V. Der schleichende Tod

Professor Lepsius wanderte mit dem Zeigefinger über die Hieroglyphen und bewegte, kaum merklich, die Lippen. Sein Assistent wagte nicht, ihn zu unterbrechen, er wagte nicht einmal, die getötete Schlange fortzuschaffen, er spürte nur, daß Lepsius auf etwas ungeheuer Wichtiges gestoßen sein mußte.


»Brugsch, mon ami!« rief Auguste Mariette, daß es über den Bahnsteig hallte. Die Eisenbahn von Alexandria war soeben zischend und prustend eingefahren. Ein wildes Durcheinander von Reisenden, Wartenden, Gepäckträgern und Händlern herrschte; dazwischen zwei Männer, die sich, mit Tränen in den Augen, umarmten.

»Habe ich es nicht gesagt«, wiederholte Mariette immer wieder, »habe ich es nicht gesagt: Sie kommen wieder!« Brugsch nickte verlegen, schob seine Frau Pauline vor sich her und seinen jüngeren Bruder Emil und sagte leise: »Das ist Mariette, mein Freund Mariette.« Der Riese drückte den beiden die Hand, daß es schmerzte, und zu der Frau an seiner Seite sagte er: »Eleonore, mein Freund Brugsch, seine Frau, sein Bruder Emil!«

Mit ein paar Handbewegungen dirigierte der Franzose eine Schar von Lakaien, die sich um das Gepäck der Ankommenden kümmerten. Als sie in das quirlige Leben des Bahnhofsplatzes traten, wo eine eigens für sie geschmückte Kutsche auf sie wartete, meinte Mariette an Pauline gewandt: »Wie schön, daß Sie Ihren Mann begleiten, ohne Sie würde er es wohl nicht lange aushaken.«

»Es war nicht einfach, Pauline zu überzeugen, es kostete meine ganze Überredungskunst«, erwiderte Brugsch, »ich mußte sogar versprechen, auf Ausgrabungen zu verzichten .. .«

Mariette fiel seinem Freund ins Wort: »Aber darüber ist sicher noch nicht das letzte Wort gesprochen! Wenn Madame Brugsch erst einmal die Pyramiden gesehen hat, Luxor und das Tal der Könige - wird sie ihre Meinung sehr schnell ändern.«

Pauline versuchte zu lächeln. Brugsch fügte hinzu: »Vorausgesetzt, mein Amt läßt mir überhaupt Zeit dazu.« Das Amt, von dem der Preuße sprach, war ehrenhaft, und Heinrich Brugsch hatte keinen Augenblick gezögert, als man ihm antrug, das preußische Konsulat in Kairo zu übernehmen. Er hatte in Berlin alle Zelte abgebrochen, und das vorgesehene Jahresgehalt versprach ihm, Ehefrau Pauline und Bruder Emil ein gesundes Auskommen - Brugsch glaubte das jedenfalls.

»Gewiß werden Sie viel zu tun haben«, meinte Mariette. »Ägypten hat sich sehr verändert seit Ihrer Abwesenheit. Das Baumwollfieber hat Spekulanten aus aller Welt ins Land gelockt. Jetzt, da der ganze Spuk vorbei ist, versucht einer den anderen zu übervorteilen. Sie werden es kaum für möglich halten, die Preise in Kairo stehen kaum hinter Berlin zurück. Früher, Sie wissen es, bezahlten wir mit Piastern, und große Ausgaben kosteten ein paar ägyptische Pfunde, heute könnte man meinen, die Landeswährung bestehe aus Napoleons d'or und englischen Pfunden.«

»Vor allem die Mieten haben eine Rekordhöhe erreicht«, bekräftigte Brugsch, während er seiner Frau in die Kutsche half, »ich mußte für das Konsulat, eine Fünf-Zimmer-Wohnung, umgerechnet 3370 Thaler und 20 Groschen Abstandsgeld zahlen.«

»Ja, sind Sie denn verrückt?« schrie Mariette, »wofür denn?«

»Kein Mensch räumt heute bei dieser Wohnraumknappheit seine Behausung freiwillig; es sei denn, Sie sind bereit, ein sogenanntes Abstandsgeld zu entrichten.« Brugsch hob die Schultern. Die Kutsche näherte sich dem Esbekija-Garten. »Ganze Straßenzüge«, staunte der Preuße, »sind nicht wiederzuerkennen! Wo ist das alte, exotische Kairo?« Und an seine Frau gewandt: »Schau nur, Pauline, ist es nicht beinahe wie in Berlin? Ich glaube, du wirst dich hier wohl fühlen.« Aber Pauline schwieg.

Das angemietete Konsulat lag an der Sharia el-Muski im ersten Stock eines vornehmen Hauses, das auch die Büroräume mehrerer Außenhandelsfirmen beherbergte. Hinter dem von Säulen flankierten Eingangsportal saß ein livrierter Türsteher in einem an der Vorderseite verglasten Holzkasten und wachte über die Ein- und Ausgehenden. »So vornehm logiere ich nicht, mon ami«, meinte Mariette spöttelnd, als er hinter den Deutschen die weiße Marmortreppe mit dem kunstvoll geschmiedeten Gitter emporging. »Dafür gedeiht vor unserem kleinen Häuschen in Bulak jetzt ein entzückender Garten, es wachsen sogar Palmen, Agaven und Kakteen, Eleonores ganzer Stolz.« Madame Mariette faßte Pauline an der Hand und sagte: »Sie müssen uns gleich morgen besuchen. Jetzt, an den lauen Septemberabenden, wenn die Glaslampen zwischen den Palmen leuchten, ist es wirklich ganz bezaubernd. Sie kommen doch?«

»Aber gewiß doch«, versprach Pauline, »ich bin neugierig, den Schmuck der Königin Ahotep zu sehen. Die ganze Welt spricht davon . . .«

»Ich werde Ihnen den Schmuck umlegen, Madame«, erwiderte Mariette, »Sie werden sich fühlen wie eine ägyptische Königin vor mehr als dreitausend Jahren.« Emil, um 15 Jahre jünger als sein Bruder Heinrich, war fasziniert von der Persönlichkeit des hünenhaften Franzosen. Heinrich hatte den Bruder mit nach Ägypten gebracht, um ihn unter Kontrolle zu haben; denn »der kleine Brugsch« - wie er überall genannt wurde - stand stets mit einem Fuß im Gefängnis. Gelernt haue er Kaufmann, aber nach einer undurchsichtigen Betrugsaffäre war er nach Südamerika ausgewandert und hatte sich als Schauspieler durchgeschlagen - ein Lebenskünstler.

Die Wohnung der Familie Brugsch war geräumig und komfortabel möbliert. Der größte Raum gleich neben dem Entree diente als Konsulatskanzlei. Auf Brugsch wartete ein prunkvoller Schreibtisch. Während Lakaien Koffer und Reisekisten heraufschleppten, lehnten Brugsch und Mariette an diesem Schreibtisch und wurden nicht müde, in Erinnerungen zu kramen.

»Wenn ich an meine ersten Jahre in Ägypten denke« - Mariette lachte - »dann begreife ich es eigentlich bis heute nicht, wie ich es mutterseelenallein mitten in der Wüste ausgehalten habe.«

Auch der Preuße amüsierte sich: »Aber Sie konnten sich doch über mangelhaften Komfort nicht beklagen, wenn ich an das Duschbad in der Wüste denke ...«

»... und an das Dinner im Stiersarkophag .. .«

»... und an meine Schlafstube neben der Mumie Chaemweses ... «

Die Männer schlugen sich vor Vergnügen auf die Schenkel, ihr Gelächter hallte durch die Räume, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatten.

