AUS DEM TAGEBUCH DES DR. SCHULTHEISS:


Wenn diese Nacht doch bald vorüber wäre.

Der Oberfähnrich schläft, endlich schläft er. Auf seinen eingefallenen Wangen und in den Augenwinkeln liegen noch die Tränen. Seine Brust wird von Schluchzen geschüttelt. Vor einer halben Stunde schaute die Kasalinsskaja hinein und gab mir eine große Ampulle Morphium für ihn. Noch immer ist der Leib stark aufgetrieben und hart.

Aber jetzt schläft er, ruhig und gleichmäßig geht sein Atem. Der Puls ist fast normal, und das ist es, was mich stutzig macht.

Vor einer Stunde noch lag er hier und weinte. Er hatte meine Hand ergriffen, und ich hielt seine heißen, zuckenden Finger und beugte mich über ihn. In seinen Augen lag die nackte Angst, sie starrten mich übergroß an, geweitet in grauenhaftem Entsetzen.

»Muß ich sterben, Doktor?« schluchzte er. »Muß ich denn wirklich sterben? Ich bin erst 23 Jahre alt.«

»Wer sagt denn, daß du sterben mußt?«

»Ich fühle es. Mein Leib ... mein Leib .es ist wie Feuer! Als wenn man ihn ausbrennt.«

»Wir haben dich operiert. Du hattest einen dicken, vereiterten Blinddarm, den haben wir dir weggeschnitten. Und jetzt wird alles gut.«

Er faßte wieder nach meiner Hand. »Ich werde sterben«, flüsterte er, während ich seine aufgesprungenen Lippen mit einem feuchten Lappen kühlte, denn trinken durfte er ja nichts. »Es wird meine Buße sein . meine Buße.« Seine Stimme verlosch, in seine Augen trat jener weite Blick, der mich erschrecken läßt, wenn ich ihn sehe.

»Du hast doch mit deinen 23 Jahren nichts zu büßen«, sagte ich tröstend.

»Ich war feig!« Er schrie es mit solcher Heftigkeit heraus, daß ich zurückprallte und Mühe hatte, ihn auf sein Lager zurückzudrücken.

»Mit 19 kam ich von der Kriegsschule ... aus Potsdam und Eberswalde. Als Oberfähnrich nach Stalingrad . drei Monate Frontbewährung, dann war ich Offizier, ein junger Leutnant, auf den mein Vater stolz gewesen wäre. Ich ging hinaus nach Rußland und warf mich in den Dreck von Stalingrad. Ich wollte tapfer sein, ich wollte in Ehren heimkehren. Und ich übernahm eine Kompanie und grub mich an der Traktorenfabrik ein. Dann trommelten sie . sie trommelten Tag und Nacht . ohne Unterbrechung, ohne Stillstand, ohne einmal Atem zu schöpfen . sie trommelten, Meter um Meter pflügten sie den Boden um, sie ließen nichts aus .sie trommelten aus Tausenden Geschützen, und dann stürmten sie . wie Ameisen, erdbraun gefärbt, krochen sie aus den Löchern und Bunkern, aus den Trümmern und verbogenen Stahlgerüsten. Uuuuurääääh schrien sie . dieses schreckliche Uuuuurääääh, das bis ins Mark geht. Tataren und Mongolen, Kirgisen und Kalmücken . sie stürmten auf uns zu und schrien beim Laufen, während unsere Maschinengewehre sie umtobten. Ich lag in meinem Loch, meine silbernen Litzen leuchteten, ich war ja Oberfähnrich und Kompanieführer . sie blickten auf mich. Ich aber lag in meinem Loch und hatte Angst, hundsgemeine Angst! Wissen Sie, Doktor, was Angst ist? Wenn man nicht mehr atmen kann, wenn das Herz aussetzt, wenn der Puls rast? Und dort kam der Russe, der keine Gefangenen macht und den Verwundeten die Augen aussticht. Wir haben es ja geglaubt, wir Jungen von der Kriegsschule, wir Abiturienten, die wir nur die Silbertressen sahen, aber nicht, was dahintersteckt. Und nun kamen sie auf mich zu. Hunderte von diesen braunen Teufeln, und sie kamen näher, immer näher. Da habe ich die Arme hochgehoben . ich, der Oberfähnrich Graf Burgfeld, der Kompanieführer . ich habe die Arme hochgehoben und vor Angst geschrien, während neben mir ein MG stand mit 10.000 Schuß Munition. 10.000 Schuß! Und sie kamen heran wie die Figuren auf einem Schießplatz, ich brauchte nur abzudrücken, und sie fielen um. Aber ich tat es nicht, ich konnte es nicht . ich schrie vor Angst und hob die Arme hoch. Ich, der Kompanieführer . aber ich war erst 19 Jahre alt.« Er warf

den Kopf zur Wand hin und begann wieder haltlos zu schluchzen. »Und dafür büße ich jetzt... für meine Feigheit, für meine Angst ... und ich weiß, daß ich sterben werde ... sterben muß!«

Ich konnte ihm nicht helfen. Ich konnte nur seine heiße, zuckende Hand halten und sie immer wieder streicheln.

Gegen vier Uhr morgens wurde der Kranke plötzlich sehr unruhig, klagte über heftige Schmerzen im Oberbauch, bekam einen Schluckauf, der ihn jedesmal vollkommen durchschüttelte, und fing an zu brechen. Es war ein Brechen, das ohne Würgen und ohne Anstrengung vor sich ging. Es sprudelte den Mageninhalt einfach oben heraus.

Ich erschrak zu Tode, denn auch der Puls war plötzlich sehr schlecht, und der Kranke sah verfallen aus, mit eingesunkenen Augen und fahler Gesichtsfarbe.

Ich rannte aus dem Zimmer und klopfte bei Dr. Sellnow. Er kam im Hemd und eilte an das Bett des Oberfähnrichs. Ein Blick genügte ihm, um ihn in seiner bekannten Art fluchen zu machen.

»Eine Schweinerei«, schrie er unbeherrscht, »aber das war ja vorauszusehen, daß das in diesem Sauladen nicht anders gehen würde. Wir müssen den Chef holen.«

»Ist es ganz hoffnungslos?« fragte ich leise.

Er muß aus meiner Stimme die Angst herausgehört haben, denn er sah mich groß an.

»Warum? Haben Sie noch nie einen Menschen sterben sehen?«

»Keinen, bei dem es mir so nahegehen würde!«

»Kennen Sie denn den Knaben?« Er deutete mit dem Kopf auf den stöhnenden Oberfähnrich.

»Jetzt ja«, sagte ich zögernd.

Die Drohung Worotilows fiel mir ein: »Wenn der Patient stirbt, werde ich Sie alle wegen Mordes melden!« Eine tierische Angst ergriff mich. Ich stand auf und rannte in dem engen Raum hin und her. Er darf nicht sterben! Er darf nicht! Er zieht uns ja alle mit in den Tod, uns alle.

Dr. Böhler kam ins Zimmer, hinter ihm Sellnow, immer noch im

Hemd. Auch die Kasalinsskaja erschien jetzt. Sie beugte sich neben Dr. Böhler über den Stöhnenden.

»Wieder aufmachen?« fragte sie leise.

»Wird wohl nichts anderes übrigbleiben«, erwiderte Dr. Böhler kurz und richtete sich auf.

Böhler, Sellnow und die Kasalinsskaja traten einige Schritte zurück und steckten die Köpfe zusammen.

»Schwierige Diagnose«, flüsterte Böhler. »Wahrscheinlich ist es eine Peritonitis mit Darmlähmung, aber es kann ebenso ein halbes Dutzend anderer Sachen sein.«

»Was denn?« fragte die Kasalinsskaja.

»Verstopfung eines Darmgefäßes, eine Arterien- oder eine Venenthrombose, eine akute Pankreatitis oder ein Ileus. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich werde eine Probe-Laparotomie machen, und wir werden sehen; wahrscheinlich ist es doch eine Bauchfellentzündung mit Darmlähmung, und wir müssen einen Kunstafter anlegen. Glauben Sie, daß wir irgendwo Instrumente und Medikamente für eine Dauertropfinfusion oder eine Bluttransfusion auftreiben könnten?«

»Woher?« Die russische Ärztin zuckte mit den Schultern. Sie trug ein langes Nachthemd und darüber einen leichten Kimono.

