Eintritt frei! Kinder die Hälfte!

Onkel Ringelhuth stieß in dem Schrank gegen einen harten Gegenstand. Das war ein alter Spazierstock, und den nahm er mit. Die Südsee ist weit, dachte er. Und dann raste er wie ein studierter Langstreckenläufer in das Dunkel hinein und immer geradeaus. Zunächst begleiteten hohe bröcklige Mauern den gespenstischen Weg. Aber plötzlich hörten die Mauern auf, und der Onkel befand sich in einem Wald.

Doch in diesem Wald standen nicht etwa Bäume, sondern Blumen! Gewaltige Glockenblumen zum Beispiel, hoch wie Tannen. Und wenn der Wind wehte, schlugen die Staubgefäße gegen die Blütenwände, und das klang, als würde geläutet. Und neben den Glockenblumen standen Schwertlilien. Und Kamillen. Und Akelei. Und Rosen in herrlichen Farben. Und alle Blumen in diesem Wald waren groß wie jahrhundertealte Bäume. Und die Sonne ließ die mächtigen Blüten leuchten. Und die Glockenblumen läuteten verzaubert, denn es wehte eine leichte Brise. Und Onkel Ringelhuth rannte zwischen den vergrößerten Blumen hin und her und rief dauernd:

»Konrad, wo bist du?«

Fast zehn Minuten rannte er so, ehe er die Ausreißer erwischte. Negro Kaballo, das Rollschuhpferd, stand vor einem gigantischen Veilchen und knabberte an dessen Blättern, die wie schwebende grüne Teppiche aussahen. Und der Neffe saß auf dem Rücken des Gauls, blickte in die Blumenwipfel hinauf und hatte, obwohl er für so etwas eigentlich viel zu erwachsen war, den Daumen in den Mund gesteckt.

»Ich werde verrückt!« rief der Onkel und trocknete sich mit dem Taschentuch die Stirn. »Ich werde verrückt!« wiederholte er hartnäckig. »Erstens lauft ihr davon, und zweitens schleppt ihr mich in einen Wald - also, so ein Wald ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet.«

»Sind wir eigentlich schon in der Südsee?« fragte Konrad.

»Nimm den Finger aus dem Mund, wenn du mit uns sprichst!« befahl der Onkel.

Konrad erschrak, gehorchte blindlings, betrachtete seinen Daumen, als hätte er ihn noch nie gesehen, und schämte sich in Grund und Boden.

Das Pferd rief: »Sitzen Sie auf!« Der Onkel ging in die Kniebeuge, sprang hoch, schwang sich auf den Pferderücken, klammerte sich an seinem Neffen fest, gab dem Tier einen Klaps mit dem Spazierstock, und fort ging’s! Der Rappe war vorzüglicher Laune und deklamierte: »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind.«

Aber Konrad sagte: »Wir sind doch nur Onkel und

Neffe.«

Und Ringelhuth meinte: »Wieso Nacht? Sie übertreiben. Galoppieren Sie lieber!«

»Gemacht!« rief das Pferd und schaukelte die zwei durch den Blumenwald, daß ihnen Hören und Sehen verging. Konrad hielt sich an der flatternden Mähne fest und der Onkel an Konrad; und der Fleischsalat und der Himbeersaft gerieten sich mächtig in die Haare. Die Rosen schimmerten bunt. Die Glockenblumen läuteten leise. Und Onkel Ringelhuth meinte zu sich selber: »Wenn wir nur schon da wären.«

Und dann stand das Pferd mit einem Ruck still.

»Was gibt’s denn?« fragte Konrad, der die Augen während des Galopps geschlossen hatte und sie nun

vorsichtig wieder öffnete.

Sie hielten dicht vor einem hohen Bretterzaun. Und an

dem Bretterzaun hing ein Schild. Und auf dem Schild war zu lesen:

Hier beginnt das Schlaraffenland
Eintritt frei!
Kinder die Hälfte

Onkel Ringelhuth rutschte vorsichtig vom Gaul, musterte das Schild und den Zaun und rief schließlich: »Da stimmt doch was nicht.«

»Wieso?« fragte das Pferd.

