AUS DEM TAGEBUCH DES DR. SCHULTHEISS:


Wie gut ist die Nacht. Wie still, wie sanft, wie willig die Gedanken.

Ich sitze neben dem Bett des jungen Oberfähnrichs. Er schläft. Die dritte Operation hat sich bewährt. Der Chirurg hat nur eine kleine Stauung des Kotes in der Nähe des künstlichen Afters beseitigen müssen, die dem Kranken aber das Leben gekostet hätte, wenn nicht eingeschritten worden wäre. Noch immer fließt Eiter aus der Dränage des operierten Blinddarms. Aber der Puls ist besser. Dr. Kresin hat Traubenzucker und vor allem Strophanthin zur Verfügung gestellt. Das Herz des Kranken hat ausgezeichnet auf die Milligramm-Bruchteile des Herzmittels angesprochen.

Ich bewundere Böhler nicht nur als Arzt, sondern auch als Mensch. Immer ist er zurückhaltend und still, immer zur Stelle, nie erregt. Er ist als Arzt wagemutig und führt einen verbissenen stillen Kampf gegen den Tod, der hier allgegenwärtig ist. Er macht keine großen Worte. Wir alle haben sie verlernt, sind schweigsam geworden und geizig mit den Worten, die man früher so leichtfertig gebrauchte.

Ich bin getröstet, wenn ich an Böhlers Seite stehe und auf seine Hände sehe, in seine Augen, auf seine gerade Stirn, auf die schmalen Lippen, die zusammengepreßt sind und sich nur öffnen, wenn er sagt: der nächste ... dann möchte ich die Umwelt, in der wir leben müssen, vergessen und große Worte sagen. Was wären wir ohne ihn. Aus einem Nichts hat er dieses Lazarett geschaffen, hat er die beste Lungenstation aller Lager eingerichtet, chirurgische Taten vollbracht, die an den Mut der mittelalterlichen Ärzte erinnern. Mit einem Küchenmesser amputierte er 1945 ein gefrorenes Bein. Ich sehe ihn noch in der Baracke stehen, umgeben von einer Gruppe Männer, die zur Seite sahen und einige Öllampen hoch hielten. »Halten Sie den Mann fest«, sagte er zu den beiden Sanitätern. »Ganz fest! Ich schneide jetzt.«

Und der Amputierte schrie, bis ihn eine Ohnmacht barmherzig umfing. Wir hatten keine Betäubungsmittel.

Ich werde heute abend nicht zu Janina gehen können. Ich kann das Zimmer nicht verlassen. Um zwei Uhr in dieser Nacht muß Nummer 4583 die nächste Traubenzucker-Infusion erhalten.

Als ich einmal auf den Flur trat, sah ich von weitem unter ihrer Tür noch Licht hervorschimmern. Auch im Zimmer der Kasalinsskaja war noch Licht. Als ich in die Arzneikammer ging, hörte ich ihren Schritt unruhig im Zimmer hin und her tappen. Sie wartete, daß ich zu Janina gehe, um dann Worotilow zu rufen. Sie ist ein Teufel! Aber sie ist schön, gefährlich schön. Wenn ich an sie und Sellnow denke, habe ich eine zügellose Angst. Einmal wird es zu einer Katastrophe kommen.

Als ich von der Arzneikammer zurückkam, verklang ihr Schritt. Sicher lauschte sie. Dann öffnete sich die Tür des Krankenzimmers und sie blickte kurz hinein.

»Janina erwartet Sie«, sagte sie leise. Ihre Augen waren dunkel und gefährlich.

»Ich habe Nachtwache«, antwortete ich bestimmt. »Ich verlasse den Kranken nicht!«

»Soll ich für Sie die Wache machen?«

Ich schüttelte den Kopf und begann, die Spritze auszukochen, ohne mich um sie zu kümmern. Da schloß sie wieder die Tür. Auf dem Flur hörte ich das leise Klatschen ihrer Füße. Sie war barfüßig gekommen. Ich möchte wissen, warum sie so oft nachts in ihrem Arbeitszimmer bleibt. Das ist streng verboten. Auch für sie. Sie hat draußen zu schlafen, im Kommandantur-Gebäude!

Nachdem ich dem Oberfähnrich die Injektion gemacht hatte, schlüpfte jemand in mein Zimmer. Ich wagte nicht, mich umzudrehen ... ich spürte den Blick in meinem Nacken ... ich fühlte das heiße Schlagen meines Herzens. Mein Gott, mein Gott, warum muß das sein? Warum peinigst du uns so, uns, die armen, entrechteten, hungernden Plennis.

Janina kam an das Lager des Kranken und setzte sich an das verdunkelte Fenster auf den einzigen wackeligen Stuhl. Lange Zeit sprachen wir kein Wort.

Wir sahen uns nur an.

»Alexandra sagte mir, daß Sie Wache haben«, sagte sie dann. Ihre Worte waren wie ein leises Klingen gezupfter Saiten. Unter dem Saum des Kimonos sahen ihre nackten Beine hervor, mit den zierlichen, goldbestickten Astrachan-Pantoffeln. Sie war schlank wie ein Knabe, nur ihr Mund war weiblich - und ihre hellen Augen waren es, Augen, als seien sie aus der Wolga geschöpft.

»Ja«, sagte ich. Ein dummes Ja.

Dann schwiegen wir wieder und sahen uns an.

»Ich habe Sie den ganzen Tag nicht gesehen, Jens.«

»Ich hatte Dienst in den Baracken. Die wenigsten unserer Patienten sind so krank, daß sie ins Lazarett kommen. Jeder Block hat noch seine eigene Krankenstube - das Revier, wie wir Deutschen sagen -, dort verrichten Sanitäter den Dienst, und der wachhabende Arzt macht Visite.«

»Und Sie waren Wachhabender?«

»Ja.«

»Nicht Dr. von Sellnow?«

Ich schwieg und sah zu Boden. Ich schämte mich.

»Warum haben Sie mit Dr. von Sellnow getauscht, Jens?«

»Janina.«, sagte ich gequält.

»Sie sind feige, Jens.«

»Ich bin nur ein Kriegsgefangener, Janina. Ich gelte nichts.«

»Mir gelten Sie viel.« Janina stützte den Kopf in beide Hände und sah mich unentwegt an. Ich ertrug ihren Blick nicht und kümmerte mich um die Seitenöffnung des Patienten, wechselte den Mullberg.

»Ihnen vielleicht, Janina«, sagte ich dabei. Daß ich sie nicht anzuschauen brauchte und mit meiner Arbeit beschäftigt war, machte mich mutig. »Ich würde Ihnen gerne antworten, wenn ich ein freier Mensch wäre. Nicht eine Nummer in den Listen der Zentralgefangenenstelle in Moskau. Nummer 6724/19 - weiter nichts. Was wollen Sie von einer Nummer, die man ausradieren kann wie einen lästigen Punkt oder einen unvorsichtigen Klecks?«

Janina Salja hob die Schultern. Ihre langen, dünnen Beine mit den Astrachan-Pantoffeln wippten. »Sie werden vielleicht bald frei sein, Jens. Hunderttausende Ihrer Kameraden sind schon wieder in Deutschland.«

»Aber Hunderttausende leben noch in den Lagern dies- und jenseits des Urals.«

»Auch sie werden einmal entlassen.«

»Dann ist unsere Kraft gebrochen, Janina. Dann sind wir nur noch atmende Gespenster. Es wird viele Jahre dauern, ehe wir uns wiederfinden, mehr Jahre, als wir hier in Rußland verloren haben. Wir Menschen sind eine zu eilige Arbeit Gottes . als er uns schuf, hat er versäumt, um unsere Seele eine dicke Hornhaut zu legen.«

»Sie sind verbittert, Jens.«

»Vielleicht. Vielleicht ist es nur Stacheldrahtkoller. Vielleicht sind es nur ungestillte Sehnsüchte. Vielleicht ist es das dumme Etwas, das man Heimweh nennt.« Ich stopfte den vereiterten Mullknäuel in einen Eimer und legte einen Deckel aus Holz darüber. »Könnten Sie ohne die Wolga leben, Janina?«

»Wenn ich einen Menschen liebte, mehr liebte als meine Wolga ... ja, Jens.«

»Das ist ein großes Wort.« Ich bettete den Oberfähnrich richtig und wusch ihm das Gesicht mit Wasser und den noch immer aufgequollenen Leib mit einer sterilen Lösung. Janina sah mir zu. Meine Hände waren ruhig, weit ruhiger als mein Inneres.

»Wir haben in der Schule viel von Deutschland gelernt«, sagte sie. »Nicht nur die Sprache - auch von eurer Kultur weiß ich, von eurer Landschaft, von euren Künstlern und Gelehrten. Ihr seid ein kluges Volk, aber eure Klugheit wächst über euch hinaus, und ihr ver-geßt, daß es andere Völker gibt.«

»Das hat man euch gelehrt. Wir lernten, daß alle Russen asiatisch verseucht seien und der ideologische Brandherd der Welt. Die Gelehrten, die diese Bücher schrieben und uns das lehrten, haben aber nie die Wolga oder den Don gesehen, die Steppe und Janina.«

Mit einem jähen Ruck stand sie auf und trat hinter mich. Ihre kleine Hand legte sich unerwartet hart auf meine Schulter.

»Ich könnte alle Deutschen hassen«, sagte sie leise.

»Warum, Janina?«

»Weil ich Sie kennenlernte.«

Die Hand lag noch auf meiner Schulter. Ich drehte den Kopf zur Seite und küßte ihre Fingerspitzen. Sie fuhr zurück, in ihre Augen trat Angst und eine wilde Gehetztheit... sie riß die Tür auf und lief über den Gang in die Dunkelheit davon. In der Ferne klappte eine Tür. Neben dem Stuhl, auf dem sie saß, lag eine Blume. Eine kleine Buschrose, blaß und schmächtig wie Janina, krank und halb verwelkt.

Wie gut ist die Nacht. Wie still, wie sanft, wie willig die Gedanken eines schmutzigen deutschen Kriegsgefangenen.

Ich glaube, daß Gott auch über Rußland blickt.

Gegen Mittag ging das Gerücht durchs Lager, ein politischer Kommissar aus Moskau habe den Gefreiten Hans Sauerbrunn verhaftet. Karl Georg und Julius Kerner, die dieses Ereignis miterlebt hat-ten, wußten in ihrer Verwirrung nichts anderes zu berichten, als daß Jakob Aaron Utschomi, der kleine jüdische Dolmetscher, mit dem Kommissar erschienen war und Sauerbrunn einfach mitgenommen hatte in die Kommandantur.

Der Kommissar Wadislav Kuwakino war ein mittelgroßer, untersetzter Mann mit einem Mongolengesicht. Seine Augen, weit auseinanderstehend und ein wenig geschlitzt durch die asiatischen Fettpolster unter den Lidern, blickten kühl und oftmals gelangweilt, als sei ihm die Welt das Ekelhafteste und der Mensch auf ihr überhaupt nicht wert, beachtet zu werden. Er senkte meist den Kopf, wenn er sprach, und sah auf seine langen, im Gegensatz zu seinem Körper dünnen Finger oder polkte mit dem Nagel der einen Hand unter den Nägeln der anderen.

Major Worotilow saß mit rotem Gesicht in seinem Zimmer. Unerhört, dachte er. Unerhört, wenn das wahr ist.

Piotr Markow grinste. Er betrachtete Hans Sauerbrunn wie ein Schlachtvieh und stellte sich vor, wie dieser Deutsche gequält in einem Straflager stöhnte. Kasymmskoje ... die Sümpfe ... Fieber, Mük-ken, Wölfe und morastiger Boden.

Man sollte diese deutschen Schweine ausrotten.

Hans Sauerbrunn stand mehr erstaunt als verängstigt vor dem großen Tisch des Majors und sah von einem zum anderen. Er trug sein Alltagskleid: die zerrissene Hose, ein offenes Hemd über der behaarten Brust, staubige Stoffschuhe mit Gummisohlen. An den Knien seiner Hose waren zwei runde, schmutzige Flecke . er hatte Karl Georg im Garten geholfen und sich in die Erde gekniet. Er wagte nicht, die Flecke abzuklopfen. Steif stand er vor dem Tisch und blickte Jakob Aaron Utschomi, den Dolmetscher, fragend an. Kuwakino, der Kommissar, polkte in seinen Nägeln. »Sie wissen die Frage, Utschomi«, sagte er russisch zu dem Dolmetscher. »Fragen Sie ... Genosse.«

Es fiel ihm schwer, zu dem kleinen, armseligen Juden Genosse zu sagen und ihn als seinesgleichen anzuerkennen. Aber er würgte es heraus, eingedenk der Ideologie, der er diente und die keine Ras-sen kannte und keine Hautfarben und keine Nationen, nur den Ruf der roten Fahne der Revolution.

Aaron Utschomi schluckte und sah Hans Sauerbrunn verzweifelt an. Er machte eine vergebliche Anstrengung, streng wie seine Vorgesetzten zu sein, aber er glitt wieder in sein eigentliches Wesen: schüchtern zu sein und sich zu ducken. »Sie wurden gefangen -wann?«

»Am 12. November 1942.«

»Wo?«

»In Stalingrad.«

»Das war ja vor der Kapitulation der deutschen 6. Armee?«

»Ja. Ich war so dumm, mich als Essenholer zu verirren. Ich lief mit 17 Kochgeschirren in die russischen Linien.«

»Sie verirrten sich nicht zufällig ... Sie wollten sich verirren?«

Hans Sauerbrunn sah Utschomi verblüfft an. Ehe er diese Auslegung seiner Gefangennahme begriff, nahm Major Worotilow ein wenig freundlicher das Wort. »Sie hatten wie wir alle den Krieg satt und liefen über, was?«

Sauerbrunn schüttelte heftig und ablehnend den Kopf. Der Gedanke, als Überläufer angesehen zu werden, erbitterte ihn maßlos. »So dämlich bin ich nicht!« sagte er laut und erregt. »Überlaufen! Zu den Russen!«

Piotr Markow schob die Unterlippe ein wenig vor. Dann schlug er mit der geballten Faust zu und traf Sauerbrunn zwischen die Augen. Der taumelte, Blut schoß aus seiner Nase und lief in einem dicken Strom über das Kinn, den Hals, in das offene Hemd hinein und färbte die dunklen Brusthaare hellrot.

»Aber nicht doch«, sagte Kommissar Kuwakino gemütlich und unterbrach das Polken an seinen Fingernägeln einen Augenblick. »Vergessen Sie doch nicht, Genosse Leutnant, wer das ist.«

Markow trat zurück. In seinem Gesicht spiegelten sich Wut und tiefe Befriedigung. Er sah das Blut aus dem Gesicht Sauerbrunns rinnen und hätte jauchzen können, daß es deutsches Blut war. Er hatte das unheimliche Verlangen, dieses rinnende Blut zu trinken, um schreien zu können: »Ich fresse einen Deutschen.!«

Hans Sauerbrunn lehnte sich schwankend an die Tischkante, Major Worotilow warf ihm ein großes Taschentuch hin, das Sauerbrunn an die Nase drückte und dabei den Kopf weit in den Nacken zurücklegte. Jakob Aaron Utschomi war den Tränen nahe. Er schluckte mehrmals laut, ehe er weiterfragte.

»Wo sind Sie geboren?«

»In Berlin.«

Der Kommissar sah kurz auf. Seine Stimme war hell und scharf. Wenn er sprach, zuckten seine Augenwinkel, und die dünnen Lippen wölbten sich vor wie bei einem Lama, das im Begriff ist, zu spuk-ken.

»Das ist nicht wahrr!«

»Ich bin in Berlin geboren. Am 19. September 1915!«

»Nicht in München?«

»Nein.«

Hans Sauerbrunn versuchte, das durchblutete Taschentuch von der Nase zu nehmen. Ein scharfer Schmerz durchzuckte die Nasenwurzel, als er den Kopf senkte. In den Schläfen stachen Millionen Nadeln. Ihm war übel, er hatte das schreckliche Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen - bis er sich sagte, daß sein Magen ja leer sei, weil er die Brotration schon am Morgen gegessen hatte und nun auf die Kohlsuppe des Mittagessens wartete.

»Was war Ihr Vater?«

»Schuhmachermeister.«

»Das ist nicht wahrrr!« sagte Kommissar Kuwakino wieder. »Alles gelogen!« Er legte seine Hände auf die Tischplatte. Anscheinend waren seine Nägel jetzt sauber. In seinen Augen glomm Bosheit auf, als er das blutige Gesicht des Gefangenen betrachtete. »Warum Sie leugnen?«

»Mein Gott.« Hans Sauerbrunn hob die Schultern. Was wollen sie von mir, warum haben sie mich geholt? Wissen sie, daß mein Bruder in der SS war und mein Vater Zellenleiter der Partei? Ich war in der SA, ein kleiner Truppführer, der am Sonntag seine Männer beim Dienst anbrüllte und anschließend mit ihnen um die Wette soff. Manchmal mußten wir mit einer Taxe unsere Zivilsachen kommen lassen, weil wir im >braunen Ehrenkleid< nicht besoffen durch die Straßen gehen konnten. Ob sie das alles wissen? Aber warum fragen sie dann nicht? Warum nicht auch die anderen Millionen, denen es so oder anders erging, die ihren Parteidienst taten und die Hand hoben beim Horst-Wessel-Lied? Wie sangen doch die Pimpfe, diese kleinen, schwarzuniformierten Knaben mit ihrem Fähnlein vorneweg. »Ja, die Fahne ist mehr als der Tod.« Die Fahne, der sie nachlatschten und in den schönen, hellen Sonntagmorgen schrien: »Es zittern die morschen Knochen.«

Er mußte lächeln und schmeckte beim Lächeln sein Blut.

»Woran denken?« sagte Kommissar Kuwakino. Hans Sauerbrunn fuhr zusammen.

»Ich habe die Wahrheit gesagt. Warum fragen Sie mich denn? Was ist denn los? Was habe ich denn getan?« Seine Stimme wurde unsicher. Die starren Gesichter hinter dem Tisch flößten ihm Angst ein. Er wollte es sich nicht gestehen, aber er spürte sein Herz hämmern und verkrampfte in den Schuhen die Zehen vor Angst.

»Warum habben geändert Sie den Namen?«

»Was soll ich?« Hans Sauerbrunn sah den Kommissar verblüfft an.

Aaron Utschomi nickte. »Sie haben doch Ihren Namen geändert.«

»Ich?!«

»Ja. Sie haben aus einem -bruch einen -brunn gemacht!«

Utschomi wollte weitersprechen, aber Major Worotilow schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab und beugte sich weit vor. Seine Stimme war freundlich und zuvorkommend. »Nun geben Sie schon zu, daß Sie Hans Sauerbruch sind, der jüngste Sohn des deutschen Chirurgen Professor Sauerbruch.«

»Der Sohn des Generaloberstabsarztes der deutschen Armee«, unterstrich Kommissar Kuwakino.

