Kurz danach langten sie vor einer riesigen mittelalterlichen Burg an. Zwischen ihnen und der Burg befand sich ein mindestens zehn Meter breiter, mit Wasser gefüllter Graben. Die Festung selber bestand aus unzähligen bewimpelten Türmen, Zinnen, Wällen und Erkern, und am Burgtor war eine Zugbrücke hochgekettet.
»So ‘n Ding hatte ich als Junge zum Spielen«, sagte Onkel Ringelhuth. »Bloß, daß meine Burg nicht so groß war. Dafür hatte sie aber rotes Glanzpapier vor den Fenstern. So, und wie kommen wir nun dort hinüber?«
»Wir müssen klingeln«, meinte Konrad.
Da lachte das Pferd überlegen und behauptete, Burgen mit Klingeln gebe es nicht. Und so war es denn auch. Aber nach einigem Suchen fanden sie am Burggraben ein kleines Schild. Und auf dem Schild stand:
Die Burg
Zur Großen Vergangenheit
Einlaß erfolgt
Nach drei Trompetenstößen
»Wo sollen wir vor lauter Angst drei Trompetenstöße hernehmen?« fragte der Onkel verärgert. »Daß einem die Leute beim Grenzübertritt immer solche Schwierigkeiten machen!«
»Soll ich dreimal auf dem Kamm blasen?« erkundigte ich Konrad eifrig und brachte seinen Kamm aus der Tasche.
»Untersteh dich!« rief Ringelhuth, rundete die Hände vorm Mund, holte tief Atem und machte »Täterätätä! Tä- terätätää! Täterätätää!« Dafür, daß er ein Apotheker ohne Trompete war, trompetete er gar nicht übel.
Nun rasselte die Zugbrücke herunter, legte sich über den Graben, und das Pferd rollte mit seinen beiden Reitern geschwind durchs Burgtor in den Hof. Dort stand ein alter Ritter in einer goldenen Rüstung, stützte sich auf ein verrostetes Schwert und fragte quer durch seinen weißen Bart hindurch: »Von wannen, o Fremdlinge, kommt ihr des Wegs?«
Ringelhuth salutierte mit seinem Spazierstock und sagte, sie kämen aus dem Schlaraffenland.
»Und wohin«, fragte der Ritter, »wohin führt euch eure Straße?«
»Nach der Südsee«, erklärte Konrad.
»Die Durchreise sei euch verstattet«, sagte der vergoldete Großvater. »Zuvor jedoch vermeldet mir eure Namen.«
Onkel Ringelhuth stellte sich und seine Begleiter vor.
»Ich hinwiederum«, behauptete der Torwächter, »bin der aus den Geschichtsbüchern bekannte Kaiser Karl der Große.«
»Meine Verehrung«, sagte der Onkel. »Nun reden Sie mal bißchen weniger geschwollen, lieber Karl der Große,und verraten Sie uns, in welcher Richtung wir reiten müssen.«
Karl der Große strich sich den Bart und brummte: »Immer geradeaus. Doch das Glück ist euch hold. Auf dem zweiten Blachfeld links finden heute die Olympischen Spiele statt.«
»Darauf haben wir grade gewartet«, sprach das Pferd, zog flüchtig den Strohhut und rollte von dannen. Karl der Große stieg klirrend und gekränkt auf seinen Söller zurück.
Konrad bat den Onkel, das Pferd am Sportplatz halten zu lassen. Schon hörten sie schmetternde Fanfaren. Und dann sahen sie das Stadion. Auf den Tribünen saßen knorrige Ritter und Ritterfräulein mit Operngläsern und Kavaliere mit großen Allongeperücken und Damen mit bestickten Reifröcken.
»Also schön«, meinte Ringelhuth. »Brrr, mein Pferdchen!« Negro Kaballo hielt an. Onkel und Neffe kletterten herunter. Dann lösten sie bei Kaiser Barbarossa, der an einem steinernen Tisch die Kasse innehatte, drei Karten, 1.Tribüne, 1.Reihe, Schattenseite. Barbarossa drückte ihnen, außer den Billetts, ein Programm in die Hand.
