Heinz G. Konsalik
Der Arzt von
Stalingrad
Das große Epos der Kriegsgefangenschaft: Mitten in der Hölle des Plenni-lagers sucht ein Arzt die Würde seines Berufs, die Würde des Menschen zu wahren. Vor dem Hintergrund des riesigen Lagers von Stalingrad spielt sich das erregende und erschütternde Geschehen ab. Dem Lagerarzt Dr. Böhler glückt jene legendäre Operation, die mit Windeseile in allen Gefangenenbaracken von Odessa bis Astrachan mythischen Ruhm gewinnt. Bei Petroleumbeleuchtung in einer eisumtosten russischen Bauernkate, mit nichts ausgerüstet als mit einem Drillbohrer, einem Schlosserhammer, einem Stemmeisen und dem alten Taschenmesser eines Landsers, hatte er die komplizierte Schädeloperation gewagt.
Sonderausgabe mit Genehmigung der Lichtenberg Verlag GmbH, München Printed in Western Germany • BK Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ©
FÜR ALLE, DIE NICHT ZURÜCKKEHRTEN FÜR ALLE, VON DEREN SCHICKSAL NIEMAND WEISS...
GEDULD IST DIE KUNST ZU HOFFEN VAUVENARGUES
Dieses Buch soll kein Aufruf sein. Keine Anklage und kein Mahnmal. Es soll nicht Haß zwischen den Völkern säen und Zwietracht in die Herzen. Es soll keine alten Wunden aufreißen und keine neuen Wunden schlagen. Es soll nichts sein als ein Hohelied der Menschlichkeit - der Roman vom einsamen, gläubigen, hoffenden, duldenden Menschen.
VORWORT
Als Jahre nach dem Krieg ein Arzt aus der sowjetischen Gefangenschaft zurückkehrte, geschah etwas fast Unerklärliches: Ein Mensch, der nicht über sich sprach, der keinen anderen Wunsch hatte, als zu seiner ärztlichen Berufsarbeit zurückzukehren, war plötzlich im Munde aller Menschen. Schon seit Jahren war über 3.000 Kilometer Entfernung, über die Zone des Schweigens und den Eisernen Vorhang hinweg, die Nachricht nach Deutschland gedrungen, daß ein Arzt sich für seine Kameraden in der Gefangenschaft aufopferte, ein Mann, dessen Namen noch niemand gehört hatte.
Jetzt war er wieder in der Heimat. Das ist er, sagten die Menschen, das ist der Mann, der in einzigartiger Weise, aus menschlicher und ärztlicher Verpflichtung heraus unermüdlich für seine Kameraden tätig war und der durch die Kunde von seinen fast unglaubhaften Operationen auch tausend anderen half, die er gar nicht kannte, die sich jedoch an dem Beispiel, das er gab, aufrichteten, Glaube und Hoffnung wiederfanden, um die Entbehrungen und die Vereinsamung in den Weiten Rußlands durchzustehen. Sein Beispiel wirkte nicht nur auf Hilfsbedürftige, sondern auch auf andere Ärzte, die unter dem Eindruck dessen, was sie von ihm hörten, angespornt wurden.
Dieses Buch, das >Der Arzt von Stalingrad< heißt, will nicht den Anspruch erheben, als eine Biographie dieses Arztes angesehen zu werden. Aber es ist entstanden nicht im luftleeren Raum, sondern aus dem schier unerschöpflichen Material, das in den Berichten und den Überlieferungen zahlreicher Zurückgekehrter dem Autor vorlag. Dieser hat es verdichtet und in freier Gestaltung geschaffen. Wenn er auch nicht imstande war, das Lebensbild und das Wirken jenes Arztes nachzuzeichnen, so waren doch sein Beispiel und sein Geist federführend, ohne daß er von der Entstehung dieses Buches wußte.
Die Namen sind aus Rücksicht auf noch lebende Personen geändert oder frei erfunden. Etwaige Übereinstimmungen von Personen, Orten, Erlebnissen und Vorkommnissen sind ungewollt und nicht beabsichtigt.
Der Verlag
ERSTES BUCH
Alles riecht heute wieder nach Kohlsuppe.
Die Baracke, das enge Zimmer, das Bett, die dicken gesteppten Jacken, die Pelzmütze, die Handschuhe, der blecherne Eßnapf, die tausendfach gestopften Socken ... alles, alles! Sogar die Primel vor dem Fenster des Zimmers 3, dem Zimmer unseres Oberarztes Dr. von Sellnow. Woher sie kam, diese Primel... keiner weiß es. Sie war plötzlich da, stand auf dem schmalen Fenstersims und sah hinaus auf die unendliche Weite der Wolgaebene. Der Wind von Stalingrad flüsterte in ihren Blättern, ihre Blüten wiegten sich leicht, und oft standen wir davor, hatten die Hände um diese blaßrote Blüte gelegt und träumten von den Primeln zu Hause. Überall gab es diese Blume in der Heimat, sie wurde hier ein Stück Deutschland, heimatlos wie wir, verpflanzt und doch lebend. Mein Gott, wie dumm sind die Gedanken, wenn man Heimweh hat.
Hinter meinem Rücken ging der Oberarzt hin und her. Seine kurzen, stämmigen Beine stampften den Dielenboden, als wolle er die Nägel einzeln festtreten. In seinem Gesicht, dem breiten Gesicht mit den weit auseinanderstehenden Augen und der hohen Stirn, sah ich Ratlosigkeit und tiefes Entsetzen.
»Ein Saustall, Schultheiß«, schrie er aufgebracht und schlug wütend mit der Faust gegen die Wand. »Ein Saustall, aber kein Lazarett. Keine Medikamente, keine Spritzen, keine Instrumente - nicht mal ein Chirurgenmesser. Womit sollen wir behandeln, womit sollen wir operieren? Ein paar alte dreckige Lappen als Verbandszeug, vier alte verrostete Gefäßklemmen, mit denen der Iwan offenbar Kerzen geschneuzt hat und die der Pelz dann vom Müllhaufen herunterholte - das ist so ungefähr das ganze Inventar dieses sogenannten Lazaretts!«
Er nahm seinen Marsch durchs Zimmer wieder auf. »Ich sage Ihnen, Schultheiß, bei den Arbeitsbedingungen, die unsere Männer
hier haben, werden wir Krankheiten und Unfälle am laufenden Band haben. Zertrümmerungen und Quetschungen und Knochenbrüche, ansteckende Krankheiten, Gelbsucht und >Dystrophie< - wie man hier so schön sagt, wenn einer drauf und dran ist, vor Hunger zu krepieren!«
Er pflanzte sich vor mir auf und schrie mich an: »Aber ich werde mich weigern, Schultheiß! Ich werde den Teufel tun, ich werde nein schreien und dieser russischen Ärztin, diesem Weibsstück, ins Gesicht schlagen. >Ihr Deutsche seid doch Genies<, grinst sie mich an, >was braucht ihr teure Medikamente und Instrumente, das Genie behandelt mit der Improvisation...< - das sagt mir dieses Mistvieh! Und wir müssen die Schnauze halten, wir müssen kuschen, wir müssen es schlucken, wir verdammten, rechtlosen, stinkenden Plennis. Aber ich werde hier nicht den Arzt spielen, ich nicht, Schultheiß!«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.
»Herein!« rief Sellnow mit Stentorstimme, und unser Sanitäter Pelz trat in den Raum.