»Fragen Sie bitte Dr. Kresin«, sagte Böhler, »er hat mir volle Unterstützung versprochen.«

Emil Pelz erschien mit zwei seiner Gehilfen, und sie hoben den immer noch stöhnenden Kranken auf die Tragbahre.

Dr. Böhler sah mich an. »Sie legen sich hin, Schultheiß«, sagte er streng, »ruhen Sie sich aus. Sellnow wird assistieren und die Ärztin. Sie werden dann die Pflege des Frischoperierten übernehmen.«

»Jawohl, Herr Stabsarzt.«

Die Bahre wurde hinausgetragen. Noch auf dem Flur vernahm ich das Wimmern des Jungen, des Kompanieführers mit neunzehn Jahren, der die Hände vor Angst hochhob, anstatt seine zehntausend Schuß zu verschießen.

Nun ist es früher Morgen, Dämmerung liegt über dem Lager. Dort, wo sich die Wälder zum Ural dehnen, bleicht der Himmel. Die Posten auf den Wachttürmen frieren ... ich sehe es, weil sie die Arme gegen die Brust schlagen. In Rußland sind auch die Sommermorgen kalt.

Auf der Latrine in der Nähe der Küche ist schon Betrieb. Die zur Küche Eingeteilten schlurfen über den Platz. Bascha steht an der Tür. Sie lacht über ihr breites Gesicht ... ihre starken Hüften zeigen sich unter dem dünnen Kleid.

Sogar Leutnant Markow ist schon auf. er sieht blaß aus und ist wieder schlechter Laune. Wann hat er je einmal gute Laune?

Jetzt ist die Sonne da . sie strahlt über den Platz, die Dächer der Baracken flimmern. Die Kolonnen der Nachtschicht rücken ein. Sie sind müde und torkeln vor Erschöpfung über den sandigen Platz. Tiere, die man zuschanden treibt. Atmende Gerippe. Der Oberfähnrich schläft wieder in seinem Bett.

Die zweite Operation ist gut verlaufen. Es war doch eine Bauchfellentzündung mit Darmlähmung. Aus seiner linken Seite läuft aus dem Drän immer noch Eiter in einen Haufen Mull.

Böhler hat einen Kunstafter angelegt, den er so lange tragen muß, bis die Bauchfellentzündung abgeklungen ist und die Därme ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Wenn es dazu überhaupt noch jemals kommen sollte. Aber jetzt schläft er ruhig.

Die Sonne ist jetzt schon warm, es wird ein heißer Tag werden. Ich habe Sehnsucht nach Vater und Mutter und möchte weinen.

Stalingrad, Tingutaskaja 43.

Ein niedriges, neues Haus mit blanken Fenstern in einem großen Garten, nahe an der in der Sonne glitzernden Wolga.

Rings um das kleine Haus die Gerüste der Neubauten: Fabriken, Arbeitersiedlungen, Kinos, Theater, Geschäfte der staatlichen Kon-sume, ein großes Gebäude der Partei, ein Denkmal für die Befreiung Stalingrads. Und dazwischen die Wolga wie fließendes Silber, breit, herrlich, still. Majestätisch in ihrer Unendlichkeit.

Dr. Kresin hielt den kleinen Jeep an und schob die Tellermütze in den Nacken. Er stieß Dr. Schultheiß in die Seite und nickte ihm zu.

»Hier sind wir. Ich will Ihnen noch einige Hinweise über Ihre Patientin geben. Janina Salja können Sie nichts vormachen. Seien Sie ehrlich zu ihr. Sie ist Leiterin der Sanitätsbrigade von Stalingrad. Sie weiß genau, was ihr fehlt, und hat mir selbst die Diagnose mitgeteilt: offene Tbc, im linken Obergeschoß eine dreirubelstückgroße Kaverne. Gewichtsverlust innerhalb eines halben Jahres zwanzig Pfund. Genügt das?«

»Haben Sie Aufnahmen?« fragte Dr. Schultheiß.

»Es liegen gute Röntgenbilder vor, die über die Krankheitsdauer hinweg aufgenommen sind«, nickte Dr. Kresin.

»Und was ist bisher getan worden?«

»Wenig: Ruhe, frische Luft, Liegekuren an der Wolga, gutes Essen, Sahne, frisches Gemüse und Lebertran. Es ist ein Versuch mit Tuberkulin gemacht worden, zur Bekämpfung des Hustenreizes bekommt die Patientin Guajakol und für die Nächte Codein.«

»Der Erfolg war natürlich negativ?«

Kresin nickte wortlos. Er kletterte vom Sitz und klopfte an die Balkentür. Ein Rotarmist öffnete und grüßte, als er den Arzt sah. »Ist Genossin Salja da?« fragte Kresin.

»Jawohl.« Der Soldat blickte auf den Gefangenen. »Der deutsche Arzt?«

»Mach schon auf, du Idiot!« schrie Dr. Kresin. Er trat gegen die Tür. Sie sprang auf, krachte gegen die Wand und schlug wieder zurück. »Kommen Sie«, sagte er zu Dr. Schultheiß, »hier ist alles mißtrauisch, weil alle ein schlechtes Gewissen haben.«

Sie durchschritten einen großen Raum, sparsam möbliert, traten durch eine Fenstertür ins Freie und sahen zwischen den blühenden Sträuchern in einem Korbstuhl eine zarte Mädchengestalt sitzen. Rötlichblondes Haar lag eng um den schmalen Kopf, aus dem große, fiebrig glänzende Augen leuchteten. Blaue Augen.

Dr. Schultheiß verbeugte sich und wartete ab, was Dr. Kresin sagte. Dessen Russisch war viel zu schnell, als daß er mehr als ein paar Worte hätte verstehen können. Aber dann sah ihn Salja an und reichte ihm die Hand. Er ergriff sie zögernd, seit Jahren daran gewöhnt, einem Russen nicht die Hand geben zu dürfen.

»Worotilow schickt Sie?« sagte sie mit schleppender, müder Stimme. »Ob es noch Zweck hat, Doktor?«

Schultheiß wunderte sich über ihr gutes Deutsch und nickte. »Bestimmt. Ich werde versuchen, was ich kann. Sie sollen wieder gesund werden.«

Dr. Kresin wischte mit der Hand durch die Luft. Er tat es immer, wenn er unwillig war. »Keine langen Reden. Gehen wir ins Haus, Genossin, und lassen Sie uns mit der Untersuchung beginnen.«

Janina Salja erhob sich. Sie ging ihnen wortlos voran, ihr Gang war so müde wie ihre Sprache, aber im Wiegen ihrer Hüften lag noch etwas von ihrer verlorenen Schönheit. Es war etwas Katzenhaftes, Gleitendes, Tastendes an ihr, das Dr. Schultheiß aufmerksam machte.

In ihrem Schlafzimmer fuhr sie sich mit der Hand durch die kurzen Haare, sah flüchtig zu Schultheiß hin und begann dann, sich ungeniert auszuziehen. Sie streifte das Kleid ab und legte sich aufs Bett. Dabei schloß sie die Augen und kreuzte die Arme hinter dem Nacken. Ihre Haut war fahl und von einer dünnen Schicht Schweiß überzogen.

Dr. Kresin schob Schultheiß ein Stethoskop hin. »Fangen Sie schon an«, sagte er grob. »Ich hole die Röntgenplatten.«

Die Sonne lag auf ihrem zarten Oberkörper, als sich Schultheiß mit dem Hörrohr über sie beugte. Eine starke Erregung ließ das Blut in seinen Adern rauschen, so daß er die Atemgeräusche der Lunge nicht vernahm und nicht das Hämmern des Herzens. Schweiß trat auf seine Stirn. Er schloß die Augen und zwang sich, auf ihren Atem zu lauschen.

Die Tuberkulose sieht man - man hört sie nicht, dachte er, das ist eine alte Regel, die sich immer wieder bestätigt. Dennoch klopfte er den Brustkorb ab und gab sich Mühe, die Kaverne zu auskultieren. Es gelang natürlich nicht.

