen Goldthron in der Herrlichkeit des Palastes. Beamte und Hofstaat wurden hereingeführt, um den Befehl der Königin an die Würdenträger, an die Priester und Königsfreunde zu hören: Meine Majestät hat befohlen, nach dem Myrrhengebirge zu reisen, die Wege auf ihm zu erkunden, seine Ausdehnung zu erfahren und seine Pfade zu öffnen .. .!<«
Brugsch ging zu der gegenüberliegenden Wand. Dort sah man fünf Schiffe, Bug und Heck hoch aufgebogen, die Segel wurden zur Fahrt in das Weihrauchland Punt gesetzt. »Stecht in See!« riefen die Daheimgebliebenen. »Nehmt den Weg ins Gottesland, reist in Frieden nach Punt!« »Wo liegt Punt?« fragte Selima. »An der Ostküste Afrikas«, erwiderte Mariette. »Und welchen Weg nahmen die Schiffe?« wollte Selima wissen. »Ich meine, wie gelangten sie zum Roten Meer?« »Das haben wir uns auch schon gefragt«, antwortete Brugsch. »Aber aus diesen Bildern und Texten geht das leider nicht hervor. Vielleicht gab es unter Hatschepsut doch schon einen schiffbaren Kanal vom Nil zum Roten Meer. Andernfalls müßten die Schiffe wohl in Einzelteile zerlegt und mit einer Eselkarawane durch die Wüste zum Roten Meer transportiert worden sein - ein phantastisches Unternehmen.«
Wie ein mit kurzen Texten versehenes Bilderbuch breitete sich vor ihnen das weitere Geschehen an den Wänden aus: Die fünf Schiffe erreichen das Weihrauchland. Unter Dattelpalmen sieht man Rundhütten auf Pfählen, Fische im Wasser, Affen auf den Bäumen und in der Takelage der Schiffe, Exotik selbst für die Ägypter. »Wie seid Ihr in unser Land gekommen, das keiner kennt?« fragt Perehu, der Fürst von Punt, dessen kleine, dicke Frau Eti auf einem Esel angetrabt kommt, dahinter drei ihrer Kinder. Hatschepsuts Leute überreichen Schmuck, Messer und Äxte, außerdem bieten sie von ihrem mitgebrachten Proviant an, Fleisch, Früchte und Wein. Da lassen sich natürlich auch die Puntier nicht lumpen und schleppen Säcke voll Gold herbei, gezähmte Affen, Windhunde und kostbare Leopardenfelle, Haufen von Weihrauchharz, Ebenholz und Elfenbein. Die Schiffe werden beladen. Sogar 31 Weihrauchbäume nehmen sie mit.
»Paß doch auf deine Füße auf!« ruft ein Matrose beim Verladen der schweren Gewächse seinem Kollegen zu. Und in ihrer Begeisterung über den fremden Besuch fragen der Häuptling und seine dicke Frau, ob sie nicht gleich mitkommen dürften in das gelobte Land am Nil. So kehrt denn die Expedition zurück, reich beladen mit kostbaren Schätzen und in Begleitung des exotischen Fürsten Perehu und seiner Frau Eti.
»Heil dir, Ägyptens König, weiblicher Sonnengott!« rufen die beiden, als sie sich bei der Ankunft vor Hatschepsut auf den Boden werfen. »Dein Name reicht so weit wie der Himmel, dein Ruf, Hatschepsut, umgibt das Meer!« Heinrich Brugsch, der die Szenerie mit dem Finger beschrieben und die Hieroglyphenzeilen vorgelesen hatte, hielt einen Augenblick inne; keiner der vier sagte ein Wort. Jeder war ergriffen von der Botschaft, die sich da vor ihnen auftat. Wie menschlich zeigte sich auf einmal die erhabene Geschichte des alten Ägypten! Menschen hatten diese Geschichte gelebt, nicht große Namen. Mariette fand als erster seine Sprache wieder. »Hier«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf einen Königsring an der Wand, »fällt Ihnen daran etwas auf?« Harris und Selima traten nahe an die Mauer heran und musterten den verwitterten Namensring kritisch: erhobene Arme als Zeichen des Schutzgeistes Ka, die sitzende Göttin mit Feder im Haar als Ma und die runde Scheibe als Symbol für den Sonnengott Re. Makare lautete der Name im Zusammenhang gelesen, der Thronname der Königin Hatschepsut. »Drüben, auf der anderen Seite des Nils, die beiden Jubi-läumsobelisken im Tempel von Karnak tragen die gleichen Namensringe«, meinte Harris, »nur sind sie besser erhalten.