»Der Zaun hat keinen Eingang«, sagte der Onkel, und nun sahen die anderen auch, daß sie keine Tür sahen. Konrad stellte sich auf Negro Kaballos Rücken, hielt sich am Zaun fest und wollte sich hochziehen. Aber Ringelhuth packte den Jungen an den Füßen. »Du bist ein maßloses Schaf, mein Sohn«, flüsterte er. »Glaubst du wirklich, daß man kletternd ins Schlaraffenland gelangt? Da drüben leben bekanntlich die faulsten Menschen, die es auf der ganzen Welt gibt. Die werden doch nicht klettern!«

Aber der Junge gab nicht nach. Er klammerte sich an dem Zaun fest und zog den Körper langsam hinauf. »Gleich kann ich hinübersehen«, ächzte er begeistert. Da aber tauchte von drüben unvermittelt eine gewaltige Hand auf und verabreichte Konrad eine solche Ohrfeige, daß er den Zaun losließ, neben dem Pferd ins Gras fiel und sich die Backe hielt.

»Da hast du’s«, sagte der Onkel. »Man muß nicht immer klettern wollen, bloß weil man’s kann.« Er gab ihnen ein Zeichen, daß sie schweigen sollten, lehnte sich an den Baum und rief: »Wenn sich diese Kerle einbilden sollten, daß wir klettern, dann haben sie sich geschnitten. Lieber bleiben wir draußen.« Dann gähnte er herzzerreißend und sagte verdrießlich: »Das beste wird sein, wir schlafen ‘n paar Runden.«

Kaum hatte er ausgeredet, da ging in dem Zaun eine Tür auf, obwohl vorher gar keine Tür dringewesen war. Und eine Stimme rief: »Bitte näherzutreten!«

Sie schritten durch die Tür. Und das erste, was sie sahen, war ein riesiges Bett. Und in dem Bett lag ein dicker Mann und knurrte: »Ich bin der Portier. Was wünschen Sie?«

»Wir wollen nach der Südsee«, erwiderte der Onkel.

»Immer geradeaus«, sagte der Portier, drehte den Besuchern den Rücken und schnarchte, was das Zeug hielt.

»Hoffentlich strengt Sie das Schnarchen nicht zu sehr an«, meinte der Onkel. Aber der Dicke war schon hinüber, oder er war zu faul zum Antworten.

Konrad betrachtete sich die Gegend. Es handelte sich offenbar um einen Obstgarten.

»Sieh nur, Onkel!« brüllte der Junge. »Hier wachsen Kirschen und Äpfel und Birnen und Pflaumen auf ein und demselben Baum!«

»Es ist bequemer so«, meinte der Onkel.

Aber das Pferd war mit dem Schlaraffenland noch nicht einverstanden. »Solange man das Obst noch pflücken muß«, sagte es, »solange kann man mir hier nicht imponieren.«

Konrad, der einen der Vierfruchtbäume genau betrachtet hatte, winkte den Onkel und das Pferd herbei. Und was sie da feststellten, war wirklich außerordentlich praktisch. Auf dem Baumstamm befand sich ein Automat mit Griffen und Inschriften. »Am linken Griff einmal ziehen: 1 geschälter, zerteilter Apfel«, stand zu lesen. »Am linken Griff

zweimal ziehen: 1 gemischtes Kompott. Am rechten Griff einmal ziehen: 1 Stück Pflaumenkuchen mit

Schlagsahne.«

»Das ist ja enorm«, sagte der Onkel und zog rechts zweimal. Darauf klingelte es, und schon rutschte ein Teller mit Kirschenmarmelade aus dem Baum.

Nun fingen alle drei an, die Bäume zu bearbeiten, und ließen sich’s schmecken. Den größten Appetit entwickelte das Roß. Es fraß zwei Bäume leer und konnte kein Ende finden. Onkel Ringelhuth trieb zum Aufbruch.