Er wandte sich ab. »Bitte, ziehen Sie sich wieder an.« Er hörte das

Rascheln ihres Kleides. Als er sich umdrehte, sah er sie vor dem Spiegel stehen und sich die Haare kämmen. In ihrem Nacken kräuselten sich ein paar Locken.

»Ich bin wohl sehr krank?« fragte sie und lächelte seinem Spiegelbild ein wenig verzweifelt zu.

Schultheiß zuckte die Achseln und sagte: »Ich muß mir erst die Röntgenbilder ansehen. Wenn das stimmt, was mir Dr. Kresin sagte, so müssen Sie eisern liegen und nichts als liegen. Alkohol und Tabak sind streng verboten.« Er nahm eine Packung kaukasischer Zigaretten von dem Nachttisch neben ihrem Bett und zerbröckelte sie zwischen den Fingern. »Sie müssen sehr folgsam sein.«

»Mein Bruder starb in deutscher Gefangenschaft.« Sie legte den Kamm hin und strich über ihr Kleid. »Er arbeitete bei Moers im Bergwerk und starb an Furunkulose.«

»Ach!«

»Vielleicht hätte ihn ein deutscher Arzt retten können, aber er wollte keinen deutschen Arzt. Er war Jungbrigadier und fanatischer Kommunist. Ich bin es auch ... aber noch mehr liebe ich das Leben.«

Dr. Kresin trat ins Zimmer und sah sich erstaunt um. »Schon fertig?« brummte er. Er hielt Dr. Schultheiß einige Röntgenaufnahmen hin und stellte sich neben ihn. Gegen die Sonne trat deutlich die große Kaverne in der Lunge hervor. Dr. Kresin blickte den deutschen Arzt von der Seite an.

»Na?« murmelte er, »was wollen Sie tun?«

»Einen Pneumothorax.«

»Idiotie! Woher soll ich das Gerät nehmen!«

»Hat das Krankenhaus von Stalingrad keine Apparatur?«

»Ja, aber die bekomme ich nicht.«

»Außerdem muß sie unter ständiger ärztlicher Aufsicht stehen. Wir haben doch im Lager eine ganz gute Lungenstation . dort könnte man sie laufend beobachten.«

Dr. Kresin warf die Röntgenbilder auf das Bett. »Ins Lager? Sie sind wohl völlig verrückt! Sie können doch Janina Salja nicht zwischen die dreckigen deutschen Gefangenen legen!«

Schultheiß zuckte mit den Schultern. »Ich bin auch ein dreckiger deutscher Gefangener. Dann machen Sie allein weiter, Dr. Kre-sin.«

»Ich könnte sie an die Krim schicken, an das Asowsche Meer. Dort haben wir gute Lungenheilstätten.« Dr. Kresin sagte es langsam und nachdenklich. »Auch am Kaspischen Meer, bei Astrachan, gibt es gute Kliniken. Aber sie will ja nicht hingehen. Sie weigert sich rundweg.«

»Ich denke gar nicht daran«, schrie Janina Salja plötzlich leidenschaftlich, »ich lasse mir doch nicht von denen eine Plastik machen und mir dabei die ganze Brust zersäbeln.«

Schultheiß trat auf sie zu. Er legte ihr beruhigend beide Hände auf die Schultern und drückte sie auf einen Stuhl.

»Es ist ja gar nicht nötig, Fräulein Salja«, sagte er beruhigend, »aber wenn man in diesem Land nicht einmal die simple Apparatur für das Anlegen eines Pneumothorax auftreibt.«

»Wenn Sie nicht alle Vollmachten von Major Worotilow hätten, schlüge ich Sie jetzt in die Fresse!« brüllte Dr. Kresin wütend, »Sie verfluchter deutscher Hund!«

Janina sprang auf und legte Kresin ihre Hand auf den Arm. »Warum soll ich nicht mit ins Lager gehen? Wenn es für mich besser ist. Worotilow wird es erlauben.«

»Genossin Salja!« Dr. Kresin keuchte. »Wenn das in Moskau bekannt wird, wenn eine Inspektion kommt . wir können es nicht!«

Janina sah Dr. Schultheiß aus ihren fiebrigen Augen an. Ihr Blick war so hell und klar, daß es Schultheiß wie ein Zittern durch den Körper lief. »Als Leiterin der Sanitätsbrigade Stalingrad unterstehen mir auch die Arbeiter des Lagers 5110/47. Sie arbeiten in Stalingrad, sie werden von meiner Brigade betreut auf den Arbeitsplätzen. Wenn eine Kontrolle mich im Lager antreffen sollte, dann kann ich einfach sagen, daß ich die deutschen Arbeiter inspiziere.«

»Dazu ist Dr. Kasalinsskaja da.«

»Mit ihr werde ich mich gut verstehen.«

»Hoffentlich.« Dr. Kresin zuckte mit den Schultern und packte das Stethoskop ein. »Ich werde es dem Major sagen. Auf Wiedersehen, Genossin.«

»Auf Wiedersehen, Genosse Kresin.«

Wieder reichte sie Dr. Schultheiß die Hand. Er spürte den Druck ihrer schmalen Finger. Aber ihr Gesicht war unbeweglich und bleich. Die Sonne ließ ihr Haar rot aufleuchten.

Im Lager hatte der erste Tag mit 100 Gramm Brot weniger begonnen. 100 Gramm - das bedeutete eine Mahlzeit weniger von diesem klitschigen, feuchten, schwer im Magen liegenden Gebäck.

Das bedeutete siebenmal 100, 700 Gramm Brot weniger in der Woche und damit 700mal verstärkte Hungerqual und schmerzhaftes Bohren in den Eingeweiden.

Es hatte sich längst herumgesprochen, daß Bascha Tarrasowa auf einen neuen Seidenschal verzichtete. Aber Major Worotilow war unerbittlich, und Leutnant Markow baute die Strafe zu einer Schikane aus, unter der die Plennis keuchten und fluchten. Es nutzte nichts, daß die Baracke VII in Block 5 in einen Hungerstreik trat. Markow betrat sie mit fünf Soldaten und baute ein Maschinengewehr in dem langen Raum auf, legte die Tagesrationen auf die Tische und kommandierte: »Alles fressen!« Da krochen die hungernden Gestalten von den Pritschen und hinter den Spinden hervor und verzehrten unter dem Lauf des Maschinengewehrs ihre Portion. Leutnant Markow lachte, als er die Baracke verließ.

Karl Georg versuchte an diesem Tag seine Tulpen zu verkaufen. Er hatte lange gezögert, ehe er sie abschnitt und wie Kleinode in die Baracke trug. Dort hatte er sie noch einmal allen Kameraden gezeigt, ehe er sie unter dem Hemd verbarg und zur Waschbaracke schlich, wo der Kirgise in der Sonne faulenzte und seine Zigarette rauchte.

»Hier, du Sauviech!« sagte Karl Georg und hielt ihm die Tulpen hin. »Für dein Mädchen, die alte Hure! Zehn Rubel!« Er hob beide Hände hoch und zeigte alle Finger.

Der Kirgise lachte breit. Er griff in die Tasche, legte sechs Rubel auf einen Schemel, nahm die Blumen aus Georgs Hand, trat ihm in den Hintern und schrie lachend hinterher, als der Deutsche mit seinen sechs Rubeln wegrannte. Dort standen Hans Sauerbrunn, Julius Kerner und Karl Eberhard Möller und fingen den wütend vor sich hinfluchenden Georg ab.

»Sechs Rubel«, sagte Kerner nachdenklich. »Wenn wir uns alle in den Hintern treten lassen, macht das noch mal achtzehn Rubel.« Da keiner der anderen lachte, ging Kerner brummend in die Baracke und legte sich auf seine Pritsche.

Ein Glanzstück leistete sich ein Mann aus Baracke VIII, Block 12. Er verkaufte den Schlips eines Bauunternehmers, den er diesem am Tag zuvor in Stalingrad gestohlen hatte, an einen Mongolen als Schärpe für zwölf Rubel. Der Mongole trug den Schlips um den Leib bis 12 Uhr mittags . da sah ihn Leutnant Markow, gab ihm ein paar schallende Ohrfeigen und entriß ihm die Krawatte. Da der Mongole den Mann, der ihm den Schlips verkauft hatte, nicht mehr beschreiben konnte, blieb auch dieser Fall ungeklärt.