« »Merkwürdig, nicht?« sagte Mariette, »die Obelisken waren zweieinhalb Jahre der gnadenlosen Sonne und verheerenden Sandstürmen ausgesetzt, aber ihre Beschriftung ist besser zu lesen als diese hier in einem ehemals geschlossenen Raum. Was aber das Merkwürdigste ist - die übrigen Reliefs an dieser Wand sind in einem sehr viel besseren Zustand.« Anthony Harris schüttelte den Kopf: »Haben Sie eine Erklärung dafür?«
»Wir denken seit Tagen darüber nach«, antwortete Brugsch, »und ich glaube, es gibt nur eine einzige Erklärung, der Name Hatschepsuts wurde gleichsam ausradiert, hier, da, dort, überall das gleiche Bild. Und betrachten sie einmal diesen Namensring Thutmosis' III., sehen Sie ganz genau hin!«
»Ja«, rief Selima, »er ist tiefer in die Wand geschlagen als die übrigen Schriftzeichen. Was hat das zu bedeuten?« Brugsch lächelte: »Könnte es nicht sein, daß dort, wo jetzt Thutmosis' Name steht, ursprünglich der Name Hatsche-psuts zu lesen war?«
Selima fiel dem Forscher aufgeregt ins Wort: ».. . daß Thutmosis ihren Namen ausmeißeln und durch seinen eigenen ersetzen ließ? Notgedrungen ist dieser Name dann tiefer eingegraben als die übrige Schrift. Aber warum hat Thutmo-sis das getan?«
»Ach, wissen Sie«, sagte Dr. Brugsch, »die Pharaonen waren auch nur Menschen, sie hatten genau wie wir ihre Sorgen und Probleme, auch Eheprobleme. Der dritte Thutmosis, zum Beispiel, war Hatschepsuts Stiefsohn, das Kind ihres Mannes mit einer Nebenfrau namens Isis. Das hat der Bedauernswerte während ihres ganzen Lebens zu spüren bekommen. Sie unterdrückte ihn, wo sie nur konnte, obwohl er als einziger Anspruch auf den Thron hatte. Das hat auch die Liebe der beiden nicht gerade gefördert.«
»Sie war eben eine edle Dame mit Anstand und Moral.« »Anstand und Moral?« Brugsch lachte laut. »Made-moiselle, ich glaube, ich muß Ihnen die Augen öffnen. « Er faßte die dunkelhäutige Selima am Arm und führte sie vor ein Relief. »Sehen Sie sich diesen netten Mann an!« »Könnte mir gefallen«, lachte Selima, »wirklich.« »Hatschepsut fand auch Gefallen an ihm«, meinte Brugsch, »mehr noch . . .«
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Hatschepsut...« »Doch. Wie anders wäre es zu erklären, daß dieser Senen-mut, der sich selbst, hier steht es, >der Größte von allen< nannte, daß dieser Senenmut auf allen Reliefs - wenn auch manchmal winzig klein - auftaucht? Dort drüben und hier, überall. Dabei galt es als Sakrileg, wenn ein Nichtmitglied des Königshauses bei Opferhandlungen auftauchte oder auf Wandbildern verewigt wurde.«
Selima dachte nach. »Meinen Sie, Hatschepsut hat das absichtlich getan? Sie muß es doch erlaubt haben, daß dieser Mann überall abgebildet wurde. Oder konnte er Hatsche-psut überlisten?«
Brugsch hob die Schultern. »Denkbar wäre das schon. Schließlich führte er die Bauaufsicht. Er ging in diesem Bauwerk nicht ohne Raffinesse vor. Bei allen Türdurchgängen, die wir bisher ausgegraben haben, verewigte sich Senenmut an der Innenseite, hier zum Beispiel. Standen die Türen offen, so war sein Name verdeckt, wurden sie geschlossen, konnte man seinen Namen lesen; aber nur von innen. Und im Innern des Tempels durfte sich außer den Priestern ohnehin nur die Königin aufhalten.«
Das Gespräch wurde von Anthony Harris unterbrochen, der sich entschuldigte, er wolle noch nach el-Kurna, ein Fellache habe ihm ein mysteriöses Angebot unterbreitet, einen Papyrus, den müsse er sich ansehen. »Und ich dachte, Sie würden mit uns an Bord der >Sama-noud< dinieren«, sagte Mariette.