Hans Sauerbrunn schüttelte matt den Kopf. »Ich heiße Sauerbrunn. Mein Vater war Schuhmachermeister in Berlin. Wir wohnten am Schlesischen Bahnhof.«

»Das ist nicht wahrr!« Der Kommissar erhob sich und umging den Gefangenen. Er umkreiste ihn wie ein Raubtier sein Opfer, und die Kreise wurden immer enger. Dicht vor Sauerbrunn blieb er stehen und sah in lauernd an. »Ihr Vater ist in Berlin. Arbeit in Charite. Wenn Sie zugebben, daß Sohnn, dann Sie frei.«

Hans Sauerbrunn biß die Zähne aufeinander. Frei . frei . kein Plenni mehr . keine Kohlsuppe, kein glitschiges Brot, keine Arbeit in den Wäldern, keinen Piotr Markow . keinen Stacheldraht, keine Wachttürme, keine eisigen russischen Winter, keine Kirgisen und Mongolen, die nicht sprachen, sondern einfach zuschlugen. Die Versuchung umgarnte ihn.

Lauernd sah Kommissar Kuwakino den Gefangenen an. »Na?« fragte er.

»Ich bin es nicht«, stöhnte Hans Sauerbrunn.

»Wir werden Sie mit nach Moskau schicken«, sagte Major Worotilow steif. »Wenn Moskau sagt, Sie sind Hans Sauerbruch, dann sind Sie es! Moskau irrt sich nie!«

»Ich heiße Sauerbrunn! Sauerbrunn! Sauerbrunn!« schrie der Junge. Er schlug mit der Faust hysterisch auf den Tisch und riß sich das Hemd auf. Die Nerven versagte ihm, die Spannung löste sich in Schreie auf. Er tobte und wollte mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Leutnant Markow fing ihn auf und schlug ihm mit der flachen Hand gegen den Hals. Wie ein Sack fiel er um und lag gekrümmt auf dem Boden der Kommandantur.

»Weg!« sagte der Kommissar steif. »Ich nehme ihn mit! Befehl ist Befehl!«

Vier Tataren trugen Hans Sauerbrunn in seine Baracke. Man stellte sich gerade in einer langen Reihe auf, um Essen zu fassen.

Die Kohlsuppe stank wie immer. Die Plennis sahen nicht hin, als man Hans Sauerbrunn aus der Baracke trug. Geschlagen wurde oft, aber Essen bekommen war wichtiger, und wer zu spät kam, erhielt mehr Wasser als schwimmende Kohlstücke.

Julius Kerner und der von der Arbeit zurückgekehrte Peter Fischer sahen sich stumm an.

»Hunde!« knirschte Fischer zwischen den Zähnen.

Kerner stieß ihn in die Seite. »Halt die Schnauze, Mann.«

In die Blechschüsseln klatschte die Suppe.

Sie roch etwas angebrannt. Das reinigt den Magen, sagte der Mann, der austeilte. Dabei lachte er. Einmal trat man ihm in den Hintern, aber das nahm er auch nicht übel. Er war gut gelaunt, denn er hatte Küchendienst und konnte sich einmal rundum sattessen. Das macht Laune und friedlich gegen alle Mitmenschen.

In der Baracke warfen die Tataren Hans Sauerbrunn auf die erste Pritsche und gingen lachend über den Platz zu ihrem Wachhaus am großen Tor. Karl Georg, der ewige Stubendienstleiter, kam herangerannt und verstummte vor Entsetzen, als er das Gesicht sah, das auf dem Strohsack lag.

»Mein Gott«, stammelte er. »Mein Gott.« Dann nahm er den Eimer Wasser und ein Stück Hemdentuch und wusch Sauerbrunn vorsichtig das Blut vom Gesicht und von der Brust. Der Ohnmächtige stöhnte leise.

Ein Gefangener aus der Nebenbaracke sah herein. »Schlimm?« fragte er.

»Vielleicht.«

»Der kann heute doch nichts essen. Darf ich mir seine Portion Suppe holen?«

»'raus! Du dreckiges Schwein!« schrie Georg.

Der struppige Kopf verschwand.

Als die anderen in die Baracke zurückkamen, lag Sauerbrunn wimmernd auf dem Strohsack und hielt sich das Gesicht mit beiden Händen fest. »Meine Nase«, jammerte er. »Oh, meine Nase.«

Julius Kerner legte sein Eßgeschirr hin. Es würgte ihn im Hals.

»Ich laufe zum Stabsarzt«, sagte er. »Wenn wir bloß wüßten, was der Junge ausgefressen hat.«

Kommissar Wadislav Kuwakino saß am Tisch und aß einen fetten Hammelbraten mit grünen Bohnen. Major Worotilow leistete ihm Gesellschaft, während Markow wütend die Essenausteilung überwachen mußte und sich ausrechnete, daß er nachher nur noch die

Knochen abnagen durfte. Das steigerte seinen Zorn, er schlug einem Gefangenen, der etwas Suppe auf seine Stiefel verschüttete, die Schüssel aus der Hand und brüllte über den weiten Platz.

Die Plennis duckten sich. Sie schwiegen. Stumpfheit lag in ihren Augen . gewollte Stumpfheit.

»Ich weiß nicht, wie sie in Moskau auf den Gedanken kommen, das sei der Sohn des Chirurgen Sauerbruch. Sie müssen ihre Gründe haben, Genosse Major. Soviel ich weiß, untersuchte Sauerbruch einmal Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin. Das hat man nicht vergessen.«

»Aber wenn er nicht der Sohn ist, wirklich nicht?«

Kommissar Kuwakino biß in das Fleisch. Es war gut gebraten und knackte zwischen den gelben Zähnen. Sein Gesicht war zufrieden.

»Dann wird man ihn in Moskau verurteilen. Wegen Irreführung. Fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit.«

»Aber er hat doch beteuert, daß er nicht der Sohn ist!«

Kuwakino hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Er schaufelte sich die grünen Bohnen auf die Gabel und schnalzte mit der Zunge. Fett troff auf den Teller.

»Leider nicht so überzeugend, daß wir es glauben konnten, Genosse Major. Wie sagte Puschkin? Ein tiefer See ist stets gefährlich, auch wenn man ihn ausschöpft.«

Die grünen Bohnen knirschten leise, als er sie zwischen den Zähnen zermalmte.

Worotilow schwieg. Er aß nicht mehr. Er dachte an das blutige Gesicht.

Ich war Kadett, dachte er. Sowjetkadett. Ich lernte vom ersten Tage an die Deutschen hassen.

Aber ich bin ein Mensch. Ist es dieser Kuwakino auch?

Er blickte zur Seite. Der Kommissar beugte sich über den Teller und schnalzte. Über sein gelbliches Gesicht mit den leicht geschlitzten Augen fielen die glatten schwarzen Haare.

Ein Asiate, dachte Major Worotilow. In seinem Hals würgte der Ekel.

Es war am späten Abend. Im Lager war Ruhe. Nur Karl Georg begoß noch einmal seinen Barackengarten; er lebte nur für seine Blumen und hätte die Hälfte seiner Suppe auf sie geschüttet, wenn er kein anderes Wasser hätte auftreiben können.

Dr. Böhler sah sich die Tagesmeldungen der einzelnen Blockreviere an und blickte dann zu seinen Kollegen auf.

»Was wissen Sie von dem Vorfall heute mittag? Hier steht: Nummer 6294/19, Sauerbrunn, Hans, Nasenbeinbruch. Die Ärztin hat ihn arbeitsfähig geschrieben.«

»Man sollte ihr selbst die Nase einschlagen, damit sie spürt, wie weh so etwas tut!« Sellnow las die Krankmeldung durch und nickte. »Typisch Kasalinsskaja. Befund: Nasenbeinbruch! Als Holzfäller arbeitsfähig. Als Holzfäller auch nicht!«

»Am besten ist, Sie sprechen einmal selbst mit ihr, Werner. Sie hat heute Dienst und ist im Lager.«

»Ich?«

»Ja. Unser Unterarzt ist zu weich.« Dr. Schultheiß wurde rot, aber er rechtfertigte sich nicht. »Sie haben da die beste Methode, Werner, Sie gehen mit dem Kopf durch die Wand. Nichts imponiert der Russin mehr als Unbeugsamkeit. Und die haben Sie, Werner.«

»Herzlichen Dank für das Attest«, knurrte Sellnow. Er nahm seinen vielfach geflickten Rock vom Haken und schob sich aus der Tür. Dr. Böhler sah im nach, und ein leises Lächeln überzog sein schmales, abgehärmtes Gesicht.

»Gleich wird die Baracke erzittern, und die Stühle werden in den Gang fliegen. Aber glauben Sie mir - unser Oberarzt bekommt den Nasenbeinbruch ins Lazarett.«

Die Kasalinsskaja fuhr herum, als Sellnow nach kurzem Klopfen eintrat, ohne ihre Antwort abzuwarten. Sie trug ein seidenes Nachthemd, dünn genug, um mehr als nur andeutungsweise ihren üppigen Körper zu zeigen.

Sellnow verzog spöttisch den Mund. Er schloß die Tür hinter sich, blieb ruhig stehen und sah die Kasalinsskaja an.

»Was wollen Sie?« fauchte die Ärztin. »Sehen Sie nicht, daß ich schlafen will!«

»Ich möchte mich mit Ihnen über eine Nase unterhalten.«

»Raus!« schrie die Kasalinsskaja.

»Genauer gesagt, über einen Nasenbeinbruch. So ein Bruch tut weh, beste Kollegin. So ein Bruch kann schlimm werden, wenn er vernachlässigt wird. Haben Sie schon einmal eine schöne, plattgehauene, rosenkohlförmige Boxernase gesehen?«

Die Kasalinsskaja zitterte vor Wut. Sie hatte sich vorgebeugt wie eine Tigerin vor dem Sprung. Das Hemd verschob sich. Weiß schimmerte die linke Brust hervor. Sellnow schoß das Blut in den Kopf. Er trat einen Schritt vor und drückte die Ärztin in einen Sessel. Ihre schwarzen Augen funkelten ihn an. Wie eine Schlange wand sie sich unter seinen Händen.

»Weg!« keuchte sie. »Lassen Sie mich los, Sie deutscher Hund!«

Sellnow nahm ihr gegenüber Platz. Er schlug die Beine übereinander und tastete mit gierigen Blicken ihren Körper ab.

»Sie haben den Gefangenen Nummer 6294/19 gesund geschrieben!«

»Ja!« schrie sie ihn an. Sie warf die Locken in den Nacken. Sell-now wurde rot.

»Der Mann hat einen Nasenbeinbruch.«

»Das weiß ich.«

»Und Sie schicken ihn in die Wälder?!«

»Bäume werden nicht mit der Nase gefällt.«

»Reden Sie nicht solchen Bockmist, Alexandra.«

»Ich heiße Dr. Kasalinsskaja«, zischte sie. Aus ihren Augen funkelte die Wildheit ihrer Heimat. Sie zitterte, und als sie die Hände im Schoß verkrampfte, spürte sie, wie die Innenseite ihrer Schenkel bebte. Sie wurde totenblaß, gleich darauf bildeten sich auf ihren Wangen rote, hektische Flecken.

»Raus mit Ihnen!« zischte sie fast unhörbar vor Erregung.

»Ich gehe sofort, wenn Sie mir den Gefangenen ins Lazarett überstellen und transportunfähig schreiben.«

»Nie! Nie! Nie!«

Sellnow schloß halb die Augen. Er musterte sie, als ob er durch ein Zielfernrohr etwas beobachtete.

Plötzlich erhob er sich und riß sie am Handgelenk zu sich empor. Keuchend stand sie vor ihm. »Du Aas!« sagte er leise. »Du Hexe! Du Satan von einem Weib!«

Mit jähem Griff riß er ihr das Hemd über der Brust auf. Sie schlug ihm mit beiden Fäusten ins Gesicht, sie spreizte die Finger und kratzte. Unter ihren Nägeln fühlte sie Fetzen seiner Haut. Sellnow keuchte. Er riß sie nach hinten und küßte wild ihre heißen, trockenen Lippen. Unter seinem brutalen Griff erstarb ihre Gegenwehr. Mit einem einzigen heftigen Stoß warf er sie auf das Bett und war im gleichen Augenblick über ihr.

Sie kämpften wie die Tiere. Ihr Atem hechelte, Schweiß überzog ihre Körper.

»Du Hund!« stieß sie hervor. »Der verdammtes, verfluchtes Schwein.« Und mit einem spitzen Schrei ergab sie sich.

Auf den Wachttürmen am Zaun gähnten die Soldaten.

Ein warmer Wind rauschte durch die Wälder, die sich hinabzogen bis zur träge fließenden Wolga.

Das Lager 5110/47 schlief.

Der Gefreite Hans Sauerbrunn wurde krank geschrieben und kam ins Lazarett.

Sellnow war ein anderer Mensch geworden. Pfeifend ging er umher. Seine Barschheit war verschwunden, er war glänzender Laune und verstand sich sogar mit seinem alten Widersacher Dr. Kresin. Er nahm manche Bemerkung leicht, über die er früher vierzehn Tage geschimpft und geflucht hätte. Dr. Böhler sah ihn von der Seite an und schwieg. Nur einmal sagte er zu Dr. Schultheiß mit einem leichten Kopfschütteln: »Wenn das gut geht. Wenn das bloß gut geht.«

Auch die Kasalinsskaja war verwandelt. War sie früher gefürchtet, so wurde sie jetzt gehaßt. Es war, als breche das Satanische in ihr nun erst richtig durch. Sie schrieb nur noch Gesundmeldungen und untersuchte die Kranken überhaupt nicht mehr. »Alle Deutschen sind gesund ... zu gesund!« sagte sie gehässig, als Dr. Schultheiß sich bei ihr beschwerte, weil sie einen Mann mit schwerer Furunkulose ins Bergwerk geschickt hatte. Und dann sah sie sich in den Außenlagern die verhungerten Gestalten an, ließ sie nackend an sich vorbeidefilieren und schrie hysterisch:

»Gesund! Gesund!«

Doch in jeder Nacht, die sie im Lager schlief - und sie wußte es einzurichten, daß es öfter und öfter geschah -, tobte sie in den Armen von Sellnow die Wildheit ihrer kaukasischen Heimat aus. Am Morgen war sie bleich, ihre Augen brannten, Haß auf die Nacht und auf die Deutschen ergriff sie wieder wie eine Woge, die alles in ihr wegspülte, und sie trieb die Plennis in die Gruben und Wälder, auf die Bauten und in die Steinbrüche und freute sich über die Flüche, die ihr entgegenbrandeten.

Janina Salja lebte nun eine Woche im Lager. Sie ging wenig aus, - meist lag sie auf einem Liegestuhl am offenen Fenster in der Sonne und schaute hinüber auf die grünen Wälder und die staubige Steppe, auf den Stacheldrahtzaun, die Wachttürme und die trocknenden Unterhosen, die Dr. Kresin siebenmal herunterriß und die achtmal wieder in dem leisen Wind wehten.

Major Worotilow hatte auf den Rat Dr. Kresins gehört. Er ließ Salja in Ruhe und besuchte sie nur am Tage, plauderte mit ihr im Zimmer oder ging mit ihr spazieren, ritt auch einmal mit ihr in die Wälder, wo die Haukolonnen der Außenlager sie bestaunten und sich wundersame Märchen von einer neuen Ärztin erzählten. Märchen, die von Lager zu Lager wanderten und ein großes Aufatmen zur Folge hatten, denn man hoffte, Dr. Kasalinsskaja nie mehr zu sehen.

Aber die Kasalinsskaja blieb. Sie zeigte ihre Macht über die verhaßten Deutschen, indem sie drei Simulanten auspeitschen ließ und dabeistand, wie Mongolen ihnen die Haut in Fetzen vom Rücken schlugen. Befriedigt kehrte sie ins Hauptlager zurück und vermied es, Sellnow zu begegnen.

Auch Dr. Schultheiß hielt sich bewußt zurück. Er hatte mit Janina nicht wieder gesprochen. Die Arbeit bei dem Oberfähnrich, dem Sorgenkind des Lazaretts, nahm ihn ganz in Anspruch. Sie war ihm willkommen, sie lenkte die Gedanken in andere Bahnen, und wenn er auch Janina täglich sah - einmal im Reitdreß, einmal in einem weißen, tief ausgeschnittenen Sommerkleid -, so zwang er sich, in ihr nur eine Patientin zu sehen.

Dr. Böhler hatte bei Major Worotilow dreihundert Rubel für Ba-schas neuen Schal abgeliefert. Worotilow hatte das Geld zuerst mißtrauisch angesehen, dann hatte er es durchgezählt, es zur Seite geschoben und Dr. Böhler einen Stuhl angeboten.

Erstaunt setzte er sich.

»Dreihundert Rubel, tatsächlich«, sagte Major Worotilow. »Ich bewundere die Deutschen. Sie machen aus Dreck Geld! Wo haben Sie es her?«

»Das Lager hat es gesammelt.«

»Auf den Lagergassen liegen keine Rubel, die man sammeln kann. Wo kommt das Geld her?« Worotilow blickte auf den kleinen Berg der Scheine und Münzen. »Es ist erstaunlich, was man aus Kriegsgefangenen, die vier Jahre hinter Stacheldraht sitzen, die hungern und im Winter wie die Fliegen frieren, herausholen kann! Es ist unbegreiflich!« Worotilow sah Doktor Böhler lange in die Augen. »Was muß man tun, um euch Deutsche unterzukriegen? Es geht nicht durch Hunger! Nicht durch Frieren! Nicht durch Schläge! Nicht durch harte Arbeit! Nicht durch Strafen!«

»Warum wollen Sie uns unterkriegen?« Dr. Böhler nahm eine der Zigaretten, die ihm Worotilow anbot. Gierig rauchte er den süßen türkischen Tabak.