Am Abend dieses ersten Tages hatte das Lager 130 Rubel zusammen. Nach der abendlichen Zählung wurde der Betrag durch Sanitäter Emil Pelz an Dr. Böhler weitergegeben, der das Geld sinnend in der Hand wog.

»Man könnte heulen«, sagte er zu Sellnow. In einer Ecke des Arztzimmers saß Dr. Schultheiß und führte das Tagebuch der Station.

»Oberfähnrich Graf von Burgfeld unverändert«, trug er ein. Dann besann er sich, daß es hier keinen Grafen gab, sondern nur eine Nummer. Er strich den Namen durch und schrieb darüber: »Nummer 4583.«

Er legte den Bleistift hin und starrte auf seine Schriftzeichen. Der bleiche Körper Janina Saljas schälte sich aus den Buchstaben, dieser schlanke, unwirklich zarte Körper mit dem leichten Schweiß der Schwindsucht darüber. Er dachte plötzlich an den großen Major Worotilow, an diese stämmige, lebensstrotzende Gestalt mit Beinen wie zwei Säulen, und empfand einen ekelhaften Geschmack dabei, als seine Gedanken weiterglitten und Salja als des Majors Geliebte sahen. Das Mädchen wie ein Hauch und der Mann wie ein Baumstamm. Vielleicht zerbrach sie unter seinen Händen, und es gab keine andere Heilung, als Janina von Worotilow zu lösen.

Der Gedanke beflügelte ihn, machte ihn fast heiter.

Dr. Böhler schüttelte den Kopf und legte die 130 Rubel auf den Tisch.

»Unser Unterarzt träumt«, stellte er sachlich fest. »Ein merkwürdiges Lazarett: einen überpotenten Oberarzt und einen träumenden Unterarzt.«

»Und einen Heiligen als Chefarzt«, warf Sellnow sarkastisch ein. »Wo haben Sie überhaupt heute vormittag gesteckt, Schultheiß? Sie sollten sich ausschlafen, und als ich Sie wecken wollte, war Ihr Bett leer und gar nicht berührt.«

»Ich wurde von Dr. Kresin gebraucht«, sagte Dr. Schultheiß schnell. »Er wollte noch einmal die Listen unserer Bestellungen durchgehen. Ich glaube, wir bekommen eine Pneumothorax-Einrichtung.«

»Das wäre wunderbar!« rief Dr. Böhler begeistert. »Dann könnte ich unsere Lungenstation ausbauen!«

»Ja, das könnten wir dann.« Schultheiß schloß das Tagebuch und schob es in ein Regal. »Ich gehe einmal nach dem Oberfähnrich sehen.«

»Ein merkwürdiger Junge.« Sellnow schüttelte den Kopf, als sich die Tür hinter dem jungen Arzt schloß. »Begabt, ungemein begabt. Das habe ich in den letzten Tagen in Stalingrad gesehen. Er hat amputiert, während der Keller unter dickem Beschuß lag. Und er hat nicht dabei gezittert. Er vernähte gerade einen Stumpf, als die ersten Russen in den Keller drangen. Sie haben ihn nicht gestört, sondern gleich ihre Verwundeten gebracht. Wir haben dann sechs Tage nur Russenleiber geflickt.«

Dr. Böhler schien nicht hingehört zu haben. Er sah aus dem Fenster und bemerkte Leutnant Markow, der vor der Baracke III stand und mit Karl Georg herumschrie. Der Gärtner lehnte an der Wand und hatte seine Harke in der Hand. Es sah aus, als wolle er jeden

Augenblick zuschlagen.

»Wo sind Blumen, du Schwein?!« brüllte Markow. Er hatte plötzlich bei einem Rundgang die gewohnten bunten Flecke auf dem Rasen vermißt und war bestürzt stehengeblieben.

Karl Georg zuckte mit den Schultern. »Schon wieder geklaut«, stellte er nüchtern fest.

»Morgen sind wieder Blumen da!« schrie Markow ihn wütend an.

»Ich bin kein Gott!« schrie Georg zurück. Das verblüffte Piotr Markow. Er drehte sich um und stapfte davon. Julius Kerner, der hinter der Barackentür stand, kam angstzitternd hervor.

»Du hast eine gottverfluchte Schnauze«, sagte er leise. »Das geht noch mal schief mit dir.«

»Leck mich am Arsch!« erwiderte Karl Georg und stellte die Harke hin.

Dr. Schultheiß ging an dem Zimmer der russischen Ärztin vorbei und zögerte. Dann wagte er es, anzuklopfen und einzutreten.

Alexandra Kasalinsskaja saß in einem Sessel. Die Beine hatte sie auf den runden Tisch vor sich gelegt. An den Fenstern waren die Vorhänge zugezogen. Es war kühl in dem Raum und halbdunkel. Es roch nach einem starken Rosenparfüm. Der Rock Alexandras war bis zu den Schenkeln heraufgezogen, ihre wohlgeformten Beine glänzten matt. Unter der dünnen Seidenbluse zeichneten sich ihre Brüste ab.

»Sie?« fragte die Kasalinsskaja gedehnt. Sie veränderte ihre Lage nicht, sondern deutete auf einen anderen Sessel. »Was wollen Sie?«

Zögernd setzte sich Schultheiß. Er mußte immer wieder auf ihre Bluse und auf ihre Beine sehen und dachte dabei an Dr. von Sellnow, der wütend wurde, wenn er Alexandra sah.

»Ich wollte Sie nur etwas fragen.«

»Bitte.«

»Kennen Sie Janina Salja?«

»Genossin Brigadeführer?«

»Ja.«

»Das lungenkranke Vögelchen des Majors? Aber ja. Woher ken-nen Sie die edle Kommunistin?«

Die Kasalinsskaja sah ihn lauernd an.

Schultheiß sah zu Boden. Das Flimmern in den Augen der Ärztin irritierte ihn. »Sie wird bald in unser Lager kommen«, sagte er langsam.

»Ach! Ist dem Major der Weg nach Stalingrad zu weit?«

»Salja ist sehr krank. Ein Pneu ist dringend notwendig. Dr. Kre-sin weiß es und will uns eine Apparatur besorgen. Ich habe sie untersucht.«

»Die Genossin Salja?« Dr. Kasalinsskaja staunte und nahm die Beine vom Tisch. »Wo soll sie wohnen?«

»Hier im Lazarett. Auf der Lungenstation. Ich dachte, Sie könnten mir helfen. Dr. Böhler und Dr. von Sellnow wissen nichts davon. Es darf keiner wissen.«

»Und was sagt Kresin dazu?«

»Er tobt. Aber es bleibt keine andere Wahl. Janina ist verloren, wenn wir nicht helfen.«

»Und wie wollen Sie helfen?«

»Durch Ruhe!«

»In der Nähe von Worotilow?« Alexandra Kasalinsskaja lachte schrill und schob ihren Oberkörper weiter vor. Ihre schwarzen Locken fielen über ihre Stirn ... sie sah wild aus wie ein Raubtier.

Ich kann Sellnow verstehen, dachte Schultheiß. Es ist eine Gemeinheit, eine Frau allein unter neuntausend Gefangenen herumgehen zu lassen, eine Frau wie die Kasalinsskaja, die alle mit einer einzigen Drehung ihres Kopfes oder ihres Körpers wahnsinnig macht!

»Worotilow ist sehr leidenschaftlich!« sagte sie rauh. »Janina wird hier vor die Hunde gehen.«

»Darf ich das Dr. Kresin sagen?« Dr. Schultheiß erhob sich.

»Sie dürfen es. Sie können es auch Worotilow sagen! Er kann mich sowieso nicht leiden.«

»Ich danke Ihnen.« Schultheiß verbeugte sich kurz und verließ das Zimmer. Auf dem Gang lehnte er sich erschöpft an die Wand und wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Janina,

Alexandra . es war furchtbar, wie ihn die Frauen plötzlich erregten. Er hatte doch früher nie dieses Gefühl gehabt, nie dies Pochen in den Adern gespürt, wenn er einem Mädchen gegenübertrat. Und ausgerechnet jetzt, wo er von Graupensuppe und klitschigem Brot lebte . war dieser Sellnow denn ansteckend?