Der Bote ließ sich nicht abweisen, obwohl Omar drohte, ihn über die Treppen des Maison hinabzuwerfen: »Die Hakima muß kommen, und zwar sofort, unten wartet die Kutsche!« Seit Lady Gordon eine Frau des Mudir mit Chinintabletten vom Fieber geheilt hatte, galt Lucie als Hakima, als Ärztin, und es wurden ihr beinahe magische Fähigkeiten nachgesagt. Der nächste Arzt, das nächste Hospital, waren 60 Kilometer entfernt in der Provinzhauptstadt Kena.

Obwohl es schon spät war, hielt Lucie ihren Diener zurück und erkundigte sich nach dem Begehr des Boten. »Bitte, Hakima, kommen Sie schnell«, flehte dieser, »der kleine Sohn von Scheich Yussuf ist umgefallen. Er liegt da mit offenen Augen und offenem Mund, seine Lippen sind blau und die Hände kalt. Wenn Sie nicht kommen, muß er sterben! Bitte!«

Die Cholera! Für Lady Duff Gordon gab es keinen Zweifel. Obwohl sie auch nicht wußte, wie sie dem kleinen Yussuf helfen sollte, schulterte sie ihre Tasche mit der Hausapotheke, dem kostbarsten Besitz in dieser gottverlassenen Gegend. Sie hatte selbst panische Angst, jener unberechenbaren Seuche zum Opfer zu fallen, und es kostete sie viel Überwindung, zu dem Boten in die Kutsche zu steigen. Dieser knallte dem Esel die Peitsche auf den Rücken, und das Grautier trabte mit dem Wagen durch die menschenleeren Straßen. Was sollte sie nur tun? Es gab kein Mittel gegen Cholera, die seit dreißig Jahren immer wieder von Indien westwärts vordrang und Hunderttausende dahinraffte. Meist schleppten Mekka-Pilger die Seuche ein. Chinin, das weiße kristalline Wunderpulver aus Chinarinde, war das einzige Mittel, das Lucie zur Verfügung stand. Damit behandelte man schon seit Jahrzehnten Malaria, Herzrhythmusstörungen und Lungenentzündung. Scheich Yussuf küßte der Engländerin die Hände, er weinte und stammelte: »Er darf nicht sterben, Hakima, er darf nicht sterben. Meine Felder, meine Tiere, alles soll Ihnen gehören, aber Yussuf darf nicht sterben!« Lucie, die sich gerne nach außen hin kühl gab, um ihr verletzbares Inneres abzuschirmen, schluckte. Die Verzweiflung des Scheichs drohte ihre Kehle zuzuschnüren. Als sie den kleinen Jungen erblickte, der zusammengekrümmt auf einem Polster lag, wußte Lady Duff Gordon sofort, daß jede Hilfe zu spät kam. Die verkrampften Gesichtszüge verrieten große Schmerzen. Lucie fühlte seinen Puls.

Erst spürte sie gar nichts; dann - endlich - unregelmäßige Herzschläge. Die Zeit von einem Pulsschlag zum anderen wurde immer länger, unendlich lang. Die Unregelmäßigkeit der Pulsschläge war zermürbend. Jeder konnte der letzte sein.

Yussuf und die Mutter des Jungen knieten auf dem Teppich, sie beteten im halblauten Singsang, schlugen mit ihrer Stirne hart auf den Boden. Ratlos blickte Lucie um sich; dann griff sie nach einem halbleeren Teeglas, holte aus ihrer Tasche ein Papiertütchen mit der Aufschrift »Laudanum« hervor, schüttete etwas von dem Pulver in das Glas und flößte dem kleinen Yussuf den Heiltrank ein. Yussuf gurgelte, schluckte, spie den Rest von sich, aber nach wenigen Augenblicken lösten sich die Verkrampfungen seines Körpers. Das Opiat tat seine Wirkung. Der alte Scheich rutschte auf den Knien zu Lucie, versuchte ihre Hände zu fassen, aber sie entzog sie ihm. »Yus-suf«, sagte sie, »Yussuf, es ist zwecklos. Sieh dir den Jungen doch an! Sein kleiner Körper ist blau unterlaufen. Es gibt keine Hoffnung mehr - die Cholera!« Yussuf nickte und wandte den Kopf zur Seite, die Mutter des Jungen betete weiter. Obwohl sie nicht wußte, was noch zu tun sei, wagte Lucie nicht zu gehen. Zu dritt hockten sie um den sterbenden Jungen herum, starrten auf den schmächtigen, dunkelgefärbten Brustkorb, der sich kaum noch merklich hob und senkte.

Sie mochten wohl zwei Stunden so gesessen sein, als Lucie hochschreckte: Der kleine Körper zeigte keine Regung mehr. Lucie sprang auf, griff das Handgelenk des Jungen, dann sah sie den Scheich wortlos an. »Hakima!« rief dieser, »Hakima!« Die Lady nickte. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie ihre Medikamententasche und ging. Vor dem Haus zündete sie eine Zigarre an und blies den weißen Rauch in die Nacht. Der Kutscher wartete. Die Laternen flackerten.

»Er ist tot«, sagte Lady Gordon, während sie in die Kutsche kletterte. »Ich konnte ihm nicht mehr helfen.« Der Kutscher schwieg. Lucie sog den Rauch ihrer Zigarre ein wie eine kostbare Medizin. »Dabei sagt man«, begann sie von neuem, »die Cholera würde alle am Nil gelegenen Ortschaften verschonen, Nilwasser sei das beste Vorbeugungsmittel gegen die Seuche. Bring' mich nach Hause.« Lucie schloß die Augen.

Weil der Kutscher nicht reagierte, beugte sie sich nach vorne, gab dem Kutscher einen Schubs und rief: »He, Alter, fahr los!«

Langsam und lautlos sackte die Gestalt vor ihr zusammen, glitt scheuernd vom Kutschbock und klatschte laut auf die Straße. Es dauerte eine Weile, bis Lady Gordon begriff, was geschehen war. Sie sprang aus dem Wagen, warf den reglos daliegenden Kutscher auf den Rücken und starrte in ein verzerrtes, blau angelaufenes Gesicht: Der Mann war tot. Als träfe sie die Schuld an seinem Ableben, blickte Lady Gordon sic h hilflos um, ob niemand den Vorfall bemerkt habe, dann griff sie nach ihrer Medikamententasche und hetzte davon. Die Nacht war unruhig in dem sonst verträumten Provinznest Luxor. Aus der Ferne drangen Schreie, vermummte Gestalten huschten vorüber. Vor den Türen einiger Häuser brannten Feuer, die einen ätzenden Gestank verbreiteten. Angst und Mißtrauen gingen um. Jeder Fremde wurde verdächtigt, die Seuche mit sich herumzutragen und weiter-zuverbreiten. Türen wurden verrammelt, Querbalken versperrten den Zutritt zu den Wohnungen. Atemlos erreichte Lucie das Maison. Sie schob den schweren Riegel vor die sonst unverschlossene Tür am Treppenaufgang, lehnte sich erschöpft gegen die Mauer und lauschte durch das vergitterte Fenster in die unheimliche Nacht. Müde zog sie sich die steile Treppe empor. In dem dunklen Innenhof, auf der Stufe vor ihrer Tür, lag ein Mensch. Lucie erstarrte vor Schreck, Schweiß trat auf ihre Stirn, sie zitterte am ganzen Körper. Hatte die Seuche bereits ihre Schwelle erreicht?