»Tschuldjen Se, Herr Oberarzt, der Chef nicht hier?« rief Pelz aufgeregt: »Mit Nummer 4583 steht et schlecht... er hat große Schmerzen, und det Opium hilft nischt mehr!«
»Da haben wir's«, schrie Sellnow, »ich habe ja von Anfang an gesagt, daß diese konservative nichtchirurgische Behandlung einer Blinddarmentzündung ein Quatsch ist, jetzt haben wir die Bescherung.«
»Glauben Sie, Herr Oberarzt«, fragte ich leise und erschrocken, »daß der Appendix durchgebrochen ist?«
»Was haben Sie denn gedacht?« schrie mich Sellnow an. »Selbstverständlich ist das eine Perforation, der Mann muß sofort operiert werden.« Und dann schlug er sich mit der Faust gegen die Stirn und schrie: »Aber womit, Schultheiß, womit, wir haben noch nicht einmal ein lausiges Skalpell!«
Sein Gesicht war knallrot angelaufen. Er sah geradezu beängstigend aus. Ich wollte etwas Beruhigendes sagen, als sich die Tür öffnete: Dr. Fritz Böhler, unser Chef, mußte sich etwas bücken, um mit dem Kopf nicht an den oberen Balken zu stoßen. Sein langes schmales Gesicht mit der überhohen Stirn, den mandelförmigen Augen, der langen Nase mit dem engen Sattel und dem zusammengekniffenen dünnlippigen Mund trug deutlich den Stempel, den ihm Jahre der Kriegsgefangenschaft aufgeprägt hatten. Das an den Schläfen ergraute Haar hatte die peinliche Ordnung verloren, auf die er so großen Wert legte. Seine schmutzige Wolljacke stand über der Brust offen, das Hemd darunter war zerknittert und feucht von Schweiß.
»Gehen Sie hinüber, Pelz«, sagte er leise, »und bereiten Sie den Patienten auf die Operation vor.«
Der Sanitäter Pelz sah ihn erstaunt an und ging dann wortlos hinaus.
»Und womit wollen Herr Stabsarzt operieren?« fragte Sellnow und machte nicht einmal den Versuch, den Hohn in seiner Stimme zu unterdrücken.
»Natürlich mit dem Messer, Herr von Sellnow«, antwortete Böhler ungerührt.
Sellnow hob die Hand mit einer Geste, die >wohl verrückt geworden< bedeuten konnte, dann besann er sich und ließ die Hand sinken. Er trat an Böhler heran und fragte heiser: »Mit welchem Messer?«
Böhler griff in die Tasche und zog dann die Hand wieder heraus. Als er sie öffnete, lag ein Taschenmesser darin. Ein gewöhnliches, altes zweiklingiges Taschenmesser, wie wir es alle als Jungen in billigen Geschäften kauften.
»Einer unserer Leute hat es mir gegeben«, lachte Dr. Böhler, »der gute Kerl hat verstanden, es vor allen Filzungen durch die Russen zu retten.«
Während wir den Gang entlanggingen, vorbei an den drei großen Zimmern, in denen über siebzig Kranke und Verletzte lagen, vorbei auch an den drei Zimmern, in denen die russische Ärztin, Dr. Alexandra Kasalinsskaja, arbeitete, stieß mich Sellnow an.
»Wer assistiert?« fragte er leise.
»Ich nehme an, Sie.«
»Ich habe keinen Mut mehr, Schultheiß. Mit einem Taschenmesser ein perforierter Appendix! Wenn ich jemals in die Lage kommen sollte, das im alten Deutschland zu erzählen, halten sie mich für einen wüsten Aufschneider. Mir ist lieber, Sie assistieren und ich mache die Narkose.«
»Aber ... ich habe nicht viel Übung, und es wird sicher schwierig werden.«
»Das wird weder sehr schwierig noch sehr langwierig«, prophezeite Sellnow düster.
Wir betraten den >Operationssaal<. Es war ein etwas größeres Zimmer mit einem weißbezogenen Tisch. Auf ihm lag schon der Patient Nummer 4583. Emil Pelz stand neben dem Tisch und sprach leise auf den Kranken ein. Als wir eintraten, kam er uns entgegen und sagte nur für uns verständlich:
»Puls klein und ziemlich schnell, Herr Stabsarzt, schwankt zwischen hundertzwanzig und hundertvierzig, sieht nicht jut aus!«
Dr. Böhler wandte sich den auf einem Tisch stehenden Waschschüsseln zu. Pelz half ihm aus der Jacke, und Böhler begann sich zu waschen.
»Legen Sie dem Patienten einen Sandsack oder was Sie sonst haben unter die rechte Hüfte«, sagte er, »und reinigen Sie das Operationsgebiet, Rasieren nicht vergessen.«
Sellnow war an den Kranken herangetreten und tastete behutsam mit beiden Händen die Gegend des rechten Unterbauchs ab. Der Kranke begann sofort vor Schmerz zu stöhnen. Sellnow ließ augenblicklich von ihm ab, sprach ein paar beruhigende Worte und trat dann ebenfalls an die Waschschüssel.
»Ich übernehme die Assistenz«, sagte er heiser vor Wut, »und machen Sie die Narkose«, fügte er zu mir gewandt hinzu. Mit heftigen Gebärden trug er sich grüne Schmierseife auf Hände und Unterarme auf, feuchtete sie an, griff sich aus einem Behälter eine Handvoll Sand und begann sich mit diesen primitiven Mitteln zu waschen. Pelz hatte die Instrumente, die für die Operation zur Verfügung standen, in einen Kessel mit Wasser gesteckt, der auf einem Petroleumkocher summte. Es war kläglich, was ich da sah: ein paar Gefäßklemmen, ein paar Stücke Draht, die zu Wundhaken zurechtgebogen waren, und das klägliche Taschenmesser, sonst nichts. Mich schauderte.
Plötzlich wurde mir siedend heiß. Ich trat zu Pelz, der das Operationsfeld gereinigt hatte und die Umgebung mit alten, zerschlissenen Baumwollfetzen abdeckte. »Mensch, Pelz«, sagte ich, »wir haben ja kein Nähmaterial, weder Catgut noch Seide.«
»Lassen Sie man, Herr Doktor«, grinste Pelz, »dafür ha ick schon jesorcht. Ick hab der Bascha, dem Küchentrampel, ihren seidenen Schal jeklaut und uffjerebbelt. Wir ham jetzt ein paar Kilometer prima Seidenjarn ... was wir für die Operation brauchen, kocht da drüben in dem Topp.«
Ich hatte eben das, was wir stolz unser Instrumentarium nennen durften, auf ein Tablett ausgebreitet und auf einen Stuhl neben den Operationstisch gestellt, als die Kasalinsskaja den >Operationssaal< betrat.
Ihre erdbraune Uniformjacke war über der Brust geöffnet und ließ die rote Bluse, die sie darunter trug, sehen. Die langen, schwarzen Haare hingen ihr auf die Schultern und die breiten Schulterstücke. Sie trug flache, dick besohlte Sportschuhe und Seidenstrümpfe. Außerdem rauchte sie eine süß duftende türkische Zigarette.
Sellnow trat auf sie zu und schrie sie an: »Was machen Sie denn hier?! Und auch noch rauchen, im Operationszimmer! Wohl verrückt geworden, was?!«
Die russische Ärztin sah Sellnow groß an und warf die Zigarette in den Eimer, der für blutige Verbände, herausgeschnittene Organe und andere Abfälle dienen sollte. Sie schob mit ihrer kleinen, etwas gelben Hand den Oberarzt zur Seite und trat zu Böhler, der, die gereinigten Arme vorsichtig vor sich hinhaltend, Pelz Anweisungen bei der Lagerung und beim Festschnallen des Patienten gab. Pelz bediente sich dabei alter Lederriemen und zerschnittener Koppel.
Die Kasalinsskaja blickte auf den Patienten und nickte.
»Appendizitis«, sagte sie. Sie besaß eine schöne Stimme. Dunkel, schwingend, eine Stimme mit Melodie. Ihre Lippen öffneten sich beim Sprechen, als sei jedes Wort ein Kuß, und in ihre Augen trat ein Glanz, der sie fast schön machte - wenn man vergessen konnte, daß sie die Ärztin war, die jede Woche von Außenlager zu Außenlager fuhr und dort rücksichtslos die Männer in die Wälder, Steinbrüche, Bergwerke und auf die Bauten nach Stalingrad jagte, mit dem stereotypen Wort: »Gesund!« Gesund auch dann, wenn sie vor Hunger und Entkräftung schwankten, wenn Furunkel ihren Körper bedeckten, wenn das Fieber sie schüttelte ... rabotat nada ... dawai ... dawai...