Harris bedankte sich und bat, seine Adoptivtochter mit auf das Schiff zu nehmen, er selbst werde später nachkommen. Brugschs Angebot, ihn nach el-Kurna zu begleiten, schlug er aus, er habe fest zugesagt, allein zu erscheinen: »Sie wissen selbst, wie mißtrauisch diese Leute sind!« Mariette gab zu bedenken, daß die Dunkelheit bereits hereinbreche, und drängte den Engländer, wenigstens seine Flinte mitzunehmen. Aber Harris argumentierte, ein Gewehr in der Hand könnte die Grabräuber höchstens nervös machen und zu Kurzschlußhandlungen verleiten. Außerdem gehe er nicht zum erstenmal einen solchen Gang, und bisher sei es noch nie zu Gewalttätigkeiten gekommen. Während die Dämmerung an dem Felsenkessel von Der el-Bahari emporkroch, entfernte sich Anthony Harris in Richtung el-Kurna. Er schlich um das Dorf herum, um kein Aufsehen zu erregen, und gelangte in der Dunkelheit zu der bezeichneten Stelle. Dann schlug er die südliche Richtung ein und zählte seine Schritte. Plötzlich tanzte vor ihm der Lichtschein einer Laterne. Deutlich vernahm er das Entsichern eines Gewehres. Er blieb stehen. »Mister Harris?« fragte eine Stimme. »Ja.«
»Sind Sie allein und unbewaffnet?« »Ja.«
»Kommen Sie näher.«
Harris tat, wie ihm geheißen, schritt auf den Lichtschein zu, da tauchte vor ihm ein Araber in einem langen Gewand auf. Er trug einen Turban und hatte das Gesicht bis auf die Augen vermummt - eine gespenstische Erscheinung im Schein der Laterne. »Kommen Sie«, sagte die Stimme. Der Araber ging voraus, ließ Harns im Gehen aber nicht aus den Augen. Vor einem etwa sechs bis sieben Meter tiefen Krater blieb er stehen und leuchtete nach unten. Steine polterten laut durch die Finsternis, als der Araber und Anthony Harris in den Krater hinabrutschten. »Ich habe
Sie hierher bestellt, weil Sie sehen sollen, wo wir unseren Fund gemacht haben«, sagte der Unbekannte, »man erzählt, Sie kaufen keine Papyrusrollen, deren Herkunft unbekannt ist.«
»Das ist richtig«, sagte Harris. Das Geschäftsgebaren des Arabers gefiel ihm. Gebückt schlüpften beide in einen Höhleneingang. Harris hatte ein kostbares Grab erwartet; die bis auf einen Steinblock leere Grotte ließ bei dem Engländer Zweifel an der Bedeutung des angekündigten Fundes aufkommen.
Der Araber stellte die Laterne auf den Boden, sie warf den Schatten der beiden Männer überdimensional an die Wand. »Als wir diese Höhle entdeckten, sah es hier nicht viel anders aus als jetzt«, sagte der vermummte Unbekannte, »ein paar Mumiengewänder und Knochen. Aber dann fanden wir das hier.«
Jetzt erkannte auch Harris den Stapel Papyrusrollen neben dem Stein, vielleicht zwanzig Stück. Harris kniete sich in den Staub, rollte jeden einzelnen Papyrus auf und hielt ihn in das Licht der Laterne. Bis auf zwei, die Hieroglyphen trugen und auf den ägyptischen Totenkult Bezug nahmen, waren alle in hieratischer, also der volkstümlichen Schrift geschrieben. Die größte Rolle erregte das meiste Interesse des Sammlers, weil es der besterhaltene und schönste Papyrus war, den Harris je gesehen hatte.
»Vierzig Meter«, sagte der Araber beinahe teilnahmslos, »zweihundert Pfund.«
Harris trat der Schweiß auf die Stirne, er schob den Tropenhelm in den Nacken. Schon die ersten Zeilen verrieten einen hochbrisanten Inhalt: Ramses III. berichtete von seinen Großtaten in Theben, Heliopolis und Memphis, ein unschätzbares historisches Dokument. 250 Pfund betrug die gesamte Barschaft, die Harris in einem Lederbeutel um den Hals trug. Die Teilnahmslosigkeit, mit der der Unbekannte seine Forderung geltend gemacht hatte, brachte den Engländer zu der Überzeugung, daß Feilschen zwecklos sei. »Und was kosten die übrigen Rollen?« fragte er beinahe zaghaft. »Zehn Pfund, jede.«
Harris griff in sein Wams, fingerte die 250 Pfund hervor und sagte: »Ich nehme den großen und fünf kleine. Den Rest hole ich morgen ab.«
»Morgen bin ich nicht mehr da, und die Schriftrollen sind auch verschwunden. Wollen Sie mir eine Falle stellen?« »O nein«, beteuerte Harris, »aber ich habe nicht mehr als 250 Pfund bei mir!«
Da bückte sich der Araber, schob dem Engländer die große und fünf weitere Rollen hin, hielt die Hand auf und sagte fordernd: »Na und?« Nachdem Harris ihm das Geld gegeben hatte, sammelte der Unbekannte die übrigen Schriftrollen ein und verschwand wortlos durch den Höhleneingang, die Laterne ließ er zurück. Der Engländer folgte ihm mit dem Licht, aber noch ehe er den Kraterrand erklommen hatte, war der Araber spurlos in der Dunkelheit untergetaucht.