Doch das Pferd sagte: »Gehen Sie nur voraus, ich komme nach.« Und so marschierten Konrad und der Onkel immer gradeaus ins Schlaraffenland hinein. Manchmal liefen Hühner gackernd über den Weg. Sie zogen kleine blanke Bratpfannen hinter sich her. Und wenn sie Leute kommen sahen, blieben sie stehen und legten geschwind Spiegelei mit Schinken oder Omeletten mit Spargelspitzen.

Konrad winkte ab. Denn er war satt. Da verschwanden die Hühner, ihre Pfannen hinter sich herziehend, im Gebüsch.

»Menschen scheint es hier überhaupt nicht zu geben«, sagte der Junge.

»Sicher gibt es hier welche«, meinte Ringelhuth. »Denn sonst hätten ja die Automatenbäume nicht den geringsten Sinn.«

Der Onkel hatte recht. Nach einer Wegbiegung trafen sie auf Häuser. Die Häuser standen auf Rädern und hatten Pferde vorgespannt. Dadurch war es den Bewohnern möglich, im Bett zu bleiben und trotzdem überallhin zu gelangen. Außerdem waren an den Schlafzimmerfenstern Lautsprecher befestigt. Und wenn sich zwei Schlaraffen unterhalten wollten, ließen sie ihre Häuser mit Hilfe der Gespanne nebeneinander bugsieren und verständigten sich per Lautsprecher. Ohne daß sie einander zu Gesicht bekamen.

Konrad deutete auf zwei solche Häuser. Onkel und Neffe schlichen auf Zehenspitzen näher und hörten eine verschlafene Stimme aus dem einen der Lautsprecher reden.

»Lieber Präsident«, sagte der eine Lautsprecher, »was haben wir eigentlich heute für Wetter?«

»Keine Ahnung«, antwortete der andere Lautsprecher. »Ich bin seit zehn Tagen nicht aus dem Bett gekommen.«

»Na«, brummte der eine, »zum Fenster könnten Sie doch

wenigstens mal hinausschauen, wenn Sie uns regieren!«

»Warum schauen denn Sie nicht hinaus, lieber Hannemann?«

»Ich liege seit vorgestern mit dem Gesicht zur Wand und bin zu faul, mich umzudrehen.«

»Genauso geht es mir, lieber Hannemann!«

»Tja, Herr Präsident, dann werden wir wohl auf den Wetterbericht verzichten müssen.«

»Das scheint mir auch so, Hannemännchen. Wiedersehn. Schlafen Sie gut!«

»Gleichfalls, Herr Präsident. Winkewinke!« Die beiden Lautsprecher gähnten. Und dann rollten die Häuser wieder voneinander fort.

»Diesen Präsidenten wollen wir uns mal beschnuppern«, schlug Ringelhuth vor.

Und sie folgten dem langsam dahinrollenden Präsidentenpalais. Als es in einem Park von Automatenbäumen gelandet war und stillstand, blickten sie neugierig durchs Kammerfenster.

»So ein fetter Kerl«, flüsterte der Onkel.

»Meine Herren!« rief Konrad. »Das ist doch der dicke Seidelbast!«

»Woher kennst du denn den Präsidenten des Schlaraffenlandes?«

»Der dicke Seidelbast ist doch in unsrer Schule elfmal sitzengeblieben, weil er so faul war!« berichtete der Junge. »In der dritten Klasse hat er dann geheiratet und ist aus der Stadt fortgezogen. Es hieß, er wolle Landwirt werden. Daß er Präsident im Schlaraffenland geworden ist, davon hatten wir keine Ahnung.« Dann klopfte Konrad ans Fenster und rief: »Seidelbast!«

Der Präsident, dick wie ein Fesselballon, wälzte sich ärgerlich im Bett herum und knurrte unwillig: »Was’n los?«

»Kennst du mich nicht mehr?« fragte der Junge.