Ihr habt Stalingrad zermalmt ... ihr habt die schöne Stadt an der Wolga pulverisiert ... nun baut sie wieder auf... und wenn es sein muß, mit euren Knochen! Mit eurem Blut als Mörtel, mit eurem Fleisch als Steinen, mit euren letzten Seufzern als Richtspruch!
Dr. Böhler sah herüber. »Fertig mit den Instrumenten?«
»Der Stiel hat sich durch das kochende Wasser vom Schaft gelöst«, antwortete ich leise.
»Macht nichts«, meinte Böhler, »wenn der Holzstiel weg ist, können wir es wenigstens besser sterilisieren - soweit hier von Sterilität überhaupt die Rede sein kann«, fügte er traurig lächelnd hinzu.
Er drehte sich nach Sellnow um, der noch immer mit dem Reinigen seiner Hände beschäftigt war, und rief:»Sind Sie fertig, Sell-now?« und dann zu mir: »Beginnen Sie mit der Narkose, Schultheiß.« Während ich unsere kostbare Ätherflasche öffnete und die aus Draht und Mullbinden behelfsmäßig angefertigte Narkosemaske an mich nahm, sprach Böhler einige tröstende Worte zu unserem Patienten.
»Nur mit der Ruhe, mein Junge«, sagte er, »das kriegen wir schon hin, in vierzehn Tagen sind Sie wieder auf dem Damm.« Er machte mir ein Zeichen mit dem Kopf, und ich setzte die Maske vor Mund und Nase des Kranken.
»Tief und ruhig atmen«, sagte ich zu ihm, »und von hundert rückwärts zählen, hundert, neunundneunzig, achtundneunzig und so weiter, verstanden?«
In diesem Augenblick trat die Kasalinsskaja heran und nahm mir die Ätherflasche aus der Hand. »Lassen Sie mich«, sagte sie hart und dann, gewollt gebrochen in ihrem sonst guten Deutsch: »Du geh zu Chef.«
Ich blickte auf und in das Gesicht Sellnows. Seine Augen verschlangen die Kasalinsskaja. Der Haß in seinem Blick war unverkennbar, aber auch die Bewunderung für dieses Weib mit der wunderbaren Figur.
»Haben Sie kein Skalpell?« fauchte er sie an. Sie schüttelte den Kopf. »Kein Instrument?« fuhr er fort. Sie schüttelte den Kopf. »Womit operieren Sie denn dann?«
»Ich bin Internistin, ich operiere nie.« Die Kasalinsskaja lächelte, wirklich, sie lächelte Sellnow an und begann dann ungerührt den Äther auf die Maske zu tropfen.
Der Kranke hatte aufgehört zu zählen und fing plötzlich an, heftig zu zucken und sich aufzubäumen.
»Exzitation«, sagte Dr. Böhler ruhig. »Schultheiß und Pelz, halten Sie ihn fest - und Sie«, er machte eine Kopfbewegung zur Ka-salinsskaja, »tropfen Sie schneller.«
Der Zwischenfall war in Sekunden vorüber. Der Kranke lag ruhig atmend da. Ich griff zum Puls und meldete: »Hundertzwanzig.« Nicht einmal eine Uhr hat man oder wenigstens ein Sandglas, um den Puls richtig zählen zu können, dachte ich - da hatte Böhler schon das Messer in der Hand, legte die Linke spannend auf die Haut des Operationsfeldes und zog einen raschen Schnitt.
Während Sellnow die improvisierten Wundhaken aus Draht ansetzte und die Wunde weiter auseinanderzog, tupfte der Chirurg das Blut auf. Dem Sanitäter Pelz, der beim Tablett mit den Instrumenten stand und sie Böhler zureichte, rief er anerkennend zu: »Schneidet tadellos, das Messer«, und Pelz, der es geschliffen hatte, grinste geschmeichelt. Die Wunde klaffte nun weit, und wir konnten alle sehen, wie sich das gespannte Bauchfell hineinwölbte. Ich beobachtete die Gesichter. Böhler war ruhig und gefaßt, Sellnow erregt, und die Kasalinsskaja hatte offensichtlich Angst. Die Ätherflasche in ihrer Hand zitterte.
»Klemmen«, befahl Böhler, und ich zuckte zusammen. Schnell -reichte ich ihm zuerst die eine Klemme, die er an das Bauchfell ansetzte. Vorsichtig schüttelte er sie, um das Bauchfell von den darunterliegenden Därmen zu trennen, und reichte sie dann Sellnow. Ein paar Zentimeter entfernt setzte er die zweite Klemme an. Sell-now hob jetzt beide Klemmen leicht an, und Böhler fuhr mit dem Messer über die entstehende Falte des Bauchfelles. Es klaffte sofort breit auseinander, und nun sahen wir die Bescherung. Grüngelber, stinkender Eiter füllte den Teil der Bauchhöhle, den wir übersehen konnten.
Wir alle wußten, was das zu bedeuten hatte. Das war eine Bauchfellentzündung, zumindest in der Blinddarmgegend und offensichtlich von diesem ausgehend. Bisher hatten Böhler und Sellnow ohne besondere Eile gearbeitet, jetzt änderte sich das augenblicklich. Ich reichte dem Chirurgen einen gewöhnlichen Eßlöffel, und er holte damit den Eiter aus der Tiefe der Wunde. Dann tupfte er mit angefeuchteten Läppchen und Tupfern die Bauchhöhle aus, so gut es ging.
Sellnow griff mit beiden Händen in die Wunde und legte den Wurmfortsatz, den Appendix, frei. Das Gebilde war dick geschwollen und an mehreren Stellen aufgerissen, perforiert.
»Machen Sie das Eisen glühend«, sagte Böhler zu Pelz. Er nahm mit der Linken den Wurmfortsatz hoch, setzte eine Klemme an, und Sellnow unterband mit einem Stück Seide. Böhler durchtrennte das Gebilde und warf es in den Abfalleimer.
Pelz reichte ihm an einer gewöhnlichen Zange einen dicken, glühenden Nagel. Böhler griff, die Hand mit einem Tuch geschützt, um sie sauber zu halten, nach der Zange und tupfte mit dem heißen Eisen auf den Operationsstumpf. Es zischte und roch scharf nach verbranntem Fleisch. Eigentlich hätte man dieses Sterilisieren des Stumpfes mit einem Thermokauter oder einem Desinfektionsmittel vornehmen müssen, aber es mußte hier auch so gehen.
Wie hatte Sellnow vorhin zu mir gesagt? »Das wird weder schwierig noch langwierig.« Wie sollte dieser Kranke jemals die Bauchfellentzündung überstehen, ohne alle pflegerischen Möglichkeiten und ohne herzstützende Medikamente? Es sah wirklich verzweifelt aus, obgleich man sagen konnte, daß die Operation soweit gelungen war. Der Chef war damit beschäftigt, den Stumpf zu übernähen. Sellnow hatte ihm in eine gewöhnliche Nähnadel Seide eingefädelt, und Böhler mußte ohne Nadelhalter die Naht durchführen. Ich schaute ihm wie gebannt zu, wie er in höchster Eile, aber dennoch mit großer Präzision die Nähte zusammenzog, und schreckte förmlich auf, als er die Kasalinsskaja anschrie:
»Zum Donnerwetter, nehmen Sie die Maske weg, wollen Sie den Patienten umbringen!«
Jetzt sah ich es auch. Die Wunde war blau angelaufen. Die Ka-salinsskaja hatte zuviel Äther aufgeträufelt, und der Patient war in Gefahr, zu ersticken. Ich griff nach dem Puls und schätzte mindestens hundertsechzig Schläge. Sellnow knurrte mich an:
»Nehmen Sie dem Weibsstück die Ätherflasche weg und führen Sie die Narkose weiter. Zu nichts Vernünftigem sind diese Bestien zu gebrauchen.«
Ich tat wie befohlen. Die Ärztin überließ mir willenlos Maske und Tropfflasche. Schwankend verließ sie den Operationssaal. Sie hatte offensichtlich vollkommen schlappgemacht.