Konrad stieß den Onkel heimlich an und machte ihn auf Barbarossas Vollbart aufmerksam, der durch den steinernen Tisch gewachsen war.
»Eine ausgesprochen bärtige Gegend«, sagte Ringelhuth. »Aber seht nur, dort findet das Kugelstoßen statt!« Er blickte in das Programm und las vor: »Ausscheidungskämpfe im Kugelstoßen. Teilnehmer: Karl XII. von Schweden, Götz von Berlichingen, Peter der Große, August der Starke.«
Erst warf Götz von Berlichingen. Er warf übrigens mit der linken Hand, wegen seiner eisernen Rechten. Dann kam August der Starke an die Reihe und erreichte 18,17 m. Konrad sagte, das sei ein neuer Weltrekord. KarlXII. von Schweden zog zurück, weil er sich für die Konkurrenz im Speerwerfen schonen wollte.
Da erhielt Onkel Ringelhuth einen Stoß ins Kreuz und hätte ums Haar den Zaren Peter über den Haufen gerannt. Der Onkel drehte sich wütend um. Vor ihm stand ein junger Mann mit einem Filmaufnahmeapparat, »‘tschuldi- gung«, sagte der junge Mann, »ich bin Vertreter der Universal. Muß ‘n paar Tonwochenbilder runterdrehen. Hat’s weh getan?«
August der Starke nahm den Filmfritzen beiseite und wisperte mit ihm. Dann packte er die Kugel und warf sie, während der junge Mann kurbelte, hoch im Bogen in den Sand. Etwas später stellte er sich vor den Apparat in Heldenpositur, lächelte königlich vor sich hin und fragte, ob er ein paar passende Worte sprechen solle.
»Wie Sie wollen«, erwiderte der junge Mann. »Ich drehe aber stumm.«
Ringelhuth und Konrad suchten lachend das Weite. Das Pferd rollte grinsend hinterdrein. Sie betraten die Tribüne und konnten ihre Plätze nicht finden. Bis es sich herausstellte, daß zwei der Sitze schon besetzt waren.
»Wollen Sie mir Ihre Billetts zeigen!« sagte der Onkel.
Da blickten die beiden Männer auf. Es waren Julius Cäsar und Napoleon der Erste. Napoleon musterte den Apotheker unwirsch und legte das gelbe Gesicht in majestätische Falten. Als das keinen Eindruck zu machen schien, rückte er beiseite, und auch Cäsar machte Platz.
»Wenn ich jetzt meine Alte Garde hier hätte, würde ich nicht wanken und nicht weichen«, bemerkte Napoleon hoheitsvoll.
Onkel Ringelhuth setzte sich neben Napoleon und meinte: »Wenn Sie noch ein paar derartig vorwitzige Sachen sagen, nehme ich Ihnen Ihren Dreispitz vom Kopf und werf ihn meinem Lieblingspferd zum Fräße vor, verstanden?«
»Sie sollten sich überhaupt mal wieder einen neuen Zylinder kaufen, Herr Napoleon«, gab Negro Kaballo zu bedenken.
Julius Cäsar hüllte sich eng in seine Toga und sagte zu dem französischen Kaiser: »Ich will nicht hetzen, aber ich an Ihrer Stelle ließe mir das nicht bieten.«
»Ohne Armee können Sie da gar nichts machen, Kollege«, erwiderte Napoleon verdrießlich. »Sehen Sie nur, Theodor Körner ist schwach auf der Rückhand.« Vor der Tribüne wurde nämlich Tennis gespielt. Turnvater Jahn saß auf einem hohen Stuhl und schiedsrichterte das Herrendoppel. Ajax I und Ajax II, kämpften gegen Theodor Körner und den Fürsten Hardenberg. Der Ball sauste hin und her. Die zwei Griechen waren, weil sie Brüder waren, vorzüglich aufeinander eingespielt. Das deutsche Paar ließ zu wünschen übrig.
»Welch alberne Beschäftigung, so einen kleinen leichten Ball hinüber und herüber zu schlagen«, sagte Julius Cäsar. »Wenn es wenigstens eine Kanonenkugel wäre!« Plötzlich schrie er gellend auf. Theodor Körner, der bekanntlich schwach auf der Rückhand war, hatte den Ball ausgeschlagen und ihn, natürlich ohne jede niedrige Absicht, Julius Cäsar mitten ins Gesicht gefeuert. Nun saß der römische Diktator da, hielt sich die Römernase und hatte Tränen in den Augen.