»Aus Prinzip!« Worotilow sah nachdenklich auf die Rauchwolken. »Im Herzen bewundern wir euch. Der Deutsche war oft der geschichtliche Lehrmeister der Russen.«

»Wie kann ein bloßes Prinzip - von dem Sie sprechen - solche Grausamkeiten erzeugen?«

»Weil die Grausamkeit die einzige Stärke ist, die wir euch Deutschen voraushaben. Eure gefühlvolle Seele, eure schöne Seele - wie Schiller sagt - steht euch im Weg, aus den geistigen Qualitäten die großen weltpolitischen Entscheidungen zu kristallisieren! Ihr habt einen König Friedrich gehabt, den ihr den Großen nennt. Er eroberte Schlesien ... was habt ihr jetzt davon? Ihr habt einen Bismarck gehabt, was ist geblieben von seiner Politik und seinem Geist? Ihr hattet einen Stresemann, einen Adolf Hitler ... wo sind sie? Was ist geblieben?« Worotilow lächelte sarkastisch. »Außer unseren göttlichen Künstlern hatten wir Russen nur die Grausamkeit. Zar Iwan . man nennt ihn den Schrecklichen. Zar Peter ... er ließ die Hüte auf den Köpfen festnageln, wenn sie nicht schnell genug vor ihm gelüftet wurden. Katharina - Elisabeth - Potemkin. Zar Godunow ... Demetrius. Ein Gebirge von Grausamkeit und Blut, Schrecken und Elend, Vergewaltigung der Seele und Knechtung der Freiheit. Aber immer blieb, unberührt, stark über Jahrhunderte Mütterchen Rußland, der singende Schwan des Ostens, die Wiege der Unendlichkeit. Europa ist degeneriert. Es stirbt an seiner Überzüchtung der Intelligenz, es frißt sich selbst auf durch seine der Kontrolle entgleitende geistige Potenz. Rußland ist jung geblieben, es mußte jung bleiben, weil Grausamkeit und Strenge die Jahrhunderte verwischten. Und die Welt gehört den jungen Völkern!«

»Das wäre nach Ihrer Auffassung die moralische Rechtfertigung der Weltrevolution.«

»Sie ist es, Doktor.«

Dr. Böhler drückte seine Zigarette aus und stützte den langen, schmalen Kopf in die rechte Hand. Mit der linken spielte er mit einigen Rubelstücken. »Sie haben bei Ihrer Geschichtsrechnung einen Fehler gemacht, Major«, sagte er sinnend. »Der Westen mag überkultiviert sein, verwöhnt und damit verweichlicht - aber er schafft kraft seiner Intelligenz auch die Abwehrmittel gegen eure Revolution der Ordnung. Wir haben etwas, das alle seelischen und körperlichen Reserven weckt und auch den Verwöhntesten zum Dulder werden läßt: das Vaterland! Der letzte Krieg war ein Kampf der Ideologien. Sie lagen an der Front, Major, weil Stalin oder Hitler -wir wollen nicht darüber streiten, wer - besessen von einem Gedanken war, festgekrallt in das Lustgefühl, mächtig zu sein. Der Machtvollste der Erde. Cäsar scheiterte daran, Alexander, Philipp II., Napoleon. Auch ich lag im Dreck, Millionen verbluteten für diese Idee -es ging ja nicht um ein Vaterland, es ging erst dann darum, als die Gegner an unseren Grenzen standen und in das Land fluteten. Aber da waren wir bereits ausgeblutet, ein Körper, der nur im Wege lag, und dessen Beseitigung eine Kleinigkeit war. Auch Ihre Weltrevolution ist nur ein Krieg der Idee -, und Sie tragen diese Idee jetzt in Länder, die keine Idee mehr entgegenzustellen haben, sondern nur ihr Vaterland! Das Höchste, Major! Da wird der Sanfte eine Bestie, wenn es um seine Frau, um sein Kind geht. Und daran werden Sie zerbrechen; an den Herzen der Völker! Ihr Rußland wird nicht bedroht - aber Sie bedrohen die Welt!«

»Wir befreien die Arbeiterklasse vom Kapital!«

»Was wäre der Arbeiter ohne das Kapital?«

»Ein freier Mensch unter der Obhut des Staates!«

»Mit anderen Worten: die Rolle des sogenannten Kapitalisten übernimmt der Staat! Glauben Sie wirklich, daß es besser ist, ein Mensch arbeitet unter einem Gremium staatlicher Direktoren, die eine Arbeitsnorm den erforderlichen politischen Zielen anpassen, als wenn er unter einem Mann arbeitet, der zwar das Vielfache des kleinen Mannes verdient, aber unabhängig ist und ein Mensch unter Menschen.«

Major Worotilow erhob sich. Steif stand er hinter seinem Tisch. »Sie sind noch immer ein Nazi!« sagte er scharf.

»Nein, ich bin nur ein Mensch. Ein Mensch, den Sie in der Hand haben, den Sie töten dürfen, weil Sie die Macht dazu haben! Ihre russische Grausamkeit, die alle Ordnung sprengt, wie Sie eben sagten. Ihre Idee von der Stärke! Und weil ich ein Mensch bin, ehre und liebe ich den Menschen in jeder Gestalt, wenn er mir menschlich gegenübertritt. Ich achte ihn, wie ich selbst geachtet werden möchte. Aus der Achtung voreinander wächst der Rhythmus des Lebens.«

Major Worotilow schwieg. Er schien nachzudenken. Über sein breites Gesicht zog ein Schimmer der Enttäuschung und Verblüffung. Dann wandte er sich um und ging im Zimmer hin und her.

»Ich schenke Ihnen die dreihundert Rubel, Dr. Böhler«, sagte er stockend. »Sie können mit Dr. Kresin in der Staatsapotheke von Stalingrad Medikamente damit kaufen.« Er hob die Hand, als Dr. Böhler etwas einwenden wollte, und sprach schnell weiter. »Aber nur unter der Bedingung, Doktor: Sie gehen eine Woche in das Außenlager 12.«

»Wenn ich nicht irre, ist das das Holzfäller-Lager.«

»Ganz recht. Dort werden Sie acht Tage leben. Nur als Arzt. Sie haben volle Freiheit. Sie können im Lager bleiben, Sie können mit in das Schlaggebiet ziehen, wie Sie wollen. Nach acht Tagen sprechen wir weiter.«

Dr. Böhler erhob sich. In seinen Augen lag hilfloses Erstaunen. »Was versprechen Sie sich davon, Major?«

»Eine Wandlung, Doktor.« Ein Zug von Grausamkeit und Härte grub sich in sein Gesicht. »Ich will Ihnen zeigen, wie durch Grausamkeit aus Ihrer edlen Seele, aus Ihrem Stolz ein winselndes Tier wird, ein Hund, der nicht zu bellen wagt, eine Maus, die neben dem Speck verhungert.«

»Wir sind wehrlos, Major«, sagte Dr. Böhler dumpf.

»Der Russe ist es seit Jahrhunderten.«

Dr. Böhler senkte den Kopf. »Ich gehe, Major.«

Lager 12. Die Wälder von Werchnjaja Achtuba und Srjednje Po-gromnoje. Stämme, wie sie fünf Männer nicht umfassen können. Urwald am Rande der Stadt.

In Srjednje Pogromnoje heulen noch die Wölfe durch die Nacht. Im Winter liegen sie am Waldrand und starren auf die Hütten der Arbeiter, gierig mit flackernden Augen. Aus ihrem roten Rachen quillt in Wolken der Atem der Mordlust.

Wenige Hütten bilden das Lager 12. Blockhütten mit steinbe-schwerten Dächern.

Ein drei Meter hoher Drahtzaun. Zwei kleine Wachttürme. Eine Stromleitung führt einsam durch die Steppe und den Wald zur Hauptleitung des Lagers 5110/47.

Hier leben 184 Männer. Plennis.

34 Russen. Verlaust, unlustig, fluchend, hungernd wie die Deutschen. Ein Feldwebel befehligt sie. Meist ist er besoffen und liegt in der Sonne, erbricht sich und schreit nach Weibern. Man geht an ihm vorbei und sieht ihn gar nicht. Er gehört zum Lager wie die Latrine und die kleine Sanitätsstation, die einmal im Monat von der Kasalinsskaja aufgesucht und rücksichtslos geräumt wird. Das ist eigentlich der schwärzeste Tag im Lager 12. Sonst geht das Leben in trostloser Dumpfheit weiter, die keine andere Regung aufkommen läßt als Essen, Trinken, Schlafen und auf die Latrine gehen.

Am Tage hallen die Wälder wider von den Axthieben und dem splitternden Fallen der Riesen. Ab und zu ein Verletzter, den ein Ast streifte oder dem ein Axthieb ins Bein ging. Dann streicht der Sanitäter Jod darüber und zuckt die Schultern. Dawai! Dawai!

In den Wäldern herrscht das Recht des Stärkeren. Wer den Tag überlebt, ist glücklich - wer ihn nicht überlebt, stirbt . aber sein Tod wird erst nach vier oder fünf Tagen gemeldet ... solange empfangen seine Kameraden für den Toten die Essenration und teilen sie sich.

Auch der Tod hat hier seinen Sinn und erfüllt einen bestimmten Zweck. Er ernährt die Überlebenden.

Am Abend, wenn die Wölfe heulen und die Eulen in den hohen Tannen jammern, ist alles Leben im Lager erstorben. Die Wachtposten dösen auf den Türmen. Noch nie ist einer ausgebrochen. Wo sollte er auch hin? In die Wolga? Über die Wolga? Und dann? Rußland ist weit, Rußland ist unendlich für einen kleinen, schwachen, verhungerten Menschen. Die Größe Rußlands ist der beste Stachelzaun. An dieser Größe scheitert der Gefangene - nicht der Mensch, aber seine Seele, sein Mut, sein Verlangen nach der Freiheit, seine Sehnsucht nach der Heimat. Die Weite des Landes erdrückt das Herz.

Einmal in der Woche werden die Baumstämme abgeholt. Dann kommt die Fahrkolonne aus Stalingrad. Plennis auf hohen, schweren amerikanischen Raupenwagen, mächtigen Treckern und Drei-achslastern. Mit Winden und Menschenkraft werden die riesigen Stämme aufgeladen und rollen dann in die Sägewerke. Die Bauten von Stalingrad schreien nach Holz . Holz. Und auf den Bauten stehen die Plennis und schleppen die Steine und Bretter.

Das Abholen der Stämme ist die große Abwechslung im Lager 12. Dann werden Zigaretten getauscht, Zeitungen, Tabak, Schnaps ... die Kameraden in der Stadt kommen an vieles heran, sie können sich etwas in den Baukantinen kaufen oder mit den Zivilarbeitern tauschen. Sie sind reich in den Augen der armen Waldplennis vom Lager 12; reich, wie es selbst Major Worotilow nicht ist, der seinen Lohn erhält, seine billige Verpflegung und ab und zu eine scharfe Kontrolle des Oberkommandos.

Von Tag zu Tag wächst die Hoffnung: in vier Tagen ... in drei Tagen . in zwei Tagen . morgen . heute kommen die Wagen! Wie sieht es in Stalingrad aus? Was macht der dicke Peter von der 16. Baracke? Und der Emil ist krank? So? Furunkel? In der Betonfabrik gekriegt? Armes Schwein, der Emil. Und der Julius? Was? Der ist versetzt in ein Moskauer Lager? Und der Meier 17 auch? Sollen die etwa entlassen werden? Mein Gott - entlassen! Dieses Wort. Entlassen! Man könnte heulen, wenn man es hört. Aber nu gib schon die Pulle her. Was ist drin? Wodka mit Tee? Warum schüttest du Rindvieh zu dem Tee Wodka? Oder umgekehrt?! Saubande. Man säuft . man raucht . man lädt auf und rastet wieder. >Thema eins

Halt's Maul! sagt einer, sonst rumst's!

Alles Scheiße, sagt ein anderer und spuckt in die Hände. Die Arbeit geht weiter. Bäume aufladen. Der Kran wimmert, die Winde kreischt. Krachend fällt der Stamm auf den Sattelschlepper. Ihr Idioten, paßt auf.Bald hätte es mir den Fuß abgequetscht! Dusselige Bande!

Die Sonne brennt. Stinkender Schweiß rinnt. Arbeiten . arbeiten . dawai . dawai.

Die Posten dösen und grinsen. Weißrussen, Tataren, Kalmücken, Georgier.

In dieses Lager kam Dr. Böhler. Major Worotilow brachte ihn im Jeep hin. Als sie in die geschlagene Schneise einbogen und über die Stucken holperten, flog die Ankündigung ihres Kommens schon von Mund zu Mund dem Wagen voraus.

Der Alte. Und ein Plenni. Ein langer, schmaler.

Der Alte hat gute Laune, er lachte im Jeep.

Gute Laune? Verdammter Mist. Wenn der gute Laune hat, können wir wieder Gras fressen. Die Schwachen auf der Sanitätsstation zittern vor Angst. Sie werden die ersten sein, die er beißt. Man kennt das. Die Hilflosen sind die Zielscheiben.

Dr. Böhler sah nach links und rechts. Er schwieg erschüttert, als er in die Gesichter der Männer blickte, die aus den Einschlagstellen herüberschauten.

»Wieviel leben hier?« fragte er kurz vor dem Lager.

»Im Augenblick 184! Das heißt, 184 waren es nach der telefonischen Meldung gestern abend. Wieviel es jetzt noch sind, wird erst die Zählung ergeben.«

Major Worotilow warf seine Zigarette aus dem Wagen. Ein Plen-ni der an der Straße stand, sah sie liegen. Er blickte dem Wagen nach, bis er in das Lager einfuhr, dann stürzte er sich auf den Stummel und sog gierig daran. Sein Gesicht strahlte.

Der Feldwebel saß mit dickem Schädel in der Wachstube und war erschüttert, plötzlich seinen Major vor sich zu sehen. Er stand schwankend auf und versuchte, strammzustehen. Worotilow trat ihm schweigend ins Gesäß, daß er taumelte.

»Sehen Sie, Doktor«, sagte Major Worotilow. »Er ist schon wieder besoffen! Ich habe es ihm oft verboten . der Schnaps ist so bemessen, daß keiner sich betrinken kann, aber er bekommt immer welchen. Er tauscht ihn ein, er schmuggelt ihn in diese Wildnis, ich weiß nicht wie. Feststeht: Er ist wieder besoffen! Was soll man jetzt anderes tun als die Vorherrschaft der Grausamkeit walten lassen. Er wird es auch tun, wenn er wieder nüchtern ist, er wird noch grausamer sein als ich - und dann zu Ihren Landsleuten. Er wird Erfolg haben.« Worotilow wandte sich an den Feldwebel. »Sie kommen heute zu mir ins Hauptlager! Mit allem Gepäck!«

Der Betrunkene wurde hellwach. Er sprang auf, sein Gesicht war leichenfahl. Er schlotterte und machte Anstalten, dem Offizier vor die Füße zu fallen.

»Genosse Major.«, wimmerte er, »Gnade - Gnade!«

»Heute abend bei mir!« sagte Worotilow unerbittlich.

Der Feldwebel begann zu weinen. Er schlug die Hände vor sein breites, einfältiges, sibirisches Bauerngesicht. Er warf sich herum und greinte wie ein Kind.

»Meine Frau«, jammerte er. »Ich habe sechs Kinder! Und alte gebrechliche Eltern! Gnade, Genosse Major, Gnade.!«

Worotilow schlug ihm ins Gesicht und wandte sich zum Gehen. Hinter ihnen brach der Feldwebel über dem Tisch zusammen. Es war, als bisse er in das Holz, um nicht zu schreien.

»Was werden Sie mit ihm tun?« fragte Dr. Böhler stockend.

»Ich?« Worotilow lächelte mokant. »Nichts. Ich werde ihn lediglich dem Genossen Divisions-Kommissar melden. Der macht ihn kirre, daß er nicht mehr wimmern kann. Wie ein Molch wird er auf dem Bauch kriechen.« Worotilow sah sich um. Am Ausgangstor stand die Wache angetreten. Sie präsentierte.

»Sehen Sie - es hat sich herumgesprochen. Der Feldwebel ist abgeschrieben, das wissen die Kerle da! Jeder hofft jetzt auf Beförderung - und jeder wird grausamer sein als der andere, um befördert zu werden. Grausam gegen Ihre Landsleute, Doktor. Die Kapazität des Lagers 12 ist 190 Mann. Wir müssen es alle drei Monate fast um die Hälfte auffüllen.«

Er trat an seinen Jeep und nickte dem Arzt zu. »Leben Sie wohl«, sagte er ernst. »In acht Tagen komme ich wieder. Dann reden wir weiter über die Ideologie der Kraft. Man wird Ihnen als Arzt nichts tun. Sie können ebenfalls tun, was sie für gut erachten. Sie sollen vor allem beobachten. Und nun - adieu!«

Er trat auf den Starter, der Jeep heulte auf. Dr. Böhler legte eine Hand an die Windschutzscheibe.

»Ich habe noch eine Frage, Major, die mir schon lange am Herzen liegt.«

»Bitte, Doktor.«

»Woher können Sie das fabelhafte Deutsch?«

Worotilow lächelte genießerisch. »Von der Kriegsschule in Moskau, Doktor. Wir hatten dort deutsche Ausbilder.«

Erstarrt sah Dr. Böhler dem Wagen nach, bis er in einer Staubwolke auf der Waldstraße verschwand.

Um die Mittagszeit kam ein kleiner Trupp dreckiger Plennis ins Lager 12 zurück. Verschwitzt, beschmiert mit Harz. Blutend aus kleinen Rißwunden. Ein Soldat mit aufgepflanztem Bajonett führte sie an. Er ging daneben her und rauchte. Sein Gewehr war nicht einmal geladen. Von diesem Haufen Elend dachte keiner an Flucht.

Dr. Böhler hatte den Vormittag damit verbracht, das Lager eingehend zu inspizieren. Der Feldwebel leistete ihm dabei Gesellschaft und behandelte ihn wie den eigenen Major.

Die Baracken waren, wie in allen Lagern, sauber. Flöhe und Läuse rechnen nicht zum Schmutz, sie gelten als Haustiere. Auch die Latrine war in Ordnung, nur in der Krankenbaracke war das Primitive zur Gewohnheit geworden. Außer etwas Verbandstoff, einigen alten, immer wieder ausgewaschenen Mullbinden, ein paar Scheren und Pinzetten war nichts vorhanden. Der Sanitäter war nicht ausgebildet, die vier Kranken lagen auf verfaultem Stroh, zugedeckt mit zerschlissenen Baumwolldecken. Aus einem Abortkübel in der Ecke strömte unvorstellbarer Gestank in den Raum.

Dr. Böhler untersuchte die vier Soldaten gründlich. Auf seine Fragen antworteten sie übereinstimmend, daß sie vor Monaten zu Beginn ihrer Krankheit oft Schüttelfrost gehabt hätten. Und im Anschluß daran Fieber. Böhler fragte gar nicht erst nach der Höhe der damaligen Temperaturen. Er wußte, daß kein Thermometer vorhanden war. Er fragte auch nicht nach der Zahl der Pulsschläge bei den Anfällen. Er war sicher, daß der Sanitäter sie nicht gezählt hatte.

Eingehend tastete er die Leber- und Milzgegend der Kranken ab und fand bei allen vieren beide Organe vergrößert.

»Sind hier in der Umgebung Sümpfe?« fragte er den Sanitäter.

»Ja, sechs Kilometer von hier liegt ein breiter Streifen Sumpfland mitten im Wald.«

»Und wird dort gearbeitet?«

»Überall«, nickte der Mann, »unsere Männer fürchten das Gebiet.«

Dr. Böhler schüttelte traurig den Kopf. Diese Kranken mit den abgezehrten, welken Gesichtern, den tiefen Augenhöhlen, den bleichen Lippen hatten zweifellos Malaria. In ihren Organen hatten Millionen und aber Millionen von Malariaerregern überwintert, um alsbald wieder auszubrechen, wenn es heiß wurde.

»Hat Dr. Kasalinsskaja die Kranken untersucht?« Böhler fragte, obwohl er die Antwort im voraus wußte.

Der Sanitäter verzog den Mund. »Das Aas«, sagte er bitter. »Sie hat die Kerls für morgen gesund geschrieben. Tbc-Verdacht ist keine Krankheit, sagte sie.«

»Das ist doch nicht möglich!« rief Böhler entsetzt.

»Hier ist alles möglich! Ich habe sie auf eigene Gefahr in der Baracke behalten. Wenn die Kasalinsskaja kommt, müssen sie sofort hier verschwinden und sich verstecken.«

Dr. Böhler verließ die Krankenbaracke und stand blinzelnd in der grellen Sonne, die auf das Lager prallte. Was konnte er machen?