Die beiden Chirurgen standen abwartend da und beobachteten. Sie konnten nichts tun. Man mußte der Natur ihren Lauf lassen und hoffen, daß der Kranke sich von selbst erholen würde. Ich machte zusammen mit Pelz künstliche Atmung.
Wir hatten Glück. Die blauen Lippen und das fahle Gesicht färbten sich wieder, und der Puls beruhigte sich.
»Ich glaube, Sie können weitermachen, Herr Stabsarzt«, meldete ich.
»Dräns!« befahl Böhler, und Pelz brachte einen Topf, auf dessen Grund einige dünne Schläuche aus Kunststoff lagen. Es waren ursprünglich Kabelisolierungen gewesen, die der findige Böhler sich zum Dränieren bei Operationen >organisiert< hatte.
Er war damit beschäftigt, zwei der Schläuche in die Wunde einzunähen, als die Tür zum Raum stürmisch aufgerissen wurde und die Kasalinsskaja hereintrat. Sie hielt ein Paket in der Hand, reichte es mir hin und rief:
»Da habt Ihr, gutt für Peritonitis!«, worauf sie sich umdrehte und wieder hinausging. An der Tür wandte sie sich noch einmal zurück und rief:»Verdient habt Ihr es nicht!«
Ich hatte gerade wieder die Maske aufgesetzt und für den Verschluß der Wunde wieder Narkose gegeben. Verblüfft nahm ich die Tropfflasche zurück und starrte auf das Päckchen, das ich in der linken Hand hielt. >Penicillin< stand darauf und eine englische Gebrauchsanweisung. Es handelte sich offenbar um ein amerikanisches Präparat.
»Was ist denn los?« herrschte mich Böhler ungeduldig an, »machen Sie schon mit der Narkose weiter.«
»Es ist Penicillin-Pulver«, antwortete ich, »offenbar geeignet zur lokalen Behandlung der Bauchfellentzündung bei Operationen.«
»Ach - das sagenhafte Penicillin«, meinte Böhler. »Pelz, öffnen Sie das Päckchen, schaden können wir ja damit wohl nicht.«
Er ließ Sellnow reichlich Penicillin-Puder in die Wunde streuen und nähte dann mit der Hausfrauennadel und den seidenen Fäden aus dem Schal des Küchenmädchens Bauchfell und Muskulatur zusammen. Die aus der Wunde herausragenden beiden Dräns sicherte er über der Haut mit Sicherheitsnadeln.
Eine knappe Stunde hatte die Operation gedauert. Das Schicksal des Kranken lag jetzt in Gottes Hand. Pelz und zwei Leichtkranke trugen ihn hinaus in ein kleines Zimmer am Ende des Ganges, in dem die Schwerkranken lagen.
Fünf Männer: Ein Fünfundvierzigjähriger mit einer Gelbsucht. (Wir zitterten ständig, daß er alle anderen anstecken würde, aber es gab keine Möglichkeit, ihn zu isolieren.)
Ein Dreiundvierzigjähriger mit einem schweren Herzleiden und Wasser in den Beinen und im Bauch. Er war Vater von vier Kindern. Ein Verletzter, dem ein Baumstamm beide Hände abgequetscht hatte und der jetzt, nachdem wir Besitzer eines Taschenmessers wa-ren, operiert werden konnte.
Ein schwerer Fall von Hungerödem, der uns sehr zu schaffen machte.
Ein Mann mit Starrkrampf, der im Sterben lag. Der Arme war sechsunddreißig Jahre alt, jung verheiratet. In der Gefangenschaft hatte er erfahren, daß seine Frau an der Geburt ihres ersten Kindes gestorben war. Damals rannte er gegen den Stacheldrahtzaun, um sich von den russischen Posten erschießen zu lassen. Aber der Posten war an diesem Tag guter Laune und bewarf ihn mit faulem Obst. Der Lebensmüde suchte sich dann auf der Baustelle einen rostigen Nagel und stieß ihn sich in den Oberschenkel. Er lief mehrere Tage mit dem Nagel im Fleisch herum, bis sich die ersten Anzeichen des Starrkrampfes einstellten. Als er zu uns ins Lazarett kam, konnten wir nichts mehr für ihn tun, als ihn mit Opium-Pillen und Veronal füttern, den einzigen Medikamenten, über die wir aus Wehrmachtsbeständen in größeren Mengen verfügten.
Neben den Sterbenden legten wir nun Nummer 4583, den jungen Oberfähnrich Graf Burgfeld.
Vor meinem Zimmer verabschiedete ich mich von dem Oberarzt.
»Bis nachher«, sagte er. »Und kochen Sie weiter unser Taschenmesser gut aus.«
Ich nickte. Müdigkeit überfiel mich plötzlich. Ich spürte, wie die Anspannung der vergangenen Stunde sich in meinem Körper in eine grenzenlose Schlaffheit auflöste. Ich schwankte zu meinem Bett und fiel auf den Strohsack. Dann fühlte ich, wie mein Blick starr wurde, ungläubig fassungslos:
Auf dem Tisch lag ein Skalpell. Ein richtiges Skalpell. Es glänzte in der Sonne, die durch das Fenster flutete. Und neben dem Skalpell drei Nadeln, Catgut, eine Schere, ein kleiner Wundspreizer, sechs Wundhaken.
Ich fuhr in die Höhe, riß die Tür auf, rannte rufend durch den Gang. Sellnow stürzte aus der Tür. Böhler kam aus dem kleinen Todeszimmer und sah mich an. »Ein Skalpell!« schrie ich. »Wir haben ein Skalpell! Und Wundhaken und Catgut! Wir haben alles, alles!«
Und dann heulte ich, heulte wie ein kleiner Junge und lehnte mich an die Schulter Sellnows, der mein Gesicht streichelte.
Dr. Böhler war in mein Zimmer gelaufen und kam nun wieder heraus, das Skalpell in der Hand.
»Wir müssen uns bei ihr bedanken«, sagte er leise und sah Sellnow fragend an. »Wollen Sie das übernehmen, Sellnow?« Und ich sah, wie der Oberarzt rot wurde und sich schnell entfernte. Die Ka-salinsskaja, die verhaßte russische Ärztin, das Weib mit den wilden Locken und der schönen Stimme, die in den Haufen der Plennis hineinschrie: »Dawai! Dawai!«
Nun bin ich wieder allein.
Nummer 4583, der junge Oberfähnrich, schläft.
Und alles riecht heute wieder nach Kohlsuppe.
Alles.
Ich werde meine Suppe heute mittag an drei Kranke geben. Ich kann nicht essen.
Wir haben ein Skalpell.
Das Lager 5110/47 liegt außerhalb Stalingrads, nordwestlich der Wolga in einer bewaldeten Niederung. Es ist ein Lager wie alle anderen . hohe Stacheldrahtzäune, niedrige Hütten und Baracken, langgestreckt und eingeteilt in Blocks, am Zaun die halbhohen hölzernen Wachttürme, auf denen die Maschinengewehre stehen, die Scheinwerfer und die russischen Soldaten in ihren erdfarbenen Uniformen.
Ein großes Tor führt auf eine von den Gefangenen ausgebaute Straße. Neben dem Tor liegt das Haus der Wachtruppen, des Kommandanten und des Lager-Distriktarztes. Etwas außerhalb der Wohnblocks erstreckt sich die lange Krankenbaracke mit ihren vielen Fenstern, dem überdachten Eingang und der Zentralküche, die einen besonderen kleinen Ausgang durch den Drahtzaun besitzt, an dem ein schmales Postenhäuschen steht.