»Wenn es wenigstens eine Kanonenkugel gewesen wäre!« sagte Ringelhuth anzüglich, und Konrad fiel vor Lachen vom Stuhl.
»Ihr seid mir schöne Helden«, knurrte der Onkel, blickte Napoleon und Cäsar von oben bis unten an, und dann verließ er die Tribüne. Konrad und das Rollschuhpferd folgten ihm.
Bevor sie das Stadion verließen, hörten sie noch den Lärm der Menge, welche die Aschenbahn umsäumte, auf der gerade Alexander der Große und Achilles den Endspurt um die 100 Meter ausfochten. Alexander gewann, obwohl er beim Start schlecht abgekommen war, das Rennen und brauchte 10,1 Sekunden.
»Das ist schon wieder ein neuer Weltrekord«, rief Konrad.
Negro Kaballo bemerkte, er sei zwar nur ein Pferd, doch er brauche bloß fünf Sekunden.
»Sie haben aber vier Beine«, entgegnete Konrad.
»Laßt doch den Quatsch«, sagte Ringelhuth aufgebracht. »Die Elektrizität hat überhaupt keine Beine und läuft noch viel rascher als ein Pferd. Im übrigen, wenn jemand läuft, um gesund zu bleiben, kann ich das verstehen. Wenn er aber wie angestochen durch die Gegend rast, um eine Zehntelsekunde weniger zu brauchen als wer anders, so ist das kompletter Blödsinn. Denn davon bleibt er nicht
gesund, sondern davon wird er krank.«
Sie gingen die Straßen entlang, an kleinen burgähnlichen Villen vorbei, und grüßten die Könige, Ritter und Generäle, die, in Hemdsärmeln, zu den Fenstern herausschauten und Pfeife rauchten oder in den hübschen gepflegten Vorgärten standen, goldene Gießkannen hielten und ihre Blumenbeete begossen.
Aus einem der Gärten hörten sie Streit, konnten aber niemanden entdecken. Deshalb traten sie näher und guckten über den Zaun. Da lagen zwei ernste, mit schweren Rüstungen versehene Herren im Gras und spielten mit Zinnsoldaten.
»Das könnte Ihnen passen, mein lieber Hannibal!« rief der eine. »Nein, nein! Der Rosenstrauch ist, wie Sie endlich anerkennen sollten, von meinen Landsknechten einwandfrei erstürmt worden.«
»Lieber Herr Wallenstein«, sagte der andere, vor Ärger blaß, »ich denke ja gar nicht dran! Ich werde ganz einfach mit meiner Reiterei Ihren linken Flügel umgehen und Ihnen in den Rücken fallen.«
»Versuchen Sie’s nur!« Wallenstein, Herzog von Friedland, lächelte höhnisch. »Die Attacke wird Ihrer
Kavallerie nicht gut bekommen. Ich ziehe die Reserven, die dort neben dem Resedabeet stehen, nach links und beschieße sie aus der Flanke!«
Nun hoben und schoben sie ihre buntbemalten Zinnsoldaten hin und her. Der Kampf um den Rosenstrauch war in vollem Gange. Hannibal führte seine Reiterei in den Rücken der Kaiserlichen und bedrängte sie arg. Aber Wallenstein bombardierte die Reiterregimenter aus einer
niedlichen Kanone mit Erbsen, und da fielen die Reiter scharenweise um.
Hannibal war wütend. Er holte aus einer Schachtel, die neben ihm stand, neue Reserven hervor und verstärkte die durch Verluste gefährdete Vorhut.
Doch Wallenstein knallte eine Erbse nach der anderen gegen die afrikanischen Truppen. Hannibals Soldaten starben en gros, sogar die gefürchteten Elefantenreiter sanken ins Gras, und die Schlacht um den Rosenstrauch war so gut wie entschieden.