Auf Zehenspitzen ging Lucie näher, schlich um die Gestalt am Boden herum und wollte soeben in ihrem Zimmer verschwinden, als sie die Stimme des alten Ismain vernahm: »Guten Abend, Mrs. Belzoni, ich habe auf Sie gewartet...«

Nirgends wütete die Cholera so furchtbar wie in der Millionenstadt Kairo. Die Sargmacher kamen den Bestellungen nicht mehr nach, Holz wurde knapp. Als auch in Warenlagern und Magazinen keine Kisten mehr aufzutreiben waren, wurden auch die wohlhabenderen Toten in Tücher gehüllt, zu Hunderten in Massengräber gelegt, mit Kalk bestreut und notdürftig verscharrt. Über der Stadt lag eine stinkende Wolke, die den Überlebenden Schauer einjagte. Unter den Europäern setzte eine Massenflucht ein. In Alexandria wurden Schiffspassagen nach Europa mit Gold aufgewogen. Mitglieder der vornehmen Gesellschaft, die gewohnt waren, sich von Dienern die Schuhe ausziehen zu lassen, rauften sich um einen Platz Dritter Klasse. Arbeiter in den Baracken der Kanalbau-Gesellschaft konnten auch von den Ärzte-Teams, die Lesseps organisierte, nicht besänftigt werden, sie flohen blindlings in die Wüste, wo sie sich vor der Seuche sicher glaubten, aber nicht selten an Hunger und Durst zugrunde gingen.

Konsul Heinrich Brugsch schritt in seiner Kanzlei ruhelos auf und ab, während der Arzt nebenan seiner Frau Pauline eine Spritze gab. Dr. Sachs, ein pensionierter preußischer Militärarzt, der mit den Brugschs befreundet war, kam zur Tür herein und nickte: »Machen Sie sich keine Sorgen, Brugsch, Ihre Frau ist von bester Konstitution, es ist nur die Aufregung. Sie hat panische Angst vor der Cholera.« »Kein Wunder«, entgegnete Brugsch, »mein Sekretär, ein Mann von kaum dreißig Jahren, und unser türkischer Kawaß wurden innerhalb weniger Tage dahingerafft, und der levan-tinische Dragoman hat Hals über Kopf die Flucht ergriffen -wer weiß, ob er noch am Leben ist. Das ist alles ein bißchen viel für Pauline.«

Dr. Sachs sprach betont leise: »Sie müssen ihr nur einreden, daß, wäre sie anfällig für die Cholera, sie diese längst bekommen hätte. Das ist zwar objektiv falsch, aber es nimmt ihr vielleicht die Angst und fördert ein wenig ihren Lebenswillen.«

Brugsch setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches und holte tief Luft: »Doktor, wann findet dieses Leid nur ein Ende. Seit Wochen werde ich täglich an das Bett sterbender Landsleute gerufen, um ihren Letzten Willen aufzunehmen. Gleich in den ersten Tagen der Cholera wurden in der kleinen deutschen Kolonie dreißig Menschen dahingerafft. Erst fehlte es an Särgen, jetzt bekommt man nicht einmal mehr einen Leichenwagen. Gestern fuhr ich mit der Leiche eines deutschen Kaufmanns, quer über die Droschke gelegt, zum evangelischen Friedhof.«

»Sie ist eingeschlafen«, sagte Dr. Sachs nach einem Blick ins Nebenzimmer, »der Schlaf wird ihr guttun. Wir müssen jetzt alle sehr stark sein.«

»Und es gibt wirklich kein Mittel gegen diese furchtbare Seuche?« erkundigte sich Brugsch. Dr. Sachs schüttelte den Kopf. »Solange wir den Erreger dieser Krankheit nicht kennen, ist jede Therapie Glücksache. 70 Prozent aller Erkrankten erliegen dem rätselhaften Bazillus; aber auch, wer die Cholera übersteht, ist keineswegs immun.«

Es klopfte. Vassali trat ein. Er schien aufgeregt. »Man sagte mir, daß Dr. Sachs hier sei«, stammelte er, »es ist wegen Madame Mariette, der Chef glaubt, sie hat sich angesteckt!« Brugsch und Sachs sahen sich an, dann sprangen sie auf: »Schnell, eine Droschke! Wir dürfen keine Minute Zeit verlieren. Emil, kümmere dich um meine Frau!« Die Fahrt zur Nillände in Bulak wurde zur Qual, man hätte meinen können, sie durchquerten ein Schlachtfeld. An den Straßenrändern loderten Totenfeuer. Die wenigen Menschen, die zu sehen waren, gingen trotz der Hitze dicht vermummt, jeder mied den anderen. Manche legten sich zum Sterben einfach auf die Straße, sie lagen mit offenen Augen, offenen Mündern am Straßenrand. Kein Mensch wußte, ob noch Leben in ihnen war. Die Leicheneinsammler warfen sie unbesehen auf ihre Karren. Viele noch Lebende mögen so in Massengräber gelangt sein.

Eleonore atmete schwer. Mariette hielt ihre Hand. Er blickte nicht auf, als Brugsch und der Doktor eintraten. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte er leise, »aber -«, er stockte. Dr. Sachs sah sofort, daß es mit seiner Frau zu Ende ging. Eleonores Lippen trugen blaue Färbung, das Gesicht schien aschfahl, ihre Finger beschrieben kleine, krampfartige Bewegungen.

»Sie hat in ihren Fieberträumen noch nach Osiris, Seth und Isis gerufen«, sagte Mariette mit einem wehmütigen Lächeln, »zwanzig Jahre sind eben eine lange Zeit.« Wortlos legte Brugsch dem Freund eine Hand auf die Schulter. Mariette sah Dr. Sachs fragend an. Der schüttelte den Kopf. Langsam senkte Mariette den Blick. »Merkwürdig«, begann er, »vor zwei Tagen saßen wir noch alle zusammen in der Laube vor dem Museum. Als die Dämmerung niedersank, rief ein Käuzchen vom Gesims über dem Eingang, und Eleonore sagte: >Sollte es einen von uns rufen wollen?< - Erinnern Sie sich, Brugsch?« Während sie sich unterhielten, starb Eleonore Mariette. Sie hatte das Bewußtsein nicht wiedererlangt.