Der Boden des Lagers ist festgestampfte Erde. Ab und zu sieht man zwischen den Baracken einen kleinen Garten, liebevoll gepflegt und umrahmt von heimlich in den Taschen mitgebrachten Steinen von den Bauplätzen in Stalingrad. Solch ein kleiner Garten ist der Mittelpunkt der Sommerabende - und damit der Grund eines verbissenen Kampfes von Leutnant Piotr Markow gegen die ausgehungerten Plennis. Siebenmal war in der Nacht von Unbekannten die Gartenanlage zerstört worden, und achtmal wurde sie wieder aufgebaut, wurden weiße Ziersteine gestohlen, durch die schärfsten Kontrollen geschmuggelt, wurden Knollen und Stauden beschafft, ja, beim achtenmal gab es in dem heißen Sommer 1947 sogar herrliche rote und gelbe Tulpen, von denen keiner wußte, wie ihre Zwiebeln durch die Lagerkontrolle zu den Baracken gekommen waren.
Piotr Markow tobte und zertrat die Tulpen. »Das ist Revolution!« schrie er Major Worotilow an. »Rebellion! Ich lasse die Kerle auspeitschen!« Aber Worotilow winkte ab und sagte sinnend: »Warum, Genosse Leutnant? Ich liebe Blumen. Ich komme aus Kasan, der Rosenstadt.«
In Baracke II, Block 7, saßen an diesem Sommerabend Karl Georg, Julius Kerner, Peter Fischer, Hans Sauerbrunn und Karl Eberhard Möller auf einer Pritsche zusammen und spielten mit selbstgezeichneten Karten Skat. Andere standen in Gruppen herum. Beißender Qualm der Machorka-Zigaretten oder des getrockneten Tees, den viele in der geschnitzten Pfeife rauchten, durchzog den langen Raum. Ein ewiges Halbdunkel herrschte hier, ein Zwielicht, umwölkt von Gestank und Stimmen, verbaut durch Betten und Spinde, Kleider und Menschen.
»Wenn du noch mal falsch gibst, tret' ich dir in den Arsch!« sagte Julius Kerner und stieß Peter Fischer in die Seite. »So blöd bin ich noch nicht, um nicht zu sehen, daß du zwei As unten läßt und dir zuschusterst.«
Peter Fischer wollte protestieren und legte die Karten hin. »Kinder!« schrie er. »Ich spiele seit der Muttermilch Skat! Mein Vater war Skatmeister!«
»Und meiner Weihnachtsmann! Gib schon, Idiot!«
Die schmutzigen Karten mit den rührend naiven, gemalten Bildern flogen über den Tisch. Möller, in der Liste Möller 75, was er immer zu hören bekam, wenn ihn jemand anredete, drehte sich aus Zeitungspapier und getrockneten Pfefferminzblättern eine dicke Zigarette.
»Der will uns vergiften«, stellte Sauerbrunn fest. Dabei schielte er auf die dicke Zigarette. »Als ob es hier nicht genug nach den Schweißquanten Kerners stinkt!«
Im Hintergrund polterte es. Die Tür nach außen wurde aufgestoßen, jemand, der ihr am nächsten lag, brüllte »Achtung!«, und ein russischer Offizier betrat die Baracke. Er hatte seine Tellermütze in den Nacken geschoben. Bösartig musterte er die Männer, die sich lässig erhoben und so etwas wie Haltung mimten.
»Der Markow!« flüsterte Sauerbrunn. »Was haben wir denn wieder in den Garten gepflanzt?«
»Vergißmeinnicht«, grinste Karl Georg, der Gärtner der Baracke.
Hinter Piotr Markow schob sich eine schmächtige Gestalt vorbei und baute sich vor dem Tisch auf, der vor den ersten Betten stand. Der Mann trug eine abzeichenlose Uniform, sein fettes, schwarzes Haar glänzte matt. Über seinen dicken Lippen trug er einen buschigen, schwarzen Schnurrbart.
»Was will denn der Aaron hier?« flüsterte Kerner. »Wenn der mitkommt, ist immer dicke Luft.«
Jakob Aaron Utschomi, ein Jude, der als Dolmetscher für die Lagergruppe diente und aus Moskau kam, sah sich um und blickte dann Piotr Markow an, der ihm zunickte.
»Herhören!« brüllte er. »Gestern nacht ist der Küchenhilfe Bascha Tarrasowa ein seidener Schal gestohlen worden!«
»Geschieht dem Trampel recht!« flüsterte Kerner Fischer zu.
Irgendwo im dunklen Hintergrund lachte jemand meckernd.
»Schnauze dahinten!« Utschomi drehte an seinen Fingern und sah zu Markow zurück. »Der Lagerkommandant hat angeordnet: Wenn der Schal nicht bis morgen mittag bei Bascha Tarrasowa ist, erhält das Lager eine Woche lang 100 Gramm Brot weniger!« »Au Backe!« Kerner sah sich um. »Wegen einem Schal müssen ein paar tausend Mann hungern! Man sollte diesen Markow im Scheißhaus ersäufen wie eine Katze!«
»Wer da redet?!« brüllte Leutnant Markow. »Vortreten!«
Julius Kerner zögerte. Sauerbrunn stieß ihm in die Rippen. »Geh schon! Oder wir bekommen noch mal 100 Gramm abgezogen.«
Als Kerner vortrat, stürzte sich Markow auf ihn. Er faßte ihn am Hemdkragen und zog ihn zu sich heran. »Was du sagen?« schrie er wild. Sein Atem roch nach Wodka und Tabak. Er war betrunken. Kerner sah es an dem starren Blick seiner Augen.
»Ich habe gesagt, daß wir den Dieb suchen, Herr Leutnant.«
Piotr Markow stieß Kerner gegen einen Tisch. Die Kante krachte gegen seine Leiste. Kerner verzog schmerzhaft das Gesicht, aber er schwieg.
»Das gutt!« schrie Markow. »Suchen! Alle suchen! Wer Dieb findet, ein Glas Wodka! Wenn nicht findet, kein Brott!«
Er drehte sich um und verließ den Raum. Jakob Utschomi blieb noch einen Augenblick zurück und blickte in das Halbdunkel der Baracke. Er sah die Gesichter wie Schemen ... aber er sah die Augen, und sie waren voll Haß und Elend.
»Der Schal ist weg, und ihr findet ihn nie! Legt zusammen und gebt Bascha ein paar Rubel für einen neuen Schal! Dann ist ja alles gut. Aber sagt es nicht Markow.«
Dann eilte er wieselgleich dem draußen vor der Baracke III brüllenden Leutnant nach.
»So ein Sauschwein!« schrie Sauerbrunn, als sich die Tür schloß.
»Der Aaron ist selbst einer der Getretenen, der kann nichts dafür. Der muß wie die Oberen pfeifen!« Kerner rieb sich stöhnend die Leiste. »Aber woher sollen wir die Rubel nehmen?«
»Ein Schal kostet bestimmt 300 Rubel!«
Fischer winkte ab. »3, 30 oder 30.000 - für uns ist jeder Rubel ein Vermögen!«
Karl Georg nahm die Karten vom Tisch und legte sie zusammen. »Eine Woche lang 100 Gramm Brot weniger! Und dann im Walde arbeiten oder auf dem Bau oder in der Grube? Das halte ich nicht aus.«
Seine Stimme schwankte. Er sah sich um und blickte in starre, verfallene Gesichter. »Welches Schwein mag wohl den verdammten Schal geklaut haben?!«
Er sprach aus, was in diesem Augenblick Tausende Gefangene dachten.
In der Lazarettbaracke saß Dr. Böhler hinter seinem Tisch und las die Krankenblätter durch, die er gewissenhaft von jedem Patienten angelegt hatte. Das Papier hatte er von Dr. Sergeij Basow Kresin, dem Distriktsarzt, bekommen, der Dr. Böhler einen dreckigen Beamten nannte, es aber doch herausgab.
Dr. Sellnow und Unterarzt Dr. Jens Schultheiß standen am Fenster und blickten hinaus in die Abendsonne, die dort unterging, wo Tausende von Kilometern entfernt ihre Heimat lag.