Da kam er gerade den Gang entlang. Er war sehr ernst und faßte Dr. Schultheiß am Arm. »Ich suche Sie überall, wo stecken Sie nur? Nummer 4583 ist unruhig.«

Schultheiß überlief es kalt. Unruhig hieß im Krankenhaus, daß der Patient stirbt. Das Gesicht Sellnows verriet ihm alles, es war bleich und gezeichnet von der nagenden Sorge.

Wenn er stirbt, ist es in den Augen Worotilows ein Mord! Mord im Lager!

»Weiß es der Chef?« flüsterte Schultheiß.

»Er sitzt bei ihm am Bett. Der Darm arbeitet nicht, der künstliche After sondert nichts mehr ab - Temperatur 41, akute Herzschwäche.«

Sellnow biß sich auf die Lippen. »Wir müssen einen Geistlichen rufen. Haben wir einen im Lager?«

»Fünf evangelische Pastoren.«

»Nummer 4583 ist aber katholisch.«

»Gott ist überall, wenn man ihn braucht. Ich hole einen der Pastoren.«

Sellnow nickte. »Ich werde es dem Chef bestellen.«

Vor den Wäldern stand flimmernd die Luft, als Schultheiß auf den Lagerplatz trat. Sein Schritt wirbelte Staub auf. Die Posten auf den Wachttürmen standen im offenen Hemd und tranken Wasser. Auf dem Küchenplatz traf er Bascha im Gespräch mit Markow. Sie schien mit ihm zu schimpfen, denn sie drehte sich plötzlich um und zeigte ihm ihr fülliges Hinterteil.

An den Barackenwänden saßen die dienstfreien Gefangenen der Nachtschicht und genossen die Sonne. Im Schatten lausten sie ihre Hemden oder wuschen in Kübeln ihre Strümpfe und Wäsche. Karl Georg stand traurig in seinem Garten und betrachtete die ausgedörrte

Erde. Aus Worotilows Zimmer drang blecherne Radiomusik.

Trägheit des Sommers lag über der Erde. Schultheiß schloß einen Augenblick geblendet die Augen.

Einen Pfarrer. Der Oberfähnrich stirbt. Ob das Taschenmesser schuld war? Mord, hatte Major Worotilow gesagt. Mord, wenn er stirbt. Ihr alle seid dann Mörder ... ihr deutschen Schweine.

Und er stirbt. Warum schweigt Gott? Warum schweigt er jetzt? Gerade jetzt.?

Einen Pfarrer. Wir haben ihn alle nötig, wenn er stirbt.

Dr. Sergeij Basow Kresin kam über den Platz. Er faßte Schultheiß an den Schultern und rüttelte ihn.

»Was haben Sie?« brummte er. »Einen Sonnenstich? Sie sind ja ganz blaß, Sie schwanken! Was ist denn los.«

»Er stirbt!« schrie Dr. Schultheiß. »Ich muß einen Pfarrer holen.« Er ließ Dr. Kresin stehen und rannte die Lagergasse entlang zu Block IX.

Dr. Kresin sah ihm erstaunt nach, ehe er begriff.

»Einen Pfaffen!« sagte er verächtlich. »Wenn der Mensch versagt, kann auch Gott keine Frage beantworten.«

Er ärgerte sich über sich selbst, daß er Angst um Dr. Böhler hatte.

In dem kleinen Zimmer am Ende des Ganges saß Dr. Böhler, eine Spritze in der Hand. Sellnow stand schwitzend an der Tür und beobachtete das verfallene Gesicht des jungen Oberfähnrichs.

»Lassen Sie das Cardiazol weg, Chef«, knurrte er zwischen den Zähnen. »Wir werden es anderswo nötiger brauchen.«

»Ich habe noch 45 Ampullen aus dem alten Stalingrad-Lazarett.« Dr. Böhler blickte schnell zu seinem Oberarzt. »Sie haben ihn aufgegeben?«

»Ja. Er ist schon tot, nur sein Herz schlägt weiter, als könne es ohne Körper leben.«

»Ich glaube nicht an seinen Tod.« Dr. Böhler erhob sich und schob den Arm des Röchelnden zurecht. Unter der bleichen, fast gelblichen Haut erblickte er dick die Vene in der Armbeuge. »Solange das Herz mitmacht, gebe ich nicht auf!«

»Sie quälen ihn nur. Seinen Darm können Sie nicht retten! Seit fünf Jahren hat er nichts Richtiges zu verarbeiten gehabt ... er ist wie eine Wursthaut ohne Füllung, die zu lange in der Sonne lag.«

Dr. Böhler schüttelte stumm den Kopf und stieß die Nadel in die Vene. Vorsichtig zog er das Blut in die Glasröhre der Spritze, dann drückte er das Cardiazol in die Ader.

In der Tür stand plötzlich Dr. Kresin. Er hatte seine Tasche bei sich und stellte sich neben Dr. Böhler.

Sellnow lachte bitter. »Wo Aas ist, sammeln sich die Geier«, bemerkte er bissig.

»Keine Hoffnung?« fragte Dr. Kresin. Er überhörte die Bemerkung geflissentlich.

»Kaum.«

»Ein dritter Eingriff?«

Dr. Böhler erhob sich von dem Krankenbett und trat ans Fenster, das man mit einigen Lumpen verhangen hatte. Seine hagere Gestalt war nach vorn gebeugt.

»Ich habe viele Männer sterben sehen«, sagte er leise. »Es war mein Beruf geworden an der Front. Tausenden konnten wir helfen ... aber noch mehr starben, weil die äußeren Umstände sie sterben ließen -nicht wir, die Ärzte! Hätte ich hier einen richtigen Operationsraum, die richtigen Medikamente.«, er sah auf den fiebernden Oberfähnrich, »ich bekäme ihn durch.«

Dr. Kresin öffnete seine Tasche und warf den Inhalt auf den Tisch. Es war ein kleines, gepflegtes, modernes chirurgisches Besteck. Auch einige Ampullen Evipan lagen dabei, die Dr. Böhler ungläubig betrachtete.

»Sie haben Evipan.?«

»Ja!« Dr. Kresin lehnte sich brummend an die Wand. »Sie sehen es ja.«

»Und das sagen Sie mir erst jetzt?« Dr. Böhler drehte sich mit einem Ruck herum. »Seit drei Jahren habe ich hier das Lazarett, seit drei Jahren werfen Sie mir Knüppel zwischen die Beine, seit drei

Jahren operiere ich nicht, weil ich keine Betäubungsmittel und kein Besteck habe.!«

Dr. Kresins Gesicht war rot, er atmete schwer und schlug mit der Faust gegen die Holzwand. »Vergessen Sie nicht, daß Sie nur ein drek-kiger Gefangener sind!« sagte er grob. »Man sollte euch alle einfach verrecken lassen.«

»Und warum tun Sie es nicht? Warum dann so etwas?« Dr. Böhler wies auf das Instrumentarium.

Dr. Kresin stieß die Tür auf und trat hinaus auf den Gang. Über die Schulter hinweg brummte er halblaut: »Weil ich Sie für einen verdammt tapferen Arzt halte.«

Seine Schritte verhallten zum Ausgang hin. Sellnow sah ihm nach und schloß dann die Tür.

»Ein ausgesprochenes Edelschwein«, sagte er zornig. Er tastete nach dem Puls des Kranken und zuckte mit den Schultern. »Wollen wir wirklich noch einmal an ihm herumschnippeln?«

»Ja. Die dritte und letzte Operation.« Dr. Böhler legte die Hände flach an den Kopf, als spüre er ein heftiges Stechen in den Schläfen. »Wenn wir nur ein Infusionsgerät zur Bluttransfusion hätten«, sagte er langsam.

Dr. Schultheiß kam zurück. In seiner Begleitung befand sich ein kleiner, halbverhungerter Mann, dem das offene Hemd über der eingefallenen Brust schlotterte. Sein Gesicht, zerknittert, hohläugig, war erdgrau. Rissige Hände streckten sich den Ärzten entgegen.