Mehr als ein halbes Jahr wütete die Cholera-Epidemie. Zehntausende gingen elend zugrunde. Ganze Familien, ganze Dörfer wurden ausgerottet. Viele Frauen und Kinder wagten sich erst nach Monaten der Angst wieder aus dem Haus. Zu ihnen zählte Pauline Brugsch, die nach dem Tod von Mariettes Frau einen Schock erlitten hatte. War sie zunächst widerwillig ihrem Gatten nach Ägypten gefolgt, so setzte sie nun alles daran, diesen Aufenthalt so kurz wie irgend möglich zu gestalten, zumindest den ihren. Und als Brugsch seine Frau fragte, ob sie ihn nicht nach Alexandria zum Empfang des türkischen Sultans begleiten wolle, weigerte sie sich entschieden. Nach Alexandria gehe sie nur noch mit vollem Gepäck, um die Heimfahrt nach Berlin anzutreten. Kein Bitten half. So bestiegen denn Brugsch und Mariette allein die Delta-Eisenbahn. Ismail Pascha inszenierte das historische Ereignis mit dem ihm angemessenen Prunk. Seit 3 50 Jahren hatte kein Sultan mehr ägyptischen Boden betreten. Jetzt lagen Teppiche auf dem Weg, den die Kutsche des orientalischen Potentaten vom Hafen zum Bahnhof nahm. Ismail Pascha und die Würdenträger des Landes schritten zu beiden Seiten des goldenen Prunkwagens, unter ihnen Brugsch und Mariette. »Ob er auch weich genug fährt, auf den dicken Teppichen?« spottete der Preuße, und der Franzose amüsierte sich über das würdevolle Gehabe des Sultans: »Wenn er uns nur nicht einschläft!«

Vor dem Bahnhof bildeten die Honoratioren ein festliches Spalier, durch das Ismail Pascha seinen Gast zur Dampfeisenbahn geleitete. Nun aber weigerte er sich, einzusteigen. Abdul Aziz war noch nie Eisenbahn gefahren, und da das Lokomobil sich strikt dem Befehl widersetzte, Schnauben und Zischen einzustellen, erklärte es der Sultan als Teufelswerk und rief nach Pferden. Erst als Ismail beteuerte, Mohammed wäre froh gewesen, hätte er bei seiner Hedschra von Mekka nach Medina ein solches Dampfroß zur Verfügung gehabt, ließ sich Abdul Aziz widerwillig in den Salonwagen schieben.

Der Empfang in Kairo war überwältigend. Seine Untertanen in Konstantinopel begegneten dem Sultan mit gesenktem Blick und gefalteten Händen. Wo immer Abdul Aziz da-gegen in Kairo auftauchte, wurde er von Ägyptern umringt und lautstark bejubelt. Für eine Million Pfund Sterling in bar und die Verdoppelung der Tributzahlungen rang Ismail Pascha seinem hohen Gast weitgehende Unabhängigkeit und den ersehnten Titel Khedive ab. Und da die Verhandlungen sich zäh gestalteten, legte Ismail als letzten Anreiz ein goldenes Speiseservice und hunderttausend Pfund Handgeld darauf. Der Sultan revanchierte sich mit der Erlaubnis, daß Ismail sich fortan »Hoheit« nennen dürfe. Von weit größerer Tragweite war die Änderung des Erbfolgegesetzes, das Ismail ältesten Sohn Taufik zum Nachfolger bestimmte. Nach altem Recht wären Ismails Bruder Mustafa Fadel und sein Onkel Abdul Halim die Thronerben gewesen. Doch den einen haßte der Khedive, den anderen fürchtete er. Jetzt endlich war die Welt des Paschas in Ordnung. Sein Oberherr Abdul Aziz trat die Heimreise auf der ägyptischen Fregatte »Feizi Gehad« an. Beim Abschied im Hafen von Alexandria wünschte Ismail Pascha dem scheidenden Gast eine angenehme Seefahrt, das Schiff könne er selbstverständlich behalten - als Souvenir.

Die beiden konnten sich um alles in der Welt nicht leiden; sie waren sich einfach zu ähnlich. Nicht äußerlich - da unterschieden sie sich sehr: der hünenhafte Mariette, ein dunkler Typ, mit kantigem Gesicht, Kinn- und Backenbart, auch in seiner Kleidung von einem arabischen Scheich kaum zu unterscheiden. Richard Lepsius dagegen schlank, beinahe zierlich, das dichte silbrige Haar korrekt zurückgekämmt, auf der Nase eine kleingerandete Schubertbrille, auch im Wüstensand stets korrekt gekleidet, mit Stehkragen und Schleife - ein Preuße eben.

Nein, die Ähnlichkeit lag in ihrem Schicksal: Jeder hielt sich selbst für den größten Altertumsforscher der Gegenwart, und in der Tat war jeder eine Koryphäe, trug einen weltbekannten Namen, wurde von Kaisern und Königen ho-fiert, stand einem Museum mit unermeßlichen Schätzen vor. Für zwei derartig qualifizierte Männer war - so schien es -kein Platz in Ägypten.

Mariette lebte seit dem Tod seiner Frau Eleonore zurückgezogen nur noch für die Forschung. Die Grabungen an über dreißig verschiedenen Orten, die während der Cholera-Epidemie geruht hatten, waren wieder in vollem Gange, da traf am z. April 1866 Richard Lepsius in Kairo ein. Zwanzig Jahre waren vergangen, seit Lepsius die bestorganisierte und wohl auch erfolgreichste Expedition durch das Niltal geführt hatte. Er und seine Männer, ein Architekt, ein Gipsformer, zwei Zeichner, zwei Maler und ein Pfarrer für alle Fälle, mußten sich mit Heuschrecken herumplagen, mit einer Mäuseinvasion und arabischen Banditen. Durst und Hunger brachten sie an den Rand des Todes, und beinahe wären sie bei lebendigem Leib in ihrem Zelt verbrannt. Der gute Rat, Ausgrabungen nie ohne Waffe vorzunehmen, stammte nicht etwa von Mariette, sondern von Lepsius, der stets mit zwei geladenen Pistolen unter der Decke schlief. Sie begegneten sich zum erstenmal in der Direktion der Altertümerverwaltung, wo Lepsius, korrekt, wie er war, eine Erlaubnis für seine geplanten Forschungen einholen wollte. Auch Mariette gab sich betont gewissenhaft, nannte es eine Ehre für das ganze Land, wenn der große Preuße mit neuen Forschungsarbeiten beginne? Wo sich denn seine Mannschaft befinde.

»Wir sind die Mannschaft, Monsieur!« antwortete Lepsius und deutete auf sich und seinen Begleiter, den Zeichner Ernst Weidenbach.

Mariette sah den großen Richard Lepsius ungläubig an, für einen Augenblick wußte er nicht, ob sich dieser über ihn lustig machte, oder ob er die Wahrheit sprach. Er hätte erwartet, daß der Preuße mit einem Heer von Assistenten, Hilfswissenschaftlern und Helfershelfern anrückte - Ma-riette überging die Antwort.

»Und wo wollen Sie diesmal graben?« fragte Mariette und griff zur Feder. Spätestens jetzt spürte Lepsius, daß er keinesfalls ein »Prussien de son coeur« war wie Brugsch, sondern ein, wenn auch berühmter, so doch ganz normaler Ausgräber, der um eine Grabungserlaubnis nachsuchte.

»Nicht graben - forschen!« antwortete Lepsius kühl. »Das Graben will ich getrost Ihnen überlassen. Ich beschäftige mich seit geraumer Zeit mit den Stätten der Bibel.« »Interessant!« Auguste Mariette lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und verschränkte die Arme über der Brust, was er immer tat, wenn er einen Gesprächspartner als Gegner zu betrachten begann. »Eines will ich Ihnen aber gleich sagen, Herr Professor Lepsius, das Gesetz gegen die Ausfuhr von Altertümern wird diesmal nicht außer Kraft gesetzt, und Grabungen müssen offiziell gemeldet und genehmigt werden. Und zwar hier, an diesem Schreibtisch.« Bei diesen Worten tupfte er mit dem rechten Mittelfinger energisch auf den Tisch.