»Jetzt ist in Berlin sonniger Nachmittag«, meinte Sellnow düster. »Und bei Ihnen in Köln, Dr. Böhler, gehen sie jetzt im Stadtwald bummeln. Schöne Frauen flirten mit netten Männern in teuren englischen Maßanzügen und können es nicht erwarten, bis der Abend kommt. Und wir hier? Es ist zum Kotzen!«
»Sind das Ihre ganzen Sorgen, Werner?« Dr. Böhler sah von den Papieren auf. »Dann sind Sie glücklich.«
»Seit drei Jahren habe ich keine Frau mehr gesehen! Wenn das nicht verrückt macht!«
»Ich habe Ihnen da nichts voraus, Werner.«
»Sie!« Sellnow winkte ab. »Sie wirken auf mich wie ein Heiliger. Wie der selige Franziskus, der sich in einen Ameisenhaufen setzte, um seine fleischliche Lust abzutöten! Ihr Ameisenhaufen ist das Lazarett, sind die Operationen, sind Ihre schreienden Patienten. Sie haben das Zeug zu einem Einsiedler in sich . ich aber bin ein verdammt normaler Mensch, so verflucht normal, daß ich an mich halten muß, um dieses Biest von Kasalinsskaja nicht wie ein Tiger
anzufallen.«
Dr. Böhler schüttelte den Kopf und schob die Krankenpapiere zur Seite. »Sie sollten sich zusammennehmen, Werner! Ich verstehe nicht, daß Ihnen die Kohlsuppe die fleischlichen Lüste nicht besser austreibt als ein Ameisenhaufen. Unter den Hunderttausenden in den Lagern dürften Sie jedenfalls ein recht einzigartiger Fall sein.«
Sellnow setzte sich ans Fenster auf einen der Stühle, die Emil Pelz und ein anderer Sanitäter aus Baubrettern gezimmert hatten. Die Farbe hatten sie aus der Küche gestohlen, als man den Kochraum weißte.
»Ich bin jetzt 49 Jahre alt«, sagte er langsam. »Mit 32 habe ich geheiratet, als junger Oberarzt in Kiel. Als ich 35 war, wurde der Junge geboren, zwei Jahre später das Mädel. Mit 40 hatte ich eine Praxis in Frankfurt an der Oder. 1939 ging es 'raus nach Polen, dann Frankreich, dann Norwegen, dann Abstecher nach Griechenland und Italien, zuletzt dieses verfluchte Rußland. Und immer als Truppenarzt. Hauptverbandplatz, vorgeschobener Verbandplatz, Feldlazarett. Neun Jahre, neun verlorene Jahre, die mir keiner wiedergibt! Der Staat nicht, das kommende Leben nicht, und Ihr Gott erst recht nicht! Und wenn ich wieder aus diesem verdammten Stalingrad herauskomme, bin ich ein alter Mann, weißhaarig, klapprig, zu nichts mehr zu gebrauchen.« Er bedeckte die Augen mit den Händen und stöhnte. »Wenn ich daran denke«, sagte er leise, »möchte ich Schluß machen wie der arme Kerl mit dem Tetanus nebenan.«
Dr. Böhler erhob sich und trat neben Sellnow ans offene Fenster.
»Wir müssen uns nicht unterkriegen lassen wie die Tausende, die verzweifeln, wenn die russischen Nächte kommen. Wir sind Ärzte, Werner . nicht nur mit dem Skalpell oder dem Stethoskop. Wir müssen Ruhe ausströmen, Vertrauen, Stärke. Wir müssen etwas vorleben, woran wir selbst nicht glauben. Aber wir müssen so tun, als glaubten wir und wären in diesem Glauben stark für die Zukunft! Wir müssen ein Beispiel sein, Werner, ein Abbild dessen, was jeder gerne sein möchte. Auch -«, er stockte und sah die beiden Ärzte an, »auch, wenn wir selbst dabei zerbrechen! Und dieser Zusam-menbruch wiederum muß still sein, in irgendeiner Ecke, verborgen, wie es die Tiere tun, wenn sie sterben. Wir Ärzte, Werner, sind für die Tausende um uns das Licht, dem sie nachgehen und das ihnen den Weg zeigt.«
»Sie hätten Pfarrer werden sollen«, antwortete Sellnow bissig. »Unser Unterarzt sagte überhaupt nichts.«
Jens Schultheiß zuckte mit den Schultern. »Was soll ich sagen?« Er schob die Lippen etwas vor und lächelte wehmütig. »Man hat Sie um Ihr Leben betrogen, Herr Oberarzt, um Ihre Frau, Ihre Kinder. Was hat man mir genommen? An realen Werten - nichts! Ich saß auf der Universität in Erlangen und hörte Anatomie und Pathologie. Dann war Krieg, und ich kam nicht mehr zum Nachdenken. Nur eins bewegte mich in all den Jahren: Wenn du bloß da wieder herauskommst! Man hat mir nichts genommen als meine Jugend. Aber dafür liegt das Leben noch vor mir.«
»Auf das, was vor uns liegt, pfeife ich!« Sellnow schnellte vom Stuhl empor und rannte in dem kleinen, sonnigen Zimmer hin und her. »Oder glauben Sie, man läßt uns wieder zurück nach Deutschland? Als lebende Propaganda gegen den Kommunismus? Das wäre einmal ein Märchen, das wahr wird!«
Dr. Böhler stützte sich auf den Tisch und nahm ein Blatt aus der Mappe. »Nummer 9523 E«, sagte er. »Unfall im Stollen. Eine Strebe brach und begrub den Mann. Rippenquetschung und unbekannte innere Verletzungen. Wurde in der Nacht eingeliefert. Erste Betreuung hat Dr. Kresin übernommen.«
»Dieses Rindvieh!« meinte Sellnow grob.
»Dr. Kasalinsskaja hat den Fall übernommen und Tetanusantitoxin gegeben.«
»Bei 'ner Rippenquetschung!« warf Sellnow entsetzt dazwischen.
»Der Mann hatte auch Schürfungen . aber lassen wir das. Für uns ist es nur wichtig, daß sich die russischen Ärzte um unsere Arbeit kümmern, daß sie nicht mehr abseits stehen und nur gesund schreiben, sondern Interesse an unserem Gefangenenlazarett zeigen.« Er blickte Sellnow fragend an. »Was hat unsere liebe Ärztin eigentlich
gesagt, als Sie sich bei ihr für das Skalpell bedankten?«
»Sie hat mich hinausgeworfen!« sagte Sellnow und wurde rot.
»Hm. Und sonst nichts?«
»Mir genügt's!«
Ohne anzuklopfen trat in diesem Augenblick ein großer Mann, ein Bulle in erdbrauner Uniform, ins Zimmer. Er grüßte nicht, er blieb im Türrahmen stehen und sah von einem zum anderen.
»Da sind Sie!« sagte er laut.
Dr. Böhler klappte die Mappe zu und senkte grüßend den schmalen Kopf. »Ja, Dr. Kresin?« sagte er fragend.
»Sie habben operiert heute, mit Taschenmesser?«
»Ja.«
»Das ist verbotten!«
»Es war der einzige Weg, das Leben zu retten! Wir haben keine anderen Instrumente. Wir haben - das wissen Sie ja - nichts!«
»Und womit habben Sie genäht?«
»Mit Seide.«
»Woher?«
Sellnow spürte eine Falle. Ehe Dr. Böhler antworten konnte, kam er ihm zuvor und schob sich zwischen den Chefarzt und den Russen.
»Wissen Sie das denn nicht, Dr. Kresin?« fragte er dreist. »In Baracke IV, Block 1, züchten wir doch Seidenraupen!«
Dr. Sergeij Basow Kresin sah Dr. von Sellnow groß an. In seinen Augen stand Unbegreifen und Zorn. Er wischte mit der Hand durch die Luft, und seine große, tellerförmige Handfläche wirkte wie ein Fächer. Deutlich war der Luftzug zu spüren.
»Seide ist gestollen! Von Bascha aus Küche! Sie nähen mit einem Schal! Das ist unerhört!«
»Dann geben Sie uns Nähmaterial«, sagte Dr. Schultheiß laut.
»Nichts, nichts gebbe ich! Ihr sollt verrecken, alle, alle.«
Dr. Böhler sah in das zornige Gesicht seines Kollegen und lächelte plötzlich. Er griff zu seiner Mappe, nahm ein Papier hervor und nickte zu Dr. Kresin hin.