»Der Pfarrer«, sagte Schultheiß leise.

Dr. Böhler drückte ihm die Hand. Die Innenflächen waren feucht, der Druck der Finger kraftlos, schlaff, weich wie Watte. Lungenkrank, dachte Dr. Böhler. Ich behalte ihn am besten gleich hier. Warum hat er sich nicht gemeldet.

»Ich werde noch einmal operieren«, sagte er halblaut. »Bitte, Herr Pastor, warten Sie hier auf uns. Wir werden Sie sehr, sehr nötig haben.«

Der Verhungerte nickte stumm. Langsam trat er an die Bahre und legte seine aufgesprungenen, vernarbten Hände fast zärtlich auf die

Stirn des Jungen. Dabei schloß er die Augen. Seine Lippen bewegten sich. Er schien zu beten.

Sellnow hatte die Hände gefaltet und starrte auf seine langen, schlanken Finger. Er war über seine eigene Ergriffenheit wütend. Da hat man jahrelang in den Lagern gehockt und Kohlsuppe gefressen und klitschiges Brot, man hat mit den anderen geschrien: Es gibt keinen Gott, wenn er Unschuldige derart leiden läßt, man hat geflucht, als der Winter kam und jeder dritte in Schnee und Sturm jämmerlich erfror, man hat sich vorgenommen, nie, nie mehr den Namen Gott zu nennen ... und da kommt so ein Pfaffe, so ein Halbverhungerter, und schon faltet man die Hände und betet.

Als Emil Pelz mit den beiden Trägern wieder ins Zimmer kam und sie den Pfarrer sahen, senkten sie den Kopf und falteten die Hände. Eine dünne Stimme, zitternd, gebrochen, stand im Raum:

»Es ist genug! So nimm, Herr, meinen Geist zu Zions Geistern hin;

Lös auf das Band, das allgemach schon reißt, befreie diesen Sinn,

Der sich nach seinem Gotte sehnet,

Der täglich klagt, der nächtlich tränet.

Es ist genug!!

Es ist genug! Herr, wenn es Dir gefällt, so spanne mich doch aus!

Mein Jesus kommt; nun gute Nacht, o Welt, ich fahr ins Himmels Haus;

Ich fahre sicher hin in Frieden,

Mein großer Jammer bleibt danieden.

Es ist genug!!«

Das >Genug< riß die Köpfe herum, es drang in die Seele, es setzte sich im Gehirn fest, es bohrte sich bis ins Mark.

Sellnow drückte die Stirn gegen die Holzwand, seinen Körper schüttelte ein Schluchzen, und ein Krampf ließ seine Stirn gegen die Wand schlagen. Dr. Böhler blickte zu ihm hin . er schwieg und senkte den Kopf.

Welche Erfüllung, durchzuckte es ihn. Gott lebt... er wird immer leben. Er ist der Vater der Einsamen und Getretenen.

Der Pastor nahm die Hand von der Stirn des Kranken. Sie war voll kalten Schweißes.

»Soll ich ihm das Abendmahl geben, oder wollen Sie erst den Erfolg der Operation abwarten?«

Dr. Böhler verschloß den Darmausgang mit einem Mullberg und richtete sich auf.

»Haben Sie alles bei sich, Herr Pastor?«

»Eine Flasche mit Wasser und ein Stück trockenes Brot.« Er lächelte schwach, wie entschuldigend. »Gott wird es in Wein und Hostie verwandeln ... mit Brot und Wasser hielt er unser Leben aufrecht in den Jahren der Not.«

Dr. Böhler sah zu Sellnow hinüber, der sich beruhigt hatte. Auch Dr. Schultheiß schien so weit gefaßt zu sein, um assistieren zu können. »Ich werde erst operieren«, sagte er. »Wenn Sie wollen - wenn es Ihre Nerven aushalten - können Sie mitkommen und neben dem Tisch stehen.«

»Das wäre gut.« Ein trockener Husten schüttelte den Körper des Pfarrers wie ein Rohr im Wind. Dr. Böhler betrachtete ihn, wie er die Hand vor die dünnen Lippen hielt und sich keuchend vorbeugte. Bald würde er für sich selbst beten müssen.

Emil Pelz und die beiden Sanitäter trugen den Oberfähnrich wieder hinaus über den Gang zum Operationszimmer. Als sie die Tür aufstießen, stand Dr. Kresin in Gummihandschuhen am Tisch und ordnete die Bestecke. In dem Sterilkocher brodelten die Instrumente. Dr. Alexandra Kasalinsskaja saß am Tisch und erhob sich, als die Ärzte mit der Bahre eintraten.

»Wo Gott ist, ist auch der Satan«, murmelte Sellnow. Mit zusammengebissenen Lippen ging er an der Kasalinsskaja vorbei.

Ein Geruch nach Äther durchzog den Raum.

Dr. Böhler nahm aus den Händen von Dr. Kresin dessen Gummihandschuhe. Die ersten nach drei Jahren.

Am nächsten Morgen traf Janina Salja im Kommandanturgebäude

ein.

Major Worotilow hatte sie selbst mit seinem Jeep aus Stalingrad abgeholt und stand nun stolz mit Dr. Kresin und Leutnant Piotr Markow zusammen. Er war glänzender Laune und gönnte es dem vorsichtigen Karl Georg, in seiner Gegenwart neue Blumen zu pflanzen, die aus dem Garten der Oktober-Fabrik von der Nachtschichtkolonne gestohlen worden waren.

Janina Salja sah in Uniform noch schmaler und hilfloser aus. Das rötlichblonde Haar fiel weich herab, ihre großen, wasserblauen Augen tasteten die niedrigen Baracken und die Wachttürme, den Stacheldraht und den Lazarettbau ab, und während Worotilow einen neuen Witz aus Stalingrad erzählte und Markow sich auf die prallen Schenkel schlug, glänzten ihre Blicke auf, als sie am Fenster des Lazaretts die Gestalt von Dr. Schultheiß sah.

Dr. Sergeij Basow Kresin ahnte Verwicklungen. Janina hatte sich auf ihre Weise nach dem Ergehen des deutschen Arztes erkundigt: »Der deutsche Lümmel gefällt mir nicht. Er hat so weiche Hände, die mich abtasten wie Samtpfoten. Ich mag das nicht.« Aber in ihren Augen stand deutlich die Sehnsucht nach diesen Händen, und Dr. Kresin knirschte mit den Zähnen und erwog, Dr. Schultheiß in eine andere Lagergruppe oder wenigstens in ein Außenlager verlegen zu lassen.

Über den Platz, von der Küche her, kam die Kasalinsskaja. Als sie Janina sah, lächelte sie und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Sie umarmte sie mit jenem Enthusiasmus, der sowohl Liebe wie auch Haß auszudrücken vermag, und küßte sie auf beide Wangen.

»Mein weißes Täubchen«, sagte sie heuchlerisch. »Du kommst uns besuchen?«

Worotilow schob die dicke Unterlippe vor. Wie ein Bulle, der wie-derkäut, mußte die Kasalinsskaja denken.