Der Feldwebel trat hinter ihn. »Was du tun?« fragte er gebrochen.

»Ich bleibe hier. Und länger als acht Tage.«

Der Russe verstand ihn nicht, aber er nickte. Der Plenni war ja ein Freund des Genossen Major. Die Welt stand schief. Der Deutsche ist ein Freund des Kommandanten, und der Feldwebel ist ein Bündel, das man in die Ecke wirft und ausstäubt. In das flache, sibirische Gehirn schlich die uralte Scheu des Sklaven, die Unterwürfigkeit des getretenen Bauern der Taiga. Der Feldwebel wurde ein dienernder Schatten Dr. Böhlers.

Der kleine Trupp der Essenholer stellte sich wieder am Lagertor auf. In ihren Augen lag verblüfftes Erstaunen, als sie Dr. Böhler auf sich zutreten sahen. Er nickte ihnen zu und musterte sie. Ihre gelbbraunen Gesichter waren wie Pergament, das zu lange in der Sonne getrocknet hat.

»Wo kommst 'n du her?« fragte einer aus der Gruppe. »Haste noch keine Arbeit?«

»Noch nicht.«

»Der Alte, der Major, hat dich gebracht, was? Mußt 'n feiner Pinkel sein! Uns ham sie in 'n Hintern getreten und wie 'ne Herde Säue hierhergetrieben. Bist wohl 'n politischer Redner, was? So 'n Kommissar aus der Seydlitz-Gruppe aus Moskau? Gib dir man keine Mühe. Ihr habt gutes Fressen für eure dreckige Politik . wir müssen schuften.«

Der Soldat spuckte aus und wandte sich ab. Da die anderen schwiegen, sprach er die Meinung aller aus. In ihren eingesunkenen Augen brannte ein hektisches Feuer. Sie sahen durch Dr. Böhler hindurch und trotteten wie Hammel los, als das Tor geöffnet wurde und der Soldat dem ersten Mann einen Rippenstoß gab.

Wirklich wie eine Tierherde. Dr. Böhler drehte sich um und ging zu den Baracken zurück, um die vier Kranken noch einmal anzusehen. Der Sanitäter zuckte mit den Schultern, als er gefragt wurde: »Haben Sie wenigstens eine Injektionsspritze hier?«

»Ja. Aber was für eine!« Er holte die Spritze aus einem Wandschrank und gab sie Dr. Böhler. Sie war total verschmutzt.

»Das ist eine Sauerei!« sagte Dr. Böhler laut.

»Stimmt!«

»Von Ihnen eine Sauerei! Wenn Sie Sanitäter sein wollen, haben Sie für den Zustand der Geräte als erstes Sorge zu tragen! Wenn das bei mir im Lagerlazarett vorkäme, würde ich Sie sofort ablösen lassen.«

»Das hab' ich mir gedacht!« Der Sanitäter sah den Arzt wütend an. »Da kommt so einer plötzlich her und fängt an, wild zu werden! Jahrelang hat sich keiner um uns gekümmert ... und auf einmal haben sie alle die große Fresse!« Er setzte sich auf einen Stuhl in die Ecke und steckte sich eine Zigarette an. »Machen Sie doch Ihren Dreck allein!«

Dr. Böhler stand einen Augenblick wie erstarrt. Dann erinnerte er sich, was Major Worotilow vom Erfolg der Gewalt gesagt hatte. Er trat einen Schritt vor und schrie den Sanitäter an - seit drei Jahren schrie er wieder und kam sich dabei lächerlich und maßlos vor.

»Stehen Sie auf!« brüllte er. »Sie kochen sofort die Spritze aus!«

Der Sanitäter sah ihn durch den Rauch seiner Zigarette an und kniff die Augen zu einem Schlitz zusammen. »Du kannst mich am Arsch lecken«, sagte er und drehte ihm den Rücken zu.

»Ich bin Ihr Stabsarzt!« sagte Dr. Böhler drohend.

»Dafür darfst du es sogar zweimal.«

»Ich werde dafür sorgen, daß Sie sofort abgelöst werden!«

»Von mir aus!« Der Plenni zuckte mit den Schultern. »Ob schnell oder langsam krepiert - krepiert wird doch im Lager 12!«

Innerlich bebend vor Wut und Scham vor sich selbst, verließ Dr. Böhler die Baracke.

Über die Waldgasse, staubend und laut ratternd, kam ein Jeep. Der Posten riß das Drahttor auf und grüßte. Mit weitem Schwung fuhr der Wagen auf den Lagerplatz.

Eine Gestalt in erdbrauner Uniform mit hohen, schwarzen Juchtenstiefeln sprang elastisch vom Sitz. Über die Uniform wallten lange, schwarze Locken.

Dr. Alexandra Kasalinsskaja sah sich schnell um. Als sie Dr. Böh-ler vor der Sanitätsbaracke gewahrte, lief sie auf ihn zu und blieb knapp vor ihm stehen. Ihr Atem flog. Ihr wilder Körper bebte.

»Also doch!« schrie sie. »Also doch! Worotilow hat mich nicht belogen! Sie sind hier!«

»Wie Sie sehen, ja.«

»Was wollen Sie hier?«

»Mich umsehen. Und mich vor allem überzeugen, daß eine Dr. Kasalinsskaja ihren Doktortitel zu Unrecht trägt!«

»Ich lasse Sie umbringen«, sagte Alexandra mit unheimlicher Ruhe.

»Bei den deutschen Gefangenen tun Sie es ja laufend.« Doktor Böhler spürte, wie ihn seine Beherrschung verließ, aber er konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er sah der Kasalinsskaja in die gefürchteten Augen und spürte eine innere Befreiung, als er sich sagen hörte: »Was ich hier gesehen habe, hat mit Völkerrecht nichts mehr zu tun!«

»Reden Sie nicht vom Recht!«

»Auch der Gefangene ist ein Mensch! Auch er hat Recht! Das primitive Recht auf Krankenpflege. Ich werde die Zustände melden.«

»Tun Sie es!« Dr. Kasalinsskaja lächelte, aber ihr Lächeln war eine Drohung. »Ich habe mich an die Richtlinien gehalten, die ich aus Moskau bekomme. Wenig Krankschreibungen, scharfe Maßstäbe.«

»Und daß die vier Männer in der Sanitätsbaracke Malaria haben, das haben Sie nicht gesehen? Das haben Sie noch nie gesehen, was? Das kennen Sie gar nicht - das hat man Sie gar nicht gelehrt, oder Sie haben bei der Vorlesung gefehlt, was?«

Die Kasalinsskaja wurde rot. Ihre Augen verengten sich, ihre Lippen wurden weiß vor Erregung.

»Gehen Sie zum Hauptlager zurück. Ich rate es Ihnen. Was ich hier tue, verantworte ich.«

»Vor wem? Vor Gott etwa?«

»Gott?« Die Kasalinsskaja lachte schrill. »Belästigen Sie doch den armen, alten Mann nicht. Er hat Arbeit genug, all die Gebete zu verdauen.«

Dr. Böhlers Trotz wurde Härte. Er ballte die Fäuste.

»Ich bleibe!«

»Wie Sie wollen.« Die Kasalinsskaja betrachtete ihn spöttisch. »Dann werde ich Ihr Hauptlazarett im Lager auflösen lassen.«

Dr. Böhler erbleichte. »Hören Sie, Dr. Kasalinsskaja.«

»Ich werde dieses Hurennest ausräumen!« schrie sie plötzlich unbeherrscht. Ihre Wildheit überwältigte sie. Sie tobte und war nicht mehr Herr über sich. »Alles, alles wird vernichtet werden!«

Dr. Böhler ergriff ihren Arm und drückte ihn fest an sich. Schmerzhaft verzog sich ihr Gesicht, sie wollte sich losreißen, aber er hielt sie eisern fest. »Das nehmen Sie zurück«, sagte er laut. »Ich lasse mein Lazarett nicht beleidigen . auch nicht von einer russischen Ärztin.«

Alexandra sah ihn spöttisch an. »Ich nehme nichts zurück. Wenn Sie mich anzeigen wegen der Zustände im Lager 12, zeige ich Sie an, daß in Ihrem Lazarett gehurt wird.«

»Wer?« schrie Dr. Böhler. »Wer, will ich wissen.«

»Ihr Oberarzt.«

»Sellnow?«

»Ja! Ja!« Sie lachte wild und hysterisch. »Mit mir! Seit über einer Woche! Fast jede Nacht! Er ist ein Schwein und hat die Kraft eines Urtiers. Wenn er mich anfaßt und nimmt, könnte ich die Welt zerreißen. Wenn der Tag kommt, nehme ich mir meine Rache. Dann müssen alle büßen . hier im Lager 12, im Lager 14, 16 und 19. Jeder Kuß eine Gesundmeldung, jeder Seufzer in der Nacht ein freies Bett im Sanitätsrevier.«

Dr. Böhler ließ sie los, seine Arme fielen schlaff am Körper herab. Mein Lazarett . seit über einer Woche. Sellnow. Es ist furchtbar. Wenn es Worotilow erfährt, Dr. Kresin, die Division in Stalingrad oder Moskau. Er schloß die Augen vor dem Entsetzen der nicht auszudenkenden Folgen und spürte nicht, wie die Kasalinsskaja ihn anstieß. Erst als sie ihm gegen das Schienbein trat, öffnete er die Augen.

»Erledigt?« fragte sie. »Genügt das? Sie sehen so bleich aus, mein Bester.«

Worotilow, dachte Dr. Böhler. Unsere Stärke ist die Grausamkeit, die Mißachtung des einzelnen für das Ziel des großen Interesses. Da schüttelte er den Kopf.

»Zeigen Sie es an, Dr. Kasalinsskaja«, sagte er. »Sie werden mit vernichtet werden! Sie dulden ja die Besuche von Sellnow.«

»Er hat mich vergewaltigt. Einfach gezwungen.«

»Jede Nacht?«

Alexandra lachte schrill. »Jede Nacht lasse ich mich bezwingen! Ich hasse den Morgen, wo es nicht geschah. Aber beweisen Sie es, Dr. Böhler! Ich werde sagen: Er zwingt mich mit brutaler Gewalt!« Dr. Kasalinsskaja scharrte mit den Spitzen ihrer hohen Juchtenstiefel in dem Staub des Lagerbodens. »Und man wird einer russischen Ärztin und alten Kommunistin bestimmt viel mehr glauben als 10.000 schmutzigen und verlausten deutschen Plennis zusammen.«

»Da haben Sie recht.« Dr. Böhler wollte sich abwenden, aber Alexandra hielt ihn zurück.

»Sie gehen zurück?«

»Im Gegenteil, ich bleibe.«

»Sie wollen den Märtyrer spielen!« schrie die Kasalinsskaja wild.

»Nein - ich will nur ein Arzt sein - falls Sie verstehen, was das ist.«

Mit einem Fluch drehte sich die Ärztin herum und stapfte in die Waschbaracke neben dem großen Tor. Dort traf sie auf den Feldwebel, der in der Sonne saß und sich lauste.

»Mein Täubchen«, sagte er zu ihr. »Geh hinein zu Iljitsch Stefa-now. Der Saukerl von Mongole hat bestimmt einen Tripper . er wimmert immer, wenn er pissen muß.«

Alexandra Kasalinsskaja schlug ihm mit der flachen Hand in das sibirische Bauerngesicht. Es klatschte laut - aber keiner achtete darauf.

Und der Feldwebel grinste. Lieber sie als der Major.

Mein Gott, Mütterchen Rußland ist ein rauhes Mütterchen. Aber es hat Herz.

Sein breites Gesicht verklärte sich, als er in einer Falte seiner schmut-zigen Unterhose eine vollgesogene, dicke Laus entdeckte, die er zwischen den Daumennägeln zerquetschte.

In der Sanitätsbaracke kochte der Sanitäter die Spritze aus. Das Erscheinen der Kasalinsskaja hatte einen höllischen Schock bei ihm bewirkt. Er kroch durch die Zimmer und ging Dr. Böhler aus dem Weg, der bei den Kranken saß und sie beruhigte.

»Ihr bleibt liegen«, sagte er. »Ihr steht nicht auf und versteckt euch! Ihr seid krank, kränker, als ihr denkt. Ihr werdet in das Hauptlazarett kommen .in den nächsten Tagen.«

»Das Weib wird uns mit der Peitsche aus dem Bett treiben«, sagte einer aus der Ecke des Raumes. »Sie hat es schon einmal getan.« Ein Zittern ließ seine Stimme beben. »Und als Strafe wegen Simu-lierens täglich 100 Gramm Brot weniger.«

Die berühmten 100 Gramm, dachte Dr. Böhler. Baschas Schal, mit dem wir den Oberfähnrich nähten, kostete 700 Gramm Brot und 300 Rubel. Und wieder fiel ihm Major Worotilow ein. Nur die Gewalt bezwingt den Menschen.

Die Tür wurde aufgerissen. Die biegsame Gestalt der Kasalinss-kaja stand auf der Schwelle. Das hereinflutende Sonnenlicht umspielte ihre Locken und die schlanken, langen Beine in den Juchtenstiefeln. Sie waren staubig, wie mit Mehl überzogen. In der Hand hielt sie eine Reitgerte.

»Wer ist hier krank?« schrie sie in den Raum.

Der Sanitäter rannte aus einer Ecke herbei und baute sich vor ihr auf. Er knallte die Hacken zusammen und grüßte wie auf dem Kasernenhof.

»Vier Mann erkrankt.«

»Was fehlt ihnen?«

»Dystrophie, Gelbsucht und Tbc-Verdacht!«

»Das sind keine Krankheiten! Alles 'raus aus den Betten!« brüllte die Kasalinsskaja. »Sofort vor der Baracke antreten! Ich warte keine Minute.«

Sie warf die Tür wieder hinter sich zu. Man hörte ihren Schritt über den Platz knirschen. Dr. Böhler, der noch immer an einem der

Betten saß, winkte den Soldaten zu, die sich erheben wollten, und sprang selbst auf.

»Liegenbleiben! Ich gehe für euch hinaus. Ihr seid krank!«

Er ging durch den Raum, vorbei an dem vor Angst bebenden Sanitäter, und riß die Tür auf. Auf dem Platz, zehn Schritte von der Baracke entfernt, stand Dr. Kasalinsskaja, eine Uhr in der Hand. Ihre Lippen zählten lautlos die Sekunden. Nach einer Minute würde sie mit der Peitsche kommen.

Dr. Böhler ging auf sie zu und blieb drei Schritte vor ihr stehen. Er knallte wie der Sanitäter die Hacken zusammen und hob die Hand zum Gruß.

»Vier Kranke zur Stelle.«

Die Kasalinsskaja sah auf. Sie steckte die Uhr weg, sah sich um.

»Hier! Als ihr Arzt vertrete ich sie. Ich habe Bettruhe angeordnet.«

Alexandra senkte den Blick. Sie drehte sich um und ging über den Platz davon. An der Waschbaracke heulte kurz darauf ein Motor auf, der Jeep schwenkte durch das große Tor und raste in einer Staubwolke durch die Waldschneise davon.

In der Tür der Sanitätsbaracke stand der Sanitäter. Er sah dem Wagen nach und starrte dann auf Dr. Böhler, der zurückkam.

»Sie ist weg«, stotterte er. »Sie ist wirklich weg.« Und plötzlich riß er die Hacken zusammen und stand da wie ein Bild aus der Dienstvorschrift für die Infanterie. »Die Spritze ist ausgekocht, Herr Stabsarzt«, rief er begeistert. »Darf ich Herrn Stabsarzt weiter behilflich sein.«

Nach vier Tagen kam Major Worotilow zu einem kurzen Besuch ins Lager 12.

Er traf Dr. Böhler an, wie er Atebrin injizierte.

»Atebrin?« Worotilow sah erstaunt auf die aufgebrochene Ampulle, die neben dem Bett lag. »Wo haben Sie das denn her?«

»Lag zufällig hier herum, amerikanisches Fabrikat. Übrigens ahnte ich, was ich hier antreffen würde. Aber was ich bis jetzt gesehen habe, übertrifft meine Vermutungen. Die Lage der Gefangenen ist kaum noch menschenwürdig zu nennen.«

Major Worotilow setzte sich auf den Bettrand und betrachtete das eingefallene Gesicht des Kranken, der die Injektion erhielt.

»Warum bist du hier?« fragte er barsch.

»Ich habe gestohlen, Major.«

»Was denn?«

»200 Gramm Brot, Major. Aber ich hatte Hunger.«

»Das haben die anderen auch!« Worotilow blickte zu Dr. Böhler hin, der die Spritze weglegte. »Haben Sie sich schon einmal die Mühe gemacht, zu fragen, warum diese Kerle im Lager 12 sind?«

Dr. Böhler schüttelte den Kopf. »Nein. Warum sollte ich? Und selbst wenn es Raubmörder wären - was sie hier abzubüßen haben, ist eine grausame Strafe für jedes Verbrechen.«

Worotilow lächelte mokant. »Sie haben schwache Nerven, Herr Doktor. Es gibt Schlimmeres. Kasymsskoje.«

»Ich hörte davon, Major. Es ist eine Schande für Rußland.«

»Und die Welt schweigt, weil wir stark sind.«

»Sie schweigt nicht, sie wird euch anklagen.«

»Auf dem Papier. Das hängen wir auf die Latrine der Tataren! Und Kasymsskoje besteht weiter. Wer will uns daran hindern? Amerika? England? Das angstzitternde Frankreich? Lieber Doktor - der Westen ist faul wie eine Birne, die zu lange liegt. Wir lassen es auf einen dritten Weltkrieg ankommen, auch gegen amerikanische Waffen! Der Westen läuft sich tot in der Weite Rußlands. Das Land saugt die Menschen auf wie der Sandboden das Wasser. Und Rußland wird weiterleben, denn Rußland wird einmal der Mittelpunkt der Welt sein. Der Traum Peters des Großen!«

»Fangen Sie schon wieder an?« Dr. Böhler erhob sich und deckte den Kranken zu. Er ging in einen Nebenraum, wusch sich dort in einer Blechschüssel die Hände und ließ sie trocknen, indem er sie durch die warme Luft schwenkte. »Sie haben mich noch nicht so weich, um Ihnen recht zu geben.« »Es fehlen ja auch noch vier Tage«, lächelte Worotilow.

»Es könnten 400 sein.« Dr. Böhler fuhr sich mit den feuchten Händen über die spärlichen Haare. »Ich gäbe Ihnen niemals recht.«

»Aus Prinzip?«

»Ja.«

»Sie sind nicht objektiv.«

»Sind Sie es, Major?« lächelte Dr. Böhler.

Worotilow schob die Unterlippe vor und krauste die Stirn. Sein dickes, fleischiges Gesicht mit den klugen Augen wirkte einen Augenblick verblüfft. Dann wandte er sich zum Gehen. Dr. Böhler ging neben ihm.