»He, Sie!« brüllte Konrad über den Zaun. »Verlegen Sie doch gefälligst Ihre Front nach rückwärts! Greifen Sie später wieder an! Durchstoßen Sie dann die feindliche
Mitte, denn die ist besonders schwach!«
Hannibal und Wallenstein unterbrachen den Kampf vorübergehend und blickten zu den Zaungästen hinüber. Der karthagische Feldherr schüttelte das kühne Haupt und sprach gemessen:
»Ich gehe nicht zurück. Ich weiche nicht. Und wenn es mich die letzten Soldaten kosten sollte!«
»Na, hören Sie mal«, entgegnete Konrad. »Dafür ist Ihre Armee doch zu schade!«
Jetzt mischte sich Wallenstein ein. »Du bist ein dummer Junge«, erklärte er. »Es kommt nicht darauf an, wieviel Soldaten fallen, sondern darauf, daß man Reserven hat.«
»Ihr seid mir ja zwei Herzchen«, sagte Ringelhuth zu
den Feldherren. »Euch und euresgleichen sollte man überhaupt nur mit Zinnsoldaten Krieg führen lassen!«
»Scheren Sie sich zum Kuckuck!« rief Hannibal aufgebracht. »Wer keinen Ehrgeiz hat, kann hier gar nicht mitreden! Was sind Sie denn von Beruf?«
»Apotheker«, sagte der Onkel.
»Da haben wir’s«, meinte Hannibal und lachte geringschätzig. »Natürlich ein Sanitäter!« Dann wandte er sich wieder Wallenstein zu. »Herzog«, erklärte er, »die
Schlacht geht weiter!«
Und sie fuhren fort, den Rosenstrauch heiß zu umkämpfen. »Bis aufs Messer!« knirschte Hannibal.
»Ergeben Sie sich!« rief Wallenstein. Er hatte mittlerweile die feindlichen Truppen umzingelt und kartätschte sie mit Hilfe von Erbsen in Grund und Boden.
»Erst wenn mein letzter Soldat tot im Gras liegt, früher nicht!« schwor Hannibal. Aber da mußte er niesen. Er blickte besorgt hoch und meinte: »Na schön, hören wir auf. Das Gras ist noch zu feucht. Ich möchte mich nicht erkälten. Wann geben Sie mir Gelegenheit zum Revanchekrieg?«
»Sobald Ihr Schnupfen vorüber ist, lieber Freund«, sagte Wallenstein. »Mit Erkältungen ist nicht zu spaßen.«
Die Feldherren erhoben sich aus dem Gras, vertraten sich ächzend die steifen Beine, ließen ihre erschossenen Truppen am Rosenstrauch liegen und stelzten der Villa zu.
»Ein Jahr vor meiner Ermordung in Eger«, berichtete Wallenstein, »hatte ich einen abscheulichen Schnupfen. Lieber will ich drei Schlachten verlieren als noch einmal so niesen wie damals!«
Damit verschwanden sie im Haus.
»Nehmen Sie eine Aspirintablette!« rief der Onkel »Und trinken Sie eine Tasse Lindenblütentee! Dann können Sie schon morgen wieder in den Krieg ziehen!« Aber Hannibal hörte es nicht mehr.
»Na, hauen wir ab«, sagte das Pferd. »Ich habe die Nüstern voll von diesen Helden.«
Der Onkel und Konrad kletterten wieder auf ihr Roß und rollten der Grenze entgegen. »Ein wahrer Jammer«, meinte Ringelhuth. »Denken Sie nur, Negro Kaballo, mein Neffe spielt zu Hause auch mit Zinnsoldaten!«
»Wieso?« fragte das Pferd. »Willst du später einmal General werden?«
»Nein«, erwiderte der Junge.
»Oder einer von den Zinnsoldaten, die sich morgen unter dem Rosenstrauch totschießen lassen?«
»Ich denke ja gar nicht dran«, erklärte Konrad energisch. »Ich werde Schofför.«
»Und warum spielst du trotzdem mit Soldaten?« fragte das Pferd.
Konrad schwieg. Onkel Ringelhuth aber sagte: »Warum? Weil ihm sein Vater welche geschenkt hat.«
Da waren sie aber an der Grenze. Eine Zugbrücke
rasselte herunter. Sie sausten drüber hin und hatten die Große Vergangenheit im Rücken.