»Janina wird Ihnen Gesellschaft leisten, Genossin«, sagte er betont freundlich. »Sie will die Arbeiter in einer Reihenuntersuchung inspizieren.«

»Welch großes Interesse an den Deutschen! Erst lassen wir sie zu

Tausenden verrecken, und jetzt bringen wir uns ihretwegen um. Es gibt in Rußland Millionen, die nicht so gut leben und nicht so gut versorgt werden wie die deutschen Gefangenen. Aber Sie müssen es ja wissen, Genosse Major.«

»Wenn es nach Genossin Kasalinsskaja ginge, würde man alle Deutschen umbringen«, sagte Major Worotilow lachend zu Janina. »Wir haben da ein gutes System: Wenn ein Stahlwerk oder die Holzkolonne Arbeiter braucht, schicken wir die Genossin Ärztin in die Lager. Innerhalb von zwei Stunden haben wir soviel Arbeiter, wie wir wollen.«

Janina Salja sah die Kasalinsskaja mit einem schrägen Blick an. Sie trat einen Schritt zurück, und über ihr blasses Gesicht zog der Schimmer einer hellen Röte. »Auch die Deutschen sind Menschen.«

Piotr Markow winkte ab. »Genossin . uns nannten sie Untermenschen.«

»Das war im Krieg. Jetzt haben wir Frieden!«

»Wir haben immer Krieg, solange die Welt nicht restlos kommunistisch ist!« Markow wurde ernst. Der Funke des Fanatismus glomm in seinen Augen. Sein Gesicht wurde kantig und brutal. »Erst wenn die rote Fahne die Weltflagge ist, gibt es Ruhe auf der Welt. So lange kämpfen wir.«

»Der ewige Revolutionär!« Worotilow lachte schallend. »Mir ist es immer ein Rätsel geblieben, warum er nicht jeden Abend vor dem Zubettgehen die Internationale singt.«

Übernächtig und noch blasser als sonst kam Dr. Böhler an der Gruppe vorbei und grüßte. Worotilow winkte ihm zu und rief, noch immer lachend: »Wohin, Sie Gliederabschneider?«

»Zu Baracke VIII, Block 4. Dort soll ein leichter Unfall sein.«

»War schon da.« Die Kasalinsskaja nickte ihm zu. »Der Mann hat sich einen Daumen gequetscht. Ich habe ihm Arbeit verordnet.«

»Was haben Sie?«

»Er muß arbeiten! Oder glauben Sie, ich lasse mir soviel Ausfälle gefallen? Die Kerle lassen sich ihren Daumen quetschen, um sich zu drücken! Bei mir nicht! Ich kenne das! Ich war Ärztin in den Bergwerken! Und überhaupt« - sie stemmte die Arme in die Hüften -, »ich bin einem Gefangenen keine Rechenschaft schuldig.«

Dr. Böhler sah zu Dr. Kresin hin. Der blickte in den Himmel, als habe er noch nie Schäfchenwolken gesehen, die langsam herbeitrieben. Worotilow drehte sich angelegentlich eine Zigarette. Piotr Markow grinste unverschämt. Nur Janina Salja sah von einem zum anderen und wandte sich dann ab.

»Das ist ekelhaft«, sagte sie auf russisch. »Ich kann das nicht mit anhören.« Sie faßte Worotilow am Arm. »Komm, bring mich ins Lazarett.«

Willig trottete der Major hinter ihrer schlanken Gestalt her. Ein Bär, der glücklich ist, den Ring durch seine Nase zu fühlen.

Dr. Alexandra Kasalinsskaja sah ihnen mit zusammengekniffenen Augen nach. Um ihre vollen Lippen zuckte ein böses Lächeln. »Kommen Sie«, sagte sie zu Dr. Böhler. »Ich werde den Mann mit dem zerquetschten Daumen doch krankschreiben.«

Dr. Schultheiß hatte von seinem Fenster aus das Eintreffen Jani-nas bemerkt. Er begriff nicht, was dieses biegsame, zarte Mädchen an den Bullen Worotilow band. Eifrig begoß er die Primel in Sell-nows Zimmer, während dieser noch schlief und laut schnarchte. Sellnow hatte die ganze Nacht über am Bett des Oberfähnrichs gesessen und sich heftig mit der Kasalinsskaja gestritten, die plötzlich ins Zimmer schaute und großes Interesse heuchelte. Der Anblick der heißblütigen Frau in einem dünnen Nachtgewand hatte Sellnow dermaßen erregt, daß er seinen Stuhl ergriff und drohte, ihn ihr an den Kopf zu werfen.

»Wie wild«, hatte die Kasalinsskaja lachend gesagt, »wie wild, heroisch und kraftvoll!« Dann war sie gegangen und hinterließ Sellnow in brütender Dumpfheit.

Nun war Janina im Lager. Die todgeweihte Janina mit der kranken linken Lunge.

In ihren Augen stand die Weite der Wolga, die Sonne, die durch die Wälder bricht, das Lied der Schiffer, die auf flachen Kähnen den Strom hinab ins Kaspische Meer fahren. Die Schwermut der Elto-nischen Steppe lag in ihrem Blick, der hohe Himmel über den Jer-geni-Hügeln.

Sellnow sprach im Schlaf. Es war ein unverständliches Murmeln. Er schien heftig mit jemandem zu streiten. Sein Gesicht zuckte.

Wie klein werden die Sorgen, wenn Janina hier ist, dachte Dr. Schultheiß. 100 Gramm Brot weniger am Tag, und das Lager hat erst 230 Rubel gesammelt. Im Block 9 haben drei Kirgisen sieben Gefangene blutig geschlagen, weil sie beim Zählappell nicht schnell genug auf ihren Platz liefen. Es waren Männer, die eben erst von der Arbeit in den Wäldern kamen und mehr tot als lebendig auf ihre Strohsäcke sanken. Dabei kauten sie das feuchte, klebrige Brot, als enthalte es allein die Kraft, dieses Leben eines Tieres durchzustehen.

Das alles könnte man vergessen, weil Janinas Augen tief und geheimnisvoll wie die Steppe sind.

Es klopfte. Schultheiß fuhr herum und stürzte an die Tür. Emil Pelz stand auf dem Gang und grüßte.

»Sie sollen zur Lungenstation kommen«, sagte er grinsend. »Wir ham 'n neuen Patienten. Knorke, saje ick! Det is Klasse vom KuDamm!«

»Ich komme sofort.« Dr. Schultheiß lief ins Zimmer zurück und kämmte sich die Haare. Dann rieb er mit den Händen das Gesicht und die Wangen, um ein wenig Farbe in seine blasse Haut zu treiben. Ich sehe ja aus wie eine Leiche, dachte er. Aber sie soll mich so sehen, wie ich einmal war ... sie soll ein klein wenig davon sehen.

Dann lief er über den Gang, bog in den Seitenflügel ein und stand heftig atmend vor der Tür der Lungenstation. Von drinnen hörte er die dunkle Stimme Dr. Kresins. Möbel wurden gerückt, irgend etwas klapperte über den Boden.

Als er ins Zimmer trat, drehte sich Janina um und sah ihn lächelnd an. Ihre Augen sprachen zu ihm, aber der Mund blieb stumm, die Lippen waren dünn und farblos. Dr. Kresin unterdrückte einen Fluch und fuhr Schultheiß barsch an.

»Das ist ein Saustall, aber keine Lungenstation!« schrie er. »Hier soll Genossin Salja wohnen?! In diesem Loch?«

»Für die deutschen Gefangenen reichte es aus.« Dr. Schultheiß sah sich um. »Wir haben hier Licht, Luft und Sonne. Was noch fehlt, ist Ruhe. Und die zieht ein, wenn Sie weg sind.«

Janina Salja lachte leise. Das machte Dr. Kresin wehrlos. Er warf Schultheiß einen vernichtenden Blick zu und riß eines der Fenster auf. Der Blick über die Steppe und die nahen Wälder war herrlich. Nur ein Drahtzaun mit den Wachttürmen störte das friedliche Bild.

In einer Barackengasse hingen ein paar Unterhosen in der Sonne und trockneten. Sie waren grauweiß und durchlöchert.

»Wem gehört die säuische Wäsche?« schrie Dr. Kresin. »Ich befehle, daß ab sofort keine solchen Drecksdinger mehr im Freien getrocknet werden! Der Anblick ist ja scheußlich.«

Janina Salja winkte ab. Ihre kleine Hand war wie ein müder Schmetterling. »Es stört mich nicht.«

»Aber mich«, beharrte Dr. Kresin eigensinnig. »Die deutsche Bande soll Ordnung lernen.«

Dr. Schultheiß schluckte es, wie er alles in den Jahren der Gefangenschaft schluckte. Zwar wurden die Ärzte in allen Lagern und von allen Russen, vor allem aber von den Offizieren, höflich und besser behandelt als die Masse der anderen Gefangenen, die man in der ersten Zeit bis 1946 zusammenschlug, hungern und einfach in einer Ecke verrecken ließ oder zu Tode quälte. Aber die Ärzte bearbeitete man psychologisch, band ihnen die Hände durch Hunderte von Schikanen. Man warf ihnen dann Unfähigkeit vor, wenn sie wegen der technischen Mängel versagten. Man versprach den Gefangenenlazaretten volle Unterstützung, man pochte auf die Richtlinien des Internationalen Roten Kreuzes, aber man tat nichts, was wirklich helfen konnte, man sah über die Ärzte und Kranken hinweg, auch wenn ihre Wünsche so laut wurden, daß sie kaum mehr überhört werden konnten. Ein schmerzlicher Punkt war das Zurückhalten von Betäubungsmitteln. »Es besteht der Verdacht, daß Betäubungsmittel als Rauschgift verbraucht werden«, hieß es. »Für euch Deutsche ist der Holzhammer gut genug«, hatte Dr. Kresin, der Verwalter der Lazarettgruppe Stalingrad, Krassnopol und No-wotscherkask geantwortet, als Dr. von Sellnow um Morphium bat. Sellnow nannte ihn einen satanischen Sauhund und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Das brachte ihm 14 Tage Dunkelarrest bei halber Verpflegung ein, die er in seinem Haß gut überstand und zur Verwunderung aller noch wütender verließ.