Anthony Harris nahm denselben Weg, den er gekommen war, um zu vermeiden, daß ihm ein Fellache aus el-Kurna begegnete. Dazu mußte er den schmalen Pfad am Fuße des Felsenkessels entlanggehen - ein kleiner tanzender Lichtpunkt in einem dunklen unendlichen Meer von Steinen. Von der Höhe des Felsenmassivs löste sich eine Steinlawine, schlug krachend im Talkessel auf, ein seit Jahrtausenden immer wieder zu beobachtender Vorgang, wenn sich der von der Sonne des Tages erhitzte Fels in der Nacht abkühlte. Der Hat-schepsut-Tempel wurde so ohne fremde Einwirkung im Laufe von über 3000 Jahren verschüttet. Harris blieb stehen. Seine Augen bohrten sich in die Nacht. Vor ihm polterten die Steine in die Tiefe, klatschten in den Sand, blieben liegen, Geröll rauschte hinterher, dann Stille. Plötzlich, nahezu lautlos, sauste ein Felsbrocken, ei-nen halben Meter im Durchmesser, an seinem Kopf vorbei. Harris begann zu laufen, die Laterne flackerte bedrohlich, aber es schien, als liefe er geradewegs in eine zweite Steinlawine hinein. Also machte er kehrt, schlich vorsichtig zurück - aber das Inferno begann auch dort: Gesteinsbrocken sprangen mit unheimlicher Geschwindigkeit in die Tiefe, Schuttmassen folgten hinterher.
Als es für einen Augenblick still war, glaubte Anthony Harris, halblaute Kommandos von der Kuppe des Felsenkessels zu hören. Er wollte rufen, sich bemerkbar machen, aber da prasselte schon wieder Geröll von oben, geradewegs auf ihn zu. Harris hastete nach vorn, wich einem Sandbach aus, sprang zurück, ein Stein prallte gegen seinen Helm. Da waren sie wieder, die Kommandos, kein Zweifel, dieses Inferno war kein Zufall, dies war ein Anschlag auf sein Leben. Harris war zwischen die Fronten rivalisierender Grabräuber geraten. Sein Herz schlug bis zum Hals, das Blut pochte in den Schläfen. Instinktiv setzte er die Laterne auf den Boden, zog den Kopf ein und rannte, die Papyrusrollen mit beiden Armen fest umklammernd, irgendwohin, nur heraus aus dieser Falle.
Dabei stolperte er über einen Stein, stürzte, die Schriftrollen purzelten irgendwohin in die Dunkelheit, auf allen vieren kriechend tastete Harris nach seinen Kostbarkeiten, sammelte alle sechs Papyri wieder ein, erhob sich und hastete weiter, bis er sich außerhalb der Gefahrenzone glaubte. Da hielt der Engländer inne und drehte sich um: Stille. Plötzlich wie es gekommen war, hatte das Stein- und Geröllgewitter aufgehört. Friedlich flackerte in einiger Entfernung die Laterne. Da fiel ein Schuß, und die Laterne verlosch. Gespenstisch schallte das vielfache Echo von den Felswänden.
»Wie sehen Sie denn aus!« rief Mariette, als Anthony Harris bleich und verdreckt über die Brücke auf das Schiff torkelte. »Sind Sie verprügelt worden, Monsieur?«
Harris blieb schwankend vor dem an Deck aufgestellten Tisch stehen, um den herum Selima und die beiden Ausgräber saßen. »Nein, nein, alles in Ordnung«, sagte der Engländer und trat ans Licht. »Kommen Sie, essen Sie etwas«, sagte Mariette, »was möchten Sie trinken?« Als hätte er die Frage nicht gehört, schob Harris wortlos an der einen Seite des Tisches Schüsseln und Teller beiseite. Dann ließ er die Schriftrollen aus seinem linken Arm auf die Tischplatte kullern. Mariette und Brugsch kamen näher. »Ich habe schon vieles erlebt«, begann Harris, während er jeden einzelnen Papyrus aufrollte, »ich habe mich mit Grabräubern in dunklen Gassen und Spelunken getroffen, ich habe in einer Höhle bei Siut der Mumie des griechischen Grammatikers Tryphon einen Papyrus aus der Hand gewunden, Angst hatte ich dabei nie. Aber ich muß gestehen, heute habe ich um mein Leben gefürchtet.« Und dann erzählte er von dem mysteriösen Anschlag im Felsenkessel von Der el-Bahari.