»Im Lager geht alles gut. Dr. von Sellnow führt das Lazarett, Dr. Kresin hilft ihm. Ihr junger Unterarzt behandelt weiter Janina.«

Dr. Böhler sah auf den staubigen Boden. Janina Salja und Dr. Schultheiß. Gebe Gott, das sich Schultheiß anders benimmt als Sell-now. Es wäre furchtbar, wenn Major Worotilow aus einem Traum erwachte. Es wäre das grauenhafte Ende des ganzen Lagers.

»Und die Kasalinsskaja?« fragte Dr. Böhler vorsichtig.

»Sie ist ziemlich zahm. Aber täglich hat sie Streit mit dem Oberarzt. Gestern hat sie ihm einen Stuhl aus dem Fenster nachgeworfen und einen unschuldigen Soldaten getroffen. Ihr Oberarzt hat ihr geantwortet, indem er den Geworfenen dick verband und schiente und ihr ins Zimmer schickte zwecks Krankschreibung.«

»Und was tat sie?«

»Sie schrieb den Unverletzten tatsächlich krank! Für eine Woche! Als Sellnow den Bescheid erhielt, nahm er Verband und Schiene weg und ließ den Mann laufen.«

Worotilow lachte schallend, aber Dr. Böhler wurde ernst. Er treibt es auf die Spitze, dieser Sellnow. Einmal wird es zu einer Katastrophe kommen. Auch die Liebe der Kasalinsskaja wird einmal zerbrechen, wenn sie täglich getreten wird und widertritt. An dieser Haßliebe können wir alle zugrunde gehen.

»Ist es möglich, Sellnow in ein anderes Lager versetzen zu lassen?« fragte er.

»Warum das?!« Worotilow blieb stehen. Sein Staunen war echt. »Ist etwas mit ihm?«

»Rein privater Natur. Er müßte dringend eine Luftveränderung haben! Wenn es nur für ein halbes Jahr ist.«

»Versetzungen in andere Lagergruppen erfolgen nur von Moskau aus. Wenn ich Moskau aber darum bitte, müssen schwerwiegende Gründe vorliegen.«

Dr. Böhler sah sinnend über die in der Sonne flimmernden Wälder. Ein Raupenschlepper rollte durch die Schneise. Er zog einige dicke Stämme zu einem Sammelplatz. Irgendwo sangen ein paar dünne Stimmen.

»Können Sie sich sagen, daß unser Lazarett über Soll mit Ärzten versehen und Dr. von Sellnow für eine Zeit abkömmlich ist?«

»Aber das stimmt doch gar nicht!«

»Natürlich nicht. Aber ich hätte ihn gern einige Zeit von Lager 5110/47 entfernt.«

Major Worotilow schüttelte den Kopf. »Hatten Sie eine Auseinandersetzung mit Sellnow?«

»Nein. Durchaus nicht. Wir verstehen uns gut. Rein private Gründe zwingen mich aber leider dazu, den Oberarzt - sagen wir - zu isolieren. Er hat in der letzten Zeit etwas die Nerven verloren und ist dabei, sie völlig zu verlieren - und seinen Kopf dazu.«

»Das verstehe ich nicht, Doktor.«

Dr. Böhler nickte gedankenvoll. »Ich verstand es erst auch nicht. Aber nachher war das Verstehen um so bitterer für mich. Ich achte Sellnow als guten Arzt und vorbildlichen Kameraden. Aber« -Dr. Böhler lächelte Worotilow ein wenig gequält an - »Ihr Rußland war auch bei ihm stärker!«

»So?« Worotilow drang nicht weiter in Dr. Böhler. Rußland war stärker, grübelte er, als er neben dem Arzt zu seinem Wagen ging. Was kann er damit meinen? Ich werde Sellnow selber fragen. Über die Schneise kamen vier Männer. In einer Zeltplane trugen sie einen Verwundeten. Worotilow wies mit dem Kinn zu ihnen hin.

»Ihr Geschäft blüht, Doktor.«

»Und ich habe kaum Verbände, keine Wundsalbe, keinen Äther, kein Karbol, kein Pflaster, ich habe hier überhaupt nichts.«

»Für die Ausstattung der Außenlager ist Dr. Kasalinsskaja zuständig.« Worotilow nickte. »Ich werde es ihr sagen.«

»Sagen Sie ihr, bitte, daß ich bis morgen mittag eine behelfsmäßige Verband-Ausrüstung brauche, einige Reagenzgläser, drei Injektionsspritzen und vor allem Narkotika!« Dr. Böhler sah Worotilow an. In seinen Augen lag die Dringlichkeit seiner Bitte. »Wenn Dr. Kasalinsskaja diese Sachen nicht schickt, ist es - sagen Sie ihr das, bitte -, ist es glatter Mord an diesen Menschen hier!«

»Ich will es versuchen.« Worotilow hob ein Bein in den Jeep. »Ich bin eigentlich viel zu höflich zu Ihnen«, bemerkte er ernst. »Warum, weiß ich nicht. Sie sind ein Gefangener, ein Deutscher, mein Feind! Ich sollte sie behandeln wie ein Stück Dreck. Statt dessen behandle ich Sie wie einen Kameraden. Vielleicht wird man mir das einmal höheren Orts übelnehmen.«

»Dann wären ja auch Sie ein Opfer der Grausamkeit, die Sie anbeten«, lächelte Böhler.

»Allerdings.« Worotilow stieg auf den Sitz des Jeeps, den ein kleiner Mongole fuhr. Der Asiate grinste Dr. Böhler breit an. »Es ist verflucht schwer zu vergessen, daß man ein Mensch mit Gefühlen ist.«

Der Motor brummte. Worotilow schob die Schirmmütze tiefer ins Gesicht. Er sah aus wie eine schmollende Bulldogge. Dr. Böhler hatte die Hand auf dem Rahmen der heruntergeklappten Windschutzscheibe liegen.

»Der Feldwebel ist noch immer da. Er wartet auf seinen Abtransport. Seine Sachen stehen seit vier Tagen gepackt. Er wagt nicht mehr, sich zu rühren.« Böhler sah zurück zur Waschbaracke. »Wann holen Sie ihn ab?«

Worotilow blickte Dr. Böhler böse an. »Hol der Teufel euch Deutsche«, sagte er knurrend. Dann stieß er den Mongolen in die Seite, und der Jeep fuhr in einer Staubwolke davon.

Dem Verwundeten, den die vier Männer in der Zeltplane heranschleppten, war eine Säge in den Fuß gefahren. Zwischen der zweiten und dritten Zehe war der Fuß sieben Zentimeter tief in zwei Hälften gespalten. Der Verletzte wimmerte und schlug den Kopf vor Schmerz von einer Seite zur anderen. Die Beine lagen in einer Blutlache.

Dr. Böhler biß die Lippen aufeinander. Seine vollkommene Ohnmacht kam ihm in diesen Sekunden so stark zum Bewußtsein, daß er sich vor Gott schämte, ein Mensch zu sein.

Kein Narkosemittel . kein chirurgisches Instrument.

Der Sanitäter an der Barackentür rannte voraus und legte auf den >Operationstisch< einen gewaschenen Sack als Unterlage.

Dr. Böhler mußte an das Taschenmesser denken und schloß einen Augenblick die Augen. Wie sollte er diese schreckliche Wunde versorgen?

»Haben wir Gips?« fragte er leise.

»Jawohl, Herr Stabsarzt«, der Sani war bleich, »aber keine fertigen Gipsbinden.«

»Können Sie mit Mullbinden Gipsbinden herstellen?«

»Ja«, antwortete der Mann, »das kann ich.« Er war stolz.

»Also, dann los, Mann, was stehen Sie noch hier. Streuen Sie ein Dutzend Binden ein und machen Sie viel heißes Wasser, aber schnell, schnell.«

Der Sanitäter rannte eifrig davon.

Die vier Träger sahen den fremden Plenni vor sich erstaunt an. Sie legten die Zeltplane mit dem jammernden Verwundeten auf ein leeres Bett und wischten sich den Schweiß aus den staubigen Gesichtern. Wo sie sich mit dem Handrücken trockneten, hinterließ der Schweiß große Flecken auf der schmutzverkrusteten Haut.

»Wer bist du denn?« fragten sie. »Ein Arzt?«

»Ja.« Dr. Böhler untersuchte den zerfetzten Fuß. »Ich heiße Dr. Böhler.«

Die vier schauten sich verblüfft an. »Wir kommen aus dem Lager 16, hinter dem Wald. Bei den Sümpfen. Ein Dreckloch, Herr Doktor. Wir hörten schon, daß hier ein Arzt sein soll und haben den Karl hergeschleppt. Drüben bei uns geht er ja doch ein. Wir wollten's gar nicht glauben, daß hier ein Arzt ist, und haben uns gesagt: Bringen wir den Karl nach 12. Ist's wahr, hat er Glück, ist's nicht wahr, geht er in 12 genauso vor die Hunde wie in 16!« Der Sprecher, ein langer, dürrer Kerl, dessen dicker Adamsapfel beim Sprechen immer auf und nieder hüpfte, sah Dr. Böhler aus glänzenden Augen an. »Und nun ist's doch wahr.«

»Der Karl hat viel Blut verloren, Jungs«, sagte Böhler zu ihnen. »Und er kann Starrkrampf bekommen. Ich habe nichts hier als ein bißchen Verbandzeug und meine Hände.«

Die vier schauten sich betreten an. »Man sollte wirklich Schluß machen«, sagte der Lange dumpf. »Einem Russen in den Hintern treten und sich dann erschießen lassen. Dann ist alles vorbei.«

»Darauf warten sie doch bloß, du Idiot«, fiel ihm ein anderer ins Wort. »Beiß die Zähne zusammen, und schau nicht hin.«

Der Sanitäter kam in den Raum. Er hatte die Gipsbinden und Verbandzeug in der Hand. Einer der Malariakranken trug eine Blechschüssel mit kochendheißem Wasser hinterher.

Dr. Böhler nahm sich die Männer beiseite, die den Verwundeten gebracht hatten.

»Es wird schlimm werden«, flüsterte er ihnen zu, »ich habe nichts, um ihn zu narkotisieren. Ihr müßt ihn ganz fest halten. Es wird wahnsinnig weh tun, aber er stirbt fast sicher an einer Infektion, wenn ich die Wunde nicht reinige. So, jetzt haltet ihn.«

Die Männer traten neben den Tisch und legten die Hände an den Verletzten. Noch packten sie nicht fest zu, denn der Kranke war ganz seinem Schmerz hingegeben und kümmerte sich nicht um sie.

Dr. Böhler trat heran und wies den Sanitäter an, wie er den Fuß zu halten habe. Der Kranke schrie wild auf, als der Arzt den Fuß mit heißem Wasser zu waschen begann. Er versuchte, um sich zu schlagen, und die Männer packten zu. Sie mußten alle Kraft anwenden, um ihn zu bändigen.

Böhler arbeitete blitzschnell. Mit einem Schnitt des Messers amputierte er eine Zehe, die an der Wurzel schon zum größten Teil abgerissen war. In Windeseile schnitt er die Hautfetzen an den Wundrändern ab - aber es ging immer noch zu langsam. Der Verletzte brüllte auf vor Schmerz und versuchte, den Händen seiner Peiniger zu entkommen.

»Laßt mich in Ruhe, ihr Schweine«, schrie er, und »mein Gott, das ist nicht auszuhalten!«

Die Männer, die ihn hielten, zitterten. Nahm das denn nie ein Ende.

Böhler preßte den Fuß mit einer Hand zusammen und wickelte mit der anderen in Sekunden den Verband darum. Der Sanitäter half, so gut er konnte, was wie eine Stunde schien, hatte knapp zwei Minuten gedauert.

Dr. Böhler legte dem Verwundeten die Hand auf die Stirn.

»Es ist alles vorbei«, sagte er tröstend, »und bald tut's auch nicht mehr weh. Aber ich mußte es tun, nicht wahr, das verstehst du doch?«

Dem Verwundeten standen große Tränen in den Augen. Wortlos griff er nach der Hand des Arztes und drückte sie.

Zum Abschluß tauchte Böhler die Gipsbinden in kaltes Wasser und umwickelte damit den verletzten Fuß. Zuletzt lag dieser völlig in einem Gipsverband.

»Da müssen wir nachher, wenn der Gips hart geworden ist, oben und unten ein Fenster hineinschneiden, damit die Wunde freiliegt. Vielleicht treiben wir irgendwo etwas Scherenartiges auf. Wenn nicht, muß es mit dem Messer gehen.«

»Jawohl, Herr Stabsarzt«, sagte der Sanitäter, und in seinen Augen lagen Respekt und uneingeschränkte Bewunderung.

Im Hauptlazarett focht unterdessen Dr. von Sellnow einen Kampf gegen den politischen Kommissar Wadislav Kuwakino und Leutnant Piotr Markow aus. Es ging um den noch immer im Lazarett liegenden Hans Sauerbrunn, den Kuwalkino jetzt abholen wollte, um ihn nach Moskau zu schleifen.

Sellnow hätte diesen Kampf nie gewonnen und nie zu führen ge-wagt, wenn er nicht die plötzliche, erstaunliche Unterstützung der Kasalinsskaja bekommen hätte. Sie sagte >njet< zu Kommissar Ku-wakino und schrieb den Gefreiten Sauerbrunn nicht transportfähig.

»Ein kleiner Schlag nur!« schrie Kuwakino. »Wie kann eine Ohrfeige so krank machen?!«

Alexandra zog die schwarzen Augenbrauen hoch. Ihr hochmütiges Gesicht machte Leutnant Markow wild, aber er beherrschte sich, weil Major Worotilow neben ihm stand. »Eine kleine Ohrfeige?« sagte die Kasalinsskaja. »Soll ich Ihnen einmal das Nasenbein einschlagen lassen?«

Wadislav Kuwakino wurde weiß. Er zitterte vor Erregung und sah Major Worotilow an. »Helfen Sie mir doch«, sagte er stockend.

»Ich bin Kommandant der Lagers . die Verantwortung für die Gesundheit tragen die Ärzte.«

»Der Mann heißt Sauerbrunn.« Sellnow blätterte in den Gefangenenpapieren. »Er ist auch so im Soldbuch eingetragen gewesen.«

»Alles gefälscht. Wenn Moskau sagt, er heißt Sauerbruch, dann heißt er Sauerbruch!«

»Wie schade, daß man dich in Moskau nicht Rindvieh nennt«, brummte Sellnow. Die Kasalinsskaja trat ihm unter dem Tisch auf den Fuß. Leutnant Markow schnaubte durch die Nase und ballte die Fäuste.

Der Kommissar wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich nehme ihn auch mit kaputtem Nasenbein mit nach Moskau. Ich übernehme allein die Verantwortung! Aber er muß nach Moskau.«

»Njet!« sagte die Kasalinsskaja.

Leutnant Markow lachte ironisch. »Genossin Kasalinsskaja hat die Deutschen lieben gelernt«, sagte er anzüglich. »Oder täusche ich mich, daß sie öfter als sonst ins Lager 12 fährt?«

»Es geschieht auf meinen Wunsch«, fiel Major Worotilow steif ein. Leutnant Markow machte ein dummes Gesicht und schwieg verbissen. Sellnow betrachtete die Kasalinsskaja von der Seite und fing ihren Blick auf. Er war voller Triumph - und er grübelte vergeblich, war-um sie sich so einschneidend geändert hatte und was sie veranlaßte, gegen ihre Art ihm zur Seite zu stehen.

»Ich werde das nach Moskau melden«, drohte Wadislav Kuwaki-no. Seine Stimme schwankte.

»Bitte.« Alexandra hob die Schulter.

Mit einem Fluch ließ Kuwakino die Gruppe stehen und entfernte sich allein zur Kommandantur. Leutnant Markow und - etwas langsamer - Major Worotilow folgten ihm.

Sellnow kratzte sich den Kopf und sah Alexandra an.

»Warum hast du das getan?« fragte er. »Sauerbrunn ist doch transportfähig. Das weißt du so gut wie ich.«

»Allerdings.« Sie lächelte ihn an. Zwischen ihren vollen Lippen leuchteten die blendendweißen Zähne. »Ich tat es nur aus Haß zu dir.«

»Aus Haß?« Sellnow lachte. »Mein Liebling, ich bin ergriffen.«

»Das kannst du.« Die Kasalinsskaja drehte sich schroff um. Über die Schulter hinweg sagte sie: »Ich werde Sauerbrunn morgen, wenn Kuwakino weg ist, arbeitsfähig schreiben. Für die Wälder.«

Erstarrt blieb Sellnow stehen. Sein Blick folgte ihrem beschwingten Gang, als sie zur Baracke schlenderte.

»Du gottverdammtes Aas«, sagte er leise. »Man sollte dich erwürgen, wenn die Nacht für dich am schönsten ist.«

Aus dem Fenster der Lungenstation klang die Stimme Janinas. Sie sang ein kleines, wehmütiges Lied.

Am nächsten Morgen fuhr Alexandra Kasalinsskaja mit dem Jeep nach Lager 12.

Sie war in der Nacht nicht erwürgt worden, aber auch Hans Sauerbrunn wurde nicht arbeitsfähig geschrieben.

Piotr Markow hatte eine schlechte Woche gehabt. Der Garten des Gefreiten Karl Georg blühte wieder! Er blühte schöner als je. Es standen sogar Stauden darin, Wuchersträuche, die mit grellen Farben Leben an die Wand der düsteren Baracke zauberten. Markow war zu Worotilow gerannt und hatte geschrien: »Ist das hier ein Gefangenenlager oder ein Park?« Und Worotilow hatte erwidert: »Das hier ist ein blühendes Gefangenenlager.« Eine Antwort, die Markow fast krank werden ließ.

Julius Kerner, der unermüdliche Organisator der Baracke und des ganzen Blocks, hatte eine neue Geldquelle für die Plennis erschlossen: Aus Lederresten, die eine Gruppe Arbeiter aus einer Schuhfabrik mitbrachte, fertigte man in den Abendstunden kunstvolle Sandalen, Pantoffeln, Portemonnaies und Brieftaschen an, auch Blumen zum Anstecken, die einen hohen Preis bei den Wachmannschaften erzielten und vor allem für die Bauernmädchen gekauft wurden, die den Soldaten die dienstfreie Zeit versüßten. So kam die Baracke schnell in den Besitz von 400 Rubel und erteilte dem in StalingradStadt arbeitenden Peter Fischer den Auftrag, eine Trompete zu kaufen.

Leutnant Piotr Markow verlor fast seine Mütze und seine Beherrschung, als er eines Abends nach dem Zählappell lautes Trompetengeschmetter über den Lagerplatz hallen hörte. Der Trompeter von Säckingen tönte auch noch, als er schreiend aus der Wachstube rannte. Dann war es still im Lager, und Markow stand einsam auf dem großen Appellplatz.

»Wer hier blasen?!« schrie er. »Wer hier Trompette?!«

Die Soldaten in den Fenstern grinsten. Karl Georg streichelte seine blühenden Stauden, Julius Kerner sang vergnügt. Es war, als sei ein lichter Engel durch das Lager gezogen . selbst die russischen Posten auf den Wachttürmen grinsten und beobachteten aus sicherer Höhe die Entwicklung der Dinge.