Seidelbast öffnete die kleinen Augen, die in dem dicken Gesicht kaum noch zu erkennen waren, lächelte mühsam und fragte: »Was machst du denn hier, Konrad?«

Onkel Ringelhuth lüftete den Hut und sagte, er sei der Onkel und sie befänden sich nur auf der Durchreise hier und wollten nach der Südsee.

»Ich bring euch bis an die Grenze«, meinte Präsident Seidelbast. »Ich will nur erst einen Happen essen. Moment, Herrschaften!« Er griff in den Nachttisch und holte eine Tablettenschachtel heraus. »Zunächst paar pikante Vorspeisen«, seufzte er, nahm eine weiße Pille in den Mund und drückte auf einen Knopf. Daraufhin erschien an der gegenüberliegenden Zimmerwand ein farbiges Lichtbild, das Ölsardinen und russische Eier und Ochsenmaulsalat zeigte.

»Nun einen hübschen knusprigen Gänsebraten«, sagte der Präsident, nahm eine rosa Pille und drückte wieder auf einen Knopf. Jetzt erschien auf der weißen Wand ein pompöser Gänsebraten mit Bratäpfeln und Gurkensalat. »Und zum Schluß Eis mit Früchten«, sagte Seidelbast, nahm eine gelbe Pille und drückte ein drittes Mal auf einen der Knöpfe. Auf der Zimmerwand erschien ein herrlicher Eisbecher mit halben Pfirsichen.

Konrad lief das Wasser im Mund zusammen.

»Warum essen Sie denn Pillen?« fragte der Onkel. Als Apotheker interessierte ihn das natürlich ganz besonders.

»Das Essen strengt sonst zu sehr an«, behauptete der Präsident. »In Tablettenform, durch Lichtbilder unterstützt, schmeckt es ebensogut und macht viel weniger Mühe.«

Während die zwei Fremdlinge mit Staunen beschäftigt waren, rollte sich Seidelbast aus dem Bett. Er trug eine Badehose; die anderen Kleidungsstücke waren ihm auf die Haut gemalt: der Kragen, der Schlips, das Jackett, die Hosen, das Hemd, die Strümpfe und die Schuhe. »Fein, was?« fragte er. »Meine Erfindung! Indanthren! Das ewige An-und Ausziehen kostet unnötige Zeit und Arbeit.« Er ächzte und stöhnte und watschelte aus dem Zimmer. Es dauerte hübsch lange, bis er aus dem Haus gekugelt kam. Er begrüßte seinen ehemaligen Schulkameraden verhältnismäßig herzlich, und auch dem Onkel Ringelhuth gab er die Hand.

»Ehe ihr nach der Südsee eilt, müßt ihr unbedingt unsre Versuchsstation sehen«, sagte er. Und dann gingen sie langsam über eine blaugraue Wiese. Aber plötzlich begann es zu regnen.

»Ich hätte den Spazierstock zu Hause lassen sollen«, meinte Ringelhuth. »Der Schirm wäre angebrachter gewesen.«

»Zerbrechen Sie sich deswegen nicht den Kopf!« erwiderte der Präsident Seidelbast. Passen Sie mal auf, welche Annehmlichkeiten unser Land zu bieten hat!« Er sollte recht behalten. Kaum waren die ersten Tropfen gefallen, so wuchsen Dutzende von Regenschirmen auf der Wiese hoch. Man konnte, falls man das wollte, unter so einem Schirm stehenbleiben. Man konnte ihn aber auch aus dem Boden ziehen und unter seinem Schütze weitergehen.

Die drei pflückten sich je einen Schirm und wanderten weiter.

»Wenn der Regen aufhört, verwelken die Schirme wieder«, tröstete Seidelbast. Und das imponierte den Besuchern außerordentlich.