»Ist der aus einem Stück?« fragte Heinrich Brugsch und deutete auf die dicke Schriftrolle. Harris nickte: »Jedenfalls wurde es mir versichert, angeblich ist er vierzig Meter lang.« Mariette pfiff durch die Zähne. Brugsch sagte: »Meine Herren, die Länge einer Schriftrolle ist nicht so wichtig wie der Inhalt!«
Harris faßte die Hand seiner Tochter Selima und legte sie auf das eine Ende der Papyrusrolle, dann rollte er das Schriftstück auf. Gebannt starrten alle auf die hieratischen Schriftzeichen. Jeder versuchte irgendeine Zeile zu entschlüsseln, murmelnd bewegten sich die Lippen. Brugsch, der die Schrift am besten beherrschte, war den beiden anderen weit voraus. Natürlich konnten die Forscher nicht darangehen, den Papyrus von vorn bis hinten zu lesen. Eine solche Übersetzung nahm oft viele Jahre in Anspruch. Aber Anhaltspunkte und Details ließen sich erkennen.
»Was meinen Sie, Mister Brugsch?« fragte Harris. Brugsch reagierte nicht, rollte den Papyrus immer weiter auf und glitt mit den Fingern seiner Rechten über die Zeilen, Mariette rollte den Anfang wieder auf. Die Diener erneuerten die Windlichter; die Taue, mit denen die »Samanoud« festgemacht war, knarzten; ein Krokodil glitt platschend ins Wasser; es war lange nach Mitternacht, aber keiner in der Runde wollte an Schlaf denken. Brugsch murmelte, beeindruckt von dem Gesehenen, in Abständen immer wieder: »Man kann Ihnen nur gratulieren, Mister Harris. Wirklich, man kann Ihnen nur gratulieren.«
Der große Papyrus, das wurde im Lauf dieser Nacht deutlich, war ein Rechenschaftsberic ht, den der dritte Ramses im 32. Jahr seiner Regierung, also kurz vor seinem Tod, diktiert hatte. Ramses nannte voll Stolz die Leistungen für die theba-nischen Götter, deren Tempelpriester 400000 Stück Vieh, 100000 Bedienstete und alle Goldminen Nubiens in Besitz hatten.
Brugsch machte sich auf seinem Zettel Notizen. Plötzlich warf er den Bleistift auf den Tisch. »Hören Sie sich das an«, rief er erregt: »Das Land Ägypten wurde umgestürzt von außen her, es gab kein Oberhaupt viele Jahre hindurch. Jeder erschlug seinen Nächsten. Und es kamen andere Zeiten, danach in leeren Jahren, da wurde ein Syrer König, er machte das ganze Land tributpflichtig und plünderte zusammen mit seinen Genossen allen Besitz. Sie machten die Götter gleich wie Menschen, und in den Tempeln wurden keine Opfer mehr dargebracht. ..«
Brugsch und Mariette sahen sich an, staunten. »Ich glaube langsam, es hat viel mehr Pharaonen gegeben als alle Chroniken aufführen«, sagte Mariette und schüttelte den Kopf: »Mir scheint, ein jeder hat die, die ihm nicht genehm waren, einfach weggelassen.«
Über den Papyrus gebeugt, stützte Brugsch die Arme auf die Oberschenkel. »Das scheint mir auch so. Unsere Arbeit wird dadurch nicht gerade einfacher. Wenn wir dem dritten Ramses glauben wollen, dann heißen seine rechtmäßigen Vorgänger Merenptah, Sethos II. und Sethnacht. Schön und gut. Nur, zum Teufel, kann mir dann ein Mensch erklären, warum Amenmesse Siptah und seine Frau Tausret, die nachweislich vor Ramses III. lebten, Pharaonengräber im Tal der Könige erhielten?«
»Was sagt eigentlich der ägyptische Historiker Mane-thos?« erkundigte sich Harris.