Mariette spielte damit auf einen Firman des Paschas Mohammed Ali an, der dem preußischen Gelehrten bei seiner ersten Expedition alle erdenkbaren Freiheiten gewährt hatte. Richard Lepsius durfte damals 15000 Fundstücke außer Landes schaffen, ja der Pascha schickte ihm sogar eigene Schiffe entgegen, um die Funde von der Südgrenze Ägyptens nach Alexandria zu transportieren. Lepsius griff kräftig zu, sägte einen tonnenschweren buntbemalten Pfeiler aus dem Grab Sethos' I. und ließ vier Bauarbeiter aus Berlin kommen, die in Giseh drei komplette Grabkammern Stein für Stein abbauten und per Schiff in die preußische Hauptstadt transportierten.

»Ich möchte«, sagte der Professor, »diesmal in das östliche Nildelta gehen. Selbst wenn man skeptisch gegenüber den Zahlenangaben in der Bibel ist und weit weniger als 600000 israelitische Männer, Frauen und Kinder mit ihrem Vieh von Ramses aus zu ihrer Wüstenwanderung aufgebrochen sind, muß doch ein ganzes Volk seine Spuren hinterlassen haben. Diese Stadt Ramses kann nicht völlig von der Erdoberfläche verschwunden sein!«

Jetzt war Mariette gekränkt. Er hatte schon vor sechs Jahren im Delta nach der Stadt Ramses gesucht.

»Wenn Sie ins Delta gehen«, bemerkte er, »dann könnten Sie doch auch einmal einen Blick auf die Baureste werfen, die Ferdinand de Lesseps bei den Schachtarbeiten zum Suezkanal freigelegt hat. Ich weiß damit nichts Rechtes anzufangen.«

Lepsius willigte ein, und Mariette versprach, den Professor mit dem großen Ingenieur bekannt zu machen. Es traf sich gut, daß der soeben aus Frankreich zurückgekehrte Lesseps im Begriff war, eine Inspektionsreise in das Kanalgebiet zu machen. Er betrachtete es als eine Ehre, dem berühmten Archäologen seinen Kanal zeigen zu dürfen. Am nächsten Morgen um sieben Uhr stand auf dem Bahnhof in Kairo ein Sonderzug unter Dampf. Sie brachte Lep-sius und Lesseps und ihre Begleiter, insgesamt vierzehn an der Zahl, bis zum östlichen Endpunkt der Eisenbahnlinie, nach Zagazig. Dort wurde das Gepäck auf eine Barke verladen, mit der sie die Reise auf dem neuen Süßwasserkanal zum Timsah-See fortsetzten. Zu beiden Seiten des Kanals leuchtete fruchtbares Land, auf dem Getreide und Gemüse in saftigem Grün gediehen. Streckenweise war der Damm für die Eisenbahn bereits fertig. Sie sollte einmal bis nach Timsah führen, das nun Ismailia hieß. Lepsius bewunderte diesen Franzosen, der leicht und gewandt über sein Unternehmen plauderte und dabei persönliche Liebenswürdigkeit mit französischem Esprit würzte.

»Und wann glauben Sie, wird das Werk vollendet sein?« erkundigte sich der Preuße.

Lesseps holte tief Luft und antwortete: »Wissen Sie, Professor, das ist vor allem eine Frage des Geldes. Ich brauche, von meinem disponiblen Kapital einmal abgesehen, noch hundert Millionen Francs. Aber ich werde sie auftreiben.« »Ist es indiskret zu fragen, wieviel das Bauwerk insgesamt kostet?«

»Ganz und gar nicht. Die Compagnie Universelle du Canal Maritime de Suez ist eine Aktiengesellschaft. Ihre Bilanzen sind für jedermann einzusehen. Unser ursprüngliches Kapital betrug 200 Millionen Francs in Aktien zu 500 Francs. Davon wurden 80 Millionen von französischen Kapitalisten gezeichnet, ein kleiner Teil auch von deutschen, den Rest von 120 Millionen übernahm die ägyptische Regierung.« »Kolossale Summen sind das«, staunte der Preuße, »wirklich kolossal!«

Sie mochten wohl drei Stunden gesegelt sein, als die Barke in Tell el-Kebir anlegte, einem kultivierten Ort mit komfortablen Häusern zwischen schlanken Palmen und blühenden Gärten. Lesseps hatte hier für die Compagnie Büros errichten lassen.

»Welch historischer Boden!« meinte Lepsius und blickte nach Süden. »Hier muß das biblische Land Goschen gelegen haben, irgendwo fand hier der Exodus der Israeliten statt.« Für einen Augenblick wurden auch Lesseps und seine Mitarbeiter nachdenklich. Ihnen, denen beim Anblick dieser Landschaft nur Kubikmeterzahlen, Arbeitsstunden und Millionensummen in den Sinn kamen, mit denen sie diese Rie -senfurche durch die Wüste zogen, hatten die schlichten Worte des deutschen Professors plötzlich bewußt gemacht, daß diese Landschaft eine schicksalhafte Vergangenheit hatte. Spontan entschlossen sie sich, für ein paar Stunden Winkel, Zahlen und Bilanzen zu vergessen und dem Gelehrten auf Maultieren zu den Grenzen des Wadi zu folgen, wo die grünenden Kulturen vom gelben Wüstensand begrenzt wurden.

Die Sonne stand schräg am Himmel, als die kleine Karawane auf einem Hügel haltmachte, dem die Fellachen den Namen Tell el-Maschute gegeben hatten: »Hügel der Idole«. Seit frühester Zeit fand man hier kleine Götterbilder im Wüstensand, die den Namensring des großen Ramses trugen, und Lepsius hatte schon bei seiner letzten Expedition Ram-ses-Statuen gefunden.

»Wenn Sie die langen Schatten betrachten«, sagte Richard

Lepsius und zeigte auf den Boden, »dann erkennen Sie den Grundriß verschiedener Gebäude.« In der Tat, jetzt sahen es auch die Franzosen: aneinandergrenzende, sich überlappende Rechtecke. »Der Name Pithom«, fuhr der Professor fort, »ist vermutlich von dem altägyptischen >Per-Atum< abgeleitet, was soviel bedeutet wie >Haus des Atum<. Daher die vielen Funde mit dem Bild Atums, des Sonnengottes. Man müßte graben und nach einem Atum-Tempel suchen. Fänden wir Reste eines solchen Bauwerkes, dann hätten wir wohl den Beweis . . .« Hatte zunächst Lepsius den dynamischen Ingenieur bewundert, so war nun Ferdinand de Lesseps von der Arbeit des Altertumsforschers beeindruckt. Die Nacht verbrachte die Reisegesellschaft im »Hotel des Voyageurs« in Ismailia. 4000 Einwohner zählte inzwischen der Ort an der Einmündung des Süßwasserkanals in den Meerkanal. Vor vier Jahren stand hier noch kein einziges Haus. Jetzt zogen sich sandige Straßen zwischen Magazinen und Läden, Behörden und Firmenniederlassungen hindurch - eine Stadt wie im Goldgräberfieber, wo das Geld, das am Tag verdient wurde, nachts in die Taschen der Kneipenwirte, der Glücksspielunternehmer und Zuhälter floß. Schon jetzt bildeten sich außen herum um die besseren Viertel die Slums der Araber.