Leutnant Markow schwoll rot an. »Wer hier blasen?!« brüllte er hysterisch. Dann riß er seine Pfeife aus der Tasche und ließ sie in den Abend schrillen. Der Ton wurde in den Baracken weitergegeben . außerordentlicher Appell . alles antreten auf dem Platz.

»Ich euch kriggen, Hunde!« schrie Markow. »Ich euch kleinkrig-gen!«

Von den Baracken, aus den Blockstraßen, rannten die Gefange-nen herbei. Tausende Füße trappelten. Staub wirbelte auf. In Blocks angetreten, standen sie dann auf dem weiten Platz, Männer, in Hemdsärmeln, in zerrissenen Hosen, verhungert und müde. Piotr Markow musterte sie und schnalzte mit der Zunge.

»Ihr hier stehen, bis ich gefunden Trompette!« schrie er. Dann winkte er vier Soldaten und begann, die Baracken systematisch zu durchsuchen. Er fing mit der Baracke Julius Kerners an und durchwühlte alles, was in ihr war - die Betten, die schmutzige Wäsche, den Waschraum, die Latrine.

Nichts!

Die nächste Baracke . die übernächste.

Drei - vier - sieben - zehn Baracken.

Nichts.

Leutnant Markow kam an die Tür des Lazaretts. Dort stand Dr. Kresin und beobachtete das Schauspiel. Als er Markow mit verschleierten Augen auf sich zukommen sah, hob er beide Arme und rief lachend:

»Gnade, Genosse Leutnant. Ich habe Trompette nicht geblasen.«

Mit wütendem Knurren wandte sich Markow ab und rannte zurück zur Kommandantur.

Nach einer Stunde Stehen wurde der Appell abgeblasen, die Gefangenen strömten in die Baracken zurück.

Ruhe lag wieder über dem Lager.

Als sich der Staub, den die Gefangenen in dichten Wolken aufgewirbelt hatten, wieder legte, erschütterte ein helles Schmettern die Luft.

Die Trompete.

In seinem Zimmer saß Leutnant Piotr Markow mit verzerrtem Gesicht und hieb mit geballten Fäusten wild auf den Tisch. Er weinte vor Wut.

Im Lager 12 saß Dr. Kasalinsskaja am Bett des Verletzten und betrachtete den aufgespaltenen Fuß. Wie Dr. Böhler befürchtet hat-te, stellte sich Fieber ein, und die Wunde eiterte.

»Wollen Sie auch den gesund schreiben?« sagte Dr. Böhler, nachdem sich die Kasalinsskaja erhoben hatte. »Mit den Händen kann er arbeiten, wenn Sie ihn an die Bäume rollen lassen.«

»Sie müssen den Fuß amputieren«, antwortete Alexandra kühl.

»Und nur, weil das ganze Sanitätswesen des Lagers restlos versaut ist«, sagte Dr. Böhler bitter. »Wir machen diesen armen Kerl für den Rest seines Lebens zum Krüppel, weil ihr, die Russen, die Sieger, ihr mit dem großen Geschrei vom Menschenrecht, den Menschen derart mißachtet. Den armen, hilflosen, getretenen, gefangenen Menschen.«

»Wenn Sie weitersprechen, schlage ich Ihnen mit der Reitpeitsche ins Gesicht«, sagte die Kasalinsskaja eisig. »Der Mann kommt sofort ins Hauptlager. Dort wird Sellnow ihn versorgen.«

Dr. Böhler steckte sich eine Zigarette an, die Dr. Kasalinsskaja ihm bei ihrem letzten Besuch dagelassen hatte. Genießerisch inhalierte er den Rauch.

»Ich habe noch etwas für Sie.« Er reichte ihr eine Liste hin. Sie nahm widerstrebend das Stück Papier und blickte darauf nieder.

»Was soll ich damit?« fragte sie unwirsch.

»Es sind die Namen von siebenunddreißig Gefangenen dieses Lagers«, sagte Dr. Böhler ironisch. »Diese Männer haben sich im vorigen Sommer eine Malaria zugezogen, und die Plasmodien leben jetzt in ihren Milzen und ihren retikuloendothelialen Systemen -wenn Sie davon schon mal gehört haben sollten - und werden demnächst wieder ausbrechen. Diese siebenunddreißig Gefangenen müssen hier weg, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch der anderen Gefangenen wegen, übrigens auch Ihrer Leute wegen. Jeder Mückenstich kann Malaria bedeuten - ich hoffe, Sie wissen, was das heißt.«

Die Kasalinsskaja drehte sich um und verließ schnell den Raum. Auf der Treppe der Baracke holte Böhler sie ein.

»Wo wollen Sie denn hin?« fragte er.

Sie schüttelte seine Hand ab. »Zurück ins Lager«, fauchte sie.

Er ließ sich nicht beirren. »Sie nehmen die Liste mit!« drängte er.

»Nein!«

»Doch, ganz bestimmt. Und Sie werden die Liste Dr. Kresin zeigen und ihm mitteilen, was sie zu bedeuten hat. Wir können nicht alle Gefangenen mit Malaria verseuchen lassen.«

»Der Krieg war ein Verbrechen an der Menschheit«, schrie sie ihn an. »Die Gefangenschaft ist seine gerechte Sühne.«

»Warum sträuben Sie sich, Alexandra?« Bei der Nennung ihres Vornamens fuhr die Ärztin herum. Nacktes Erstaunen und hüllenlose Angst standen in ihren Augen. Sie atmete heftig.

»Immer stehen Sie gegen uns Deutsche, immer ist Ihr Njet wie ein Todesurteil - aber hinterher überraschen Sie uns mit einer nie geahnten Liebenswürdigkeit. Warum sträuben Sie sich vorher immer? Haben Sie Angst vor Ihrem Herzen, Alexandra?«

Die Ärztin schloß einen Moment die Augen. Über ihr schönes, volles, tierhaft-lockendes Gesicht flog der Schimmer einer Röte. Dann hatte sie wieder Gewalt über sich, wandte sich ab und stapfte durch den Staub davon.

Erst als sie im Jeep saß und durch die Schneise ratterte, vorbei an den arbeitenden Kolonnen, die ihr haßerfüllt nachsahen, wischte sie sich über die Augen. Ihr Handrücken war feucht, als sie ihn am Rock abstreifte.

Mein Herz, dachte sie. Wer hat jemals nach meinem Herzen gefragt? Meine Eltern nicht... meine Lehrer nicht. Karlow nicht, der mich in Kasan vergewaltigte, als ich 17 war. Iwanow nicht, Peter, Julian, Serge und wie die Männer hießen. Werner nicht. Keiner, keiner . mein Herz?

Habe ich noch ein Herz? Ist es nicht getötet worden durch die Kälte, die mir von allen Menschen entgegenschlug? Durch die Gier, mit der sie mich nahmen und nachher wie einen abgenagten Knochen wegwarfen?

Was weiß Dr. Böhler von meinem Herzen? Sah er es? Erkennt er es.? Würde er es finden.?

Der Wald wurde lichter. Die Steppe lag vor ihr. Die Luft flimmerte vor Hitze. Hinter ihr krachten die Bäume ins Unterholz. Der Motor sang.

Unter dem blauen Himmel kreiste still, mit weiten Schwingen, ein Bussard.

Die Sonne brannte.

Aus dem Wachhaus des Lagers 12 trat der Feldwebel und hatte beide Arme vollbeladen. Er legte die Pakete auf den Tisch vor Dr. Böhler und nickte.

»Woher?« fragte der Arzt erstaunt.

»Von Genossin Ärztin.« Der Russe grinste breit. »Es ist alles dabei, was Sie sich gewünscht haben. Verbandzeug. Spritzen . Nadeln. Scheren. Narkosemittel. Medikamente. Alles.«

Dr. Böhler legte die Hände auf die Pakete und sah hinaus aus dem Fenster auf den Wald.

In der Schneise lag noch der Staub des Wagens in der Luft.

ZWEITES BUCH

Der erste Schnee lag über den Wäldern der Steppe.

Von Sibirien, über den Ural und vom Kaspischen Meer her fluteten die kalten Winde über die Ebene der Wolga. Der Don begann schon zuzufrieren. In der Nacht heulten die Wölfe und strichen um die Höfe der Kolchosen.

Im Lager 5110/47 wurden die Wintersachen ausgegeben. Steppjacken, Fellmützen, Filzstiefel, dicke Fußlappen, gesteppte Hosen und Pelzhandschuhe. Von den Wäldern des Lagers 12 kamen große Transporte mit Holz über die verharschte Straße. Ein Teil der Fenster in den Baracken wurde mit Papier verklebt und die Ritzen mit Lehm ausgeschmiert. Man kannte die Stürme und die eisige Kälte, man hatte sie erlebt ohne Schutz. Mit einfachen Sommermänteln und dünnen Wollhandschuhen ging man in die Gefangenschaft und lag in Haufen zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen.

Mit dem ersten Schnee wurde auch das Gesicht Janinas wieder blaß. Sie war in den letzten Monaten voller geworden - aber in ihren Augen stand noch immer die Qual der Krankheit und das Wissen um ein zu kurzes Leben.

Sellnow war dem Wunsche Dr. Böhlers zufolge in das Außenlager Stalingrad-Stadt versetzt worden und betreute dort die Bau- und Fabrikarbeiter. Alexandra hatte diese schnelle Versetzung mit Verbissenheit und Trotz ertragen. Sie stellte ihren Haß auf Major Wor-otilow um und ließ ihn stehen, wenn er sie ansprach, oder verließ den Raum, wenn er in ein Zimmer trat. Dr. Kresin sah es mit Stirnrunzeln und schüttelte den Kopf.

Der Oberfähnrich war schon entlassen. Er lebte in einer Baracke in Block 17 und wurde mit leichter Lagerarbeit beschäftigt. Außerdem war er der Regisseur eines kleinen Theaterstückes, das ein Plenni geschrieben hatte und das als Weihnachtsüberraschung in der großen Saalbaracke aufgeführt werden sollte. Julius Kerner hatte in diesem Stück ein Trompetensolo übernommen und übte es mit Ausdauer und Energie jeden Abend, wenn Leutnant Markow seine Dienstrunde machte. Da diese Übungen mit der ausdrücklichen Genehmigung Major Worotilows stattfanden, hatte Markow keinen Anlaß zum Eingreifen und sah nur von der Tür aus mit verzerrtem Gesicht, wie Kerner mit geschlossenen Augen an seiner Trompete hing und ihr die höchsten und grellsten Töne entlockte. Karl Georg hatte seinen Garten mit Tannenzweigen abgedeckt, die Stauden ausgegraben und in seinem Spind verwahrt und hoffte auf einen schönen Sommer im nächsten Jahr.

Vielleicht einen Sommer in der Heimat?

Sie dachten alle daran ... die Hoffnung gab ihnen Kraft, ihr Los zu tragen, aber sie sprachen wenig darüber, weil ihre Augen dann traurig wurden und das Herz schwer vor Sehnsucht und Heimweh. Man informierte sich in der Stille bei den Ärzten, die den besten Kontakt mit der Lagerleitung hatten, und man erfuhr, daß zu Weihnachten 1948 Transporte in die Heimat gehen sollten ... vor allem Kranke und Arbeitsunfähige.

Peter Fischer und Karl Eberhard Möller hatten eine erregte Aussprache mit den anderen Kameraden ihrer Baracke. Sie fand an einem Abend statt, nachdem Piotr Markow schon das Lager kontrolliert hatte und die Nachtposten auf den Wachttürmen standen. Vor den Baracken lag Neuschnee, weiß, samtweich, den Schritt aufsaugend. Der Himmel war klar. Über den Wäldern glitzerten die Sterne wie vereiste Blumen.

»Angenommen, wir treten alle der KP bei«, sagte Peter Fischer und sah sich im Kreise um, »dann werden wir schnell entlassen!«

»Daß ich dir gleich in den Arsch trete, du Mistsau!« schrie Karl Georg von seinem Bett herüber. »Hast du die Schnauze vom Kommunismus noch nicht voll?!«

»Ich sage doch bloß - angenommen!« Peter Fischer hob beide Hände. »Wenn wir dann in der Heimat sind, können wir ja wieder austreten.«

»Denkste!« Emil Pelz, der Sanitäter, drehte sich eine Machorka. »Wenn die uns mal haben, behalten se uns! Det kenn ick! Zuerst kommste nach Moskau zur Schulung. Da wirste 'n guter Kommunist. Dann kommste in die Russenzone und darfst nach der Pfeife der Politmänner tanzen. Und wennste nich mehr willst, polier'n se dir de Fresse, det de nich mehr kieken kannst! Nee ... denn lieber noch 'n Jahr.«

»Es wird diesen Winter weniger zu essen geben, habe ich gehört«, warf Möller ein.

Die Nachricht wirkte lähmend. Essen . das war die Hauptsache. Solange man kauen konnte, war das Leben erträglich. Erst mit dem Hunger stellte sich die Verzweiflung ein, der Zusammenbruch, das schreckliche Ende.

»Wer sagt denn das?« zweifelte Julius Kerner.

»Der Küchenbulle, der Pjatjal! Er hat schon seine Zuteilungslisten für den Winter bekommen! Pro Mann nur einen Liter Suppe am Tag! Vierhundert Gramm Brot!«

»Das frißt ja kein Hund«, schrie Karl Georg. »Der Hund von Wor-otilow lebt besser. Der kriegt Fleisch. Habe ich selbst gesehen«, sagte Peter Fischer.

»Und wir müssen der Bascha in den fetten Hintern kneifen, um ab und zu einen Löffel Fett zu bekommen!« Julius Kerner sprang von seinem Bett herab und setzte sich an den Tisch. »Wie war das, noch mal, Peter? Die in der KP sind, die werden schneller entlassen?«

»Heißt es.«

Kerner sah sich kopfkratzend im Kreise um. »Jungs, man sollte sich das überlegen. Die eigene Haut ist wertvoller als ein dusseliges Parteibuch. Das kann man verbrennen . aber die eigene Haut bleibt! Und warum sollen wir nicht Stalin loben, wenn wir dafür mehr zu fressen kriegen und schneller zu Muttern kommen? Was später ist. Jungs, das wird sich zeigen! Das wird sich alles einspielen. Erst laßt uns mal in Deutschland sein und uns richtig 'rausfressen. Dann sieht die Welt anders aus, und wir dazu! Was wissen wir, wie es in Deutschland zugeht? Ich habe es zuletzt 1942 gesehen! Im Frühjahr! Da hatt' ich Genesungsurlaub. Nach Stalingrad schrieb mir dann meine Else, daß sie schwanger ist . dann kam die große Scheiße, und alles war aus. Ich weiß nicht mal, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden ist.«

Karl Georg sah an die Decke. In seinen Augen spiegelte sich die Heimat. Die Rhön ... das weite, wellige Land mit den glitzernden, lautlosen, riesigen Vögeln unter dem blauen Himmel . die Wasserkuppe. Die Winde des Drahtseiles knirscht ... das Segelflugzeug hebt sich empor . es schwebt in den Aufwind. Wie ein Silberpfeil gleitet es durch die Luft.

»Wir lagen unter einem Holunderbusch, das letzte Mal«, sagte Karl Georg leise. »Es war der letzte Tag des Urlaubs. Und gestöhnt hat sie.«

»Halt die Fresse!« sagte Kerner gequält.

Karl Eberhard Möller legte sich halb mit dem Oberkörper über den Tisch. Seine Augen waren verschleiert, der Blick irrte von einem zum anderen.

»Sollen wir uns alle melden?« fragte einer stockend. »Wir alle geschlossen?«

»Zur Kommune?«

»Ja. Vielleicht werden wir alle entlassen! Kinder . wir könnten Weihnachten in der Heimat sein! Unterm Weihnachtsbaum. Ich habe zwei Kinder ... sie müssen jetzt sieben und zwölf sein! Zwei Mädchen! Ich werde am Klavier sitzen, und die beiden Gören und meine Trude, die singen. Die Kerzen brennen und knistern . es riecht nach Tannen und Kuchen, Nüssen und Marzipan. Die Glocken läuten.«

»Aufhören«, schrie Julius Kerner. »Aufhören!« Er preßte beide Hände an die Ohren, über sein eingefallenes Gesicht zuckte es wie im Fieber. »Ich kann es nicht hören! Halt die Schnauze, Kerl.«

Peter Fischer kaute an der Unterlippe, sein Gesicht war weiß. Er sprang auf und ging in das Halbdunkel des Raumes zurück. Er legte sich auf sein Bett und drehte das Gesicht zur Wand. Ein Zucken und Schütteln lief durch seinen Körper.

»Was hat denn der?« sagte Georg leise.

»Er hatte ein Mädel und wollte im nächsten Urlaub heiraten. Dann kam Stalingrad.«

Die anderen schwiegen. Die Gedanken flogen zurück über Tausende von Kilometern. Sie drangen in enge Stuben und weite Wälder, in schmutzige Straßen und blühende Wiesen.

Sie hat fünf Kinder ... ob sie mit der Rente auskommt? Oder ob sie schneidern geht? Sie machte ja den Kindern alles selbst.

Die Fabrik war 1942 zerstört ... ob sie der Schwager wieder aufbaute? Und Luise? Ob das Haus noch steht? Die Rosen, die ich veredelt habe? Mein Gott, was war das für ein Leben . und heute wären ein Pfund Brot und ein Stück Butter das Paradies.

Peter Fischer hieb mit der Faust auf den Tisch.

»Das Leben ist so und so doch nur noch Scheiße! Ich trete der Kommune bei! Ich gehe zum Major und melde mich.«

Julius Kerner nickte. »Ich gehe mit.«

»Mit oder ohne Trompete?« schrie einer aus der Ecke.

Man lachte. Es war eine Erlösung, eine Befreiung. Man lachte schrill und ausgelassen und hieb Kerner auf die schmalen Schultern.

»Nimm sie mit, Julius«, rief einer. »Dann kannste ihnen die Internationale auf Herms Niels blasen!«

Karl Eberhard Möller sprang auf den Tisch. Seine Arme kreisten dirigierend über den Köpfen der Männer.

»Ein Lied!« schrie er. »Ein Lied. Drei - vier!«

»Völker, höret die Signale, auf zum letzten Gefecht, die Internationale erkämpft das Menschenrecht.«

Die Stimmen sprangen in die kalte Schneenacht hinaus. Leutnant Piotr Markow zog die Stirn kraus, als er den fernen Gesang hörte. Er las in der Prawda einen Roman von Paustinow.

Major Worotilow hörte nichts. Er saß an seinem Radio und hatte Europa eingeschaltet. Kurzwelle - Sender Berlin. Walzermusik durchströmte den warmen Raum. Ein Tenor sang mit weicher Stimme eine einschmeichelnde Melodie.

Franz Lehar. Der Graf von Luxemburg.

Im Sessel bei Worotilow hockte Janina Salja. Sie hatte die Beine hochgezogen und knabberte an einem Keks.

Worotilows breites Gesicht glänzte.

»Du bist schön«, sagte er leise.

Sie nickte stumm. Sie hatte Angst.