Brugsch lächelte verschmitzt: »Der nennt als Nachfolger Merenptahs einen Amenmesse und einen Thuoris.« »Thuoris«, wiederholte Mariette nachdenklich und kritzelte Namen auf ein Papier. »Könnte er nicht Tausret meinen und ihren Mann Siptah einfach vergessen haben? Dann würde die Reihenfolge lauten: Merenptah, Amenmesse, Sethos II., Siptah, Tausret, Sethnacht, Ramses III.« »Ob dieses Puzzlespiel wohl jemals gelöst werden könne«, fragte zweifelnd Anthony Harris. »Ich bin ganz sicher, Mister Harris«, sagte Heinrich Brugsch. »Wir stehen doch erst am Anfang unserer Wissenschaft!«
»Phantasia« - welch ein Zauberwort! Dieses vergnügungssüchtige 19. Jahrhundert ließ keine Gelegenheit aus, die neue Zeit in alter Pracht zu verherrlichen. So ein Fest, für das sich immer ein Anlaß fand, nannte man im Orient Phantasia. Die Phantasia in Kairo, zu der Mariette und Brugsch geladen waren, fand zur Einweihung der neugegründeten Festung des Vizekönigs statt, die seinen Namen trug: Saidia. Gleichzeitig feierte Said Pascha seinen 37. Geburtstag. Für Mariette und Brugsch war es ein Abschiedsfest; denn der Deutsche trug bereits eine Schiffspassage in der Tasche. Nach einem letzten Brief seiner jungen Frau Pauline hatte Brugsch sich Hals über Kopf entschlossen, sein Ausgräberdasein aufzugeben und - wie er sagte - in seinen vier Wän-den einzig und allein der Wissenschaft und seiner Familie zu leben. Er hatte das Gold des Paschas kaum angegriffen und träumte davon, zu Hause in Berlin ein eigenes Haus zu kaufen.
Die Flotte des Vizekönigs, bestehend aus 13 Dampfschiffen und 19 Schleppkähnen, beladen mit Kanonen, Pferden, Kamelen, Maultieren und Mannschaften, fuhr festlich beflaggt und glanzvoll herausgeputzt von Kairo nilabwärts, um an der Stelle zu ankern, wo der Nil sich in die beiden Hauptarme des Deltas gabelt. Auf dieser Landzunge hatte der Pascha die aus fünf Bastionen bestehende Festung errichtet. Für die Gäste der Phantasia hatte man eigene Schiffe eingesetzt. Die beiden Freunde standen an der Reling und ließen das festlich geschmückte Kairo und seine jubelnden, winkenden Bewohner am Flußufer an sich vorüberziehen. Beide litten unter dem Augenblick. Fünf Jahre hatten sie mehr oder weniger zusammengearbeitet, zu Beginn mühsam und armselig, zum Schluß aufwendig und unter idealen Voraussetzungen - in jedem Fall erfolgreich. Und - sie hatten sich schätzengelernt, jeder den anderen, der doch so ganz anders war.
Wollen Sie sich das alles nicht noch einmal überlegen, mon ami, hätte Mariette am liebsten gefragt. Doch es war unsinnig, einem Mann wie Brugsch diese Frage zu stellen, also ließ er es, redete Belangloses: »Böse Zungen behaupten, die Regierung beabsichtige, ihren Beamten die Besoldung für sechs Monate vorzuenthalten - so teuer ist die Phantasia.« Brugsch mühte sich ein Lächeln ab: »Ich hoffe nur, Ihr Etat leidet nicht darunter. Sie dürfen nicht auf halbem Weg haltmachen, jetzt, wo der Erfolg sich abzeichnet.« »Nein, gewiß nicht«, sagte Mariette, »Said Pascha ist noch mein Freund.«
Es war noch früh am Tag, aber an der Landzunge herrschte bereits ein dichtes Menschengewühl. Zelte waren aufgebaut zur Unterbringung der Soldaten und Offiziere.
Dazwischen Maultiere und Pferde zur Bespannung der Geschütze. Aufgeregt liefen Paschas und Beys durcheinander, brüllten abgehackte Kommandos, und die Kawassen des Vizekönigs ließen ihre Stöcke tanzen, um den Befehlen mehr Nachdruck zu verleihen.
An den Festungsmauern lehnten zerbrechliche Holzgerüste, wie Weihnachtsbäume mit Tausenden Glaslampen bestückt zur abendlichen Festbeleuchtung. Bunte Lampions baumelten in den Toren der Bastionen, von irgendwoher schallte orientalische Musik und verlie h dem Ganzen einen märchenhaften Zauber. Der herbe Geruch von Esel- und Pferdemist vermischte sich mit dem süßlichen Qualm, der von den tragbaren Kupferöfen der Nüsseröster aufstieg. »Ich werde diesen Zauber vermissen«, sagte Brugsch, als sie das Schiff verließen, »schließlich bin ich schon ein halber Orientale geworden.«
»Wenn Sie mich fragen -«, Mariette lächelte, »entweder man kommt einmal und nie wieder in dieses Land, oder man kommt nicht mehr los davon. Mon cher, ich nehme jede Wette an, daß Sie zurückkommen!« Der Preuße schüttelte den Kopf, seine Augen wurden feucht, da schwieg Mariette.