Janinas sanfte Wärme machte Schultheiß rot und unsicher. Sie sah ihm ein wenig traurig in die Augen und fragte: »Was werden Sie jetzt mit mir tun?«

»Sie werden nur Ruhe haben müssen.«

»Dann bringen Sie vorher Worotilow um«, knurrte Dr. Kresin vom Fenster her.

»Er wird vernünftig sein müssen«, meinte Schultheiß entschieden.

Dr. Kresin lachte laut. »Zeigen Sie mir einen vernünftigen Bock! Wo er ein Weib sieht, muß er springen.«

Janina sah Schultheiß flehend an. Er las in ihren Augen Angst und Verzweiflung. Einen Augenblick war er versucht, den Arm um ihre schmalen Schultern zu legen und sie tröstend an die Brust zu ziehen, aber dann kam ihm zum Bewußtsein, daß er ja nur ein Plen-ni war und sie eine Russin, sogar eine hohe Funktionärin, die eine Uniform trug und einen hohen Orden auf der kleinen Brust. Er ließ die halberhobenen Arme sinken und wandte sich brüsk Dr. Kresin zu.

»Fräulein Salja wird alles bekommen, was für eine Kur notwendig ist ... wenn Sie es genehmigen.«

»An mir soll es nicht liegen.« Dr. Kresin lachte rauh. »Ein Gefangenenlager als Sommersanatorium. Das wäre eine schöne Geschichte für einen orientalischen Märchenerzähler. Verdammt, was ihr deutschen Ärzte alles fertigkriegt.«

Er lehnte sich aus dem Fenster und brüllte zwei Gefangene an, die zur Latrine schlurften.

Janina setzte sich auf den Stuhl und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Kommen Sie mich heute abend besuchen?« »Wenn Major Worotilow nicht bei Ihnen ist.«

»Ich werde sagen, ich sei müde. So müde.«

»Das sind Sie auch, Janina.«

»Ja, Jens.«

Dr. Schultheiß zuckte zusammen.

»Woher kennen Sie meinen Namen?« flüsterte er.

»Von Kresin. Ich fragte ihn danach.«

»Und warum?«

»Weil Sie so blaue Augen haben wie ich.« Sie senkte den Kopf und sah auf ihre Füße, die unruhig auf den Dielen scharrten. »Mein Vater hatte auch so blaue Augen. Wir wohnten an der Wolga, direkt am Fluß, und er hatte eine kleine Fischerei, zwei Boote, die die Fänge nach Saratow auf den Fischmarkt brachten. Er starb aus Kummer, als mein Bruder bei Orscha fiel. Wir haben nie sein Grab gefunden.« Ihre Stimme klang wie geborsten. »Der Krieg ist furchtbar für die Menschen, Jens. Er verbittert die Herzen und sät Haß, wo man lieben sollte. Ich bin so jung und habe nichts anderes gesehen als Krieg.«

»Wie alt sind Sie, Janina?«

»Einundzwanzig, Jens.«

»Wie herrlich jung, Janina.«

»Und doch wie alt. Ich habe immer nur Uniformen getragen . Jungbolschewistin ... Kaderführerin im Lazarett ... Partisanenmädchen. Das Ehrenkleid der Partei und der Armee. Ich habe nur Soldaten gesehen . eigene und deutsche. Ich bin russischer als Rußland. Glauben Sie, daß einundzwanzig Jahre alt ist?«

Dr. Schultheiß schaute auf sein Leben zurück, ob seine Erinnerungen anders aussähen. Aber auch er fand nur marschierende Füße, Uniformen und Kommandos, Fahnen und Standarten, Blechmusik und Heil-Rufe. Er wurde sich des Betruges an seiner Jugend bewußt, und er schwieg, weil er keinen Trost wußte, der Janina und ihn selbst hätte trösten können.

»Ich werde heute abend kommen, Janina«, sagte er leise.

»Ich werde Ihnen von meinem Essen etwas aufheben.« Sie sah ihn

an. »Sie sehen so hungrig aus.«

Er lachte etwas gezwungen. »Jetzt geht es. Der Körper gewöhnt sich an die halbe Kost. Zuerst, in den ersten Jahren, da haben wir uns des Nachts vor Schmerzen in den Därmen auf den Strohsäcken gewälzt und gewimmert. Da war eine Scheibe schimmeliges Brot ein Vermögen, um das man hätte morden können. Da aßen wir Schnee, nur um Typhus zu bekommen und in die Krankenstube geschafft zu werden, wo es einen halben Teller Kohlsuppe mehr gab. Bis man es bemerkte und uns einfach liegen ließ. Wir haben in diesen Jahren gesehen, was der Mensch aushält, wenn er eine Hoffnung hat, einen Glauben an das Morgen, den Willen durchzustehen. Jetzt« -er sah an sich herunter, an diesem langen, dürren, ausgemergelten Körper, an diesem Knochengerüst mit pergamentener Haut, gefüllt mit fünf Liter Blut -, »jetzt ist es nur Gewohnheit.« Er biß sich auf die Lippen. »Bis heute abend, Janina«, sagte er mit einer knappen Verbeugung. »Wenn es mir möglich ist.«

Auf dem Gang stand in ihrer Zimmertür die Kasalinsskaja. Sie rauchte eine türkische Zigarette. Der süßliche Rauch lag in Wolken über dem Flur. Ihre roten Lippen glänzten feucht.

»Ist das Vögelchen gefangen?« fragte sie gehässig.

»Es wäre gut, wenn Sie sich um sie kümmern würden, Doktor Ka-salinsskaja.« Schultheiß wollte an ihr vorbeigehen, aber sie hielt ihn am Arm fest und zog ihn ganz dicht zu sich heran.

»Janina ist in Sie verliebt«, sagte sie rauh. Ihre Augen sprühten. Sie glich einer Tigerin, sie war wie eine Bestie vor dem Mordsprung. Schultheiß kniff seine Augen zusammen.

»Sie träumen, Doktor. Ich bin nur ein Plenni.«

»Und es wäre gut, wenn Sie das nie vergäßen.« Alexandra warf ihre Zigarette weg und trat sie mit einigen wütenden Fußtritten aus. »Worotilow würde Sie erschießen«, sagte sie kalt.

»Er hat keinen Anlaß dazu.« In Schultheiß stieg heiße Angst auf. Er starrte die Kasalinsskaja an, sie erwiderte seinen Blick, und er las Eifersucht in ihm, Stolz, Lockung, Gier und zitternde Beherrschung.

»Ich werde mit Janina sprechen«, sagte sie halblaut. Ihre Stimme hatte den Klang einer Drohung. »Auch wenn Sie Arzt sind, Dr. Schultheiß, bleiben Sie ein Gefangener, den man zwischen den Fingern zerdrücken kann wie eine Laus. Gehen Sie.«

Gehorsam drehte sich Dr. Schultheiß um und ging seinem Zimmer zu.

Ein Satan! Ein Satan! Ein Satan!

Sein Herz schmerzte, in den Schläfen hämmerte das Blut. Er riß die Tür auf und warf sie krachend hinter sich zu.

Alexandra Kasalinsskaja lächelte.

»Du schöner Blonder.«, murmelte sie.

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