»Merkwürdig«, sagte Ferdinand de Lesseps abends beim Diner im Hotel, »wir wühlen beide im gleichen Sand - nur mit umgekehrter Perspektive. Ihr Blick, Professor, geht in die Vergangenheit, der meine ist in die Zukunft gerichtet. Bis zum heutigen Tag glaubte ich, es gebe nichts Wichtigeres als das Kanalprojekt. Seit ich Ihnen heute zugehört habe, bin ich im Zweifel.«

Richard Lepsius lächelte ein wenig verlegen: »Die Zukunft wird lehren, wer von uns beiden den wichtigeren Teil erwählt hat, wer der Menschheit von größerem Nutzen ist.« »Sie zweifeln am Nutzen des Kanalprojektes?« Der Preuße versuchte eine diplomatische Antwort: »Mon-sieur le Directeur, Jahrhunderte segelten die Schiffe auf dem Weg nach Indien um das Kap der Guten Hoffnung. Warum in aller Welt sollen sie es auf einmal nicht mehr tun?« Lesseps machte ein ernstes Gesicht: »Die Segelschiffe weichen den Dampfschiffen. Der Handel mit dem Fernen Orient, mit Indien, China und Japan nimmt ständig zu. Der großen Kosten wegen müssen die Dampfschiffe den kürzeren Weg wählen.«

»Gesetzt den Fall, Sie hätten recht, dann sind noch immer Zweifel angebracht, ob die Einnahmen des Kanals jemals die Kosten für seinen Bau einspielen.« »Da, mein lieber Professor, kann ich Sie beruhigen. Vorausgesetzt, die Engländer boykottieren den Kanal nicht -und auf längere Zeit gesehen können sie sich das überhaupt nicht leisten -, dann können wir selbst bei niedrigen Gebühren für die Schiffspassage die Interessen unserer Kapitalgeber durchaus befriedigen.«

»Nun gut«, sagte Lepsius, »meine guten Wünsche begleiten Sie. Im Grunde profitiert die Menschheit doch von uns beiden. Was wäre die Menschheit ohne Zukunftsperspektiven! Und was wäre die Menschheit ohne Wissen um ihre Vergangenheit!«

Die Männer an der Tafel erhoben sich und prosteten sich zu. »Auf unsere Zukunft!« »Auf unsere Vergangenheit!«

Tags darauf bestiegen Professor Lepsius und sein Assistent Ernst Weidenbach zusammen mit Lesseps ein Dampfschiff, um auf dem ersten Kanalabschnitt nach Norden zu fahren. Die ausgegrabenen Baureste erwiesen sich bei näherem Hinsehen als Relikte aus der Perserzeit, als König Da-rius den Versuch unternahm, Mittelmeer und Rotes Meer mit einem Kanal zu verbinden.

»Sie sehen«, meinte Lepsius an den Direktor der Compa-gnie gewandt, »Ihre Idee ist nicht ganz neu; aber trösten Sie sich, auch der Perserkönig hatte bereits seine Vorbilder.« Er lachte: »Wie gut, daß Sie bei der Planung des Kanals die Geschichte ignorierten . . .« »Ich verstehe nicht«, sagte Lesseps. Der Professor aus Berlin fuhr fort: »Viertausendjahre Geschichte dieses Landes lehren uns, daß alle Kanal-Projekte zwischen den beiden Meeren trotz höchstem Aufwand entweder scheiterten oder schon nach wenigen hundert Jahren versandeten. Selbst von Großkönigen wie Darius oder Ram-ses forderte die Natur ihren Tribut.« Ferdinand de Lesseps deutete auf das Ufer des Kanals: »Sie vergessen nur eines, Professor, weder Ramses noch Da-rius standen solche Draguen zur Verfügung. Diese Baggermaschinen leisten mehr Arbeit als tausend Mann. Vor allem aber arbeiten sie auch unter Wasser. Vor dem Versanden des Kanals müssen wir uns also heutzutage gewiß nicht mehr fürchten.«

In Port Said, am nördlichen Eingang des Kanals, trennten sich die beiden Kontrahenten freundschaftlich. Port Said, vor sieben Jahren auf unfruchtbaren, wasserlosen Dünen gegründet, war inzwischen zu einer Stadt von 7000 Einwohnern angewachsen. Während der Direktor der Kanalgesellschaft den Bau der kilometerlangen Hafenmolen inspizierte, heuerten Lepsius und Weidenbach eine kleine Kamelkarawane an, mit der sie nach Westen zogen. Das Ziel hieß San el-Hagar.

San el-Hagar lag in der Steppenebene südlich des Menza-leh-Sees und wurde größtenteils von wucherndem Gestrüpp überdeckt. Doch unter dieser beinahe undurchdringlichen Wildnis erinnerten gewaltige Steintrümmer, zerschlagene Statuen, geborstene Säulen und Obelisken an das griechische Tanis, das Zoan der Bibel.

Am Rande des Trümmerfeldes schlugen Lepsius und Weidenbach ihre Zelte auf und brieten über offenem Feuer das mitgebrachte Fleisch. Die Kameltreiber, abseits, folgten ihrem Beispiel. Richard Lepsius nahm die Brille ab, goß Wasser aus einem Lederschlauch in die Hand und wischte sich genußvoll den Schweiß aus der Stirne. »Wir brauchen diesmal mit dem Wasser nicht zu sparen«, sagte er, »die Wasservorräte reichen für drei Wochen; außerdem können wir die Kameltreiber nach Port Said schicken.« Der junge Weidenbach holte tief Luft. »Wir werden viel Wasser brauchen. Wir sind spät dran, die Sommerhitze hat bereits eingesetzt.«

Lepsius meinte, sie könnten das Unternehmen ja abbrechen, wann immer sie wollten; schließlich stünden sie diesmal nicht unter Erfolgszwang. Aber das lehnte Weidenbach mit Bestimmtheit ab.

Richard Lepsius verstand sich mit Ernst Weidenbach sehr gut. Als einziger des preußischen Expeditionschorps hatte er sich 1845 in Luxor freiwillig gemeldet, um mit Lepsius den Berg zu suchen, auf dem Moses einst die Zehn Gebote in Empfang nahm. Alle übrigen Begleiter fühlten sich damals, nach über zwei Jahren in der Wüste unter Dreck und Trümmern, zu ausgelaugt, zu kaputt. Zusammen mit Weidenbach und drei Trägern zog Lepsius durch die Arabische Wüste, setzte über das Rote Meer und nahm Kurs auf den Sinai. Gut dreißig Jahre vor den Preußen hatte der Schweizer Johann Ludwig Burckhardt den Sinai durchquert und die Vermutung geäußert, nicht der Dschebel Musa sei die Stätte der Gesetzgebung gewesen, sondern das Serbai-Gebirge. Damals hatte ihm niemand geglaubt. Als Lepsius und Weidenbach an den Fuß des Dschebel Musa gelangten, fanden sie außer einem Kloster nur steinige, wasserlose Wüste. Woher aber sollten die Israeliten hier Wasser und Nahrung für sich und ihr Vieh bezogen haben? Dies fanden sie dagegen reichlich am Fuße des Serbai-Gebirges. Hier gab es Wasser und fruchtbares Land, ja sogar das biblische Manna hing in den Bäumen. Lepsius entzifferte uralte Steininschriften von Wallfahrern, die in früherer Zeit noch von diesem Ort wußten. Am 4. Mai 1845 waren Lepsius und Weidenbach dann nach 16 anstrengenden Tagen erschöpft nach Luxor zurückgekehrt, wo die übrigen Expeditionsmitglieder auf sie warteten.