»Der Mann aus dem Stollen, den Sie mir einlieferten, hat eine Milzquetschung. Wir müssen exstirpieren!«
Dr. Sergeij Kresin riß die Augen weit auf: »Ach!« sagte er. »Sie wollen Milz wegnehmen? Hier?«
»Ja.«
»Mit Taschenmesser?«
»Wenn es sein muß - ja.«
»Sie sind verrückt.«
Dr. Böhler schüttelte den Kopf. Auf seiner hohen Stirn perlte der Schweiß. »Nein, Dr. Kresin«, antwortete er leise. »Ich bin nur verzweifelt.«
Dr. Kresin trat gegen die Tür, mit einem Krach sprang sie auf. »Mitkommen«, schrie er rauh. »Sofort!« Dann ging er voraus, während Sellnow sich an Dr. Böhlers Arm hing.
»Was soll das?« flüsterte er erregt.
Dr. Böhler lächelte leicht, indem er sagte: »Ich habe das Gefühl, als bekämen wir jetzt einen ganz brauchbaren Operationsraum.«
Sie gingen zusammen über den Platz. Die Abendsonne lag wie Gold über den Baracken und Drähten, den Wachttürmen und den fernen Wäldern. Aus einer Baracke ertönte Gesang ... er wurde begleitet auf einer selbstgebastelten Mandoline. In seinem Garten stand der Plenni Karl Georg und harkte die Beete mit einer hölzernen, geschnitzten Harke. Als er die Ärzte kommen sah, nahm er Haltung an und legte den Harkenstiel wie einen Gewehrlauf an die linke Seite. Dr. Böhler lächelte und winkte ihm zu.
»Was macht ihr Furunkel?« rief er über den Platz.
»Alles in Ordnung, Herr Stabsarzt. Muß schon wieder arbeiten, sagt die Ärztin.«
Er sah ihnen nach, wie sie um die Ecke verschwanden und zum großen Lagertor gingen. »Wenn wir den nicht hätten«, murmelte er vor sich hin und begann, den Boden um seine Tulpen zu lockern.
Julius Kerner kam aus der Baracke und winkte ihn zu sich heran. Er tat sehr geheimnisvoll und strahlte über das ganze Gesicht.
»Wir haben vier Rubel, Karl«, sagte er stolz.
»Vier Rubel?« Karl Georg sah seinen Freund verblüfft an. Der Besitz von vier Rubeln war wie ein Märchen. »Woher denn?«
»Müller hatte noch einen silbernen Uhranhänger, so'n dusseliges Ding, das er beim Kegeln gewonnen hat. >Gut Holz< stand drauf, und neun Kegel! Das hat er dem russischen Posten 6 für vier Rubel verkauft! Der Kerl war ganz wild darauf!«
»Und was kostet ein Schal?«
»Der Posten meint, ein guter Seidenschal kommt auf 300 Rubel!«
»Das schaffen wir nie. Ich müßte mal mit der Bascha reden. Vielleicht will sie gar keinen mehr.«
»Die nicht . aber der Markow, das Schwein!«
Ein Posten, der vorüberging, blieb vor dem Garten stehen und sah sich die blühenden Tulpen an. Er lachte den beiden Deutschen zu, und seine dunklen Augen in dem gelben Tatarengesicht strahlten.
»Gutte Blume«, sagte er mit der hellen Stimme vieler Asiaten. »Schön für Mädchen.«
»Du kannst mich kreuzweise!« sagte Karl Georg. Dann ließ er Julius Kerner und den Tataren stehen und harkte seine Beete weiter.
In der Kommandantenbaracke wartete Major Worotilow. Er saß an seinem großen Schreibtisch, während Leutnant Markow aus dem Fenster lehnte und den großen Appellplatz übersah. Er bemerkte die Gartenarbeit Karl Georgs und ärgerte sich maßlos über seinen Kommandanten, der das duldete.
Dr. Böhler grüßte und sah Major Worotilow erwartungsvoll an.
»Sie haben operiert?« fragte Worotilow in dem gleichen Ton wie vorher Dr. Kresin.
»Es blieb mir keine Wahl!«
»Sie wissen genau, daß Sie keine Befugnis haben, Eingriffe zu unternehmen. Wir haben Ihre Krankenstelle nur für Lungenkranke und Verletzte eingerichtet, die Pflege brauchen. Operieren steht allein Dr. Kresin oder Dr. Kasalinsskaja zu! Und Sie haben sogar mit einem Taschenmesser operiert!« Major Worotilow kniff die buschigen Augenbrauen zusammen und sah die deutschen Ärzte eine Weile stumm an. »Wenn der Patient stirbt, werde ich Sie wegen Mord an einem Kameraden nach Moskau vor das Kriegsgericht schicken!« Er machte eine umfassende Handbewegung. »Sie alle!«
»Es gab keine andere Rettung als den Eingriff!« Dr. Böhler blieb ruhig, während Dr. Sellnow unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Dr. Schultheiß lehnte blaß an der Wand. Mord, dachte er. Wenn der Oberfähnrich stirbt, geht es um unseren Kopf.. Als ob es den Russen auf diesen einen Gefangenen ankäme! Alles, alles ist nur Schikane, ist Nervenkrieg . man will uns weich machen, weil wir den Kopf noch oben tragen, weil wir noch ein Rückgrat haben und nicht Wachs sind in ihrer Hand.
Major Worotilow sprang auf. »Man hat dem Küchenmädchen einen seidenen Schal gestohlen! Das ganze Lager bekommt eine Woche 100 Gramm Brot weniger am Tag, wenn der Schal nicht wieder auftaucht!«
Dr. Böhler war bleich geworden. Er biß die dünnen Lippen fest aufeinander. Seine Stimme war leise, es war nur ein halbes Flüstern, als er sich an Major Worotilow wandte.
»Das ist doch unmenschlich, Major! Mit dieser Seide haben wir einem Menschen das Leben gerettet! Mit dieser Seide werden wir noch manchem das Leben erhalten! Und dafür sollen Tausende Unschuldiger büßen?«
»Ein russischer Schal ist mehr wert als 10.000 deutsche Leben!« Piotr Markow war vom Fenster emporgeschnellt und hatte es Dr. Böhler ins Gesicht geschrien. Jetzt stand er vor ihm, groß, hager, mit den Augen eines Fanatikers, zitternd vor Erregung . ein Hasser, der die Welt zerreißen konnte.
Dr. Böhler sah zu Boden. Spitz und scharf zeichneten sich seine Backenknochen in dem hageren Gesicht ab. »Dann kann ich ja gehen«, sagte er.
»Stolz ist er! Stolz!« schrie Markow wild. »Du deutsches Schwein! Wer hat gesagt: Es gibt zuviel Russen ... wir müssen sie verhungern lassen?! Wer wollte den Osten aufnorden? Wer hat unser Land ausgepreßt und hundert Mann erhängt, wenn ein deutscher Soldat erschossen wurde, weil er gestohlen oder geschändet hat?! Wer schickte nach Minsk oder Smolensk Gauleiter, die mit Lastwagen Möbel, Gemälde und wertvolle Teppiche nach Deutschland schafften? Wer? Wer, du deutsches Mistvieh?! Ihr! Euer Führer, der euch allein ließ, als es euch dreckig ging! Eure schwarze Bande mit dem Totenkopf hat gar meine Mutter und meinen Bruder erschlagen, weil sie des Nachts aus Hunger bettelnd durch die Dörfer zogen ... meinen Vater habt ihr umgebracht in Stalino, meine Schwester liegt unter den Trümmern von Charkow ... und ihr steht hier, stolz, frech und immer noch die Herren?! 100.000 Deutsche für einen zerrissenen russischen Schal! Bis ihr alle verreckt!«
Schaum stand vor seinem Mund. Er schwankte und ließ sich auf einen Stuhl fallen, der neben dem Tisch des Majors stand.