Der Regen hörte wieder auf, und richtig, die Schirme fielen zusammen wie welkende Blüten. Der Präsident warf seinen verwelkten Schirm in den Straßengraben, und die Gäste folgten seinem Beispiel. »Die Versuchsstation, die ich eingerichtet habe«, berichtete Seidelbast, »hat den Zweck, Einwohner von regem Temperament und lebhafter Phantasie angemessen zu beschäftigen, ohne daß sie sich anstrengen.«

»Erzählen Sie mehr davon«, bat der Onkel.

»Einem normalen Schlaraffen genügen die vierundzwanzig Stunden des Tages gerade zum Essen und zum Schlafen«, sagte Seidelbast. »Sie dürfen nicht vergessen, daß Einwohner, die weniger als zweiundeinhalb Zentner wiegen, des Landes verwiesen werden. Nun gibt es aber auch unter denen, die das Nationalgewicht mühelos aufbringen, ausgesprochen lebhafte Naturen. Was soll man tun? Langeweile zehrt. Die Zahl der Ausgewiesenen könnte wachsen. Die Bevölkerungsdichte könnte sinken. Es galt, einen Ausweg zu suchen. Ich schmeichle mir, ihn gefunden zu haben. Hier ist die Station! Passen Sie gut auf!«

Sie befanden sich auf einer Art Liegewiese. Ringsum standen Betten, und in den Betten lagen viele dicke Herrschaften und blinzelten vor sich hin.

»Was man sich hier denkt, entsteht in Wirklichkeit!« sagte Seidelbast verheißungsvoll. »Das ist, wie Sie einsehen werden, ein hervorragender Zeitvertreib. Wenn man endlich von dem Gebilde seiner Phantasie genug hat, ruft man bloß: >Zurück, marschmarsch!< und fort ist der Zauber.«

»Das glaub ich dir nicht«, erklärte Konrad. »Seidelbast, du verkohlst uns.«

»Donnerschlag!« rief da der Onkel. »Seht ihr das Kalb

mit zwei Köpfen?«

Tatsächlich! Vor einem der Betten stand ein zweiköpfiges geschecktes Kalb und glotzte aus vier Augen auf den dicken Mann, der es sich gewünscht hatte, und nun, als er das seltsame Tier erblickte, albern in die Kissen kicherte.

Schließlich winkte er ab und rief prustend: »Zurück, marschmarsch!«, und das Kalb war verschwunden.

Die drei spazierten weiter und kamen zu einer dicken Dame. Die lag auch im Bett und hatte vor lauter Nachdenken tausend Falten auf der Stirn. Plötzlich stand ein alter Mann mit einer Botanisiertrommel vor ihr.

»Zurück, marschmarsch!« brummte sie, und da war er weg. Und dann zog sie noch mehr Falten, und wieder stand ein alter Mann mit einer Botanisiertrommel vor ihrem Bett.

Er ähnelte dem ersten. Er hatte nur noch weniger Zähne, dafür aber lange weiße Locken.

»Zurück, marschmarsch!« kommandierte die Frau, und da verschwand auch er. Und dann stand ein dritter alter Mann vor ihr, der ähnelte den ändern beiden. Aber er hatte eine größere Nase und eine Glatze. »Zurück, marschmarsch!« schrie die Frau wütend und schloß erschöpft die Augen.

»Was machen Sie denn da, Frau Brückner?« fragte Seidelbast.

»Ach, Herr Präsident«, antwortete die Frau, »ich stelle mir meinen Großvater vor. Aber ich krieg ihn nicht mehr zusammen. Ich habe vergessen, wie er aussah.«

»Ärgern Sie sich nicht!« warnte Seidelbast. »Sie wiegen seit der vorigen Woche nur noch zweihundertfünfundfünfzig Pfund. Es täte mir leid, Sie aus dem Schlaraffenland ausweisen zu müssen.«

»Seit acht Tagen probier ich das nun«, sagte Frau Brückner weinend, »und immer wieder mißlingt mir der olle Mann. Gute Nacht, Seidelbästchen!« Und schon schlief sie. So sehr hatte sie ihr Gehirn strapaziert.