Die begehrtesten Kunsthandwerker des Landes hatten für den Vizekönig Said einen hölzernen Pavillon errichtet, bunt und glänzend wie ein orientalisches Märchenschloß. Französische Kunstreiter und maghrebinische Akrobaten präsentierten in einem offenen Zirkus ihre artistischen Darbietungen. Eine ganze Kompanie vizeköniglicher Köche bereitete in der riesigen Feldküche duftende Gerichte zu. In Hunderten glitzernder Kessel und Pfannen brodelten, bruzzelten und brieten exotische Speisen. 2i Kanonenschläge zerrissen die Luft. Die Unruhe der Menschen steigerte sich. Zwanzig bis zu den Zähnen bewaffnete, schwarzhäutige Eunuchen schirmten mit Teppichen einen Weg von der Anlegestelle zum Pavillon des Paschas ab; denn soeben machten die Dampfer mit dem vizeköniglichen Harem fest. Man reckte die Hälse, um über die Teppichwände irgend etwas von den Freuden des Khediven zu erspähen. Doch der erste, der dem Schiff entstieg, war der vieijäh-rige Sohn des Landesfürsten Tussun Pascha. Er trug die große Generalsuniform und drückte furchtsam die Hand seiner französischen Erzieherin. Dahinter, in gebührendem Abstand, der gesamte Harem, schwarz verhüllt. Die Schiffe legten ab, machten anderen Dampfern Platz; ihnen entstiegen die moslemischen Gelehrten und Priester, nach Rang und Namen geordnet, kenntlich durch vorangetragene Fahnen mit eingestickten Koranversen. Ihre Kleidung war einheitlich: Sie trugen einen seidenen, hellen Kaf-tan, auf dem Kopf hochaufgestülpt einen Turban, kostbare Kaschmirschals hingen über ihre Schultern. Die würdigen Schritte der Gelehrten begleiteten Trompeter der ägyptischen Kavallerie mit arabischen Melodien, wild attackiert von einer Infanteriekapelle, und schließlich brachten noch die Baschi-Bosuks ihre Pfeifen, Trommeln und Pauken zum Einsatz - ein nicht zu überbietender Lärm. Drei Bataillone Schützen und Infanterie, darunter ein Bataillon Schwarzer, eine Schwadron Ulanen mit blanken Helmen und gelb-rotem Federstutz, in denselben Farben die seidenen Fähnchen an ihren Lanzen, eine Schwadron Husaren mit Bärenfellmützen, eine Schwadron Kürassiere in gelben Kürassen mit silbernem Stern und gelbem Helm mit rotem Haarkamm, Pferde mit dunkelblau seidenem Zaumzeug und silbernen Beschlägen, verwegene Reiter in schwarzen Kaipaks mit roten Haarbüscheln, sie alle nahmen um den Pavillon des Khediven Aufstellung. Ein grellbuntes, verwirrendes Bild: Die roten Röcke, blauen Hosen und weißen Turbane der ersten Schwadron, die grünseidenen Kaftans, orangefarbenen Dolmans und meterhohen Hüte aus roter Seide des zweiten Haufens, dazwischen grünseidene Standarten mit Gold bestickt.
»Effendimiz tschak jascha!« schallte türkisch der Ruf der angetretenen Truppen, »unser Herr lebe hoch!« Die frommen Väter der moslemischen Weisheit traten vor, um dem Pascha im Pavillon ihre Glückwünsche im Namen Allahs zu überbringen. Darauf folgten die Generäle und Militärs und schließlich die übrigen geladenen Gäste, Paschas, Beys und Diplomaten.
»Ihr Freund macht aber nicht gerade den glücklichsten Eindruck«, flüsterte Brugsch seinem Begleiter Mariette zu, während sie in der langen Schlange eingereiht auf die Hand des Khediven warteten. Der saß zur huldvollen Entgegennahme der Honneurs auf einem gold-roten Thron in schneeweißer arabischer Kleidung, nur die Lackstiefel an seinen Füßen verrieten französischen Geschmack. Said reichte gelangweilt die Hand zum Kuß und machte bisweilen zu seinem Hofstaat eine ironische Bemerkung. »Ah, meine Herren Maulwürfe«, sagte der Vizekönig, als Mariette und Brugsch vor ihn hintraten.