Lepsius sah ins Feuer, dessen Flammen sein silbriges Haar abwechselnd gelb und rot färbten. »Weißt du, Weidenbach«, sagte er nach einer Weile, »dieser Mariette ist zwar berühmt, aber er ist einfach ein Dummkopf.« Weidenbach sah den Professor fragend an. »Er benützt seine Macht, die ihm mehr oder weniger zufällig zugefallen ist, um seine vielfach falschen Theorien zu beweisen. Aber was falsch ist, wird auch nicht durch ständige Wiederholung richtig. Glaube mir, er ist wirklich ein Dummkopf!«

Der andere stocherte lustlos im Feuer herum und sagte: »Sie meinen wegen seiner Theorie um die Stadt Tanis?« »Genau das meine ich«, antwortete Lepsius. »Ich kann einfach nicht glauben, daß die Stadt Ramses hier in dieser tristen Gegend gelegen haben soll. Wir müssen diesen Ort genau wie Pithom im Wadi Tumilat suchen.« »Mariette stützt sich auf die Funde . . .« »Ach was!« unterbrach ihn der Professor. »Nur weil er dort ein paar Sphingen und Statuen mit dem Namen Ram-ses' II. und seines Sohnes Merenptah gefunden hat, kann er doch nicht behaupten, das biblische Ramses entdeckt zu haben. Man findet überall in Ägypten Ramses-Statuen, du brauchst nur ein bißchen zu graben.« Weidenbach gähnte, ließ sich rückwärts in den Sand sinken und betrachtete das Meer von Sternen. »Wir sollten das Feuer löschen und schlafen gehen«, sagte er. Lepsius nickte stumm.

Mit den ersten Sonnenstrahlen des nächsten Tages schälten sich die beiden Forscher aus ihren Decken. Die Kameltreiber hatten schon den Tee bereitet. Noch vor der Mittagshitze wollte Lepsius das Trümmerfeld einmal umrunden und einen exakten Lageplan skizzieren. In den nächsten Tagen wollte er dann an die Aufnahme der Details gehen und Inschriften kopieren, die zu Hause in Berlin bearbeitet werden könnten. Doch es kam anders.

»Um Gottes willen, Professor!« Weidenbach packte Lep-sius am Arm und deutete in den Sand. Dort glitt lautlos eine armdicke Schlange vorüber. Lepsius griff nach seinem Spaten. Aber noch ehe er zuschlagen konnte, verschwand das Reptil im dichten Gestrüpp eines Mauervorsprunges. »Wir müssen sie erschlagen, sonst bekommen wir heute nacht unliebsamen Besuch!« Richard Lepsius bog mit dem Spaten vorsichtig das Gestrüpp beiseite, aber die Schlange war verschwunden. Hastig schlugen die beiden Forscher das dornige Geäst mit den scharfen Kanten ihrer Spaten nieder, plötzlich sahen sie das Tier, den Kopf drohend auf die Männer gerichtet. Lepsius sprang zur Seite, holte aus und schlug mit aller Kraft auf die Schlange ein. Die scharfe Klinge trennte die Schlange in zwei Teile. Das kopflose Ende wand sich aufbäumend in die Höhe. »Das ist noch einmal gutgegangen!« sagte Weidenbach und sah den Professor erleichtert an.

Der starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Mauerwerk, nahm umständlich die Brille ab, setzte sie wieder auf und musterte den Stein erneut. Jetzt begutachtete auch Weidenbach die zwei Meter hohe Platte, die vor ihnen im Gestrüpp lag. Er stutzte: Die obere Hälfte trug eine Hie -roglypheninschrift, die untere einen griechischen Text. Hastig zählte der Assistent die Zeilen: 37 Linien Hieroglyphen, 76 Linien griechisch auf etwa 80 Zentimeter Breite. Richard Lepsius wanderte mit dem Zeigefinger über die Hieroglyphen und bewegte dabei kaum merklich die Lippen. Sein Assistent wagte nicht, ihn zu unterbrechen, er wagte nicht einmal, die getötete Schlange fortzuschaffen, er spürte nur, daß Lepsius auf etwas ungeheuer Wichtiges gestoßen sein mußte. Minutenlang herrschte beklemmende Stille; dann blickte der Professor über den Rand seiner Brille und sagte: »Weidenbach, das ist ein Geschenk der Götter Ägyptens!« Er legte seine Hand auf die Schulter des Assistenten. »Ich habe am Anfang an Champollions Ideen gezweifelt, die er bei der Entzifferung des Steines von Rosette entwik-kelt hat, und im Laufe der Jahre, in denen ich mich mit allen verfügbaren Inschriften beschäftigte, habe ich auch einige Irrtümer des Franzosen korrigiert. Champollion glaubte, die Hieroglyphen seien ausschließlich Wortkürzel. Ich habe immer gesagt, hinter den Hieroglyphen stünden auch Laut-und Silbenzeichen. Du weißt, wie viele Skeptiker und Zweifler es in dieser Hinsicht gibt. Aber der Text des Steines von Rosette ist einfach zu kurz, um alle Theorien zu untermauern. Jetzt, Weidenbach, haben wir ein zweites Vergleichsstück.«

»Herzlichen Glückwunsch, Professor!« Richard Lepsius stand die Freude an seiner Entdeckung ins Gesicht geschrieben. Aber er blickte kaum auf, sondern griff nach Papier und Bleistift, machte Notizen und sagte beiläufig: »In dem griechischen Text ist von einem König Ptolemaios die Rede, dem die Priester des Kanopos-Serapis hohe Ehren zuteil werden lassen. Wenn ich es recht verstehe, gab es eine Kalenderreform, die das Sonnenjahr einführt . . .«

Er deutete auf einige Wörter in dem griechischen Text: »Das hier«, sagte Lepsius, »wird uns sehr viel weiterhelfen. Die Wörter für Kanopos, Syrien, Phönizien, Cypern und Persien sind als Hieroglyphen bisher unbekannt. Aber ihre Lage in dem Text ist so charakteristisch, daß es nicht schwierig sein wird, sie zu finden. Weidenbach, jetzt wird sich zeigen, ob der alte Lepsius recht gehabt hat.« Die nächsten Tage verbrachten die beiden Preußen vor dem wertvollen Stein. Weidenbach entfernte das restliche Gestrüpp und machte sich dann daran, die einzelnen Hieroglyphenzeilen maßstabsgerecht auf einen großen Bogen zu kopieren. Dabei erwies sich die größte Mittagshitze als vorteilhaft, weil die Schriftzeichen in der beinahe senkrecht stehenden Sonne günstige Schatten warfen. Für sich selbst hatten sie ein primitives Sonnensegel gespannt, doch der glühende Sand reflektierte die Hitze von unten. Schweißgebadet, aber fasziniert von ihrer Entdek-kung, kopierten der Professor und sein Assistent die Inschriften, schütteten Unmengen Wasser in sich hinein, aßen kaum etwas, so besessen waren sie, eine brauchbare Abschrift herzustellen.