»Dort!« schrie Konrad. »Dort! Seht nur! Ein Löwe!«

Vor einem der Betten stand ein gewaltiger blonder Löwe, riß das Maul sperrangelweit auf und zeigte sein Gebiß.

»Natürlich der dicke Borgmeier«, schimpfte Seidelbast. »Dauernd stellt er sich wilde Tiere vor. Das ist eine fixe Idee von ihm. Wenn das nur nicht mal schiefgeht!«

Der blonde Löwe schlich näher an das Bett, machte einen

Buckel und fauchte gräßlich. Der dicke Borgmeier wurde blaß. »Zurück!« rief er. »Marsch zurück, du Mistvieh!« Doch der Löwe kroch näher. Er knabberte schon am Federbett. »Mach, daß du wegkommst!« brüllte Borgmeier.

»Er hat vor lauter Angst vergessen, daß es >Zurück, marschmarsch< heißt«, sagte Seidelbast. »Wenn es ihm nicht noch einfällt, wird er leider gefressen werden.«

»Da werd ich mal hinrennen und es dem Löwen ins Ohr schreien«, meinte Konrad und wollte zu Borgmeier hinüber.

Aber Onkel Ringelhuth hielt ihn fest und sagte: »Willst du gleich hierbleiben? Deine Eltern drehten mir den Hals um, wenn ich erzählte, daß du von einem gedachten Löwen gefressen worden wärst.«

Und auch Seidelbast riet zum Dableiben. »Es hätte keinen Zweck«, erklärte er. »Borgmeier muß selber rufen.«

Inzwischen war der Löwe aufs Bett gesprungen, trat mit den Vordertatzen Herrn Borgmeier auf den Bauch und betrachtete den Dicken gerührt. So ein fettes Frühstück war ihm lange nicht beschert gewesen. Er riß das Maul auf

»Zurück, marschmarsch!« schrie Borgmeier, und der Löwe war weg.

»Sie sind wohl nicht ganz bei Tröste?« fragte Seidelbast den schlotternden Mann. »Wenn es nicht so anstrengend wäre, würde ich mich über Sie ärgern.«

»Ich will’s bestimmt nicht wieder tun«, jammerte Borgmeier.

»Ich entziehe Ihnen für vierzehn Tage die Erlaubnis, die Versuchsstation zu betreten«, sprach der Präsident streng und ging mit den Besuchern weiter.

Plötzlich wurde Onkel Ringelhuth immer kleiner und kleiner.

»Ich werde verrückt!« rief er. »Was soll denn das bedeuten?«

Konrad lachte und rieb sich die Hände. Seidelbast lachte auch und sagte zu ihm: »Du bist eine tolle Rübe.«

Und der Onkel schrumpfte immer mehr zusammen. Jetzt war er nur noch so groß wie Konrad. Dann nur noch so hoch wie ein Spazierstock. Und schließlich war er nicht größer als ein Bleistift.

Konrad bückte sich, nahm den winzigen Onkel in die

Hand und sagte: »Ich hab mir nämlich ausgemalt, du wärest so klein wie auf der Photographie, die wir zu Hause haben.«

»Mach keine Witze«, sagte der Miniaturonkel. »Rufe sofort: Zurück, marschmarsch!« Er hob das Händchen, als wolle er dem Neffen eine Ohrfeige geben. Dabei war er nicht größer als Konrads Handfläche, auf der er stand. »Ich befehle es dir!« rief er.

Seidelbast lachte Tränen. Der Junge sagte aber zu seinem Onkel: »Du häßlicher Zwerg!« und steckte ihn in die Brusttasche. Dort guckte Ringelhuth nun heraus, fuchtelte mit den Ärmchen und schrie so lange, bis er heiser war. Dann kam das Pferd angetrabt, und Konrad stellte es dem Präsidenten vor.