Als sich der Abend über die Festung Saidia senkte, erstrahlte der Nil in feenhaftem Lichterschimmer. Ufer und Brücken wurden von abertausenden Lämpchen umrahmt, ihr Widerschein tanzte in den träge dahinströmenden Fluten. Rot und gelb leuchteten auch die Lampen an den Mauern der Bastionen, und im Innern der vornehmen Zelte entzündeten rotgekleidete Sklaven die Kerzen der riesigen Glaskandelaber. Auf kostbaren Teppichen hockten 30 Ulama, moslemische Priester, und sangen mit näselnder Stimme Suren des Koran, Vorspiel für die große Hoftafel. Unter hundert ausgewählten Gästen, nur Männer, saßen Mariette und Brugsch an der halbmondförmigen Tafel des Khediven in einem glanzstrahlenden Zelt. Neben Said Pascha hatte Eisenbahn-Direktor Nubar Platz genommen, obwohl Armenier und Christ, ein erklärter Liebling des Vizekönigs. Mit größter Selbstverständlichkeit übernahm Nubar die undankbare Aufgabe, die aufgetragenen Gold- und Sil-berschüsseln zu entsiegeln und ihren dampfenden Inhalt vor-zukosten. Nach ein paar denkwürdigen Sekunden des Wartens legte der Armenier dem Khediven die Speisen vor. Mariette, Brugsch und die übrigen Gäste blieben von derlei Komplikationen verschont, sie aßen, was auf den Tisch kam. Neben Brugsch hatte Ismail Pascha Platz genommen, etwa im gleichen Alter wie der Preuße, von edlen Gesichtszügen, gepflegtem Haar und blaugrünen Augen - ein intellektueller Träumer, kaum beachtet in der erlauchten Runde. Alles hätte Brugsch sich vorstellen können, nur nicht, daß dieser Mann der Drahtzieher der Eisenbahnkatastrophe von Kafr el Zayat gewesen sein könnte. Die beiden kamen schnell ins Gespräch, und natürlich kannten sie nur ein Thema: Paris. Der junge Pascha hatte ebenso wie der preußische Ausgräber in der französischen Hauptstadt studiert. Warum sich die beiden dort nie begegnet waren, wurde klar, als Ismail berichtete, wie die Professoren zu ihm in das Hotel kamen, wo er zu logieren pflegte. Außerdem besuchte Ismail die Kriegsakademie, die Brugsch nicht einmal von außen kannte. Der Tod seines Vaters im Jahr 1848 hatte Ismail zum Abbruch seines Studiums gezwungen, und seit Saids Thronbesteigung wurde Ismail zunehmend mit diplomatischen Aufgaben betraut. Er galt als bescheiden, sparsam, fast geizig. Seine Zuckerfabrik warf reiche Erträge ab, die Baumwollpflanzungen in seinem Besitz wurden ob ihrer hohen Qualität gerühmt. Ismail bedauerte die Rückkehr des Berliner Forschers. Schließlich könne er jederzeit seine Frau mit nach Ägypten bringen. Brugsch versprach, zu Hause in Berlin, darüber nachzudenken.
Sie waren erst beim dritten Gang angelangt, als sich der Vizekönig erhob und die Tafel beendete; man drängte zum Ausgang - Kanonenschüsse donnerten durch das Dunkel der Nacht, Leuchtkugeln knatterten himmelwärts, Signale für das angekündigte Feuerwerk.
Drei Wochen lang hatte ein französischer und ein österreichischer Feuerwerker Gerüste aufgebaut und Explosionskörper aufgestellt; doch nun gab der ermüdete Khedive Befehl, den Feuerreigen zu beschleunigen. Was jetzt eilig krachte, zischte, sprühte, knatterte und pfiff, ließ keine der vorbereiteten Feuererscheinungen und Figuren erkennen. Eigentlich hätte das Feuerwerk die halbe Nacht dauern sollen, nun war es in einer Viertelstunde verraucht. Said Pascha war inzwischen mit seinem Dampfschiff abgereist. Während die Militärs am Ort in ihren Lagern zurückblie -ben, bestiegen die Festgäste die Schiffe nach Kairo. Mariette und Brugsch standen an Deck und ließen sich den kühlen Nachtwind ins Gesicht wehen. Keiner sagte ein Wort. Vom Ufer hörte man Rufe »La illah il'allah! - Es gibt keinen Gott außer Allah!« Die beiden starrten in die Dunkelheit. Und keiner konnte sehen, daß dem anderen die Tränen in den Augen standen.