Dr. Böhler saß bei der Kasalinsskaja im Zimmer und sah die Berichte der einzelnen Sanitätsstationen der Außenlager durch, als Dr. Sergeij Basow Kresin eintrat und sich lachend an den Türrahmen stellte.

Er schien voller Humor und Frohsinn zu sein, er bebte förmlich vor Witz. »Ihre Landsleute sind herrlich!« schrie er voller Vergnügen. »Sie sind die Zukunft Europas!« Er prustete wie ein badender Elefant und setzte sich massig auf einen der herumstehenden Stühle. »Heute morgen haben sich drei Baracken geschlossen beim Major gemeldet.«

»Krank?« fragte die Kasalinsskaja.

»Nein! Zum Eintritt in die Kommunistische Partei!«

Dr. Böhler sah von den Papieren auf. Sein langes, schmales Gesicht war ausdruckslos. »Das ist ein Scherz, Doktor Kresin.«

»Gehen Sie doch hin zu Worotilow. Er zeigt Ihnen die lange Liste der neuen Weltrevolutionäre! Übrigens« - er gluckste vor Vergnügen - »Ihr Sanitäter Nummer eins ist auch dabei.«

»Emil Pelz? Unmöglich!«

»Sagen Sie nicht unmöglich, wenn er unterschrieben hat! Mit ihm die ganze Musterbaracke . der Gärtner, der kühne Trompeter, der versehentliche Sohn Sauerbruchs ... sie alle.«

Dr. Böhler erhob sich. Seine Blicke kreuzten sich mit denen Alexandras. Er las in ihnen Schadenfreude und einen stillen Triumph. Sie wird immer eine Russin bleiben, dachte er. Nichts wird sie ändern . keine Liebe, kein Schmerz, kein seelischer Schock. Sie gehört zu Rußland wie die Wolga und der Don, der Ural, die Taiga und die Tundra.

»Waren Werber im Lager?« fragte er, nur um etwas zu sagen.

»Nein, o nein.« Kresin wieherte. »Wir werben durch Taten! Hunger erzeugt klare Köpfe! Wer nichts zu fressen hat, wird vernünftig! Das ist das ganze Geheimnis vom fruchtbaren Acker des Kommunismus. Je mehr Elend in der Welt, um so stärker die Partei! Satte Mägen revoltieren nicht!«

»Und was wird nun mit diesen Männern?« »Worotilow muß sie an die Zentrale nach Moskau melden. Dann wird ein Kommissar kommen und sie sich ansehen, ob sie auch würdig sind, die Idee von Marx zu vertreten. Sind sie es, so kommen sie weg aus dem Lager.«

»Wohin?«

»Das weiß ich nicht.« Kresin zuckte mit den Schultern und grinste. »Auch der gefangene deutsche Kommunist bleibt ein gefangener deutscher Soldat! Ehe wir ihn laufen lassen, müssen wir die Gewähr haben, daß er in seiner Heimat auch das bleibt, was er uns hier verspricht. Wir werden nur kleine Gruppen zurückschicken.«

»Und wenn er in Deutschland abfällt?!«

Dr. Kresin wurde ernst und sah zu Boden. »Sie werden es nicht können. Man sagt ihnen, daß ein Abfall ihre zurückgebliebenen Kameraden treffen wird ... nicht sie! Alle, die mit den Abgefallenen kamen, werden dann in ein Straflager kommen.«

Dr. Böhler sah Dr. Kresin erstaunt an. »Man scheint in Rußland viel vom deutschen Ehrgefühl zu halten.«

»Äußerst viel, Doktor! Die Geschichte hat uns gezeigt, daß der Kommunismus am kommunistischsten in Deutschland war. Das werden wir nie vergessen, wenn wir die Aufmarschbasis für den Sturm auf Europa ausarbeiten.«

»Sie sprechen wie Worotilow«, sagte Dr. Böhler verblüfft.

Kresin zuckte mit den Schultern.

»Wundert Sie das?« Er lachte sarkastisch. »Wir Kommunisten haben doch ein Einheitsgehirn.«

Dr. Schultheiß trat ins Zimmer. In seinem Gesicht stand Sorge. Er sah Dr. Böhler an und dann die beiden russischen Ärzte.

»Janina hat nach drei Monaten wieder Auswurf«, sagte er. »Leichte Temperatur und Nachtschweiß.«

Die Kasalinsskaja lachte höhnisch auf. »Kein Bock ist ein sanfter Liebhaber.«

Dr. Schultheiß schwieg verbittert. Er wußte, daß Janina in der vergangenen Nacht bei Worotilow gewesen war. Er hatte wach gelegen und sich vor Eifersucht hin und her gewälzt, in die Decke gebis-sen und vor sich hingewimmert wie ein hysterisches Mädchen. Am Morgen war er dann an ihr Bett getreten und hatte ihr sofort die Verschlimmerung angesehen.

»Sie müssen wieder liegen, Janina«, hatte er in ärztlichem, unpersönlichem Ton gesagt. »Sie waren töricht und ungehorsam und haben jetzt die Folgen zu tragen. Wenn Sie so weitermachen, hilft keine Kur, und Sie werden nach einem Blutsturz sterben!«

»Du bist roh, Jens«, hatte Janina leise geklagt. »Warum bist du so roh.?«

»Sie haben meine Verordnungen nicht befolgt, Janina.«

»Ich hatte Sehnsucht, Jens. Ich konnte nicht anders.«

»Jeder Mensch hat die Kraft, sich zu bezwingen. Wir sind doch keine Tiere.«

Janina hatte die Augen geschlossen. »Ich doch, Jens, ich doch. Ich bin ein Tier.«

Plötzlich hatte sie in seinen Armen gelegen, ein Hustenanfall durchrüttelte ihren zarten Körper.

Er hatte sie vorsichtig zurückgebettet und die Decken über sie gebreitet. Ihre Brust atmete schnell, der Puls jagte. Schweiß brach aus den Poren, klebriger, kalter, kranker Schweiß.

Dr. Schultheiß war aus dem Zimmer und zu Dr. Böhler gerannt.

Die Kasalinsskaja stand auf und strich sich die Haare aus der Stirn.

»Schlimm?« fragte sie.

»Sie war sehr erregt. Das hat sie völlig erschöpft. Es wäre gut, wenn sie den Winter über in den Süden reisen könnte.«

Alexandra blickte Dr. Schultheiß von der Seite an. In ihren Augen stand Erstaunen und Verständnislosigkeit.

»Sie soll weg von hier?« Von Ihnen, wollte sie sagen, aber sie bezwang sich wegen der Anwesenheit von Dr. Kresin.

Dr. Schultheiß nickte. »Es wäre besser, für alle.«

»Ach so.«

Dr. Kasalinsskaja verließ das Zimmer und ging hinüber zur Lungenstation. Als sie das Zimmer Saljas betrat, lag Janina schräg unter den Decken. Ihre nackten Beine hingen im kalten Luftzug des geöffneten Fensters. Die Schultern waren wie Eis. Sie war besinnungslos.

Die Stimme der Kasalinsskaja gellte durch den Flur.

»Dr. Böhler!«

Nach zwei Minuten rannte Dr. Kresin wie ein Büffel über den Platz der Kommandantur. Seine Füße warfen den Schnee hoch in die kalte Luft.

Blinder Zorn tobte in ihm.

Er hatte sich vorgenommen, Worotilow zu Boden zu schlagen.

Das Außenlager Stalingrad-Stadt war in einer leeren Fabrikhalle untergebracht und umfaßte mit allen Außenkommandos 567 Mann. Hinzu kamen 45 Offiziere, die getrennt in einem Steinhaus lebten und von denen keiner sagen konnte, was sie hier in Stalingrad machten, ob und wo sie arbeiteten und wie es in dem Lagerhaus, das ihnen zugewiesen war, aussah. Nur Dr. von Sellnow pendelte zwischen Mannschafts- und Offizierlager hin und her und baute seine Sanitätsstube zu einem leistungsfähigen Revier aus. Er erhielt dabei die Unterstützung des Distriktsarztes Dr. Kresin, der ihm die nötigen Ausstattungen zuwies.

Die 567 Mann arbeiteten alle in der Fabrik >Roter Oktober<. Es war eine Stahlschmiede riesigen Ausmaßes, die neben Panzern auch Ackerschlepper, Kanonenrohre und Schiffsstahlplatten herstellte. Entstanden aus einem riesigen, unübersehbaren Gewirr von verbogenen Stahltrümmern, war die Fabrik der Stolz Stalingrads geworden, ein Wahrzeichen des Aufbaues, eine Demonstration des Lebenswillens gegen die Zerstörung. Daß gerade in der Fabrik >Roter Oktober< deutsche Kriegsgefangene und russische Politische Häftlinge arbeiteten, war eine Angelegenheit des Prestiges, wie etwa die Unterzeichnung des Waffenstillstandes mit Frankreich 1940 in dem gleichen SalonEisenbahnwagen stattfand, in dem in Compiegne 1918 die deutsche Niederlage unterschrieben wurde. So war die Fabrik >Roter Okto-ber< 1943 der heißumkämpfte Mittelpunkt und das letzte Bollwerk der deutschen Truppen in Stalingrad gewesen, aus den Trümmern und unübersehbaren Eisenhaufen und Kellern schlug den Russen bis zuletzt das Feuer der 6. Armee entgegen. In den Gewölben unter den Hallen lagen Tausende von Verwundeten. Dort standen auch Dr. Böhler, Dr. von Sellnow und Dr. Schultheiß an den Tischen und operierten tage- und nächtelang, während die Mauern von Einschlägen schwankten.

Heute ist >Roter Oktober< wieder eine riesige, modern aufgebaute Fabrik mit einem Wald rauschender Schlote, hellen, gläsernen Montagehallen und einer großen Kantine, einem eigenen Werktheater, einem Kindergarten, einem Schwimmbad und einer Bibliothek mit allen Werken des Kommunismus. Sie ist eine Burg des Glaubens an die Zukunft, ein pulsierendes Herz der Revolution . eine Kraftquelle des Ostens gegen den Westen.

Das Blut, das durch dieses Herz strömt, sind die deutschen Plen-nis und russischen Strafgefangenen, die sie aufbauten. Deutsche und amerikanische Architekten und Ingenieure, Konstrukteure und Statiker stehen in den großen Zeichensälen an den Reißbrettern und planen und bauen. Deutsche Arbeiter hocken an den Drehbänken und stehen in den Gießereien, an den Walzstraßen und Bohrern. Man murmelt sogar, daß der bis heute unsichtbare Chef des Werkes, der Dipl.-Ing. Piotr Wernerowski, ein Deutscher ist, Peter Werner aus Chemnitz. Niemand hatte bisher Dr. Wernerowski gesehen -auch Dr. von Sellnow nicht, nur unter den wöchentlichen Kampfparolen für die Kader der Arbeiterschaft stand sein Name - Dr. P. Wernerowski, eine typisch deutsche, in lateinischen Buchstaben gehaltene Unterschrift.

Das ist das Lager Stalingrad-Stadt. Ein riesiges Herz. Eine geballte Riesenfaust, die nach Westen droht. Die Stadt Stalins, an der Deutschland zerbrach.

Dr. von Sellnow stand auf dem Leninplatz vor dem wolkenkratzerähnlichen Parteihaus und blickte an der weißen Fassade empor, die das goldene Emblem von Hammer und Sichel krönte. Vor dem Eingang, zu dem eine riesige Treppe hinaufführte und dessen große Bronzetüren hinter mächtigen Säulen lagen, thronten auf hohen Sockeln Gipsstandbilder, von Stalin und Lenin.

Sellnow sah sich zu Dr. Kresin um, der hinter ihm stand.

»Gips ist vernünftig«, sagte er hämisch. »Man kann die Dinger schnell zerkloppen, wenn es mal nötig ist.« Er lachte. »Mit Eisen oder Bronze ist das schwieriger. Da weiß man nicht so schnell, wohin damit, und die Köppe rollen dann auf der Erde herum und liegen im Weg.«

Dr. Kresin schnaubte durch die Nase. »Ich bin ein Rindvieh, daß ich ausgerechnet Ihnen Stalingrad zeige. Jeder Idiot wäre dankbarer als Sie!«

»Das glaube ich Ihnen recht gern.« Sellnow sah sich auf dem weiten Platz um. Prachtbauten mit blitzenden Fensterfronten lagen in der kalten Wintersonne. Der Schnee glitzerte in kristallener Klarheit. »Nur einem Idioten können Sie erzählen, daß dies hier das wirkliche Gesicht Sowjetrußlands ist! Amerikanische Touristen werden es dankbar knipsen und zu Hause zeigen: Oh, Rußland - wonderful! Aber ich habe die andere Seite gesehen ... die stinkenden Katen in den Dörfern, die Erdhütten am Rande von Orscha, die Blechbaracken bei Minsk.«

Dr. Kresin wurde wütend. »Das sind keine Potemkinschen Fassaden. Gehen Sie doch hinein, Sie deutscher Hund! Dort wohnt man wie in einem Paradies. Und Arbeiter wohnen dort! Arbeiter! Wir sind ein Land, das die Massen liebt.«

»Vor allem, wenn sie am Eismeerkanal beim Bau der Schleusen zu Millionen verrecken.«

»Das sind Märchen! Das sind die Hetzreden der kapitalistischen Clique! Man mißgönnt Rußland den Anschluß an die Welt.«

Dr. von Sellnow lehnte sich gegen eine der Säulen, die die Kolonnaden des Parteihauses trugen. Er steckte die Hände in die Taschen seiner Lammfelljacke, die man ihm aus alten Militärbeständen gegeben hatte. Sein knochiges Gesicht war von der Kälte gerötet.

»Warum schleppen Sie mich eigentlich durch diese Stadt? Wol-len Sie einen Kommunisten aus mir machen?! Das ist ein Versuch am untauglichen Objekt. Was ich vom Kommunismus weiß, genügt mir. Da helfen auch keine weißgetünchten Fassaden.«

Dr. Kresin zog aus der Tasche seiner Pelzjacke, dessen Fell er wie ein sibirischer Bauer nach außen trug, was ihm etwas Bärenhaftes verlieh, eine Schachtel Zigaretten und bot Sellnow eine an. Indem er sie ihm ansteckte, meinte er:

»Was halten Sie davon, ein großes russisches Krankenhaus zu übernehmen?«

»Nichts.«

»Wir suchen gute Ärzte. Amerikanische, englische, französische, indische, schweizerische Ärzte haben wir - warum sollen es nicht auch deutsche Ärzte sein? Ich hatte Zeit, Sie genügend zu beobachten, als Sie bei Dr. Böhler arbeiteten. Sie haben Mut, Sie sind schnell von Entschluß, Sie können etwas. Rußland könnte Sie brauchen.«

Sellnow winkte ab. »Ich bin Kriegsgefangener.«

»Das würde sofort geändert! Sie würden ins Zivilverhältnis überführt werden.« Dr. Kresin schnippte die Asche von seiner Zigarette. »Denken Sie an den Fall des Gefreiten Sauerbrunn im vorigen Sommer. Wenn er wirklich der Sohn Sauerbruchs gewesen wäre, würde er jetzt längst frei sein und in Berlin. Wir Russen ehren die Größe des Geistes und wissenschaftliches Können. Und auch der Arzt ist ein Künstler - er arbeitet an lebenden Objekten.«

Sellnow warf erregt die Zigarette in den Schnee, wo sie leise zischend erlosch. Das Papier löste sich durch die Feuchtigkeit auf. Wie ein brauner Fleck lag der Tabak in dem leuchtenden Weiß.

»Das sind ja alles Dummheiten!«

»Wieso, Doktor?«

»Ich habe eine Frau und zwei Kinder.«

»Wir werden sie hierherkommen lassen. Mütterchen Rußland soll ihre zweite Heimat werden! Sie werden wie ein Russe behandelt. Sie haben in jeder Hinsicht die gleichen Rechte. Es wird Ihnen an nichts fehlen. Sie erhalten ein eigenes Haus in der Nähe der Klinik, der Staat stellt Ihnen einen Wagen zur Verfügung. Die Bezahlung ist vorzüglich. Ihre Waren bekommen Sie in den staatlichen Kaufhäusern. Sie werden sehen, daß Sie in ein Paradies gekommen sind.«

»Vielleicht in der Kalmückensteppe.«

»Wo das Krankenhaus liegen wird, das Sie übernehmen, weiß ich allerdings noch nicht. Wir haben von Moskau nur die Anweisung erhalten, die deutschen Ärzte zu veranlassen, sich zivilisieren zu lassen.«

»Nettes Wort, Dr. Kresin.« Sellnow lachte schallend. »Waren Sie schon bei Dr. Böhler?«

»Ja.« Dr. Kresin nahm eine ablehnende Haltung ein. Sein Gesicht verhärtete sich.

»Und was sagt der Chef?«

»Er bleibt im Lager 5110/47!«

»Ach nee! Und warum?«

»Sein ärztliches Gewissen befehle ihm, sagte er, so lange bei seinen Kranken und Verletzten auszuhalten, bis der letzte deutsche Kriegsgefangene entlassen sei und keiner ärztlichen Hilfe mehr bedürfe. Für sein Lazarett ist er der Kapitän, der das Schiff als letzter verläßt.«

Sellnow sah in den fahlen Himmel. Schneewolken drohten. Der russische Winter kam aus Sibirien herüber. Morgen, übermorgen ... tagelang, wochenlang würde es jetzt schneien und frieren, die Erde würde hart werden wie Beton, und die Plennis würden umfallen in dieser Kälte und sterben mit einem letzten Seufzer auf den dünnen, verhungerten Lippen. Die Lagerlazarette würden sich füllen. Erfrierungen. Schneeblindheit. erfrorene Verletzungen. Amputationen. Elend ... lebenslängliches Leid. Der russische Winter kannte kein Erbarmen.

Sellnow schüttelte den Kopf. »Wie können Sie mich fragen, Dr. Kresin, wenn Ihnen Dr. Böhler schon geantwortet hat.«

»Ich dachte, Sie würden anders denken.«

»Ich? Wollen Sie mich beleidigen?! Sie können Rindvieh und Hund, Aas und Saustück zu mir sagen - ich antworte Ihnen mit noch schöneren Worten. Aber meinen ärztlichen Stand und mein ärztliches

Gewissen lasse ich mir nicht antasten, und wenn ich dabei vor die Hunde gehen sollte!«

Dr. Kresin sah in die Luft. Um seine Nase hatte sich der Atem zu einer leichten Eisschicht verdichtet.