»Sehr angenehm«, sagten beide. Das Pferd lobte das Schlaraffenland über den grünen Klee. Es sei der ideale Aufenthalt für erwerbslose Zirkusgäule. Und dann fragte es: »Wo ist denn eigentlich unser Apotheker?«

Konrad wies stumm auf seine Brusttasche, und dem Pferd fiel vor Staunen fast der Strohhut vom Kopf. Nun teilte der Junge mit, wodurch der Onkel so klein geworden sei und was sie mit dem Löwen und Frau Brückners

Großvater erlebt hätten. »Oh«, sagte das Pferd, »das Rezept versuch ich auch noch. Ich möcht auf der Stelle meine vier Kugellagerrollschuhe hier haben!« Und bums, hatte es die vier Rollschuhe an den Hufen, fix und fertig angeschnallt, weil es sich das so vorgestellt hatte.

Es freute sich sehr und fuhr gleich zwei meisterhafte Rückwärtsbogen, dann eine große Acht und zum Schluß auf der rechten Hinterhand eine Pirouette. Der Anblick war ein Genuß für Kenner und Laien. Seidelbast sagte, wenn er nicht so unbändig faul wäre, würde er klatschen. Das Pferd knickste und dankte für die seiner Leistung gezollte Anerkennung.

»Mein lieber, guter Neffe«, sagte Onkel Ringelhuth, »laß mich bitte wieder aus deiner Brusttasche heraus.«

»Mein lieber, guter Onkel«, erwiderte Konrad, »ich denke ja gar nicht dran.«

»Nein?«

»Nein!«

»Also, wie du willst«, sagte der Onkel, »dafür sollst du zur Strafe ganz geschwind einen einzigartigen Wasserkopf kriegen. Und grüne Haare. Und statt der Finger zehn Frankfurter Würstchen.«

Und so geschah’s. Konrad bekam einen scheußlichen Wasserkopf mit giftgrünen Haaren obendrauf. Und an den Händen baumelten ihm zehn Frankfurter Würstchen. Das Pferd lachte und sagte: »Die reinste Schießbudenfigur!« Und Seidelbast hielt dem Jungen einen Spiegel vor, damit er sehen konnte, wie schön er geworden war. Da mußte Konrad weinen. Und Onkel Ringelhuth mußte über die zehn Frankfurter Würstchen so lachen, daß Konrads Brusttasche einen großen Riß erhielt.

Und Seidelbast meinte, sie hätten sich eher was Hübsches vorstellen und dem ändern was Gutes wünschen sollen. »Aber so sind die Menschen«, knurrte er weise. »Nun entzaubert euch gefälligst!«

Der Onkel rief also: »Zurück, marschmarsch.« Und so nahm der Neffe sein früheres Aussehen wieder an. Nun holte Konrad den Onkel aus der Brusttasche raus, setzte ihn ins Gras, rief ebenfalls: »Zurück, marschmarsch!« Und im Handumdrehen war Onkel Ringelhuth so groß wie früher.

»Photographieren hätte man euch sollen«, sagte Seidelbast, »ihr saht reichlich belemmert aus.«

»Jetzt aber fort!« meinte das Pferd und scharrte ungeduldig mit den Rollschuhen. Sie verließen also die Liegewiese, und Seidelbast brachte sie bis zur Landesgrenze.

»Haben Sie noch viel Platz im Schlaraffenland?« fragte Ringelhuth zum Abschied.

»Warum?« fragte der Präsident.

»Wir haben viele Leute bei uns, die nichts zu tun und nichts zu essen haben«, antwortete der Onkel.

»Verschonen Sie uns mit denen«, rief Seidelbast. »Die Kerle wollen ja arbeiten! So was können wir hier nicht brauchen.«

»Schade«, sagte das Pferd. Und dann reichten sie einander die Hände.

Der Onkel und Konrad setzten sich auf ihren Rollschuhgaul und fuhren unter Hallo über die Grenze. Seidelbast winkte mit dem kleinen Finger, um sich nicht zu ermüden, und rief: »Immer geradeaus!

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