Als sie die Kopierarbeit beendet hatten, machte Lepsius eine neuerliche Entdeckung. »Weidenbach, sieh nur!« rief er begeistert und zog seinen Assistenten zur Seite. Der schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und sagte: »Daß wir das auch nicht sofort erkannt haben!« Auf dem schmalen Außenrand der Steinplatte war derselbe Text noch einmal in demotisch eingemeißelt, dem ägyptischen Volksdialekt. »Ich habe mich schon gewunden, warum die Hieroglyphen direkt ins Griechische übersetzt waren, ohne einen demotischen Text«, sagte Richard Lep-sius. »Jetzt haben wir ein exaktes Pendant zum Stein von Rosette. Das Dekret von Kanopos wird in die Geschichte eingehen.«

Von Osten her kam ein Reiter, dichte Staubwolken aufwirbelnd, herangeprescht. Lepsius ging ihm ein paar Schritte entgegen. Der Reiter schwenkte einen Brief in der Hand: »Sind Sie Professor Lepsius?« »Ja, ich bin Lepsius«, sagte der Professor. »Monsieur Lesseps schickt Ihnen eine Nachricht, es sei wichtig!«

Lepsius riß den Brief auf, überflog die hastig hingeworfenen Zeilen des französischen Ingenieurs und rief seinen Assistenten: »Weidenbach«, sagte er leise, »wir haben Krieg.« »Krieg?«

»Moltke marschiert gegen Österreich. Sachsen und Bay-ern haben sich auf die österreichische Seite geschlagen.« Weidenbach war betroffen: »Wie lange kann das dauern?« Lepsius hob die Schultern: »Das weiß kein Mensch, es kommt auch darauf an, wie sich die Franzosen verhalten. Auf jeden Fall kann der Konflikt in der schleswig-holsteinischen Frage sogar zu einem europäischen Krieg führen.« Ernst Weidenbach gab zu bedenken, ob es angesichts dieser bedrohlichen Lage nicht besser sei, die Expedition abzubrechen und den Heimweg über Frankreich zu nehmen. Lep-sius stimmte ihm zu: »Wir kehren zurück!«

Auguste Mariette und Heinrich Brugsch waren bei Ismail Pascha geladen, um letzte Order in Empfang zu nehmen. Der »Prächtige« hatte es sich in den Kopf gesetzt, auf der Weltausstellung 1867 in Paris sein Land angemessen zu präsentieren. Dazu waren mehrere Pavillons vorgesehen, eine Moschee und ein Museum, in dem Mariette Mumiensärge und den Grabschatz der Königin Ahotep ausstellen sollte. Der Direktor der Altertümerverwaltung war beauftragt worden, die Bauarbeiten zu überwachen, und sollte deshalb das kommende Jahr in Paris verbringen. Er hatte seine Zusage jedoch davon abhängig gemacht, daß Brugsch ihn mit Rat und Tat unterstützte.

In der mit Brokat tapezierten Roten Halle des Abdin-Pala-stes kamen sich die beiden klein und verlassen vor. Die bis zur Verschwendungssucht gehende orientalische Prachtentfaltung in den 500 Räumen und Sälen, überladen mit Alabaster, venezianischem Glas, Marmor und Mosaiken und Mobiliar in arabischem und byzantinischem Stil faszinierte sogar europäische Potentaten.

»Es wird uns beiden nicht schaden«, meinte Mariette, während sie in goldenen Fauteuils im Renaissancedekor auf das Eintreffen des Khediven warteten, »wenn uns ein biß -chen Pariser Luft um die Nase weht. Das Schicksal hat es nicht gerade gut gemeint mit uns im letzten Jahr.«

»Es war einfach zuviel für Pauline«, sagte Brugsch, »sie ist keine Frau, die im Orient leben kann. Die ungewohnten Menschen, die fremde Sprache, das unterschiedliche Leben und letztlich die furchtbare Cholera-Epidemie, all das hat in ihr den Entschluß heranreifen lassen, sich von mir zu trennen.«

»Und es gibt keine Möglichkeit, sie umzustimmen?« Heinrich Brugsch blickte in die blaurote Glut der leuchtenden Fensterscheiben und sagte: »Da müssen Sie Pauline fragen, mon eher, sie ist abgereist.« Sie schwiegen eine Weile, bis Mariette von neuem begann: »Ich glaube, Elenores Tod hat sie sehr mitgenommen . . .« »Jedenfalls stand von diesem Zeitpunkt an fest, daß sie nicht mehr in Ägypten bleiben wollte. Sie lebte in der Angst, ein ähnliches Schicksal zu erleiden, und alle Beteuerungen, ich würde das Konsulat in nächster Zeit ohnehin aufgeben, fruchteten nicht.« »Ihr Entschluß ist unabänderlich?« »Was bleibt mir anderes übrig? Das konsularische Amt ist sicher eines der ehrenvollsten, es erfüllt seinen Träger mit Stolz, besonders in Kriegszeiten wie jetzt, der Vertreter eines großen und mächtigen Staates zu sein; aber Repräsentation und gesellschaftliches Leben erfordern einen hohen finanziellen Aufwand, der durch die Besoldung nicht im entferntesten gedeckt wird. Mit dem Geld von Said Pascha wollte ich mir einmal eine Zukunft aufbauen, vielleicht ein Haus kaufen oder privaten Studien nachgehen, heute muß ich eingestehen, daß das Geld nicht nur aufgebraucht ist, ich habe sogar Schulden gemacht. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht einmal, wovon ich die Überfahrt bezahlen soll . . .« In diesem Augenblick wurden die Flügeltüren der Roten Halle aufgerissen, und umgeben von einer Schar rot livrierter Diener trat der Khedive ein. Der dicke, ältliche Potentat wirkte in seinem schwarzen Bambouli beinahe wie ein Fremdkörper.

»Es lebe Preußen!« rief er in französischer Sprache, als er Heinrich Brugsch erkannte. Brugsch errötete. »Tapfere Soldaten!« meinte Ismail und verdrehte das linke Auge, während das rechte geschlossen blieb. »Königgrätz, ein stolzer Sieg der Preußen.«

Heinrich Brugsch bedankte sich artig für das Kompliment, fügte hinzu, daß die Preußen bereits vor Wien stünden, Bismarck strebe jedoch einen Frieden mit Österreich und den Südstaaten an.

»Er wird ihn bekommen«, sagte der Khedive und kam dann auf den Grund der Audienz zu sprechen: »Ägypten ist ein Land mit Vergangenheit und mit Zukunft. Und ich will mein Land auf der Weltausstellung in Paris aller Welt präsentieren. Wir Ägypter wollen Bedeutenderes zeigen als der Sultan von Konstantinopel und Kunstvolleres als der Bey von Tunis, und Sie beide sollen mir dabei auf Ihrem Gebiet behilflich sein.«

Ein Diener reichte Pläne, und Ismail versuchte, sie zu erklären. Ferdinand de Lesseps demonstrierte Pläne und Modelle des Suezkanals. Eine Karawanserei und Werkstätten ägyptischer Handwerker sollten den Zauber des Orients vermitteln. Mit Freude habe er Mariettes Idee aufgegriffen, den westlichen Tempel der Insel Philae als Rekonstruktion zu erstellen und im Innern Mumiensärge und den Schmuck der Königin Ahotep auszustellen. Der Vizekönig versprach, es an nichts fehlen zu lassen, Architekten, Ingenieure und Handwerker stünden bereit, um mit Mariette nach Paris zu reisen.

»Und Sie, mein lieber Monsieur Brugsch«, wandte er sich an den Preußen, »wollen Kairo für immer verlassen?« »Leider, Hoheit«, sagte Brugsch bedauernd. »Er wird wiederkommen«, meinte Mariette, »es wäre ja nicht das erste Mal . . .«

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