»Ich dachte dabei auch an Alexandra Kasalinsskaja.«

Sellnows Miene wurde starr. Seine Augen verschwanden hinter den Lidern. »Was ist mit ihr?«

»Ich würde sie Ihnen als Oberärztin zuteilen.«

Sellnow winkte ab. »Das wäre mein Ende. Es wäre mein Tod.«

»Vergessen Sie nicht, daß wir Ihre Frau und die Kinder nachkommen lassen.«

»Dann würde ein Drama daraus werden! Alexandra ist wie eine rassige Stute. Wenn ein Mann sie ansieht, kann er gar nicht anders, als sie nehmen. Es ist, als ob die Natur in diesem Falle wieder ur-haft würde. Daß Sie mich nach Stalingrad versetzten, Dr. Kresin, empfand ich in den ersten Tagen als das schlimmste Unglück seit meiner Gefangennahme. Ich habe getobt und in der Nacht nach der Kasalinsskaja geschrien. Aber jetzt bin ich froh darüber. Sie haben mich von einer Fessel befreit, die mich erdrückt hätte. Es ist vielleicht das erstemal, daß ich Ihnen für etwas wirklich dankbar bin.«

Dr. Kresin schob die Unterlippe vor. Er sah aus wie ein spuckender Affe. »Sie irren, Doktor. Sie brauchen mir auch heute nicht zu danken. Ihre Versetzung verfügte Major Worotilow seinerzeit auf eindringliches Bitten von Dr. Böhler.«

»Der Chef..?« Sellnow sah vor sich hin in den Schnee. Mit den Schuhspitzen vergrub er die aufgelöste Zigarette. »Er hat nie mit mir wegen Alexandra gesprochen . aber er hat es gewußt. Dr. Kre-sin, ich gestehe es: Mir würde etwas im Leben gefehlt haben, hätte ich Dr. Böhler nicht kennengelernt.«

»Das habe ich auch zu Worotilow gesagt.«

»Sie auch, Kresin?« Er sah zu dem großen russischen Arzt auf. »Mein Gott, ich entdecke ja eine menschliche Seite bei Ihnen.«

Dr. Kresin verzog den breiten Mund. Sein Gesicht wurde rot.

»Dann vergessen Sie es schnell wieder, Sie deutsches Schwein«, und Sellnow lachte so laut, daß die Leute, die in das Parteihaus gingen, sich erstaunt nach den beiden Männern umblickten. Es begann zu schneien. Still und samtweich. Die dicken, weißen Flocken rieselten auf die Erde. Der Himmel war dunkelgrau. Von den Fabriken herüber gellten die Sirenen.

Mittagspause.

Dr. Kresin sah Sellnow an. »Gehen wir?«

»Ja.«

»Und mein Angebot?«

Sellnow steckte beide Hände in die Taschen. »Denken Sie einfach, Sie hätten es mir nie gemacht.«

Im Lager 5110/47 erschien wieder der politische Kommissar Wadislav Kuwakino. Er stand eines Morgens vor der Kommandantur im Gespräch mit Leutnant Markow und dem Dolmetscher Jakob Aaron Utschomi.

Durch die Baracken geisterten die Flüsterparolen.

Er kommt wegen der Meldungen zur KP!

Es wird Ernst.

Peter Fischer und Julius Kerner sahen hinüber zu Karl Georg, der seit dem Einsetzen des Schneefalls arbeitslos geworden war, seinem Garten nachtrauerte und meistens auf der Pritsche lag und an die Balkendecke döste. Ab und zu ging er zur Latrine und blieb dort über eine Stunde hocken, las in der Prawda, die ihm ein russischer Posten schenkte, und begann, seine russischen Sprachkenntnisse zu vervollständigen.

»Der Kommissar ist da«, sagte Kerner unsicher.

»Hm.«

»Du hast dich doch auch gemeldet.«

»Ja.«

»Jetzt werden wir Kommunisten!«

Peter Fischer lachte gequält. »In der Heimat war ich Scharführer der SA.«

Karl Georg winkte von seinem Bett aus ab. »Danach werden sie nicht fragen. Es geht ihnen darum, daß sie für Deutschland Propagandisten bekommen! Ich habe gehört, daß wir alle nach Moskau und Molotow auf eine Schule kommen sollen - auf eine Komsomolzenschule.«

»Wie heißt das Biest?« fragte Kerner kritisch.

»Komsomolzen. Das ist eine Abkürzung von Kommunistitscheskij sojus molodeschi.«

»Meine Fresse!« sagte Peter Fischer erschüttert.

»Das ist so eine Jugendorganisation wie die HJ. Dort werden die Jungkommunisten ausgebildet und politisch gedrillt. Wenn wir das hinter uns haben, lassen sie uns auf die Menschheit los.«

»In die Heimat?«

»Nehme ich an.«

Peter Fischer schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Dann ist mir alles egal! Ich mache alles mit, wenn es nur nach Deutschland geht.«

»Komsomolzen«, sagte Julius Kerner sinnend. »Was wird meine Frau sagen, wenn ich als hundertprozentiger Kommunist nach Hause komme?«

»Die wird gar nichts sagen und dich zu sich ins Bett nehmen.« Karl Eberhard Möller, der gerade vom Küchendienst eintraf, warf seine verschneite Pelzmütze an den Ofen. Er lachte und legte eine Dose Rindfleisch, amerikanischen Ursprungs, auf den Tisch. »Hat einer von euch 'nen Büchsenöffner?«

Kerner wog die Büchse in der Hand und lachte: »Geklaut?«

»Die hat mir die Bascha gegeben.«

Karl Eberhard Möller begann, mit einem Messer den Blechrand aufzustemmen.

Solange man aß, sprach keiner mehr über den Kommunismus.

In der Barackentür erschien kurz darauf der Dolmetscher Jakob Aaron Utschomi. Er überblickte den Raum, übersah die Fleischdose und wischte sich mit der Zunge über die Lippen.

»Nach dem Mittagsappell bleiben alle im Lager, die sich für die Partei gemeldet haben«, schrie er übermäßig. »Die anderen gehen zur Arbeit. Um drei Uhr ist Antreten auf dem Platz für alle Parteianwärter! Verstanden?«

Da keiner in der Baracke antwortete, schrie er noch einmal:

»Verstanden?!«

»Leck mich am Arsch!« rief einer aus der dunklen Ecke zurück.

»Na also.« Utschomi lächelte schwach. Hinter seinem schmalen Rücken krachte die Balkentür zu. Einen Augenblick wehte Kälte über die Tische, die der Tür am nächsten standen. Julius Kerner zog die Schultern zusammen.

»Es wird wirklich Ernst«, sagte er schwach. Er schob die Fleischdose weg - es schmeckte ihm nicht mehr.

Karl Georg sprang von seinem Bett auf und machte ein paar Kniebeugen. Die Beine waren ihm vom Liegen eingeschlafen.

»Jetzt macht sich der Julius vor Angst in die Hosen«, bemerkte er dabei.

»Du etwa nicht?« schrie Peter Fischer zurück.

Georg hob die Schultern an. »Warum, Jungs? Dreckiger als hier kann es uns nirgendwo gehen! Und wenn wir krepieren sollen . ob in Stalingrad, in Moskau, in Molotow oder wer weiß wo . das ist doch wurscht! Immerhin ist dieser Parteirummel noch eine leise Hoffnung, aus dem Dreck herauszukommen. Wir müssen nur stur sein und zeigen, daß wir wirkliche Kommunisten sind.«

Karl Eberhard Möller zog Filzstiefel und Fußlappen aus und häng-te sie über den Ofen. Der Geruch der trocknenden Lappen zog ätzend durch die Baracke.

Julius Kerner sah erschrocken zur Tür, die wieder mit einem kalten Luftzug aufschwang. Hans Sauerbrunn, der Mann mit der neuen Boxernase, trat frierend ein. Er schlug die Arme gegen seine Brust und ließ sie in der Wärme der Baracke wie Flügel kreisen. Er kam von einem Schneeschaufel-Kommando, das die Zufahrtstraße zum Lagertor schneefrei zu halten hatte. Es war ein begehrtes Kommando, denn die Posten in den Wachstuben gaben manche Zigarette ab.

Es waren meist gutmütige Tataren, die nur zu Tieren wurden, wenn sie die wöchentliche Wodkazuteilung in einer Stunde versoffen.

»Was Neues?« rief ihm Peter Fischer entgegen.

»Der Kommissar stellt Listen zusammen. Ich habe es durch das Fenster gesehen. Worotilow ist auch bei ihm.«

Julius Kerner schob Sauerbrunn die Fleischbüchse hin und einen Löffel. »Von Möller. Hat er von der Bascha. Uns ist der Appetit verdorben.«

»Wegen Kuwakino?«

»Auch. Wir müssen uns erst daran gewöhnen, ab morgen Kommunisten zu sein.«

Sauerbrunn aß die Büchse leer und wischte sich mit dem Ärmel seiner Steppjacke über den Mund. Dann drehte er sich aus Zeitungspapier und alten Kippen eine Zigarette und steckte sie mit einem Fidibus an, den er an dem Ofen aus Lehmziegeln entzündete.

»Ich habe gehört, daß in anderen Lagern schon die neuen Kommunisten abtransportiert werden. Es geht alles sehr schnell. Aber keiner wußte, wohin sie kamen. Mit allen Sachen antreten, hieß es. Dann wurden sie auf Lastwagen geladen und weggefahren.«

»Hört sich wie ein Transport ins Krematorium an«, bemerkte Peter Fischer, und Julius Kerner schluckte schweigend.

»Wenn wir da bloß keine Dummheit gemacht haben.«

Karl Georg schüttelte den Kopf. »Man muß nur auf Draht sein und die Augen offenhalten«, sagte er. »So leicht haut man einen deutschen Oberschnäpser nicht um.«

Wieder kam Jakob Aaron Utschomi in die Baracke. »Wir brauchen fünf Mann für Schreibarbeiten!« sagte er laut.

»Los! Melden!« zischte Karl Georg.

Möller, Sauerbrunn, Kerner, Georg und Fischer traten vor. Uschomi musterte sie.

»Ihr!« Er grinste. »Die Auslese der deutschen 6. Armee.«

Die fünf überhörten es. Sie sahen an die Decke und grinsten mit.

»Na, kommt schon!« Utschomi, der kleine Jude, war ein guter Kerl.

Er war beliebt und fühlte mit den Plennis. »Könnt ihr denn überhaupt schreiben?« fragte er, während sie über den verschneiten Platz gingen.

»Daß sie dir gleich an die Birne hauen!« sagte Peter Fischer fröhlich. »Wir haben anderes gelernt, als im Ghetto die Menschen zu bescheißen.«

Der Jude Utschomi lächelte zurück. Er hatte es sich abgewöhnt, jemals etwas übelzunehmen. Was nützte es auch, sich aufzuregen. Gott hatte seine Rasse und sein Volk verflucht . und er litt mit orientalischem Gleichmut und war glücklich, wenn ihn niemand tätlich angriff.

Vor der Kommandantur baute Utschomi die fünf im Schnee auf und ging in das Haus.

»Gleich spielen wir Schneemann«, meinte Karl Georg. Er klopfte den Schnee aus seinen Haaren. In der Eile hatte er vergessen, seine Mütze mitzunehmen.

Der riesige Wald stand wie eine weiße Kulisse am Horizont und schien sich im Grau des niedrigen Himmels aufzulösen.

Aus der Kommandantur trat Major Worotilow. Er musterte die fünf Freiwilligen und nickte.

»Hereinkommen«, sagte er ziemlich freundlich. Und als sie in den Vorraum kamen und den Schnee abschüttelten, meinte er ernst: »Soll ich euch vereidigen, oder haltet ihr so die Schnauze?«

Karl Georg schüttelte den Kopf. »Es wird auch so gehen, Genossen, was?«

Worotilow riß die Augenbrauen hoch. Einen Moment überzog Verblüffung sein dickes Gesicht. Dann lächelte er und klopfte Georg auf die schmale Schulter.

»Ihr seid verfluchte Kerle . Genossen.«

Nur Julius Kerner hörte den Doppelsinn heraus. Er wurde blaß vor Angst.

Seit dem Weggang Dr. von Sellnows war die Kasalinsskaja von Tag zu Tag hysterischer geworden. Sie konnte ihr Kopfkissen zerfetzen und sich darüber wundern, warum sie es tat. Sie biß sich die Lippen blutig und staunte, daß sie bluteten. Dr. Böhler sah es mit Schrek-ken. Kresin hatte einmal zu ihm gesagt: »Wenn die Kasalinsskaja Sellnow nicht wiederbekommt, wird sie verrückt«, aber er hielt das für eine der massiven Übertreibungen des russischen Arztes. Jetzt sah er mit Schrecken, welche Formen die Nymphomanie der Ka-salinsskaja annahm.

»Wir können Sellnow unmöglich wieder zurück ins Lager holen«, sagte er zu Dr. Kresin. Sein Gesicht war in den Sommermonaten noch schmaler geworden, die Nase saß darin wie ein scharfer Haken. Die Bräune, die sein Aufenthalt im Lager 12 mit sich gebracht hatte, belebte noch die Haut. »Wenn wir ihn wieder mit der Kasalinsskaja zusammenbringen, ist es unmöglich, dieses Verhältnis vor aller Welt zu verbergen. Der erste, der es erfahren würde, wäre Markow. Und er würde mit Wonne dafür sorgen, daß in Moskau unser Lager gestrichen wird. Es ist ganz unmöglich.«

»Alexandra wird uns noch die Wände hochgehen.« Kresin rauchte erregt seine orientalischen, starken Zigaretten. Er sah Dr. Böhler hilflos und flehend an. »Der Teufel kenne sich mit den Weibern aus!«

»Versetzen Sie sie doch.«

»Das möchte ich Ihren Kameraden nicht antun.«

Dr. Böhler zog die Augenbrauen hoch. »Wieso?«

»Wenn ich die Kasalinsskaja versetze, ist das, als ob man einen wilden Tiger in Freiheit setzt. Sie würde in ein anderes Gefangenenlager kommen und dort mit einer Rücksichtslosigkeit herrschen, die an organisierten Mord grenzt. Es gäbe überhaupt keine Kranken mehr, sondern nur Lebende und Tote! Gott sei's geklagt, wir kennen ja das verdammte Weibsstück! Und seitdem die Janina wieder so krank ist, hat sie einen Haß auf alle Männer bis auf den, zu dem sie ins Bett kriecht.«

Dr. Böhler kaute an der Unterlippe. Nervös zerdrückte er die hal-bangerauchte Zigarette. »Nymphomanie ist eine unheilbare Krankheit, ich weiß. Es gibt da moderne Arten von Hormonbehandlungen, aber was nutzt uns das an der Wolga? Wissen Sie einen anderen Weg als den, Sellnow zurückzuholen?«

Dr. Kresin zuckte mit den Schultern. »Wenn der Bock nicht zur Ziege kommt, muß die Ziege zum Bock! Wir werden die Kasalinsskaja zwei Wochen beurlauben und nach Stalingrad schicken. Dort wird sie den armen Sellnow schon noch kriegen.«

»Ihre Ausdrucksweise ist ordinär«, sagte Dr. Böhler verschlossen.

»Das ganze Leben ist ordinär!« Dr. Kresin spuckte ins Zimmer. Ein Faden des süßlichen Tabaks hatte sich aus dem Mundstück der Zigarette gelöst und war auf seine Zunge geraten. »Nur wir Gebildeten machen um das Ordinäre des Lebens einen Samtmantel und kleiden das Schwein in Seide und Spitzen. Der Primitive sagt und sieht es so, wie es ist. Und ich bin noch so herrlich primitiv.«

Es klopfte. Dr. Kresin öffnete selbst und sah auf den kleinen Aaron Utschomi herab, der für den Kommissar wie ein Stift im ersten Lehrjahr hin und her jagte.

»Dr. Böhler soll zum Kommandanten kommen! Die neuen Kommunisten werden untersucht.«

»Wie nett.« Dr. Kresin schlug die Tür zu und ließ Utschomi draußen stehen. »Es haben sich aus unserem Lager 392 Mann gemeldet, die ihr Herz für Väterchen Stalin entdeckten.« Er sah Dr. Böhler an. »Warum Sie eigentlich nicht unser Angebot annehmen.«

»Sie kennen meine Ansicht, Dr. Kresin. Wir brauchen gar nicht mehr darüber zu reden.«

»Es ist ein Armutszeugnis für uns, daß wir Ihren Stolz in all den Jahren noch nicht gebrochen haben. Selbst Waldlager 12 war eine leichte Pille für Sie!«

»Eine ziemlich schwere.« Dr. Böhler knöpfte seine Steppjacke zu und setzte die Ohrenmütze auf. »Sie hat mich erst richtig dazu bewogen, so lange zu bleiben, bis der letzte in der Heimat ist oder mit mir hinausfahrt aus Ihrem grauenhaften Rußland.«

»Für das >grauenhaft< müßte ich Ihnen eine Ohrfeige geben.«

»Aber Sie tun es nicht. Im Grunde sind Sie europäischer, als Sie es sich selbst eingestehen! Sie wären ein gutes Beispiel für einen Psychologen.«

Dr. Kresin hob die Augen zur Decke und seufzte tief.

»Daß man Sie nicht umbringen darf..«, murmelte er.

Zusammen stapften sie durch den Schnee der Kommandantur zu. Der Wind trieb ihnen die Flocken peitschend ins Gesicht. Sie duckten sich tief und stemmten sich dem Wind entgegen. Die Wachttürme, die Baracken, die Küche - alles lag wie hinter einem dichten Schleier. Die Spuren ihrer Füße verwehten sofort und füllten sich mit neuem Schnee.

Vor der Kommandantur standen in langen Reihen die Plennis im Schneesturm. Sie froren und zitterten und drängten sich eng zusammen, um sich zu wärmen. Wie ein verschneiter Hügel sahen sie aus.

Dr. Kresin nickte mit dem Kinn zu ihnen hin.

»Die neuen Kommunisten. Ein kleiner Vorgeschmack zur Eignungsprüfung. Erst frieren sie, dann wird ihnen eingeheizt. Kommissar Kuwakino hat alte, erprobte Methoden der Auslese.« Er lachte dröhnend. »Der Dienst bei Mütterchen Rußland ist ebenso schwer wie der der Eunuchen im alten China.«

Aus dem Vorraum der Kommandantur schlug ihnen heiße Luft entgegen und nahm ihnen einen Augenblick den Atem.

Major Worotilow trat aus seinem Zimmer und nickte ihnen zu. Dabei fiel sein Blick auf die zitternden Gestalten vor dem Haus, auf diesen Haufen Leben im Schneesturm. Mit dem Fuß stieß er die Tür auf. Sein Gesicht war verschlossen, als er sich Dr. Böhler zuwandte.

»Sie werden die Kerle dort untersuchen. Kleinste Fehler und Krankheiten scheiden aus! Ich bitte um strengste Maßstäbe.«

»Um kasalinsskajanische Maßstäbe?« fragte Dr. Böhler.

Worotilow wandte sich ab und schwieg.

Kommissar Wadislav Kuwakino sah Dr. Böhler aufmerksam entgegen, als sie das große Zimmer betraten. Die fünf Schreiber schnellten empor und nahmen stramme Haltung an. Dr. Böhler überflog sie mit einem Blick. Die? dachte er. Die führen die Listen?

Er hatte plötzlich keine Sorge mehr, ungerecht sein zu müssen. Und er übersah - vielleicht zufällig - die Hand, die ihm Kommissar Kuwakino entgegenstreckte.

»Fangen wir an«, sagte er. »Sonst kann ich die Hälfte mit Erfrierungen ins Lazarett schicken.«

Wadislav Kuwakino nickte wütend, mit zusammengebissenen Zähnen. Schnell zog er seine Hand zurück.

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