Worotilow sah auf seine Hände. Er duldete den Ausbruch seines Leutnants, und nur Dr. Kresin hatte sich in eine andere Ecke verzogen und grunzte mißbilligend. Dr. Böhler wandte sich ab und ging zur Tür.
»Wo wollen Sie hin?« rief Worotilow.
»In mein Lazarett! Die Kranken brauchen mich . die kranken, verletzten, jammernden, armen, hilflosen und dreckigen deutschen Schweine.«
Piotr Markow umklammerte die Kante des Tisches und schnellte den Oberkörper vor.
»Verrecken alle, verrecken.«, keuchte er atemlos.
Worotilow winkte ab. Seine Hand fuhr durch die Luft. »Dr. Böhler.« Seine Stimme war gelassen und ein wenig singend. Er kommt aus dem Süden, dachte Dr. Schultheiß. Vielleicht aus dem Kaukasus oder von der Krim. »Sie werden in den nächsten Tagen chirurgische Bestecke, Catgut, Narkosemittel und alle Dinge bekommen, die Sie brauchen. Ich bitte Sie, eine genaue Liste einzureichen, was Sie am allernötigsten brauchen! Dr. Kresin wird sie prüfen. Ich werde direkt nach Moskau schreiben.« Ein Lächeln flog über sein Ge-sicht . etwas von der uralten Weisheit der Asiaten schimmerte hinter der Maske der Zivilisation. »Das ändert aber nichts daran, daß Bascha Tarrasowa ihren Schal wiederbekommt! und daß Ihre Kameraden für den Diebstahl eine Woche lang 100 Gramm Brot weniger erhalten!«
»Sie sind grausam, Major.«
»Aber gerecht. Ich habe mir sagen lassen, daß ein Diebstahl in einem deutschen Gefangenenlager ganz anders bestraft wird.«
»Das sind Greuelmärchen!« Dr. Böhler trat wiederum einen Schritt vor. »Ich bitte Sie, Major . lassen Sie die armen Kerle nicht hungern! Wenn es sein muß, dann bestrafen Sie mich.«
Worotilow schüttelte den Kopf. Seine Augen waren schmal, aber in diesen Schlitzen leuchtete etwas, was sich Dr. Böhler nicht erklären konnte.
»Sie werden aus meinem Lager ein großes Lazarett machen, und ich bin stolz darauf, und Dr. Kresin auch. Sie sind ein großer Arzt.«
»Ich tue nichts als meine Pflicht.«
»Wir wollen uns nicht um Worte streiten. Sie werden alles bekommen, was Sie brauchen . ich habe es schon einmal gesagt. Aber Ihre verwundeten oder kranken oder gesunden Landsleute interessieren mich nicht. Sie werden einen Diebstahl büßen.«
Sekundenlang sah Dr. Böhler dem Major in die kleinen Augen. Zwei Männer, die jeder am Ende einer riesigen Brücke standen, über die kein Weg zueinander führt, weil sie in der Mitte zerstört ist. Nur das Geräusch ihrer Stimmen dringt von Ufer zu Ufer, aber die Worte sind verschieden.
»Niemand lernt euch Russen kennen«, sagte Dr. Böhler leise. Dann wandte er sich ab und verließ den Raum. Sellnow und Schultheiß wollten ihm folgen. Die Stimme Dr. Kresins hielt sie fest.
»Sie bleiben!« Seine dicken Finger wiesen auf den jungen Unterarzt. »Sie können auch gehen«, rief er Sellnow zu.
Dr. Schultheiß trat zurück ins Zimmer und sah sich um. Piotr Markow hatte seine Pistole umgeschnallt und verließ die Baracke. Er strebte zur Baracke II, Block 7, wo eben Karl Georg seine Blumen fer-tig begossen hatte und nun mit seinen Freunden an der Wand lehnte und Machorka rauchte.
Dr. Sergeij Basow Kresin schob Dr. Schultheiß mit dem Fuß einen Stuhl zu. »Setzen!« kommandierte er. Verblüfft ließ sich Schultheiß nieder und spürte, daß er blaß wurde und heftige Angst in ihm aufstieg. Dr. Kresin hatte die Hände gefaltet, als er zu sprechen begann. Er sah friedlich aus, als ob er sich als Privatmann mit einem jungen Kollegen unterhalte. Diese Haltung mahnte Schultheiß zur Vorsicht.
»Wir haben gehört«, sagte Dr. Kresin freundlich, »daß Sie den operierten Patienten mit einem neuen Medikament, einem Pulver, behandelt haben. Stimmt das?«
Schultheiß kniff die Lippen aufeinander. Woher wußte Doktor Kresin von dem Penicillin? Sollte er lügen? Sollte er die Wahrheit sagen?
»Wie soll denn das Medikament ausgesehen haben?«
»Weiß, Herr Doktor! Es war Penicillin! Ein amerikanisches Präparat, das wir als Militärlieferung erhalten. Wie kommen Sie an dieses Pulver?«
»Es war in unserer Lazarett-Apotheke.«
»Es steht aber auf keiner Ihrer Bestandslisten verzeichnet.«
»So?« Dr. Schultheiß hob bedauernd die Schultern. »Das ist vielleicht ein Fehler, der leicht zu berichtigen ist. Schreiben Sie bitte dazu: Eine große Dose mit Penicillin-Pulver.«
Dr. Kresin grinste. »Und wann geliefert, mein Junge?«
»Das weiß ich nicht.«
Major Worotilow, der jetzt an Stelle von Markow am Fenster stand, drehte sich herum und wippte mit den Fußspitzen auf dem Dielenboden.
»Sie haben also auch das Penicillin gestohlen!«
Dr. Schultheiß erkannte die Falle, die man ihm gestellt hatte. Er hatte keine Wahl mehr - entweder er verriet die Kasalinsskaja, oder er nahm den Diebstahl auf sich. Man hatte ihn, den Jüngsten der Ärzte, ausgefragt, weil er am ängstlichsten und weichsten war.
»Ich bitte Sie, auch mir für eine Woche das Brot zu entziehen«, sagte er leise.
»Nein.« Worotilow trat näher und beugte sich über den jungen Arzt. Ein Geruch von Juchtenleder, Machorka und Schweiß strömte von ihm aus. »Ich müßte Sie bestrafen, Doktor, weil Sie so wenig Vertrauen haben. Sie dürfen mich nicht mit Markow verwechseln.« Er richtete sich auf. Der beißende Geruch verlor sich etwas. »Ich will gar nicht wissen, woher Sie das Penicillin hatten. Aber ich rechne auch mit Ihrer Verschwiegenheit in anderen Dingen. Sie sind Arzt... Sie kennen doch keinen Unterschied bei Ihren Patienten.«
Dr. Schultheiß wandte ihm den Kopf zu. »Was haben Sie vor, Herr Major.«
»Sie werden mit mir nach Stalingrad fahren. Und Sie werden dort jemanden untersuchen, der mir sehr nahesteht.«
»Eine Frau?« fragte Dr. Schultheiß ahnungsvoll.
»Ja. Dr. Kresin behandelt sie, aber er riet mir, Sie hinzuzuziehen.« Worotilow sah Dr. Schultheiß aus seinen kleinen dunklen Augen scharf an. Es war wie eine letzte Musterung beim Kauf eines Pferdes. »Es wird niemand erfahren, wo Sie hinfahren, Doktor«, sagte er mehr wie zu sich selbst. »Auch nicht Dr. Böhler.«
»Nein, Herr Major.«
»Wenn Sie sie gesund machen, können Sie von mir haben, was Sie wollen.« Ein Lächeln zog über sein Gesicht. »Nur nicht die Freiheit.«
Dr. Kresin schaltete das Licht ein. Die Nacht war über das Lager hereingebrochen. In einer der Baracken hörte man das Brüllen Leutnant Markows. Ein warmer Wind kam von Westen und trieb den Staub durch die Lagerstraßen. Es roch nach Erde und Rauch, als habe in der Nähe ein Wald gebrannt.
»Morgen früh fahren wir«, sagte Worotilow laut. »Dr. Kresin wird Sie abholen.«